Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 16 Ein Kind unserer Zeit 9783110337907, 9783110337716

The novel A Child of Our Times represents Horváth’s literary legacy. Just as the novel was going to press, the author wa

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German Pages 680 Year 2014

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Table of contents :
Vorwort
Lesetext
Vorarbeit 1: Die stille Revolution
Vorarbeit 2: Krieg ohne Kriegserklärung
Konzeption 1: Ein Soldat seiner Zeit
Konzeption 2: Ein Soldat der Diktatur
Konzeption 3: Ein Kind unserer Zeit
Ein Kind unserer Zeit. Roman (Endfassung, emendiert)
Kommentar
Chronologisches Verzeichnis
Anhang
Editionsprinzipien
Siglen und Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Inhalt (detailliert)
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Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 16 Ein Kind unserer Zeit
 9783110337907, 9783110337716

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Ödön von Horváth Wiener Ausgabe

I

Ödön von Horváth

Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Historisch-kritische Edition Am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek herausgegeben von Klaus Kastberger

Band 16

De Gruyter II

Ödön von Horváth

Ein Kind unserer Zeit

Herausgegeben von Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar

De Gruyter

Die Forschungsarbeiten an der Wiener Ausgabe werden unterstützt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF; P 23563-G20) und von der Kulturabteilung der Stadt Wien. Dank an die Österreichische Nationalbibliothek (Wien) für die Überlassung von Reprorechten an den Faksimiles.

ISBN 978-3-11-033771-6 e-ISBN 978-3-11-033790-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG ÜGedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorarbeit 1: Die stille Revolution. . . . Vorarbeit 2: Krieg ohne Kriegserklärung Konzeption 1: Ein Soldat seiner Zeit . . Konzeption 2: Ein Soldat der Diktatur . Konzeption 3: Ein Kind unserer Zeit . .

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23 75 103 175 291

Ein Kind unserer Zeit. Roman (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

455

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

523

Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editionsprinzipien . . . . Siglen und Abkürzungen Literaturverzeichnis . . . Inhalt (detailliert). . . .

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Inhalt

VI

Vorwort

Vorwort Ein Kind unserer Zeit. Roman Auslieferung des Romans: nachdem er Ende Mai 1938 schon gedruckt vorlag, vermutlich erst im Juli oder August 1938. Dauer der Schreibarbeiten: Vorarbeit 1 Die stille Revolution dürfte bereits im Juli oder August 1937 entstanden sein, Vorarbeit 2 Krieg ohne Kriegserklärung ist wohl auf September/Oktober 1937, Konzeption 1 Ein Soldat seiner Zeit ist auf Oktober/November 1937, Konzeption 2 Ein Soldat der Diktatur auf November/Dezember 1937 und Konzeption 3 Ein Kind unserer Zeit auf Dezember 1937 bis März 1938 zu datieren. Umfang des genetischen Materials: 266 Blatt an Entwürfen und Textstufen. Erstdruck: Ein Kind unserer Zeit. Roman. Amsterdam: Verlag Allert de Lange 1938.

Datierung und Druck Noch bevor Horváth seinen Roman Jugend ohne Gott wirklich abgeschlossen hatte, wollte er mit dem Folgeroman Ein Kind unserer Zeit beginnen.1 Dies bestätigte zumindest Horváths damalige Lebensgefährtin, die Schauspielerin Wera Liessem, die den Sommer 1937 mit dem Autor in der Wiesmühle von Carl Zuckmayer im salzburgischen Henndorf verbrachte.2 Mit einiger Sicherheit lässt sich deshalb sagen, dass Horváth bereits im Juli oder August 1937 an ersten Vorarbeiten zum Romanprojekt Ein Kind unserer Zeit schrieb. Ein Vertrag vom 30. November 1937 zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Allert de Lange (Amsterdam), der wohl bereits den Folgeroman von Jugend ohne Gott zum Gegenstand hat, da Letzterer schon am 26. Oktober 1937 ausgeliefert wurde, sieht vor, dass der Autor ein Drittel der vereinbarten Gage von 500 holländischen Gulden bei Vertragsabschluss erhalten sollte und die restlichen zwei Drittel in zwei monatlichen Raten nach Ablieferung je eines Teiles des Manuskripts.3 Im Briefwechsel mit Walter Landauer, dem Lektor des Verlags Allert de

1

2

3

Vgl. zum Entstehungsprozess den folgenden Abschnitt „Das genetische Konvolut und seine Chronologie“ und zur Titelfindung die Ausführungen im Folgenden. Vgl. Horváth 2010, S. 46, wo der Brief Wera Liessems an Traugott Krischke vom 28. November 1957 abgedruckt ist, in dem sie ihm diesen Sachverhalt bestätigt, und Horváth 2009, S. 178 sowie das Vorwort zu Jugend ohne Gott in WA 15, S. 2. Vgl. die notariell beglaubigte Abschrift des Vertrags zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Allert de Lange im Splitternachlass Ödön von Horváth am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, ÖLA 27/S 2.

1

Vorwort

Lange, ist nachlesbar, wann Horváth die letzten beiden Raten erhalten hat.4 Laut Vertrag sollte der Autor das Manuskript am 1. August 1938 abliefern. Doch der Roman wurde bereits Ende Mai 1938 gedruckt und vermutlich im Juli oder August 1938 ausgeliefert. Wie der Briefwechsel zeigt, war er bereits wesentlich früher als vereinbart, nämlich Anfang März 1938, fertig. In einem Brief Horváths an Landauer vom 1. Jänner 1938 ist davon die Rede, dass der Autor dem Lektor die ersten drei Kapitel des Romans geschickt hatte, denn er bezeichnet sich als „neugierig“ auf die Wirkung, die diese auf Landauer ausüben würden.5 Wenige Wochen später, am 27. Jänner 1938, schreibt Horváth wieder an seinen Lektor und zwar Folgendes: Eigentlich wollte ich Ihnen heute ¾ des Romans zusenden, aber da ich in 8–10 Tagen ganz fertig sein werde, werde ich es Ihnen doch lieber erst dann schicken, damit Sie das ganze auf einmal lesen können. Bin schon enorm neugierig, was Sie dazu sagen werden! Es sind elf Kapitel geworden. –6

Man kann also davon ausgehen, dass Horváth die entscheidenden Ausarbeitungen seines Romanprojekts – im Speziellen wohl Konzeption 37 – in sehr kurzer Zeit vorgenommen hat, wahrscheinlich im Jänner und Anfang Februar 1938 während seiner Magen-Kur in Schärding/Oberösterreich. Landauer repliziert in einem Brief vom 3. Februar 1938: „Ich freue mich ganz besonders, Ihren Roman so bald zu bekommen. Ich bin mir nur nicht darüber im Klaren, ob man ihn im Sommer schon herausgeben soll, oder ob man bis zum Frühherbst warten soll.“8 Am 6. Februar 1938 schreibt der Autor: „Den Roman sende ich Ihnen am Dienstag oder Mittwoch zu. –“9 Außerdem äußert er sich in diesem Brief über Landauers Vorschläge, den Termin der Publikation betreffend: Ich überlasse es natürlich Ihnen, ob Sie den „Soldaten“ schon im Frühjahr oder im Herbst bringen wollen. Für das Frühjahr spricht, glaube ich, nur zweierlei: 1.) wäre er gerade jetzt sehr zeitgemäss. 2.) es existieren von mir doch keine Bücher, sodass es vielleicht nichts schaden würde, wenn mal ein paar vorliegen. Doch, wie gesagt, ich überlasse es Ihnen, Sie werdens besser wissen.10

Das ist geschickte und diplomatische Vorgehensweise, würdig eines Diplomatensohns. Der Titel des Romans lautet zu diesem Zeitpunkt noch „Ein Soldat der Diktatur“, 4

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Vgl. die Briefe Horváths an Landauer vom 1. und 27. Januar 1938 und den Brief Landauers an Horváth vom 25. Januar 1938, Originale im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signaturen 27/509–10, 27/522 und 27/521. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 1. Januar 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/509–10. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 27. Januar 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/522. Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt. Brief des Verlags Allert de Lange (Walter Landauer) an Ödön von Horváth vom 3. Februar 1938, zitiert nach dem Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/523. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 6. Februar 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/524–25. Ebd. Hervorhebung im Original.

2

Vorwort

wie aus dem Kurztitel klar wird, den Horváth verwendet. Die Aussage: „es existieren von mir doch keine Bücher“, ist eine leichte Übertreibung, da der Vorgänger-Roman Jugend ohne Gott zu der Zeit bereits seit knapp vier Monaten im Handel war und gut verkauft wurde.11 Der Briefwechsel mit Landauer aus diesen Monaten gibt in deutlicher Form darüber Auskunft, welche internationale Beachtung und Rezeption der Jugend-Roman sogleich fand. Allerdings wurde er etwa einen Monat nach dem zitierten Brief im Deutschen Reich auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt und alle noch vorhandenen Exemplare beschlagnahmt.12 Am 8. Februar 1938 schreibt Horváth: „Also ich bin ab 13. II. in: Wien IX. Währingerstr. 33. Pension Atlanta.“13 Und am 10. Februar 1938 schließlich richtet er folgende Zeilen an seinen Lektor: Lieber Freund, also morgen sende ich Ihnen den fertigen Roman eingeschrieben zu, und zwar in Ihre Wohnung, damit Sie ihn vielleicht noch vor dem Sonntag erhalten. Titel: „Ein Soldat der Diktatur.“ – Ich bitte Sie, das erste Kapitel in „Der Vater aller Dinge” umzutaufen. Schreiben Sie mir, bitte, nur bald, wie es Ihnen gefällt, Sie können es sich denken, wie neugierig ich bin!14

Aus dem Brief lässt sich schließen, dass der Roman Anfang Februar 1938 bereits fertig war, aber noch den Titel „Ein Soldat der Diktatur“ trägt, den Titel von Konzeption 2, der also der Titel des ersten Einreichmanuskripts war, das Horváth dem Verlag zukommen ließ. Wahrscheinlich hat der Autor jedoch in der Folge das Manuskript noch einmal überarbeitet. Der Titel „Ein Soldat der Diktatur“ gilt also eigentlich auch noch für Konzeption 3. Aus der Perspektive des Erstdrucks fällt jedoch auf diese der definitive Titel „Ein Kind unserer Zeit“. Dieser ging offensichtlich auf einen Vorschlag Landauers zurück, den er in einem Brief an Horváth vom 24. Februar 1938 macht. Er schreibt dort: Wie immer, gefällt mir der Titel nicht sehr gut. Ich finde ihn etwas zu grob für das Buch. Was halten Sie von „Ich war ein Kind unserer Zeit“? Auch dachte ich evtl. an einen Titel, der in einem Satz die Hauptthese des Buches, nämlich dass der einzelne kein Dreck ist, in irgendeiner Weise wiedergibt. Ich kann es nicht finden, aber vielleicht fällt Ihnen etwas ein. Ich bin mir immer noch nicht ganz im klaren, ob wir das Buch jetzt schon herausbringen sollen, aber ich verspreche Ihnen, mich bald zu entscheiden.15

Aufgrund der Entscheidungsschwäche seines Lektors plädiert Horváth am 26. Februar 1938 neuerlich für ein früheres Erscheinen und schreibt an diesen mit der für diesen Briefwechsel charakteristischen amikalen Anrede:

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Im Brief vom 6. Februar 1938 spricht Horváth von einer Verlags-„Abrechnung“, die er gerade erhalten hat, auf der von „1200“ verkauften „Exemplare[n]“ die Rede ist (ebd.). Vgl. das Vorwort zu Jugend ohne Gott in WA 15, S. 18. Postkarte Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 8. Februar 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/526. Postkarte Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 10. Februar 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/527. Brief des Verlags Allert de Lange (Walter Landauer) an Ödön von Horváth vom 24. Februar 1938, zitiert nach dem maschinenschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/528.

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Vorwort

Lieber Freund, das ist ja ganz, ganz ausserordentlich erfreulich, dass mein Buch [gemeint ist: Jugend ohne Gott] in Frankreich kommt! Ich bin sehr froh darüber und danke Ihnen viele-vielemal für all Ihre Mühe! Das ist wirklich grossartig und ich glaube, ich werde allmählich wirklich noch eingebildet! – Lieber Freund, über den Titel des zweiten Romans werden wir uns sicher einigen. Wie finden Sie: „Das verwunschene Schloss“? Ich glaube, es ist sehr gut. – Der gemeinsame Titel im Englischen müsste natürlich lauten: „Kinder der Diktatur“ oder „Kinder der Totalität“ – oder irgendsowie. – – Ich hab noch ein 2. Exemplar und wenn Sie wollen, schicke ich es Ihnen zu. Aber, bitte, nur dann, wenn es unbedingt sein muss! Nun zum „Soldaten.“ Also: nach reiflichster Überlegung und nach Umfragen aller Art bin ich trotz allem absolut dafür, dass er bereits jetzt im Frühjahr erscheint. Lieber Freund, Sie wissen es, dass mir jedes Eingebildetsein fehlt, aber ich höre es von allen Seiten, dass der erste Roman auch weiterhin gekauft werden wird, wenn der zweite auch bereits vorliegt: Und es ist wichtig, dass von mir einige Bücher vorliegen – genau wie von der Courts-Mahler, die jährlich 4 Bücher produziert. Glauben Sie mir, ich bin überzeugt davon, dass es richtig ist, denn meine Bücher fallen irgendwie aus dem sogenannten Rahmen. Ich möchte mit meinen Romanen ein Bild des Menschen im totalitären Staate schreiben – dies ist mein Plan. Und ich halte es für absolut richtig, dass jedes Jahr zwei Romane erscheinen. Zumindest die ersten zwei bis drei Jahre. (Sie wundern sich, dass ich in 10000 Jahren denke, aber ich bin ein Optimist, heut mehr, denn je!). […] Lassen Sie bald von sich hören, mein lieber Freund, und seien Sie umarmt von Ihrem Ödön Horváth16

Bemerkenswert an dem Brief ist, dass Horváth weiterhin – zumindest für die englische Ausgabe, in der beide Romane gemeinsam erscheinen sollten – an einem Titel mit „der Diktatur“ bzw. „der Totalität“ festhält, obwohl der Landauer zu „grob“ war. Am 2. März 1938 repliziert Letzterer: Da Ihnen soviel daran liegt, dass Ihr Buch jetzt herauskommt, so möchte ich es tun, obwohl ich gewisse Schwierigkeiten sehe. Der Titel „Das verwunschene Schloss“ gefällt mir nicht schlecht, obwohl es nicht ganz meinem Ideal entspricht. Er ist dichterisch aber nicht aktuell. Der erste Titel war nur aktuell. Aber falls uns nichts besseres einfällt, bleiben wir dabei. Ihren neuen Roman finde ich sehr schön.17

Horváth hatte den Titel „Das verwunschene Schloss“ selbst in zwei Entwürfen seines Werkprojekts erwogen (vgl. K2/E11 und E12), ihn aber sofort wieder verworfen. Dass er ihn im Briefwechsel mit Landauer neuerlich aufs Tapet bringt, verwundert, hatte er sich doch in der Folge eindeutig auf den Titel „Ein Soldat der Diktatur“ festgelegt. Der Titel stellt also weiterhin die große Imponderabilie des schon fertigen Romans dar. Immerhin lässt sich Landauer in dem Brief zu dem Zugeständnis hinreißen, den Roman schon im Frühjahr zu bringen. Am 5. März 1938 schreibt er: „Ich glaube auch, dass wir den Titel so lassen“18 und meint damit „Das verwunschen Schloss“. Im selben 16

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18

Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 26. Februar 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/529–31. Hervorhebungen im Original. Brief des Verlags Allert de Lange (Walter Landauer) an Ödön von Horváth vom 2. März 1938, zitiert nach dem Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/532. Brief des Verlags Allert de Lange (Walter Landauer) an Ödön von Horváth vom 5. März 1938, zitiert nach dem Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/533.

4

Vorwort

Brief bittet er den Autor, ihm eine Zusammenfassung des Romans für einen Werbeprospekt zu schicken. Der Text, der sich erhalten hat, lautet, wie folgt: Ein Kind unserer Zeit wird nach einer traurigen Jugend in der Nachkriegszeit Soldat der Diktatur. Er erfüllt seinen Beruf mit der Überzeugung, dass das Leben und Glück des Einzelnen nichts wert ist, Religion ein lächerliches Vorurteil ist, Gerechtigkeit ein veralteter Standpunkt und Ritterlichkeit nicht mehr in dieses Jahrhundert gehört. Er erlebt, von der Regierung seines Landes als Kriegsfreiwilliger gesandt, den Fluch des modernen totalen Krieges, dessen Ziel es ist, das feindliche Land zu vernichten und die Zivilbevölkerung auszurotten. Aber noch ist ihm nicht alle Menschlichkeit erloschen, die Mechanisierung nicht völlig geglückt. Er spürt das Vorhandensei[n] einer eigenen Persönlichkeit und beginnt zu denken. Er geht unter, aber mit der Erkenntniss, das[s] für das Gute und das Böse sich nur der Einzelne zu verantworten habe und keinerlei Vaterland zwischen Himmel und Hölle, und keine Gemeinschaft das Recht hat, Leben und Recht des Einzelnen zu verachten.19

Damit legt der Werbeprospekt neuerlich den Schwerpunkt auf das „Kind unserer Zeit“, das Landauer für den zentralen Aspekt des Romans hielt und deshalb auch in den Titel aufnehmen wollte. Offensichtlich rang sich auch Horváth in der Folge zu diesem Titel durch, denn am 11. März 1938 meldet Landauer: „Ihr Roman mit dem Titel ‚Ein Kind unserer Zeit‘ ist angekommen. Ich habe ihn an die Druckerei geschickt. Er wird also noch in diesem Frühjahr erscheinen.“20 Damit war die Arbeit am Kind offensichtlich tatsächlich beendet und es müssten sich demnach zwei Einreichmanuskripte im Verlag Allert de Lange erhalten haben, die aber bis heute als verschollen gelten. Am 29. März 1938 schreibt der Lektor neuerlich an den Autor, der sich nach einem kurzen Aufenthalt in Budapest nun wieder bei der Schauspielerin Lydia Busch in deren Haus in Teplice-Sˇanov (Teplitz-Schönau/ Tschechoslowakei) befindet: Lieber Freund, Ich erhielt eben Ihren lieben Brief. Ich nehme an, dass Sie inzwischen in der Tschecho-Slowakei sind und sende Ihnen auch gleich die ersten Korrekturen Ihres Romans zu. Bitte machen Sie die Korrekturen möglichst schnell, damit wir bald herauskommen. Ich denke eine Korrektur wird genügen. Ich lasse es dann, wie bei der Jugend hier noch einmal gründlich durchsehen.21

Am 2. April 1938 repliziert Horváth: Was das „Kind unserer Zeit“ betrifft: bitte, wäre es nicht möglich, dass man von jeder Seite 4–5 Zeilen wegnimmt? Ich glaube, die Seiten sind zu lang – und das Buch würde dann auch länger werden. Auf alle Fälle bitte ich Sie, jedes Kapitel auf einer neuen Seite zu beginnen, diesmal sinds ja nur 11 Kapitel und ich halte das für unbedingt notwendig. (Die Korrekturen gehen morgen ab.)22 19

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Der Text ist als Klappentext für den Schutzumschlag der Erstausgabe überliefert; vgl. Horváth 1938b. Brief des Verlags Allert de Lange (Walter Landauer) an Ödön von Horváth vom 11. März 1938, zitiert nach dem Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/535. Brief des Verlags Allert de Lange (Walter Landauer) an Ödön von Horváth vom 29. März 1938, zitiert nach dem Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/539. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 2. April 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/541. Hervorhebungen im Original.

5

Vorwort

Beiden Wünschen des Autors wurde wohl Folge geleistet, denn in der Erstausgabe beginnt jedes der elf Kapitel auf einer neuen Seite und die Zeilenzahl pro Seite beträgt gerade einmal 24 Zeilen, wobei nach unten noch deutlicher Spielraum gewesen wäre. Das fertige Buch erreicht so eine Seitenzahl von etwas über 200, die Horváth wohl sympathisch gewesen ist. Am 4. April richtet der Autor folgende Zeilen an seinen Lektor: Lieber Freund, heute sandte ich Ihnen den ersten Teil der Korrekturen, eben kommt der zweite, ich sende ihn Ihnen in wenigen Tagen zu. Bitte, seien Sie nur so gut und lassen Sie jedes Kapitel auf einer neuen Seite beginnen, desgleichen bitte ich Sie, das Manuscript nochmals genau zu korrigieren, besonders die sogenannten ort. Schreibfehler. – Lassen Sie bald von sich hören und seien Sie herzlichst gegrüsst von Ihrem Ödön von Horváth23

Das Verlagslektorat arbeitete wohl in Horváths Sinne, finden sich doch in der Erstausgabe kaum „ort.[hographische] Schreibfehler“. Am 9. April 1938 schließlich schreibt Horváth aus Teplice-Sˇanov: „Der Rest der Korrekturen ‚Ein Kind seiner Zeit‘ geht heute ab“24, wobei er bemerkenswerterweise im Titel „unserer“ durch „seiner“ ersetzt, eine Korrektur, die dem von Horváth selbst erwogenen Titel von Konzeption 2, „Ein Soldat seiner Zeit“, entspricht. Offensichtlich verzögerte sich die Korrektur doch noch um zwei Tage, denn am 11. April 1938 schreibt der Autor neuerlich an den Verlag, diesmal, in der Korrekurschicht, den richtigen Titel zitierend: Sehr geehrte Herren, die Korrekturen „Kind unserer Zeit“ sind an Sie abgegangen. Nur bitt ich Sie sehr, sie nochmals sehr aufmerksam durchkorrigieren zu lassen, besonders in Hinblick auf ortographische Fehler. Die übersehe ich nämlich leider regelmässig. Und dann bitte ich sie, die Sendung nach Zürich nicht zu vergessen. Mit den besten Grüssen Ihr Ödön Horváth25

Mit der „Sendung nach Zürich“ meint Horváth eine Geldsendung, die der Verlag Allert de Lange an Horváths Lebensgefährtin, die Schauspielerin Wera Liessem, senden sollte, die in Zürich unter Vertrag stand. Dies ist eine generelle Charakteristik des Briefwechsels zwischen Horváth und seinem Verleger. Immer geht es auch um das „leidliche finanzielle“,26 und der Autor leidet – wie viele seiner Berufskollegen in dieser Zeit – unter einem ständigen Geldmangel. Am 23. April 1938 richtet er, nun wieder frohen Mutes, aus Teplice-Sˇanov an Alma Mahler-Werfel folgende Zeilen: „Ich schreibe ein neues Buch, ein (dem Umfang nach)

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26

Postkarte Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 4. April 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/542. Hervorhebungen im Original. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 9. April 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/544–45. Postkarte Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 11. April 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/547. Anm. 22 (Brief vom 2. April 1938).

6

Vorwort

ganz grosses. Mein zweiter Roman erscheint im Mai bei Allert de Lange.“27 Und an Landauer schreibt er am selben Tag, mit dem Ausdruck derselben Euphorie: „Ich freue mich schon sehr, Sie wiederzusehen – ich habe richtiggehende ‚Pläne‘ und will sie Ihnen erzählen. –“28 Aus einem Brief an denselben vom 25. April 1938 geht hervor, um welches „Buch“ und um welche „Pläne“ es sich dabei handelte: „Adieu, Europa!“29 In diesem Fall steht der Titel für den Autor schon so fest, dass er schreibt: „Er [der Titel; Anm.] gefällt mir so gut, dass ich Angst habe, es könnt ihn mir jemand nehmen.“30 Und er kündigt an, in den ersten Maitagen nach Amsterdam zu kommen. Vorher müsse er aber unbedingt noch nach Zürich. Am 1. Mai 1938 schließlich verspricht er, immer noch aus Teplice-Sˇanov, „in ungefähr 10 Tagen“31 in Amsterdam zu sein. Doch noch am 10. Mai 1938 schreibt er aus Zürich, dass er noch bis zum „15. Mai“ dort bleibe, um „diverse Verbindungen an[zu]knüpfen, hauptsächlich zu Zeitungen wegen der Buchbesprechungen“.32 Spätestens am 18. Mai 1938 war Horváth schließlich in Amsterdam angekommen. Von diesem Tag datiert ein Brief an den Schweizer Schriftsteller Cäsar von Arx, der neben dem Datum die Ortsangabe „Amsterdam“ führt.33 Am 19. Mai 1938 schreibt Horváth von dort an Jolán von Hatvany, dass sein neuer Roman „in 8 Tagen“ erscheinen werde.34 Und man darf davon ausgehen, dass diese Datierung zutrifft, denn bereits am 31. Mai 1938 bestätigt Horváth dem Verlag aus Paris den Erhalt eines Exemplars des „Kindes“.35 Es kann also davon ausgegangen werden, dass der Roman Ein Kind unserer Zeit in den letzten Maitagen des Jahres 1938 gedruckt wurde.36 27

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Brief Ödön von Horváths an Alma Mahler-Werfel vom 23. April 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original in den Rare Books and Manuscript Collections, Van Pelt Library, University of Pennsylvania, Philadelphia, Ms. Coll. 575. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 23. April 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/551–552. Hervorhebung im Original. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 25. April 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/553. Hervorhebungen im Original. Ebd. Postkarte Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 1. Mai 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/554. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 10. Mai 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/557. Brief Ödön von Horváths an Cäsar von Arx vom 18. Mai 1938, in: Briefe von Ödön von Horváth an Cäsar von Arx. 25. Oktober 1937 bis 27. Mai 1938. Hg. und komm. v. Urs Viktor Kamber. Erlinsbach: Cäsar von Arx Stiftung 2006 (= Schriftenreihe der Cäsar von Arx Stiftung, Nr. 2), S. 22. Postkarte Ödön von Horváths an Jolán von Hatvany vom 19. Mai 1938, zitiert nach einer Kopie des handschriftlichen Originals im Archiv der Akademie der Bildenden Künste, Berlin, Sammlung Horváth, Lokatur H br (p) 15. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 31. Mai 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/559. Vgl. anders KW 14, S. 221 und Kurt Bartsch: Ödön von Horváth. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000 (= Sammlung Metzler, Bd. 326), S. 165. Im rückwärtigen Teil der Erstausgabe von Ein Kind unserer Zeit befindet sich eine Anzeige, die „Frühjahrsneuerscheinungen“ des Verlags Allert de Lange enthält, was die Annahme stützt, dass Horváths Roman im Frühjahr 1938 tatsächlich gedruckt wurde.

7

Vorwort

Bereits am 27. Mai 1938 hatte der Verlag Allert de Lange an Horváth folgende Zeilen gerichtet: Sehr verehrter Herr Horváth, Wir erlauben uns Ihnen anbei einen Vertragsentwurf für Ihren neuen Roman zu übersenden. Wir bestätigen Ihnen noch einmal, dass wir für Ihre früheren Bücher Übersetzungsverträge geschlossen haben mit holländischen, polnischen, tschechischen, französischen und englischen Verlegern und einem Verleger in Buenos-Aires für die spanischen Rechte. Bis jetzt sind an Vorschüsse von diesen Verlegern ca. Fl. 1.000.– gezahlt worden, die wir mit Ihnen verrechnen. Über einen amerikanischen Abschluss wird z.Z. verhandelt, ebenso wie über einen ungarischen Abschluss. Sie können also, abgesehn von den Einnahmen des beiliegenden Vertrags, noch mit grösseren Summen rechnen; die Ihnen fortlaufend ausgezahlt werden. mit ergebener Hochachtung ALLERT DE LANGE.37

Beiliegend war der Vertragsentwurf über „die deutsche Ausgabe seines nächsten Romans, d.h. des Romans der nach dem Roman ‚Ein Kind unserer Zeit‘ folgt“.38 Mit diesem Vertrag war Horváths pekuniäre Situation erstmals wirklich konsolidiert, und er soll in den folgenden Tagen „so heiter und glücklich gewesen sein wie noch nie“39, doch der Autor hatte nur noch fünf Tage zu leben. Am 31. Mai 1938 schreibt er an Landauer: „Werde Ihnen alles genau schreiben, sobald es mir mein Aberglauben zulässt.“40 Ein Wahrsager41 hatte ihm nämlich prophezeit, dass er im Juni 1938 auf einer Reise „das größte Erlebnis seines Lebens“ haben werde.42 Landauer schreibt ihm am 1. Juni 1938 zurück: „Hoffentlich haben Sie in Paris etwas Glück.“43 Doch der 37

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Brief des Verlags Allert de Lange an Ödön von Horváth vom 27. Mai 1938, zitiert nach dem Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur nicht ermittelt. Ebd. Brief Lajos von Horváths an Jolán von Hatvany vom 4. Juni 1938, zitiert nach dem Faksimile in: Dezsö Báder: Einzelheiten aus der Literatur der Emigration. Briefwechsel Ödön von Horváths und Franz Theodor Csokors mit Lajos Hatvany. In: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 12 (1970), S. 202–227, S. 212f., hier S. 212. Brief Ödön von Horváths an den Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) vom 31. Mai 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/559. Vgl. die Figur der „Wahrsagerin“ in den Entwürfen VA2/E8 und K1/E6, TS2/Bl. 5, E14/Bl. 11, E16/Bl. 8, E20, E24, E26 und K2/E3 im genetischen Konvolut von Ein Kind unserer Zeit. Vgl. Traugott Krischke: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit. Berlin: Ullstein 1998, S. 269 und Franz Werfel: Vorwort. In: Horváth 1938b, S. I–VII, hier S. VII. Hermann Kesten schreibt am 3. Juni 1938 an Walter Landauer: „Liebster Landauer, Mehring erzählte mir gestern den schreckensvollen Unfall des armen Horvath. Ich bin die ganze Zeit her wie betäubt. Was macht man sich für öde Sorgen, womit füllt man sein Leben, und so schaut unser Ende aus, so sinnlos und brutal. […] Daß uns die SS verfolgt, wissen wir. Aber daß schon die Bäume auf den Champs Elysées anfangen, exilierte deutsche Poeten zu erschlagen! Sie wissen, wie abergläubisch Horvath war. Lieber ging er zum 7. oder 8. Stock eines Hotels hinauf, als den Aufzug zu benutzen, weil ihm eine Zigeunerin den Tod durch einen Unfall geweissagt hat.“ (Brief Hermann Kestens an Walter Landauer vom 3. Juni 1938. In: Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949. Hg. v. Hermann Kesten. Wien [u.a.]: Kurt Desch 1964, S. 77f., hier S. 77.) Brief des Verlags Allert de Lange (Walter Landauer) an Ödön von Horváth vom 1. Juni 1938, zitiert nach dem Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur nicht ermittelt.

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Glück-Wunsch kam wohl zu spät, und der Autor fand noch am selben Tag in der wohl produktivsten Schaffensphase seines Lebens seinen viel zu frühen Tod. Der Roman Ein Kind unserer Zeit – oder zumindest ein Teil der ersten Auflage – wurde deshalb wahrscheinlich nicht sofort nach dem Erscheinen ausgeliefert, sondern noch vor der Auslieferung im Juli oder August 1938 um ein „Vorwort“ Franz Werfels – datiert auf den 29. Juni 1938 – und die Grabrede Carl Zuckmayers erweitert, die dieser am 7. Juni 1938 an Horváths Grab auf dem Pariser Friedhof Saint-Ouen gehalten hatte. Dies lässt sich aus der römischen Paginierung des Vorworts und aus den Klebespuren schließen, die sich in den an der Österreichischen Nationalbibliothek überlieferten Exemplaren finden. Am 11. Juni 1938 erschien ein (Vor-)Abdruck des ersten Kapitels zusammen mit einem Nachruf Walter Mehrings auf den Autor in der Exil-Zeitschrift Das Neue Tage-Buch.44 In einer dem Teilabdruck des ersten Kapitels „Der Vater aller Dinge“ unter dem Titel „Ausgerichtet, Mann für Mann“ in der Pariser Tageszeitung vom 10. September 1938 vorangestellten Einleitung ist davon die Rede, dass Horváths Roman Ein Kind unserer Zeit „jetzt“ „erschienen“ ist, was ein Hinweis darauf ist, dass das tatsächliche Auslieferungsdatum wohl wenig früher anzusetzen ist.45 Auch das Neue Tage-Buch vermerkte erst am 17. September 1938, dass der Roman erschienen sei.46 Es ist also davon auszugehen, dass die bereits gedruckte Erstausgabe noch bis Juli oder August 1938 vom Verlag zurückgehalten und erst nachdem sie mit den erwähnten Rahmentexten versehen wurde in die Buchhandlungen des Exils gelangte. Die Einreichmanuskripte des Romans sind, wie bereits erwähnt, nicht mehr vorhanden. Im Nachlass Horváths finden sich nur wenige TyposkriptBlätter, die Durchschläge der vermeintlichen Endfassung des Romans darstellen. Der hier erstellten Endfassung des Romans wurde deshalb der Erstdruck von 1938 zugrunde gelegt. Bereits 1938 erschien die erste englische Übersetzung des Romans von R. Wills Thomas unter dem Titel A Child of Our Time bei Methuen & Co. (London) mit dem Vorwort der Erstausgabe von Franz Werfel und einer „Appreciation“ von Stefan Zweig.47 1940 wurde unter dem mit Eindeutigkeit nicht sparenden Titel Soldat du Reich die erste französische Übersetzung von Armand Pierhal veröffentlicht, der bereits den Vorgänger-Roman Jugend ohne Gott übersetzt hatte. 1951 legte der Wiener Bergland-Verlag den Roman neu auf und druckte dabei wie die Erstausgabe das „Vorwort“ Franz Werfels und die „Gedächtnisrede“ Carl Zuckmayers mit ab. 1953 erschienen die beiden Romane gemeinsam unter dem Titel Zeitalter der Fische im BerglandVerlag.

Das genetische Konvolut und seine Chronologie Das genetische Konvolut zum Werkprojekt Ein Kind unserer Zeit umfasst 266 Blatt an Handschriften und Typoskripten, die als Entwürfe und Textstufen kategorisiert wurden. Der Entstehungsprozess, der über weite Strecken im umfänglichen Nachlass44 45 46

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Vgl. KW 14, S. 221. Oedoen von Horvath: Ausgerichtet, Mann für Mann. In: Pariser Tageszeitung, 10. September 1938. Vgl. Anonym: Abseits von der Reichskulturkammer. In: Das Neue Tage-Buch, Paris/Amsterdam, 5. Jg., H. 38, 17. September 1938, S. 911. Anm. 63.

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material nachvollziehbar ist, dürfte sich nur über wenige Monate gezogen haben, etwa von Juli 1937 bis März 1938. Er lässt sich in zwei Vorarbeiten und drei Konzeptionen unterteilen: Vorarbeit 1: Die stille Revolution Vorarbeit 2: Krieg ohne Kriegserklärung Konzeption 1: Ein Soldat seiner Zeit Konzeption 2: Ein Soldat der Diktatur Konzeption 3: Ein Kind unserer Zeit

Vorarbeit 1: Die stille Revolution In Vorarbeit 1 Die stille Revolution, die wahrscheinlich auf die Monate Juli und August 1937 zurückgeht, entwickelt Horváth bereits einige Motive, die auch für den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit von Bedeutung sind. Der in einem Entwurf und einer Textstufe (VA1/E2 und TS9) so genannte Held Peter Zapfel, der fallweise als „Student“ (vgl. VA1/TS4, E5, TS5 und TS6) bezeichnet wird, soll „Soldat“ (VA1/E5 und E20) werden und den Ersten Weltkrieg miterleben. Außerdem gerät er auf „die schiefe Ebene“ und ins „Zuchthaus“ (VA1/E7). Auch eine Liebesgeschichte der Hauptfigur mit einer „Bürgerstochter“ wird hier bereits angedeutet (VA1/E6 und TS6). Sie deutet voraus auf die Kapitel „Das verwunschene Schloss“ und „Anna, die Soldatenbraut“ in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit. In einigen Entwürfen und Textstufen von Vorarbeit 1 hat der „Student“ „literarische Ambitionen“ (vgl. VA1/TS4, TS5, E9 und TS6/Bl. 2). Später erscheint er als „Kriegskind“ (VA1/TS7/Bl. 2), das sich aber nicht mehr an den Krieg erinnern kann, eine Stelle, die sich noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit finden wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16). Im späteren Roman wie in dieser frühen Textstufe wird der Krieg als Problem zweier Generationen dargestellt: der Elterngeneration, die bereits den Ersten Weltkrieg miterlebt hat und deshalb keinen Krieg mehr erleben möchte (vgl. auch den Feldwebel in Jugend ohne Gott), und der Generation, die kurz vor dem Krieg geboren wurde (im Fall von Peter Zapfel im Jahr 1911; vgl. VA1/TS9) und deshalb keine Scheu vor dem Krieg hat, den sie nicht bewusst erlebt hatte. Auch von revolutionären Bewegungen ist hier die Rede, die zunächst in Österreich verortet sind (vgl. VA1/TS1 und TS2), dann aber deutliche Züge des faschistischen Deutschland tragen (vgl. VA1/TS8). Sie sind ausschlaggebend für den Titel von Vorarbeit 1. In den späten Entwürfen und Textstufen dieser Vorarbeit entwickelt Horváth deutlich die Problematik der materiellen Armut. Bereits in VA1/E1 soll der Protagonist „auf der Strasse“ landen, in VA1/E3 ist erstmals vom „Landstreicher“ die Rede, in VA1/TS7/Bl. 1 erstmals von der „Landstrasse“: Motive, die die Entwürfe und Textstufen von Vorarbeit 1 durchziehen. Auch der Kontakt zu kriminellen Elementen (erstmals in TS3) und das Abrutschen auf „die schiefe Ebene“ (erstmals in VA1/E7) sowie dazugehörige „Zuchthaus“- und „Gefängnis“-Aufenthalte (vgl. VA1/E1, E7 und E14–E16) sind hier integrativer Teil des Werkprojekts. In den späten Textstufen TS10–TS13 führt Horváth die Heruntergekommenheit seines Protagonisten weiter aus, die im Satz: „Man weicht mir aus“ (VA1/TS12/Bl. 16) konzentriert erscheint, der fallweise sogar den ersten Kapiteltitel darstellt (vgl. VA1/E17) und bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 8). Auch ein problematischer Bezug der Hauptfigur zur Arbeit findet

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sich bereits in Vorarbeit 1, in der die Hauptfigur einmal nicht weiß, was sie werden soll (vgl. VA1/TS6/Bl. 2), und ein anderes Mal überhaupt nicht arbeiten will (vgl. VA1/TS12/Bl. 17). Auch dies sind Ingredienzien, die bis zur Endfassung des späteren Romans erhalten bleiben (vgl. v.a. die Kapitel „Der Vater aller Dinge“ und „Der verlorene Sohn“). Zuletzt entwickelt Horváth sein Werkprojekt in einer völlig neuen Richtung weiter. Er führt dabei eine Irrenhaus-Handlung ein, mit einer neuen Hauptfigur, einem „Irrenarzt“ oder „Irrsinnigenwärter“, was jedoch, mit einer Ausnahme (VA2/TS7), keine weitere Verwendung findet. Zuletzt entwickelt er den Werktitel „Die stille Revolution“ zu einem Kapiteltitel weiter und führt, zunächst als Kapiteltitel, den Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ (VA1/E25) ein, der schließlich zum Werktitel von Vorarbeit 2 avanciert.

Vorarbeit 2: Krieg ohne Kriegserklärung Die Genese der Vorarbeit 2 unter dem Titel Krieg ohne Kriegserklärung ist eng mit jener der Vorarbeit 1, Die stille Revolution, verflochten. Dies zeigt sich paradigmatisch in einem Entwurf von Vorarbeit 1 (VA1/E25), in dem der Titel Krieg ohne Kriegserklärung einen Kapiteltitel in einem Strukturplan mit dem Werktitel „Die stille Revolution / Roman“ darstellt. Erst in Vorarbeit 2 werden die beiden Titel zu Werktiteln von getrennten Werkprojekten. Dies zeigt sich deutlich auf den Blättern ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 9 und 10, auf denen beide Werktitel zunächst als eigenständige Werkprojekte gemeinsam in einem Werkverzeichnis genannt werden (VA2/E4), wobei der Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ hier erstmals als Werktitel erscheint; auf den genannten Blättern tauchen die beiden Werktitel überdies getrennt auf, als Titel eines Entwurfs (VA2/E5) und einer Textstufe (VA2/TS7), die deshalb unterschiedlichen Werkprojekten zuzuordnen sind, genetisch aber in unmittelbarer Nähe entstanden sein dürften. Die Entwürfe und Textstufen von Vorarbeit 2 stellen konsequent den Soldaten in den Fokus, wobei in ihnen bereits, wie später im Roman, sein familiäres Umfeld und seine Kindheitsgeschichte deutlich nachgezeichnet werden sollen. Ein Strukturplan in acht Kapiteln weist die Kapitelfolge auf: „Kriegskind“, „Es ist kalt“, „Der Ball“, „Die roten Schuhe“, „In der Kirche“, „Er lernt lesen und schreiben“, „Das Vaterland im Waisenhaus“, „Die Mädchen“ und „Er verlässt das Waisenhaus und tritt in das Leben hinaus, wo er aber bald noch viel verwaister sein wird“ (VA2/E1). Damit richtet dieser Entwurf den Blick auf Kindheit und Jugend der Hauptfigur. Wichtige Ingredienz seiner Biographie ist die Tatsache, dass er ein „Kriegskind“ (erstmals in VA1/TS7/Bl. 2) ist und in einem Waisenhaus (auch in VA2/E2, TS5/Bl. 2, 3 und TS6) aufwächst. In einer Reihe von Textstufen (VA2/TS1–TS6) versucht Horváth dieses erste Kapitel „Kriegskind“ auszuarbeiten. Dabei prägt er einige Formulierungen, die sich noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit finden werden. Der Eröffnungssatz lautet hier noch: „Es war einmal Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.“ (erstmals in VA2/TS1, weiters in VA2/TS2, TS3/Bl. 3 und TS5/Bl. 1). In der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit wird Horváth die Erzählsituation von der Er- zur Ich-Erzählung verändern und damit dem Roman einen anderen Fokus geben (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 5). Zu diesem Zeitpunkt dominiert jedoch noch die Er-Form, obwohl schon einige Entwürfe und Textstufen von Vorarbeit 1 in der Ich-Form formuliert sind (vgl. VA1/E21, E24 und TS10–TS15). Auch die Passage: „Jaja, unser Soldat ist ein sogenanntes

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Kriegskind. / Aber er kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern.“ (VA2/TS3/Bl. 3) geht, in die Ich-Form übertragen, in die Endfassung des Romans ein (vgl. K3/TS18/ Horváth 1938b, S. 16). Schon in Vorarbeit 1 werden die beiden Berufe erwähnt, die bis zur Endfassung des Romans eine wichtige Rolle spielen: Kellner (vgl. VA1/E6) und Buchdrucker (vgl. VA1/TS12/Bl. 17). In Vorarbeit 2 werden sie weiter ausgebaut. So wird der Beruf des Kellners zunächst auf die Hauptfigur übertragen (vgl. VA2/E2, E3, TS1 und TS4), aber auch auf seine Familienangehörigen (vgl. VA2/TS1, TS4 und E6) und seinen Adoptivvater (vgl. TS5/Bl. 4, Grundschicht), und schließlich auf seine Geliebte (bereits in VA1/E6, weiters in VA2/E5 und E6). Diese Übertragung kulminiert in der nachträglich in VA2/TS4 notierten Stelle: „Es war eine Kellnerfamilie.“ In der Endfassung ist der Vater des Ich-Erzählers „Kellner, ein Trinkgeldkuli“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 17) Mit dem Beruf des Buchdruckers verhält er sich anders. Er bleibt der Hauptfigur vorbehalten (erstmals in VA1/TS12/Bl. 17, weiters in VA2/TS3/TS3/Bl. 4 und TS4; vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6f.). Im Laufe von Vorarbeit 2 wird jedoch die Kindheitsgeschichte allmählich zurückgedrängt und, gemäß dem Titel, die Kriegshandlung in den Vordergrund gerückt (deutlich in VA2/E5 und E9). Der Titel von Vorarbeit 2, Krieg ohne Kriegserklärung, wird als Werktitel in K1/E12 wiederaufgenommen und bleibt in Form eines die „Hymne vom [bzw. an den] Krieg ohne Kriegserklärung“ lautenden Kapiteltitels bis Konzeption 2 erhalten (zuletzt in K2/E19 und TS10). In der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit findet sich ein solcher Kapiteltitel nicht mehr, der Krieg „ohne jede Kriegserklärung“ bildet aber dort einen der zentralen thematischen Aspekte (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 48).

Konzeption 1: Ein Soldat seiner Zeit In Konzeption 1 führt Horváth gewissermaßen die beiden Vorarbeiten, Die stille Revolution und Krieg ohne Kriegserklärung, zusammen. Dies lässt sich insbesondere an den Strukturplänen K1/E7, E8 und E9 beobachten. In K1/E7 skizziert Horváth eine Handlungsfolge, die über die „Arbeitslosigkeit“ und „Aussichtslosigkeit“, die in Vorarbeit 1 eine ganz zentrale Rolle gespielt haben, zur „Liebe“ und schließlich zum „Soldat[en]“-Dasein führt, das seit Vorarbeit 2 im Fokus steht. In K1/E8 entwickelt Horváth erstmals eine Strukturidee, die bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt, diejenige der Strukturierung des ersten Kapitels durch militärische Kommandos: „Angetreten!“, „Rechts um!“, „Links um!“, „Kehrt!“, „Zum Gebet!“, „Feuert!“ und „Sturmauf – marsch-marsch, hurrah!“ (vgl. auch K1/E11–E14). K1/E9 verbindet diese militärischen „Kommandos“ mit der Figur der „Kellnerin“, die auf Vorarbeit 2 zurückgeht; auch die hier erwähnte Grenzüberschreitung, das „Mysterium der Front“, der „Urlaub nachhaus“ und die „Desertion“ sind dort schon vorgebildet. Die in Konzeption 1 noch deutlicher als in Vorarbeit 2 betriebene Fokussierung auf den „Tägliche[n] Dienst“ (VA2/E8) des Soldaten äußert sich auch an der Titelgebung, die diese Konzeption unter Titel wie „Ein Soldat“, „Ein Soldat unserer Zeit“ oder „Ein Soldat seiner Zeit“ stellt (vgl. K1/E1–E3). Sprachlich manifestiert sie sich in einer Reihe von Textstufen zum ersten Kapitel, das unter Titeln wie „Der Soldat“ (K1/TS4; vgl. die Grundschicht von TS5), „Angetreten!“ (K1/TS5) oder „Der Vater aller Dinge“ (K1/TS9) steht, und in der Ich-Form aus dem Leben des Soldaten berichtet. Dabei findet Horváth schon zur definitiven Formulierung für den Romanbeginn: „Ich bin Soldat. / Und ich bin gerne Soldat“, heißt es am Beginn von K1/TS5/BS 26 d [3], Bl. 4.

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Eine weitere wichtige Neuerung von K1 ist die Einführung von „Anna, [der] Soldatenbraut“ (erstmals in K1/E10). Auch wenn Horváth schon in den Vorarbeiten eine Liebesgeschichte seines Helden andeutet, gewinnt diese erst in K1 wirklich Kontur, wo es eben keine alltägliche und flüchtige Liebschaft mit einer „Kellnerin“ (K1/E9) mehr ist, sondern die „Ballade von der grossen Liebe“ (K1/E27) mit dem Fräulein vom „verwunschene[n] Schloss“ (erstmals in K1/E18). Von Beginn an steht dabei die Abtreibungsproblematik im Zentrum – eine Problematik, die bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 173–175). Aus der Figur des „Bonzen“ (erstmals in K1/E16/Bl. 9) entwickelt Horváth im Zuge von Konzeption 1 den Liliputaner (erstmals in K1/E27), der schließlich titelgebend für das spätere neunte Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ (erstmals in K1/E28) wird. Strukturell schwanken die Strukturpläne von K1 zwischen elf (vgl. K1/E12, E19 und E20), neun (vgl. K2/E13 und E16) und sieben Kapiteln (vgl. K1/E21–E24 und E27–E29), wobei mitunter auch von sieben „Teilen“ die Rede ist (vgl. K1/E10).

Konzeption 2: Ein Soldat der Diktatur Konzeption 2 steht unter dem Titel Ein Soldat der Diktatur (vgl. K2/E1), der noch der Titel des ersten Einreichmanuskripts war, das Horváth dem Verlag Allert de Lange zur Verfügung stellte. Der Titel gilt also eigentlich auch noch für einen Großteil von Konzeption 3, auf die aber aus der Perspektive des Erstdrucks des Romans der definitive Titel Ein Kind unserer Zeit fällt. K2 umfasst eine große Zahl an Entwürfen, darunter v.a. Strukturpläne, in denen Horváth neuerlich an der Makrostruktur seines Romanprojekts arbeitet und die Kapitelfolge noch einmal entscheidend revidiert. Zunächst hält der Autor dabei wie in K1 noch an einer Struktur in sieben Kapiteln oder Teilen fest (vgl. K2/E6, E10–E13, E25 und E31), entwickelt aber parallel dazu etwa ab der Mitte von K2 auch wieder ein größeres Konzept seines Romans, das bis zu 13 Kapitel umfasst (vgl. etwa K2/E14, E19, E22, E32, E33, E35, E36 und E39). Auch die Benennung der einzelnen Kapitel variiert hier noch sehr, während sie in K3 schon einigermaßen festzustehen scheint und sich im Wesentlichen am Strukturplan E39 orientiert, der folgende elf Kapitel umfasst: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Irrtum“, „Im Hause des Gehänkten“, „Der Aufseher“, „Der Gedanke“, „Der Bettler“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel der Zukunft“. Eine entscheidende Erweiterung des Konzepts, die Horváth erst in K2 vornimmt, ist die Hinzunahme der Witwe des Hauptmanns (erstmals in K2/E15, deutlich in K2/E22 und E23), wodurch das Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ entsteht, das erstmals im Strukturplan K2/E22 auftaucht. Auch der „Brief des Hauptmanns“ geht auf K2/E15 zurück und wird in K2/E23 in seiner Funktion deutlich. Zum genetischen Konvolut von K2 zählen überdies eine Reihe von Textstufen, in denen der Autor einzelne Kapitel des Romanprojekts ausarbeitet, darunter etwa eine Fassung des Kapitels „Der Vater aller Dinge“ (TS1), das aber zu diesem Zeitpunkt noch den Titel „Der Soldat“ oder „Ein Soldat“ getragen haben dürfte.48 Weiters finden sich Fassungen des Kapitels „Das verwunschene Schloss“ (TS2 und TS5), der Kapitel „Die Ballade von der Soldatenbraut“ (TS3) bzw. „Die Ballade von der grossen Liebe“ (TS4), des „Haupt48

Vgl. die Postkarte Ödön von Horváths an Walter Landauer vom 10. Februar 1938 (Anm. 14).

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mann“-Kapitels unter verschiedenen Titeln (TS10–TS13), der Kapitel „Der Student“ (TS17), „Der Gedanke“ (TS15 und TS19), „Der Bettler“ (TS18 und TS22) und eine Fassung des Schlusskapitels unter dem Titel „Der Schneemann“ (TS24). Allerdings weist der hier noch gänzlich anders geartete Schluss des letzten Kapitels, der eine Elevationsszene vorsieht, darauf hin, dass diese Textstufen noch einem früheren Bearbeitungszustand angehören, dem in Hinblick auf die Endfassung noch ein entscheidender konzeptioneller Schritt folgte.

Konzeption 3: Ein Kind unserer Zeit Konzeption 3 steht eigentlich noch unter dem Titel Ein Soldat der Diktatur, den Horváth bis zur Einreichung des ersten Manuskripts seines Romans beim Verlag Anfang Februar 1938 beibehalten hat,49 aus der Perspektive des Erstdrucks fällt jedoch auf diese Konzeption der Titel Ein Kind unserer Zeit. Konzeption 3 umfasst vor allem eine Reihe von Typoskripten, in denen Horváth einzelne Kapitel seines Romanprojekts ausarbeitet. Die wenigen Entwürfe, die zu Konzeption 3 vorliegen, sind einerseits Strukturpläne, die der Strukturierung des Romanschlusses gewidmet sind (K3/E3–E7), der erst relativ spät fixiert wurde. So erwägt Horváth noch in dieser Konzeption eine Kapitelfolge für den Schluss, die folgendermaßen aussieht: „Anna, die Soldatenbraut“, „Das Paradies“, „Die Linie“ und „Der Schneemann“ (K3/E6). Der Kapiteltitel „Das Paradies“ kehrt auch noch in E10 wieder. Auch ein Kapiteltitel „Der Hilfsdiener“ wird hier noch erwogen (E7). Andererseits sind die Entwürfe einzelnen Figuren, Dialogpassagen und Handlungsabläufen gewidmet (vgl. E1, E2, E6, E8, E9 und E11). Die Reihe der Typoskripte umfasst Textstufen zu allen Kapiteln der Endfassung, mit Ausnahme des sechsten Kapitels, „Der Hund“, zu dem keine Fassung überliefert ist. Die Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit dürfte wohl Anfang März 1938 fertig geworden sein. Sie umfasst elf Kapitel, die folgendermaßen lauten: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Bettler“, „Im Hause des Gehenkten“, „Der Hund“, „Der verlorene Sohn“, „Das denkende Tier“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Anna, die Soldatenbraut“ und „Der Schneemann“. In diesen Kapiteltiteln spiegeln sich die wesentlichen Handlungslinien des Romans: die Militär- und Kriegserfahrung des Soldaten, seine Liebe zum Fräulein vom verwunschenen Schloss („Anna, die Soldatenbraut“) und die damit verbundene ‚Menschwerdung‘, seine Verkrüppelung, seine Affäre mit der Witwe des Hauptmanns, seine allmähliche Entwicklung zum selbstständigen Denken, seine Vater-Beziehung, sein Einblick in das kapitalistische Unternehmertum und sein Tod.

Rezeption Am 20. Mai 1938 schreibt Ödön von Horváth aus Amsterdam an Stefan Zweig: Lieber Herr Doktor Zweig, Sie werden, vielleicht mit gleicher Post einen Brief meines Verlegers erhalten, und ich will mich hiemit nur der Bitte anschliessen, es wäre wunderschön, wenn Sie paar Zeilen schreiben könnten und ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar. Ich wage es, mich mit dieser Bitte an Sie zu wenden, 49

Vgl. ebd.

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Vorwort

da ich seinerzeit mit grosser Freude in Salzburg hörte, dass Ihnen mein Roman gefallen hat. Die paar Zeilen von Ihnen würden dem Buch ungemein viel nützen. Bitte, lassen Sie von sich hören und seien Sie herzlichst und vielmals gegrüsst von Ihrem Ödön Horváth50

Zu einem kritischen Eintreten Zweigs für den Roman Ein Kind unserer Zeit kam es nicht. Immerhin konnte er als Würdigungsschreiber für die erste englische Übersetzung des Romans gewonnen werden und äußerte sich dort sehr positiv über diesen. Die Rezeption des Romans setzte zwar bald nach seinem Erscheinen ein, war aber aufgrund des Verbots der Bücher des Autors im Deutschen Reich51 auf das nichtdeutschsprachige Exil beschränkt. Bereits im Juni und September 1938 erscheinen Auszüge aus dem ersten Kapitel in der Zeitschrift Das Neue Tage-Buch und in der Pariser Tageszeitung.52 Der fast zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches vorgefallene Exitus des Autors beförderte die Rezeption des Romans nicht in dem Ausmaße, wie man sich das hätte vorstellen können. Dem lagen wohl politische und literaturbetriebliche Gründe quer. Zwar wurde über Horváths Tod fast überall und ausführlich berichtet, doch sein letzter Roman fand keine vergleichbare Aufnahme, und dies, obwohl die Erstausgabe von Texten zweier bekannter Autoren des Exils, Franz Werfel und Carl Zuckmayer, flankiert wurde. Werfel schreibt in seinem „Vorwort“, dass Horváths Spätwerk seit dem Stück Der jüngste Tag53 gekennzeichnet sei von der „Idee der Schuld“54, und er setzt fort: Es gibt naive Talente, für die Vergeistigung und moralisches Bewusstwerden eine entscheidende Gefahr bedeuten. Horváths Natur, obgleich durchaus naiv, ist dieser Gefahr entgangen. Seine Kraft der Durchdringung und Enthüllung hat sich im Gegenteil durch jene Erkenntnis von der Schuld vervielfacht. Die zwei Romane überragen deshalb alles, was er geschaffen hat. Es wäre freilich ungehörig, ihnen den Rang vollendeter Kunstwerke zubilligen zu wollen. Diesen Rang besitzen sie keineswegs. Ihre Bedeutung liegt nicht in der künstlerischen Vollkommenheit, sondern in der einmaligen, unverbrauchten Art, wie ein fast voraussetzungsloser Mensch zum Grauen vor der Gegenwart und zur religiösen Schuld-Erkenntnis der absoluten Lieblosigkeit erwacht. Diese Werke sind noch Stufen. Aber sie führen sehr hoch. Wenn man sie erstiegen hat, ermisst man die Grösse des Verlustes. Ödön von Horváth wurde gefällt, lange bevor er sich zur letzten Tat gesammelt hatte. Die fragmentarische Leistung jedoch genügt schon, um zu ahnen, dass dieser Dichter dazu geboren war wie kein andrer, dem deutschen Roman die erschöpfende „Dämonologie des Kleinbürgertums“ zu schenken. „Jugend ohne Gott“ und „Ein Kind unserer Zeit“ wären vermutlich die ersten Bände dieser Dämonologie geworden.55

Wohlgemerkt, Werfel spricht zweimal von den beiden Romanen und nicht nur von dem einen. Für ihn gehören die beiden Texte untrennbar zusammen und sind auch 50

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Brief Ödön von Horváths an Stefan Zweig vom 20. Mai 1938, zitiert nach dem handschriftlichen Original in der Stefan Zweig Collection, Stefan Zweig Correspondence – Oedoen von Horváth, Reed Library, State University of New York, Fredonia, NY. Der Roman Ein Kind unserer Zeit findet sich genauso wie sein Vorgänger-Roman Jugend ohne Gott auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ vom 31. Dezember 1938 (vgl. Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 248–255 sowie das Vorwort zu Jugend ohne Gott in WA 15, S. 18). Vgl. Anm. 45 und 46. Vgl. WA 10, S. 12f. Werfel 1938 (Anm. 42), S. III. Ebd., S. IVf.

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Vorwort

vom künstlerischen Rang her ebenbürtig. Dies manifestierte sich auch in der frühen Editionspraxis, die, etwa in der Ausgabe Zeitalter der Fische von 1953, beide Romane gemeinsam in einem Band publizierte. Mit seinem eingeschränkt positiven Eintreten für die beiden Romane, denen Werfel das Etikett der „Dämonologie des Kleinbürgertums“ verpasste, ebnete er der weiteren Rezeption der beiden Romane den Weg, die jedoch im Falle von Ein Kind unserer Zeit verspätet einsetzte. In Heft Nr. 46 der Zeitschrift Die neue Weltbühne berichtet Rudolf Leonhard am 17. November 1938 über den „Emigrierten SDS“ und schließt seinen Essay mit folgenden Worten: Als wir Ödön von Horváth begruben, waren in der kleinen pariser Kirche, in der die Trauerfeier stattfand, einige Dutzend Schriftsteller versammelt, alle, die man kennt und nennt, wenn die besten Namen genannt werden; alle, die dazu gekommen sind in den letzten Jahren; und die nicht da waren, gehörten auch zu den Versammelten, sie waren nur grade nicht in Paris; wer ist eigentlich drüben, in Deutschland, fragte man sich? Wer, ausser ein paar Verrätern, die schon bis in ihren Stil verkommen sind; ausser ein paar Dummköpfen und einigen Verführten – und die, die drüben geblieben sind und wirklich etwas waren, die schweigen. Der Schutzverband darf sich rühmen, die deutsche Literatur zu umfassen und zu vertreten.56

Horváth erscheint durch diese Aufnahme in den illustren Kreis der Emigranten nachhaltig rehabilitiert. Im Dezember-Heft der Neuen Weltbühne folgt ein Bericht über einen Gedächtnisabend, den der Schriftstellerverband für Horváth organisiert hatte. Symptomatischerweise wird dort von der Lektüre aus Horváths Romanen „Jugend ohne Gott“ und „Ein Mensch dieser Zeit“ gesprochen.57 Der Roman Ein Kind unserer Zeit hatte noch nicht die Aufnahme erfahren, die ihm gebührte. Erst im Februar 1939 erscheint in der deutschsprachigen Moskauer Exilzeitschrift Das Wort eine Rezension von Maria Arnold. Sie schreibt dort: Aus der Menge kleiner, unbekannter Leute griff der Autor einen Zwanzigjährigen heraus. Er läßt ihn sein Leben erzählen, karg und fast unbeholfen, doch mit brutaler Ehrlichkeit. Arbeitslos, seit er die Schule verließ, ernährt er sich kümmerlich von den Suppen der Wohlfahrtsküchen, dem Vater ist er eine Last, und sein Leben erscheint ihm sinnlos. Dieser junge Mann beginnt erst aufzuatmen, als er Soldat wird. […] Nur die Uniform mit den Tapferkeitsauszeichnungen lange tragen dürfen, nur die Tage und Monate weiter nach Kommando verleben und den Lohn einstecken können mit der so lange ersehnten Befriedigung, daß man sich nicht mehr den Kopf zerbrechen braucht, wie man satt wird, womit man sich bekleidet und wo man sein Bett findet. Dafür macht er sich bereitwillig und skrupellos zum Söldner einer Sache, die das Recht vergewaltigt und die Ungerechtigkeit zum Banner erhebt. Und doch ist die Stimme der Menschlichkeit in diesem jungen Herzen nicht ganz erstickt. Auf sehr verschlungenen Wegen vernimmt er sie, als ihn eine Verwundung wieder in die Arbeits- und Brotlosigkeit zurückwirft und als ihn plötzlich eine seltsame Liebe zu einem Mädchen ergreift. Und diese Stimme ist nicht mehr zum Schweigen zu bringen, so leise und verworren sie auch nur mahnt, sie verfolgt ihn auf seinen einsamen Spaziergängen und bringt ihn, bevor er wie ein Obdachloser erfriert, zu Überlegungen, denen er sich bisher verschloß.58

Wenn die Rezensentin von der „Menge“ spricht, aus der Horváth seinen Protagonisten herauslöste, klingt ein anderes Wort an, das die Literatur und Kultur der dreißi56

57

58

Rudolf Leonhard: Der emigrierte SDS. In: Die neue Weltbühne, Paris, 34. Jg., Nr. 46, 17. November 1938, S. 1453–1456, hier S. 1456. Alfred Kantorowicz: Deutsches Theater in Paris. In: Die neue Weltbühne, Paris, Paris, 34. Jg., Nr. 52, 19. Dezember 1938, S. 1649–1651, hier S. 1649. Maria Arnold: Ödön von Horvarths letztes Werk. In: Das Wort (Moskau), 2. Jg., Februar 1939, S. 125.

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Vorwort

ger Jahre prägte, das der „Masse“. Carl Zuckmayer betont in seiner Grabrede Horváths „besondere Art von Liebe“, die er dem „Kleinen und Kleinsten“ entgegenbrachte, „den Anonymen, – denen, die ‚Masse‘ sind und Masse bilden, ohne es zu wissen und ohne sich zu bekennen“59. Diese Form der Liebe ist zweifelsohne in die beiden Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit eingegangen. Ohne sie wäre ihr Entstehen unvorstellbar. Mit dem Rekurs auf die „Menschlichkeit“, den Maria Arnold in der zitierten Passage betreibt, trifft sie einen weiteren zentralen Aspekt des Horváth’schen Schreibens ab der Mitte der dreißiger Jahre. Auch er ist freilich in einem größeren Kontext zu sehen, ist er doch Signum der Exilliteratur insgesamt, die den Gräueln und der Unmenschlichkeit des Faschismus Völkerfrieden und Humanität entgegenzustellen versuchte.60 Horváths Bestrebungen in dieser Richtung wurden allerdings mitunter heftig kritisiert.61 Auch Arnold scheint die „Erkenntnis eines besseren Lebens“ in seinem letzten vollendeten Roman etwas zu „zaghaft“ gestaltet, wie sie am Ende ihrer durchaus positiven Besprechung anmerkt: Mit großer Sparsamkeit des Ausdrucks gestaltete Ödön von Horvarth dieses Schicksal, lauschte er es dem wirklichen Leben ab, das hinter jedem Wort pulsiert. Er läßt die Tragik dieses jungen Menschen aus dem Elend der Arbeitslosigkeit erstehen, die ihn auf Pfade drängt, wo das Böse gutgeheißen und Unrecht zum Recht erhoben wird. Hinter den schmucklosen Worten wird die Dumpfheit dieses Alltags spürbar, sein enger Kreis des Denkens, der den Blick trübt, ihn haltlos macht, sein kleines Streben, das nur vom eigenen Wohlergehen geleitet wird, unberührt von den großen sozialen Kämpfen. Wie ein abgerissenes Blatt, einsam vom Winde verweht, läßt der Autor dieses Kind unserer Zeit hin- und hertreiben, einem Ende entgegen, in dem die Erkenntnis eines besseren Lebens nur zaghaft aufdämmert.62

Wieder ist die Falschschreibung des Autornamens symptomatisch für seine nur relative zeitgenössische Bekanntheit. Immerhin folgten in den nächsten Jahren Übersetzungen des Romans in verschiedene europäische Sprachen, insbesondere ins Französische, Englische und Spanische, sodass einem ähnlichen Erfolg wie demjenigen von Jugend ohne Gott eigentlich nichts im Wege stand. In einer „Appreciation“, die der englischen Ausgabe beigefügt wurde, die noch im Jahre 1938 im Methuen Verlag (London) erschienen ist, schreibt Stefan Zweig: In Ödön von Horváth German literature has lost the most gifted writer of the younger generation. […] [H]is two novels, Youth without God and Child of Our Time present perhaps the most realistic picture of that generation which grew up in Germany during the despairing post-war years. Nowhere is the passionate desire of that youth to escape from an atmosphere poisoned by politicial hatreds and social irritations more vividly conveyed. And these novels, bearing the stamp of true poetry and masterpieces of their kind, form one of the most important German documents of the age.63

Wie schon Werfel nennt also auch Zweig beide Romane in einem Atemzug. Doch noch stärker als jener hebt er die künstlerische Bedeutung und den dokumentarischen Wert der beiden Texte hervor. Trotz dieser gewichtigen Fürsprecher wurde die weitere Rezeption und Verbreitung des Romans Ein Kind unserer Zeit vermutlich durch die 59

60 61 62 63

Carl Zuckmayer: Abschied von Ödön von Horváth (gesprochen an seinem Grab, Paris, 7. Juni 1938 von Carl Zuckmayer). In: Horváth 1938b, S. 203–212, hier S. 208. Vgl. WA 8, S. 17f. und Zuckmayer 1938 (Anm. 59), S. 210. Vgl. WA 8, S. 16 und WA 15, S. 17f. Arnold 1939 (Anm. 58). Stefan Zweig: An Appreciation. In: Horváth 1938c, S. IX.

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Vorwort

politischen Ereignisse erschwert. Auch die Neuauflage 1951 im Wiener Bergland-Verlag konnte seinen Bekanntheitsgrad nicht wirklich steigern. Ein Soldatenroman war in diesen Jahren wohl kaum das, wozu die Leserschaft griff. Immerhin war mit der Neuausgabe jedoch die Rezeption des Romans nach dem Krieg gesichert. Diese stand von jeher zu Unrecht im Schatten des großen Erfolgsromans Jugend ohne Gott. Auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde dem Roman Ein Kind unserer Zeit im Vergleich zu Jugend ohne Gott bisher viel zu wenig Beachtung geschenkt. In monographische Arbeiten zum Werk Horváths ging er zwar wiederholt ein, jedoch fehlen die herausragenden Einzeluntersuchungen. Dem steht allerdings eine Reihe von Aufsätzen gegenüber, die sich eingehender mit dem letzten, zu Lebzeiten abgeschlossenen und veröffentlichten Werk des Autors auseinandersetzen. Johanna Bossinade weist in einem Aufsatz über die beiden Exilromane auf die „‚Angst‘ als Grundgefühl der Epoche“ und das „‚Grauen‘ als Wirkungsmoment einer an romantischen Mustern orientierten Literatur“ hin, die zum Verständnis der beiden Texte unumgänglich seien und auf die bereits Klaus Mann in seiner Besprechung von Jugend ohne Gott aufmerksam gemacht habe.64 In den Fragestellungen der beiden Romane ortet sie eine Überwindung des „Humanismuskonzept[s]“, das noch die späten Dramen bestimmt hatte, und „so fragen diese Werke denn weniger nach dem Wesen des Menschen als vielmehr nach dem, was ihm vorausliegt: dem Wesen des menschlichen Seins, der Existenz“.65 Bossinade ortet damit eine Nähe zu Heideggers Sein und Zeit (1926).66 Mit der Suche „nach einer anderen Seinserfahrung“ schaffe Horváth auch „eine gewisse Annäherung an die Literatur der klassischen Moderne“ eines Musils oder Brochs.67 Beiden Romanen Horváths gemeinsam sei die Darstellung einer „Verlusterfahrung“: „Vor den Vätern sterben die Söhne.“68 Dem Tod der Söhne geht aber in beiden Fällen die Begegnung mit einer Frauenfigur voraus, die einmal Züge einer „Amazone“, das andere Mal Züge einer „Venus“-Figur hat; beide Figuren, so Bossinade, entstammen dem Repertoire der Romantik.69 Für die männlichen Protagonisten werden diese Frauenfiguren zu falschen Glücksversprechen, deren illusionärer Charakter sie letztlich in tiefer Traurigkeit und erfahrener sozialer Kälte untergehen oder aber ihr „Geworfensein“ einfach hinnehmen lässt.70 Mit dem Hinweis auf das „Grauen“ und die „Angst“, den Bossinade gibt, liegt der Vergleich mit einem anderen wichtigen Autor der Moderne nahe: Franz Kafka. Ihn unternimmt Holger Rudloff, indem er „Kafka-Bezüge“ in Horváths Roman Ein Kind unserer Zeit aufdeckt.71 Er stellt seiner Untersuchung den zweifellos richtigen Befund voran, dass es sich bei dem Roman um die Geschichte einer „Verirrung“ handle;72 und 64

65 66 67 68 69 70 71

72

Johanna Bossinade: „Verloren, was ich niemals besessen hab“. Ödön von Horváths Exilromane. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 74–97, hier S. 75. Ebd., S. 82. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83f. Vgl. ebd., S. 91. Holger Rudloff: Kafka-Bezüge in Horváths Ein Kind unserer Zeit. In: Krischke (Hg.) 1989 (Anm. 64), S. 133–155. Ebd., S. 135.

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Vorwort

damit ist natürlich unmittelbar die Welt Kafkas auf den Plan gerufen. Der Soldat sei in ähnlicher Weise in seiner „Erlösungserwartung“ durch die Liebe auf „vorgeleitete Figurationen“ (etwa der Mutter) bezogen, wie dies Kafka in seinen Brief-Liebschaften zu Felice Bauer und Milena Jesenská gewesen sei:73 „In beiden Fällen steht die Sehnsucht nach der Mutter symbolisch für eine Erlösungserwartung.“74 Auch ödipale Konstellationen, wie etwa die Affäre des Soldaten mit der Witwe seines Hauptmanns, finden sich zuhauf bei Kafka, dessen Frauenfiguren, nach einem Diktum Heinz Politzers, meist eine „Mischung von Mutterschaft und Promiskuität“ seien.75 Auf diese Sehnsucht nach mütterlichen Frauenfiguren in der Exilliteratur, wie sie sich als Folge der Neuen Sachlichkeit und im Speziellen der ‚Neuen Frau‘ schon unter den Intellektuellen der Weimarer Republik fand, weist Anja C. Schmidt-Ott hin.76 Ähnlich wie Kafka das „leer[e] Gesicht“77 der Felice Bauer füllte, benötigt „[d]er Protagonist [in Ein Kind unserer Zeit; Anm.] die ‚Linie‘ als Projektionsfläche für seine Visionen, weil er in der Wirklichkeit die Erfahrung der Gefühlskälte nur zu deutlich spürt“.78 Auch unter dem Aspekt der Begriffspaarung „Schuld und Sühne“ finden sich Parallelen zwischen dem Autor von Ein Kind unserer Zeit und jenem des Prozesses, des Urteils und der Verwandlung. Wie Gregor Samsa in „weichem Staub“, so versinkt der Soldat im „Schnee“ und beide „in wehmütige[r] Erinnerung an familiäre Geborgenheit.“79 Jürgen Schröder verhängt deshalb über das gesamte Spätwerk Horváths das Verdikt der „Regression“.80 Das Junggesellentum der beiden Protagonisten zeige ihre Unbehaustheit im Leben an.81 Nicht zuletzt erscheinen sie auch als Opfer eines ausbeuterischen kapitalistischen Systems und in einer Art „Degradationsmetamorphose“ als Käfer oder „denkende[s] Tier“ – so der Titel von Kapitel acht von Ein Kind unserer Zeit.82 Angelika Steets und Christoph Parry haben sich in genauen Analysen mit der sprachlichen Verfasstheit des Soldaten auseinandergesetzt.83 Alexander Fuhrmann liefert mit seinem Aufsatz „Der verschwiegene Krieg“ „[z]eitgeschichtliche Materialien“ zum Roman und weist darauf hin, dass mit dem darin dargestellten „Krieg ohne 73 74 75 76

77 78 79 80

81 82 83

Ebd., S. 137. Ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 139 und 141. Anja C. Schmidt-Ott: „Ich muss mich schwächer zeigen, als ich bin, damit er sich stark fühlen und mich lieben kann“. Männer und Frauen in Exilromanen von Ödön von Horváth, Maria Leitner, Anna Gmeyner und Irmgard Keun. In: Gender – Exil – Schreiben. Mit einem Vorwort von Guy Stern hg. v. Julia Schöll. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 109–126, hier S. 122f. Zitiert nach Rudloff 1989 (Anm. 71), S. 138. Ebd., S. 141. Ebd., S. 147. Jürgen Schröder: Das Spätwerk Ödön von Horváths. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 125–155, hier S. 133. Vgl. Rudloff 1989 (Anm. 71), S. 148. Vgl. ebd., S. 149–151. Angelika Steets: NS-Sprache in Horváths Romanen. In: Krischke (Hg.) 1989 (Anm. 64), S. 113–132; Christoph Parry: Ödön von Horváths Ein Kind unserer Zeit. Ein Roman im restringierten Code ideologischer Verstümmelung. In: Grenzüberschreibungen. Festschrift für Henrik Nikula zu seinem 60. Geburtstag. Hg. v. Mariann Skog-Södersved, Christoph Parry und Brigitte von Witzleben. Vaasa/Germersheim: Universität Vaasa/Institut für Deutsche Sprache 2002 (= Saxa, Sonderband 7), S. 285–294.

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Vorwort

Kriegserklärung“ das „Eingreifen deutscher Truppen in den Spanischen Bürgerkrieg“ gemeint sei.84 Allerdings liegen deutliche Assoziationen zum ‚Anschluss‘ Österreichs ebenso nahe, der aber erst in die Zeit der Fertigstellung des Romans fiel.85 Fuhrmann zeigt darüber hinaus, wie Horváth andere politische Ereignisse, etwa den „Aufbau der Wehrmacht“ oder die „Rheinlandbesetzung“ im Roman literarisch verarbeitete.86 Außerdem geht er davon aus, dass der Autor die sogenannten „Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei“ kannte, „die bis 1937 in Prag erschienen und auch über Österreich, im ‚kleinen Grenzverkehr‘, ins Reich, nach Bayern geschmuggelt wurden“87. Aus diesen Deutschland-Berichten erfuhr der Autor, der sich zu der Zeit in Österreich befand, Genaueres über die Lage Deutschlands, etwa über die tatsächlichen Arbeitslosenzahlen, wie sie als Reflexion des Soldaten ins achte Kapitel „Das denkende Tier“ eingegangen sind.88 Insgesamt zeigt sich in allen diesen Untersuchungen, dass Horváth ein „treuer Chronist [s]einer Zeit“89 war, dass er mit seinen beiden späten Romanen in einer direkten und deutlichen Art und Weise auf das unmittelbare Zeitgeschehen reagierte und in einer Form Kritik am nationalsozialistischen Deutschland übte, die ihm seinen Platz in der Riege der Exil-Schriftsteller sicherte. Wie schon im frühen Stück Sladek, der schwarze Reichswehrmann (1929), das in vielem Pate gestanden haben dürfte für seinen letzten vollendeten Roman, verarbeitete Horváth in Ein Kind unserer Zeit bewusst zeitgeschichtliches Material und nahm damit dezidiert Stellung zu den politischen Ereignissen seiner Zeit, allerdings ohne, wie er dies in Figaro läßt sich scheiden (1936) noch getan hatte, einen utopischen Aspekt zu entwickeln. In einem Entwurf zum Werkprojekt Ein Kind unserer Zeit fragt sich Horváth: „Was soll ein Schriftsteller heutzutag schreiben?“ (K1/E28) Er wollte diese Problematik in einem geplanten „Vorwort“ (ebd.) zum Roman behandeln, das aber schließlich nicht realisiert wurde. Angesichts der politischen Ereignisse seiner Zeit war diese Frage für ihn in höchstem Maße virulent und beschäftigte ihn noch in Notizen zu seinem letzten Romanprojekt Adieu, Europa!, die auf das Frühjahr 1938 zu datieren sind.90 Mit seinen beiden späten Romanen hatte er sie sich aber eigentlich schon beantwortet.

84

85 86 87 88 89 90

Alexander Fuhrmann: Der verschwiegene Krieg. Zeitgeschichtliche Materialien zu Ein Kind unserer Zeit. In: Krischke (Hg.) 1989 (Anm. 64), S. 98–112, hier S. 100. In VA2/E5/Bl. 9 ist etwa von der „Revolution im Nachbarland“ die Rede. Vgl. Fuhrmann 1989 (Anm. 84), S. 101–104. Ebd., S. 105. Vgl. ebd. ÖLA 3/W 236 – BS 64 h, Bl. 4 (Gebrauchsanweisung). Vgl. etwa ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 2 (vgl. WA 8, S. 19) und Bl. 6.

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Lesetext

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Vorarbeit 1: Die stille Revolution

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Strukturplan, Figurenliste

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 1

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Strukturplan, Figurenliste

VA1/E1–E2

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Lesetext

Fragmentarische Fassung

5

VA1/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Am 18. April 1934 schracken die Bewohner des kleinen Städtchens BSanct-MartinN im Burgenland auf BeineN furchtbare Detonation aus dem Schlafe auf. Und kaum war die erste vorbei, folgte die zweite. Die Gendarmen eilten heraus, desgleichen die Miliz. Es waren zwei Böller explodiert, der eine vor dem Pfarrhaus, der zweite vor dem Bürgermeisteramt. Es wurden unzählige Fensterscheiben \Abbruch der Bearbeitung\

1 2

B B

Sanct-MartinN ] eineN ]

[M] |Sanct-Martin| [eine] [|zwei|]

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ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

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10

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VA1/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 „Habens schon gehört, Herr Pichelmeyer“, fragte Bdie FrauN Krennhuber ihren Zimmerherren, „dass heut Nacht in Sanct-Martin wieder zwei BBombenN explodiert sind, die eine vor dem Rathaus, die zweite vor dem Pfarrhaus. Der hochwürdige Herr ist ein tapferer Mann, er ist gleich aus dem Bett heraus und hinaus vor die Tür und hat geschimpft und geflucht, während der Bürgermeister einen Nervenchock bekommen hat. Und zwischen Wien und St. Pöltens habens eine Eisenbahnbrücke gesprengt, im letzten Moment habens den D-Zug aufgehalten, sonst wär was passiert, und einen B christlich-deutschen TurnerN habens BmeuchlingsN erschossen, und den jüdischen Juwelier ermordet, und in Wien habens auf einem Kinderspielplatz Bomben in den Sand gelegt und die haben den Kindern die Händ weggerissen – 얍 ich sags ja, ich sags ja: diese Herren Nationalsozialisten, Bdie wollens erzwingen,N dass wir preussisch B werden!N“ B N „Beruhigen Sie sich, Frau Krennhuber“, meinte der Assistent Pichlmeyer, „wir Österreicher werden niemals preussisch. Selbst wenn uns die Preussen einverleiben sollten, so bleiben wir doch immer, was wir sind!“ „Wenn nur der Franz Josef noch leben würde“, sagte die Alte. „Aber so ohne Kaiser –“ „Auch jetzt haben wir Männer, die über Österreich wachen“, sagte der Pichlmeyer, „und Gott wird uns helfen, alles zu überstehen. Auch die Preussen.“

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 2

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 3

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xxxxxxx

25

Der Assistent Pichelmeyer war ein braver Mann. Er war immer schon Legitimist und er hasste die 얍 Preussen. „Man muss sich von dem Vorurteil frei machen, dass die Preussen auch Menschen sind“, pflegte er zu sagen. \Abbruch der Bearbeitung\

1 2 8 8 11 12 12

die FrauN ] BombenN ] Bchristlich-deutschen TurnerN ] BmeuchlingsN ] Bdie f erzwingen,N ] Bwerden!N ] BN] B B

d[er]|ie| [Friseur] |Frau| [Böller] |Bomben| [Milizler] |christlich-deutschen Turner| \meuchlings/ [also das ist sch] |die f erzwingen,| werden[.]|!| [Aber m]

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ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 4

Strukturpläne

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 5

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Strukturpläne

VA1/E3–E4

29

Lesetext

Fragmentarische Fassung des I. Kapitels

5

VA1/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 I. In BdemN Gasthaus zur Rose sassen vier Herren. Sie sassen im Nebenzimmer und waren die einzigen Gäste. Trotzdem unterhielten sie sich gedämpft. „Der Vorschlag“, sagte der Eine, „ist blöd. Denn warum sollen wir bei Schwarz & Co. einbrechen? Dort BholenN wir nichts. Lieber brechen wir bei Weiss & Co ein, dort gibts wenigstens Zigaretten.“ \Abbruch der Bearbeitung\

2 5

B B

demN ] holenN ]

d[as]|em| hole\n/

30

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 5

Fragmentarische Fassung des 1. Kapitels

VA1/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 1.) Es war einmal ein junger Mann, der ging auf die Universität. Er studierte aber nicht, sondern schrieb ein Stück. Er war recht schüchtern und reichte das Stück ein. BN

5

Er wartete vier Wochen – endlich kam ein Brief. „Sehr geehrter Herr! Sie haben uns ein Stück gesandt und bitten wir Sie, uns zu besuchen. Verlag Elysium.“ Der junge Mann ging hin. Er meldete sich an. B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

3 5

] besuchen.N ]

BN B

[Als er es eingereicht hatte, bekam er eine Kopfgrippe und war also sehr krank.] besuchen.[“]

31

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 5

Strukturpläne

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 6

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Strukturpläne

VA1/E5–E7

33

Lesetext

34

Fragmentarische Fassung

VA1/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B ImN dritten Stock wohnte ein Student. Er studierte Jus, wusste aber nicht, was er werden wollte. Die Strasse war eng und kurz, der Himmel grau. Es begann leise zu regnen. Der Sommer BgingN vorbei. Der Sommer 1913 – B 5 Der Student schrieb ein Gedicht.N BEs handelte von düsteren Leidenschaften. Ein Lustmord. Das war damals modern.N B Vom Korsett. Die alte Gräfin. Der literarische Zirkel. Der alte Sozi. Er zerreisst seine Gedichte.N

Das Vorkriegserlebnis mit der Hur.

10

(Der Vater der Laternenanzünder) (Seine Beziehung zum Proletariat) „Er hat keine; er ist ein Ästhet, aber trotzdem Revolutionär.“ B

N

15

Der Weltkrieg. Das Fronterlebnis. \Abbruch der Bearbeitung\

1 4 5

5–6 7–8 14

ImN ] gingN ] BDer f Gedicht.N ] B B

Es f modern.N ] Vom f Gedichte.N ] B„Er f Revolutionär.“N ] B B

[{Als}] |Im| [war] |ging| (1) Der Student [kramte in seiner Schreibtischlade. Er hatte die Gewohnheit, keinen Brief zu zerreissen. Jetzt musste er sie aber zerreissen, denn er [ga] |hatte| sein Zimmer aufgegeben.) Er hatte es aufgegeben, denn seine Hausfrau [ist] |war| gestorben. \Sie war eine Beamtenwitwe. Im Vorzimmer hing noch der Mann. Mit einem starkem Schnurrbart./ Es war ein stimmungsvolles Begräbnis.] |schrieb ein Gedicht.| (2) \Der Student schrieb Gedichte. Es waren moderne Gedichte./ \Es f modern./ \Vom f Gedichte./ \„Er f Revolutionär.“/

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ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 6

Notizen und Replik

ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 1

36

Notizen und Replik

VA1/E8–E9

37

Lesetext

Fassung

VA1/TS6 (Grundschicht)

Lesetext

얍 DIE STILLE REVOLUTION

ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 2

Im dritten Stock wohnte ein Student. Er studierte Ius, wusste aber nicht, was er werden wollte, sollte. Die Strasse war eng und kurz, der Himmel grau. Es begann leise zu regnen. Der Sommer ging vorbei. Der Sommer 1913 -Der Student schrieb ein Gedicht. Er war nämlich verliebt. Aber es wurde kein Liebesgedicht. Ganz im Gegenteil. Es wurde ein Gedicht, das in einem überheiztem Glashause spielte, ein wildes, anklägerisches Gedicht, ein tief resigniertes, von einem Sohne, der seine Mutter umbringt. Es war sprachlich einwandfrei, aber es liess dennoch kalt, denn der Student liebte seine Mutter nicht. Denn seine Mutter war eine dumme Frau, die mit dem Leben nicht fertig wurde. Sie sass in einer Sechszimmerwohnung, und wurde immer hysterischer. Sie war so eifersüchtig auf ihren Gatten, der ein Frauenarzt war. Der Frauenarzt war ein braver Mann und wurde mit ihr nicht fertig. Es war die Tyrannei der Spiesserinnen, der spiessbürgerlichen Vampyre. Aus Achtung vor dem Weibe, wurden sie von den Männern verpatzt. Die Männer damals gingen auf jede Lauen ein, weil sie höflich waren und korrupt. Der Student hatte gerade das Gedicht fertiggedichtet , als die Post kam. Es war ein Brief von dem literarischen Zirkel dabei, dort zu erscheinen. Der Zirkel wurde von einer Gräfin geführt, die für die Literatur schwärmte, für die moderne. Sie verstand nichts davon, aber sie war für die Freiheit. Unter Freiheit verstand sie, die Erlaubnis Wörter wie Hose, 얍 Korsett, etc, aussprechen zu können. Sie hörte die Vorlesungen zu und wenn das Wort Hose oder Korsett kam, applaudierte sie und rief „Bravo!“ In diesem Zirkel wollte der Student sein Gedicht vorlesen. Es hiess: „Der Knabe als Muttermörder.“ Die Gräfin wird „Bravo!“ schreien, dachte der Student, schon beim Titel! Dann verliess er sein Zimmer und ging über die Strasse. Damals war der Verkehr noch gering. Es gab nur wenig Autos. Die Lastfuhrwerke gingen in Schritt und die Wägen wurden von einem Pferde gezogen oder von zwei. Eine eigentliche Lebensgefahr bildeten nur die Strassenbahnen. Und die Equipagen, wenn die Pferde wild wurden, durchgingen, vor einer Trambahn scheuten. Der Student ging an den Geschäften vorbei. In den Buchauslagen lagen die neuesten Werke der Neuromantiker. Sie waren in Leder gebunden. Der Student dachte, er möchte auch mal so gebunden sein. Er wich einem Auto aus. B

5

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N

B

B

N

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B

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N

B

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B

B

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B

4 21

B

22 24 26 33 34

B

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B

B

wusste aberN ] fertiggedichtetN ]

literarischen ZirkelN ] dieN ] BKorsettN ] Bdie WägenN ] BLebensgefahrN ] B

BuchauslagenN ]

N

N

N

korrigiert aus: wusstexaber (1) fertiggestellt (2) fertiggedichtet korrigiert aus: Zirkel literarischen

d[o]|i|e korrigiert aus: Lorsett korrigiert aus: dieW gen (1) Gefahr (2) Lebensgefahr korrigiert aus: Buchuslagen

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N

ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 3

Fassung

5

VA1/TS6 (Grundschicht)

Er hasste die Technik. Es schien ihm unfein, über sie zu sprechen. Es war etwas untergeordnetes. Er ahnte noch nicht, dass ein Jahr später, ein Krieg ausbrechen würde, in dem die Technik siegen wird. Es war eine satte, müde Welt -- und er träumte vom Zusammenbruch. Die Ahnung des Zusammenbruches lag auf ihm, er wusste, dass die Dichter ihrer Zeit immer voraus seien und er wusste, dass alles zusammenbrechen würde. Da hatte er ja auch recht, aber er hatte es sich nicht überlegt, dass er dann keine Gedichte mehr wird schreiben können, kein Geld von seiner hysterischen Mama wird bekommen können, dass dann wirklich alles aus sein wird. Es war das Gefährlichste: er kokettierte mit dem Nichts. Und wusste nicht, dass er kokettierte. Auch jetzt kokettierte er, da er zu seinem Mädel ging. Er holte es 얍 aus einem Warenhaus ab. Dort wartete er. Die grossen Glasfenster waren erleuchtet. Es warteten nur Männer. Darunter ärmere, auch einige Kavalliere, um die Ecke stand sogar eine Equipage. Endlich kam das Mädel. Sie war blond und hübsch. Sie schien traurig. „Was ist Dir?“ fragte der Student. „Ach“, sagte sie. „Du wirst mich ja doch nie heiraten. Das Leben verweht, vergeht --“ Sie gingen durch die Anlagen und durch einen Park. Die Blätter fielen und man hörte aus der Ferne das Läuten der Trambahnen . Sie setzten sich auf eine Bank. „Was ist Dir?“ fragte wieder der Student. „Ich bin ein armes Mädel“, sagte sie, „und Du nützt mich eigentlich nur aus.“ „Ich?!“ „Ja.“ „Wie kannst Du sowas sagen?! “ „Ich war gestern bei einer Freundin. Dort war ihr Onkel. Der hielt uns grosse Reden und er hat recht. Ihr nützt uns nur aus.“ „Aber entschuldige, kennt er mich denn?!“ „Nein.“ „Nun, wie kann ers denn wissen, dass ich Dich ausnütze?“ „Er meint es im Prinzip!“ „Da gibt es kein Prinzip, und das lass ich mir nicht bieten! Ich werde den Kerl zur Rede stellen!“ „Aber Liebster, mach doch keine Sachen! Er steht doch tief unter Dir! Er ist doch nur ein Eisendreher, er arbeitet in der Fabrik, lass ihn reden, schau der Mond kommt jetzt und die Sterne --“ Der Student küsste sie und sie schmiegte sich an ihn. B

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Lesetext

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B

30

35

N

N

B

40

6

B

9 13 15 24 29 38

B

ZeitN ]

Geld vonN ] ] BsogarN ] BTrambahnenN ] Bsagen?!N ] BdochN ] BN

(1) Welt (2) Zeit korrigiert aus: Geldvon gestrichen: xxxxxx korrigiert aus: soar korrigiert aus: Tranbahnen

sagen[,]|?|! d[i]|o|ch

39

N

N

ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 4

Fassung

VA1/TS6 (Grundschicht)

Er fühlte ihre Wärme, aber der Onkel liess ihm keine Ruhe. Wie kommt 얍 der dazu, zu sagen, dass er sie ausnützt?! „Ich werde ihm doch zur Rede stellen“, sagte er plötzlich, aber sie zog ihn ängstlich zu sich herab. Ein Polizist ging vorbei. Er war bei ihr. Hernach: „Ich muss den Onkel sprechen!“ Er hat mit ihr einen kleinen Krach. Sie sagt am Schluss: „Ja, der Onkel hat doch recht: arm und reich vertragen sich nie.“ Arm und reich? Der Student dachte nach: was soll das? -Er ging nachhaus und wusch sich die Hände. Er zog sich um und ging dann zur Einladung der Gräfin. Dort trug er das Gedicht vor. Die Gräfin sagte „Bravo!“ Es waren noch andere Damen da, elegante und so, aber dem Studenten gingen zwei Wörter nichtmehr aus dem Sinn. „Arm“ und „reich“. Er sah die eleganten Damen, die ihm Komplimente machten für seinen Knaben als Muttermörder-Zyklus , und er musste immer an das Mädchen denken im Warenhaus. Und an ihren Onkel. Er wird den Onkel sprechen. Nach der Gräfin ging er mit zwei Freunden weg. Sie gingen noch in ein Cabaret. „Es ist eigentümlich“, sagte der Eine, „die Zweiteilung des Weibes. Die Einen sind Heiligen, die anderen Dirnen. Auch die männliche Seele ist zweigeteilt.“ Aber den Studenten interessierte nur die Zweiteilung „ Arm “ und „reich “. Er ging ins Caberet. Dort sang eine Sängerin ein Lied von einem Strassenleuchter, der die Lampen andreht und seine Tochter am Strich sieht. Es war sehr sentimental und hat den Studenten zutiefst erschüttert. Er betrachtete das Lied als ein Fingerzeig Gottes. 얍 Am nächsten Tage sagte er zu dem Mädel: „Ich möchte Deinen Onkel sprechen, aber ich versprich es Dir, es gibt keinen Krach.“ „Gut“, sagte das Mädel, „aber sei gut zu ihm, er ist ein alter Mann.“ Und sie erzählte ihm, er könnte den Onkel dort und dort treffen, in einem Restaurant Ceres. Am nächsten Tag ging der Student hin. Es war ein vegetarisches Restaurant. Der Onkel hatte einen Spitzbart. Der Student hört zum erstenmale das Wort „Masse“. B

5

10

15

Lesetext

N

B

N

B

20

25

B

N

N

B

B

30

B

40

B

1 1 19 26 26 28 30 33 35

N

N

Wärme,N ] ihmN ] BMuttermörder-ZyklusN ] BArmN ] B„reichN ] BderN ] BzutiefstN ] BKrach.“N ] BUnd f ihm,N ] B B

N

N

N

B

35

ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 5

korrigiert aus: Wärme , korrigiert aus: ihn korrigiert aus: Muttermöder- Zyklus korrigiert aus: Ar korrigiert aus: reich korrigiert aus: das korrigiert aus: zu tiefst korrigiert aus: Krach. “

[Sie führte den] |Und f ihm,|

40

ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 6

Fassung

VA1/TS6 (Grundschicht)

Verwirrt verliess der Student das Lokal. Er traf noch einigemal das Mädchen, aber dann wars aus. Er schrieb auch keine Gedichte mehr. Sie gefielen ihm nicht. B

N

5

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

2

B

trafN ]

korrigiert aus: trafe

41

Lesetext

Fragmentarische Fassung

VA1/TS7 (Grundschicht)

Lesetext

얍 DIE STILLE REVOLUTION

5

10

15

ÖLA 3/W 354 – BS 16 b [3], Bl. 1

Es war eine tiefe Nacht, als ich auf den Unbekannten wartete. Ueber den Wiesen lag der Nebel, aber man konnte ihn nicht sehen, nur riechen, so finster war die Nacht. Im fernen Dorfe schlug die Uhr halbacht. Jetzt müsst er doch schon hier sein! Wo er nur bleibt? Ein Auto fuhr vorüber. Ich stellte mich hinter einen Baum und die Scheinwerfer trafen mich nicht. Ich sollte nämlich nicht gesehen werden, dass ich auf den Unbekannten wartete. Endlich hörte ich Schritte -- ein Mann. Ist er es. Ich stand auf der Strasse und wartete. Nein, er war es nicht. Es war der Gendarm. Als er mich sah, stutzte er einen Augenblick, dann trat er näher und erkannte mich. „Ach, Sie sinds! Was treiben denn Sie da auf der Landstrasse mitten in der Nacht?“ „Ich geh nur etwas spazieren“, sagte ich. „Jaja“, sagte er. „Was soll man denn auch tun? Haben Sies gehört, dass sie heut das Werk stilllegen -- so gehts dahin! Diese wirtschaftliche Depression bringt uns alle noch um!“ „Und derweil hätt ein jeder zu leben auf der Welt, wenn die Güter ein bisserl gerechter verteilt werden möchten. “ Er sah mich aufmerksam an, er stutzte. „Also machens mir nur keine Dummheiten“, sagte er. „Denkens es gibt auch noch andere Arbeitslose, Millionen und Sie sind nicht der einzige. Sie 얍 könnens auch nicht ändern.“ „Ich allein auch nicht, aber die Millionen schon.“ Er stutzte wieder und drohte mir dann mit dem Finger. „Sie, Sie“, sagte er und lächelte. „Das sind gefährliche Vergleiche.“ Und dann beugte er sich nah zu mir her: „Ich kanns ja verstehen, wenn Ihr jungen Leut murrt und wenns Euch nicht passt, dass Ihr keine Arbeit habt und keine Aussicht, aber machts nur keine Dummheiten, Jugend neigt immer zu Radikalismen -- ich, wie ich jung war, da war ich ein Militarist, alles hab ich erobern wollen, dann war ich aber im Krieg, und dann wars anders bei mir --“ „Kriege wirds immer geben“. „Erinnern Sie sich an den Krieg? Wie alt sinds denn überhaupt ?“ „Zwanzig“. „Na dann warens beim Kriegsausbruch noch nicht da.“ „Ich bin ein Kriegskind.“ „Aha.“ „An den Krieg kann ich mich nichtmehr erinnern.“ „Aber Sie sind ja schon zwanzig, warum sagens, dass Sie neunzehn sind?“ „Bloss so.“ B

20

B

25

30

35

B

N

N

N

B

40

18 22 35 37

tun?N ] möchten.N ] Bmir --“N ] BüberhauptN ] B B

korrigiert aus: tun?[“]X korrigiert aus: möchten . korrigiert aus: mir -- “ korrigiert aus: überha upt

42

N

ÖLA 3/W 354 – BS 16 b [3], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

10

15

VA1/TS7 (Grundschicht)

„Komisch. In unserer Jugend haben wir uns älter gemacht und Ihr macht Euch jünger. Also nichts für ungut und auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen, Herr Kommissar!“ „Wiedersehen!“ Ich sah ihm nach. Ja, jetzt ist alles anders. In Deiner Jugend, Herr Gendarm, hat noch ein jeder zu fressen gehabt. Du konntest auch ein Gendarm werden, aber ich? Ich kann mir ja nichts leisten, keine Unterhaltung und nichts -- am liebsten tät ich mich schon manchmal erschiessen. Da klopfte mir jemand auf die Schulter -- ich fuhr herum. Ein Herr stand vor mir mit einer dunklen Brille. „Parole?“ fragte er. 얍 „Schmierseife“, sagte ich. Aha, das war der Unbekannte. „Ich wart schon eine ganze Weile, bis Sie sich mit dem Gendarmen ausdischkuriert haben. Was reden Sie denn soviel mit ihm?“ „Er hat mit mir geredet und ich wiegte ihn nur in Sicherheit.“ „Schön“, sagte der Unbekannte. „Hoffentlich kann man Ihnen vertrauen.“ „Na hörens mal!“ „Also gut“, und er zog einen dicken Brief aus der Tasche. „Von Ihnen weiss es niemand, dass sie zu uns gehören. Gebens den Brief heimlich dem Bürgermeister. Niemand soll es bemerken, dem Ortsgruppenleiter. Alle Parteimitglieder werden überwacht.“ Dann ging er. „Gehts bald los?“ „Ja.“ Gottseidank! B

20

25

Lesetext

\Abbruch der Bearbeitung\

18

B

kannN ]

korrigiert aus: ka n

43

N

ÖLA 3/W 354 – BS 16 b [3], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

VA1/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B Die zweite RevolutionN

5

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 11

I. Gestern war Revolution. Endlich! Die Minister wurden eingesperrt, den Verkehrsminister traf der Schlag vor Freude , der Innenminister wurde verprügelt in einem Keller, der Ministerpräsident floh über die Grenze. Der Kriegsminister war immer schon dabei. Endlich, endlich! Es herrscht ein gewaltiger Jubel. Das Volk tanzt auf den Strassen und marschiert hin und her. Überall werden die alten Flaggen zerrissen und verbrannt, die neuen feierlich gehisst. Das Militär präsentiert der neuen Fahne. Der Führer hat Thränen in den Augen. Die alte Frau Hatschmaier hat vor Freude der Schlag getroffen. Endlich, endlich, hat es das Volk erreicht! Verschwunden waren die Kasten, die Klassen. Es gab nur ein Volk! Verschwunden die falschen Götter, wie Zivilisation! Man kannte nur seine Nation. Es gab zwar welche, die sagten, wieso ist das Volk geeint, wieso gibt es Gleichheit und Brüderlichkeit und Freiheit, wo doch manche viel Geld haben und manche nichts? Sie wurden kurzerhand erschlagen, die dies behaupteten. B

N

B

N

10

15

B

B

20

N

N

B

\Abbruch der Bearbeitung\

1 5 6–7 18 19 19

B

Die f RevolutionN ]

vor FreudeN ] Der f dabei.N ] BwiesoN ] BFreiheit, woN ] Bhaben undN ] B B

(1) Die stille Revolution. (2) Die f Revolution

\vor Freude/ \Der f dabei./ [zu] |wieso| Freiheit[?]|,| [W] |wo| haben [,]|und|

44

N

45

Werktitel, Strukturplan, Notiz

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 12

46

Werktitel, Strukturplan, Notiz

VA1/E10–E12

47

Lesetext

Fassung

VA1/TS9 (Korrekturschicht)



Die stille Revolution Roman. I. Die Personalien. „Sie heissen?“ „Peter Zapfel .“ „Geboren?“ „Am 10. Oktober 1911.“ „Wo?“ „In Békéscsaba. “ „Wie war das? Buchstabieren Sie mal! Wir sind hier in Deutschland! Toller Name sowas!“ „B wie Bruno, e wie Elias –“ „Halt! Nur kein altes Testament! E wie Erich, – weiter!“ „K wie Kaiser, e wie Erich, s wie süss, c wie Christ, s wie süs, a wie Anton, b wie Bruno, a wie Anton.“ „Toller Name! Was es alles gibt! Also wo liegt denn dieses Békéscsaba?“ „In Ungarn.“ „Also ungarischer Staatsbürger.“ „ Nein.“ „Wieso?“ „Weil das anlässlich meiner Geburt zu Ungarn gehört hat, aber jetzt gehörts zu Rumänien, aber mein Vater hat für die Tschechoslowakei optiert, obwohl er auch für Jugoslawien –“ „Halt! Genug! Also was sind Sie?“ „Jugoslawe. Aber mein Pass ist abgelaufen und so ist es nicht klar –“ „Halt! Jugoslawe, zu deutsch: Südslawe. Beruf?“ „Ich hab nichts.“ „Ich habe nicht gefragt, ob Sie nichts haben, sondern ob Sie Südslawe sind?“ „Das weiss ich nicht. Meine Mutter war eine halbe Rumänin, eine halbe Deutsche, mein Vater ein halber Ungar und ein halber Slowak –“ „Ja, Menschenskind! Sie müssen doch irgendwas sein! Als was fühlen Sie sich denn am meisten?!“ „Am ‚meisten‘? Als garnichts!“ „ Unsinn! – Beruf?“ „Tischler.“ „Aha.“ „Wieso aha?“ B

5

N

B

10

N

B

N

B

15

N

B

20

B

B

N

N

B

30

35

B

4 6 10 14 17 20 22 23 27 35

N

N

B

25

Lesetext

N

N

Die Personalien.N ] ZapfelN ] BBékéscsaba.N ] BNurN ] Bgibt!N ] BNein.“N ] BanlässlichN ] BaberN ] Bzu deutsch:N ] BUnsinn! – Beruf?“N ] B B

[Der Name des Menschen] |Die Personalien.| [{Za}] |Zapfel| [Békéscsaba.] [|Budapest.|] [Keine] |Nur| gibt![“] Nein.\“/ [Ich bin Tschechoslowak.“] [{l}] |anlässlich| [d] |aber| \zu deutsch:/ Unsinn![“] |– Beruf?“|

48

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 12

Fassung

VA1/TS9 (Korrekturschicht)

„Keine Fragen! Fragen steht nur mir zu und nicht Ihnen! Sie haben ohne Erlaubnis, ohne Pass, ohne gültige Dokumente die deutsche Grenze überschritten – Sie bleiben vorerst!“ „Wie lang?“ „Das geht Sie nichts an!“ B

B

5

Lesetext

N

xxxxxxx

1 2

B B

Ihnen!N ] ohne f DokumenteN ]

korrigiert aus: Ihnen!“ \ohne f Dokumente/

49

N

Strukturpläne

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 13

50

Strukturpläne

VA1/E13–E15

51

Lesetext

Strukturplan in zwölf Kapiteln

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 14

52

Strukturplan in zwölf Kapiteln

VA1/E16

53

Lesetext

54

Fragmentarische Fassung

VA1/TS10 (Korrekturschicht)

얍 Die stille Revolution

5

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 15

I. Zerrissen. Alles weicht mir aus. Denn meine Schuhe sind zerrissen und mein Anzug ist zerrissen. Ich gehe auf der Landstrasse. „Wer soll meinen Anzug flicken?“ Ich hab keine Frau. „Wer soll meine Schuhe nähen?“ Ich hab kein Geld. Auch für die Frau braucht man Geld. Drum geh ich zerrissen umher. B

B

B

10

N

Aber es macht mir nichts aus. \Abbruch der Bearbeitung\

5 8 9–10

zerrissen.N ] Geld.N ] BAuch f umher.N ] B B

Lesetext

[geflickt.] |zerrissen.| [Geld.] [|Geld|] |Geld.| \Auch f umher./

55

N

N

Strukturplan, Werktitel

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 19

56

Strukturplan, Werktitel

VA1/E17–E20

57

Lesetext

Fragmentarische Fassung

VA1/TS11 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Der Langstreckengeher.

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 19

Ich habs mit einer tumben Bauernmagd. Dann geh ich weiter. B

N

×

5

Ich werde nach dem Bettlerlager gross durch sportliche Leistung in der Firmenmannschaft. Ich werde eingeweiht in die Erfordernisse der „neuen Kollektivität“. B

N

B

N

×

10

Flucht. Trappisten. 15

Das Kind der tumben Bauernmagd. Die stille Revolution. xxxxxxx

20

B

Ich trete vor die Hütte. Es ist sehr still auf der Welt. Alles ist verschneit. Und der Schnee fällt so leise – Und genau so leise, wie jetzt der Schnee fällt, wird Euere Welt zusammenstürzen. B

25

N

N

\Abbruch der Bearbeitung\

3 7–8

B

8 22–26 24

B

B

habsN ] sportliche f Firmenmannschaft.N ]

Kollektivität“.N ] Ich f zusammenstürzen.N ] BistN ] B

[verliebe] |habs| [Betrug;] [|(durch einen Betrug, der absolut gesetzlich ist:)|] |sportliche f Firmenmannschaft.| korrigiert aus: Kollektivität.“ \Ich f zusammenstürzen./ [vers] |ist|

58

Fragmentarische Fassung

VA1/TS12 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Die stille Revolution

5

10

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 16

Man weicht mir aus. Denn meine Schuhe sind zerrissen und mein Anzug ist auch nicht so ganz in der Ordnung. Aber ich kann mir meine Schuhe nicht flicken lassen und meinen Anzug muss ich auch so lassen, wie er ist, denn ich hab kein Geld. Ich hab überhaupt noch nie Geld gehabt. Seit ich mich erinnere, hatte ich immer nur das, was ich grad gebraucht hab. Ich habs zwar auch zeitweise manchmal nicht gehabt und hab gehungert. Aber dann wars plötzlich wieder da. Wir nanntens: „das Wunder“. Auch bei meinen Eltern war es so. Sie lebten von heut auf morgen. Mal hatte mein Vater Arbeit, mal nicht. Mal meine Mutter, mal nicht. Mal hatten beide nichts. Mal hatten beide. Dann kriegten wir Bonbons und Papa hatte einen Rausch. Dann gingen wir Kinder stehlen, ich und meine beiden Schwestern. Die eine ist schon tot. Wir Kinder sangen damals einen Vers, wir wussten nicht genau, was er bedeutete: „Sie konnts im stehen und liegen. Jetzt ist sie bei den Engelein, jetzt kann sies auch im Fliegen.“ Heut weiss ich es, was es bedeutet, und wenn ich traurig bin, denk ich daran. Dann werd ich noch trauriger. Aber ich beruhig mich. Ich kann mich zwar an vieles nichtmehr erinnern, an das sich meine Eltern noch genau erinnern können, z.B. an den Weltkrieg – aber auch ich habe bereits verschiedenes auf der Welt erlebt, um sie, wenn auch nicht restlos kennen zu lernen , so doch für meine Person. Jetzt geh ich heut schon 22 Kilometer – und ich weiss 얍 es noch nicht, wo ich übernachten werd. Ich geh nämlich auf der Landstrasse und weiss nicht wohin. Ich bin ein sogenannter Landstreicher. Ich wandere schon seit Wochen. Mal übernacht ich bei Bauern, mal in Scheunen. Es gibt zwar Heime für wandernde Leute, aber die meide ich. Ich will es nämlich offen sagen, warum ich sie meide: Ich mag nämlich nicht arbeiten. Nein, ich will nicht arbeiten! Es war nicht immer so, dass ich nicht arbeiten wollte. Es war vielmehr ein langer Prozess. Ursprünglich war ich in der Lehre. Da zog er mir die Ohren hoch. Ein Buchdrucker. Da las ich viel. Dann ging ich weiter. Feldarbeiter, Mauerer, aber dann – dann kam der Zwang. Ich sollte Strassen arbeiten! Da hörte ich auf. Lieber geh ich auf der Strasse! B

N

B

B

B

NN

N

B

N

B

N

15

B

N

20

B

B

25

N

B

30

35

B

10 11 11 12 13 13–14 15–19

B

zeitweiseN ] Wir f Wunder“.N ] BWunder“.N ] BheutN ] BMalN ] BMal f Rausch.N ] BWir f mich.N ]

20 22 22 29 30

B

B

nochN ] restlosN ] BlernenN ] BIchN ] BwillN ] B

B

N

N

N

N

\zeitweise/ \Wir f Wunder“./ korrigiert aus: Wunder.“ h[eute]|eut| [D] |Mal| \Mal f Rausch./ (1) Sie starb mit 14 Jahren. Jetzt ist sie im Himmel, sagt die Mutter. Wir kommen alle in die Höll, sagt der Vater. Ich sag garnichts, denn ich glaub an nichts. Nein, heut glaub ich an nichtsmehr. (2) \Wir f mich./ \noch/ \restlos/ [lern] |lernen| [„]Ich [will] |will|

59

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 17

Fragmentarische Fassung

5

VA1/TS12 (Korrekturschicht)

Lesetext

Denn ich habe nichts von meiner Arbeit! Im besten Fall das Fressen! Ich habe nichts von den Strassen, die ich baue, nichts von dem Piano, nichts von dem Haus, nichts von der Zentralheizung. Drum arbeit ich lieber nichts! Ich seh es nicht ein, was ich davon hab! Ich komm schon so durch! Jetzt geh ich auf der Landstrasse. Man weicht mir aus. Nur zu! \Abbruch der Bearbeitung\

60

61

Strukturplan, Notizen

ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 18

62

Strukturplan, Notizen

VA1/E21–E22

63

Lesetext

Fragmentarische Fassung

VA1/TS13 (Grundschicht)

Lesetext

얍 OHNE GELD

5

ÖLA 3/W 355 – BS 16 d, Bl. 1

Man weicht mir aus. Denn meine Schuhe sind zerrissen und mein Anzug ist auch nicht so ganz in Ordnung. Die Hose ist mir zu kurz, der Rock zu lang, der Hut zu klein , die Schuhe zu gross. Bis gestern trug ich noch eine Kravatte. Die war allerdings sehr schön und neu. Aber ich hab sie weggeschmissen auf Anraten eines Kameraden, der mir sagte: „Diese Kravatte muss logischerweise die Aufmerksamkeit eines jeden Gendarmen erregen. Sie passt nicht zu Dir. Man siehts doch schon von meilenweit, dass Du sie gestohlen hast.“ „In der Tat?“ fragte ich. „Natürlich“, sagte er. Er war ein alter, erfahrener Landstreicher mit über fünfzehn Vorstrafen. Es waren aber nur so kleinere Strafen, meistens Mundraub oder unberechtigtes Betreten fremder Grundstücke. Gewalttat war keine dabei. Er war ein alter, weiser Mann. Ich folgte ihm, denn ich wollte mit der Gendarmerie nichts zu tun haben. Ich kenne die schon. Zweimal habens mich schon eingesperrt. Und wegen so einer neuen Kravatte -- also das steht nicht dafür! Ich schmiss also die Kravatte weg. Sie war zu schön für mich. Es ist Mittag und die Sonne scheint. Um die Mittagszeit ist es am besten auf der Landstrasse zu gehen, denn dann fahren die wenigsten Auto. Um die Mittagszeit herum essen die Autofahrer und dann ist die Strasse am leersten und menschenwürdigsten. Wir zwei, der Alte und ich, gingen nun über die Strasse. Es war ein hügeliges Land. Radfahrer kamen uns entgegen und überholten uns. Die Frauen sahen meistens 얍 starr und ängstlich an uns vorbei. Der Alte sah immer grimmig drein, dann hatten sie Angst. Das freute ihn. Wir gingen nicht schnell. Es ist eine bestimmte Art, langsam zu gehen, wenn man weit kommen möcht. Und wir wollten weit kommen, hatten aber kein direktes Ziel. Heut gingen wir noch nicht viel. So zirka fünfzehn Kilometer. Wir hatten bei einem Bauern übernachtet. Er sagte uns, wir könnten übernachten, müssten ihm aber dafür am nächsten Tage beim Heu helfen. Wir sagten natürlich zu. Aber ganz in der Frühe schlichen wir uns heimlich davon und hauten ab. Ins Heu sollten wir? Was denn nicht noch! Wir werden doch nicht arbeiten, wir sind ja nicht blöd! Ja, wenn man gleich eine Arbeit bekäm, mit der man viel Geld verdienen könnt, dann natürlich schon! Aber das Geld reicht höchstens für ein Essen. Und das können wir uns auch erbetteln. Oder stehlen. Leider kann man sichs nicht stehlen, dass die Schuhe geflickt werden. Aber darauf legen wir auch keinen solchen Wert. Die sogenannten anständigen Menschen, sie sollen uns nur ausweichen! Wir haben kein Geld, bekommen kein Geld und brauchen auch kein Geld! Ich hab überhaupt noch nie Geld gehabt. B

10

B

15

20

25

30

B

B

B

35

N

N

N

N

B

40

7 11 15 33 34 36

N

B

[gr] |klein|

B

korrigiert aus: siehst korrigiert aus: Gewaltat

kleinN ] siehtsN ] BGewalttatN ] BHeuN ] BWirN ] BreichtN ]

N

Heu[t] W[9]|i|r

||

korrigiert aus: re[i] c ht

64

ÖLA 3/W 355 – BS 16 d, Bl. 2

Fragmentarische Fassung

VA1/TS13 (Grundschicht)

Seit ich mich erinnere, hatte ich immer nur das, was ich gerade gebraucht habe. Ich lebte immer von heut auf morgen. Auch bei meinen Eltern war das so. Mal hatte mein Vater Arbeit, mal nicht. Mal meine Mutter, mal nicht. Mal hatten beide nichts, mal beide. Dann hatte mein Vater einen Rausch. Ich bin ein Findelkind. Eine alte Bäuerin hat mich gefunden, in einem Korb mit einem Zettel, dass die Mutter eine arme Frau ist. Das glaub ich ja nicht ganz. Vielleicht bin ich das Produkt eines Skandals. B

5

Lesetext

B

N

N

B

\Abbruch der Bearbeitung\

3 5 6

B

korrigiert aus: Malmeine

B

Mal meineN ] IchN ] BglaubN ]

[{An}] |Ich| glau[v]|b|

65

N

Strukturpläne

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 7

66

Strukturpläne

VA1/E23–E24

67

Lesetext

Fragmentarische Fassung

VA1/TS14 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 I. B

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 7

Als ich am morgen meinen Dienst antrat, meldete mir die Schwester: „In der Nacht wurde einer eingeliefert. Sonst keiner.“ Sie legte mir den Aufnahmebogen vor und ich las: Heinrich Meier, Droguist, 53 Jahre alt, Säuferwahn. Tobsuchtsanfälle. Erhielt Spritze. Schlaf. B

5

NN

\Abbruch der Bearbeitung\

3–4 4

B B

Als f keiner.“N ] Sonst keiner.“N ]

[Gestern {wurd}] |Als f keiner.“| [Ein Droguis] |Sonst keiner.“|

68

Fragmentarische Fassung

VA1/TS15 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Die stille Revolution.

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 8

I. 5

In der Früh kommt die Post. Ich lieg noch im Bett und höre die Briefe ins Kästchen fallen. Es ist halbacht. Heut hab ich dienstfrei. Heut kann ich ausschlafen. Ich bin Irrenarzt. Wir können uns kein Mädchen leisten. Sie könnte zwar in der Kammer schlafen, aber wir müssten für sie Invaliden-, Krankenkasse, Altersversicherung und Unfallversicherung und Arbeitslosenversicherung zahlen. Es ist sehr richtig, dass man das alles zahlen muss. Denn Lohn bekommt sie nur wenig. Und es sollen sich nur die ganz Reichen die Dienstboten halten. Hoffentlich gibt es bald keine Dienstboten mehr! Denn das ist das letzte Überbleibsel der Sklaverei. Wie oft gibt es Prozesse, wo die Weiber die Dienstmädel misshandeln ! Die Frau eines Bürgers ist immer schlimmer, als der Mann! Es geht auch Weib gegen Weib! Nein, hoffentlich gibts bald keine Dienstboten mehr! Ich bin ein Ingenieur und arbeite an einer Erfindung zur Vereinfachung des Haushaltes! Eine Putzmaschine, und dergl. Alles wurde erfunden, im Haushalt eigentlich am wenigsten. – In der Früh kocht meine Frau den Café, ich helfe ihr abends beim Abwaschen. Meine Frau ist brav. Sie bringt mir die Post. Es waren drei Briefe. 얍 Der erste vom Luftschutzamt. Ich wollte heut abend ein Mädchen treffen, jetzt geht es nicht. Wegen der Gasmaske. Ich kaufe die Maske nicht. Der zweite von der Wirtshilfe. Der dritte vom Verband der Steuerzahler. Der erste erzählte uns von den Gefahren des Luftkrieges. Er malte alle Schrecken aus. Der zweite von den armen Leuten. Der dritte, dem gehörte meine helle Empörung! Es war ein Brief von dem Luftschutz , der Beiträge einforderte für den Fall eines Krieges. B

N

B

B

B

10

15

B

B

NN

N

N

N

B

20

N

B

B

25

N

N

B

B

30

N

N

B

35

5 5–8

B

8

B

9 16 17 19–20 22 24 26–28 28 34

B

kommtN ] Ich f Irrenarzt.N ] Irrenarzt.N ]

SieN ] misshandelnN ] BimmerN ] BHaushaltes!N ] BichN ] BEsN ] BIch f nicht.N ] BkaufeN ] BLuftschutzN ] B B

N

[kam] |kommt| [Meine Frau brachte sie mir. Denn meine Frau steht immer früher auf, als ich. Wir haben nämlich kein Mädchen.] |Ich f Irrenarzt.| (1) [Ingenieur.] |Arzt.| (2) \Irrenarzt./ [Den] |Sie| [ver-] |misshandeln| [oft] |immer| Haushaltes[?]|!| [d] |ich| [In] |Es| \Ich f nicht./ [zahle] |kaufe| [Steuerzahlerverband] |Luftschutz|

69

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 9

Fragmentarische Fassung

5

VA1/TS15 (Korrekturschicht)

Ich muss mir eine Gasmaske kaufen. Ich werde mir schon eine kaufen, aber warum muss ich? Wenn der Staat solch einen wert darauf legt, dass der einzelne Volksgenosse am Leben bleibt, soll er doch die Masken liefern! Wir zahlen ja Steuern! Aber kaufen tu ich sie nicht! Nein, ich nicht! – – Zwei Tage später läutete es in aller Frühe: eine Frau stand draussen. „Ich komme vom Luftschutzbund“, sagte sie. „Ich möchte einkassieren für die Gasmasken.“ „Ich gebe nichts.“ „Der nächste Krieg wird furchtbar werden“, sagte sie. „Wir werden es schon sehen!“ Zwei Tage später kam ein Kriminalbeamter. B

N

B

10

15

Lesetext

N

B

N

얍 BII. Im Irrenhaus. Ein Politiker (Wirtschaftsführer) wird eingeliefert. Er ist irrsinnig. (Der nicht irrsinnige Politiker, der eingesperrt wird, damit ihn keiner Bfindet.)N N \Abbruch der Bearbeitung\

7 8 10 14–16 16

ZweiN ] „Ich f Gasmasken.“N ] B„Der f sie.N ] BII. f findet.)N ] Bfindet.)N ] B B

[Am zweiten] |Zwei| [„Sie kaufen keine Gasmasken.“] |„Ich f Gasmasken.“| \„Der f sie./ \II. f findet.)/ korrigiert aus: findet.

70

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 8

71

Strukturplan, Notizen

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 10

72

Strukturplan, Notizen

VA1/E25–E26

73

Lesetext

74

Vorarbeit 2: Krieg ohne Kriegserklärung

75

Strukturplan in acht Kapiteln

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 8

76

Strukturplan in acht Kapiteln

VA2/E1

77

Lesetext

Figurenliste

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 11

78

Figurenliste

VA2/E2

79

Lesetext

Notizen und Repliken

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 12

80

Notizen und Repliken

VA2/E3

81

Lesetext

Fragmentarische Fassung

5

10

15

20

VA2/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit. Name: Peter XY. Geboren: 7. XI. 1915 Geburtsort: die Haupt- und Residenzstadt. Zuständigkeitsort: ein Dorf. Ständiger Wohnsitz: ohne. Beruf: Kellner. Name des Vaters: Peter XY. Beruf des Vaters: Oberkellner. Name der Mutter: Karoline XY, geborene Z. Wohnsitz der Eltern: Vater gefallen in Galizien Mai 1916. Mutter gestorben an der Grippe Herbst 1919. Statur: Bmittelgross, schlankN. Haare: dunkelblond. Augen: braun. Mund: regelmässig. Nase: regelmässig. Besondere Kennzeichen: keine. Bemerkungen: Kriegerwaise. Vorbestraft wegen Bettelns. \Abbruch der Bearbeitung\

13

B

mittelgross, schlankN ]

mittelgross[.]|,| [S]|s|chlank

82

ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

VA2/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext



Es gibt gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre. Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit. B

B

N

N

BN

5

Er hatte keine Heimat und kannte seine Eltern nicht, ja, er wusste nichteinmal sicher, wann er geboren worden war , nur so ungefähr. Er wusste nur, dass er gefunden worden war. Er war ein Findelkind. In einem warmen Decken lag er eines Tages in einer Türe, lautlos fiel der Schnee. In grossen Flocken. Es war kein Zettel dabei, nichts. Er wusste nicht, welcher Nationalität er angehört, wer seine Mutter war, sein Vater, ob reich oder arm, ob seine Eltern noch lebten, das wusste er alles nicht. Und niemand konnte es ihm sagen. Man wusste nur, dass er am Ende des Weltkrieges geboren worden war, aber man wusste sonst nichts. In einer Zeit, wo sich die Sieger freuten, wo die Besiegten trauerten, wo die Pest kam, die spanische Grippe , wo Welten zusammenstürzten, wo eine Welt begann zu stürzen. wo sich neue Staaten bildeten, wo die Landkarten sich änderten, und wo alle Leute sagten: nie wieder Krieg! wo die Menschen 12 Millionen umbrachten. Ja, er war ein sogenanntes Kriegskind. Aber er konnt sich an den Krieg nichtmehr erinnern. B

N

B

10

N

B

15

B

N N

B

N

20

Bei dem Rückzug der einen Armee und beim Vormarsch der anderen Armee fand man ihn. B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

2 3 4

B

6

B

8 14 14 16–18 22–23

Es f Jahre.N ] Es f Zeit.N ] BN] B

worden warN ]

Türe f Flocken.N ] wo f GrippeN ] BGrippe,N ] Bwo f umbrachten.N ] BBei f ihn.N ] B B

\Es f Jahre./ [Es lebte einst ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.] |Es f Zeit.| [Geboren am fünften November 1916, also am Anfang des dritten Kriegswinters, war er ein sogenanntes Kriegskind. Aber er konnt sich an den Weltkrieg nichtmehr erinnern] (1) wurde (2) worden war Türe[.]|,| \[leise] [|langsam|] |lautlos| fiel f Flocken./ \wo f Grippe/ korrigiert aus: Grippe \wo f umbrachten./ \Bei f ihn./

83

ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

10

15

VA2/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit. Er kannte seine Eltern nicht, ja, er wusste garnicht genau, wann er eigentlich geboren Bworden warN, B N er war nämlich ein Findelkind. Er wusste nur, wann er gefunden worden war. Das BistN noch im Weltkrieg BgeschehenN, aber schon ganz am Schluss, wo B N die Landkarten BbereitsN begannen, sich zu verändern, Bneue Linien, neue Farben – kurz: wo sich die alten Berge und Ebenen neue Kleider anzogen,N wo die BSiegerN bereits wussten, wir haben BgewonnenN, und die BanderenN wussten, wir B sind besiegtN. Da gingen die Besiegten nachhaus, BverjagtenN ihre Könige B N und die Sieger jubelten den ihren zu. Es hätt auch umgekehrt kommen können, Baber das wär nicht wahrscheinlich gewesen.N BN Eine Bäuerin fand ihn vor ihrer Türe. Er lag in einer alten B N Decke und ein Zettel lag auf Bihm:N „BDer liebeN Gott BbeschützeN Dich!“ BDasN war alles. Der Schnee fiel lautlos in grossen Flocken und man konnte nicht sehen, wer ihn Bdahingelegt hatte.N Es waren alle B N Spuren verweht. BNur eine Spur war zu erkennen: er war ein Kind armer Leut.N

ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 3

BN

20

Es gibt gute Zeiten und fette Jahre, aber als unser Soldat geboren wurde, waren die Jahre mager und die Zeiten bös. Heut sinds schon zwanzig Jahre her. Jaja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind. Er kann sich an den Krieg 얍 nichtmehr erinnern. B

N

3 3 4 4 5 5 5–6 7 7 7 8 8 8 9–10 11 11 12 12 12 12 13 14 14–15

B

worden warN ] ] BistN ] BgeschehenN ] BN] BbereitsN ] Bneue f anzogen,N ] BSiegerN ] BgewonnenN ] BanderenN ] Bsind besiegtN ] BverjagtenN ] BN] Baber f gewesen.N ] BN] BN] Bihm:N ] BDer liebeN ] BbeschützeN ] BDasN ] Bdahingelegt hatte.N ] BN] BNur f Leut.N ]

16 20

BN

BN

B

] Jaja f erinnern.N ]

[worden war] [denn] [war] |ist| [, vor zirka zwanzig Jahren] |geschehen| [sich] [schon] |bereits| \neue f anzogen,/ [einen] |Sieger| ge[siegt] |wonnen| [anderen] [sind besiegt] [|haben verloren|] |sind besiegt| [setzren] |verjagten| [ab] aber1 nicht3 wahrscheinlich4 gewesen5\./ \das/2 wär3[.] [\Ein Hofhund bellte/] [, jedoch warmen] ih[n:]|m:| \Der liebe/ \be/schütze [Und] [d]|D|as dahin[legte.] |gelegt hatte.| [\war alle/] \Nur eine Spur war zu [sehen[:]|,| \aber die ging nicht durch den Schnee:/] |erkennen:| e[s]|r| war [das] |ein| Kind armer Leut./ [Man fand damals oft solche Kinder. Der Vater gefallen, die Mutter] 얍 (1) Jaja, [unser Soldat] [|er|] ist ein sogenanntes Kriegskind. Aber er kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern. (2) \Jaja f erinnern./

84

ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 4

ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

VA2/TS3 (Korrekturschicht)

Der Onkel, bei dem er aufwuchs, war ein eingefleischter Junggeselle. Er liebte die kleinen Kinder und konnte die Weiber nicht ausstehen. Auch er ist im Kriege gewesen, aber er hatte unwahrscheinliches Glück. Dreimal wurde er verschüttet, zweimal verwundet, aber man merkts ihm kaum an. Nur manchmal zuckt er ein bisschen. Wegen dieses Zuckens gabs schon viel Krach, besonders als unser Soldat seinerzeit in die Flegeljahre gekommen war. Da musste er nämlich immer lachen, wenn der Onkel zuckte, und wenn er lachte, bekam er eine Ohrfeige, und dann weinte er, und dann hörte der Onkel auf zu zucken. Aber einmal weinte er nicht und darüber regte sich der Onkel so auf, dass er ganz furchtbar zu zucken begann. Man musste den Arzt rufen und der Soldat kam aus dem Haus. Von dieser Zeit ab wollte der Onkel nichtsmehr von ihm wissen. Er kam in die Lehre. Zu einem braven Buchdrucker. Ob der Onkel ein Sonderling war? Wer weiss! B

BN

5

B

10

N

B

N

N

15

Lesetext

\Abbruch der Bearbeitung\

2–14 4 6 6

Auch f weiss!N ] ] BgabsN ] BKrach,N ] B

BN

\Auch f weiss!/ [er lebt noch immer, und] korrigiert aus: gab Krach[.]|,|

85

Fragmentarische Fassung

VA2/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DAS ENDE DER KUNST

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 7

Unser Soldat war ein gelernter Kellner, weil sein Onkel auch Kellner war. Auch sein Vater war Kellner gewesen. Es war eine Kellnerfamilie. Aber damals war eine furchtbare Arbeitslosigkeit und die meisten Restaurants, Cafés hatten geschlossen. Die meisten hatten auch nichts zu essen. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Wanderschaft zu gehen. Aber er hatte Glück und wurde Kellner in einem kleinen Café. Weil er der Wirtin gefiel. Er bedient dort die Leute und hört ihre Gespräche über Nation und Krieg : der Stammtisch. B

N B

N

5

B

N

B

N

B

10

\Abbruch der Bearbeitung\

3–4 3 6 8 9 9

Kellner,N ] weil f Kellnerfamilie.N ] BDie f essen.N ] BAber erN ] BNation undN ] BKriegN ] B B

[Buchdrucker.] |Kellner,| \weil f Kellnerfamilie./ [Es gab auch nichts zu essen.] |Die f essen.| [Er wanderte von Ort zu Ort. Er] |Aber er| Nation[, J] |und| korrigiert aus: Krieg,

86

N B

N

Fragmentarische Fassung

VA2/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit. B Es gibt gute Zeiten und fette BJahreN, aber als unser Soldat geboren wurde, waren die Jahre mager und die Zeiten bös. Es war nämlich Krieg.N

ÖLA 3/W 155 – BS 26 d [2], Bl. 1

BN

5

Er lag in der Wiege und die Mutter sang: „Flieg Maikäfer, flieg, Vater ist im Krieg --“ Und die Maikäfer flogen um den Apfelbaum, und der Vater blieb im Krieg. Da weinte die Mutter die ganze Nacht und hat niemehr gesungen. Die Wiesen blühten und die Mutter wurd immer stiller. Der Sommer kam und im Herbst war der Krieg zu Ende. Die einen siegten, die anderen verloren. Aber der Mutter war das gleichgültig, denn sie hatte ihren Mann verloren. Sie bekam eine kleine Rente, aber die Rente war zu niedrig, von ihr konnte sie nicht leben. Und ihre Arbeit hatte sie auch verloren, denn nun kamen die Männer zurück und nahmen die Stellen der Frauen ein. Da ging sie ins Wasser. Ihr Name stand in der Zeitung unter der Rubrik „Die Lebensmüden des Tages“. Ja, sie war sehr müde. Es war nur eine kleine Notiz. Sie wollte das Kind mitnehmen, aber da sass der Schutzengel an der Wiege und sagte „Tu es nicht!“ Und die Mutter fragte: „Wirst Du denn mein Kind beschützen?“ Und da lächelte der Engel: „Wenn mir alle so folgen, wie Du, dann ja --“ Die Mutter begriff es nicht, was der Engel sagte, aber sie folgte ihm. Sie liess das Kind zurück. Heut sinds zirka zwanzig Jahre her. Ja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind. Aber er kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern. Wenn der Soldat heute nachdenkt, an was er sich als erstes in seinem Leben erin얍 nern kann, dann sieht er sich in einem grossem Raume auf dem Boden sitzen. Der Boden besteht aus Brettern und er fährt mit dem Finger die Striche entlang. Er weiss nicht, was er tut. Er weiss nur, die Fenster sind hoch, sehr hoch, überhaupt ist alles so hoch, als wär der Plafond der Himmel. Noch ist alles so gross, was die Menschen gebaut haben. Warte nur, es wird schon kleiner! Und er weiss, dass wenn er gross sein B

10

B

N

N

B

B

15

N

N

B

20

B

25

30

N

N

B

N

B

B

2–3

B

2 4 8 10 11 14

B

16 21

B

21 31–32

B

32

B

Es f Krieg.N ]

JahreN ] ] BApfelbaum,N ] BDie f stiller.N ] BDerN ] BbekamN ] BN

B

B

IhrN ] lächelteN ] ja --“N ] als f kleiner!N ] Warte f kleiner!N ]

NN

[Es gibt gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre, Krieg und Frieden. Und immer kommen die Leute zur Welt und sterben die Alten.] |Es f Krieg.| korrigiert aus: Jahren [Vor ungefähr zwanzig Jahren] [|Der Weltkrieg. Ke-|] Apfelbaum\, [die Wiesen blühten und der Mond hing \still/ über der Au,]/ \Die f stiller./ [Und] [d]|D|er (1) hatte (2) bekam korrigiert aus: Ihre (1) sa (2) lächelte korrigiert aus: ja -- “ (1) als wär droben der Himmel. (2) \als f kleiner!/ [Es wird] |Warte f kleiner!|

87

ÖLA 3/W 155 – BS 26 d [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

VA2/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

wird, dass wenn er bei den Fenstern hinausschauen könnt, dann läg draussen eine grosse Welt. Wie ein böser Hund. Oder ein braves Pferd. Aber das weiss er alles nicht so genau. Er weiss nur, dass er fror, wie er so auf dem Boden sass. Und das stimmte auch. Denn in dem Waisenhaus, wo er heranwuchs, wurde oft nicht geheizt. Nicht, als wollte man sparen, nein -- man hatte keine Kohlen. Denn nach dem Krieg gibts oft keine Kohlen. Keine Waggons und die Arbeiter streikten. Und es wurde um die Gruben gekämpft. Denn die Arbeiter meinten, nur durch einen Krieg könnte es dahin kommen, dass es keinen Krieg mehr gibt. Aber an die Kohlen, die es nicht gab, erinnert er sich nichtmehr. Heut weiss er nur, dass er fror. Es ist kalt, das ist seine erste Erinnerung. Und dann wird es Frühling in der Erinnerung. Es wurde Frühling, die Sonne 얍 wurde immer wärmer. Und sie durften in den Garten. Eine brave Frau, er weiss nicht, wie sie aussah, er hört nur manchmal ihre Stimme noch, sagt ihm, das darfst Du tun, das musst Du tun und das darfst Du nicht tun, ein artiges Kind. Er erinnert sich an einen verschütteten Teller, an ein Hündchen, das er am Schwanz reisst und das schreit. Und dann hustet er und ein Arzt kommt und er sagt Aah! Es waren die ersten Hände eines Mannes, sie rochen nach Seife. Und dann spielt er im Garten. Sie spielen mit Sand und haben einen grauen Ball. Und da kommt plötzlich ein bunter herrlicher Ball hereingeflogen. Woher kam er? Sie blicken in den Himmel und staunen über den Ball. Sie haben sowas schönes noch nie gesehen. Da hören sie ein Kind weinen, jenseits der Mauer. Sie laufen zum Gitter. Da steht ein Fräulein und hat ein kleines Mädchen am Arm. „Sieh die armen Kinder!“ sagt das Fräulein. Und sie reichen ihr den Ball durch das Gitter. „Sag danke!“ „Tante!“ sagt das Mädel und dann gehen sie weg. Sie ist ganz in weiss gekleidet, in einen feinen Stoff mit einem roten Schaal und roten Schüchen. Sie ist noch schöner, wie der Ball. Aber das schönste, das sind die Schuhe. Wer war das? denken die Kinder. Wir sind grau. Ja, sie wussten es noch nicht damals, was diese roten Schuhe waren. Sie waren das Geld. B

N

B

5

N

B

10

N

B

N

N

B

B

B

N

N

B

N

B

15

N

B

20

25

N

B

30

N

B

N

N

B

1–2

B

eine f Pferd.N ]

3

B

Aber f genau.N ]

7

B

gibts f Kohlen.N ]

10 11 11 12 12 13

B

17 29–30 32 33

B

Aber f nichtmehr.N ] HeutN ] BerN ] BEs f kalt,N ] BistN ] Bwird f Erinnerung.N ] B

dasN ] Aber f Schuhe.N ] Bwas f waren.N ] BSie f dasN ] B

eine [unheimliche Landschaft.] |[dann ist die] \grosse/ Welt\./ [draussen] |Wie| ein böser Hund. Oder ein [grosses] |braves| Pferd.| [Ein Fahler Mond und ein einziger Sonnenstrahl, und ein Land mit Flüssen, dass sich bewegt. Er weiss es oft nicht heute, ob er damals das Land wirklich gesehen hat oder ob er es sich nur heute einbildet.] |Aber f genau.| (1) gab es nichts. (2) \gibts f Kohlen./ \Aber f nichtmehr./ [Er] |Heut| eingefügt

[Ja, die Kälte,] |Es f kalt,| [war] |ist| (1) kommen viele Erinnerungen. (2) \wird f Erinnerung./ das[s] \Aber f Schuhe./ [wer das war.] |was f waren.| [Es war der Reichtum. Das] |Sie f das|

88

ÖLA 3/W 155 – BS 26 d [2], Bl. 3

Fragmentarische Fassung



VA2/TS5 (Korrekturschicht)

Die roten Schuhe. Das Mädchen wird grösser . Es wird andere rote Schuhe haben, andere Bälle. Es wird manchmal an das Waisenhaus zurückdenken. Und wenn es keine Torte bekommt, keine Lillbahn , keinen Hut, dann wird es sagen: „Ach, mir gehts schlechter, wie einem Waisenkind!“ Oder: „Ich wär lieber ein Waisenkind!“ Es ist möglich, dass dies ihr ständiges Reden wird. B

B

N

B

5

Lesetext

N

B

NN

\Abbruch der Bearbeitung\

1–6

B

Die f wird.N ]

[\Er hatte den Mund voller Sand./ Eines Tages kommt der Kellner mit der Frau, die ihn abholen. Er spielte gerade im Sand. Er war der Dreckigste. Mit Begeisterung spielte er. „Den nehm ich“, sagte der Kellner. Es war ein kinderloses Ehepaar. Er bekam viele Geschenke und Spielsachen. \Er möchte rote Schuhe haben. „Rote Schuhe sind was für Mädchen.“/ Aber er weinte nach seinen Kameraden. Er hatte Sehnsucht nach dem Waisenhaus. Eines Tages hörte er, wie die Frau sagt: „Tu mir nicht weh!“ Er stand im Gitterbett, es wurde Licht ge acht. Sie lagen nebeneinander. Dann schlief er ein und träumte von einem Engel, der sagt: „Tu mir nicht weh!“ Am nächsten Tage bekam er ein Kammer nebenan wurde sein Bett gestellt. Er schlief das erstemal in seinem Leben allein. Er hatte Angst vor dem Zimmer und klopfte neben an. Er darf bei den Eltern schlafen, es ist schön. Die Zeit verging, er lernte lesen und schreiben. Und lernte den lieben Gott . Die Kirche. Er fragt die Eltern, warum geht ihr nicht in die Kirche? Wir gehen schon, sagt die Mutter. Und der Vater: das ist nur was für Kinder, Erwachsene brauchen das nicht. Er erzählt das in der Schule dem Katecheten. Der geht zum Kellner. Der Kellner sagt, er hört ihn: seit dem Krieg kenn ich keine Kirche mehr. Warum seit dem Krieg?

2 4 6

wird grösserN ] LillbahnN ] Bwird.N ] B B

Die schlechte Zeit. Die Eltern nebenan. Er: Ich wollt ihn nicht. Sie: Ja, es war ein Blödsinn. Jetzt seh ichs ein. -- Aha, sie wollten ihn nicht. Und zum erstenmal trauerte er, wer will ihn denn? Wer sind seine Eltern?] |Die f wird.| [kam] |wird grösser| gemeint ist: Liliputbahn [ist] |wird.|

89

ÖLA 3/W 155 – BS 26 d [2], Bl. 4

90

Fragmentarische Fassung

5

10

VA2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Etwas ausserhalb Bdes StädtchensN, wenn man zur Mühle geht, zum Mühlen-Restaurant, liegt das Waisenhaus in einem idyllischem Park. BDie FrauN von Skadletzky erinnert sich noch genau. Es ist sozusagen ihre erste Erinnerung. BDie dunklen, alten Bäumen wachsen dort. Eine Allee. Man geht zum Friedhof.N Sie hiess damals noch Fräulein Marianne von Klausewitz, und sie geht mit ihrem Kinderfräulein spazieren. Sie sitzt in dem Wagen BundN da sieht sie plötzlich einen grossen Hof mit vielen B Kindern, alleN gleich angezogen. „Es sind Waisenkinder“, sagt das Kinderfräulein, „sie haben weder Vater, noch Mutter!“ Und die kleine Marianne sieht sie und sie tun ihr so leid. Sie sehen sie und schauen hin. Sie BgingenN zwei und zwei. Und der sechste von BhintenN, das war der Peter XY. Er hat die Kleine vergessen, aber das Fräulein nie die Kinder. Sie hat sehr reich geheiratet und wenn sie ihren Mann betrügt, denkt sie an die Waisenkinder. „Recht geschiehts ihm!“ sagt sie. \Abbruch der Bearbeitung\

1 2 3–4 6 7 9 10

des StädtchensN ] Die FrauN ] BDie f Friedhof.N ] BundN ] BKindern, alleN ] BgingenN ] BhintenN ] B B

[des Städtchens] |der Stadt| [Das Fräulein] |Die Frau| \Die f Friedhof./ [u] |und| Kindern [zwischen] |, alle| [spielten] |gingen| [links] |hinten|

91

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 8

Werktitel, Strukturplan

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 9

92

Werktitel, Strukturplan

VA2/E4–E5

93

Lesetext

Strukturplan (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 10

94

Strukturplan (Fortsetzung)

VA2/E5

95

Lesetext

96

Fragmentarische Fassung

VA2/TS7 (Grundschicht)

Lesetext

얍 Die stille Revolution. (Ich = ein Irrsinnigenwärter Bder Manische, der ausbricht und eine grosse Position erringt.N )

5

In unserer Zeit, 20 Jahr nach dem Weltkrieg, muss jeder Mensch einer Organisation angehören. Es ist alles organisiert. Je nach den Ländern, mal starrer, mal weniger, mal mit mehr oder weniger Ordnung. Begonnen hats bei der Politik. Aber es greift allmählich in die sogenannten nur menschlichen Bezirke über. Je nach den Ländern. Mal weniger, mal mehr. Heute gibts hauptsächlich 3 Länder, in welchen die Organisation zur Staatsmacht gelangt: Russland, Deutschland, Italien – B

N

B

N

B

10

\Abbruch der Bearbeitung\

1–2 6 7 8

der f erringt.N ] wenigerN ] Bdie f nurN ] BmenschlichenN ] B B

\der f erringt./ [weniger] |weniger| \\die sogenannten/ nur/ korrigiert aus: menschliche

97

N

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 10

Strukturpläne

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 2

98

Strukturpläne

VA2/E6–E8

99

Lesetext

Strukturplan in elf Kapiteln

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 1

100

Strukturplan in elf Kapiteln

VA2/E9

101

Lesetext

102

Konzeption 1: Ein Soldat seiner Zeit

103

Notizen, Werktitel

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 10

104

Notizen, Werktitel

K1/E1–E3

105

Lesetext

Notizen und Repliken

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 11

106

Notizen und Repliken

K1/E4

107

Lesetext

Strukturplan in acht Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 12

108

Strukturplan in acht Kapiteln

K1/E5

109

Lesetext

Strukturplan in vier Teilen

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 13

110

Strukturplan in vier Teilen

K1/E6

111

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K1/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Es war einmal ein Soldat, ein Kind BunsererN Zeit. Er liebte sein Vaterland und war bereit, dafür zu sterben. Er BfühlteN sich nur als B winzigerN Teil des grossen Volkes. \Abbruch der Bearbeitung\

1 2 3

unsererN ] fühlteN ] BwinzigerN ] B B

[seiner] |unserer| [liebte] |fühlte| win[{}]|z|iger

112

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 9

Fragmentarische Fassung

K1/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 BEs gibt gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre, Krieg und Frieden. Ist die unsere gut oder böse? Fett oder mager? Für manche ja, für viele nein.N

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 2

BN

5

1.) Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit. Geboren am 7 . November 1915 , ist unser Soldat heute 22 Jahre alt. Sein Vater geriet 1917 in Kriegsgefangenschaft, und kam erst ein Jahr nach Friedensschluss zurück. Seine Mutter lebt nichtmehr. Sie starb an der Grippe, es war erst kaum Frieden. Jaja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind. Aber er kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern. Auch an seine Mutter nur kaum. Nur so ungefähr. Seine erste Erinnerung ist ..... Es ist kalt, das ist seine erste Erinnerung – 2 .) Der Vater aus der Gefangenschaft zurück. Gegen den Krieg. 얍 3 .) Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, der unseren Soldaten wirklich liebt. Der eine Mensch, der ihn liebt, ist ein Mädchen, namens Anna. Sie ist eine Verkäuferin, eine Angestellte und sie denkt immer an den Soldaten. Und zuerst mochte sie B

N

B

B

B

B N

B

N

B

N

B

N

N

B

N

B

N

N

B

N

10

B

BB

B

15

N

N

N

N

N

B

B

1–2

3 5 5 6–12

6 6 6 6 6 7 7 8–9 12 13 13 14 15–114,2

16–114,2

[Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind [seiner] |unserer| Zeit.] [Es gibt gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre, Krieg und Frieden.] [Aber unsere Zei] [|Aber [unserer Zeit ist für viele böse, für wenige gut, die Jahre sind] |in unserer Zeit gibts||] [|Anna wohnte im dritten Stock.|] [|Die Liebe ist eine Himm|] [|Anna wohnte im dri|] [|Aber unsere Zeit ist alles: gut und böse, fett und mager.|] [|Mutig|] |Ist f nein.| B N] [Doch {das}] B1.)N ] \1.)/ BseinerN ] [unserer] |seiner| BGeboren f Erinnerung –N ] [Es [gibt] gab immer schon gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre, | | Krieg und Frieden. [Doch heute wissen] |Und unsere Zeit?| Ist sie gut oder böse? Fett oder mager? Für [viele] [|manch|] |viele| böse – für [manche] |wenige| gut.] |Geboren f Erinnerung – | B7N ] [6]|7| B1915N ] 191[6]|5| BunserN ] [un] |unser| B22N ] 2[1]|2| BSeinN ] [Eb] |Sein| B N] [war im Weltkrieg,] B1917N ] \1917/ Bes f Frieden.N ] [knapp nach dem Weltkrieg.] |es f Frieden.| BEsN ] [(]Es B2.) f Krieg.N ] \2.) f Krieg./ B2N ] [1]|2| B3N ] [2]|3| BDer f Königreich –N ] [Denn sein Vater mag ihn eigentlich nicht. \Das hatte politische Gründe. Der Vater war ein Pazifist und der Sohn sagte, der Krieg ist der Vater aller Dinge. „Dummer Bub“, sagte der Vater. „Das sag nicht ich“, sagte der Sohn, „das sagt ein alter Grieche.“ „Auch Dein alter Grieche ist ein Tepp“, sagte der Vater. Er war Kellner und der Sohn [h] |war| Buchdrucker. Aber er hatte keine Arbeit und freute sich aufs Militär. Das Militär schien ihm die grosse Hoffnung. Die Freiheit. In Reih und Glied. Nie allein./ Er hatte mal einen grossen Krach mit ihm und seit der Zeit mag er ihn nicht. Auch er mag seinen Vater nicht.] |Der f Königreich – | Bmochte f Königreich –N ] mit Bemerkung versehen: später!!!! B

Es f nein.N ]

113

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K1/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

ihn doch nicht, aber dann ja. Sie lächelt oft, wenn sie an ihn denkt. Es ist ihr, wie eine heimliche Königin, sie hat ein heimliches Königreich – NN

5

10

3.) Oft sitzt sie an der Maschine und denkt an ihn. Durch den Lärm wird alles anders. Sie sieht ihn, er kommt in seiner Montur. Sie kennt ihn ja noch nicht lange, erst drei Tage. Aber sie wird ihn lieben, sie ist ja sehr einsam. 4.) Sie lernte ihn auf dem Rummelplatz kennen. Vor der Grottenbahn. Er war nicht der erste Mann. Der erste Mann war ein Chauffeur. Aber das ist schon lange her, sehr lange. Schon über ein Jahr. Da wurde der Chauffeur arbeitslos und sie entzweiten sich. 5.) Auch der Soldat denkt an sie. Sie gefällt ihm. Er rückt aus. „Angetreten!“ Er 얍 ist gerne Soldat. Er wird sie heut abend treffen. Auf der Bank. Im Prater. Er denkt nach, wann er sie umarmen soll. Nein, nicht gleich! Denn er hat auch schon Erfahrungen mit den Mädchen.

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 4

15

a.) die Kellnerin b.) Traute. „Die Zweiteilung der Liebe.“ c.) Else, die reife Frau. 20

Er möchte auch gerne die vornehmen Damen haben, aber die kommen für ihn nicht in Frage. Denn er hat kein Geld. 6.) Auf der Bank. 7.) Sie hat ein heimliches Königreich.

25

8.) Der Soldat spricht nicht davon. Seine Kameraden erzählen von Weibern. Einer sagt: Du bist ja ganz allein. Der Soldat: Ja. Er verschweigt seine Liebe. 9.) Wieder auf der Bank. 얍 „Es regnet.“ B

30

B

N

N

BNBN

10.) Sie allein. Denkt: ich möcht im Bett mit ihm liegen. Sie möchte das gerne einrichten. N

B

35

11.) Das billige Stundenhotel. Das Märchen im Stundenhotel. Am Nachmittag. Sie lassen die Läden herab und spielen Nacht. 12.) Er merkt seine Liebe zu ihr. (Gewandelt – Kufstein, Tirol)

40

29 30 31

B

WiederN ] „Es regnet.“N ] BN]

31 33

BN

B

B

] 10.) f allein.N ]

[S]|W|ieder [„Es regnet“] |„Es regnet.“| [Das billige Stundenhotel. (Das Märchen im Stundenhotel.)] mit Bemerkung versehen: [später!!!] [10.) Sie] |10.) f allein.|

114

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K1/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

13.) Bei der Wahrsagerin. Die Liebe ja – aber es ist eine weite Reise drinn. ( Es ist, wie Krieg, als wär Krieg – aber es ist Frieden. ) Und sie, das Mädel, wird auch eine weite Reise machen. B

B

N

N

5

14.) Er kommt zu ihr und sagt, er muss weg. Er darf das Land nicht nennen, eine Übung. – (Er ist seltsam ernst) 15.) Das Mädel hört von der Revolution im Nachbarland. Die Greuel, die ihr die Dame beim Anprobieren erzählt. Was geht das mich an? denkt sie. Ich habe meine kleine Welt. B



B

10

N

N

BN

16.) Sie kriegt ein Kind. \Abbruch der Bearbeitung\

15

2–3 3 7 10 12

Es f Frieden.N ] aberN ] Beine Übung. –N ] B B

B

WasN ] ]

B N

Es f Frieden. [aber] |aber| (1) (wir werden irgendwo eingesetzt.) (2) \eine Übung. –/ [„]Was [16.) Sie eilt zur Kaserne. Er ist weg.]

115

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 6

Fragmentarische Fassung

K1/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B EIN SOLDAT Roman.N

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 1

Ich bin Soldat. BN

5

Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, Frühling und Herbst, Sommer und Winter, obs regnet oder schneit, Tag und Nacht – immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen. Ja, ich bin gerne Soldat! Als der Staabsarzt „Tauglich“ sagte, hätte ich ihn umarmen können. Ich ging nachhaus und schmiss meine Bücher in die Ecke. Dann holte ich sie hervor und verkaufte sie. Zuwas brauch ich Bücher? Was soll ich auf der Universität? Ein Arzt werden, der verhungert? Ein Chemiker? Ein Erfinder, der betrogen wird? Nein! Ich bin Soldat! Jetzt hat mein Leben einen Sinn! Ja, ich bin 18 Jahre – geboren am 5. Nov. 1917. Ich bin ein Kriegskind. Aber ich kann mich an den Krieg nichtmehr erinnern. B

10

N

B

B

15

N

N

B

N B

N

N

B

20

Mein Vater ist in der Hotelbranche. Er ist aber nur ein Oberkellner, allerdings einer, der viel verdient. B

1–2

B

5 9

BN B

10–15

B

11 16 16 17 22

B

EIN f Roman.N ]

] Ja f Soldat!N ]

Als f Soldat!N ]

schmiss f Ecke.N ] einenN ] BSinn!N ] BJa, ichN ] Baber f einN ] B

N

[EIN SOLDATENROMAN EIN SOLDAT IN UNSERER ZEIT EIN HELDENLEBEN] [|ICH BIN [EI] |SOLDAT||] |EIN f Roman.| [Und ich bin gerne Soldat.] [Wir stehen auf, es ist noch dunkel, wir] [|Heut ist es Herbst. – Ende September|] [|Wir stehen auf, es ist noch dunkel, wir gehen schlafen, es ist noch hell. [Wir sind müde] |Das Wasser ist kalt,| das Lager warm, [das Essen reichlich.] |die Schuhe schwer, wir putzen uns die Zähne.| Der Dienst ist [nicht schwer] |nicht leicht, nicht schwer.| Wir sind viel in der frischen Luft. [Und am Sonntag gehen wir fort.] |Wir spielen Karten.||] [|Oh, wie schön ist das Soldatenleben! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem Leben beginnen sollte. Am liebsten wär ich Bauer geworden oder Förster oder irgendwas in der frischen Luft. Aber ich habe kein Geld. Ich [hä] |wurde| ein Buchdruckerlehrling, aber ich hasse die Bücher. (1) Der Meister riss mich an den Ohren. Es freute mich nicht, [weil] |was| ich lernen sollte. (2) \Ich bin Gymnasiast./ Da wurde ich achtzehn Jahre und kam zum Militär. Sie behielten mich, denn ich bin gesund und ich liebe den Sport. Jetzt bin ich schon vier Monat dabei. Hoffentlich dauerts noch lang. Hoffentlich kann ich ganz dabei bleiben!|] |Ja f Soldat!| [\Ich liebe den Hauptmann, den Leutnant, den Feldwebel, ich liebe die Kaserne, die Treppe, die Schilderläusen – Ich liebe die Luft./] |Als f Soldat!| [packte meine Bücher] |schmiss f Ecke.| [wieder] |einen| [{Sinn}]|Sinn!| \Ja,/ [I]|i|ch (1) ein (2) aber f ein

116

Fragmentarische Fassung

K1/TS3 (Korrekturschicht)

Er wollte, ich soll studieren. Er meint, nur studierte Leute würden was auf der Welt. Aber die Welt hat sich gedreht und mein Vater ist ein altmodischer Mensch. Meine Mutter kenne ich nicht. Nur von Photographien. Sie starb. Sie sitzt auf einer Bank mit einem altmodischen Hut. Nur keine überflüssige Sentimentalität! Wir stehen auf, es ist noch dunkel. B

5

Lesetext

N

\Abbruch der Bearbeitung\

4–6

B

Sie f Sentimentalität!N ]

\Sie f Sentimentalität!/

117

Fragmentarische Fassung

K1/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 BAngetreten!N

5

10

ÖLA 3/W 156 – BS 26 d [3], Bl. 4

„Tauglich!“ sagt der Oberstabsarzt und der Schreiber schreibt es in sein Buch. Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat. Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, Frühling und Herbst, Sommer und Winter, ob es regnet oder schneit, Tag und Nacht -- immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen . N

B

B

N

BN B

Denn da ist immer einer neben Dir und Du bist nie allein. N

BN

15

Schwer ist das Soldatenleben – Ich bin es erst seit einem halbem Jahre, aber ich habe schon einen Stern. Und ein kleines silbernes Bändchen. Ich bin schon etwas mehr, wie die anderen. Denn ich bin der beste Schütze meines Zuges. Ich hab die sicherste Hand und das schärfste Auge. Oh, wie bin ich glücklich, dass ich Soldat bin! Jetzt hat mein Leben plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem Leben beginnen sollte. Am liebsten wär ich ein Bauer geworden, aber dazu braucht man Geld und da ich kein Geld habe, blieb mir doch nichts anderes 얍 übrig, als in einem Bureaux zu sitzen und das wäre doch eine ewige Sklaverei. Nein, nur beim Militär bin ich frei, nur hier habe ich eine Zukunft! Und ausserdem ist Militär etwas ähnliches wie Sport -- und ich gebe gerne meinen letzten Tropfen Blut hin fürs Vaterland! Denn ich liebe mein Vaterland und besonders jetzt, da es stark wieder ist und seine Ehre wieder hat. Jetzt tönt die Trompete! Angetreten! Der Hauptmann schreitet die Front ab. Wir folgen ihm mit den Blicken. Er hält vor mir: „Sie melden sich hernach.“ „Jawohl, Herr Hauptmann!“ Melden? Warum? Was ist los? Was will der Hauptmann? N

B

B

N

20

25

B

30

N

B

N

1 5 10–11 12 13 14 15

16–17

26 30–32

[DER SOLDAT] |Angetreten!| \„Tauglich!“ f Buch./ [marschieren] zu [dürfen] |stehen| [Links und rechts, links und rechts.] (1) Es (2) \Denn da/ BN] [Links und rechts.] BSchwer f Soldatenleben –N ] [Auch wenn Du allein auf Wache stehst, auch dann bist Du nicht allein, denn Du musst die anderen wachen und Du bist nicht allein, wenn Du weisst, wofür Du lebst. Ich bin so glücklich, dass ich Soldat bin!] |Schwer f Soldatenleben –| BIch f anderen.N ] (1) Ich f anderen. (2) \Ich hab zwar schon einen Stern und bin etwas mehr, [wie] |als| die anderen. Jeder achte hat einen Stern./ BwieN ] eingefügt BJetzt f Hauptmann?N ] \Jetzt f Hauptmann?/ Angetreten!N ] „Tauglich!“ f Buch.N ] Bzu stehenN ] BN] BDenn daN ] B B

118

ÖLA 3/W 156 – BS 26 d [3], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

5

15

N

B

20

25

30

35

Lesetext

Es war eine Zeit, da liebte ich mein Vaterland nicht. Es wurde von vaterlandslosen Gesellen regiert und beherrscht, aber jetzt ist es wieder stark und mächtig -- ich glaube, ich hatte damals garkein Vaterland. Aber jetzt ja! Jetzt soll mein Vaterland wieder mächtig werden und stark! Ein leuchtendes Vorbild, es soll auch die Welt beherrschen. Wir müssen rüsten. Hier beim Militär habe ich eine Zukunft. Denn es gibt sicher bald einen Krieg, wieder einen Weltkrieg und den werden wir gewinnen und dann werden wir diktieren! Den Frieden! Der Führer spricht zwar immer vom Frieden, aber wir zwinkern uns nur zu. Der Führer ist ein schlauer, kluger Mann, er wird schon die anderen hereinlegen. Sie sollens nur glauben, dass wir den Frieden wollen, sie sollen nur -- wir schlagen dann plötzlich los! Blitzartig! Es ist schon alles vorbereitet. Was wissen auch die Anderen schon?! Nichts! Sie wissen garnicht, wieviel wir sind. Denn wir haben keine Kasernen mehr, wir liegen in Barracken im Wald. Niemand weiss, wo -Es darf niemand in die Nähe. Auch die Flugplätze liegen unter der Erde. Kein feindlicher Flieger wird sie finden. Dort liegen die Flugzeuge, die schweren Bomber auch. Und täglich gibts neue Erfindungen. Es darf niemand in die Nähe. Wer es verrät, darüber spricht, der wird erschossen. Und dem geschieht recht. Denn das ist Landesverrat. Ja, wir sprechen von dem Frieden -- aber das ist alles Quatsch! Gewalt geht vor Recht! Wir sind eine harte Generation, wir lassen uns nichts vormachen! 얍 Mein Vater sagt immer: „Hoffentlich kommt kein Krieg mehr“ -Unsinn! Hoffentlich ja! Und ich sage ihm: glaubst Du denn nicht, dass all die Bureauxhocker begeistert mitzögen, wegen der Frau loswerden und so, alle Möglichkeiten -Er sagt: Ja, die sich nichtmehr erinnern können! Ich sage: Die sich erinnern können, die zählen eh nichtmehr, die sind ja alle schon alt! Tröste Dich, Du kommst nichtmehr drann und wegen mir musst Du Dir keine Sorgen machen! Er sagt: Halt den Mund! Ja, ich bin noch jung. Ich bin ein sogenanntes Kriegskind. B

10

K1/TS5 (Korrekturschicht)

B

N

N

B

9 19 36

B

spricht zwarN ] BomberN ] BHalt f Mund!N ]

37–120,2

B

B

Ja f erinnern.N ]

korrigiert aus: sprichtzwar B[i]|o|mber (1) Du bist noch nass hinter den Ohren! (2) \Halt f Mund!/ (1) Ich bin am 5. November 1915 geboren. Ich bin ein Kriegskind. Aber ich kann mich an den Weltkrieg nichtmehr erinnern. (2) [Ja, ih] |Ja f erinnern.|

119

ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K1/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

Geboren am 5. November 1915. Ich kann mich an den Weltkrieg nichtmehr erinnern. B

NN

BN

5



BN

ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 1

10

15

Es ist Sommer, ein heisser Sommertag und wir liegen mit unseren schweren Maschinengewehren auf einer verdörrten Wiese. Gut in Deckung. Es hat schon seit Wochen nichtmehr geregnet und die ganze Ernte ist verdorrt. Die Bauern klagen, aber tröstet Euch nur: bald werden wir grosse fruchtbare Ebenen haben, wo alles wächst. Im Osten. Dort werden wir uns ausbreiten und ansiedeln. Wir liegen im Staub und haben Durst. Es sind kleine Manöver . Wir müssen die Strasse, die dort unten vorbeizieht beherrschen. Auf der Strasse kommen zwei radfahrende Mädchen. Sie sehen uns nicht, wir hören ihr lachen. Sie schieben die Räder aufwärts, dann wieder setzten sie sich aufwärts und fahren hinab. Plötzlich halten die Beiden, und die eine hält beide Räder. Dann geht die andere in das Unterholz. Wir schauen alle hin, sehen aber nichts. Der Hauptmann lächelt, der Feldwebel grinst. Wir auch. Dann fahren die beiden Mädchen die Strasse hinab. Fröhliche Fahrt! meint der Hauptmann. Jetzt surrt es auf dem Himmel. Das Mädchen blickt empor. Es ist ein Flieger. Wir schauen auch hinauf. Er kann uns nicht sehen, denn wir sind gut gedeckt, mit Laub und Zweigen. So ein Flieger hats gut, meint der Eine. Ein Flieger hat nie Durst. Und ich denke, ja so ein Flieger ist die bevorzugte Truppe des Vaterlandes. Die 얍 Flieger haben die schönsten Uniformen, die schönsten Autos, die teuersten. Von ihnen wird am meisten gesprochen. Sie sind die jüngste Truppe. Aber auch wir sind jung, aber von uns wird nicht so viel gesprochen. Wir sind zu viele. Wir liegen da und müssen marschieren, werden voll Staub und Dreck, das ist freilich nicht so elegant. Wir sind ja noch nichteinmal motorisiert, zwar sind wir schon motorisiert, aber trotzdem! Wer ist das heutzutag nicht! Die Flieger sind überhaupt furchtbar eingebildet. Ihr General war im Weltkrieg ein berühmter Kampfflieger, er hat 24 abgeschossen. Ueberhaupt bei den Fliegern sind alle jung, so einen Alten, wie den Hauptmann, der jetzt hinter mir steht, gibt es garkeinen. B

20

25

30

N

B

35

40

2 3 7 17 34

B

erinnern.N ] ]

erinnern[!]|.|

BN

gestrichen: \Jetzt tönt die Trompete.

] BManöverN ] BjüngsteN ]

Angetreten! (S. 2)/ [HOCH IN DER LUFT] korrigiert aus: Mänöwer korrigiert aus: Jüngste

BN

120

N

ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

N

B

15

20

25

30

Lesetext

Aber es muss sich erst herausstellen, ob die Flieger wirklich im Krieg soviel taugen, ob sie wirklich einen Krieg entscheiden können, wie sie es sich einbilden, dass sie einfach über einer Stadt erscheinen und sie zusammenschiessen und dass wir Infanteristen eigentlich überflüssig sind. Der Hauptmann sagt immer, wir sind es nicht. Und er glaubt, dass im Krieg doch nur die Infanterie entscheiden wird. Wir wissen es nicht, wir werdens ja sehen. Nein, ich mag die Flieger nicht! Sie sind so eingebildet -- erst unlängst wieder, wie die angegeben haben, als wären wir ein Dreck und sie die oberste Garde! Und die Mädchen sind auch so blöd, sie wollen nur einen Flieger! Das ist ihr höchster Stolz! Nein, ich mag die Flieger nicht! „Um Gottes willen !“ ruft der Hauptmann. Was gibts?! Er blickt auf den Himmel -Ich sehe hin -- dort, der Flieger. Er stürzt ab. Warum? Die eine Tragfläche hat sich gelöst. Jetzt stürzt er ab. 얍 Mit einem langen Rauch hinter her. Wir starren alle hin. Und es fällt mir ein: „Komisch, hab ich nicht gerade gedacht: stürz ab!“ Der Gedanke lässt mich nichtmehr los. „Es sind sicher fünf Kilometer von uns“, meint der Hauptmann. „Mit denen ists vorbei“. „Es waren zwei Mann“, sagt einer. „Ja“, sagt der dritte. Wir waren alle aufgesprungen. „Deckung!“ schreit jetzt wieder der Hauptmann. „Deckung! Ihr könnt denen so nichtmehr helfen, die macht keiner mehr lebendig!“ B

10

K1/TS5 (Korrekturschicht)



N

BN

ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 5

35

40

Der abgestürzte Flieger blieb in meiner Seele. Als wir abends das Dorf erreichten, in dem wir einquartiert lagen. Abends in der Kaserne beim Essen sass der Eine neben mir und sagte: „Gib mir was von Deinem Fleisch!“ Der andere nein, darauf lässt er es fallen. „Du hast es mir nicht vergönnt“, sagte er. Da flieg mir der Flieger wieder ein. B

7 14 34 43

ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 3

N

Wir wissenN ] Gottes willenN ] BN] BfliegN ] B B

korrigiert aus: Wirwissen korrigiert aus: GottesWillen

[ABENDS IM DORF] gemeint ist: fiel

121

Fragmentarische Fassung

5

K1/TS5 (Korrekturschicht)

Und ich sagte: „Glaubt Ihr an die Magie der Gedanken?“ Sie sahen mich gross an. „Ja“, sagte der eine, „das ist schon möglich, dass wenn einer dem anderen was Böses wünscht, dass das in Erfüllung geht. Ich hab mal gelesen, dass man das die schwarze Magie nennt.“ „Es sind Strahlungen und da kennt man sich noch nicht so aus.“ B

10

x

Die neuen Autos. Das Einfahren der Autos. Die Kellnerin in Kyritz. (Sie erzählt: „Es ist mal ein Flieger bei uns abgestürzt –“) Die grosse Parade. Das Land X. (Der Hauptmann sieht meinem Vater ähnlich) Abschied vom Vater. (in dem Restaurant; die Mutter lebt nichtmehr)

15

Lesetext

\Abbruch der Bearbeitung\

7–14

B

x f nichtmehr)N ]

\x f nichtmehr)/

122

N

123

Notizen, Strukturpläne

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 7

124

Notizen, Strukturpläne

K1/E7–E9

125

Lesetext

Strukturplan in sieben Teilen

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 15

126

Strukturplan in sieben Teilen

K1/E10

127

Lesetext

Strukturplan in sechs Teilen

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 16

128

Strukturplan in sechs Teilen

K1/E11

129

Lesetext

Strukturpläne

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 3

130

Strukturpläne

K1/E12–E13

131

Lesetext

Strukturplan

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 10

132

Strukturplan

K1/E14

133

Lesetext

Strukturpläne (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 11

134

Strukturpläne (Fortsetzung)

K1/E14–E15

135

Lesetext

Strukturplan (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 12

136

Strukturplan (Fortsetzung)

K1/E14

137

Lesetext

Strukturplan

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 8

138

Strukturplan

K1/E16

139

Lesetext

Strukturpläne (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 9

140

Strukturpläne (Fortsetzung)

K1/E16–E17

141

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K1/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Anna, die Soldatenbraut

5

ÖLA 3/W 159 – BS 26 d [6], Bl. 1

1.) „Anna“, sage ich, „warum schimpfst Du mit mir? Ich versteh Dich nicht. Schön, wir wollten ins Kino, aber das Kino ist ausverkauft. Dafür kann doch ich nichts!“ „Wir hätten eben früher von mir weggehen können“, sagt Anna. „Schön“, sage ich, „aber ich kann doch nichts dafür, dass meine Uhr falsch geht.“ „Ich habs Dir gleich gesagt, dass sie nachgeht, aber Du glaubst einem ja nie was, besonders in letzterer Zeit!“ „Das ist nicht wahr!“ „Doch-doch!“ „Nein!“ „Schön“, sagt Anna und sie imitiert mich dabei im Tonfall, weil ich nämlich so oft „schön“ sage. Ich geh nicht darauf ein. Wir gehen schweigend nebeneinander. Es ist ein nasser Novemberabend und es riecht nach verbranntem Holz. Die Lichtreklame des Kinos zerrinnt . Die Strasse ist finster und ich kann Annas Gesicht nicht sehen. „Jetzt hab ich mich so gefreut auf das Kino und jetzt ist wieder nichts.“ „Wir werden schon nochmal ins Kino kommen --“ „Aber nicht zu diesem Film!“ fällt sie mir ins Wort gereizt. „Am nächsten Donnerstag wird er ja nichtmehr gespielt!“ (Anna hat nämlich nur alle acht Tage einen Abend frei. Sie ist Kellnerin im Hotel zur Stadt Paris) „Am liebsten möchte ich jetzt nachhause gehen und nichtsmehr hören und 얍 nichtsmehr sehen!“ sagt sie. „Aber Anna!“ sage ich. „Wie kann man sich nur die Stimmung so verderben, wegen einem Kino, oder weil die Uhr falsch geht, komm, jetzt gehen wir in ein Tanzcafé --“ Ich stocke plötzlich und grüsse, denn es kommt uns ein Offizier entgegen. Er tauchte plötzlich aus der Finsternis auf und ich sah ihn im letzten Moment. Der Offizier dankt. Ein Artillerist. Ich bin Infanterist. Schweres Maschinengewehr. Es ist oft fad, das Grüssen, aber ein Soldat muss das tun. Ich bin nämlich Soldat. Und ich bin gerne Soldat. Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, Frühling und Herbst, Sommer und Winter, ob es regnet oder B

N

B

10

15

N B

B

20

25

35

N

B

B

30

N

N

N

5 8

B

8

B

von f weggehenN ]

19

B

zerrinntN ]

20

B

ich f sehen.N ]

27

B

„AmN ]

B

1.)N ] eben früherN ]

\1.)/ (1) früher (2) eben früher (1) von zuhaus we (2) von f weggehen (1) verschwindet im Nebel (2) zerrinnt (1) plötzlich höre ich Anna: (2) \ich f sehen./ korrigiert aus: Am

142

ÖLA 3/W 159 – BS 26 d [6], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

K1/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

schneit, Tag und Nacht -- immer wieder freut es mich, in Reih und Glied stehen zu dürfen. Denn da ist immer einer neben Dir und Du bis nie allein, fällt es mir plötzlich ein. „An was denkst Du?“ fragt plötzlich Anna. „An nichts.“

2. \Abbruch der Bearbeitung\

143

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 17

144

Strukturplan in sieben Kapiteln

K1/E18

145

Lesetext

Strukturpläne

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 14

146

Strukturpläne

K1/E19–E20

147

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K1/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B DER VATER ALLER DINGEN

ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 1

KITTY WEG! 1.) Der betrunkene Arbeiter, der die Soldaten beschimpft. Der alte Polizist, der ihn laufen lässt. (Der Arbeiter hat nur einen Zahn) 2.) Die Hur, die angespuckt wird. „Du traust Dich nach unserer Uniform zu schauen, nach meinem Körper, der das Vaterland beschützt?!“ B

5

BN

B

N

N

10

15

Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat. Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, Frühling und Herbst, Sommer und Winter, ob es regnet oder schneit, Tag und Nacht -- immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen. Und wenn wir durch den Dreck marschieren, dann spritzt er. Jetzt hat mein Leben plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt ist sie auferstanden, meine persönliche Zukunft! Es war nicht der dritte Tag, es war das sechste Jahr, und sie fuhr nicht gen Himmel, sie blieb auf der Erde und gab mir zum Fressen. Und gab mir feste Schuhe und Wäsche und einen Anzug, der was gilt. Und gab mir die Hoffnung: Du kannst noch was werden! Es erschienen keine flammenden Zungen, es erschien ein Stern auf meinem Kragen. Ich wurde Gefreiter. Sechs Jahre war ich traurig, jetzt wird alles gut! Sechs Jahre wusst ich nicht, was ich werden sollte, aber jetzt weiss ich es, wo ich hingehör. 6 Jahre war ich allein , aber jetzt bin ich einzeln überhaupt nichtmehr. Es ist immer einer neben Dir. Rechts und links. Du bist nie allein. Tag und Nacht. Du hörst auf und stürmst in den Tod, wenn die Trompete blast, wenn es Ernst werden sollte. Wir warten auf den Ernst. B

N

BN

B

20

B

N B

N

B

N

B

25

N

B

30

N

B

B

1 3–8 3 7 16 18 19–149,6 19–20

B

20 22

B

23 26 32–34 34

B

N

DER f DINGEN ] KITTY f beschützt?!“N ] BN] BangespucktN ] BUnd f er.N ] BN] BIch f allein! – –N ] Bauferstanden f Zukunft!N ] B

B

Es f Tag,N ] feste f gilt.N ]

nochN ] alleinN ] BTod f Ernst.N ] BdenN ] B

N

[ANGETRETEN !] |DER f DINGE| \KITTY f beschützt?!“/ [(???)] korrigiert aus: angespukt \Und f er./ [, so ganz ohne Zukunft,] \Ich f allein! – –/ auferstanden[!] |,) \meine persönliche Zukunft[!][|, mit vielen anderen zusammen|]!/ [Am dritten] |Es f Tag,| (1) einen [anständig] |ehrbaren| Anzug (2) \feste f gilt./ \noch/ [allei] |allein| Tod[.]|,| \wenn f Ernst./ [–]|den|

148

Fragmentarische Fassung

5

K1/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

Du fällst nicht allein. Du bringst alles um, was Dir im Wege steht, aber Du trägst keine Verantwortung. Du kannst nichts dafür. Es ist alles Kommando. Gottseidank! Gottseidank, bin ich nichtmehr allein! – – N

Man trägt weniger Verantwortung, man wird tapferer beim Sturmangriff. Ich bin nichtmehr allein. Wenn ich auf Posten stehe, denke ich oft an mein Leben. (II.) Aber ich will nicht daran denken, ich bin dann nämlich so allein. Ich denke auch an die Weiber. Der Hochsprung. Liebte ich eine? Nein, sie sinds nicht wert. Auch die Mutter nicht? Ich kenne sie nicht. „Es ist kalt“, das ist meine erste Erinnerung B

10

B

N

N

15

Denn ich habe manchmal das Gefühl, dass meine Seele tot ist. Wenn es überhaupt eine Seele gibt. B

N

So allein hätt ich zwar schon gewusst, was ich werden sollte. Aber so allein brauchst Du Geld. Viel Geld. Zuviel für die übergrosse Mehrheit. Ich wär nämlich Bauer geworden. Denn die Stadt gefällt mir nicht, obwohl ich in der Stadt geboren worden bin, im dritten Stock. Ich liebe das Land. Ich weiss zwar nicht, ob ichs am Land immer ausgehalten hätte, so ohne Kino ohne Cafe, aber ich hatte halt die Sehnsucht darnach, denn in der Stadt ohne Geld ist es dreifach schwer. Und dann ist es eine Frage der Generation. Ein junger Mensch meiner Generation hat garkeine Aussicht, etwas werden zu können, er findet ja keinen Posten, auch wenn er was kann – so ist es mir gegangen. Ich will nicht immer von mir reden, aber zum Beispiel ich: ich habe die Buchdruckerei erlernt, und wie ich fertig war, stand ich da B

20

N B

B

N B

N

N B

N BNB

N

BN

B

N

B

25

N

B

B

N

B

20 20 21 21–22

B

22 22 22 23 24–25 25 26 26–27 27–28 28

BN

Man f ErinnerungN ] (II.)N ] BDenn f gibt.N ] BSo f Mehrheit.N ] B

IchN ] wär nämlichN ] Bgeworden.N ] BDenn f Stock.N ] B

] IchN ] BN] BKinoN ] Bist f EinN ] BhatN ] BkeinenN ] Bauch f kann –N ] BIch f ichN ] BdaN ] B

N

B

B

N

8–14 11 16–17 19–20

N

B

N

\Man f Erinnerung/ \(II.)/ \Denn f gibt./ (1) Ich hätt es zwar schon gewusst, was ich hätt werden wollen, aber dazu hätt ich Geld gebraucht, ein Anf\a/ngskapital -- nicht viel, nur wenig, aber immerhin Geld und dann hätt ich \es/ mir schon eingerichtet, mein \liebes/ Leben. (2) \So f Mehrheit./ [Am liebsten wär] [i]|I|ch \wär nämlich/ geworden\./ [oder Verwalter auf einem Gut.] [Ich bin zwar in der Grossstadt] |Denn die Stadt gefällt mir nicht, obwohl ich in der Stadt| geboren [, aber die Stadt gefällt mir nicht, und] |worden f Stock.| gestrichen: \1.)/ [i]|I|ch gestrichen: \2.)/ korrigiert aus: Kiino [hat ein] |ist f Ein| \hat/ [gar]keinen \auch f kann –/ [Ich] |Ich f ich| korrigiert aus: da.

149

Fragmentarische Fassung

K1/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

mit meiner Buchdruckerkunst. Das einzige, was ich positiv wusste, war dass alles, was gedruckt wird, gelogen ist. Es steht im Dienste überstaatlicher Mächte. Und es war keine Aussicht etwas zu bekommen, und auch keine 얍 dass es besser wird. B

N

BN

Die Strassenarbeit. Ich sehe ein freies Feld. Der freiwillige Arbeitsdienst. B

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N

Es gibt immer weniger Zeitungen, es wird immer weniger gelesen, das macht der Sport. Die Leut treiben Sport, statt zu lesen, das ist nunmal unsere Welt. Ich kann es begreifen, dass man nichts liest. Es ist fad und geht einem nichts an. Wenn in einem Roman drinn stehen würde, wo Du einen Posten bekommst, dann würd jeder lesen, aber es stehen nur so fade Liebesgeschichten drinn oder Expeditionen, in ferne Länder, wo Du dann vor Sehnsucht vergehst. Aber selbst, wenn man eine Stelle hätte, was wäre dann? Es wär Tag für Tag dasgleiche, immer im Büro sitzen, und Du weisst schon, was Du verdienst, wenn Du siebzig wirst. Vorausgesetzt, dass das Büro nicht pleite geht. Nein, das ist alles keine Zukunft! Da schlaft man ein bei seinem eigenem Leben! Das kann alles nur durch etwas Grosses anders werden, durch ein grosses Ereignis. Zum Beispiel durch einen Krieg. (Ich sehe über die Kasernenhofmauer und erblicke das zivile Leben. Es geht draussen vorbei. Erst unlängst sagte der Hauptmann: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Und er hat Recht. Natürlich im übertragenem Sinn. Mein Vater hat nämlich garnicht recht, wenn er auf den Krieg schimpft, nur weil er im Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft geraten ist. Früher, wie ich noch bei meinem Vater gewohnt hab, da haben wir uns oft gestritten. Er sagte immer: „Hoffentlich gibts keinen Krieg mehr!“ Unsinn! Hoffentlich gibts bald einen ! Kriege wirds immer geben, mein Vater ist ein leibhaftiger Pazifist und wenn er nicht mein Vater wär, dann hätt ich ihm schon ein paarmal angezeigt, weil er gar so schimpft über die Generäle. Ich habs ihm auch mal gesagt, dass ich ihm anzeigen werd, aber da ist er sehr bös geworden. „Zeig mich nur an!“ schrie er. „Was redest denn Du übern Krieg?! Du kannst Dich doch an den Weltkrieg garnichtmehr erinnern !“ „Tröste Dich nur“, sagte ich, „die die sich erinnern können, die zählen eh nichtmehr, die sind B

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B

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B

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B

B

1–2 3 5–7 11–14

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mit f Mächte.N ] ] BDie f Arbeitsdienst.N ] BWenn f vergehst.N ]

20–21 22 27

B

27 28 30 32 32

B

(Ich f vorbei.N ] unlängstN ] Bbald einenN ] B

wirds immerN ] leibhaftigerN ] BmalN ] BDuN ] BerinnernN ] B

B

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BN

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B

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\mit f Mächte./ [andeers,] \Die f Arbeitsdienst./ (1) Wenn f vergehst. (2) \Denn \in jeder Zeitung steht dasselbe und/ die Romane handeln von reichen Leuten oder von armen, aber die jammern dann. Jammern ist eckelhaft! \\Jammern oder Sehr reich,/ denn die Schriftsteller sind mit der Zeit noch nicht mit.// \(Ich f vorbei./ korrigiert aus: unlngst (1) keinen mehr, (2) bald einen korrigiert aus: wirds immer korrigiert aus: leibhaftig3r korrigiert aus: ml korrigiert aus: „Du korrigiert aus: eirinnern

150

ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K1/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

ja schon alle zu alt! Hab nur keine Angst, Du kommst eh nimmer drann!“ „ Eine Frechheit!“ plärrte mein Vater. „Das wagst Du mir? B

B

N

N

Ich seh meinen Vater hinter der Glaswand. Er bedient die vornehmen Leut. Der Arbeiter mit dem einen Zahn. B

N

5

10

Ich hätt Angst, wo ich dreimal verwundet worden bin, einmal verschüttet, zwei Jahr in der Ge-얍fangenschaft?! Du gemeiner Schuft, liderlicher!“ Er wollte mir eine herunterhauen, aber ich bin rasch weg, denn ich hab mich nicht hauen lassen. Das war vor drei Jahren, damals war ich siebzehn. Ich hab ihn noch im Treppenhaus schreien gehört, er hat einen Stuhl zur Erde gehaut, das tut er immer, wenn er wütend ist. Ich warte schon darauf, bis der Stuhl kommt. Dann schwellen ihm die Adern an und er brüllt. Dann geh ich fort. Ich mag ihn nicht. Er gehört zu der Generation , die unser Land, ja die ganze Welt ins Unglück gebracht haben. Wie er jung war, hat er genug Stellungen gehabt. Er hat auch Aussichten gehabt, aber wir, ich das heisst: ich? Nichts. Keine Aussicht, ich kann auch in kein Land. Alles hat diese Generation verpatzt. Es war noch zu wenig für ihn, diese Kriegsgefangenschaft. Sie hätten ihn noch ein bisserl behalten sollen. Nein, ich mag meinen Herrn Papa nicht! Ich kann ja in kein anderes Land, überall Not und Arbeitsbewilligung! Und das ist ja schlimmer als der Krieg. Im Krieg hättest Du wenigstens Aussichten, da ist alles unvorhergesehen, es stimmt schon: „ Im Felde da ist der Mann noch was wert !“ Aber diese Generation ist verschwommenen, blöden Idealen nachgehängt, sie haben die Welt ruiniert, und habens nicht erfasst, dass man nicht denken, sondern handeln muss. Und es gibt nur das eigene Nest, ob es mir gut geht, meinem Volk, meinem Vaterland! Was gehen mich die anderen an ?! Da gründen sie Vereine für Unterstützung der Armen Ausländer, Quatsch! Hoffentlich gibts bald einen Krieg, jawohl: hoffentlich! Da gehe ich gerne mit! Ich schon, ich bin noch jung und will was haben von meinem Leben! Ich will nicht ein ganzes Leben über in einem Büro sitzen! Ich hasse das bequeme Leben! Ich bin ein Kriegskind, geboren am 5. November 1915, aber ich kann mich an den Weltkrieg nichtmehr erinnern. Ich will auch nicht. Der nächste Krieg wird anders, ganz anders. Das wird ein Vernichtungskrieg, einer wird ausgerottet werden und dieser einer, werden nicht wir sein. Garantiert! „Angetreten!“ kommandiert der Vizeleutnant. Wir treten an. In Reih und Glied. Es klappt alles haargenau. Scharf 얍 und scharf. Ich bin ja jetzt auch schon ein halbes Jahr dabei und hab bereits einen Stern. Ich bin B

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B

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B

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1 2 4–5 13 21 21 21 22 25 29 32

B B

EineN ] plärrteN ]

Ich f Zahn.N ] GenerationN ] BImN ] BdaN ] Bwas wertN ] BWeltN ] BanN ] BNovemberN ] BwerdenN ] B B

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N

B

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ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 3

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N

korrigiert aus: QEine (1) brüllt (2) plärrte

\Ich f Zahn./ korrigiert aus: Generaition korrigiert aus: im korrigiert aus: das korrigiert aus: waswert Wel[r]|t| korrigiert aus: am korrigiert aus: Noember (1) werden (2) wird

151

ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

Lesetext

Gefreiter geworden. Erstens, weil ich gut schiessen kann, zweitens weil ich sehr ausdauernd bin. Ausserdem gefalle ich unserem Hauptmann. Unser Hauptmann ist ein feiner Mensch. Wir lieben ihn alle. Er ist sehr gerecht und ist wie ein Vater, der einem auch etwas gibt. Er schreitet die Front ab und sieht genau nach, er ist sehr für Ordnung, aber wir haben das Gefühl, dass er uns liebt, jeden einzelnen extra. Er schaut nicht nur darnach, ob alle Ausrüstung richtig sitzt, nein, er sieht durch die Ausrüstung durch in unsere Seele. Das fühlen wir alle. Er lächelt selten, aber lachen hat ihn noch keiner gesehen. Er hat manchmal traurige Augen. Aber dann kann er auch wieder ganz scharf schauen. Und streng. Man kann ihm nichts vormachen. So wollen wir auch mal werden. Wir alle. Da ist unser Oberleutnant ein ganz anderes Kaliber. Er ist zwar auch gerecht, aber er kann leicht jähzornig werden oder vielleicht ist er auch nur nervös. Er ist nämlich sehr überarbeitet, weil er in den Generalstab hineinmöcht und da lernt er Tag und Nacht. Er steht immer mit einem Buch in der Hand und liest und lernt. Dagegen ist der Leutnant eigentlich für uns kein Offizier. Er ist höchstens ein Jahr älter, wie wir, also so dreiundzwanzig. Und manchmal ist er unsicher, dann möcht er schreien, aber er traut sich nicht recht. Wir lachen oft heimlich über ihn, aber wir folgen natürlich. Er ist ein grosser Sportsmann und der beste Hundertmeterläufer. Wirklich gediegen! Er läuft einen prächtigen Stil. Überhaupt hat das Militär eine grosse Ähnlichkeit mit dem Sport. Man kann fast sagen: es ist der schönste Sport. Wir sind alle sehr für den Sport. Nur der Feldwebel hat das Exerzieren lieber, aber neulich hat er sich doch so aufgeregt, wie unser Regiment gegen die Artillerie im Fussball gewonnen hat, dass er ganz weiss war. Er hat sich ganz vergessen und hat den Unteroffizier umarmt. Seither ist er 얍 auch mehr für den Sport, den sportlichen Gedanken. „Abzählen!“ kommandiert der Feldwebel. Wir zählen ab. „1, 2, 3, 4, 5, 6, --“ Usw. Ich bin Nummer vierzehn. Von rechts, von den grössten her. Der Grösste ist eins achtundachtzig, der Kleinste einssechsundfünfzig , ich bin ungefähr einssechsundsiebzig , gerade die richtige Grösse, nicht zu gross, nicht zu klein. Ich möcht auch nur so die normale Grösse haben. So äusserlich gesehen gefall ich mir ja. Neulich hab ich mich lang in den Spiegel geschaut, denn es ist mir plötzlich aufgefallen, dass ich garnicht genau weiss, wie ich aussehe, ich kenne garnicht genau, meine Nase und meinen Mund. Ich hab mir gefallen. Ich hab mich auch im Profil betrachtet und zwar mit zwei Spiegeln, bis der Feldwebel hereingekommen ist und gefragt hat: „Was ist? Bist Du eine Primadonna? Betrachtet sich im Spiegel wie eine alte Badhur!“ Dann hat er mir den Spiegel aus der Hand genommen und hat sich selB

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K1/TS9 (Korrekturschicht)

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2 2 6 17

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AußerdemN ] unseremN ] BN] BWirN ]

korrigiert aus: Ausserden korrigiert aus: unseren gestrichen: E (1) Er (2) Wir

19–20 22 24

B

Überhaupt f Sport.N ] sichN ] Bauch mehrN ]

\Überhaupt f Sport./

B

eingefügt (1) mehr (2) auch mehr korrigiert aus: einsechsundfünfzig korrigiert aus: einsechsundsiebzig korrigiert aus: hereimgekommen

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B

einssechsundfünfzigN ] einssechsundsiebzigN ] BhereingekommenN ] B

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ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

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ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 6

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Lesetext

ber betrachtet. „Männer müssen nicht schön sein“, hat er dabei gesagt, „Männer müssen nur wirken, insbesondere aufs gegenteilige Geschlecht!“ Ich hab ihn mir angeschaut und hab mir heimlich gedacht, melde gehorsamst, aber Du wirkst sicher nicht. Plötzlich dreht er sich mir zu und fragt mich: „Kennst Du Kitty?“ „Wer ist Kitty?“ frage ich. „Du kennst sie also nicht?“ „Nein.“ „Dann freu Dich“, sagt er und verlässt den Saal. Was ist mit dieser Kitty? Am Abend frage ich den Karl, der neben mir liegt. „Kennst Du eine Kitty?“ „Ich nicht“, sagt er, „aber der Hans der Rote kennt sie“, er grinst. „Es wär ihm sicher lieber, wenn er sie nicht kennen würde. Sie ist die Tochter der Greislerei und kriegt ein Kind.“ „Von wem?“ „Das ist es ja grad: sie gibt den Roten an, aber der weiss, dass noch andere dabei waren. Und jetzt hat der Hauptmann die Sache in die Hand genommen, er sagt, er duldet sowas 얍 nicht, ein Soldat muss ehrlich dafür einstehen, und wenn es mehrere waren, dann müssen eben mehrere zahlen!“ „Ich versteh den Hauptmann nicht“, sagte der Franz, „wieso kommen Unschuldige dazu darunter zu leiden? Da lauft einem so ein Weibsbild nach und am Schluss hat sies Kind gar noch von einem Zivilisten! Verstehst Du das?“ fragt er plötzlich mich, wendet sich. „Ich muss mirs erst überlegen“, sage ich. „Der Hauptmann ist ein gerechter Mann und er wirds schon wissen, wenn uns jetzt auch nicht gleich die Motive einfallen.“ „Aus bevölkerungspolitischen Gründen muss natürlich so ein Kind richtig erzogen werden , das ist klar, aber da sollte der Staat dafür eintreten. Wie komm ich dazu?“ „Das sind Ausreden“, sagt der eine. „Hättest halt achtgegeben!“ „Ich hab schon achtgegeben, aber sie hat nicht achtgegeben!“ „Man sollte ein Kind nur dann in die Welt setzen, wenn man es wirklich ernähren kann. Mein Vetter hat geheiratet, die haben gespart, sind in kein Kino und nichts, und wie sie soviel Geld gehabt haben, hat er zu ihr gesagt, so Luise, jetzt gehts auf. Dann hat er ihr ein Kind gemacht. Man muss Verantwortungsgefühl haben.“ Am nächsten Morgen hat der Hauptmann beim Apell eine Rede gehalten. Er hat gesagt, das wär eine Schweinerei und eines Soldaten unwürdig. Gesetzlich sagte er, müsste keiner was zahlen, aber moralisch ja, es gibt noch ein anderes Gesetz und das müsse ein jeder Soldat befolgen. Er brachte es soweit, dass die vier sich einigten und zahlten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. An diesem Tage rückten wir auf acht Tage aus zu einer kleinen Uebung. Der Sommer war heiss und wir lagen mit unseren schweren Maschinengewehren auf einem verdorrtem Felde. Gut in Deckung. Es hatte schon seit Wochen nichtmehr geregnet und die ganze Ernte 얍 war verdorrt. Die Bauern klagen, aber tröstet Euch nur. Wir können uns noch nicht selber ernähren, wir müssen autarkisch werden und uns darnach strecken, denn finstere Gewalten sind gegen uns gerichtet und hindern, dass unser Volk frei und glücklich B

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K1/TS9 (Korrekturschicht)

B

18 20 20 21 28 34 34 39

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B

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mussN ] bevölkerungspolitischenN ] BnatürlichN ] BwerdenN ] BApellN ] BMaschinengewehrenN ] BaufN ] BgegenN ] B

hindern,N ]

B

N

korrigiert aus: musss korrigiert aus: Bevölkerungspolitischen korrigiert aus: n türlich korrigiert aus: werden“ gemeint ist: Appell korrigiert aus: MschinengewehrenN korrigiert aus: qauf (1) unter (2) gegen korrigiert aus: hindern ,

153

N B

N

ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K1/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

wird, hindern seinen Platz an der Sonne. Aber tröstet Euch, Ihr Bauern, wir werden bald alles haben, grosse fruchtbare Ebenen, wo alles wächst. Dort werden wir uns ausbreiten und ansiedeln. Und dann wird jedes Kind etwas haben und keines muss mehr um ihn gestritten werden, auch die Kitty kann hundert Kinder haben, denn dann können wir uns das leisten. Jeder wird Raum haben! Wir liegen jetzt im Staub und haben Durst. Wir müssen die Strasse, die dort unten zieht, beherrschen. B

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N

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Der abstürzende Flieger. Es gibt Dinge im Leben, die wir noch nicht kennen. Aber ich werd mich nicht lange damit aufhalten! Es war ein Zufall und Schluss! B

N

Als wir zurückkommen, erfahren wir, dass Kittys Kind tot ist. Darüber grosse Freude. Aber ich werde plötzlich traurig: und denke an mein Volk. Sie sind froh, weil unser Volk keinen Raum hat. Ja, es muss anders werden! Wir brauchen einen Krieg, sonst gehen wir alle unter! Eine vage Erinnerung an die Mutter. Ans Märchen. An Waisenkind.

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B

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Ich melde mich als Länderdienender. N

Die Parade. Gefallenengedenkfeier. Der Pfarrer. Die neuen Götter. Es stimmt alles nichtmehr. Mein gefallener Onkel. Gewalt geht vor Recht! „Der gute Kamerad.“ Gestern bekam ich den zweiten Stern. B

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N



BN

ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 1

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Es ist Sommer, ein heisser Sommertag und wir liegen mit unseren schweren Maschinengewehren auf einer verdörrten Wiese. Gut in Deckung. Es hat schon seit Wochen nichtmehr geregnet und die ganze Ernte ist verdorrt. Die Bauern klagen, aber tröstet Euch nur: bald werden wir grosse fruchtbare Ebenen haben, wo alles wächst. Im Osten. Dort werden wir uns ausbreiten und ansiedeln. Wir liegen im Staub und haben Durst. Es sind kleine Manöver . Wir müssen die Strasse, die dort unten vorbeizieht beherrschen. Auf der Strasse kommen zwei radfahrende Mädchen. Sie sehen uns nicht, wir hören ihr lachen. Sie schieben die Räder aufwärts, dann wieder setzten sie sich aufwärts und fahren hinab. B

40

4 11 17–18 21 25–26 27 37

ihnN ] abstürzendeN ] BWir f unter!N ] BIchN ] B„Der f Stern.N ] BN] BManöverN ]

N

B

korrigiert aus: i n

B

abst\ü/rzende \Wir f unter!/ [Ich] [|Ges|] \„Der f Stern./ [HOCH IN DER LUFT] korrigiert aus: Mänöwer

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Fragmentarische Fassung

5

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K1/TS9 (Korrekturschicht)

Plötzlich halten die Beiden, und die eine hält beide Räder. Dann geht die andere in das Unterholz. Wir schauen alle hin, sehen aber nichts. Der Hauptmann lächelt, der Feldwebel grinst. Wir auch. Dann fahren die beiden Mädchen die Strasse hinab. Fröhliche Fahrt! meint der Hauptmann. Jetzt surrt es auf dem Himmel. Das Mädchen blickt empor. Es ist ein Flieger. Wir schauen auch hinauf. Er kann uns nicht sehen, denn wir sind gut gedeckt, mit Laub und Zweigen. So ein Flieger hats gut, meint der Eine. Ein Flieger hat nie Durst. Und ich denke, ja so ein Flieger ist die bevorzugte Truppe des Vaterlandes. Die 얍 Flieger haben die schönsten Uniformen, die schönsten Autos, die teuersten. Von ihnen wird am meisten gesprochen. Sie sind die jüngste Truppe. Aber auch wir sind jung, aber von uns wird nicht so viel gesprochen. Wir sind zu viele. Wir liegen da und müssen marschieren, werden voll Staub und Dreck, das ist freilich nicht so elegant. Wir sind ja noch nichteinmal motorisiert, zwar sind wir schon motorisiert, aber trotzdem! Wer ist das heutzutag nicht! Die Flieger sind überhaupt furchtbar eingebildet. Ihr General war im Weltkrieg ein berühmter Kampfflieger, er hat 24 abgeschossen. Ueberhaupt bei den Fliegern sind alle jung, so einen Alten, wie den Hauptmann, der jetzt hinter mir steht, gibt es garkeinen. Aber es muss sich erst herausstellen, ob die Flieger wirklich im Krieg soviel taugen, ob sie wirklich einen Krieg entscheiden können, wie sie es sich einbilden, dass sie einfach über einer Stadt erscheinen und sie zusammenschiessen und dass wir Infanteristen eigentlich überflüssig sind. Der Hauptmann sagt immer, wir sind es nicht. Und er glaubt, dass im Krieg doch nur die Infanterie entscheiden wird. Wir wissen es nicht, wir werdens ja sehen. Nein, ich mag die Flieger nicht! Sie sind so eingebildet -- erst unlängst wieder, wie die angegeben haben, als wären wir ein Dreck und sie die oberste Garde! Und die Mädchen sind auch so blöd, sie wollen nur einen Flieger! Das ist ihr höchster Stolz! Nein, ich mag die Flieger nicht! „Um Gottes willen !“ ruft der Hauptmann. Was gibts?! Er blickt auf den Himmel -Ich sehe hin -- dort, der Flieger. Er stürzt ab. Warum? Die eine Tragfläche hat sich gelöst. Jetzt stürzt er ab. 얍 Mit einem langen Rauch hinter her. Wir starren alle hin. Und es fällt mir ein: „Komisch, hab ich nicht gerade gedacht: stürz ab!“ Der Gedanke lässt mich nichtmehr los. B

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Lesetext

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13 28 35

ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 2

jüngsteN ] Wir wissenN ] BGottes willenN ] B B

N

korrigiert aus: Jüngste korrigiert aus: Wirwissen korrigiert aus: GottesWillen

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ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

5

K1/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Es sind sicher fünf Kilometer von uns“, meint der Hauptmann. „Mit denen ists vorbei“. „Es waren zwei Mann“, sagt einer. „Ja“, sagt der dritte. Wir waren alle aufgesprungen. „Deckung!“ schreit jetzt wieder der Hauptmann. „Deckung! Ihr könnt denen so nichtmehr helfen, die macht keiner mehr lebendig!“ \Abbruch der Bearbeitung\

156

157

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 16

158

Strukturplan in sieben Kapiteln

K1/E21

159

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K1/TS10 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DAS VERWUNSCHENE SCHLOSS

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ÖLA 3/W 152 – BS 26 c [1], Bl. 1

Es ist Sonntag und wir haben frei. Von zwei Uhr Nachmittag, von vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr. Nur die Bereitschaft bleibt zurück. Gestern bekam ich meinen zweiten Stern und heute werde ich zum erstenmal mit zwei Sternen am Kragen ausgehen. Der Frühling ist nah, aber er ist noch nicht da. Doch es weht eine laue Luft und Nachts konzertieren die Katzen. Die Strassen der Stadt sind leer, jetzt essen die Leute oder schlafen. Ich gehe mit drei Kameraden. Wir haben weisse Handschuhe an. Wir reden über die Weiber. Ich red nicht viel mit, ich denk mir mein Teil. Zuerst gehen wir in ein Cafe und trinken einen Cafe. Wir lesen die Zeitung und die Illustrierten. Dann sagt der eine: gehen wir doch auf die Wiese! Die Wiese ist ein Rummelplatz mit Karussels, Ausrufern, in der Strasse. Sie ist sehr lang und wird immer breiter. Da stehen Karussels und Schiessbuden und kleine dressierte Affen und grosse Affen und Hunde spielen Theater und Wahrsagerinnen und Abnormitäten. Und ein Hippodrom ist da und Tanzpaläste. Und ganz unten steht das verwunschene Schloss. Wir wissen nicht, was wir tun sollen und schiessen. Wir treffen ins Schwarze und das Fräulein, das unsere Gewehre lädt und einkassiert, lächelt uns respektvoll und einladend an. Meine Kameraden lernen zwei Mädchen kennen beim Tanzen, aber mir gefallen sie nicht. Denn ich bin anspruchsvoll. Sie sind mir nicht hübsch genug. Ich möchte auch eine Frau. Ich will aber meinen Kameraden nicht im Wege stehen und trenne mich von 얍 ihnen. Ich gehe ins Hippodrom. Dort reiten zwei Fräulein . Man sieht die Stelle zwischen Strumpf und Rock. Ich habe diese Stelle an den Mädchen sehr gerne. Ueberhaupt glaube ich, dass diese Stelle jeder Mann gerne hat. Ja, es wären schon zwei hübsche Mädchen da, aber sie sind für mich nichts. Soviel Geld hab ich nicht, denn die müsst man einladen usw. Ich gehe also weg. Auf die zwei Sterne geben die nichts, sie haben schöne Schuhe an und die eine hat ein goldenes Armband. Da steh ich jetzt mit den weissen Handschuhen. Traurig etwas geh ich die Strasse weiter und wandel zwischen den Abnormitäten. Es ist Frühling und es dämmert, die Lichter entflammen rot und gelb und blau. Die Musik tönt aus den Buden und ich schreite einher. Die Luft ist lau. Und ich denke plötzlich, dass diese Männer mit den Mädchen auch zu meinem Volke gehören -natürlich! Und auch dafür hab ich geschworen zu fallen -- und die Abnormitäten gehören auch zum Volk, nein, ich will nicht weiterdenken! Durch das Denken kommt man auf ungesunde Gedanken. Das sind alles Probleme, die Reichen, die Weiber und die Abnormitäten, durch die man nicht hindurchsieht. Wir einfachen Sterblichen nicht, aber der Führer wirds schon richtig machen. B

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B

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konzertierenN ]

Wir f Teil.N ] Ich f Frau.N ] Bzwei FräuleinN ] BauchN ] B

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(1) schreien (2) konzertieren

[Wohin?] |Wir f Teil.| \Ich f Frau./ [schöne Mädchen] |zwei Fräulein| korrigiert aus: auh

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N

ÖLA 3/W 152 – BS 26 c [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K1/TS10 (Korrekturschicht)

Es fällt mir auf, dass ich niemand liebe, ausser dem Vaterland. Dass ich alle und alles hasse. Ihm gehört meine ganze Liebe und nicht den Weibern. Ueberhaupt kommts auf die Weiber nicht an. Sie befinden sich dem Krieger gegenüber nur in einer Hilfsstellung. Aber es wär doch schön eine schöne Frau -- und ich denke an die Frauen, die ich hatte. Ich kaufe mir ein Bier und zähle sie zusammen. Wieviele warens denn bisher? Nicht viel, nur dreizehn. Davon nur zwei auf länger. Die eine die Frau eines Vertreters, er war ein Liberalist , ein widerlicher. Die zweite -- ja, ich hatte noch nicht die richtige. Aber es muss auch die richtige geben, wo alles selbstverständlich ist, wo die Seele und der Leib zusammenpasst. Gibt es das überhaupt? Oder gibt es das nur im Märchen? B

B

N

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N

B

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Lesetext

N

B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

1–2 1–2 9 9

Es f hasse.N ] und allesN ] BwarN ] BLiberalistN ] B B

\Es f hasse./ \und alles/ korrigiert aus: wae korrigiert aus: Lieberalist

161

Strukturpläne in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 3

162

Strukturpläne in sieben Kapiteln

K1/E22–E23

163

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 4

164

Strukturplan in sieben Kapiteln

K1/E24

165

Lesetext

Strukturplan, Replik

ÖLA 3/W 152 – BS 26 c [1], Bl. 1

166

Strukturplan, Replik

K1/E25–E26

167

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 2

168

Strukturplan in sieben Kapiteln

K1/E27

169

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 5

170

Strukturplan in sieben Kapiteln

K1/E28

171

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 6

172

Strukturplan in sieben Kapiteln

K1/E29

173

Lesetext

174

Konzeption 2: Ein Soldat der Diktatur

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Strukturplan in vier Kapiteln

ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 1

176

Strukturplan in vier Kapiteln

K2/E1

177

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

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Genauso, wie sich die Menschen hassen, hassen sich auch die Völker. Und die Menschen sind so wie die Tiere, einer frisst den anderen. Das oberste Gesetz der Natur ist der Hass und nicht die Liebe, Ihr Trottel alten! Schaut Euch doch um! Die ganze Natur und Welt, alles besteht aus Hass! Die Liebe das ist nur eine Schwäche! Ihr habt den Hass mit Euerer schwachen Vernunft bekämpfen wollen und habt es nicht erkannt, dass die Welt ein organisches Eigenleben führt. Ein organisches Ganzes. Ich hasse Euch, Ihr Idioten! Ich kann es nicht ausstehen, das ewige Geweine! Allein, wenn ich das immer hören muss: vor dem Krieg, das war eine schöne Zeit! B

N BN

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N

B

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BN

Mir hätt sie nicht gefallen. Allein schon wie Ihr Viecher angezogen gegangen seid -- ich kenn das genau nach alten Photographien. Damals hat mein Vater drei Zimmer gehabt, er war noch nicht verheiratet und hat, wie es damals hiess „ein flottes Junggesellenleben “ geführt. Mit Weibern und Kartenspiel. Alle Welt hatte Geld. Es war eine faule Zeit. Ich hasse sie. Keiner hatte Sorgen, alles war da, und sie machten sich ihre Sorgen aus dem nichts, jeder konnte arbeiten, verdienen, jeder hatte zum fressen, niemand musste hungern -Eine widerliche Zeit! Ich hasse das bequeme Leben! Ich hab mit meinem Vater nichtsmehr zu tun. Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Hoffentlich gibts bald einen Krieg! Und der Krieg, der jetzt kommen wird, der wird ganz anders werden, als der sogenannte Weltkrieg! Viel furchtbarer, viel brutaler, mächtiger , grösser, gewaltiger, auch wenn er isoliert werden wird. B

15

N

B

N

B

20

N

BN

B

N

B

25

N

B

N

B

B

30

2 2 10–11 10 10 11 12 13 17 18 18 21–22 23 25–26 27–179,2 29

N

Genauso f MenschenN ] \Genauso f Menschen/ ] gestrichen: Menschen BIch f muss:N ] (1) Auch wenn ich nur das schon hör: (2) \Ich f muss:/ BAllein, wennN ] [[Allein,] [w]|W|enn] |Allein, wenn| BimmerN ] [{s}]|immer| BN] gestrichen: \“ – da werd ich ga/ BN] [Geschmacksache!] BhättN ] [würd] |hätt| BJunggesellenlebenN ] korrigiert aus: Jungesellenleben BMit f AlleN ] [Damals gabs noch viele zahlreiche Restaurant vornehme und] |Mit f Kartenspiel.| [a]|A|lle BN] [, bequeme] Bniemand f hungernN ] (1) wo er wollte (2) niemand f hungern BEineN ] [Es war] [e]|E|ine BIch f Dinge.N ] \Ich f Dinge./ BHoffentlich f Auge.N ] gestrichen: (später; Seite 13) Bbrutaler, mächtigerN ] korrigiert aus: brutaler, mächtiger B

BN

178

ÖLA 3/W 160 – BS 26 d [7], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K2/TS1 (Korrekturschicht)

Es wird ein Vernichtungskrieg, so oder so. Wir schauen den Tatsachen ins Auge . B

2

B

ins AugeN ]

N N

[, den] |ins Auge|

179

Lesetext

Notizen, Strukturplan in neun Bildern

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 4

180

Notizen, Strukturplan in neun Bildern

K2/E2–E3

181

Lesetext

Notizen, Strukturplan in vier Kapiteln

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 5

182

Notizen, Strukturplan in vier Kapiteln

K2/E4–E5

183

Lesetext

Strukturplan in vier Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 6

184

Strukturplan in vier Kapiteln (Fortsetzung)

K2/E5

185

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 13

186

Strukturplan in sieben Kapiteln

K2/E6

187

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 15

188

Strukturplan in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

K2/E6

189

Lesetext

Notiz

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 15v

190

Notiz

K2/E7

191

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

5

10

15

20

25

30

얍 Und wie ich so weitergehe, komme ich zu dem verwunschenem Schloss, mit seinen Giebeln und Türmen und Basteien. Es hat vergitterte Fenster und die Drachen und Teufel schauen heraus. Ein BLautsprecherN gibt Beinen feinen WalzerN von sich, eine alte Musik, und dann wird sie immer unterbrochen durch Gelächter und Gekreisch. Aber ich kenne das schon. Es ist eine Platte, das Gelächter und das Gekreisch, die Angst und die Freude, sie sind nicht echt. Sie werden verstärkt, um anzulocken, B SchreckenN und Freude. Ein monotones Geräusch BtöntN aus dem Hause. Aha – das sind Maschinen. Die treiben die Laufteppiche, ich kenne das schon. B N Nein, da geh ich nicht hinein. BDasN ist zu blöd. Das ist so blöd, dass es nur was ist, wenn man nicht allein ist. Es ist eine Gesellschaftsunterhaltung. Und überhaupt mit den weissen Handschuhen. Da fall ich hin und sie werden schwarz. Ich will weiter, da blicke ich nach der Kasse, ganz automatisch. Im ersten Augenblick halte ich, dann mache ich noch zwei Schritte weiter. Und halte wieder. Wer sitzt dort an der Kasse? BSie sitzt regungslos, es ist eine Frau, eine junge Frau.N Sie sitzt so starr, als wär sie 얍 eine Wachsfigur. Sie ist auch so wächsern, – Boder ist es Bnur dasN Licht?N Sie hat grosse Augen, aber die seh ich nicht gleich. Ich sehe zuerst ihren Mund. Aber BwasN red ich da? Ich weiss es nicht, BwasN ich zuerst sah! Ich weiss nur, dass ich plötzlich stehen blieb, als wär ich plötzlich vor einer Wand gestanden, vor einem Hindernis, aber dann bin ich durch, ich wollte weiter, und bin gestolpert, und bin wieder stehen geblieben. Sie sah mich an. Es war ein ernster Blick, fast traurig. Und ich sah sie an. Und aus dem Lautsprecher tönte BderN leise Walzer und dann kam ein Schrei. B Jetzt sah sie weg.N Sie nahm ihren Bleistift und schrieb. Aber ich wusste es, dass sie nichts schrieb. Sie tat nur so, sie wollte mich nichtmehr sehen. Ich ging weiter. Dort war ein Stand und ich kaufte mir Eis. Aber ich mag garkein Eis. Warum kaufte ich es mir? Da stand ich und schleckte das Eis. Ich sah BhinüberN aufs verwunschene Schloss. Sie sah mich an und lächelte und schrieb wieder weiter. Nein, sie schrieb nicht, sie zeichnete. Ich beobachtete sie. Sie hatte ein schönes Profil und es fiel mir auf, wie zart dass sie aussah. Sie sah so fein aus und prüde und doch ist sie eine Sau, ging es mir durch den Sinn. 4 4 8

LautsprecherN ] einen f WalzerN ] BSchreckenN ] B B

9 10 10 16 17–18

B

17 19 19 24 25 29

B

töntN ] ] BDasN ] BSie f Frau.N ] Boder f Licht?N ] BN

nur dasN ] wasN ] BwasN ] BderN ] BJetzt f weg.N ] BhinüberN ] B

[Orchester] |Lautsprecher| [Ge] |einen f Walzer| (1) Angst (2) \Schrecken/ [{döt}] |tönt| [\Und/] korrigiert aus: Da [Ich sehe blonde Haare, sie beugt sich u] |Sie f Frau.| (1) nein, doch nicht. (2) \oder f Licht?/ nur\ /das korrigiert aus: war [{ }] |was| [der] |der| [Sie sah] |Jetzt sah sie [weg] |weg.|| [zu] |hinüber|

192

ÖLA 3/W 150 – BS 26 a [3], Bl. 1

ÖLA 3/W 150 – BS 26 a [3], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext



Als ich das Eis fertig hatte, konnt ich noch immer nicht fort. „Noch ein Eis?“ fragte mich die Verkäuferin. „Ja“, sagte ich. Und dann hatte ich wieder eines in der Hand. Ich sah, dass sie lächelte. Warum lächelt sie? Weil ich da steh und das Eis schleck? Ich wollte das Eis auf die Erde hauen, da tauchte in Offizier aus der Finsternis auf. Ich salutierte. Einen Offizier muss man salutieren. Das Eis hielt ich in der Hand. Jetzt lachte sie, aber ich hörte keinen Ton. Die Jahrmarktsmusik übertönte es. Ich sah es nur. Sie hatte schöne Zähne und es fiel mir auf, dass sie einen schönen Busen hatte, er stand so schön ab. Ich muss sie sprechen, dachte ich. Und ich werde jetzt einfach ins verwunschene Schloss gehen, denn ich weiss es nicht, will sie mich haben oder nicht? Mag sie mich oder nicht? Ich trat an die Kasse und sagte: „Ein Billett “ „Für Militär“, sagte sie ganz sachlich und sie fügte hinzu: „Sie haben Glück, denn ich wollte gerade zusperren.“ „ Schon?“ sagte ich. „Es ist doch noch früh und alles ist voller Leut!“ „Ja, das schon“, sagte sie, „aber es kommt doch niemand. Die Geschäfte gehen 얍 schlecht.“ „Bei dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung?“ fragte ich. „Das tut nichts zur Sache“, sagte sie. „Das verwunschene Schloss ist unmodern.“ „Aber es freut einen doch immer wieder“, sagte ich galant. Sie sah mich gross an. „Sie vielleicht“, sagte sie. Lächelte sie? Nein, sie blieb ganz ernst. Ich ging hinein. Ein Skelett salutierte. Dann kam eine Untiefe. „Au!“ schrie ich und verstauchte mir meinen Fuss. Mein Fuss schwoll an. Sie kam. „Um Gotteswillen!“ sagte sie. „Sagen Sies nur niemand, dass Sie sich hier bei uns den Fuss verstaucht haben! Sonst kommt noch die Polizei! Und das ist kaput, stimmt! Und ich bin schuld! Aber sie werden ja sowieso umsonst behandelt!“ „Und die Schmerzen?“ „Die Schmerzen?“ Sie sah mich an. „Es hat jeder seine Schmerzen“, sagte sie. Sie stand neben mir. Ich sass auf dem Boden. Sie: „Es ist möglich, dass wir uns wiedersehen,“ sagt sie. Ich bin allein. Und als ich die Kaserne sehe, muss ich an das verwunschene Schloss denken. B

5

10

ÖLA 3/W 150 – BS 26 a [3], Bl. 3

N

B

N

B

N

15

20

B

N

B

N

25

B

N

BN

B

30

N B

B

N

N

B

35

N

3 13 13–14 15 20–23

B

Ich f lächelte. N ] BillettN ] Bsachlich f hinzu:N ] BSchon?“N ] BAber f ernst.N ]

25 28 29 29 32 33–35

B

B

Mein f an.N ] ] BUndN ] Bich binN ] BnebenN ] BSie: f denken.N ] BN

[Jetzt taucht] |Ich f lächelte.| Billett[,] sachlich[.] [|–|] |und| [Ich zahlte] |sie fügte hinzu:| [Aber es ist] |Schon?“| (1) [„Dann fangens doch] was anderes an!“ \„Das kann ich nicht“/ „Um etwas anderes anzufangen, dazu braucht man Geld“, sagte sie und gab mir die Karte. (2) \Aber f ernst./ \Mein f an./ [hier] [Ab] |Und| [wir] |ich bin| [neben] |neben| \Sie: f denken./

193

ÖLA 3/W 150 – BS 26 a [3], Bl. 4

Fragmentarische Fassung



K2/TS2 (Korrekturschicht)

Sie blickte auf mich herab. Ich umarmte ihre Beine, aber unter dem Rock. „Was machst Du da?“ fragte sie. Warum sagt sie „Du“ zu mir? dachte ich. Und ich hob ihren Rock. „Das kann ich auch“, sagte sie und hob ihren Rock bis über die Knie. Ich gab ihr einen Kuss oberhalb des Strumpfes und wunderte mich, das sie sich nicht wehrte. Sie hatte schöne Beine und es fiel mir ein, dass ich von solchen Beinen geträumt hatte. „Du wunderst Dich?“ fragte sie plötzlich. „Wieso?“ „Weil ich mich küssen lasse“, sagte sie. „Ja, ich wundere mich.“ B

B

5

Lesetext

N

N

B

N

B

N

10

B

B

N

IV. Dialog mit den Abnormitäten über die politische Lage. B

N

N

15

Ich komme ins Lazarett. Sie besucht mich. Ich hab Ausgang. Ich bleibe mit ihr die Nacht im Schräbergarten . Der Spiegel. (Ich sehe sie im Spiegel) Und mir ist einen Moment lang, dass ich alles vergesse. Die ganze Welt. „Bist du müde?“ sagt sie. „Nein“, sage ich. „An was denkst Du?“ „An nichts!“ Aber das ist nicht wahr. Ich denke an die Kaserne. B

B

20

N

B

N

N

B

B

25

N

2 4 4 7–8 12 14 14 19 19 20 21–195,5

B

Beine, aberN ] WarumN ] Bmir?N ] BSie f hatte.N ] Bmich.“N ] BIV. f Lage.N ] BDialogN ] BbleibeN ] BSchräbergartenN ] BDer f Spiegel)N ] BUnd f ein.N ]

25

B

B

nichts!“N ]

Beine\,/ [und] |aber| [„]Warum korrigiert aus: mir?“ \Sie f hatte./ korrigiert aus: mich. \IV. f Lage./ [Die Unt] |Dialog| [ble] |bleibe| [Hurenhotel] |Schräbergarten| \Der f Spiegel)/ (1) Sie sagt: „Wenn Du Dir nicht das Bein verstaucht hättest, wären wir schon früher so beisammen.“ Ich komme in der Früh nachhaus. Rapport beim Hauptmann. Der Hauptmann, als er erfährt, dass ich bei einem Mädchen war, sagte: „Raus!“ Der Hauptmann ist ein feiner Mensch. (2) \„Das ist mein Besitz“, sagte sie. „Meine Eltern sind tot.“ Und es ist, als wären wir auf einem Unterkunftshaus und draussen sind die grossen Gletscher. Sie erzählt von ihren verstorbenen Eltern, von ihrem Vater, der sie ruft. Er hat einen grossen Schnurrbart, der Vater/ (3) \Sie: (erzählt von ihrem Verl[ie]|o|bten. (Anna B.) \der hat Abnormitäten.// (4) \Und f ein./ [nichts] |nichts!“|

194

ÖLA 3/W 150 – BS 26 a [3], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K2/TS2 (Korrekturschicht)

An das Postenstehen. Warum habe ich gelogen? „Du denkst doch an was?“ fragt sie. „Ja“, sage ich. „Ich denke an nichts.“ Sie wendet sich ab. Aber ich halte sie fest. Und dann schlafen wir ein. III. (Krieg ohne Kriegserklärung) = Der Bonze B

5



Lesetext

N

Ich denke an sie, immer sinnlich –

N

BN BN

Die Greuel des Krieges – die Sinnlichkeit nach ihr. 10

Wir sind heimlich in der Nacht fortmarschiert. Und haben unser Nachbarland überfallen. Der General sagt: „Jetzt haben wir gesiegt!“ (Ich werde verprügelt vom Kommissar) Ich werde Bonze. B

N

15

20

IV. Im Krankenhaus. Ich darf zum erstenmal hinaus. Ich erinnere mich dunkel an das verwunschene Schloss. Das verwunschene Schloss wird abgebaut. Der Mann ist gefallen. Sie: „Ich darfs nicht sagen. Denn wir denken es ist ein Bürgerkrieg. Derweil geht alles ums Geschäft.“ B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

1 8 8 13 20–21

B

Postenstehen.N ] ]

BN

] werdeN ] B„Der f Geschäft.“N ] BN B

Postenstehen [und plötzlich wirds mir sinnlos]. [(bis zu einem Erlebnis, wo ich mich plötzlich anfange, seelisch nach ihr zu sehnen)] gestrichen: V. [{hör}] |werde| \„Der f Geschäft.“/

195

ÖLA 3/W 150 – BS 26 a [3], Bl. 6

Strukturplan in zwei Kapiteln

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 19

196

Strukturplan in zwei Kapiteln

K2/E8

197

Lesetext

Strukturplan in drei Kapiteln

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 17

198

Strukturplan in drei Kapiteln

K2/E9

199

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B Ich erkenne den Tag nichtmehr.N Er ist B N anders geworden. Ich erkenne die Nacht nichtmehr. Sie wurde länger. 5 Ein Schifflein fährt über das Meer mit goldenen Segeln. Und der Wind ist BMusikN und die Segeln sind voller Musik und das Meer Bkommt über meineN Seele – Mensch, komm zu Dir“ Was denkst Du da? Bist Du besoffen? B 10 Ja, jaN, ich bin besoffen! Denn jetzt weiss ich es erst, dass sie mich liebt. BSeit vorgestern abend. Wo ich sie nachhause brachte. Und sie sagte: „Unter dem Tor steh ich nicht gern.“N Jetzt weiss ich erst, dass sie mich mag – jetzt weiss ich es erst, dass wir am nächsten Sonntag zusammensein werden. Richtig. Ich werde sie abholen, denn dann hat sie keinen Dienst 15 und wir fahren hinaus zu ihr. Dorthin, wo sie allein ist. Und seit ich das weiss, vertrag ich weniger und bin schon eher besoffen. Aber an얍 ders als frührer. Früher wenn ich besoffen war, bin ich aufgestanden und hab gestänkert. „Was haben Sie für Schuhe an?“ 20 Heut stänker ich nicht. Heut bin ich glücklich. B GlücklichN mit meiner Zukunft – Und meine Zukunft besteht nur aus 8 Tagen. Montag, Dienstag, Mittwoch – bis BzumN Sonntag. 25 Ich weiss, dass alles vergeht, also auch acht Tage. Ich weiss, dass ich sie dann treffen werde. Sie wird nichtmehr bei der Kasse sitzen. Wir treffen uns Bvor demN Kaufhaus Singer. Ich seh sie schon kommen – 30 Ich liebe ihre Kniee – – – Und die Woche vergeht so langsam. Montag, Dienstag, Mittwoch – … (usw.) Und dann kommt sie. Im Schräbergarten. BDer Einbruch. Wie lang liegt das alles zurück!N Draussen die Gletscher. 35 Und dann sagt sie: „Wir können uns niemehr sehen. Ich bin nämlich verheiratet –“ Und ich gehe weg. Sie gehört jemand anderen. BIch: Warum hast Du Dich dann mit mir eingelassen? 1

2 5 6 10 11–12 22 24 28 33 36–201,5

B

Ich f nichtmehr.N ]

] MusikN ] Bkommt f meineN ] BJa, jaN ] BSeit f gern.“N ] BGlücklichN ] BzumN ] Bvor demN ] BDer f zurück!N ] BIch: f genug.N ] BN B

[Bis [heute] |zu diesem Tage| wusste ich nicht, was \die/ Liebe ist. Ich lachte darüber, wenn ich hörte, sie sei eine Himmelsmacht, ich weinte] |Ich f nichtmehr.| [ganz] Musik[,] [[reicht] |brandet| an die Gestade [Dei] |meiner|] |kommt f meine| Ja[.]|,| [J]|j|a \Seit f gern.“/ [He] |Glücklich| \zum/ [Ecke] |vor dem| \Der f zurück!/ \Ich: f genug./

200

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 17

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 18

Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Korrekturschicht)

Sie: Weil ich das Gefühl hatte, dass Du mich brauchst. Ich: Ich brauche niemand. Ich gehe weg. Bös, verärgert. Ich bin mir selber genug. (Adieu!) Wenn die Nebel kommen ..... (etc.) N

5



ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 13

Dann bin ich nicht allein. Denn auch mit einer Frau ist man oft allein. Aber so in Reih und Glied nie. „An was denkst Du?“ fragt plötzlich Anna. „An nichts.“

10

B

N

XXXXXXX

15

Wir gehen in ein Café. Anna isst ein Eis und eine Torte und schaut sich die Modejournale und Illustrierten an. Ich lese die Zeitung. Anna hat neue Schuhe an. In der Zeitung steht, dass das Ende Europas kommt. Es ist alles unterhöhlt. Es kommt vielleicht bald ein Krieg. Und noch ein Krieg. Alles geht unter – Die Weiber werden vergewaltigt – „An was denkst Du?“ fragt plötzlich Anna. „An nichts.“ „Ich weiss an was Du denkst“, sagt sie plötzlich. „Du magst mich nichtmehr.“ B

20

Lesetext

N

B

N

25

B

30

35

40

N

XXXXXXX 얍 Wir gehen nachhaus. Ich begleite sie nachhaus. Da sagt sie: „Du hast Geheimwissen vor mir. Immer in neuerer Zeit bist Du so versunken. Was hast Du?“ Ja, was hab ich? Es ist sehr einfach erklärt: ich mag die Anna nichtmehr. Ich bin 22, die Anna 31. Sie ist mir plötzlich zu alt. Sie will mich auch immer drücken. Neulich, als ich von dem Ende Europas sprach, lächelte sie Bso spöttisch.N Sie sagte, Du bist ja noch so jung. Du glaubst ja alles. BAberN ich hab schon mehr gesehn. Du bist ja erst im Weltkrieg geboren, und kannst Dich nicht an ihn erinnern. Ja, ich bin ein Kriegskind und kann mich an den Weltkrieg nichtmehr erinnern. Aber darum soll sich diese Anna nur nicht einbilden, dass sie mehr weiss, wie ich! Von der wahren Politik unserer Zeit versteht sie ein Dreck! Von den grossen Problemen des Heute! 11 19

B

23–24 27 36 37

B

B

fragtN ] isst f EisN ]

Die f vergewaltigt.N ] „Ich f nichtmehr.“N ] Bso spöttisch.N ] BAberN ] B

[fragt] [|höre|] |fragt| (1) trinkt [einen Café] (2) isst f Eis

\Die f vergewaltigt./ \„Ichf nichtmehr.“/ so[.–]|spöttisch.| [Da] |Aber|

201

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 14

Fragmentarische Fassung

5

K2/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Und ich sage ihr: „Europa ist unterhöhlt. Wir müssen es retten.“ Sie hält. „Du dummer Bub“, sagt sie. Ich zucke zurück. Sie küsst mich. Ich küsse sie. Ich fühle ihre Wärme. Ich habe ihre Arme gern. „Komm“, sagt sie leise. „Aber sei ruhig, damit Dich niemand hört.“ „Wie immer“, sage ich. B

XXXXXXX 10

15

N

얍 BDie Versuchung Bdes hl. Antonius.N Volk ohne Raum. (zuviele Kinder) (Die Praeservativs) Himmlische und irdische Praeservativs.N

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 15

Die Visionenen der europäischen Zerstörung des Abendlandes im Bett. B

N

B

N

BN

20

Sie: Ich wollte immer schon mit Dir im Bett liegen. Erinnerst Du Dich? Ach Du! Wie wir es zum erstenmal im Freien taten – dann ging ich nachhaus und dachte, ich möchte mit Dir im Bett liegen. Es muss warm sein, draussen muss es schneien. Er: (denkt) Du interessierst mich nichtmehr. Da interessiert die Thea mich mehr. Ich werde an die denken – Er: Hast Du Geld? denkt er. B

N

B

25

Sie bekommt ein Kind; er dagegen = Theorie und Praxis

N

Die Mörder können nichtmehr zusehen, dass ein Mädchen ein Hosentürl aufmacht. B

B

N

N

30

35

Schwarz sind die Träume der Nacht. Am Anfang jedes Volkes stehen die Engel mit den feuerigen Schwertern. Die Wandlung von Liebe zur reinen Freundschaft. Parallel: Zur Wandlung, der politischen. \Abbruch der Bearbeitung\

6–9 10–13 10 15 15 16

B

„Komm f XXXXXXXN ] Die f Praeservativs.N ] Bdes f Antonius.N ] BeuropäischenN ] Bdes AbendlandesN ] BN]

23 25 27–28 27

B

B

Er: f er.N ] Sie f PraxisN ] BDie f aufmacht.N ] BnichtmehrN ] B

\„Komm f XXXXXXX/ \Die f Praeservativs./ [(einer rationalen Seele)] |des f Antonius.| [europäischen] [|abendländischen|] \des Abendlandes/ gestrichen: \Mein liebster, bester Freund, hier mein Buch. Du weisst alles, was ich sagen will. Ich umarme Dich!/ (Briefentwurf) \Er: f er./ \Sie f Praxis/ \Die f aufmacht./ [es im Bett] |nichtmehr|

202

Fragmentarische Fassung

K2/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Die Ballade von der grossen Liebe

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 20

Sie wird für mich zum Vaterland. Identisch damit. Ich weiss, was eine Ballade ist. Ich erinner mich noch aus der Schul. Und dann als Buchdruckerlehrling. Aber da druckten wir rosarote Balladen, die sich um das wichtigste herumdrückten. Um das Wichtigste in der Liebe. Denn das ist das Bett. Es muss weiss sein und breit und ordentlich. Und nun will ich berichten von meiner grossen Liebe. Doch wer hört mir zu? Ich berichte ja nur mir selbst – Wenn ich abends auf meinem Strohsack liege, in der Kaserne, dann ist es dunkel und ich denke nach in der Finsternis. Ich denke ja nur und lass mir nichts anmerken. Keiner meiner Kameraden weiss etwas davon. B

N

B

5

N

10

B

N BN

B

N

15

BN

Keiner meiner Kameraden ahnt , dass ich ein anderer Mensch geworden bin. Ein anderer Mensch durch die grosse Liebe. Ich kanns noch immer nicht recht begreifen. Es ist aber so. Ich bin wirklich ein anderer Mensch geworden. Ich glaube sogar, ein besserer – Denn ich bin glücklicher. Heiterer. Ich ärger mich nichtmehr über Kleinigkeiten. Es ist eine Aenderung eingetreten. Seit drei Wochen. Und das ist doch garkeine Zeit. Aber wenn ich heut denke, wie ich war vor einem Jahr um diese Zeit, dann gefall ich mir nicht. Wenn ich heut zurückdenk, so glaub ich, ich hab schlecht gerochen. Ich hab zwar immer schon weisse Handschuhe gehabt, aber ich hab mir meine Hände nicht so oft gewaschen, wie heute. (Die Geschichten der kleinen Liebe) (Die Stationen der Liebe.) (Im Schatten der Zeit) B

B

20

N

B

N

B

N

B

25

30

B

B

N

N

N

N

BN

(Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett) Es war auf einer Bank und ich langte ihr unter den Rock. Nur oberhalb des Kniees. B

35

3 4–9 12–13 13 13–14 16 17 17 19 19 21 25 30 32 34

Sie f damit.N ] Ich f ordentlich.N ] BWenn f Finsternis.N ] BN] Bnur f anmerken.N ] BN] BahntN ] BgewordenN ] BIchN ] BimmerN ] Bgeworden.N ] BwarN ] BStationen f Liebe.)N ] BN] BlangteN ] B B

N

\Sie f damit./ \Ich f ordentlich./ \Wenn f Finsternis./ Absatz vom Autor getilgt

nur[.]|und f anmerken.| Trennungslinie gestrichen

ahn[{}]|t| [{}]|geworden| [Es] |Ich| \immer/ geworden[?]|.| war[,] Stationen[.)] |der Liebe.)| [\Bei der Wahrsagerin/] lang[t]|te|

203

Fragmentarische Fassung

K2/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Aber sie wehrte sich nicht. Ich hätt auch höher hinauflangen können. Es war mir alles so vertraut. – \Abbruch der Bearbeitung\

204

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

10

15

Und ich denke, wo, wo soll ich liegen? Ich kann doch nurmal so -- ich bin ja Soldat und einem Soldaten steht nur eine kurze Liebe zu. Aber es wär schön eine Wohnung zu haben, und Kinder -Ich muss lachen. Kinder? Meine Kinder zum Beispiel und die Kinder dieser Frau. Geboren in einem verwunschenem Schloss -Eine Tür ist vor mir. Ich öffne sie und da steht ein Skelett vor mir. Darüber soll ich wohl auch erschrecken? Lächerlich! Zu dumm! Ich betrachte das Skelett. So werden wir alle mal aussehen, und auch die Frau draussen und auch die Linie, dann ist die Linie weg, und dann ist es vorbei mit dem Eis essen und dem Lächeln und dem verwunschenem Schloss -- alles geht vorbei, und alles täuscht, vielleicht hat sie gar keine Linie -Und ich reiche dem Skelett die Hand und sage: „ Wiedersehn macht Freude!“ Und das war der Schluss. Hinter der nächsten Tür bin ich im Freien. Wieder bei der Kasse. Da steht sie vor mir -Sie sitzt nichtmehr und ich sehe sie ganz. Sie schlägt einen Nagel in die Wand. Sie ist wirklich schön. Und diese Linie. Sie ist keine Sitzschönheit und wirklich proportioniert. Ich hab das ganze Skelett sofort vergessen. Und ich sage ihr: „Darf ich Ihnen helfen, den Nagel da hineinzuschlagen?“ Und sie sagt: „Ich schlage ihn nicht hinein, sondern im Gegenteil, ich möcht ihn heraus haben, er stört mich so. Aber ich hab keine Kraft.“ Ich nehme die Zange und ein Ruck und er ist draussen. Sie lächelt. „Fein!“ sagt sie. „Da sieht mans halt, einen Mann kann man immer brauchen!“ „Ja“, sage ich. „Das stimmt.“ Auf einmal schaut sie auf meine Hand. „Um Gottes willen“, sagt sie, „jetzt haben 얍 Sie sich ja ganz schmutzig gemacht!“ Ich schau hinab. Meine weissen Handschuhe sind schwarz. „Warten Sie nur“, sagt sie, „ziehen Sie sie aus, ich putze sie!“ „Zu liebenswürdig“, sage ich und ziehe sie aus. Sie putzt meine Handschuhe und sie werden wieder weiss. Wir reden kein Wort, ich seh ihr nur zu. Es ist schön, muss ich denken, wenn jemand Deine Handschuhe putzt -Ich möchte lange so zuschauen. Aber sie ist bald fertig. „Da!“ sagt sie, „Jetzt sind sie wieder, wie sie waren!“ B

B

20

30

35

40

N

B

15 19 22 35

N

N

B

25

ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 1

Wiedersehn f Freude!“N ] seheN ] BSie f proportioniert.N ] BichN ] B B

N

[Servus!“] |Wiedersehn f Freude!“| korrigiert aus: sehe, \Sie f proportioniert./ korrigiert aus: ich.

205

ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

Wir schauen uns an, es ist ich weiss es nicht, wie lang. Ihre Augen werden immer ernster und ich werde traurig. „Gehen Sie jetzt“, sagt sie plötzlich sehr leise. Ich salutiere. „Auf Wiedersehen!“ Und ich gehe -Durch die Buden hindurch. Ich weiss nicht, rasch oder langsam. Plötzlich halte ich. Warum bin ich eigentlich gegangen? durchzuckt es mich. Ich hab doch noch ewig lang Zeit! Ich hätt doch mit ihr noch sprechen sollen, ich war ja ganz verwirrt. Ich eile zurück. Das verwunschene Schloss ist bereits zugesperrt und es ist niemand mehr da. Ja, jetzt ist es schon zu spät -Warum bist Du nur weg, grosser Held? Hast Dich abwimmeln lassen! Aber warte nur, ich komme wieder! Am nächsten Sonntag! Und da komm ich gleich her! -Ich geh heim, heim in meine Kasern. Jetzt scheint der Mond. 얍 B

N

5

B

10

N

B

15

N

BN B

20

ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 3

Und es ist mir plötzlich, als würde ich nichtmehr alles hassen.

BN

Der Mond scheint, die Luft ist lau und die Katzen konzertieren. Ich muss immer lächeln, was ist mir denn nur? N

BN

Und als ich über den Kasernenhof gehe, seh ich vor mir das verwunschene Schloss mit seinen Türmen und Giebeln und Basteien. Die Frau! B

25

B

B



30

N B

N

N

BN B

B

N

B

N B

N

NN

BN

ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 4

Die Woche vergeht so langsam und ich muss immer an das Fräulein denken. Immer seh ich sie vor mir und ich möcht nach ihr greifen. Zuerst wusste ich garnicht genau, wie sie aussieht, alles verschwamm plötzlich, ich wusste nicht, ob alles stimmt. Das war am Montag Nachmittag. 1–2

B

7 14 19 20–23 21 24 25–26 25 25 25 26 26 26 26 26 27

B

Ihre f traurig.N ]

DurchN ] abwimmelnN ] BN] BUnd f nur?N ] BN] BN] BUnd f Frau!N ] Bden KasernenhofN ] BsehN ] Bvor mirN ] Bmit seinenN ] BTürmenN ] BN] BGiebelnN ] Bund f Frau!N ] BN] B

(1) Und dann (2) Ihre f traurig. korrigiert aus: durch korrigiert aus: abwimmel

[Und f Frau!]f x \Und f nur?/ [Bin ich denn verliebt?] [\(Bin ich gar verliebt?)/] xUnd f Frau! korrigiert aus: den Kasernenhof [muss] |seh| [an] |vor mir| [denken und an die] |mit seinen| korrigiert aus: Türme [die] korrigiert aus: Giebel [im verwunschenen Schloss.] |und f Frau!| [AM RANDE DER ZEIT]

206

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

Aber am Dienstag wusste ichs plötzlich wieder. Und die Tage vergingen. Mittwoch, Donnerstag -Und ich wusste genau, wie sie aussah. Angezogen und unausgezogen. Ich kannte sogar ihre Kleider. Ich kannte alles an ihr. Und ich sehnte mich nach ihr -Freytag, Samstag -Und plötzlich fiel es mir auf, es kam der Zweifel, ob sie wirklich so aussieht und ich wünschte es mir so, dass ich mich nicht täuschen sollte. Und ich dachte, sie wird wie alle sein -Aber ich erschrack über diesen Gedanken. Nein, nein! Sie darf nicht wie alle sein! Sie darf nicht! Sie muss so sein, wie es meine Sehnsucht will! Ich dachte in Ausdrücken wie ein Roman. Und ich nahm es mir vor, dass ich am nächsten Sonntag unbedingt zu ihr hingehe, um zu sehen, wie sie wirklich ist und ob ich recht hätte mit 얍 meiner Vorstellung! Ich konnte den Sonntag kaum mehr erwarten. Endlich war er da. Und endlich wurds vierzehn Uhr. Ich ging allein weg, ich sagte den Kameraden nichts. Aber sie grinsten und der eine fragte: „Ob sie hübsch ist? Ist sie hübsch?“ Woher weiss er, dass ich verliebt bin? Sieht mans mir denn an? Und ich sagte: „Das geht Dich nichts an!“ Und ich ging zum verwunschenen Schloss. Mit meinen weissen Handschuhen. Doch heut ist es anders, wie vor acht Tagen, denn heute regnets in Strömen. Aber das ist nur äusserlich. Es ist ein Sauwetter. Man möchte keinen Hund auf die Strasse jagen. Aber in mir scheint eine Sonne. Meine Kameraden sitzen im Trockenen und winken mir spöttisch und lustig nach. Ich bin ihnen nicht bös, sie haben ja recht. Es sieht sicher blöd aus, so ein einsamer Soldat im Regen ganz allein mit weissen Handschuhen. Es soll aber nur ruhig blöd ausschauen, denn sie kennen ja den zweiten Teil nicht. Der nun folgt. Sie wissens ja nicht, dass in mir eine Sonne scheint. -Der Regen peitscht mir ins Gesicht, aber das stört mich nicht. Ich gehe durch die innere Stadt. Sie ist noch leerer, als sonst. Ich singe vor mich hin, es sind allerhand Lieder, aber ohne Text. Und dann pfeif ich sie -- abwechselnd. Ich geh sehr rasch. Aber ich setz mich doch auf die Trambahn. Da fährt fast niemand. Nur eine alte dicke Frau. B

N

5

10

B

N

B

15

20

25

30

35

40

N

B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

3–4 4 11

B

kannteN ] ihreN ] BesN ]

30

B

B

einsamer Soldat ]

[sah] |kannte| [verschiedene] |ihre| (1) ic (2) es korrigiert aus: Soldat einsamer

207

ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B Auf Befehl der Führer, die sich wegen des Schicksals der Einzelmenschen mit Recht keine grauen Haare wachsen lassen.N \Abbruch der Bearbeitung\

1–2

B

Auf f lassen.N ]

|

(1) [Im Schatten der \zeitgenössischen/ Geschichte] Auf Befehl der Führer,

|

die [über] |sich um| das \persönliche/ Schicksal [(des Einzelmenschen)] mit Recht [hinüberschreitet] [|[nicht] kalt lässt.|] [|nicht kümmert|] |keine grauen Haare wachsen lässt.| (zum Wohle des Vaterlandes und zum Verderben seiner [Fein] |Wiedersacher.|) (2) Auf f lassen.

208

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 21

Fragmentarische Fassung

K2/TS7 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht.N B Das Vaterland hat gesiegt, aber es nimmt auf das Privatleben seiner Kinder noch immer keine Rücksicht.N B 5 Was ist des Menschen Vaterland?N Wenn ich es wüsste, wie sie heisst, dann würde ich ihr einen Brief schreiben. Ich würde ihr schreiben, dass ich Bam SonntagN gern gekommen wär, aber es hat nicht sollen sein. Den Grund dürfte ich ihr nicht sagen, denn den darf ich niemand sagen, darauf steht der Tod. Wir wissen es selber nicht genau, wir wissen nur, es geht los. Heut B 10 NachtN fahren wir ab, das ganze Regiment, feldmarschmässig und niemand weiss, wohin. Wir können es uns schon denken, an welche Grenze. Aber jeder hütet sich den Namen des Landes auszusprechen. Ich würde ihr gerne schreiben, dass es mir leid tut, sie nicht zu sehen, am Sonntag, aber wir müssen ja schon am Freytag weg. B 15 Es gibt wichtigere Dinge, als das verwunschene Schloss. Es geht los. Und ich möchte ihr schreiben, dass wir uns wiedersehen. Ich will sie nicht vergessen.N \Abbruch der Bearbeitung\

1–2

B

Das f Rücksicht.N ]

[Im Schatten der zeitgenössischen Geschichte, zum Wohle des Vaterlandes [,]

|und| zum Verderben seiner Feinde.] |Das f Rücksicht.| 3–4 5 7 10 15–18

Das f Rücksicht.N ] Was f Vaterland?N ] Bam SonntagN ] BNachtN ] BEs f vergessen.N ] B B

\Das f Rücksicht./ \Was f Vaterland?/ \am Sonntag/ \Nacht/ \Es f vergessen./

209

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 21

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 4

210

Strukturplan in sieben Kapiteln

K2/E10

211

Lesetext

Strukturpläne in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 11

212

Strukturpläne in sieben Kapiteln

K2/E11–E12

213

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 14

214

Strukturplan in sieben Kapiteln

K2/E13

215

Lesetext

Strukturplan in elf Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 12

216

Strukturplan in elf Kapiteln

K2/E14

217

Lesetext

Notizen und Dialogskizze

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 1

218

Notizen und Dialogskizze

K2/E15

219

Lesetext

Notizen (Fortsetzung), Strukturplan in fünf Kapiteln

220

ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 7

Notizen (Fortsetzung), Strukturplan in fünf Kapiteln

221

K2/E15–E16

Lesetext

Strukturplan

ÖLA 3/W 176 – BS 26 j [2], Bl. 3

222

Strukturplan

K2/E17

223

Lesetext

Strukturpläne, Kapiteltitel

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 1

224

Strukturpläne, Kapiteltitel

K2/E18–E20

225

Lesetext

Fragmentarische Fassung

5

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Einst, wenn die Zeitungen darüber schreiben werden dürfen, werden sie in den Sonntagsbeilagen Büber die Felder, auf denen die Leichen liegenN berichten über das Mysterium der Front. Und über das einigende Fronterlebnis, das darin besteht, dass der Soldat aus wohlhabendem Hause BeinsiehtN, dass Bsein Kamerad ohne GeldN B N gewisse allgemein-menschliche Eigenschaften mit Bdem WohlhabendenN gemein hat. Und aus dieser BEinsichtN BentstehtN eine neue Erkenntnis: auch der geldlose Volksgenosse BistN ein aufbauendes Element bei der Vernichtung des schwächeren Nachbarn. BN B

10

Auch der geldlose Volksgenosse kann ein guter Verbrecher sein. B

NN

\Abbruch der Bearbeitung\

2 4 4 4 5 6 6 7 9

B

über f liegenN ] einsiehtN ] Bsein f GeldN ] BN] Bdem WohlhabendenN ] BEinsichtN ] BentstehtN ] BistN ] BN]

10 10

B

B

B

Auch f sein.N ] kann f sein.N ]

[über unsere Opfer] |über f liegen| [erkennt] |einsieht| [der Mann ohne Geld] |sein f Geld| [auch ein tüchtiger Kämpfer sein kann und] [ihm] |dem Wohlhabenden| [Erkenntnis] |Einsicht| [wird] |entsteht| [{traegt}] |ist| [\Es kommen neue Zeiten –/ Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den feuerigen Schwertern und den erloschenen Augen.] [X] |Auch f sein.| [kann rauben, stehlen und ist] |kann f sein.|

226

ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

5

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Einst, wenn die Dichter unseres Volkes über uns dichten werden, BwerdenN sie vermerken, dass Bwir bescheidene Helden waren.N Denn auch von uns ist mancher gefallen Bin der Hitze BderN MordereiN und nichtmal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz Bauf ihr Opfer seinN zu können. Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit. B Denn vor dem Sturme herrscht Stille.N B Am AnfangN einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den feuerigen Schwertern und den erloschenen Augen. X

1 2 3 3 4 6 7

werdenN ] wir f waren.N ] Bin f MordereiN ] BderN ] Bauf f seinN ] BDenn f Stille.N ] BAm AnfangN ] B B

[wird] |werden| [auch von uns welche gefallen sind.] |wir [stille] |bescheidene| Helden waren.| \in f Morderei/ korrigiert aus: des [sein] |auf f sein| \Denn f Stille./ [Denn am Anfang] |Am Anfang|

227

ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K2/TS10 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DIE HYMNE AN DEN KRIEG OHNE KRIEGSERKLAERUNG

5

10

15

20

25

ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 1

Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie gewaltig sie gewesen ist. Arm sind alle Worte, um den Reichtum der Rüstung zu schildern, in der unsere Sonne erglänzt. Und der Mond hinkt ihr nicht nach. Tag und Nacht, Ihr Geschwister der Ewigkeit, sagt mir, wie gefällt Euch unsere Zeit?

Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedliebend sie gewesen ist. Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur. Wir befreien alle fremden Völker -Wir befreien sie von sich selbst. Wir stellen sie an die Wand. 얍 Wir säubern, wir säubern -Seht, wie die morschen Schiffe mit den Flaggen des Mitleids in allen Farben des Regenbogens versinken im brausendem Meere der Kraft! Seht die siegreiche Flotte mit der schwarzen Standarte der Unerbittlichkeit! Hört das Kommando des historischen Augenblicks: Säubert, bis die Sonne auf unsere Ehre scheint! Säubert, bis wir im totem Lichte des Monds unseren Platz an der Sonne erobert haben! Säubert!

ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 2

30

35

40

45

Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen. Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen und sie werden den Nagel auf den Kopf treffen, wenn sie loben und preisen, dass wir bescheidene Helden waren. Denn auch von uns biss ja so mancher ins grüne Gras. Aber nichtmal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz auf ihr Opfer sein zu können. Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit. Nur unerlaubt sickerte es durch, unser Blut --

Einst, wenn das sickernde Blut der Zensur keine wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten bereitet, dann wird sich die Propaganda der Verlustlisten bemächtigen. Und dann, dann bekommen auch wir unser Heldendenkmal. 얍 Es wird enthüllt. Der unbekannte Säuberer. Begleitet von einer Lichtgestalt.

228

ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K2/TS10 (Korrekturschicht)

Lesetext

Einer Lichtgestalt aus bombensicherem Beton mit strengen Flügeln aus Stahl . Ihre Augen sind nach innen gekehrt. Sie sieht nur sich. Ihre Flügel rauschen, Tag und Nacht -Ihr Bild hängt in allen Auslagen, in jedem Saal, in jeder Kammer, jedem Stall -Und darunter steht: „Heiliger Egoismus, hilf uns armen Sündern in der Stunde unseres Meuchelmordens -- Amen!“ B

5

N

10

Einst, wenn wir in den Schulbüchern stehen werden, damit uns die Lehrer ihren Schülern unterrichten, dann werden auch wir zum Märchen. Und Grossmutter wird uns ihren Enkelkindern erzählen, auf dass sie so werden, wie wir gewesen sind. 15

20

25

30

Tag und Nacht, Ihr Geschwister der Ewigkeit, sagt mir, wie gefällt Euch unsere Zeit? Fühlt Ihr Euch nicht erhöht durch unsere Taten? Ihr könnt stolz auf uns sein! Wir bombardieren die Gestade einer überlebten Tugend. Schiesst das Zeug zusammen! Feuert! 얍 In Schutt und Asche damit, bis es nichts mehr gibt, nur uns! Denn wir sind wir. Feuert! Matrosen der Macht! Setzt Eueren Fuss auf Land, das Euch nicht gehört! Steckt alles ein, raubt alles aus! Gebt keinen Pardon, denn es braucht keiner zu leben, wenn er Euch nichts nützt! Machet Euch das Vergewaltigte untertan und vermehret Euch durch Vergewaltigung! Mit eiserner Stirne sollt Ihr das fremde Brot fressen -Gedeihet nach dem Gesetz der Gewalt! Säubert! B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

1 25

B B

StahlN ] Matrosen f Macht!N ]

[s]|S|tahl Matrosen[!] |der Macht!|

229

ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K2/TS11 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B TOD UND VERKLÄRUNG DER UNGEBORENEN B BVOLKSGENOSSENN N N B (Die Ballade vom braven Hauptmann)N

ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 3

5

10

Die Hauptsache ist erledigt. Der Feind ist niedergeworfen, alle Städte befinden sich in unserer Macht. Wir haben wenig Verluste, denn die Flieger haben vorgesorgt. Ja, sie sind tüchtig, wenn sie richtig eingesetzt werden überraschend und gegen die Zivilbevölkerung, das heisst: total. Dann können sie was leisten. Sie müssen zermürbend wirken, sagt unser Oberleutnant, der in den Generalstab kommt und sich genau auskennt. Es war nur gewissermassen eine Probe, aber gut als Vorbereitung für das Kommende. Die Welt ist entrüstet über uns, soll sie nur, die Scheinheilige. Sie sagen, das sei das Mittelalter und wir sagen, schön dann sind wir eben im Mittelalter. Schön, dann sind wir eben Barbaren, die Hauptsache ist, dass wir das Land haben. Wir sehen alle wie befreit aus, als hätten wir aufgeatmet. Wir liegen in der Hauptstadt. Ein kleiner Ort. Die schönsten Baudenkmäler sind erhalten, nur leicht beschädigt, aber sonst steht kein Haus mehr. Bravo, Flieger! Jetzt kampieren wir in der Stadt, die noch brennt. Zwei Tage nur, dann wird gesäubert. Heute erhielt ich meinen dritten Stern. B

15

B

20

N

N

BN

\Textverlust\

1

B

TOD f VOLKSGENOSSENN ]

1

B

VOLKSGENOSSENN ]

1 2 13 19

B

22

BN

VOLKSGENOSSENN ] (Die f Hauptmann)N ] BdasN ] BdieN ] B

]

[DER DRITTE STERN] [|TOD UND VERKLÄRUNG|] |TOD f VOLKSGENOSSEN| (1) KINDER (2) (VOLKSGENOSSEN) korrigiert aus: (VOLKSGENOSSEN) \(Die f Hauptmann)/ korrigiert aus: dass (1) in (2) die [Und abends gehen wir ins Theater. Es ist ein Fronttheater und man spielt eine alte Operette. Das Parkett ist voll Militär.]

230

Fragmentarische Fassung

K2/TS12 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Die Ballade vom braven Hauptmann

5

ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 2

In der Ferne brennen Dörfer. Sie stehen in hellen Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt. Bravo, Flieger! Obwohl ich Euch persönlich nicht riechen kann, muss man es doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet! Ihr habt mit den Augen der Falken alles erspäht, mit der Witterung der Meute alles aufgespürt – BB

10

N

B

N

N

BN

Und habt alles angezündet – mit Brandbomben. Nichts habt Ihr ausgelassen – nichts übersehen – nichts ist Euch entgangen, – auch wenn sichs noch so sehr versteckt hat – auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen angepasst hat. – Auch wenn das rote Kreuz noch so grell sichtbar war. Kein Haus, keine Kirche, kein Palast, kein Lazarett – Bravo, Flieger! – B

15

B

N

B

N

N

N

B

20

Frohen Mutes folgen wir Eueren Spuren. Immer weiter rücken wir vor – Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die Grenze dieses Landes überschritten – morgen sinds drei Wochen her. Es ist ein kleines Land und wir sind zehn mal so gross. Vorwärts! B

25

B

N

N

BN

30

Eigentlich haben wir noch garkein reguläres feindliches Militär gesehen, nur paar Zivilisten mit Gewehr. Wir knüpften sie an den nächsten Baum. Das Land, sagt man, soll überhaupt keine allgemeine Wehrpflicht haben. \Abbruch der Bearbeitung\

9–10 9 9 11 14–16 15 15 17 21 26 27

B

mit f allesN ] mitN ] Bder MeuteN ]

x

B

korrigiert aus: Mit (1) des Wildes (2) \der Meute/

] auch f war.N ] BdasN ] Bgrell sichtbarN ] BKein f Lazarett –N ] BSpuren.N ] BVorwärts!N ] BN]

[mit f alles]f x \auch f war./ [noch] |das| [gross sicht] |grell sichtbar| \Kein f Lazarett –/ korrigiert aus: Spuren [Vorwär] |Vorwärts!| [Es ist kein Zeichen militärischer Strategie, den Feind an seine[r]|m| stärksten [Seite] |Punkte| anzugreifen! Und da alle Welt unser Feind ist, weil wir die Grössten sind. [U] |Drum| überfallen wir ein kleines Land.]

BN B

mit f alles

231

Werktitel

ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 2

232

Werktitel

K2/E21

233

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS13 (Grundschicht)

Lesetext

얍 VARIATIONEN UEBER EIN BEKANNTES THEMA

5

10

15

20

Im Tal brennen die Dörfer. Sie stehen in Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt. Bravo, Flieger! Obwohl ich Euch persönlich nicht riechen kann, muss mans doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet! Mit den Augen der Falken habt Ihr alles erspäht. Mit der Witterung des Wildes alles aufgespürt -Eine prächtige Meute! Nichts ist Euch entgangen, auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen angepasst hat. Nichts habt Ihr übersehen, auch wenn das rote Kreuz noch so grell sichtbar gewesen ist. Nichts habt Ihr ausgelassen -- keine Fabrik und keine Scheune, keine Kirche und kein Lazarett -Alles habt Ihr erledigt! Bravo, Flieger! Bravo! Frohen Mutes folgen wir Eueren Spuren. Immer weiter rücken wir voran -얍 Vorwärts! Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die lächerliche Grenze dieses unmöglichen Staatswesens überschritten -- morgen sinds drei Wochen her, aber die Hauptstadt ist schon unser. Heut sind wir die Herren! Es ist ein kleines Land und wir sind zehnmal so gross -- drum immer nur frisch voran! Wer wagt, gewinnt -- besonders mit einer erdrückenden Uebermacht. Vorwärts! Und am Himmel droben über den höchsten Wolken, da ziehen sie mit uns mit, unsere dahingeschiedenen historischen Helden. Sie feuern uns nach unten an -Blickt nur voll Befriedigung auf uns herab, Ihr Altvorderen, denn nun rächen wir Euch! Was Euch vor Jahrhunderten durch Schicksals Tücke und schändlichem Verrat verwehrt war zu erobern -- all Euere Träume, die werden nun durch die Ueberlegenheit unserer Aufrüstung Wirklichkeit! Und durch den Geist, der uns beseelt. Wir lechzen schon nach einer Schlacht, aber wir haben noch garkein reguläres feindliches Militär getroffen, nur paar Zivilisten mit Gewehr. Wir knüpften sie an den nächsten Baum. Die Flieger nahmen uns bis heut alles ab und ausserdem soll dieses erbarmungswürdige Staatswesen, hört man, überhaupt keine allgemeine Wehrpflicht kennen. Ein lebensunfähiges Land. Es soll eine Regierung haben, die es allen ihren Untertanen recht machen möcht. Die typische Regierung der Korruption. B

25

30

35

40

45

ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 5

24

B

die lächerlicheN ]

korrigiert aus: dienlächerliche

234

N

ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 6

Fragmentarische Fassung



5

10

K2/TS13 (Grundschicht)

Lesetext

Es soll Untertanen haben, die ihr höchstes Ideal darin sehen, gut zu essen, gut zu trinken, Familien zu gründen, in faulem Frieden zu arbeiten -Das typisch dekadente Volk. Reif zum Untergang. Ihre Sprache ist hässlich -- wir verstehen kein Wort. Sie scheinen keine Lieder zu haben, denn wir hörten sie noch niemals singen. Wir verzichten auch gerne darauf. Ihre Häuser sind niedrig, eng und schmutzig. Sie waschen sich nie und stinken aus dem Mund. Aber ihre Berge sind voll Erz und die Erde ist fett. Ansonsten ist jedoch alles Essig. Selbst ihre Hunde taugen einen Dreck. Räudig und verlaust streunen sie durch die Ruinen -Keiner kann die Pfote geben. \Abbruch der Bearbeitung\

235

ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 7

Strukturplan in elf Kapiteln, Notizen

ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 2

236

Strukturplan in elf Kapiteln, Notizen

K2/E22–E23

237

Lesetext

Notizen

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 1

238

Notizen

K2/E24

239

Lesetext

Strukturplan in vier Kapiteln

ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 3

240

Strukturplan in vier Kapiteln

K2/E25

241

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS14 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

Ich stecke den Brief ein und gehe fort. Warum sagte ich nicht, dass er dem Hauptmann gehört? Weil ich ihn selber überbringen will. Das schickt sich so. Aber heut kann ich noch nicht so weit -- heut will ich nurmal da hinunter zu den Buden, zu meinem verwunschenem Schloss. Und ich gehe langsam hin mit meinem goldenem Stern. Ich brauch keine weissen Handschuhe mehr, denn ich hab ja einen goldenen Stern. Da sind die Schiessstände. Ein Offizier schiesst nicht. Da kommt das Hippodrom. Dort steht der Eismann -Aber wo das verwunschene Schloss stand, steht jetzt eine Autorennhalle. Verdutzt bleib ich stehen. Wo ist meine Linie? Ich sehe sie nirgends und gehe zur Kasse und erkundige mich. Sie ist nichtmehr da. Kein Mensch weiss, wo sie ist. Man weist mich ins Büro. Nämlich die Hälfte der Buden gehört einem Besitzer, der wirds vielleicht wissen, wo das Fräulein ist -Ich geh ins Büro, es ist gleich um die Ecke. Ein Buchhalter sitzt da und spricht demütig mit einem Liliputaner. Der Liliputaner geht auf und ab. Als ich eintrete, hört er auf zu gehen. Ich grüsse und frage, nach der Adresse. Der Liliputaner sieht mich an und lächelt : „Ach , Sie sind derjenige, welcher“ -Welcher? Und der Liliputaner sagt: „Sie kommen aus dem Krieg !“ „Ja. Nein, das heisst ich war Freiwilliger“ Er macht eine Handbewegung, wie, das kennen wir schon und grinst. „Sie hat sich nämlich in einen Soldaten verliebt, gleich so auf den ersten Blick“, 얍 grinst er. „Na und dann ist halt der Herr Militarist nichtmehr gekommen.“ Ich starre ihn an. „Sie hat ihm geschrieben in einer Tur, aber er hat nicht geantwortet.“ Ich will ihn unterbrechen, doch er lässt mich nicht. „Ich weiss schon, Sie waren im Krieg, das ist halt die persönliche Privattragödie“, er grinst. Privattragödie? Ich höre alle meine Worte von ihm. Krieg ist ein Naturgesetz. B

10

15

20

25

N

B

B

N

N

B

N

B

N

B

30

35

B

9 20 24 26 26 28 30

ÖLA 3/W 166 – BS 26 f [2], Bl. 1

N

N

HandschuheN ] dasN ] BAlsN ] BlächeltN ] B„AchN ] Bdem KriegN ] BEr machtN ] B B

korrigiert aus: Hand chuhe korrigiert aus: die korrigiert aus: vAls korrigiert aus: lchelt korrigiert aus: Ach korrigiert aus: demmKrieg korrigiert aus: rimacht

242

ÖLA 3/W 166 – BS 26 f [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS14 (Korrekturschicht)

Hab ich das nichtmal gedacht? Aber wieso kommt dieser elende Zwerg dazu, es zu sagen? Ich hatte doch recht. Aber er hat kein Recht, das zu sagen! Wir kennen nur das Vaterland. etc etc. Es wird mir schlecht und übel. „Im übrigen kann Ihnen mein Buchhalter ihre Adresse geben“, er geht. Ich sehe den Buchhalter fragend an. Wer ist das? Dieser Zwerg? „Ihm gehört hier fast alles“, sagt der Buchhalter. „Er ist ein geschickter Kaufmann, alle hat er zugrunde gerichtet, er geht über Leichen -- Krieg ist ein Naturgesetz, er kann nicht hinaus, dann kämpft er herinnen.“ Er gibt mir die Adresse. In einer kleinen Stadt, fern. „Und was ist mit meinem verwunschenem Schloss?“ „Das Schloss? Das hat sich nicht rentiert, jetzt hat er was anders hingebaut.“ „Aber das Schloss war doch so schön.“ „Ja. Aber veraltet. Es hat sich keiner dafür interessiert.“ „Und was macht jetzt das Fräulein?“ „Das wissen die Götter. Sie hat einen Posten gefunden bei einer Achterbahn, sie zieht herum von Ort zu Ort. Es ist eine miese Zeit, mein Herr, auch wenn wir siegen und erobern.“ Ich gehe fort. Ich schreibe Briefe an das Fräulein. Ich weiss ihren Namen, aber für mich bleibt sie immer nur meine Linie. Aber ich bekomme keine Antwort. Leichter Rückschlag im Befinden. Ich muss mich wieder schonen. Morgen geh ich zur Frau Hauptmann. Ich weiss, wo sie wohnt. Durch innere Stadt. Auslagenspiegeln. 1.) Das Zimmer zu vermieten. 얍 B

B

N

B

5

NN

B

10

Lesetext

N

B

15

B

N

N

B

20

B

B

N

B

B

25

BB

B

N

N

N

N

NN

N

BN

30

1–4 1

B

4

B

B

9 14 15 18 22–25 22 23

B

23 25 25 28 30

B

Hab f sagen! N ] gedacht?N ] er f sagen!N ]

geschickterN ] hingebaut.“N ] Bschön.“N ] BAchterbahn,N ] BIch f schonen.N ] BFräulein.N ] BIch f Linie.N ] B

nurN ] Leichter f schonen.N ] BLeichterN ] B1.)N ] BN] B

\Hab f sagen!/ (1) gesagt? (2) gedacht? (1) ich habe nicht recht, wenn er es sagt. (2) er f sagen! korrigiert aus: geschicter korrigiert aus: hingebaut. “ korrigiert aus: schön“. korrigiert aus: Achterbahn ,

\Ich f schonen./ korrigiert aus: Fräulein (1) (Sie heisst Anna) (2) \Ich f Linie./ \nur/ \Leichter f schonen./ korrigiert aus: leichter \1.)/ [\3.) Frau:/ [Was werden Sie jetzt tun?] \Sie weiss es bereits, dass der Hauptmann tot ist./]f x

243

ÖLA 3/W 166 – BS 26 f [2], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K2/TS14 (Korrekturschicht)

Lesetext

2.) Zuerst: (Nur die Tochter anwesend) Die Tochter, die dreizehnjährige , die die Linie hat und mich erinnert. 3.) Frau: Was werden Sie jetzt tun? Sie weiss es bereits, dass der Hauptmann tot B

N B

N

BB

NN

B

ist.

N

5

Ich bleibe. Ich erbreche den Brief. (Da stehen Schmähungen über uns alle drinn, drum gib ich ihn ihr nicht) B

N

Liebe mit der Frau.

10

Der Zimmerherr: Frau: Bleiben Sie da, Sie wissen ja auch nicht, was kommen wird. Ich gebe Ihnen das Zimmer sehr billig – Ich: Ich miete das Zimmer. Die Abenteuer eines Vertreters. (Ich bemerke, dass ich auf Frauen wirke und lege es nun darauf an; mache das Geschäft durch Frauen, denn die Frauen merken alle meine geheime Sehnsucht nach der „Linie“) Sie verschafft mir durch Verbindungen eine Existenz. Mein Vater hinter der Glasscheibe. Ich: „Recht geschiehts Dir!“ Die Schlittschuhe. B

15

B

N

B

B

N

N

N

BB

20

B

N

N

N BB

DIE VISIONEN DER ZERSTOERUNG DES ABENDLANDES IM BETT

25

1 1 2

2.)N ] Zuerst: f anwesend)N ] BdreizehnjährigeN ] B B

2 3–4 7–8 12–23

B

12 15–18 16 19–22 19 20–21 24 24

B

dreizehnjährigeN ] 3.) f ist.N ] B(Da f nicht)N ] BDer f N] B

BleibenN ] Die f Linie“)N ] Ban;N ] BSie f Schlittschuhe.N ] BSieN ] BMein f Dir!“N ] BDIE f BETTN ] BDIE f BETTN ] B

\2.)/ \Zuerst: f anwesend)/ (1) vierzehnjährige (2) dreizehn korrigiert aus: dreizehn x3.) f ist. \(Da f nicht)/ [Sie verschafft mir durch Verbindungen eine Existenz. Ich werde Bonze.] |Der f | [Bblei] |Bleiben| \Die f Linie“)/ an[)] |;| \Sie f Schlittschuhe./ [Sie] |Sie| [(Ich werde Bonze.)] |Mein f Dir!“| [DIE f BETT]|DIE f BETT| [DIE f BETT]

244

NN

Fragmentarische Fassung

B

EISBLUMEN

K2/TS14 (Korrekturschicht)

N

\Abbruch der Bearbeitung\

1

B

EISBLUMENN ]

[EISBLUMEN]|EISBLUMEN|

245

Lesetext

Strukturplan mit Notizen und Repliken

ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 4

246

Strukturplan mit Notizen und Repliken

K2/E26

247

Lesetext

Strukturplan in zwei Kapiteln

ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 5

248

Strukturplan in zwei Kapiteln

K2/E27

249

Lesetext

Notizen, Strukturplan in zwei Teilen

ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 6

250

Notizen, Strukturplan in zwei Teilen

K2/E28–E30

251

Lesetext

Strukturplan in drei Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 2

252

Strukturplan in drei Kapiteln

K2/E31

253

Lesetext

Strukturplan in sechs Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 3

254

Strukturplan in sechs Kapiteln

K2/E32

255

Lesetext

Strukturplan in sechs Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 4

256

Strukturplan in sechs Kapiteln (Fortsetzung)

K2/E32

257

Lesetext

Strukturplan in dreizehn Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 7

258

Strukturplan in dreizehn Kapiteln

K2/E33

259

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS16 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

Seit gestern fällt der Schnee, es friert, aber herinnen ist alles gemütlich warm. Es ist alles geheizt, selbst die überflüssigsten Korridore und Kammern. Wir sind eben ein staatlicher Betrieb. Aber trotz der Wärme, ist es mir oft so kalt. Ich glaub, es ist in mir drinn , dass ich so frier. Manchmal glaub ich, in mir ist tiefer Winter. Mein Herz ist verschneit und es weht ein kalter Nordwind. Die Eiszapfen hängen von meiner Seele und sie kann sich nirgends wärmen. – – B

N

B

N

B

B

N

N

BN BN

10

An einem kaltem Novemberabend kam ein Mann herein. Er hatte eine blaue Brille an und einen weissen Stock, also war er blind. Das Mädel, die Bekannte. Sie isst im Caféhaus. „Das ist sie mir nicht wert –“ „Was sind mir die Beine wert? Zwei Zigaretten. Und der Rücken? Einen Café. Und das Gesicht? Nichts. – Aber zusammen niemals ein Schnitzel. Frechheit!“ Das kalte Zusammensein im Bett. Der Streit um die Decke. Ich schmeiss sie hinaus. B

15

B

N

B

B

N

N

N

BN

20

Der Briefmarkenklub. Der Alte der spricht: Mann und Weib erschaffen, keine Kameradschaft. Schneemann. (Hausmeisterin) N

BB

B

25

NN

„Hören Sie“, sagte ich, „betteln ist absolut, überall verboten und es ist eine besondere Unverschämtheit, dass Sie sogar in einem staatlichen Betriebe zu betteln wagen!“ B

B

N

B

N

N

\Abbruch der Bearbeitung\

2 5 5

B

SeitN ] istN ] BdrinnN ]

6 9

B

B

inN ] ]

BN

10

BN

13–19 15 16 17 20 21–23 21 23 25–27 25 26

B

]

Das f hinaus.N ] wert –“N ] BEinenN ] BNichts.N ] BN] BDer f (Hausmeisterin)N ] BDer Briefmarkenklub.N ] BSchneemann. (Hausmeisterin)N ] B„Hören f wagen!“N ] Babsolut, überallN ] BsogarN ] B

[L] |Seit| [–] |ist| (1) drinnen (2) drinn [{}] |in| gestrichen: Eintragung fremder Hand (Berliner Bearbeitung): Das Erlebnis

mit der Hur [\Das Erlebnis mit der Hur. Das Geld/] \Das f hinaus./ wert[“]|–“| Ein\en/ Nichts.[“] [\Sie geht weinend weg./] \Der f (Hausmeisterin)/ Der Briefmarkenklub. \Schneemann. (Hausmeisterin)/ „Hören f wagen!“ [hier] |absolut, überall| [so] |sogar|

260

ÖLA 3/W 177 – BS 26 j [3], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K2/TS17 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B Der Student.N

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 1

5

10

15

Mein Arm wird nicht besser. Als mich der Arzt untersuchte zwei Tage später, sagte er: Was ist denn los? Der Arm ist ja schlechter geworden? Schlechter? Haben Sie denn etwas gehoben damit oder getragen? Nein, sage ich und muss lächeln. Trauen Sie sich nur nicht garzuviel zu, sagt er, seiens nur nicht leichtsinnig, der Arm ist noch lang nicht gut -Er wird schon gut, sage ich. Seiens nur nicht leichtsinnig, sagt er. Aber komisch, ich hab keine Angst mehr. Immer muss ich an die Witwe denken. Sie heisst Lony, das ist Ilona. Eine Abkürzung. Immer hör ich das Stellwerk . Die Züge fahren draussen vorbei und wir liegen drinn. Ich möchte immer bei ihr liegen -Ich werde ihr schreiben. Oder nein, ich werde sie wieder besuchen, so in vier Tagen wieder. Ich werde Blumen kaufen und Schokolade. Wenn ich wieder fort darf. Denn jetzt muss ich wieder zuhaus bleiben, bis mein Arm wieder wird. Ja, Liebe kostet Opfer. Der Herbst kam mit Regen und Sturm, wir sitzen drinnen und spielen Schach. 얍 Und Karten. Ich spiele Karten und verliere in einer Tur. „Glück in der Liebe“, sagt der eine, der gewinnt. Ich lächle. Ich verliere gern. Ja, ich werde Blumen kaufen und Schokolade. Und ich denke: ich bin ein Student. Und ich seh das Essen auf dem Tisch und das Geld. Sie hat keine Sorgen. Und es ist mir plötzlich: wie dumm bist Du gewesen, dass Du das bequeme Leben abgelehnt hast! Du hast es ja nur verflucht, weil Du es nie haben konntest! Aber jetzt hast Du dazu geschmeckt. Jetzt gefällt es Dir. Und Du wirst es nimmer verlieren -Ich werde vor sie hintreten und werde sagen: ich bin kein Student. Aber ich liebe Sie, Dich, Lony -Ich verliere, ich verliere -B

20

25

30

35

40

1 18

B B

Der Student.N ] StellwerkN ]

N

[DER GEDANKE] |Der Student.| korrigiert aus: Ste lwerk

261

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS17 (Korrekturschicht)

Oder soll ich schwindeln ? Nein, das hat keinen Sinn. Du sollst Dich ihr anvertrauen, es ist ja keine Kleinigkeit, dass man gleich so zusammenpasst -- zwar hat sie mal in der Nacht plötzlich aufgeschreckt und gesagt, es geht wer -- und wir waren uns plötzlich ganz fremd. Und einen Augenblick dachte ich, der Hauptmann ist im Nebenzimmer. Aber dann waren wir wieder zusammen. Es ist plötzlich von mir weggefallen, all der Hass und ich liebe wieder -Sie lag auf meinem Arm -Aber ich hab sie nicht geweckt, sie schlief -Mein Arm wird schon wieder -- ich hab keine Angst. Denn ich liebe wieder, ich liebe -- es ist mir soweit alles -Ich verliere, verliere -Jetzt hab ich nichtsmehr. Alles verloren. 얍 „Fünf Taler“, sagt der eine. Aber das macht mir nichts. Ich hab auch keine Angst mehr vor dem Bettler. Mein Arm wird schon werden und wenn ich ihn auch verliere, was liegt daran! Ich setze mich an einen anderen Tisch und schreibe einen Brief: „An Frau Lony -Hauptmannswitwe“ -Ich schreibe ihr, dass ich sie besuchen will. Dass ich an sie denke. Plötzlich steht einer neben mir und sagt: „Was? An wen schreibst Du da?“ Er sieht das Cuvert -„Du kennst die Witwe des Hauptmanns?“ „Ja“, sage ich. Er ist einer von unserer Kompanie. B

5

10

N

B

15

20

25

30

Lesetext

N

Wir sprechen übern Hauptmann. Die Auseinandersetzung zwischen Oberleutnant und Hauptmann. Kamerade sagt: Der Hauptmann war verrückt. Ich: Möglich. All diese Probleme interessieren mich nichtmehr.

35

Ich warte auf den Brief, aber ich bekomme keinen Brief von ihr.

BN

40

\Abbruch der Bearbeitung\

1 11 40

schwindelnN ] wieder,N ] BN] B B

korrigiert aus: schwindelm korrigiert aus: wieder ,

[Ich bekomme wieder Angst und suche den Bettler.]

262

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 3

263

Notiz zum Kapitel „Der Einzelne“

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 6

264

Notiz zum Kapitel „Der Einzelne“

K2/E34

265

Lesetext

Strukturplan in zwölf Kapiteln

ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 1

266

Strukturplan in zwölf Kapiteln

K2/E35

267

Lesetext

Strukturplan

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 8

268

Strukturplan

K2/E36

269

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS18 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B Der Bettler.N Es war nur einmal und das kommt nicht wieder. Als ich sie am nächsten Morgen verliess, sagte sie mir: „Vergessen wir es, mein Freund.“ BN

5

10

Und ich vergass es gern. Es war ja auch nichts dabei. Ich tat ihr den Gefallen. Ich hatte es fest vor, sie niemehr wiederzusehen, aber ich konnte mein Versprechen nicht halten. Ich sah sie nocheinmal, aber in einer ganz anderen Angelegenheit. Sie erschrack, als sie mich sah, aber sie beruhigte sich, als sie hörte , warum ich kam. Nun wär ich soweit gesichert , daran war nur mein Vater schuld. Er hat mich dazu überredet und das kam so. Mein Arm schmerzte mich und eines Tages erschien mein Vater. Es war sein freier Tag in der Woche. B

N

B

B

15

B

N

B

N

NN

BN

\Abbruch der Bearbeitung\

1

B

4

BN

10 11 11 12

B

12 16

B

Der Bettler.N ]

]

inN ] sie f sich,N ] BhörteN ] BNun f gesichertN ] B

gesichertN ] ]

BN

(1) Der Aufseher. (2) \Der Gedanke./ (3) \Der Bettler./

[\Diese Liebe ist nichts; und ich denke, es muss doch auch eine andere Liebe geben –/] [in] |in| [dann sagte sie[:]|,| „Schau] |sie f sich,| [wusst] |hörte| (1) Dass ich zu ihr hinausging (2) \Nun f gesichert/ korrigiert aus: gesichert.) [\Er sagte, er hätte es eben erst erfahren./]

270

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 8

Fragmentarische Fassung

K2/TS19 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DER GEDANKE B Ein Märchen.N

5

10

15

20

25

30

ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 1

Gestern begegnete ich einem Gedanken. Ich war gerade spazieren und wollte wieder zurück, weil ich anfing, hungrig zu werden und ausserdem dachte ich, jetzt wirds bald regnen, denn der Himmel hatte sich bezogen. Da traf ich, wie gesagt, einen Gedanken. Ich weiss noch genau die Stelle, wo es war. Dort, wo der Wald beginnt aufzuhören . Ich bemerkte den Gedanken nicht sogleich, erst als er an mir vorbeiging und mich ansah -- da hielt ich unwillkürlich, ich hatte so etwas schönes noch nie gesehen! Ich konnt mich zuerst garnicht rühren vor Ueberraschung. Und dann war der Gedanke an mir vorbei. Ich lief ihm nach und fand ihn nirgends -- er war weg. Zu dumm! Ich ärgerte mich, wie kann man nur so blöd sein und so einen schönen Gedanken vergessen! Und ich strengte mich an, dass er mir einfallen möge wieder, aber er blieb aus. Er kam nicht wieder. Ich lief ihm nach an vielen platten Gedanken vorbei, hübschen und nicht hübschen, hässlichen, es kamen mir inzwischen auch neue Gedanken, ich traf auch neue, fremde wurden mir vorgestellt. Aber der Gedanke, den ich suchte, blieb mir fern. Und ich wusste, ich brauche ihn, auf diesen Gedanken habe ich immer schon gewartet. Aber es sollte nicht sein! Ich gab die Hoffnung schon auf und unterhielt mich mit anderen Gedanken. Gedanken, die aus dem Schnaps kommen, aus Wein und Bier, aus einem guten Braten, aus einer hohen Kirche, vom Markt -- kurz allerhand Kraut und Rüben. Aber ganz heimlich in mir blieb die Sehnsucht wach nach dem einem grossem Gedanken -Ob ich ihn jemals wiedersehen werde? Manchmal dachte ich schon, ich hätte ihn wieder, aber das war alles Täuschung. 얍 Vielleicht war eine gewisse Aehnlichkeit vorhanden, aber er war es nicht. Und ich wurde immer trauriger über den schönen Gedanken. Ich wusste, wenn ich ihn wiederhabe, dann darf mich die ganze Welt gern haben. Dann pfeif ich auf alles. Und dann kam ein Gedanke, es war ein sehr gescheiter belesener Gedanke, der sagte: Hör mal, ich glaub, das war gar kein Gedanke, mir scheint, das war eher ein Gefühl -Ein Gefühl? Dass ich nicht lache! Lacht nicht! Man kann das oft nicht so genau unterscheiden -- es gibt Grenzen, man meint man hat ein Gefühl und derweil denkt man nur, und einen Gedanken und derweil ist das alles nur Gefühl! B

N

B

35

40

B

2 10

B

32 41 41

B

B

Ein Märchen.N ] beginnt aufzuhörenN ]

vorhanden,N ] einN ] BderweilN ] B

N

B

N

N

\Ein Märchen./ (1) aufhört (2) beginnt aufzuhören korrigiert aus: vorhanden , korrigiert aus: einen korrigiert aus: der weil

271

ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS19 (Korrekturschicht)

Lesetext

Ich verbitte mir das! Ich werde wohl noch einen Gedanken von einem Gefühl unterscheiden können! Abwarten! Was bin zum Beispiel ich? Es gibt keinen ganz reinen Gedanken, immer ist auch irgendwo versteckt ein paar Prozent Gefühl und umgekehrt! Aber den Gedanken, den ich traf und vergessen habe, das war der reinste Gedanken! Und drum sehn ich mich auch so mit ganzem Herzen nach ihm. Er starb. Und als der Engel des Todes kam sagte er: Ach, Du bist ja mein Gedanke -Ja, sagte er, ich bin mal an Dir vorbei und hab mir gedacht, soll Dich jetzt der Schlag treffen oder nicht? Dann hab ichs mir überlegt. Ich bin weder ein Gedanke, noch ein Gefühl, ich bin der Friede! Friede auf Erden den Menschen, die unter der Erde liegen! Komm, ich bin das nichts. Drum hast Du mich auch vergessen. Denn ein Nichts kann man nicht behalten. B

5

10

B

N

B

15

N

\Abbruch der Bearbeitung\

1 11 12

GefühlN ] nicht?N ] BFriede! FriedeN ] B B

korrigiert aus: Gefühlen korrigiert aus: nicht ? korrigiert aus: Friede!Friede

272

N

Fragmentarische Fassung

K2/TS20 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



Zuerst sah ich durch die Glasscheibe hinein. Da ging er herum und servierte gerade eine Portion und Bier. Drei Chauffeure zahlten soeben. Er verbeugte sich tief und nahm das Trinkgeld. Er hinkte noch mehr, dachte ich. Dann ging ich hinein. Er stand gerade bei der Schank. Ich setzte mich auf einen Stuhl. Er kam dass ich bestellen soll und als er mich sah hielt er plötzlich und bekam eine grosse Freude. Zu meiner Ueberraschung. „Sowas!“ schrie er. „Dass Du wiederkommst, das hätt ich nicht gedacht!“ Er war sehr froh und sagte: „Ihr habt doch gesiegt“ ------B

B

5

N

B

10

N

B

N

N

\Abbruch der Bearbeitung\

3 4 8

B

eineN ] Drei f soeben.N ] Bbei f Schank.N ]

10

B

B

ich bestellenN ]

ein\e/ [Eine Dame und ein Herr zahlten.] |Drei f soeben.| (1) mir gegenüber mit dem Rücken (2) bei f Schank. korrigiert aus: ichbestellen

273

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 4

Konfigurationsplan, Repliken

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 4

274

Konfigurationsplan, Repliken

K2/E37–E38

275

Lesetext

Strukturplan in elf Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 9

276

Strukturplan in elf Kapiteln

K2/E39

277

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS21 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Der Schneemann.

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 9

BN

Jetzt warte ich auf das Neue. Ich steh auf Gräbern. Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feuerigen Schwertern. X Die Ameisen kriechen über meine Seele. Sie errichten ihre Burg in meinem Herz. X (Die Ameise, die Orangensaft trinkt) (?) X In den Zeitungen stehen die Siege. X Den Bettler suche ich, aber der liebe Gott bleibt still. X Wir sind Gottes Ebenbild = Der Tod = (der Gedanke) (?) X

5

10

15

B

20



N

Vielleicht ist sie nur eine Sitzschönheit. X Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen.

25

X Das Mädel: (schlägt dem Schneemann einen Arm ab) Morgen ist er eh hin! Ich: Was hat Euch der Schneemann getan? 30

X

35

Und das verwunschene Schloss, das war meine Liebe = die Sehnsucht nach dem Frieden. Und das Fräulein an der Kasse, das lud mich dazu ein. Sie wollte mich nicht sehen. Denn sie war mein Tod und die Linien, das sind unsere Seelen. Und jetzt kommt mein schöner Gedanke = er ist der Tod. X Ich sehe die Bergwerke, in denen ich der Aufseher bin. Ich bestrafe die Arbeiter, die gefangenen.

40

2

17

BN

B

]

= f TodN ]

[Es ist mir plötzlich, als wärs der letzte Stein, der zusammengebrochen ist von meinem Gebäude. Und jetzt ist nichts da. Das heisst: es ist die Liebe da –] \= f Tod/

278

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 10

Fragmentarische Fassung

K2/TS21 (Korrekturschicht)

Lesetext

Und der Liliputaner – ob er Aktien hat von dem Bergwerk? Man sollte ihn umbringen. Aber er ist ein Krüppel. Und hätts einen Sinn? XXX B

N

B

\Abbruch der Bearbeitung\

1 2

B B

LiliputanerN ] Und f Sinn?N ]

Liliputaner[,] \Und f Sinn?/

279

N

Fragmentarische Fassung

K2/TS22 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DER BETTLER

5

10

15

20

25

ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 1

Als ich an diesem abend das Lokal betrat, in dem mein Vater bediente, war das Tischchen, an dem ich sonst zu essen pflegte, besetzt. Es sass dort bereits ein Gast. Der Tisch stand abseits von den anderen in einer Ecke, es war ein schlechter Platz, denn es zog immer herein. Aber da ich umsonst ass, musste ich damit Vorlieb nehmen. Hier ass ich nämlich, mein Vater bezahlte es zu sehr ermässigtem Preise, bis ich Bescheid bekomme wegen der Aufseherstelle. So hatten wir beide es besprochen. Der Gast, der an dem Tische sass, trug eine blaue Brille und hatte einen Vollbart. Ein weisser Stock lehnte neben ihm, er war also blind. „Setz Dich nur hin“, sagte mein Vater, „das ist bloss ein Bettler.“ Ein Bettler? Und es fielen mir wieder die fünf Taler ein -Wars nicht dieser, dem ich sie nicht gab? Ich näherte mich dem Tische. Nein, er wars nicht, aber ich bin nicht sicher -Auf alle Fälle: er könnts gewesen sein. Und ich werde den Gedanken nicht los : vielleicht wär mein Arm jetzt ganz, wenn ich ihm die fünf Taler gegeben hätt, vielleicht müsst ich jetzt nicht hier mit einem Bettler zusammen essen am gleichen Tisch und die Protektion erbitten und Aufseher werden -Ich setze mich an den Tisch und sage: „Guten abend!“ „Guten abend“, sagt der Bettler und lässt sich nicht stören. Er löffelt seine Suppe. 얍 Ich muss auf die meine warten. B

N

B

N

BN

Der Bettler hat seine Suppe ausgelöffelt und isst nun ein Kotlett mit Reis und Salat. Auch Kompott ist dabei. Und ich denke mir: schau, dieser Bettler kriegt mehr wie ich -Jetzt bringt mir mein Vater meine Suppe und sagt zum Bettler: „Schmeckts?“ „No ja“, meint der Bettler, „das Fleisch ist ein bisserl zäh für meine Zähn und der Reis ist wieder so ein Matsch -- geh bringens mir einen halben Liter, von dem weissen!“ Was? Der Bettler bestellt sich Wein? Ich glotze meinen Vater betroffen an -- er errät meine Gedanken und meint lächelnd: „Jawohl, der Grosspapa da verdient mehr als ich, der kann sich ruhig den Wein leisten --“ „Red nur“, sagt der Bettler, „red nur und richt mich aus -- wer ist“ und er hebt B

30

35

N

BN

B

20

B

ich f losN ]

25 27

B

löffeltN ] ]

28 38 39 39–281,1

B

BN

SuppeN ] ] Bist“N ] Bund f gutmütig:N ] BN

N B

(1) ich denke (2) ich f los korrigiert aus: löffel

[Plötzlich hör ich den Bettler rufen: „He Ober, brings mir lieber Reis statt Salat!“] [L]|S|uppe [und er lächelt noch verschmitzterä „Und blind ist er auch nicht.“] korrigiert aus: ist [und f gutmütig:]

280

ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

Lesetext

seine blaue Brille und zwei Augen schauen mich streng an und zugleich gutmütig: „Wer sitzt denn da ?“ „Mein Sohn.“ „Ah, gratuliere! Ein strammer Mann -- schon so gross, dass Du noch so einen jungen Sohn hast -- und General ist er auch.“ „Er verlässt jetzt das Militär“, sagt mein Vater. „Bravo“, sagt der Bettler, „verlassen ist immer gut. Was will er denn werden ?“ „Er wird Aufseher“, sagt mein Vater. „Aber Vater“, sag ich, „woher willst denn das wissen? Das hängt doch noch alles in der Luft!“ „Es hängt garnichts in der Luft“, sagt mein Vater, und zum Bettler 얍 gewandt: „Er hat nämlich eine starke Protektion, die Witwe seines gefallenen Hauptmanns “ -Jetzt werd ich wild. „Aber Vater“, sage ich, „wie kannst denn Du das alles in der Welt so herumschreien, das muss doch nicht jeder wissen!“ „Junger Herr“, sagt der Bettler, „ich darf alles wissen und ich weiss auch alles. Wenn Sie wüssten, was mir alles erzählt wird!“ Mein Vater will mir auch entgegnen , dass er nicht abergläubisch sei, aber er wird von anderen Gästen fortgerufen. Er muss ihnen Bier bringen. „Sie dürfen Ihren Vater nicht so anfahren, Ihr Vater ist ein alter Mann, da wird man geschwätzig , das ist nicht schön und das gehört sich nicht“, sagt der Bettler. „Was geht das Sie an?“ „Es geht mich so lang was an, solang ichs hören muss.“ „Dann hörens weg!“ „Das kann ich nicht. Ich bin ja nicht taub.“ Ich betrachte ihn spöttisch. „Und blind sind Sie auch nicht?“ „Natürlich nicht“, sagt er. „Das tu ich nur so, als ob ich nicht sehen würde, sonst würd mir ja keiner was geben.“ „Feine Finten!“ „ Ich tu als wär ich blind, aber ich sehs genau, wer mir was gibt. He, wo bleibt mein Wein?“ B

N

N

B

N

B

B

N

BN

N

B

5

K2/TS22 (Korrekturschicht)

N BB

N

B

NN

B

10

B

15

B

20

B

N

N N

B

30

N

B

B

25

N

N

N

B

N

1 2 2 2 3 4 4–5 4 5 7 12

B

korrigiert aus: siene

B

seineN ] sitztN ] BdaN ] BN] BSohn.“N ] Bgratuliere!N ] BEin f auch.“N ] BEinN ] Bauch.“N ] BwerdenN ] Bseines f HauptmannsN ]

[ist] |sitzt| [das]|da|

18 18 20–21 21 27 31

B

entgegnenN ] er nichtN ] BIhr f geschwätzigN ] Bgeschwätzig,N ] BsindN ] BIch f gibt.N ] B

gestrichen: \(Seite 79)/ korrigiert aus: Sohn“. korrigiert aus: gratuliere!\“/

Ein f auch.“ korrigiert aus: \(/Ein korrigiert aus: auch.“\)/ korrigiert aus: werdem (1) eines Hauptmanns (2) seines f Hauptmanns korrigiert aus: entgegenen korrigiert aus: ernicht

\Ihr f geschwätzig/ korrigiert aus: geschwätzig korrigiert aus: siend (1) Ich muss auf das Mitleid s[p]|p|ekulieren, damit die Leut besser werden. (2) \Ich f gibt./

281

ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K2/TS22 (Korrekturschicht)

„Hier“, sagt mein Vater, er brachte ihn soeben. „Zwei Gläser“, sagt der Bettler, „ich möcht gern Deinen Sohn einladen -- darf ich?“ „Oh bitte!“ sagt mein Vater. „Ich verzichte“, sage ich. „Was hat er denn?“ staunt mein Vater. „Er ist bös auf mich“, grinst der Bettler. „ Warum denn?“ „Weil ich Dich in Schutz genommen hab“, sagt der Bettler. 얍 „Ich brauch Deinen Schutz nicht“, sagt mein Vater. „Nanana, nur nicht gar so von oben herab! Kennst Du nicht das erste Gebot -- dort stehts an der Wand: „Ehre Deinen Gast“.“ „ Mit Dir kann man nicht reden!“ sagt mein Vater ärgerlich und lässt uns stehen. „Mit mir kann man schon reden“, grinst der Bettler, „vorausgesetzt, dass man die Gebote befolgt.“ Ich betrachte die Gebote, sie hängen an der Wand. Da steht: Erstes Gebot: Ehre Deinen Gast , solang er die Zeche nicht prellt. Zweites Gebot: B

5

B

10

N

N

B

B

15

Lesetext

N

N

BN

B

N

20

„Trinkens nur ruhig mit mir“, höre ich den Bettler und er schenkt auch schon ein, „ich bettel zwar, und heut hat mir einer einen Gulden gegeben, das sind so Gelübde, als ob ich helfen könnt! Und ich kann auch helfen!“ „Sie können helfen?“ „Nicht immer. Aber wenn einer ganz fest glaubt, dann ja –“ „Das wär ja sehr einfach!“ „Oho! Glauben ist schwer, sehr schwer!“ B

25

B

B

2 8 12 13 18 18

B

24–283,2

B

25 26

N

N

einladen --N ] WarumN ] BGast“.“N ] BMitN ] BN] Bsolang f prellt.N ] B

B B

korrigiert aus: einladenkorrigiert aus: warum korrigiert aus: Gast“. korrigiert aus: mit

[und Deinen Herrn.]

und f gegeben –“N ]

(1) er ist Dein Herr. (2) solang f prellt. (1) aber ich will Ihr Gewissen erleichtern, das Geld mit dem ich diesen Wein

UndN ] „SieN ]

da bezahl, ist nicht erbettelt --“ „Sondern gestohlen?“ denke ich. „Auch nicht gestohlen“, und er sieht mich scharf an, „wer hat heuzutag noch nicht irgendwas gestohlen -- ein jeder. Es kommt ja nicht drauf an, ob ein solcher Diebstahl im Gesetzbuch bestraft wird, ich red jetzt von einer höheren Warte aus.“ „höhere Warte?“ Ich betrachte ihn spöttisch. „Das Geld, mit dem ich diesen Wein bezahle, ich werder erbettelt noch gestohlen, es ist mein Vermögen, ich bin nämlich reich.“ „Ach, und warum bettelns denn dann?“ „Das ist mein Beruf“, sagt er schlicht. Lacht er mich aus? Macht er sich lustig über mich? (2) \und f gegeben –“/ [Was [soll] |soll|] |Und| [{Bi}] |„Sie|

282

ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K2/TS22 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Sie glauben doch nicht –“ „Doch. Wenn man einem Bettler was gibt, das hat man Gott gegeben –“ „Das versteh ich nicht“, sag ich. 얍 „Das ist auch mein Geheimnis.“ „Das ist mir zu hoch.“ „Das glaub ich Ihnen“, sagt er und hebt sein Glas, „also reden wir nichtmehr, sondern trinken wir. „Auf das, was wir lieben.“ Ich starre ihn an. Und rühre mich nicht. „Na, Sie werden doch etwas haben, das Sie lieben --“ „Nein, das heisst --“ „Sie haben garkein Mädel, niemand?“ „ Nein.“ „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, sagt er. „Finden Sie?“ „Ja, denn sonst verliert er sich in Grübeleien. Und er kann doch nicht denken, d.h. nur begrenzt. Da ists mir schon lieber, Ihr habt die Erbsünde begangen – ohne Weib wärs sicher noch schlimmer.“ „Ich hätt vielleicht schon wen, sag ich, aber ich weiss nicht wo sie wohnt --“ „Sie wissens nicht?“ „Nein, sie ist fort.“ „Na und?“ „Nichts. Sie wird mich auch nicht mögen.“ „Warum nicht?“ „Weil ich nichts hab.“ „Lächerlich. Eine Frau ist doch nicht so –“ „Sicher hat sie schon einen Messerschlucker oder sowas.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ „Ich denk es mir.“ „Das sagt garnichts.“ Was? Denken sagt garnichts? Sondern? „Sondern: was grübeln Sie da herum – suchen Sie, suchen Sie!“ „Wo denn?“ „Fragens die Leut!“ „So?“ „Jemand wirds schon wissen!“ N

B

5

B

N

N

B

N

B

10

B

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N

B

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N

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B

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N

B

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4 5 7 9 12 14–17 22–31

B

32

B

N

Geheimnis.“N ] hoch.“N ] Blieben.“N ] Blieben --“N ] BNein.“N ] B„Finden f schlimmer.“N ] BSie f Sie!“N ] B

denn?“N ]

korrigiert aus: Geheimnis“ korrigiert aus: hoch“. korrigiert aus: lieben“. korrigiert aus: lieben--“ korrigiert aus: Nein“

\„Finden f schlimmer.“/ (1) Vorbei.“ „Sie gefallen mir. Wenn sie fort ist und dann sitzen da herum?“ „Was soll ich tun?“ „Suchen Sie sie! Suchen Sie! Man wird nicht umsonst geliebt! Gehens und suchens!“ (2) \Sie f Sie!“/ korrigiert aus: denn? “

283

ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K2/TS22 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er hat recht, denke ich. Natürlich werd ich sie suchen, und zwar gleich morgen früh. Ich werd mich in der Autorennhalle, dort, wo das verwunschene Schloss mal stand, erkundigen, wo sie wohl sein mag -Und ich hebe das Glas: „Auf das was wir lieben!“ B

5

\Abbruch der Bearbeitung\

2

B

das verwunscheneN ]

korrigiert aus: das verwunschene

284

N

285

Dialogskizze zum Kapitel „Der Schneemann“

ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 1

286

Dialogskizze zum Kapitel „Der Schneemann“

K2/E40

287

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K2/TS23 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

10

„Und das war ihre Liebe ?“ „Nein. Sie sagte es mir, geliebt hat sie ihn nicht.“ „Ist das wahr?“ „ Ja.“ Wir schweigen. „Sie sprach immer von einem, den sie lieben könnt -- aber sie hat ihn nur einmal vielleicht flüchtig gesehen, sie weiss nicht wie er aussah, es blieb ihr nur so eine vage Linie --“ Vater: „Komm schlafen! Wir werden sehen was der Tag bringt“ – „Linie?!“ „Ja. Sie hat sich ihn genau vorgestellt.“ Und ich sitze da und es geht mir alles durch den Kopf. Ja, jetzt wirds klar -Jetzt weiss ichs. Das verwunschene Schloss, das war meine Liebe, meine Sehnsucht nach der Liebe, und das Fräulein an der Kasse, das lud mich dazu ein. Aber sie wollte mich nicht sehen und ich sah sie auch nur so. Und unsere Linien, das waren unsere Seelen -Und jetzt kommt auch der schöne Gedanke wieder und sagt, Du hast mich gesucht, ich bin das nichts, der Frieden, der Tod, das Nichts -Ich bin garkein Gedanke, ich habe Dich nur berührt, ich bin der Tod, das Nichts -Komm, dort wirst Du sie finden. Sie wohnt bei mir und wartet auf Dich. B

B

N

N

B

N

B

15

20

N

\Abbruch der Bearbeitung\

2 5 10 12

ihre LiebeN ] Ja.“N ] BVater: f bringt“ –N ] BihnN ] B B

korrigiert aus: ihreLiebe korrigiert aus: Ja“.

\Vater: f bringt“ –/ korrigiert aus: ihm

288

ÖLA 3/W 176 – BS 26 j [2], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K2/TS24 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

얍 DER SCHNEEMANN

ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 1

Der Park. „Geöffnet von 8 bis zum Einbruch der Dunkelheit.“ (Kinderspielplatz) (Aber der Sand ist verschneit) B

5

N

B

N

10

15

Ich gehe auf den Friedhof und suche ihr Grab. Es ist schon Nachmittag geworden und der Schnee beginnt zu treiben. Es ist bitterkalt. Die Strasse ist rutschig. Wolken ziehen vorbei und ich geh langsam an den Gräbern entlang. Hier liegen die Helden, die Weiber und die Kinder. Ich gehe auf ihr Grab. Endlich find ich es. Es ist klein und ein kleines Kreuz und darauf steht: Anna Lechner. Und ich setze mich nieder, gegenüber ist ein höheres Grab. Mir ists, als müsste ich auf etwas neues warten. Als würde eine neue Zeit kommen -Es ist so seltsam still. Ein Engel steht auf einem Grab, hat er ein Schwert in der Hand? Ich kanns nicht erkennen, denn es dämmert bereits. Oder kommt die neue Zeit nur in mir? Und ein Satz fällt mir plötzlich ein und lässt mich nichtmehr los: am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den feuerigen Schwertern. Und ein anderer: Wir sind Gottes Ebenbild. Ein jeder einzelne -- ja, der Bettler hatte recht. Und wir stehen nur einzeln vor Gott und geben ihm Rechenschaft, nur 얍 einzeln, und niemals das Vaterland oder dergleichen, das ist alles Menschenwerk, nur der Mensch ist Gotteswerk, nur den Menschen hat Gott gebaut -Und es zählt nur der einzelne. Auf einem Grab steht: „Ich bin das Leben“ Ja, und jeder ist einzeln und jeder ist anders, keiner machts gleich, keiner ist dem anderen gleich -Und es gibt nur Verbrechen der Einzelnen (?) Und meine Kameraden -- wenn ichs mir überlege, ein jeder hat ein anderes Schicksal, auch wenns ähnlich ist -- ein jeder hat in seinem Leben mit der Witwe eines Hauptmanns geschlafen, mit einem Zwerg, -- aber hat ein jeder keine Liebe gefunden? B

20

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N

B

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N

B

N

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B

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N

B

4–5 6–7 17 26 31

B

Der f Dunkelheit.“N ] (Kinderspielplatz f verschneit)N ] BdaraufN ] BFinsternis dieN ] Bder MenschN ]

39 40

B

B

B

ähnlichN ] Zwerg, --N ]

N

\Der f Dunkelheit.“/ \(Kinderspielplatz f verschneit)/ korrigiert aus: daran korrigiert aus: FInsternis,die (1) Gott (2) der Mensch ä[ ]hnlich korrigiert aus: Zwerg, --

289

ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS24 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er kann sie nicht finden, solange er das Vaterland liebt, das Kollektiv, die gleiche Reihe -Solange er die Front abschreitet. BN

5

10

Und es wird immer kälter -Wir sind jeder allein -- und einsam. Und nur in der Liebe können wir das finden -Nicht im Männerbund, ausgerichtet, Mann für Mann. Aber wir, wir sind zu verpatzt dazu -- wir können nur eines machen: erkennen, was weg gehört! Gleichgültig, was dann kommt -Der Nebel fällt ein -Es ist der Nebel der Zukunft, denke ich. Es wird so kalt, sie zwickt mich, als kröchen Ameisen über mich und errichten eine Burg -- was tragen die Ameisen? Sie bauen, sie bauen -Es schneit immer mehr. Und mit dem Schnee kommt der Gedanke -Es fällt in weichen Flocken und deckt alles zu -- Es wird alles weiss. Eine grosse Hand nimmt mich in die Hand und hebt mich auf. Sie hält \Textverlust\ B

N

B

15

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4 13 14

] Zukunft,N ] BundN ]

N

BN

[\„Jeder, der sagt, dass der Einzelne keine Rolle spielt, der gehört weg.“ –/]

B

korrigiert aus: Zukunft. korrigiert aus: mund

290

Konzeption 3: Ein Kind unserer Zeit

291

Fragmentarische Fassung

K3/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DER VATER ALLER DINGE

ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 1v

5

10

Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat. Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, Frühling und Herbst, Sommer und Winter, ob es regnet oder schneit, Tag und Nacht -- immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen. Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem jungem Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt hab ich sie wieder, meine Zukunft, und lasse sie nimmer los, auferstanden aus der Gruft! Es ist noch kaum ein halbes Jahr her, da stand sie bei meiner Musterung neben dem Oberstabsarzt. „Tauglich!“ sagte der Oberstabsarzt und die Zukunft klopfte mir auf die Schulter. Ich spürs noch heut. B

15

B

\Textverlust\

14 16

B B

los,N ] sieN ]

los[. Sie ist] |,| [d]|s|ie

292

N

N

Fragmentarische Fassung

K3/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

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20

25

30

Da bin ich aber ordentlich reingetreten! Da ist ja eine Versenkung, aber nur an der linken Seite, sodass man mit dem linken Bein tiefer gehen muss, wie mit dem rechten. Zu blöd! Endlich hab ich das linke Bein wieder auf gleicher Höh, da fall ich mit dem rechten hinab. Also das ist wirklich zu blöd! Ein feines Vergnügen! Jetzt sitzt sie draussen an ihrer Kasse und lacht, dass ich drinn bin. Aber trotzdem hat sie einen schönen Mund, wenn mich nicht alles täuscht. Wie sieht sie eigentlich aus? Komisch, ich hab sie doch lange genug betrachtet und weiss es noch immer nicht genau -- richtig, sie hatte ja den Kopf fast immer gesenkt, weil sie ihre Linien gekritzelt hat, um mich nicht sehen zu müssen -Jaja, diese Linien! Die sind schuld daran, dass ich jetzt da drinnen herumstolper -- über laufende Teppiche, wackelnde Brücken, an Särgen vorbei, in denen enthauptete Wachsfiguren liegen, umgeben von Gespenstern, Gehänkten, Geräderten -- aber mich schreckt nichts. Da tät ich mir aufrichtig leid. Ich biege um eine Ecke und begegne einem Skelett. Ich betrachte es genau. Es ist ein Originalskelett und so werden wir alle mal ausschauen und dann ists vorbei mit unserem Zauber. Auch mit den Linien -Ich reiche dem Skelett die Hand und das war der Schluss. Hinter der nächsten Tür steh ich wieder im Freien. Neben der Kasse. Aber meine Linie sitzt nichtmehr dort. Sondern eine alte Frau. Ich starre sie verdutzt an und sie kommt auf meine Gedanken. „Meine Tochter ist fort“, sagt sie, fast spöttisch. „Wohin?“ frage ich mechanisch. „Ins Kino.“ Ich salutiere leicht und gehe auch fort. \Textverlust\

293

ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 3v

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DER HAUPTMANN

ÖLA 3/W 163 – BS 26 e [3], Bl. 1

5

Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie gewaltig sie gewesen ist. Unerwartet werfen oft die grössten Ereignisse ihre Schatten auf uns, aber sie treffen uns nicht unvorbereitet. Es gibt keinen Schatten der Welt, mit dem wir nicht immer rechnen würden. Wir fürchten uns nicht! In der Nacht zum Freytag, da gabs plötzlich Alarm. Wir fahren aus dem Schlaf empor und treten an mit Sack und Pack. Ausgerichtet, Mann für Mann. Es ist drei Uhr früh. Langsam schreitet uns der Hauptmann ab -Langsamer als sonst. Er schaut noch einmal nach, ob alles stimmt -- denn nun gibts keine Manöver mehr. Rascher als wir träumten, kam der Ernst. Die Nacht ist noch tief und die grosse Minute naht -얍 Bald gehts los. Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleiner Staat und sein Name wird bald der Geschichte angehören. Ein lebensunfähiges Gebilde. Beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt -Ein lächerlicher Standpunkt. Jetzt steht er vor mir, der Hauptmann, und als er mich anschaut, muss ich unwillkürlich denken: wenn ich ihren Namen wüsste, würd ich ihr schreiben, direkt ins verwunschene Schloss. „Wertes Fräulein“, würde ich ihr schreiben, „ich wär am nächsten Sonntag gern gekommen, aber leider bin ich pflichtlich verhindert. Gestern war Donnerstag und heut ist schon Freytag, ich muss überraschend weg in einer dringenden Angelegenheit, von der aber niemand was wissen darf, denn darauf steht der Tod. Wann ich wiederkommen werd, das weiss ich noch nicht. Aber Sie werden immer meine Linie bleiben --“ Ich muss leise lächeln und der Hauptmann stutzt einen Augenblick. „Was gibts?“ fragt er. „Melde gehorsamst nichts.“ Jetzt steht er schon vor meinem Nebenmann. Ob der auch eine Linie hat? geht es mir plötzlich durch den Sinn -Egal! Vorwärts! Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. B

10

15

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N

B

8 10 10

oftN ] mit demN ] BrechnenN ] B B

N

[plötzlich] |oft| [den] |mit dem| [erwarten] |rechnen|

294

B

N

ÖLA 3/W 163 – BS 26 e [3], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

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15

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35

40

45

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Es geht los. Endlich! -Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind. Wir zwinkern uns zu. 얍 Arm sind alle Worte, um den Reichtum der Rüstung zu schildern, in der unsere Sonne erglänzt. Und der Mond hinkt ihr nicht nach. Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur. Wir zwinkern uns zu. Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleines Land und wir sind zehnmal so gross -- drum immer nur frisch voran! Wer wagt, gewinnt -- besonders mit einer erdrückenden Uebermacht. Und besonders wenn er überraschend zuschlägt. Nur gleich auf den Kopf -- ohne jeder Kriegserklärung! Nur keine verstaubten Formalitäten! Wir säubern, wir säubern -- -Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die lächerliche Grenze dieses unmöglichen Staatswesens überschritten. Die paar Zöllner waren rasch entwaffnet -morgen sinds drei Wochen her, aber die Hauptstadt ist schon unser. Heut sind wir die Herren! Hört das Kommando des historischen Augenblicks: Setzt Eueren Fuss auf Land, das Euch nicht gehört! Steckt alles ein, raubt alles aus! Gebt keinen Pardon, denn es braucht keiner zu leben, wenn er Euch nichts nützt! Machet Euch das Vergewaltigte untertan und vermehret Euch durch Vergewaltigung! Mit eiserner Stirne sollt Ihr das fremde Brot fressen -Gedeihet nach dem Gesetz der Gewalt! Säubert! -Im Tal brennen die Dörfer. Sie stehen in Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt. 얍 Bravo, Flieger! Obwohl ich Euch persönlich nicht riechen kann, muss mans doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet! Nichts ist Euch entgangen, auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen angepasst hat. Nichts habt Ihr übersehen, auch wenn das rote Kreuz noch so grell sichtbar gewesen ist. Nichts habt Ihr ausgelassen -- keine Fabrik und keine Kirche. Alles habt Ihr erledigt! Bravo, Flieger! Bravo! Schiesst das Zeug zusammen, in Schutt und Asche damit, bis es nichtsmehr gibt, nur uns! Denn wir sind wir. Vorwärts! Frohen Mutes folgen wir Eueren Spuren -Wir marschieren über ein hohes Plateau. Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Es ist ein milder Abend mit weissen Wölklein an einem rosa Horizont.

295

ÖLA 3/W 163 – BS 26 e [3], Bl. 3

ÖLA 3/W 163 – BS 26 e [3], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

5

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Vor zwei Stunden nahmen wir fünf Zivilisten fest, die wir mit langen Messern angetroffen haben. Wir werden sie hängen, die Kugel ist zu schad für solch hinterlistiges Gelichter. Aber der Berg ist kahl und ganz aus Fels, nirgends ein Busch. Wir führen sie mit uns, unsere Gefangenen, und warten auf den nächsten Baum. Sie sind aneinander gefesselt, alle fünf an einen Strick. Der Aelteste ist zirka sechzig, der Jüngste dürfte so siebzehn sein. Ihre Sprache ist hässlich, wir verstehen kein Wort. Ihre Häuser sind niedrig, eng und schmutzig. Sie waschen sich nie und \Textverlust\ Idee. Er erzählt sie und wir sagen nicht nein, denn das ist die einfachste Lösung. 얍 Gedacht, getan! Mein Kamerad versetzt plötzlich dem Jüngsten einen heftigen Stoss -- der stürzt den Abhang hinab und reisst die andern vier mit sich. Sie schreien. Sie klatschen unten auf. Es waren dreihundert Meter. Jetzt liegen sie drunten, doch niemand schaut hinab. Zwei Krähen fliegen vorbei. Keiner sagt ein Wort. Dann marschieren wir weiter. Die Krähen kommen wieder -Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Es war ein milder Abend und jetzt kommt die Nacht. -Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen. Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen und sie werden den Nagel auf den Kopf treffen, wenn sie loben und preisen, dass wir bescheidene Helden waren. Denn auch von uns biss ja so mancher ins grüne Gras. Aber nichtmal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz auf ihr Opfer sein zu können. Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit. Nur unerlaubt sickerte es durch, unser Blut -- -- -Der Hauptmann, den wir wie einen Vater lieben, wurde ein anderer Mensch, seit wir die Grenze überschritten. Er ist wie ausgewechselt. BN

10

15

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ÖLA 3/W 163 – BS 26 e [3], Bl. 5

\Textverlust\

얍 35

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Es steckt vor uns in einem Schuppen. Ringsum ist alles verbrannt, das ganze Dorf -Wir warten. Da wird drüben eine Gestalt sichtbar, sie geht durch das verkohlte Haus und scheint etwas zu suchen. Einer nimmt sie aufs Korn und drückt ab -- die Gestalt schreit auf und fällt. Es ist eine Frau. Jetzt liegt sie da. Ihr Haar ist weich und zart, geht es mir plötzlich durch den Sinn und einen winzigen Augenblick lang muss ich wieder an das verwunschene Schloss denken. Es fiel mir wieder ein. Und nun geschah etwas derart Unerwartetes, dass es uns allen die Sprache verschlug vor Verwunderung. 9

BN

]

[te ist zirka sechzig, der Jüngste dürfte so siebzehn sein. Am Rande eines Abgrundes kommt einem meiner Kameraden plötzlich eine]

296

ÖLA 3/W 163 – BS 26 e [3], Bl. 6

Fragmentarische Fassung

5

10

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Der Hauptmann hatte sich erhoben und ging langsam auf die Frau zu -Ganz aufrecht und so sonderbar sicher. Oder geht er dem Schuppen entgegen? Er geht, er geht -Sie werden ihn ja erschiessen -- er geht ja in seinen sicheren Tod! Ist er wahnsinnig geworden?! In dem Schuppen steckt ein Maschinengewehr -Was will er denn?! Er geht weiter. Wir schreien plötzlich alle: „Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!“ Es klingt, als hätten wir Angst -Jawohl, wir fürchten uns und schreien -Doch er geht ruhig weiter. \Textverlust\

297

Lesetext

Fassung

K3/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DER HAUPTMANN

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 1

5

Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie gewaltig sie gewesen ist. Unerwartet werfen oft die grössten Ereignisse ihre Schatten auf uns, aber sie treffen uns nicht unvorbereitet. Es gibt keinen Schatten der Welt, mit dem wir nicht immer rechnen würden. Wir fürchten uns nicht! In der Nacht zum Freytag gabs plötzlich Alarm. Wir fuhren aus dem Schlaf empor und traten an mit Sack und Pack. Ausgerichtet, Mann für Mann. Es war drei Uhr früh. Langsam schritt uns der Hauptmann ab -Langsamer als sonst. Er sah noch einmal nach, ob alles stimmt -- denn nun gibts keine Manöver mehr. Rascher als wir träumten, kam der Ernst. Die Nacht ist noch tief und die grosse Minute naht -얍 Bald gehts los. Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleiner Staat und sein Name wird bald der Geschichte angehören. Ein lebensunfähiges Gebilde. Beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt -Ein lächerlicher Standpunkt. Jetzt steht er vor mir, der Hauptmann, und als er mich anschaut, muss ich unwillkürlich denken: wenn ich ihren Namen wüsste, würd ich ihr schreiben, direkt ins verwunschene Schloss. „Wertes Fräulein“, würde ich schreiben, „ich wär am nächsten Sonntag gern gekommen, aber leider bin ich pflichtlich verhindert. Gestern war Donnerstag und heut ist schon Freytag, ich muss überraschend weg in einer dringenden Angelegenheit, von der aber niemand was wissen darf, denn darauf steht der Tod. Wann ich wiederkommen werd, das weiss ich noch nicht. Aber Sie werden immer meine Linie bleiben --“ Ich muss leise lächeln und der Hauptmann stutzt einen Augenblick. „Was gibts?“ fragt er. „Melde gehorsamst nichts.“ Jetzt steht er schon vor meinem Nebenmann. B

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B

B

B

15

B

B

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8 10 10 12 13 13 15 16 18

B

B

N

N

B

N

N

N

N

oftN ] mit demN ] BrechnenN ] BFreytagN ] BfuhrenN ] BtratenN ] BwarN ] BschrittN ] BsahN ] B

N

N

B

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N

[plötzlich] |oft| [den] |mit dem| [erwarten] |rechnen| Freytag[, da] f[a]|u|hren tr[e]|a|ten [ist] |war| [schreitet] |schritt| [schaut] |sah|

298

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 2

Fassung



15

20

Lesetext

Ob der auch eine Linie hat? geht es mir plötzlich durch den Sinn -Egal! Vorwärts! Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. Es geht los. Endlich! -Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind.

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K3/TS4 (Korrekturschicht)

BN

Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur. Wir zwinkern uns zu. Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleines Land und wir sind zehnmal so gross -- drum immer nur frisch voran! Wer wagt, gewinnt -- besonders mit einer erdrückenden Uebermacht. Und besonders wenn er überraschend zuschlägt. Nur gleich auf den Kopf -- ohne jeder Kriegserklärung! Nur keine verstaubten Formalitäten! Wir säubern, wir säubern -- -Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die lächerliche Grenze dieses unmöglichen Staatswesens überschritten. Die paar Zöllner waren rasch entwaffnet -morgen sinds drei Wochen her, aber die Hauptstadt ist schon unser. Heut sind wir die Herren!

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 3

BN

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Im Tal brennen die Dörfer. Sie stehen in Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt. 얍 Bravo, Flieger! Obwohl ich Euch persönlich nicht riechen kann, muss mans doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet! Nichts ist Euch entgangen, auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen angepasst hat. Nichts habt Ihr übersehen, auch wenn das rote Kreuz noch so grell sichtbar gewesen ist. Nichts habt Ihr ausgelassen -- keine Fabrik und keine Kirche. Alles habt Ihr erledigt! Bravo, Flieger! Bravo! N

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Im f Dörfer.N ]

[Wir zwinkern uns zu. Arm sind alle Worte, um den Reichtum der Rüstung zu schildern, in der unsere Sonne erglänzt. Und der Mond hinkt ihr nicht nach.] [Hört das Kommando des historischen Augenblicks: Setzt Eueren Fuss auf Land, das Euch nicht gehört! Steckt alles ein, raubt alles aus! Gebt keinen Pardon, denn es braucht keiner zu leben, wenn er Euch nichts nützt! Machet Euch das Vergewaltigte untertan und vermehret Euch durch Vergewaltigung! Mit eiserner Stirne sollt Ihr das fremde Brot fressen -Gedeihet nach dem Gesetz der Gewalt! Säubert! --] [Im f Dörfer.]

299

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 4

Fassung

5

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K3/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Schiesst das Zeug zusammen, in Schutt und Asche damit, bis es nichtsmehr gibt, nur uns! Denn wir sind wir. Vorwärts! Frohen Mutes folgen wir Eueren Spuren -- – Wir marschieren über ein hohes Plateau. Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Es ist ein milder Abend mit weissen Wölklein an einem rosa Horizont. Vor zwei Stunden nahmen wir fünf Zivilisten fest, die wir mit langen Messern angetroffen haben. Wir werden sie hängen, die Kugel ist zu schad für solch hinterlistiges Gelichter. Aber der Berg ist kahl und ganz aus Fels, nirgends ein Busch. Wir führen sie mit uns, unsere Gefangenen, und warten auf den nächsten Baum. B

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15

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Ihre Sprache ist hässlich, wir verstehen kein Wort. Ihre Häuser sind niedrig, eng und schmutzig. Sie waschen sich nie und 얍 stinken aus dem Mund. Aber ihre Berge sind voll Erz und die Erde ist fett. Ansonsten ist jedoch alles Essig. Selbst ihre Hunde taugen einen Dreck. Räudig und verlaust streunen sie durch die Ruinen -Keiner kann die Pfote geben. Am Rande eines Abgrundes kommt einem meiner Kameraden plötzlich eine 얍 Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen. Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen und sie werden den Nagel auf den Kopf treffen, wenn sie loben und preisen, dass wir bescheidene Helden waren. Denn auch von uns biss ja so mancher ins grüne Gras. Aber nichtmal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz auf ihr Opfer sein zu können. Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit. Nur unerlaubt sickerte es durch, unser Blut -- -BN

25

30

BN

5 13

B

21

BN

]

BN

]

30

Spuren -- –N ] ]

BN

Spuren -- \–/ [Sie sind aneinander gefesselt, alle fünf an einen Strick. Der Aelteste ist zirka sechzig, der Jüngste dürfte so siebzehn sein.] [te ist zirka sechzig, der Jüngste dürfte so siebzehn sein. Am Rande eines Abgrundes kommt einem seiner Kameraden plötzlich eine Idee. Er erzählt sie und wir sagen nicht nein, denn das ist die einfachste Lösung. Gedacht, getan! Mein Kamerad versetzt plötzlich dem Jüngsten einen heftigen Stoss -- der stürzt den Abhang hinab und reisst die andern vier mit sich. Sie schreien. Sie klatschen unten auf. Es waren dreihundert Meter. Jetzt liegen sie drunten, doch niemand schaut hinab. Zwei Krähen fliegen vorbei. Keiner sagt ein Wort. Dann marschieren wir weiter. Die Krähen kommen wieder -Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Es war ein milder Abend und jetzt kommt die Nacht. --] [--]

300

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 5

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 6

Fassung

K3/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Der Hauptmann, den wir wie einen Vater lieben, wurde ein anderer Mensch, seit wir die Grenze überschritten. Er war wie ausgewechselt. Verwandelt ganz und gar. 얍 Wir fragen uns bereits, ob er nicht krank ist, ob ihn nicht ein Leiden bedrückt, das er heimlich verschleiert. Grau ist er im Gesicht, als schmerzte ihn jeder Schritt. Was ist denn nur mit dem Hauptmann los? Es freut ihn scheinbar kein Schuss. Wir erkennen ihn immer weniger. Zum Beispiel unlängst, als wir vom Waldrand zusahen, wie unsere Flieger das feindliche Lazarett mit Bomben belegten und die in heilloser Verwirrung herumhüpfenden Insassen mit Maschinengewehren bestrichen, da drehte sich unser Hauptmann plötzlich um und ging hinter unserer Reihe langsam hin und her. Er sah konstant zur Erde, wie in tiefe Gedanken versunken. Nur ab und zu hielt er und blickten in den stillen Wald. Dann nickte er mit dem Kopf, als würde er sagen: „Jaja“ -Oder zum Beispiel, als wir unlängst in einer Siedlung beschlagnahmten , da stellte er sich uns in den Weg. Er wurde ganz weiss und schrie uns an, ein ehrlicher Soldat plündert nicht! Er musste erst durch unseren Leutnant, diesen jungen Hund, aufgeklärt werden, dass die Plünderung nicht nur erlaubt, sondern sogar anbefohlen worden war. Höheren Ortes. Da ging er wieder von uns, der Hauptmann. Er ging die Strasse entlang und sah weder rechts noch links. Am Ende der Strasse hielt er an. Ich beobachtete ihn genau. Er setzte sich auf einen Stein und schrieb mit seinem Säbel in den Sand. Merkwürdigerweise musste ich plötzlich an das verwunschene Schloss denken und an das Fräulein an der Kasse, das die Linien zeichnete -Sie wollte mich nicht sehen. Was zeichnet denn der Hauptmann? Auch Linien? 얍 Ich weiss nur, auch er will mich nicht sehen -- -Zwar schreitet er noch jeden Morgen unsere Front ab, aber er sieht nurmehr unsere Ausrüstung und nichtmehr durch sie hindurch in uns hinein. Wir sind ihm fremd geworden, das fühlen wir alle. Und das tut uns leid. Manchmal fühlen wir uns schon direkt einsam, trotzdem wir in Reih und Glied stehen. Als wären wir hilflos in einer uralten Nacht und es wär niemand da, der uns beschützt vor dem Blitz, der jeden treffen kann -Und mit Sehnsucht denken wir an die Tage im Kasernenhof zurück. Wie schön wars, wenn er uns abschritt -- wenn er beifällig nickte, weil alles stimmte, aussen und innen. BN

BN

5

10

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B

N

B

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1 3 3 17 17 17

] ] BwarN ] BinN ] BeinerN ] BbeschlagnahmtenN ] BN BN

N B

gestrichen: \2.)/ gestrichen: \3.)/

[ist] |war| \in/ eine\r/ [plünderten] |beschlagnahmten|

301

N

B

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 7

N

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 8

Fassung

5

10

15

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40

45

K3/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Aber die Bande, die uns verbinden, lösen sich -Herr Hauptmann, was ist mit Dir? Wir verstehen Dich nichtmehr -Herr Hauptmann, es tut uns leid. Aber wir kommen nichtmehr mit. Zum Beispiel, wie Du es unlängst erfahren hast, dass wir die fünf gefangenen Zivilisten mit den langen Messern über den Abgrund expediert hatten, was hast Du damals nur getrieben! Und derweil wars doch zuguterletzt nur ein beschleunigtes Verfahren -- vielleicht brutal, zugegeben! Man gewinnt keinen Krieg mit Glacéhandschuhen, das müsstest Du wissen! Aber Du schriest uns wieder an, ein Soldat sei kein Verbrecher und solch beschleunigtes Verfahren wäre frontunwürdig! Frontunwürdig? Was heisst das? Wer erinnern uns dunkel, dass dies ein Ausdruck aus dem Weltkrieg 얍 ist -- wir haben ihn nichtmehr gelernt. Und Du hast dem Kameraden, der auf die Idee mit dem Abgrund gekommen war, eigenhändig seinen Stern vom Kragen gerissen, seinen silbernen Stern -Sag, Hauptmann, was hat das für einen Sinn? Am nächsten Tag hat er doch seinen Stern wieder gehabt und Du, Du hast einen strengen Verweis bekommen -- wir wissens alle, was in dem Schreiben stand. Der Leutnant hats uns erzählt. Die Zeiten, stand drinnen, hätten sich geändert und wir lebten nichtmehr in den Tagen der Turnierritter. Hauptmann, mein Hauptmann, es hat keinen Sinn! Glaub es mir, ich mein es gut mit Dir -Du hast von Deiner Beliebtheit schon soviel verloren. Einige murren sogar. Wir schütteln oft alle die Köpfe -Oder: magst Du uns denn nichtmehr? Hauptmann, wie soll das enden mit Dir? Wohin soll das führen? Aender Dich, bitte, änder Dich! Werd wieder unser alter Vater -Schau, trotzdem dass die Flieger mustergültig vorarbeiten, gibt es doch noch Gefahren genug. Sie lauern hinter jeder Ecke -Auch wenn wir durch Trümmer marschieren, man weiss es nie, ob aus den Trümmern nicht geschossen wird. Eine Salve kracht über uns hinweg -Wir werfen uns nieder und suchen Deckung. Nein, das war keine Salve -- das ist ein Maschinengewehr. Wir kennen die Musik. Es steckt vor uns in einem Schuppen. 얍 Ringsum ist alles verbrannt, das ganze Dorf -Wir warten. Da wird drüben eine Gestalt sichtbar, sie geht durch das verkohlte Haus und scheint etwas zu suchen. Einer nimmt sie aufs Korn und drückt ab -- die Gestalt schreit auf und fällt. Es ist eine Frau.

302

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 9

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 10

Fassung

5

K3/TS4 (Korrekturschicht)

Jetzt liegt sie da. Ihr Haar ist weich und zart, geht es mir plötzlich durch den Sinn und einen winzigen Augenblick lang muss ich wieder an das verwunschene Schloss denken. Es fiel mir wieder ein. Und nun geschah etwas derart Unerwartetes, dass es uns allen die Sprache verschlug vor Verwunderung. Der Hauptmann hatte sich erhoben und ging langsam auf die Frau zu -Ganz aufrecht und so sonderbar sicher. Oder geht er der Scheune entgegen? Er geht, er geht -Sie werden ihn ja erschiessen -- er geht ja in seinen sicheren Tod! Ist er wahnsinnig geworden?! In dem Schuppen steckt ein Maschinengewehr -Was will er denn?! Er geht weiter. Wir schreien plötzlich alle: „Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!“ Es klingt, als hätten wir Angst -Jawohl, wir fürchten uns und schreien -Doch er geht ruhig weiter. Er hört uns nicht. 얍 Da spring ich auf und laufe ihm nach -- ich weiss es selber nicht, wieso ich dazu kam, dass ich die Deckung verliess -Aber ich will ihn zurückreissen, ich muss ihn zurückreissen! Da gehts los -- das Maschinengewehr. Ich sehe, wie der Hauptmann wankt, sinkt -- ganz ergeben -Und ich fühle einen brennenden Schmerz am Arm -- oder wars das Herz? Ich werfe mich zu Boden und benutze den Hauptmann als Deckung. Er ist tot. Da seh ich in seiner Hand was weisses -Es ist ein Brief. Ich nehm ihn aus seiner Hand und hör es noch schiessen -- aber nun schützt mich mein Hauptmann. „An meine Frau“, steht auf dem Brief. Ich stecke ihn ein und dann weiss ich nichtsmehr. B

10

15

20

25

30

Lesetext

9

B

der ScheuneN ]

N

de[m]|r| [Schuppen] |Scheune|

303

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 11

Fragmentarische Fassung

K3/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DER BETTLER

ÖLA 3/W 165 – BS 26 f [1], Bl. 1

Bettler: Auch das Vaterland kann Verbrechen begehen und man soll Gott mehr gehorchen, als den Menschen. Bettler: Was wär das für ein Gott, der nicht um die Seele eines jeden Menschen ringen würde?! B

5

N

10

15

20

Es war nicht das Herz, es war nur der Arm, aber leider der Knochen. Er war zersplittert. Man holte die Kugel heraus und allmählich wuchsen die Splitter wieder zusammen. Lange Wochen lag ich im Lazarett, zuerst noch im Feindesland, dann wurd ich in die Heimat transportiert. Denn der Schuss war doch komplizierter, als man ursprünglich annahm und ich hatte hohes Fieber. Hoffentlich werd ich nur meinen Arm wieder richtig bewegen können, denn sonst müsst ich ja das Militär verlassen und was würd ich dann wieder beginnen? Dann wär meine Zukunft wieder tot. Ich habe ja nichts. Keinen Groschen. Der Dank des Vaterlandes wär mir zwar gewiss, davon bin ich überzeugt, aber die Invalidenrenten sind ja so minimal -- davon wird keiner satt. B

N

B

N

BN B

N

BN

Und wo bleiben die Kleider, die Schuhe? BN

25

Dunkel tauchen sie vor mir wieder auf, drohend unter einem kaltem Himmel , die Tage der Vergangenheit, vergangene Tage, an die ich längst nichtmehr dachte -sie stecken ihre Gesichter aus den schwarzen Wassern und glotzen mich an – B

B

B

B

N

N

N

\Textverlust\

3–6 20

B

21 21 21 22 24 25

B

26

B

an f ichN ]

27 27

B

sie f an –N ] schwarzenN ]

B

Bettler: f würde?!N ] Der f gewiss,N ]

jaN ] ] Bdavon f satt.N ] BN] BN] Bunter f HimmelN ] BN

B

\Bettler: f würde?!/ (1) Das Vaterland würde mich zwar nicht vergessen, (2) \Der Dank des/ Vaterland\es/ \wär f gewiss,/

[doch] |ja| [es ist eine Schand.] x[D] d avon f satt. || [[D]|d|avon f satt.]f x [\Es ist eine Schand!/] (1) aus der Finsternis (2) \unter f Himmel/ (1) die ich (2) an f ich \sie f an –/ \schwarzen/

304

N

Fragmentarische Fassung

5

10

15

K3/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Der Gedanke. B In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Immer wieder sah ich den Hauptmann – warum ging er nur vor? Ich lese den Brief. Es fällt mir Bim Halbschlaf N ein, dass ich herabstürze mit den B5.N N Achso, er hält uns für Verbrecher – Ja, gewiss! Es wär natürlich schöner, wenn wir alle Engel wären – aber unser Führer lügt doch nicht – Oder lügt er? Er wird auch lügen, das Leben besteht aus Kampf, aus Hass – nicht aus Liebe – – Und ich gehe zum verwunschenem Schloss. B (Liliputaner)N Mein Arm ist ja wieder gut, ich muss hinaus in 8 Tagen. Ich kann sie nicht suchen. Ich treffe einen BGedanken.N B Was war das nur für ein Gedanke? Ist die Liebe in mich eingezogen?N \Abbruch der Bearbeitung\

2–5

B

5 5 12 14 15–16

B

In f 5.N ]

im HalbschlafN ] 5.N ] B(Liliputaner)N ] BGedanken.N ] BWas f eingezogen?N ] B

(1) Ich gehe und öffne den Brief. (2) \In f 5./ korrigiert aus: \Im Halbschlaf/ korrigiert aus: 5

\(Liliputaner)/ korrigiert aus: Gedanken

\Was f eingezogen?/

305

ÖLA 3/W 165 – BS 26 f [1], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

5

K3/TS7 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Die Villa steht weit BdraussenN am letzten Rande der Stadt. Es ist ein neuer Vorort. Vor fünf Jahren Bwar da noch nichts zu sehenN B– kein Licht,N kein Pflaster, keine B Kanalisation, nurN Gras. B Aber woN einst das Vieh weidete, stehen heut schmucke BEinfamilienhäuschen, denn die Welt dreht sichN und das Leben lässt sich nicht lumpen. Wir entwickeln uns immer Bhöher hinaus.N BN

10

Als ich den Vorortszug verliess, merkte ich es erst, dass es schon Herbst geworden war. Drinnen in der Stadt spürte man ihn noch nicht , aber hier schien die Sonne so traurig, als hätte sie verweinte Augen. Ringsum sammelten sich die Nebel und lautlos fielen die gelben Blätter. B

N

BN

15

Ein alter Mann kehrte sie langsam zusammen – Es war plötzlich so still geworden. Was geschieht mit den gelben Blättern? Herr Hauptmann, wo bist Du jetzt? Ich darf garnicht an Dich denken, sonst fallen die Blätter noch stiller. Als ich Deine Witwe zum erstenmal sah, war es kurz nach sechs Uhr. Mein Zug ist zwar schon um 17 Uhr 9 auf die Minute pünktlich eingelaufen, aber ich ging nicht gleich zu ihr hin, obwohl sie nur 5 Schritt entfernt wohnt, sondern trank noch im Bahnhofbufett ein Glas Bier. Ich wusste es, dass sie hier in einer Villa haust und dass Du in der Kaserne wohntest. Du fuhrst nur alle Woche mal heraus – Ihr verstandet Euch nicht, das wussten wir alle. Wir hätten es uns auch garnicht vorstellen können, dass Du mit einer Familie auskommst, so sehr gehörtest Du zu uns. Auch Dein Heim war die Kaserne. B

N

B

N

N

B

B

20

B

B

N

B

25

B

N B

N

B

5–6

B

draussenN ] war f sehenN ] B– kein Licht,N ] BKanalisation, nurN ] BAber woN ] B

7 8 10 13 15 17 18

B

19 20 21 23 23 25 25 26

B

Einfamilienhäuschen f sichN ]

höher hinaus.N ] ] Bihn f nichtN ] BN] BEs warN ] Bwo f jetzt?N ] BIch f stiller.N ] BN

sechsN ] 17N ] Bobwohl f wohnt,N ] Bin f haustN ] Bin f KaserneN ] BhättenN ] BesN ] Buns.N ] B

B

N

N

B

1 3 3 4 5

N

N

N

draussen[,] [war da no] [|gabs da noch nichts, nur Gras.|] war f sehen| [Keine Strasse, kei] [|Kein[e Pflaster] |Haus,||] |– kein Licht,| Kanalisation[.]|,| [Nur] |nur| [Heute [stehen] |stehen| schmucke Häuschen hinter [weisser] |weissen| Zäunen.] |Aber| [W]|w|o Einfamilienhäuschen[.]|, denn| [Jaja, (die Welt dreht sich)] [|das Leben schrei|] |die Welt dreht sich| [weiter –] |höher hinaus\./ [–]| [Es ist Herbst geworden, denn den Sommer über lag ich im Lazarett.] [das] |ihn| \noch/ nicht [so] [Sie lagen vor dem Vorortsbahnhof.] [Hier] |Es [ist] |war|| [warum weilst Du nichtmehr unter uns?] |wo f jetzt?| [Ich darf garnicht an Dich denken, denn manchmal kann ich mir das Vaterland ohne Dich garnicht so richtig vorstellen] |Ich f stiller.| [siebzehn] [|fünf|] |sechs| 1[6]|7| \obwohl f wohnt,/ [wohnt] |in [der] |einer| Villa haust| [bei u] |in f Kaserne| hätten[,] \es/ uns\./ [in die]

306

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K3/TS7 (Korrekturschicht)

Lesetext

Ob Du leibliche Kinder hast, weiss ich nicht, denn wir waren Deine geistigen Kinder. Jetzt werden die gelben Blätter verbrannt, drüben am Waldrand. Ich liebe den Rauch. B

N

B

N

BN

5

\Abbruch der Bearbeitung\

1 3 4

leiblicheN ] gelbenN ] BN] B B

\leibliche/ [B] |gelben| gestrichen: Eintragung fremder Hand: Rauch

307

Fragmentarische Fassung

K3/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Im Hause des Gehänkten.

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 4

BN

Gott zwingt die Witwe zu mir. Sie sieht eine Linie. Wundervoll sind die Wege „Gottes“, das geb ich meiner dicken Schwester ohne weiteres zu. Unenträtselbar für einen Sterblichen – stimmt! Man kennt sich nicht aus und weiss es nie, was noch alles kommt, trotz aller Disziplin – Wer hätte es zum Beispiel gedacht, dass ich mit der Witwe meines Hauptmanns ins Bett gehen werde! Es ist so unvorhergesehen, dass man wirklich anfangen muss, darüber nachzudenken, was es alles in unserer Welt für seltsame Zusammenhänge und unsichtbare Gesetze gibt. Gesetze, die keinen Witz verstehen, sodass man sich manchmal schon fürchten könnt. Wenn mir einer gesagt hätt, noch vor 8 Tagen, Du wirst mit der Witwe Deines Hauptmanns ins Bett gehen, hätt ich gesagt: Du Phantast! Ich weiss es auch garnicht, ob ich es eigentlich wollte. Ich weiss nur, sie hatte lange Beine. Ich liebe die schönen Beine der Frauen, denn sie hören für mich nicht auf. B

B

N

B

NN

B

5

B

B

N

N

N

B

N

B

10

B

N

N

BN

BN B

N

B

B

N

N

BN B

B

15

N

N

BN

B

BN

BN

B

2 3 3 3 4 6–7 6 8 8 9 10 11 11 11–12 12 13 13–309,12

BN

] Gott f Linie.N ] Bmir.N ] BLinie.N ] Bmeiner f SchwesterN ] BMan f Disziplin –N ] Bkennt f undN ] Bzum BeispielN ] BWitweN ] Bins f werde!N ] BN] BN] BunsichtbareN ] Bverstehen f könnt.N ] BschonN ] BN] BWenn f Mensch.N ]

14 15 16 16 17 17

B

B

Phantast!N ] ] BN] BlangeN ] BN] BschönenN ] BN

N

N

[\Ich denke einen Augenblick: hier lag [der Hau] |mein Hauptmann –|/] \Gott f Linie./ korrigiert aus: mir korrigiert aus: Linie \meiner f Schwester/ \Man f Disziplin –/ \kennt f und/ \zum Beispiel/ [Frau] |Witwe| [im Bett liegen werde,] |ins f werde!| [Strömungen [gibt], unsichtbare] [und Fäden] [unerbittliche] |unsichtbare| verstehen[!]|, sodass f könnt.| \schon/ gestrichen: \1.)/ (1) Als es dazukam, so weiss ich es nicht genau, ob ich sie eigentlich wollte. Ich wollte nur eine Frau haben, das wusste ich, es war höchste Zeit, denn ich hatte schon lange keine mehr. Ich hatte bereits Träume in der Nacht, wo ich nichtmehr wusste, ob ich ein Mann bin oder ein Weib. Sie umarmte mich und sagte: warum umarmst Du mich? Sie knöpfte mir den [Rock] |Waffenrock| auf und sagte: was machst Du da? Sie gab mir einen Kuss und sagte: lass mich! [Geh von] |Sie presste mich an sich und sagte: Geh von| mir! [(Sie hatte lange Beine und ich griff nach ihren Beinen.)] |In dem Zimmer stand ein Kanapee und ein Bücherschrank.| Als ich sie das erstemal sah, trug sie einen Morgenrock[.] |mit einem tiefen Ausschnitt.| Sie wohnt im ersten Stock einer kleinen Villa. \Unter ihr,/ [I]|i|m Parterre wohnt ein pensionierter Prokurist[. Einen zweiten] |, und über ihr ist \schon/ [der Speicher,] |das Dach,| und dann kommt nichts. –| (2) \Wenn f Mensch./ [Schwein!] |Phantast!| gestrichen: \2.)/ gestrichen: \3.)/ [herrliche] |lange| gestrichen: \4.)/ \schönen/

308

Fragmentarische Fassung

K3/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

Sie können über alles gehen, über alles hinweg, so leicht, als wäre alles nur nichts – Ich habe einmal ein Buch gelesen über die Sprache der Beine. Es war ein Magazin und ich trugs eine Weile mit mir herum. Dann schmiss ichs weg. Der Stabsfeldwebel hob es auf und nahms mit nachhaus. Seine Frau entdeckte es und verbrannte es. „Eine Schweinerei“, sagte sie. Aber das war keine Schweinerei, sondern es waren schöne Damen drinnen, die wenig anhatten selten nichts. Die schönen Damen verbrannten. Sie kochte sich einen Tee auf verkohlten Beinen, Busen, Hintern – Die Frau Stabsfeldwebel kochte auf ihnen ihren Brei . Manche zeigten ihre Popos. Ein Weib ist nirgends so nackt, wie am Hintern , sagte mal unser Oberleutnant. Er ist ein belesener Mensch. BN

B

N

B

N

N

B

BN

B

5

N

B

B

N

10

N

B

N

B

B

BB

N

B

N NN

B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

1 1 1 2 3 4 4 4–5 8–10 8–9 9 9–10 10 10 11

] so leicht,N ] Balles nurN ] Bnichts –N ] BN] Bmit f herum.N ] Bweg.N ] BStabsfeldwebelN ] BDie f Brei.N ] BSie f aufN ] BBeinen f HinternN ] BDie f Brei.N ] BBreiN ] BBrei.N ] BHinternN ] BN B

gestrichen: \5.)/ \so leicht,/ [das] |alles nur| nichts [{recht}] |–| gestrichen: \6.)/ [bei mir.] |mit f herum.| [ins Klosett.] |weg.| [Feldwebel] |Stabsfeldwebel| \Die f Brei./ [Es] |Sie f auf| korrigiert aus: die Beine, die Busen, die Hintern \Die f Brei./ [Brei] |Brei| korrigiert aus: Brei [Popo] |Hintern|

309

N

Fragmentarische Fassung

K3/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



Die Frau stellte sich über mich und hob den Rock, sodass ich ihr unter die Röcke schauen konnte . Was will sie? Das hatte der Hauptmann gern. Es war seine Art. Sie liebte noch, wie es der Tote wollte, wie es dem Toten kam. B

B

5

N N

\Abbruch der Bearbeitung\

2–3 3

B B

Die f konnte.N ] konnteN ]

[„Ich werde] |Die f konnte.| [könnt] |konnte|

310

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 IM HAUSE DES GEHAENKTEN

5

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 6

Gott weiss alles, sagte meine Schwester. Er lässt keinen aus den Augen, Tag und Nacht -Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein. Denn dann müsst ich mir allerhand gefallen lassen – Ich glaub nicht an Gott, denn er lässt sich ja alles gefallen und tut nichts dagegen. Nichts, nichts! (Alles! Alles!) BN

B

B

N

N

BB

10

N

BN

Es gibt nur einen Gott der Nation, nicht des einzelnen. Der einzelne ist Dreck. Es ist eine Überhebung, wenn er meint, dass sich der liebe Gott mit ihm beschäftigte. Er soll fallen fürs Vaterland. Und wenn er verletzt ist, als Krüppel der Allgemeinheit zur Last fällt – was dann? Wie gehts Deinem Arm? Die Zusammenhänge kann ein einfacher Sterblicher nicht kennen -Das geb ich zu. Diese sogenannten Zusammenhänge sind für uns lauter Rätsel, denn es sind eben die sogenannten Wege „Gottes“ . B

B

15

B

BN

20

N B

B

NN BN

BN B

N

B

N

N

B

N

N N

BN

5 8 8 9–21 9–10 12

13–18

14 14 15 15 18 18 18 18 21 21 22

BN

[hört alles, sieht alles,]

B

] mir f lassen –N ]

(1) \(/ja dabei sein, wenn sich alles gegen mich wendet.\)/ (2) \mir f lassen –/

allerhandN ] Ich f Gottes“.N ] BIch f dagegen.N ] BN]

\allerhand/ [Ich f Gottes“.] [Ich f dagegen.] gestrichen: \„später!!!“/ \Er hat mit jedem einzelnen was vor, sagte die Schwester. [Ent] |Mit jeder einzelnen Persönlichkeit?|/ BEs f ZusammenhängeN ] (1) Oder scheint es nur so? Wie sagte noch die Schwester? (2) \Es f Zusammenhänge/ BliebeN ] korrigiert aus: l. Bbeschäftigte.N ] korrigiert aus: beschäftigte BVaterland.N ] \Vaterland./ BUndN ] [Er] [|Er|] |Und| BN] gestrichen: \(a.)/ BZusammenhängeN ] korrigiert aus: Zusammenhänge [kann ein einfacher] | ..... (a.)| BN] gestrichen: Die Zusammenhänge BeinN ] korrigiert aus: eine BN] [des sogenannten] B„Gottes“N ] \„/Gottes\“/ BN] [[Und auf den Wegen \„/Gottes\“/gehen unsere Zusammenhänge, die nicht zusammenhängen miteinander spazieren. Arm in Arm. Sie wandern, sie wandern -Ueber alle Strassen der Welt.] Manchmal singen sie, doch meist schweigen sie. Wir hören eine ferne Melodie, aber wir werden nicht klug daraus. Und wenn sie das Maul halten? Wer hört die Stille?] B B

311

Fragmentarische Fassung

5

K3/TS10/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus und wer will es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. Wer hätte es, zum Beispiel, geahnt, dass ich mit der Witwe meines Hauptmanns ins Bett gehen werde! Jawohl, ins Bett. 얍 Es war mir selbst hinterher so unvorstellbar, dass ich anfing darüber nachzudenken, was es in unserer Welt für einfache Gesetze gibt. Gesetze, die keinen Witz verstehen, sodass man sich manchmal schon fürchten könnt. Vielleicht gibts doch ein höheres Wesen, das man aber noch nicht kennt. Es ist noch nicht da, es nähert sich erst – Wenn mir einer gesagt hätte, vorher, Du wirst mit der Witwe Deines Hauptmanns ins Bett gehen, hätt ich gesagt: Du Phantast! Ich weiss es ja auch garnicht, ob ich es eigentlich wollte. Ich weiss nur, sie hatte lange Beine. Sie muss grösser sein, als der Hauptmann war. Ich liebe die Beine der Frauen, denn sie hören für mich nicht auf. Sie können über alles gehen, über alles hinweg, so leicht, als wär das alles nur nichts. Ich habe einmal ein Buch gelesen über die Sprache der Beine. Es war ein Magazin und ich trugs eine Weile mit mir herum. Dann liess ichs liegen . Der Staabsfeldwebel fand es und nahms mit nachhaus. Seine Gattin warfs in den Herd. „Eine Schweinerei“, sagte sie. Aber das war keine Schweinerei, sondern es waren schöne Damen drinnen abphotographiert, die wenig anhatten oder fast nichts. B

10

N

BN

B

15

20

N

B

N

B

B

N

N

B

N

BN

B

N B

N

B

N

BN

25

Auf dem Titelblatt war ein Brustbild, die B

9–10 11 13 15 20 20 21 21 21 21–22 24 25

B

Vielleicht f erst –N ] ] BjaN ] Bsein,N ] BliessN ] BliegenN ] BfandN ] BN] BGattinN ] Bwarfs f Herd.N ] BfastN ] BN]

26 26

B

26 26

BN

BN

B

B

dem TitelblattN ] ein f Hermelin.“N ] ] demN ]

N

B

BN

„Dame mit dem Hermelin.“ B

N

N

\Vielleicht f erst –/ [noch vor acht Tagen,] \ja/ sein\,/ [schmiss] |liess| [weg] |liegen| [hob] |fand| [auf] [Frau] |Gattin| [entdeckte [es] und verbrannte es.] |warfs f Herd.| \fast/ [[So] |Es waren so| schöne, die man sich nie leisten konnt -- denn das tät zuviel kosten, in so eine verliebt zu sein. Die Frau Staatsfeldwebel verbrannte sie in ihrem Herd und kochte sich auf ihnen ihren Brei.] de[r]|m| [dritten Seite] |Titelblatt| ein[e, ich glaub, die sah der Witwe meines Hauptmanns ähnlich.] |Brustbild, die| [„]|„|Dame f Hermelin.“ gestrichen: [Sie hiess] |Die| \dem/

312

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Und an dieses Brustbild musste ich denken, als ich die Witwe meines Hauptmanns zum erstenmal sah. Wenn mich nicht alles täuscht, glich diese Dame der Witwe meines Hauptmanns. Man soll bei den Weibern immer Umwege machen, immer nur Umwege, bis einem die Zunge aus dem Halse hängt. B

B

N

N

5

B

N

\Textverlust\

1–4

B

Und f Hauptmanns.N ]

3 5–6

B

glichN ] Man f hängt.N ]

B

[Ein Weib ist nirgends so nackt, wie am Hintern, sagte mal unser Oberleutnant. Er ist ein belesener Mensch. Als ich der Witwe sagte, dass sie einen schönen Hintern hätte, sagte sie nur: „Pst, mein Freund!“ Jaja, die Damenwelt hört es nicht gern, wenn man ihre [direkten] |eigentlichen| Vorzüge preist. Sie lieben mehr die Umwege und wenn sie noch so ausgetreten wären --] |Und f Hauptmanns.| [sah] |glich| \Man f hängt./

313

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 IM HAUSE DES GEHAENKTEN

5

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 8

Gott weiss alles, sagte meine Schwester. Er lässt keinen aus den Augen, Tag und Nacht --

B N

BN

Unsinn! Wahrscheinlich gibts ihn überhaupt nichtmehr , denn er lässt sich ja alles gefallen und tut nichts dagegen. Wahrscheinlich ist er schon tot. Oder scheint es nur so? Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus und wer kann es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. Immer jeden einzelnen beobachten, wo der einzelne längst keine Rolle mehr spielt -- ein undankbarer Beruf. BN

B

10

N

B

B

N

N

B

15

BN

N

B

B

N

N

BN B

Überhaupt wird der liebe Gott N

BN

immer überflüssiger.

\Abbruch der Bearbeitung\

5 7

BN

8 9 9 11 13 15

BN

15 16 17 18 18

B

BN

] ]

] ihnN ] BnichtmehrN ] BWahrscheinlich f tot.N ] BkannN ] BN] B

mehrN ] Beruf.N ] BN] BÜberhaupt f derN ] BN] B

[\Der liebe/] [Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein. Denn dann müsst man sich allerhand gefallen lassen.] [Ich glaub nicht an Gott,] \ihn/ [keinen lieben Gott] |nicht\mehr/| \Wahrscheinlich f tot./ [will] |kann| [Wenn es ein höheres Wesen gibt, dann möcht ich nicht dieses höhere Wesen sein.] \mehr/ Beruf[,]|.| [lieber Gott zu sein in unserer Zeit.] [Undankbar und überflüssig.] \Überhaupt wird/ [D]|d|er [wird]

314

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 IM HAUSE DES GEHAENKTEN

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 9

5

10

Gott weiss alles, sagte meine Schwester. Er lässt keinen aus den Augen, Tag und Nacht -Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein. Immer nur jeden einzelnen beobachten, wo der einzelne längst keine Rolle mehr spielt -- ein undankbarer Beruf. Ueberhaupt wird der liebe Gott immer überflüssiger. Wahrscheinlich gibts ihn überhaupt nichtmehr, denn er lässt sich ja alles gefallen und tut nichts dagegen. BN

15

20

25

30

Oder scheint es nur so? Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus und wer kann es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. Wer hätte es, zum Beispiel, geahnt, dass ich mit der Witwe meines Hauptmanns ins Bett gehen werde! Jawohl, ins Bett. Es war mir selbst so unvorstellbar, dass ich hinterher anfing darüber nachzuden얍 ken, was es in unserer Welt für einfache Gesetze gibt. Gesetze, die keinen Witz verstehen, sodass man sich manchmal schon fürchten könnt. Vielleicht gibts doch ein höheres Wesen, das man aber noch nicht kennt. Wenn mir einer vorher gesagt hätt, Du wirst mit der Witwe Deines Hauptmanns ins Bett gehen, hätt ich gesagt: Du Phantast! Ich weiss es ja auch garnicht, ob ich es eigentlich wollte. Ich weiss nur, sie hatte lange Beine. Sie muss grösser sein als der Hauptmann war. Ich liebe die Beine der Frauen, denn sie hören für mich nicht auf. Sie können über alles gehen, über alles hinweg, so leicht, als wär das alles nur nichts. \Abbruch der Bearbeitung\

13

BN

]

[Wahrscheinlich ist er schon tot.]

315

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 10

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 IM HAUSE DES GEHAENKTEN

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 9

5

10

Gott weiss alles, sagte meine Schwester. Er lässt keinen aus den Augen, Tag und Nacht -Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein. Immer nur jeden einzelnen beobachten, wo der einzelne längst keine Rolle mehr spielt -- ein undankbarer Beruf. Ueberhaupt wird der liebe Gott immer überflüssiger. Wahrscheinlich gibts ihn überhaupt nichtmehr, denn er lässt sich ja alles gefallen und tut nichts dagegen. BN

15

20

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35

40

Oder scheint es nur so? Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus und wer kann es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. Wer hätte es, zum Beispiel, geahnt, dass ich mit der Witwe meines Hauptmanns ins Bett gehen werde! Jawohl, ins Bett. Es war mir selbst so unvorstellbar, dass ich hinterher anfing darüber nachzuden얍 ken, was es auf unserer Welt für einfache Gesetze gibt. Gesetze, die keinen Witz verstehen, sodass man sich manchmal schon fürchten könnt. Vielleicht gibts doch ein höheres Wesen. Wenn mir einer vorher gesagt hätt, Du wirst mit der Witwe Deines Hauptmanns ins Bett gehen, hätt ich gesagt: Du Phantast! Ich weiss es ja auch garnicht, ob ich es eigentlich wollte. Ich weiss nur, sie hatte lange Beine. Sie muss grösser sein als der Hauptmann war. Ich liebe die Beine der Frauen, denn sie hören für mich nicht auf. Sie können über alles gehen, über alles hinweg, so leicht, als wär das alles nur nichts. Ich habe einmal ein Buch gelesen über die Sprache der Beine. Es war ein Magazin und ich trugs eine Weile mit mir herum. Dann liess ichs liegen. Der Staabsfeldwebel fand es und nahms mit nachhaus. Seine Gattin verbrannte es im Herd. „Eine Schweinerei“, sagte sie. Aber das war keine Schweinerei, sondern es waren schöne Damen drinnen abphotographiert, die wenig anhatten oder fast nichts. Auf dem Titelblatt war ein Brustbild, die „Dame mit dem Hermelin.“ Und an dieses Brustbild musste ich denken, als ich die Witwe meines Hauptmanns zum erstenmal sah. Sie trug einen Morgenrock, obwohls schon Nachmittag war. Sie wohnt im ersten Stock einer kleinen Villa. Unter ihr im Parterre wohnt ein pensionierter Prokurist und über ihr ist schon das Dach und dann kommt nichts. Die Villa steht in einem neuem Vorort, ganz am Rande der Stadt. \Abbruch der Bearbeitung\

13

BN

]

[Wahrscheinlich ist er schon tot.]

316

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 11

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A5 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 IM HAUSE DES GEHAENKTEN

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 12

5

10

Gott weiss alles, sagte meine Schwester. Er lässt keinen aus den Augen, Tag und Nacht -Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein. Immer nur jeden einzelnen beobachten, wo der einzelne längst keine Rolle mehr spielt -- ein undankbarer Beruf. Ueberhaupt wird der liebe Gott immer überflüssiger. Wahrscheinlich gibts ihn überhaupt nichtmehr, denn er lässt sich ja alles gefallen und tut nichts dagegen. BN

15

Oder scheint es nur so? Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus und wer kann es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. Wer hätt sichs, zum Beispiel, zu ahnen getraut, dass ich einst in diesem Leben mit der Witwe meines Hauptmanns in nähere Beziehungen treten werde? In sogenannte nähere Beziehungen – und wenn auch nur für eine Nacht. Wer hätte dieses geahnt? Es war mir selbst so unvorstellbar, dass ich hinterher anfing darüber nachzuden얍 ken, was es auf unserer Welt für einfache Gesetze gibt. Gesetze, die keinen Witz verstehen, sodass man sich manchmal schon fürchten könnt. Vielleicht gibts doch ein höheres Wesen. Wenn mir einer vorher gesagt hätt, Du wirst mit der Witwe Deines Hauptmanns ins Bett gehen, hätt ich gesagt: Du Phantast! Ich weiss es ja auch garnicht, ob ich es eigentlich wollte. Ich weiss nur, sie hatte lange Beine. Sie muss grösser sein als der Hauptmann war. Ich liebe die Beine der Frauen, denn sie hören für mich nicht auf. Sie können über alles gehen, über alles hinweg, so leicht, als wär das alles nur nichts. B

N

B

N

B

N

B

N BN

B

B

20

B

N

B

25

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N

N

N

BN B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

13 17 17

BN

] hätt sichs,N ] Bzu f getraut,N ]

17 18

B

18 19–20 19 22 24

BN

30 30

BN

Absatz vom Autor getilgt

B

[S]|S|ie

B

B

einst f LebenN ] in f werde?N ]

] In f geahnt?N ] BNacht.N ] BaufN ] BWesen.N ] B

] SieN ]

[Wahrscheinlich ist er schon tot.] hätt[e] [es] [|sich es|] |sichs|[,] [geahnt,] [|voraussehen können|] [|vorauszusehen [gewagt] |gewagt||] |zu f getraut,| \[einst \noch/] |einst| in diesem Leben/ [ins Bett gehen] [|schlafen| werde!] |in [sogenannte] nähere Beziehungen treten werde?| [\Ja, wer? Wer?/] [Jawohl, ins Bett.] [|Jawohl, wer hätte|] |In f geahnt?| korrigiert aus: Nacht [in] |auf| Wesen[,]|.| [das man aber noch nicht kennt. \Man sieht nur manchmal so Zusammenhänge –/]

317

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 13

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A6 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

5

10

얍 BDer IrrtumN Manchmal kann ich mir das Vaterland ohne dem Hauptmann garnicht so richtig vorstellen. Dann schau ich mich um und denke: schau Dirs an, das ist Dein Vaterland, BesN gehört Dir -Mir? Manchmal werd ich unsicher -Auch jetzt, als ich da herausfuhr, stand ich am Fenster des Zuges und sah hinaus. Die Leute auf den Bahnsteigen. Die Reklameschilder, die Arbeiter, die Frauen, die Schaffner -- die Villen im Grünen, die alten Häuser, die Fabriken, die Autos, die Pferde, das ist mein Vaterland -Und das gehört alles BauchN mir. BN

15

20

25

Damit es gedeihe und blühe. Damit noch mehr Züge hier fahren, noch mehr Wägen, noch mehr Menschen. Und er gab auch sein Leben für seine Frau, damit sie keiner bedroht -Doch wer hat sie bedroht? Das kleine Land, das wir uns holten, hat sie doch nicht bedroht -In mir verwirren sich die Gedanken, nein, ich will nicht weiterdenken, die Führer werdens schon richtig machen, ich bin nicht zum denken auf der Welt, ich bin das Schwert! Ich bin das ausführende Organ. Und auch die Wege unserer Führer sind unenträtselbar für einen einfachen Volksgenossen, genau wie die Wege Gottes. Und damit Schluss! -B

N

BN

\Abbruch der Bearbeitung\

2 5

B

13 14

B

25 26

B

B

Der IrrtumN ] esN ] auchN ] ]

BN

Schluss! --N ] ]

BN

\Der Irrtum/ (1) das (2) es \auch/ [\(/Dafür hab ich meinen Arm verletzt\)/ [und] dafür ist der Hauptmann gefallen. Er gab sein Leben für das alles --] korrigiert aus: Schluss!-[Als ich die Witwe zum erstenmal sah, war es Nachmittags kurz nach fünf Uhr. Mein Zug ist war zwar schon um vier Uhr zehn pünktlich auf die Minute eingelaufen und sie wohnte nur fünf Minuten Schritte vom Bahnhof weg, aus ihrem Schlafzimmerfenster konnte man die Bahngeleise sehen, die Signale die roten und grünen, die läuteten die ganze Nacht --]

318

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 14

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A7 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

5

10

15

20

25

얍 einen BhimmelschreiendenN Skandal.“ „Zu BBefehl.“N „Die wären BjaN imstand und liessen ihm selbst im Grab keine Ruh. Sie würden ihn ausgraben und irgendwo verscharren, Bwo weit und breit kein ehrlicher Mann liegt“ –N „Nicht Bunmöglich.“N Sie sieht mich gross an. B Du stammst also aus einer Beamten- und Offiziersfamilie – Bmuss ich denken.N N „Sie sind jetzt mein Mitwisser“, Bunterbricht sie meine GedankenN und lächelt wieder ein wenig. B N B„Auf N Sie kommts, dass BesN unter uns bleibt, nur auf Sie, denn der liebe Gott, der wird ja schweigen“ -Sie nickt mir zu und verlässt das Zimmer. Sie geht in die Küche und richtet das BEssenN. Denn, wie gesagt, ich sollte bei ihr zu Abend essen, weil doch mein Zug erst um 9 Uhr 12 zurückfuhr. Jetzt bin ich allein. Auf dem Tischchen liegen noch die Zigaretten, ich zünd mir eine Ban. ImN Bücherschrank BstehenN Erinnerungen an den Weltkrieg. Es sind militärische Bücher, die gehörten ihm. Und Romane, Romane, die gehören ihr. B In der Küche B N klappern die Teller. Was wirds denn zum Essen geben? Wahrscheinlich kalt. Vielleicht einen feinen Aufschnitt, Butter, Käse und Brot – Draussen BbeginntN es zu regnen Bdie Bäume Bschütteln sichN,N doch hier BherinnenN bleibt es warm und still. B Ja, es ist Herbst geworden.N

[unnützen] |himmelschreienden| Befehl\./“ [--] \ja/ [in der letzten Ecke des Friedhofs!“] |wo f liegt“ –| unmöglich\./“ [--] \Du f denken./ (1) muss f denken. (2) (frage ich mich) Bunterbricht f GedankenN ] [sagt sie] unterbricht f Gedanken 10 | | BN] 11 [Sie nickt mir zu: „Jaja,] B„Auf N ] 11 [a]|„A|uf BesN ] 11 [es] [|sein Tod|] |es| BEssenN ] 14 [Abend][e]|E|ssen Ban. ImN ] 18 korrigiert aus: an.Im BstehenN ] 19 steh[t]|en| [ein Lexikon. Und] 21–320,14 BIn f Tisch.N ] \In f Tisch./ BN] 21 [da] BbeginntN ] 25 beginnt[\s/] Bdie f sich,N ] 25 [und ich] [|und [ein kalter Wind] |der Sturm| [schüttelt] |\heult und/ biegt|] |die f sich,| Bschütteln sichN ] 25 \schütteln sich/ BherinnenN ] 25 [drinnen] |herinnen| BJa f geworden.N ] 27 \Ja f geworden./ 2 3 4 5–6 7 9 9

himmelschreiendenN ] Befehl.“N ] BjaN ] Bwo f liegt“ –N ] Bunmöglich.“N ] BDu f denken.N ] Bmuss f denken.N ] B B

319

ÖLA 3/W 168 – BS 26 g [2], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A7 (Korrekturschicht)

Lesetext

Es wird immer dunkler, und der Lampe Schein fällt auf den grossen Tisch in der Mitte. Hier haben die beiden gegessen, der Hauptmann und seine Frau. B

N B

B

N

B

N

N

B

B

N

N

BN

5

Und plötzlich gehts mir durch den Sinn : schau, hier hast Du ja das bequeme Leben – Ein Leben, das Du so sehr verachtest. Mit Recht? 얍 Und wie ich mich so frage, fällt mir plötzlich mein Vater ein. Der hinkt jetzt in seinem Lokal herum und beginnt mir leid zu tun – B

B

10

N

B

N

N

BN

Auch er wollte solch ein Zimmer haben. Solch eine feine Lampe, einen Bücherschrank, den Sorgenstuhl, den grossen und den kleinen Tisch. Und eine Frau, die in der Küche mit den Tellern klappert. Ob meine Mutter eigentlich gut kochen konnte? Ich weiss es nicht. Aber ich muss sie mal wieder besuchen, ich war ja schon seit Jahren nichtmehr an ihrem Grab. Und momentan wirds mir ganz eigenartig, denn es ist mir so, als würd ich selbst das Vaterland vergessen können wegen einer Frau – als würd man das Vaterland nichtmehr fressen wollen , wenn ein Weib für einen kocht. Ja, die Liebe geht durch den Magen. Ich muss grinsen und geh auf und ab. In der Ecke steht ein grosser Spiegel, ich seh mich drinn gehen und plötzlich durchzuckt es mich: wie ist eigentlich Dein Hauptmann gegangen? B

N

B

B

15

NN

B

20

N

BN

B

N

B

B

N

N

B

B

N

N

N

N

B

25

B

B

B

1 1 1 1 3 3 4 5 5 7 11 12 13–14

B

Es f dunkler,N ] undN ] BfälltN ] BgrossenN ] Bdie beidenN ] Bseine Frau.N ] BN] Bgehts f SinnN ] Bhast DuN ] BEinN ] BN] Bhaben.N ] BSolch f Tisch.N ]

14 17 20 21 21 21 21 22 22 23 25 26

B

B

Tisch.N ] esN ] BN] BVaterlandN ] BkönnenN ] Bals f kocht.N ] BwürdN ] Bnichtmehr f wollenN ] Bein WeibN ] BJa f Magen.N ] BichN ] BDeinN ] B

N

N

[Es ist finster geworden,] |[\Und/ [D]|d|raussen] |Es| wird[s] immer dunkler,| [und] [|aber hier fällt|] [fällt] [grossen] |grossen| [sie] |die beiden| [sie.] |seine Frau.| [Wo sass er, wo sass sie?] [muss ich denken] |gehts f Sinn| [ist es] |hast Du| [Das] |Ein| [Es ist Nacht geworden.] haben[, so] [|,|] |.| [[Solch e]|E|inen Tisch, solch eine] \den8/ grossen9 und [einen] |den| kleinen Tisch, [eine schöne] |Solch1 eine2 \feine3/| Lampe,[3]|4| einen[4]|5| Bücherschrank,[5]|6| [zwei6] [|einen|] |den| [Klubsessel7] |Sorgenstuhl7| [und8], [|einen8|] [|und8|] korrigiert aus: Tisch, \es/ [alles,] [|alles,|] Vaterland[,] können[,] [(als wär dieses ganze Vaterland nur ein Ersatz)] |als f kocht.| [könnt] |würd| [ausspucken] |nichtmehr f wollen| ein[e] [Frau] |Weib| [Sie klappert] [|Du hättest|] [|Du hast|] |Ja f Magen.| [und,] |ich| [der] |Dein|

320

ÖLA 3/W 168 – BS 26 g [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

K3/TS10/A7 (Korrekturschicht)

Ich versuche so zu gehen – Es gelingt mir nicht. Doch, zwei Schritte waren richtig. So ist er gegangen! Etwas schwer, etwas untersetzt – Jawohl, so ist er hier auf und ab und hat auf das Essen gewartet. Ob er auch so lange warten musste? Ich hab schon einen richtigen Hunger – was klappert denn die dort draussen so lang? Ich will mir grad die vierte Zigarette anzünden, da kommt sie endlich mit einem Tablett. Es gibt Schnitzel mit Salat. Sie deckt rasch den Tisch. B

N

B

B

10

Lesetext

N

N B

B

N

B

N

N

N

\Abbruch der Bearbeitung\

6 7 7 7 9 9

Ob f musste?N ] richtigenN ] BHunger –N ] BklappertN ] BwillN ] BvierteN ] B B

[Vielleicht ist es hier schöner als in Reih und Glied –] |Ob f musste?| [richtigen] [|riesigen|] Hunger[,]|–| [kocht] |klappert| [suche] |will| [dritte] |vierte|

321

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A8 (Grundschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

Nicht nur, weil ich es für charakterlos gefunden hätte -- doch halt! Eigentlich hab ich doch Dir damit garnichts angetan, denn Du weilst ja nichtmehr unter uns Lebenden. Und ausserdem ist das Fleisch schwach, das ist ein alter Schnee. Wie gesagt, ist es mir gleich aufgefallen, dass sie schöne Beine hat. Sie trug schwarze seidene Strümpfe und daran konnte man es auch erkennen, dass sie es bereits wusste, dass Du auf dem Felde der Ehre gefallen warst. Denn schwarz ist heut ansonsten unmodern, das kann man überall lesen. Als ich das dumme Bier trank, betrachtete ich immer wieder Deinen Brief mit der Aufschrift: „An meine Frau“ -Komisch, dass die Schwester dachte, ich hätte eine Frau. Das wär ein Witz, wenn ich verheiratet wär. Ich glaub, ich taug nicht recht dazu. Zwar wärs eine Ehrenpflicht dazu beizutragen, dass sich der eigene Volkskörper vermehrt, aber ich könnt keine Kinder ernähren. Ich bin kein Familienvater, ich bin das Schwert, das die Familien beschützt. Es geht mir in diesem Punkte genau wie Dir, mein Hauptmann -Auch Du hast keine Kinder. Und auch Du warst eigentlich unglücklich verheiratet -- still, wir habens alle gewusst! Drum wohntest Du auch bei uns in der Kasern und Deine Gattin hier heraussen in der entgegengesetzten Richtung -- Ihr verstandet Euch nicht, das war bekannt. Wir hätten es uns auch garnicht vorstellen können, wie Du mit einem Weibe auskommst, so sehr gehörtest Du zu uns. Die Kaserne war auch Dein einziges Zuhaus . Und wenn Du unsere Front abschrittest, dann fühlten wir es alle, dass Du unser Vater warst, dass wir Deine Kinder waren. Was ist daneben die Liebe eines Weibes? Ein schwacher Schimmer. Aber leider ist auch dieser schwache Schimmer notwendig, besonders wenn man längere Zeit kein Weib sein eigen nannte. So dacht ich in der letzten \Textverlust\ B

B

10

15

N

B

N

B

20

B

N

N

B

25

30

6 9

B

15 19 21 24

B

B

auch N ] das dummeN ]

KinderN ] unglücklichN ] BentgegengesetztenN ] BZuhausN ] B

N

\auch/ (1) mein (2) \das dumme/ eingefügt gemäß Korrekturschicht korrigiert aus: unglüclklich korrigiert aus: entgegensgesetzen korrigiert aus: zuchaus

322

N

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A9 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

10

Es sind zwei Schnitzel mit Salat. Sie stellt es auf den Tisch und öffnet den Schrank. „Trinken Sie Roten?“ fragt sie. „Ich trink alles“, sag ich. Sie ist sehr bleich. Wir essen und schweigen. Sie schenkt ein, zuerst sich, dann mir. Ich hebe das Glas: „Auf das Wohl der Hausfrau!“ „Danke“, sagt sie leise und isst. Wir reden nichts. Draussen läutet ein Glockenspiel – Ich horche hin. „Das ist das Stellwerk! “, sagt sie, „ vom Bahnhof. Wenn es dunkel wird, dann kann man die Signale hören“ -„Was hat das mit der Dunkelheit zu tun?“ frage ich, froh, dass ich was reden kann endlich. „Das weiss ich nicht, aber es ist halt so.“ Wir essen weiter. Und reden kein Wort. Es ist mir schon peinlich, dieses Schweigen. Plötzlich sagt sie, ohne mich anzuschauen, und indem sie in ihrem Salat prüfend herumstochert: „Es gibt unerklärliche Dinge auf unserer Erde, die wir noch nicht kennen, seltsame Dinge, unerforschte Geheimnisse -- glauben Sie daran, dass es das gibt?“ Sie wartet meine Antwort, dass ich nämlich nichts weiss, garnicht ab, sondern fährt fort, indem sie nun nichtmehr in ihrem Salat stochert, sondern die Hände an ihr Kinn stützt und die Ellenbogen auf den Tisch. „Ich hatte einst“ , sagt sie, „ einen furchtbaren Traum. Ich lag hier auf diesem Sofa und las ein Buch; aber ich hätts nicht lesen sollen, denn es war schon höchste Zeit, dass ich verreis. Da kam er herein und sagte: Höchste Zeit, komm! Ich steh \TextB

N

B

15

N

B

B

N

B

B

B

N

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BN

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BN

verlust\

12 14 14 14 14 14 15 18 19 21 22 22 27 28 28

ein Glockenspiel –N ] das Stellwerk!N ] Bsie,N ] BVom Bahnhof.N ] Bwird,N ] BN] Bman f SignaleN ] Bnicht f so.“N ] BWirN ] BN] BN] BunsererN ] BKinnN ] B„Ich f einst“N ] BN] B B

[das Bahnhofstellwerk --] |ein Glockenspiel –| [ein Signal] |das Stellwerk!| sie[.]|,| [Von]|vom| [der] Bahn[“. --]|hof.| [ist] |wird,| [ist,] man[s] \die Signale/ nicht[.“]|, aber f so.“| korrigiert aus: Wire gestrichen: \Und/ [zwischen] [der] |unserer| korrigiert aus: Kind [„An dem Tage“] |„Ich f einst“| [da er mein Mann starb, hatte ich]

323

N

N BN

ÖLA 3/W 168 – BS 26 g [2], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

5

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15

20

25

얍 Du, Du bist tot. Verschwind! Ueberhaupt ist manches Band zwischen BDir und mirN zerrissen, seit ich BesN weiss, was Du Deiner Frau geschrieben Bhast,N Bseit ichs mit eigenen Augen las!N Warum beschimpfst Du BmichN Bin Deinem Briefe?N Was tat ich Dir denn? BWollt ich Dich denn nicht retten?N Warum nennst Du mich einen ehrlosen BVerbrecher?N B Hauptmann, wasN soll das heissen?! Ich kann nur annehmen, dass Du BkrankN gewesen bist, als Du BdiesenN Brief geschrieben hast -- und BsoN Berzählt ichsN auch Deiner Witwe, dass Du anscheinend nichtmehr bei Sinnen gewesen bist, Deine Nerven BhättenN Dich BhöchstwahrscheinlichstN verlassen und BDeine verwirrte Phantasie hätt DirN Büble StreicheN gespielt. B Sie wurde immer bleicher, als sie Deinen Brief lasN und dann Bwieder rot – dunkelrot.N Dabei hatte sie den Mund etwas offen, wie ein masslos erstauntes Kind. Und dann sah sie mich an -- nein, nicht erstaunt, sondern entsetzt. Ich werd diesen Blick nie vergessen. Sie hat hellgraue Augen, Du weisst es. Und die Augen BwurdenN ganz gross und starr. Sie starrten mich an, aber es war Bmir dabeiN, als dachte sie an nichts. Sie brachte keinen Ton hervor und es wurde mir unangenehm. Den Brief hielt sie noch in beiden Händen -- und jetzt begann der Brief zu zittern. Ich wurde allmählich ungeduldig. „Was schreibt er denn?“ wollte ich sie fragen, aber sie kam mir zuvor. „Das ist ja entsetzlich“, sagte sie, und zwar sehr leise. Dann stand sie auf und ging hin und her. Was hat sie denn? Plötzlich hält sie dicht vor mir und sagt: „Und er -- er gab Ihnen diesen Brief?“ „Ja, das heisst: ich nahm ihn ihm aus der Hand“ --

3 3 4 4 5 5 5–6 6 7 8 8 9 9 10 10–11 11 11 12 12–13 16 17

[uns] |Dir f mir| \es/ hast[!]|,| [S]|s|eit ich\s/ [\es/] [weiss, was in Deinem Briefe steht [--]|!|] |mit eigenen Augen las!| BmichN ] korrigiert aus: mich\?/ Bin f Briefe?N ] [in Deinem Briefe?] [|darin?|] [|in ihm?|] |in f Briefe?| BWollt f retten?N ] \Wollt f retten?/ BVerbrecher?N ] Verbrecher\?/ [-- mich und alle meine Kameraden?] BHauptmann, wasN ] [\Als hätt i/] \Hauptmann,/ [Was]|was| BkrankN ] [total verwirrt] |krank| BdiesenN ] [Deinen] |diesen| BsoN ] [ich] |so| Berzählt ichsN ] erzählt[e] [es] |ichs| BhättenN ] h[a]|ä|[b]|tt|en BhöchstwahrscheinlichstN ] \höchstwahrscheinlichst/ BDeine f DirN ] [haben Dir einen] |Deine [kranke] |verwirrte| Phantasie hätt Dir| Büble StreicheN ] üble[n] Streich\e/ BSie f lasN ] [Als Deine Witwe den Brief las,] wurde2 [s]|S|ie1 immer3 bleicher4\, als sie Deinen Brief las/ Bwieder f dunkelrot.N ] [auf einmal ganz] |wieder| rot[.] |– dunkelrot.| BwurdenN ] (1) waren (2) wurden Bmir dabeiN ] \mir dabei/ Dir f mirN ] esN ] Bhast,N ] Bseit f las!N ] B B

324

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

„Sprechen Sie nichtmehr weiter! Still!“ unterbricht sie mich schreiend, „sprechen Sie nichtmehr weiter Sie Unmensch! Das ist ja zu grauenhaft ! Kein Wort, kein Wort!“ Sie wirft sich auf das Sofa und heult. Ich kenn mich nichtmehr aus und mir fallt das Wort ein: hysterisch. 얍 Was tun? Ich weiss es nicht und lasse sie heulen. Sie weint immer leiser und langsam richtet sie sich wieder empor, trocknet ihre Tränen mit einem kleinen Taschentuch und schneuzt sich verstohlen. Dann fängt sie wieder mit mir an: „ Hören Sie, Sie müssen mir alles erzählen, alles, alles -- jetzt ja“ -Warum jetzt? „Also“, fährt sie fort und versucht sich zu beherrschen. „Sie nahmen ihm den Brief aus der Hand?“ „Ja. Als er tot war, bemerkte ich, dass er was weisses in der Hand hält.“ „Und Sie wollten ihn retten, nicht?“ Sie fragt es mich lächelnd und mir wirds momentan kalt, denn sie lächelt ganz irr -„Ja“, sage ich. „Ich wollte ihn retten.“ „Aber Sie kamen zu spät?“ „Ja, zu spät.“ „Und Sie haben ihn abgeschnitten?“ „Abgeschnitten?!“ Ich starre sie an, sie lächelt noch immer. Von wo abgeschnitten? Ich werd ganz verwirrt. Sie lächelt nichtmehr. Sie betrachtet mich ernst. „Erzählen Sie mir alles“, sagt sie und wird immer energischer „ich habe ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, ich war ja zuguterletzt seine rechtmässige Gattin und ich will nicht, dass man mir hier mit Heldentod und dergleichen Sand in die Augen streut! Ich fordere die Wahrheit, die nackte Wahrheit!“ Sie ist verrückt geworden, durchzuckt es mich. „Hier aus diesen Zeilen , aus seinem letztem Briefe, geht es einwandfrei hervor, dass er nicht gefallen ist, sondern dass er sich erhänkt hat.“ Ich schnelle empor. 얍 „Erhänkt?!“ B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 2

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B

2 2 2 4 5 8 8 9 9 9 9 9 9 9 10 21 31

weiter f Unmensch!N ] jaN ] BgrauenhaftN ] BIch f hysterisch.N ] BN] BkleinenN ] Bverstohlen.N ] BDannN ] BfängtN ] BmitN ] Ban:N ] BHörenN ] BSieN ] BN] Bja“ --N ] BN] Bdiesen ZeilenN ] B B

N

korrigiert aus: weiter \Sie Unmensch!/!

\ja/ korrigiert aus: grauenhadt

\Ich f hysterisch./ [soll ich] [feinem] |kleinen| [verschämt.] |verstohlen.| [Und] [d]|D|ann [beginnt] |fängt| [zu] |mit| [zu reden:] |an:| [Sagen] |Hören| [jetzt] |Sie| [Sie] korrigiert aus: ja “ -gestrichen: \jedwede ‚Schonung‘!/ diese[m]|n| [Schreiben] |Zeilen|

325

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

„Hier steht es schwarz auf weiss! Er schreibt es selber! Und jetzt will ich alles genau wissen, alles, alles!“ „Aber er hat sich doch garnicht erhänkt!“ „Lügen Sie nicht!“ schreit sie mich an. „Genug gelogen!“ Jetzt wirds mir zu dumm. „Ich lüge nicht!“ fahr ich sie an. „Was fällt Ihnen eigentlich ein, was reden Sie da von Erhängen?! Keine Spur! Er ist ordnungsgemäss gefallen!“ „Gefallen?!“ unterbricht sie mich kreischend und lacht ganz eisig . „Gefallen, sagen Sie?! Hier, hier lesen Sie seinen Brief, Sie Lügner!“ Sie wirft den Brief auf den Tisch und ich seh ihn dort liegen. Aber ich rühr ihn noch nicht an. Sie tritt ans Fenster und schaut hinaus. Draussen fährt ein Zug vorbei, ein Vorortszug -„So lesen Sie ihn doch!“ fährt sie mich wieder an. „Lesen Sie ihn und seien Sie nicht so feig!“ „Ich bin nicht feig“, sage ich und werde wütend. Rasch pack ich den Brief und beginne zu lesen. „Meine liebe Frau“, lese ich, „ kurz vor meiner langen Reise in die Ewigkeit, will ich Dir nochmals danken, danken für all Deine Liebe und Treue . Verzeihe mir, aber ich kann nichtmehr weiterleben, mir gebührt der Strang“ -Der Strang? Ich stocke. Was schreibt er da, der Hauptmann? Und ich lese weiter: „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind , sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete – ich passe nicht in diese Zeit“ – Ich werfe einen Blick auf die Frau. B

B

5

Lesetext

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1 1 2 6–7 7 7 7 8 18 19 19 24 24–25 25 25 25–26 26 26–27 28

B

[ich fordere jetzt Antwort! Ich will] |jetzt will|

B

eingefügt

jetzt willN ] ichN ] Bwissen f alles!“N ] Bein f Erhängen?!N ] BErhängen?!N ] BKeine Spur!N ] BErN ] BeisigN ] BN]

wissen[!“] |, alles, alles!“| ein[?!] |, was f Erhängen?!| korrigiert aus: Erhängen?!“ [Er hat sich \doch gar/ nicht erhänkt,] |Keine Spur!| [e]|E|r [kalt] |eisig| [wenn Du diese Zeilen erhältst, dann bin ch nichtmehr. Verzeih mir, aber ich kann nicht anders] BN] [alles] Bund TreueN ] \und Treue/ BelendeN ] \elende/ BRäuber, feigeN ] Räuber\,/ [und] [|nichtswürdige|] |feige| BehrlichN ] \ehrlich/ Beinen FeindN ] [Soldaten ehrlich] |[den]|einen| Feind| Btückisch f niederträchtigN ] \tückisch f niederträchtig/ BWeiberN ] Weibe\r/ BVerwundete f Zeit“ –N ] Verwundete[“ --] [|. Ich|] |[,] |–| ich f Zeit“ – | BN] [Sie f Fenster]f x

326

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext

Sie steht noch immer am Fenster 얍 und schaut hinaus. Gegen Weiber? Ja, das stimmt. „Ich glaube“, schreibt der Hauptmann, „ich pass nichtmehr in die Zeit –“ Ich schau die Frau Hauptmann an und denke: passt Du in die Zeit? Und ich frage mich: pass ich in die Zeit? Und blitzschnell geht ein Gedanke vorbei: was ist die Zeit? „Es ist eine Schande“, lese ich weiter, „und was mich am tiefsten schmerzt ist der Untergang meines Vaterlandes. Denn jetzt erst hat mein Vaterland seine Ehre verloren und zwar für immer. Gebe Gott mir die Kraft, dass ich ein Ende machen kann, denn ich will nicht als Verbrecher weiterleben, mich eckelt vor meinem Vaterlande, es sei verflucht“ -Verflucht? Die Frau schaut noch immer zum Fenster hinaus. Was gibts denn dort draussen so interessantes. Wenn an garnichts anderem, so erkenne ich an diesem einem Satze, dass er verwirrt gewesen ist -Warum verfluchst Du Dein Vaterland? Ach, Hauptmann, Du bist verwirrt und die Bande, die uns verbanden lösen sich immer mehr -- Herr Hauptmann, was war nur mit Dir? Du hattest von Deiner Beliebtheit schon so manches verloren. B

B

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5

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 4

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Einige murren sogar. Wir schütteln oft alle die Köpfe -Oder: magst Du uns denn nichtmehr? Hauptmann, wie soll das enden mit Dir? Wohin soll das führen? B

25

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 9

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BN

Ja, es ist wahr, Du wolltest nichtmehr bei uns sein, bei Deinen Soldaten. Und das fühlten wir schon damals – erinnerst Du Dich? N

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30

1 1 1 2 2 3 4 4 8 8 9–10 13–14 20 21 22–26 27 28 28 29 30

Sie f FensterN ] FensterN ] BN] BGegen f stimmt.N ] BWeiber?N ] B„Ich f Zeit –“N ] B B

IchN ] passtN ] BVaterlandes.N ] BDenn f erstN ] Bkann f ichN ] BDie f interessantes.N ] BDu f verloren.N ] BN] BEinige f führen?N ] BN] BJa f wahr,N ] Bsein f Soldaten.N ] B– erinnerst f Dich?N ] BN] B B

Sie f Fenster Fenster[,] [Gegen f stimmt.]f x xGegen f stimmt. Weiber[?] [|kämpfen, schreibt der Hauptmann.|] |?| [Aber Krieg ist Krieg.und wir sind alle verroht, das liegt an der Zeit, die Sitten sind roher geworden, wir sind alle verroht.] |„Ich f Zeit –“| [Und] [i]|I|ch [P]|p|asst Vaterlandes\./ [in der Schmach.] Denn1 jetzt2 erst3 kann[.]|,| [Ich kann und] |denn ich| [Lächerlich!] |Die f interessantes.| \Du f verloren./ gestrichen: \S. 35 ....... Wohin soll das führen?/ x

vgl. K3/TS4

[Jetzt f hast --]f x \Ja f wahr,/ sein[.]|, bei Deinen Soldaten.| [und es tut uns leid.] |– erinnerst f Dich?| [Erinnerst Du Dich?]

327

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext

Zum Beispiel, wie Du es erfahren hast, dass wir drei Gefangene erledigt hatten, was hast Du damals nur getrieben? BN

얍 5

10

15

20

Und derweil wars doch zuguterletzt nur ein beschleunigtes Verfahren -- vielleicht brutal, zugegeben! Man gewinnt keinen Krieg mit Glacéhandschuhen, das müsstest Du wissen! Aber Du schriest uns wieder an, ein Soldat sei kein Verbrecher und solch beschleunigtes Verfahren wäre frontunwürdig! Frontunwürdig? Was heisst das? Wer erinnern uns dunkel, dass dies ein Ausdruck aus dem Weltkrieg 얍 ist -- wir haben ihn nichtmehr gelernt. Und Du hast dem Kameraden, der auf die Idee mit dem Abgrund gekommen war, eigenhändig seinen Stern vom Kragen gerissen, seinen silbernen Stern -Sag, Hauptmann, was hat das für einen Sinn? Am nächsten Tag hat er doch seinen Stern wieder gehabt und Du, Du hast einen strengen Verweis bekommen -- wir wissens alle, was in dem Schreiben stand. Der Leutnant hats uns erzählt. Die Zeiten, stand drinnen, hätten sich geändert und wir lebten nichtmehr in den Tagen der Turnierritter. Hauptmann, mein Hauptmann, es hat keinen Sinn! Glaub es mir, ich mein es gut mit Dir – 얍 Denn sprang ich Dir nicht nach? Wollte ich Dich denn nicht vom Tod zurückreissen? Jetzt weiss ichs ja, warum Du in das Maschinengewehr hineingelaufen bist, jetzt weiss ichs, was Du gesucht hast -Ja, ich hätte Dir keinen Gefallen getan. Aber mein Arm musste daran glauben. Er ist noch immer nicht ganz und vielleicht wird ers auch nimmer. 얍 Wie kannst Du mich einen Verbrecher nennen, wo ich Dir helfen wollte? Wie kannst Du mich verfluchen? Denn ich gehör doch auch zum Vaterland. Und Deine Frau dort am Fenster ebenfalls. B

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 8

ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 9

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ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 4

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3 4–20 21–26 22 22 22 22

BN

] Und f Sinn!N ] BGlaub f glauben.N ] BDennN ] BichN ] BnichtN ] Bnach? f nichtN ]

24–25 26 26 27

B

27 28 29 31

B

B

Jetzt f hast --N ] Ja f getan.N ] BAberN ] BimmerN ] B

ersN ] nennen f wollte?N ] Bverfluchen?N ] Bdort f FensterN ] B

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30

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gestrichen: (Seite 34 – 35) .... vgl. K3/TS4

\Glaub f glauben./ [Ich] |Denn| \ich/ [ja auch] |nicht| nach\?/ [und] [[war] [|opferte Dir mein|] |mein|] |[w]|W|ollte \ich/ Dich [zu] |denn nicht|| xJetzt f hast -\Ja f getan./ [Und] |Aber| (1) immer (2) [|heut|] er\s/ nennen[?] |, wo ich [Dich beschützt] |Dir helfen| wollte?| verfluchen[?] [|, wo ich mich für Dich opferte|] |?| \dort f Fenster/

328

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext

BN

Aber vielleicht, wenn Ihr Euch gestritten habt, wärs ihr lieber gewesen, Du wärst zurückgekommen -Sie ist zwar noch eine junge Frau und wird sich trösten. Aber trotzdem, trotzdem -- dass der einzelne keine Rolle spielt, Du hättest es nicht tun dürfen, schau, sie ist ja ganz ausser sich -Ich werds ihr jetzt auch sagen, dass es kein Strang gewesen ist . Ich werd sie beruhigen, dass es nur ein feindliches Maschinengewehr war – Und ich sag es ihr. Sie hört mir aufmerksam zu und fragt dann: „Ist das auch die Wahrheit?“ „ Ja.“ Sie sieht mich traurig an mit ihren hellen Augen und lächelt ein bisschen. Dann schweigen wir wieder. Plötzlich wendet sie sich mir wieder zu und sagt: „Es ist auch wirklich nicht vornehm, so ein kleines Land zu überfallen.“ Warum? Wieso nicht? Und ich sage: „Man kann doch da nicht nach so simplen arithmetischen Grössen rechnen.“ Sie sieht mich gross an: „Würden Sie ein kleines Kind schlagen?“ „ Das nicht. Aber ich weiss schon auf was Sie hinauswollen, gnädige Frau.“ Sie nickt mir wieder zu und sieht wieder zum Fenster hinaus. „Aber im internationalem Völkerzusammenleben ist das doch was anderes, da gelten doch keine menschliche Gesetze.“ „ Stimmt junger Mann“, sagt sie und es klingt ironisch. 얍 B

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1 2 2 7 7 7 8 8 11 20–21 20 21 24 25 25 26

BN

[Hast Du an sie garnicht gedacht?]

B

] vielleicht,N ] BgestrittenN ] Bes keinN ] BN] Bgewesen istN ] BnurN ] Bwar –N ] BJa.“N ] BDas f Frau.“N ] BAber ichN ] BFrau.“N ] BGesetze.“N ] BStimmtN ] Bes klingtN ] BN]

korrigiert aus: vielleicht , korrigiert aus: gestrit ten

[Du Dich nicht mit] |es kein| gestrichen: dem

[erhängt hast] |gewesen ist| [\nur/] |nur| [gewesen ist --] |war –| korrigiert aus: Ja“. [Nein.“] |Das f Frau.“| [Ich] |Aber ich| korrigiert aus: Frau. korrigiert aus: Gesetze“. korrigiert aus: Stimmt“ [lächelt] |es klingt| [Sie schweigt noch immer.] [|Und dann [schwei] |schweigt| sie.|]

329

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 6

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext

Wie kommt sie dazu, mir junger Mann zu sagen ? Wo sie doch selber höchstens acht Jahr älter ist als ich. Und wieder fällts mir auf , dass zwischen dem Hauptmann und ihr ein grosser Altersunterschied bestanden haben muss – Sie unterbricht meine Überlegungen. „Es weiss also niemand, dass er freiwillig in den Tod ging?“ „Kein Mensch .“ „Also nur wir zwei und der liebe Gott dort droben? “ „Ja. Nur wir drei.“ Pause. B

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BN

Dann sagt sie: „ Wollen Sie mir etwas versprechen?“ „Natürlich.“ „Behalten wir diesen Brief für uns.“ „Ja.“ „Es soll niemand was davon wissen.“ „Ja.“ Sie nimmt den Brief an sich und wirft mir einen Blick zu: „Jetzt sind Sie mein Mitwisser. Der liebe Gott wird ja schweigen. “ Sie lächelt müde . Sie ging aus dem Zimmer und liess mich allein. BN

15

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1 1 1 1 2 2 2 3 3 4–9

4 5 5 6 7 8–9 10 11 12 18 19 19 20

B

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 7

N

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Wie[so] [sagt sie] |kommt sie dazu,| \zu sagen/ [Sie ist] |Wo sie| \selber/ \ist/ [wie] |als| Und1 [ich4 muss3] wieder2 [denken5] |fällts mir auf| (1) gewesen (2) bestanden Bmuss –N ] muss[.]|–| BSie f Pause.N ] 얍 [Plötzlich wendet sie sich wieder mir zu. „Es weiss also niemand was davon, dass er freiwillig in den Tod ging?“ „Nein.“ „Also nur wir zwei und der liebe Gott dort droben?“ „Ja.“ Pause.] |Sie f Pause.| BSie f Überlegungen.N ] [Plötzlich wendet sie sich wieder mir zu.] |Sie f Überlegungen.| Bniemand,N ] niemand\,/ [was davon] [|, sa|] BN] gestrichen: , BMenschN ] M[ ]|e|nsch Bdroben?N ] droben[.]|?| B„Ja f Pause.N ] \„Ja f Pause./ BN] gestrichen: \(S. 59.)/ BN] [\Sie/] BN] [Der liebe Gott wird ja schweigen.]f x Bzu:N ] korrigiert aus: zu : BDer f schweigen.N ] xDer f schweigen. BmüdeN ] (1) leise (2) müde BSie f allein.N ] [„Ja.“] |Sie f allein.| Wie f dazu,N ] zu sagenN ] BWo sieN ] BselberN ] BistN ] BalsN ] BUnd f aufN ] BbestandenN ] B B

330

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext

BN



5

„Es gibt nur ein Gesetz.“ Ich trete ans Fenster. Dort in der Ferne liegt das Land. Dort liegt mein Hauptmann -Dort wurd ich verletzt. Und plötzlich fällts mir ein, dort gabs ja so eine Siedlung, in der wir plünderten, sie war so ähnlich wie die hier -Und da ging er fort, der Hauptmann. Er setzte sich auf einen Stein. Hauptmann, was ist mit Dir los? Der Hauptmann ist ein anderer Mensch geworden -B

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ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 8

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Und ich sage: „Gnädige Frau, ich wollte ihn retten und dabei verletzte ich meinen Arm. Er wurde zersplittert und ich lag jetzt lang im Lazarett . Den ganzen Sommer über und jetzt ist schon Herbst.“ Sie sah mich an und sagte nur: „Ach!“ „Er ist noch immer nicht ganz gesund, obwohl die Kunst der Aerzte dafür garantieren wird, dass er wieder wird.“ So sprachen wir über meinen Arm. Sie erkundigte sich, ob er noch schmerzt? Manchmal, sagte ich, und ich könnt ihn auch noch nicht so richtig wieder bewegen. B

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BN

Und sie fragte: wie gehts denn im Krankenhaus? Sind Sie anständig verpflegt? Oh ja. Ich erzähle ich, was wir zum essen bekommen. BN

1

BN

7 12

B

17 26

B

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BN

]

plünderten,N ] ]

BN

LazarettN ] BN] ]

[Pause. Dann sagt sie wieder: Was habt Ihr denn alles verbrochen, dass er so ausser sich geriet -„Ich weiss es nicht. Wir taten unsere Pflicht.“ „Ja, er war manchmal überempfindlich und was die Ehre betrifft, er war noch ein Soldat vom alten Schrot und Korn. Ich kanns mir schon denken, dass Ihr gehaust habt -- und fein ist es ja nicht so ein kleines Land zu überfallen. Fein wirklich nicht.“ Wieso nicht? Was meint sie? „Würden Sie ein kleines Kind schlagen?“ „Nein.“ „Na also!“ „Aber im Völkerleben ist das doch ganz anders. Da gelten andere Gesetze.“] korrigiert aus: plünderten , gestrichen: (Aus „Der Hauptmann“); vermutlich Verweis auf K3/TS4/ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 6 und 7 korrigiert aus: Lazaret

[\Und plötzlich sagte sie: „Es ist gut für ihn, dass er fiel. Er passte nichtmehr in unsere Welt.“/] [Sie hört mir zu, als würde sie an etwas anderes denken oder sich etwas überlegen, plötzlich fragt sie mich: „Essen Sie gern ein Schnitzel?“ „Natürlich“, sage ich, „wer ist das nicht gern?“]

331

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext



5

„Dann bleiben Sie doch hier heut abend. Der letzte Zug fährt um zehn Uhr zurück.“ „Gern!“ „Aber dann müssen Sie mir nur noch etwas holen aus dem Laden“, sagt sie, ich werd inzwischen alles herrichten. Ich kann nicht fort, ich bin allein.“ Ich gehe in den Laden. Es ist dunkel geworden und ich kaufe ein. In dem Laden stehen verschiedene Käufer, Dienstmädchen undsoweiter. Auch eine alte Frau. Ich bin der einzige Mann. Und plötzlich muss ich denken: sie sagte, mein Mann kaufte auch immer ein. Und der Hauptmann stand auch da, vielleicht auf demselben Flecke, wo ich nun stehe und kaufte ein. Und ich denke: jetzt bist Du der Hauptmann. Und Du hast eine Frau. Und vielleicht ist es schön, zu wissen, dass sie zuhause ist und kocht für Dich, die Schränke aufmacht, die Gläser auf den Tisch stellt -Vielleicht ist es viel schöner, als in Reih und Glied zu stehen. Das Kollektiv kommt mir plötzlich so einsam vor, -Vielleicht ist man allein garnicht so allein, wenn man nämlich mehr zu sich selber kommt. Jawohl, mehr zu sich selber. Manchmal kann ich mir das Vaterland ohne dem Hauptmann garnicht so richtig 얍 vorstellen. Dann schau ich mich um und denke: schau Dirs an, das ist Dein Vaterland, es gehört Dir -Mir? Manchmal werd ich unsicher -Auch jetzt, als ich da herausfuhr, stand ich am Fenster des Zuges und sah hinaus. Die Leute auf den Bahnsteigen. Die Reklameschilder, die Arbeiter, die Frauen, die Schaffner -- die Villen im Grünen, die alten Häuser, die Fabriken, die Autos, die Pferde, das ist mein Vaterland -Und das gehört alles auch mir. B

B

10

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ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 9

N

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Damit es gedeihe und blühe. Damit noch mehr Züge hier fahren, noch mehr Wägen, noch mehr Menschen. Und er gab auch sein Leben für seine Frau, damit sie keiner bedroht -Doch wer hat sie bedroht? Das kleine Land, das wir uns holten, hat sie doch nicht bedroht -In mir verwirren sich die Gedanken, nein, ich will nicht weiterdenken, die Führer werdens schon richtig machen, ich bin nicht zum denken auf der Welt, ich bin das Schwert! Ich bin das ausführende Organ. 8 9 19 22

B

demN ] eineN ] BN] Bes N ]

30 31

B

B

auchN ] ]

BN

korrigiert aus: den korrigiert aus: ein gestrichen: \„Der Irrtum“/ (1) das (2) es

\auch/ [\(/Dafür hab ich meinen Arm verletzt\)/ [und] dafür ist der Hauptmann gefallen. Er gab sein Leben für das alles --]

332

ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 14

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Lesetext

Und auch die Wege unserer Führer sind unenträtselbar für einen einfachen Volksgenossen, genau wie die Wege Gottes. Und damit Schluss! -B

N

BN

얍 5

10

Sie kommt mit den Schnitzeln und einer Flasche Wein. „Trinken Sie roten?“ fragt sie. „Ich trink alles“, sag ich. Sie ist sehr bleich. Wir essen und schweigen. Sie schenkt ein. Ich hebe das Glas: „Auf das Wohl der Hausfrau!“ „Danke“, sagt sie. Wir trinken. Wir reden kaum ein Wort. Draussen läutet das Stellwerk. Plötzlich sagt sie: „Es gibt sonderbare Dinge, an dem Tage, da er fiel, hatte ich einen furchtbaren Traum. Ich lag im Bett und er kam hier in den Salon herein, er hatte einen Verband um die Stirne, ich schrie auf und er lächelte mir nur leise zu: als würde er sagen: „Still , still!“ Und dann war er wieder weg, er ging durch diese Türe hinaus.“ „Wohin geht die Türe?“ „In mein Schlafzimmer.“ Die Signale. Das Stellwerk. Wir essen weiter. Plötzlich sagt sie wieder: „Es gibt unerklärliche Dinge zwischen Himmel und Erden, die wir nicht kennen -- glauben Sie daran, dass es das gibt?“ „Ich weiss nicht“, sage ich, „ich kenne mich da nicht so aus in diesen Dingen. Aber es ist natürlich alles möglich und sicher wissen wir vieles noch nicht.“ Sie trinkt viel. 얍 B

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 10

N

N

B

B

N

15

B

B

20

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B

2 3

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B

Schluss! --N ] ]

BN

10 11 13–14

B

15

B

lächelte f zu:N ]

16 20

B

„StillN ] Die f Stellwerk.N ]

„Auf f Hausfrau!“N ] „Danke f sie.N ] Bhatte f Traum.N ] B

B

korrigiert aus: Schluss!-얍 [Und vielleicht sind die Frauen garnicht so, wie ich sie sehe. Vielleicht bin ich blind -Möglich sogar -Denn ich liebe ja niemand. Keine Seele. Eigentlich hasse ich alle -Nur unseren Hauptmann hasste ich nicht. Und ich kaufe der Witwe eine Schachtel Schokolade. Sie wird sich freuen. Denn das schickt sich so, wenn man eingeladen ist. Sie freute sich auch, aber sie sagte: wozu diese Auslage, Sie habens doch sicher nicht so dick. Aber sie sagte trotzdem Danke und freute sich und 얍 trug die Bonbons in ihr Schlafzimmer. [\Sie geht in die Küche./] Ich bleibe allein im Zimmer, sie richtet noch in der Küche. Ich höre manchmal das Geräusch. Ich setze mich in einen Clubsessel. Im Schrank steht das Konversationslexikon. Das hat der Hauptmann gelesen. Und da stehen militärische Bücher: das ist seine Lektüre. Und Romane: das liest sie.] [„Prost!“] |„Auf f Hausfrau!“| \„Danke f sie./ (1) schreckte ich plötzlich zusammen, (2) hatte f Traum. (1) sagte (2) lächelte f zu: korrigiert aus: Still \Die f Stellwerk./

333

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 11

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 9

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 10

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

„Ich möchte mich heute betrinken“ , sagt sie. „Was sind Sie eigentlich von Beruf? Student?“ Ich? Student? Seh ich denn so aus? Soll ich ihr sagen, dass ich nichts bin? Die Badehütten, usw -Und ich sage: ja, ich bin Student, und bin dann eingerückt. Es schmeichelt mich, dass sie mich für einen Studenten hält. Ich kann plötzlich so frei mit ihr reden. Ich habe noch nie mit einer Dame so geredet, so eingeladen, war ich noch nie -- und es ist mir plötzlich so, dass ich sie liebevoller ansehe. Schau, auch mit so einer Dame kann man reden, mit der Witwe eines Hauptmanns, aber man muss sich für einen Studenten ausgeben. Und ich erzähle ihr, dass ichs nicht für richtig halte, dass er in den Tod ging und nicht an sie dachte -- denn ich würde an mein Weib denken, wenn ich eins hätte und das war momentan ehrlich von mir. Glaube es mir, lieber Hauptmann! Momentan ists mir, ich würde auch das Vaterland vergessen können wegen ihr, 얍 und es wird mir ganz eigen zu Mut -- als wär das Vaterland nur ein schwacher Ersatz -B

5

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B

B

N BN

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B

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B

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B

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B

20

Lesetext

N B

N

B

N

BN

Und auf einmal sagt sie, wir, er und ich, wir lebten ja auch nicht so glücklich zusammen. Er kannte nur seinen Beruf. Die Pflicht war ihm alles und oft war eine Wand zwischen uns und ich sass hier oft und weinte, ich war viel einsam -1 1 1

8 9 12 15 16 16 17 18–19 18 18 18 21

[\Ich f betrinken“] |Ich f betrinken“| korrigiert aus: sie, [„ich weiss nicht, das hat mich alles so erschüttert, und ich muss sagen, ich werde einen Gedanken nicht los -- halten Sie es für richtig, dass er in den Tod geht und doch an mich garnicht denkt?“ „Hm.“ „Sie sind jetzt mein Mitwisser,Sie sind der einzige und ich weiss garnicht, wer sie sind, ich seh nur, sie haben drei silberne Sterne --“ „Hm.“ „Ich kann nur mit Ihnen drüber reden, wenn die wüssten, diesen Brief, sie würden ihn noch ausscharren und in der letzten Ecke des Friedhofs begraben.“ „Hm.“] Bschmeichelt mich,N ] [freut mich,] |schmeichelt mich,| BeinerN ] korrigiert aus: eine Bder WitweN ] korrigiert aus: derWitwe Bmein f hätteN ] [sie denken] |mein f hätte| BwarN ] [ist mir] |war| Behrlich f mir.N ] ehrlich[.] |von mir.| BGlaube f Hauptmann!N ] \Glaube f Hauptmann!/ BMomentan f ihr,N ] [Momentan f ihr,] BvergessenN ] vergesse\n/ BkönnenN ] \können/ Bund f Ersatz --N ] [und f Ersatz --] |und f Ersatz --| BN] [Für was? Ist das das bequeme Leben? Vielleicht. Vielleicht komm ich noch auf den Geschmack -Und ich muss plötzlich an meinen Vater denken, der in seiner Wirtschaft herumhinkt und er tu beginnt mir leid zu tun -Komisch, ich werd ein besserer Mensch, ein gütigerer --] Ich f betrinken“N ] sie.N ] BN] B B

334

ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 12

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A10 (Korrekturschicht)

Es wird immer später. Ich muss jetzt gehen, sage ich. Wir haben noch Wein, sagt sie. Mein Arm beginnt weh zu tun. Sie sagt: Sie können ruhig hier übernachten, auf dem Sofa. Wenn Sie wollen. Aber das geht doch nicht -Warum nicht? Sie stören niemand. Und ich bin garnicht gern allein in der Wohnung. Es kommen oft so Bettler -Bettler?! Das Wort versetzt mir einen Stich. Und sie sagt: „Sie verlangen oft mehr und sind garnicht zufrieden, wenn man ihnen paar Groschen gibt. Neulich war einer da, der warfs mir vor die Füsse.“ Und ich denk an die fünf Taler. Jetzt läutet das Stellwerk. Sie horcht auf: „Jetzt müssen Sie bleiben --“ Es war der letzte Zug. B

N

B

5

10

N

B

B

15

Lesetext

N

N

\Textverlust\

3 4

B

5 12

B

B

B

Wir f sie. N ] beginnt f tun.N ] hier f Sofa.N ] verlangenN ]

[Wir f sie.] |Wir f sie.| (1) schmerzt mich (2) beginnt f tun. [hier f Sofa.] |hier f Sofa.| ver\l/angen

335

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A11 (Grundschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

10

15

20

25

Aber mein Arm musste daran glauben. Er ist noch immer nicht ganz und vielleicht wird ers auch nimmer. Wie kannst Du mich einen Verbrecher nennen, wo ich Dir helfen wollte? Wie kannst Du mich verfluchen? Denn ich gehör doch auch zum Vaterland. Und Deine Frau dort am Fenster ebenfalls. Wenn Ihr Euch auch immer gestritten habt, es wär ihr doch sicher lieber gewesen, Du wärst wieder zurückgekommen -Sie ist zwar noch eine junge Frau und wird sich schon trösten. Aber trotzdem -- trotzdem, dass der einzelne keine Rolle spielt, Du hättest es nicht tun dürfen, schau, sie ist ja ganz ausser sich. Ich werds ihr jetzt auch sagen, dass da keinerlei Strang eine Rolle spielte, ich werd sie beruhigen, dass es nur ein feindliches Maschinengewehr war -Und ich sag es ihr. Sie hört mir aufmerksam zu und fragt dann: „Ist das auch die Wahrheit?“ „Ja.“ Sie sieht mich traurig an mit ihren hellen Augen und lächelt ein bisschen. Dann schweigen wir wieder. Plötzlich sagt sie: „Es ist auch wirklich ein Verbrechen, so ein kleines Land zu überfallen“ -Wieso? Sie mustert mich. „Würden Sie ein kleines Kind schlagen?“ „Ich weiss schon, auf was Sie hinauswollen, gnädige Frau -- klein oder nicht klein: im internationalem Völkerzusammenleben gelten keine menschlichen Gesetze.“ B

N

\Textverlust\

26

B

internationalemN ]

internationa[nl]|le|m

336

ÖLA 3/W 170 – BS 26 g [4], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A12 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

Aber mein Arm musste daran glauben. Er ist noch immer nicht ganz und vielleicht wird ers auch nimmer. Wie kannst Du mich einen Verbrecher nennen, wo ich Dir helfen wollte? Wie kannst Du mich verfluchen? Denn ich gehör doch auch zum Vaterland. Und Deine Frau dort am Fenster ebenfalls. Wenn Ihr Euch auch immer gestritten habt, es wär ihr doch sicher lieber gewesen, Du wärst wieder zurückgekommen -Sie ist zwar noch ein junges Weib und wird sich schon trösten. Aber trotzdem -- trotzdem, dass der einzelne keine Rolle spielt, Du hättest es nicht tun dürfen, schau, sie ist ja ganz ausser sich. Ich werds ihr jetzt auch sagen, dass da keinerlei Strang eine Rolle gespielt hat , ich werd sie beruhigen, dass es nur ein feindliches Maschinengewehr gewesen ist – Und ich sag es ihr. Sie hört mir aufmerksam zu und fragt dann: „Ist das auch die Wahrheit?“ „Ja.“ Sie sieht mich traurig an mit ihren hellen Augen und lächelt ein bisschen. Dann schweigen wir wieder. B

10

N

B

B

15

ÖLA 3/W 170 – BS 26 g [4], Bl. 2

N

N

BN

20



„Stimmt, junger Mann“, sagt sie und es klingt ironisch. Wie kommt sie dazu, mir so schnippisch junger Mann zu sagen? Wo sie doch selber höchstens acht Jahr älter ist -- und wieder fällts mir auf, dass zwischen dem Hauptmann und ihr ein grosser Altersunterschied bestanden haben muss -BN

25

Sie sieht mich gross an: „Wollen Sie mir etwas versprechen?“ „Natürlich.“ „Behalten wir den Inhalt dieses Briefes für uns, bitte --“ „ Bitte“ –

BN

B

N

10 13 14 20

B

ein f WeibN ] gespielt hatN ] Bgewesen ist –N ] BN]

25

BN

26 29

BN

B

B

]

] Bitte“ –N ]

ein[e] junge\s/ [Frau] |Weib| \ge/spielt[e] \hat/ [war --] |gewesen ist –| [Plötzlich sagt sie: „Es ist auch wirklich ein Verbrechen, so ein kleines Land zu überfallen“ -Wieso? Sie mustert mich. „Würden Sie ein kleines Kind schlagen?“ „Ich weiss schon, auf was Sie hinauswollen, gnädige Frau -- klein oder nicht klein: im internationalem Völkerzusammenleben gelten keine menschlichen Gesetze.“] [Sie unterbricht meine Ueberlegungen. „Es weiss also niemand, dass er [freiwillig] [in den Tod ging] [|such|]?“ „Kein Mensch.“ „Also nur wir zwei und der liebe Gott dort droben?“ „Ja.Nur wir drei.“ Ich wunder mich, wie ruhig sie geworden ist.] gestrichen: \1.)/ korrigiert aus: Bitte[,]|“ – | [jederzeit].“

337

ÖLA 3/W 170 – BS 26 g [4], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K3/TS10/A12 (Korrekturschicht)

„Es wär mir nämlich sehr, sehr peinlich, wenn jemand den wahren Tatbestand erfahren würde – ich stamme aus einer alten Beamten- und Offiziersfamilie und, wenn dieser Brief bekannt werden würde, gäbs nur einen unnützen Skandal.“ „Zu Befehl.“ „Die wären imstand und liessen ihm selbst im Grab keine Ruh. Sie würden ihn ausgraben und irgendwo verscharren, in der letzten Ecke des Friedhofs!“ „ Nicht unmöglich –“ Sie nimmt den Brief an sich und richtet sich das Haar. „ Sie sind jetzt mein Mitwisser“, sagt sie und lächelt wieder ein bisschen. „Und auf Sie kommts an, nur auf Sie, denn der liebe Gott, der wird ja schweigen“ -Dann verlässt sie das Zimmer und lässt mich allein. B

5

B

B

BN

10

Lesetext

N

B

N

B

B

N

N

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B

N

BN

Sie richtet das Abendessen. In der Küche. Denn, wie gesagt, ich sollte bei ihr essen, weil mein Zug erst um 9 Uhr 12 zurückfuhr. Ich schau mich im Zimmer um. Im Bücherschrank steht ein Lexikon und Romane. Die gehören ihr. Und militärische Bücher. Erinnerung an den Weltkrieg. Die gehörten ihm. Auf dem Tischchen stehen noch die Zigaretten, ich zünde mir eine an. B

15

20

N

\Textverlust\

1–7

1 7 9 9 9 11 11 12 13

B

„Es f unmöglich –“N ]

denN ] Nicht unmöglichN ] BN] BSieN ] BjetztN ] BverlässtN ] BdasN ] BN] BIn f Küche.N ] B B

(1) „Es soll niemand was davon wissen, es soll unser Geheimnis bleiben, sonst

sind die imstand und lassen ihm noch im Grab Heldengrab keine Ruhe und graben ihn um -- und er war doch ein Held, ein wirklicher Mann.“ \verscharren ihn in der letzten Ecke des Friedhofs./ „Ja.“ (2) \„Es f unmöglich –“/ [die] |den| [Das wär schon] |Nicht| \un/möglich gestrichen: \2.)/ [Jetzt] |Sie| [Sie]|jetzt| [geht] |verlässt| korrigiert aus: aus dem [\Sie ging in die Küch/] \In f Küche./

338

Fragmentarische Fassung

K3/TS11/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

5

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15

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30

35

40

얍 selbstredend! Sehr bequem wirst Du es zwar nicht haben, denn ich hab jetzt ein anderes Zimmer.“ „Ein anderes?“ „Ja, es ist etwas kleiner, eigentlich sogar um ein ziemliches kleiner als das frühere -- die allgemeine wirtschaftliche Lage ist eben nicht gerade rosig, obwohl wir das Land erobert haben.“ Wir? Du hast das Land erobert? Was redet er da für Zeug? „Aber all diese Strömungen, Stockungen und Schwierigkeiten sind sicherlich nur vorübergehender Natur. Wir werden die Früchte unseres Sieges noch BerntenN, verlass Dich drauf!“ Himmelherrgott, meint er das ernst oder nicht?! Es wird mir allmählich zu dumm. „Das BwundertN mich, dass Du so redest“, sage ich. „Warum, wieso?“ „Früher hast Du doch immer behauptet, jeder Sieg ist zuguterletzt eine Niederlage und es würd nur eine Macht profitieren, ob Sieg oder Niederlage, nur eine Macht, nämlich die Rüstungsindustrie“ -„Unsinn!“ unterbricht er mich barsch. „Heut ist doch das alles anders! Für uns ist das kein Problem mehr! Seit einem halbem Jahr steht doch unsere Rüstungsindustrie unter staatlicher Kontrolle, gewissermassen ist sie sogar eigentlich schon verstaatlicht und drum liegen natürlich die Dinge heutzutag diametral anders im Raum! Heut B profitiertN die Allgemeinheit davon, wir alle, Bich,N Du, das ganze Volk -- -- was glotzt Du mich denn so geistreich an?“ Ich glotze ihn dumm an, weil ich plötzlich denken muss: wieso das ganze Volk? B WiesoN Du und wieso ich? Ich gab doch meinen Arm und Du hast ein kleineres Zimmer -Aber es hilft mir nichts, es kommt eine Frage und setzt sich an meinen Tisch. Sie 얍 lässt mich nicht aus den Augen, während mein Vater dahinredet wie ein reissender Fluss. „Tröst Dich nur, es wird schon werden, Sorgen hat ein jeder, ob reich, ob arm“ -so rauscht der Fluss an mir vorüber und die Frage lächelt undurchsichtig. Mich fröstelt. Sie lehnt sich zurück, die Frage, wie ein höhnischer Lehrer in der Schule: „Nun, mein Kind, so antworte doch! Was heisst das eigentlich: die Allgemeinheit?“ Es wird mir einen Augenblick schwarz vor meinem Hirn und ich hör meinen Vater aus der Ferne: „Es ist zwar richtig, dass Du nichts gelernt hast, keinen richtigen zivilen Beruf und das ist allerdings arg, aber hunderttausend anderen gehts ebenso, Du bist nicht der einzige, merk Dir das! Du bist eben leider ein Kriegskind und heut bist Du zum Lehrling schon zu alt, als ungelernter Arbeiter kannst auch nicht gehen, dazu fehlt Dir ja Bdie Vollkraft Deines ArmesN -- aber hunderttausend anderen gehts ja 11 15 24 24 27 42

B

korrigiert aus: ernsten

B

erntenN ] wundertN ] BprofitiertN ] Bich,N ] BWiesoN ] Bdie f ArmesN ]

wunder\t/ pr[i]|o|fitiert ich\,/ [und] korrigiert aus: wieso (1) der Arm (2) die f Armes

339

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 5

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 6

Fragmentarische Fassung

K3/TS11/A1 (Korrekturschicht)

ebenso, Du bist nicht der einzige, mehr Dir das! Du bist eben leider ein Kriegskind und die haben alle nichts richtiges gelernt, hast halt auch alles richtige versäumt -doch halt-halt! Mir fällt grad etwas ein und das dürft einen Ausweg bedeuten -- hör mal her, Dein Vater ist nicht der Dümmste, merk Dir das! Ich denk nämlich, gerade jetzt, wo wir doch soviel neue fruchtbare Landstriche erobert haben, die doch auch besiedelt gehören -- geh doch dorthin!“ „Wohin?“ „Vielleicht hilft Dir der liebe Gott und Du kannst was erreichen. Ich an Deiner Stell täts sofort.“ „Was?“ „Auswandern.“ „Auswandern?“ „Da \Abbruch der Bearbeitung\ B

5

10

Lesetext

B

2 5

B B

gelernt, hastN ] neue fruchtbareN ]

N

N

korrigiert aus: gelernt hast korrigiert aus: neues fruchtbares

340

Fragmentarische Fassung

K3/TS11/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

5

10

15

20

25

30

35

얍 selbstredend! Sehr bequem wirst Du es zwar nicht haben, denn ich hab jetzt ein anderes Zimmer.“ „Ein anderes?“ „Ja, es ist etwas kleiner, eigentlich sogar um ein ziemliches kleiner als das frühere -- die allgemeine wirtschaftliche Lage ist eben nicht gerade rosig, obwohl wir das Land erobert haben.“ Wir? Du hast das Land erobert? Was redet er da für Zeug? „Aber all diese Strömungen, Stockungen und Schwierigkeiten sind sicherlich nur vorübergehender Natur. Wir werden die Früchte unseres Sieges noch BerntenN, verlass Dich drauf!“ Himmelherrgott, meint er das ernst oder nicht?! Es wird mir allmählich zu dumm. „Das BwundertN mich, dass Du so redest“, sage ich. „Warum, wieso?“ „Früher hast Du doch immer behauptet, jeder Sieg ist zuguterletzt eine Niederlage und es würd nur eine Macht profitieren, ob Sieg oder Niederlage, nur eine Macht, nämlich die Rüstungsindustrie“ -„Unsinn!“ unterbricht er mich barsch. „Heut ist doch das alles anders! Für uns ist das kein Problem mehr! Seit einem halbem Jahr steht doch unsere Rüstungsindustrie unter staatlicher Kontrolle, gewissermassen ist sie sogar eigentlich schon verstaatlicht und drum liegen natürlich die Dinge heutzutag diametral anders im Raum! Heut B profitiertN die Allgemeinheit davon, wir alle, Bich,N Du, das ganze Volk -- -- was glotzt Du mich denn so geistreich an?“ Ich glotze ihn dumm an, weil ich plötzlich denken muss: wieso das ganze Volk? B WiesoN Du und wieso ich? Ich gab doch meinen Arm und Du hast ein kleineres Zimmer -Aber es hilft mir nichts, es kommt eine Frage und setzt sich an meinen Tisch. Sie 얍 lässt mich nicht aus den Augen, während mein Vater dahinredet wie ein reissender Fluss. „Tröst Dich nur, es wird schon werden, Sorgen hat ein jeder, ob reich, ob arm“ -so rauscht der Fluss an mir vorüber und die Frage lächelt undurchsichtig. B N B N Sie lehnt sich zurück, B N wie ein höhnischer Lehrer in der Schule: „Nun, mein Kind, so antworte doch! Was heisst das eigentlich: die Allgemeinheit?“ Es wird mir einen Augenblick schwarz vor meinem Hirn und ich hör meinen Vater aus der Ferne: „Es ist zwar richtig, dass Du nichts gelernt hast, keinen richtigen

11 15 24 24 27 33 33 34

B

korrigiert aus: ernsten

B

erntenN ] wundertN ] BprofitiertN ] Bich,N ] BWiesoN ] BN] BN] BN]

wunder\t/ pr[i]|o|fitiert ich\,/ [und] korrigiert aus: wieso

[Mich fröstelt.] Absatz vom Autor getilgt

[die Frage,]

341

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 5

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K3/TS11/A2 (Korrekturschicht)

zivilen Beruf, das ist allerdings arg, denn heut wärst Du zum Lehrling schon zu alt und als ungelernter Arbeiter kannst auch nicht gehen, dazu fehlt Dir ja die Vollkraft Deines Armes -- aber hunderttausend anderen gehts akkurat ebenso, Du bist nicht der einzige, merk Dir das! Du bist eben leider ein Kriegskind, die haben alle nichts richtiges gelernt und immer nur alles versäumt, entweder warens zu früh dran oder zu spät -- doch halt-halt! Mir fällt grad etwas ein und das dürft einen Ausweg bedeuten, hör her, Dein Vater ist nicht der Dümmste, merk Dir das! Ich denk nämlich, Du müsstest eine kleine Protektion haben“ – „Protektion?“ „Ja, vielleicht hilft Dir der liebe Gott und Du kennst jemand, der Dich protegieren könnt – kennst Du denn niemand persönlich? “ „Nein.“ „Keinen Offizier oder dergleichen?“ B

B

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BN B

N

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B

5

Lesetext

B

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BN B

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10

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\Abbruch der Bearbeitung\

1 1

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1 1 2 2–3 3 4 5 5 5–6 7 7 8

B

9 10 10–13

B

11 11 11 11 13

B

Beruf,N ] ]

BN

dennN ] wärstN ] Balt undN ] Bdie f ArmesN ] BakkuratN ] BKriegskind, dieN ] Bund f nurN ] BN] Bversäumt f spätN ] Bbedeuten,N ] BN] BDu f haben“ –N ] B

„Protektion?“N ] „Ja, vielleichtN ] Bkennst f dergleichen?“N ] B

DuN ] niemand persönlich?N ] Bpersönlich?“N ] BN] B„Keinen f dergleichen?“N ] B

Beruf\,/ [und] [aber hunderttausend anderen gehts ebenso, Du bist nicht der einzige, merk Dir das! Du bist eben leider ein Kriegskind] [und] |denn| [bist] |wärst| alt[,] |und| [der Arm] |die f Armes| [ja] |akkurat| Kriegskind\,/ [und] die [hast halt auch] |und f nur| [richtige] versäumt\, entweder f spät[)]/ bedeuten\,/ [--] [mal] [gerade jetzt, wo wir doch soviel neues fruchtbares Landstriche erobert haben, die doch auch besiedelt gehören -- geh doch dorthin!“] |Du f haben“ –| korrigiert aus: [„Wohin?“] |„Protektion?| \„Ja,/ [„V]|v|ielleicht [kannst was erreichen. Ich an Deiner Stell täts sofort.“ „Was?“ „Auswandern.“ „Auswandern?“] |kennst f dergleichen?“| \Du/ [keinen,] |niemand \persönlich/[,]|?|| korrigiert aus: persönlich? [[k]|„K|einen Offizier oder dergleichen?“]f x x„Keinen f dergleichen?“

342

Fragmentarische Fassung

K3/TS11/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

B N

„Nein, das heisst: ich kenne jemand, aber das ist kein Offizier, sondern eine Frau, die Witwe meines Hauptmanns“ -„ Du kennst sie ?“ „Ja, ich hab ihr mal einen Dienst erwiesen.“ „ Wunderbar! Die wird Dir helfen, die muss Dir helfen! Pass auf, Kind : alles im Leben erreicht man nur durch die Weiber“ -- -- -B

N

B

B

N

N

B

N

\Abbruch der Bearbeitung\

2

BN

5 5 7 7

B

]

DuN ] sieN ] BWunderbar!N ] BPass f KindN ] B

[merks Dir, dass Dein Vater nicht der Dümmste ist, ich denk nämlich, jetzt, gerade jetzt, wo wir doch soviele neues fruchtbares Land erobert haben, werden wir es doch auch besiedeln, vielleicht kannst Du dort irgendwas erreichen -wander aus!“ „Auswandern?“ „Natürlich! Du wirst dort schon sicher etwas finden, einen Beruf, den Du ausfüllen kannst und der deinen Arm nicht anstrengt -- zum Beispiel gleich: Aufseher! Eine herrliche Stellung Position!“ „Aufseher?“ „Ja, in irgendeinem Betrieb, oder auf einer grossen Farm oder in einem Bergwerk, Fabrik, dergleichen -- Wirst schon sehen, alles wird gut! Nur den Kopf nicht hängen lassen, ich seh Dich schon als Aufseher in einer feschen Uniform. Vielleicht wander ich dann auch noch aus und werd dort ein Geschäft eröffnen -- selbstständig sein, das ist der Traum meines Lebens! Aber Du müsstest halt eine kleine Protektion haben“ -„Protektion?“ „Ja natürlich! Ohne Protektion erreicht man nichts im Leben, das ist halt so. Kennst Du denn niemand?“ „Nein.“ „Keinen Offizier oder dergleichen?“] D[ie]|u| [Du]|sie| [Ausgezeichnet!] |Wunderbar!| [Merk Dir das, mein Junge] |Pass f Kind|

343

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 8

Fragmentarische Fassung

K3/TS11/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



Es kommt ein Aufseher und sagt: weg mit Deinen Befürchtungen! So kam es, dass ich zur Witwe des Hauptmanns wieder hinausfuhr. Wie gesagt, sie erschrack sehr, als sie mir die Türe öffnete, aber sie beruhigte sich sogleich, als sie hörte, warum ich kam. Und sie versprach es mir, mich zu protegieren, sie kenne nämlich den Bruder eines Ministerialrates, vielleicht dass der mir eine staatliche Hilfsdienerstelle verschaffen kann – und während sie so versprach, beobachtete ich sie heimlich und wunderte mich, wie sie mir jemals hatte gefallen können. Denn sie war heut um zwanzig Jahr älter als vor drei Wochen. Oder schien es mir nur so? B

B

B

5

N

N

N

B

B

B

B

N B

NN

B

N

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B

B

B

N

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N B

B

10

N

N

NN

B

B

N

N

N

\Abbruch der Bearbeitung\

2

B

3 4 4–5

B

4 5 5 5 6 6 6 6–7 7 7 10 10 11 11

B

Es f Befürchtungen!N ]

SoN ] sieN ] Bsehr f kam.N ] B

sogleich,N ] kam.N ] BesN ] Bmich f protegieren,N ] BkenneN ] BnämlichN ] BMinisterialrates,N ] Bvielleicht f kann –N ] Bkann –N ] BsoN ] BumN ] BalsN ] BOder f so?N ] Bschien esN ] B

[Der Traum Deines Lebens, denke ich. Du hast doch mal den Krieg verabscheut, erinnerst Du Dich, was wir uns gestritten haben. Aber das Resultat gefällt Dir. Ja, Du bist ein verlogener Mensch -- oder bist Du nur arm? [Armut hat ja das Recht, sich etwas vorzulügen.] |[Der Gedanke] Ich bin Dir nicht [bös.] |bös.| Wer arm ist, darf [lügen] |sich etwas vorlügen| – das ist sein Recht. Vielleicht sein einziges Recht.| Und ich sage: „Ich wär ja glücklich, wenn ich Aufseher werden könnt, aber das ist nicht so einfach.“ „Man müsst halt Protektion daz haben.“ „Ja.“ „Kennst Du denn niemand?“ „Nein.“ „Keinen Offizier oder so?“ „Nein. Das heisst: ich kenne wen. Es ist zwar kein Offizier, aber die Witwe meines Hauptmanns“ -„Du kennst sie?“ „Ja, ich hab ihr mal einen Dienst erwiesen.“ „Ausgezeichnet! Die wird Dir helfen, die muss Dir helfen -- merk Dir das, mein Junge, alles im Leben erreicht man nur durch die Weiber“ --] |Es f Befürchtungen!| [Und] [s]|S|o \sie/ (1) [sie,] als sie mich sah, aber dann beruhigte sie sich wieder. (2) \sehr f kam./ sogleich [{be}] |,| [kam] |kam.| \es/ [Protektion zu geben,] |mich f protegieren,| kenn[t]|e| \nämlich/ [Staatssekretärs] |Ministerialrates,| \vielleicht f kann –/ [könnt] |kann –| [es mir] |so| \um/ [als]|als| \Oder f so?/ schien[s] |es|

344

ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 9

345

Notizen

ÖLA 3/W 182 – BS 26 l [3], Bl. 1

346

Notizen

K3/E1–E2

347

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K3/TS12 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Der Gedanke

ÖLA 3/W 172 – BS 26 i [1], Bl. 1

B N

Viel wird sie ja nicht bekommen – Eigentlich ist sie zu dürr. Zumindest für meinen Geschmack. Ich liebe nämlich nur das Gesunde. In den Zeitungen steht zwar, wir hätten keine Arbeitslose mehr, aber das ist alles Schwindel. Denn in den Zeitungen stehen nur die unterstützten Arbeitslosen – da aber einer nach kurzer Zeit nichtmehr unterstützt wird, kann er also nichtmehr in den Zeitungen als Arbeitsloser stehen . Ob er sich umbringt, um nicht zu verhungern, darüber darf nämlich nichts berichtet werden. Nur wenn einer etwas stiehlt , das steht drinn, und zwar in der Rubrik: „Aus dem Rechtsleben“ . B

5

N

B

N

B

N B

N

B

10

N

B

B

N B

N

N

B

N

B

N

BN

B

N B

N B

B

N N

3

4 5–6

8 8 9 9 10 10 10–11 12 12 12 12 12–13 12–13

[Nun wohn ich bei meinem Vater. Er geht gegen Mittag weg und kommt erst nach Mitternacht heim. Sein Zimmer ist wirklich arm. Ein Schrank, ein Tisch, ein Bett, zwei Stühle und ein schiefes Sofa [für mich] – das ist alles. Das Sofa ist übrigens [auch] [|noch|] |obendrein| zu kurz für mich. Dafür hab ich den halben Tag Musik. Nebenan wohnt nämlich eine [stellenlose] [|stellungslose|] |arbeitslose| Verkäuferin \mit einem \heiserem/ Grammophon./ Sie hat nur drei Platten, lauter Tanz[, also die ewige Wiederholung stört mich nicht, ich [habs] |hörs| ganz gern.]|.| [Es ist] |Also| immer dasselbe, aber [es] |das| stört mich nicht, [[ich] |man| hör\t/s ganz gern.] [|Tanz hö|] |was lustiges hört man immer gern.| Ich lese [{selbe}] ein Buch über Tibet, das geheimnisvolle [Land] |Reich des Dalai-Lama| am höchsten Punkt der Welt. Mein Vater hats von einem Stammgast bekommen. Der Stammgast konnt[e] nämlich plötzlich seine Zeche nichtmehr bezahlen, weil er seine Stellung verloren hatte. Ein kleines Menu ist das Buch wert. Aber ohne [K] [|Dessert.|] |Kompott.| Diese Verkäuferin [ist nicht hübsch.] [Sie] wird [also] schwer eine Stellung bekommen. Wenn sie nicht verhungern will, wird sie sich wohl verkaufen müssen.] BwirdN ] [hat] |wird| BEigentlich f Gesunde.N ] [Sie ist ja auch [nicht rich] |nicht hübsch|] |Eigentlich ist sie [direkt] [|nämlich|] hässlich. \Und viel zu mager./ [\Und grobe/] |Und ihre Hände sind zu gross.|] |zu f Gesunde.|| BDennN ] [E] |Denn| BinN ] [in] |in| Bkurzer ZeitN ] [in zwei Monat] [|einer ku|] |kurzer Zeit| BkannN ] [wird] [|steht|] |kann| Bals ArbeitsloserN ] [als Arbeitsloser] |als Arbeitsloser| BstehenN ] [drinn] |stehen| Bsich f werden.N ] [verhungert oder sich umbringt, das darf \nämlich/ nicht drinn stehen.] |sich f werden.| Beiner etwasN ] [er was] |einer etwas| BN] [oder raubt] Bund zwarN ] \und zwar/ Bin f Rubrik:N ] (1) unter der Überschrift: (2) \in f Rubrik:/ B„Aus f Rechtsleben“N ] [„Asozialer Charakter.“] [|Gerechtigkeit.|] |„Aus f Rechtsleben“| BRechtsleben“.N ] korrigiert aus: Rechtsleben“ BN

]

348

Fragmentarische Fassung



K3/TS12 (Korrekturschicht)

BN

Meine dicke Schwester im Krankenhaus sagte zwar immer: Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor – Heut tuts mir leid, dass ich ihr nicht geantwortet hab: Und mit mir? Was hat er denn mit mir vor, Dein lieber Gott? Was hab ich denn verbrochen, dass er mir immer wieder die Zukunft nimmt? Was will er denn von mir? Was hab ich ihm denn getan?! Nichts, radikal nichts! 얍 Ich hab ihn immer in Ruh gelassen. Das Grammophon spielt, ich lese im Buch über Tibet von dem salzigen See Lango-Ply, aber meine Gedanken sind woanders. Ich hab nämlich keine Angst mehr vor dem Denken, seit mir nichts anderes übrig bleibt. Und ich freue mich über meine Gedanken, selbst wenn sie was Unangenehmes entdecken. Denn ich bleib durch das Denken nichtmehr allein, weil ich mehr zu mir selber komm. Dabei find ich natürlich nur Dreck. Ich darf noch die Uniform tragen, denn ich hab keinen anderen Anzug, und das Jahr in der Kaserne war mein goldenes Zeitalter. Vielleicht hätt ich jenem Bettler meine fünf Taler geben sollen, vielleicht wär dann heut mein Arm wieder ganz – nein, das ist ein zu dummer Gedanke! Weg damit! B

B

N

B

B

5

B

10

Lesetext

N

N

B

N

B

B

N

B

15

N

B

N

B

N

20

B

B

1

2 2 2 4 7 10 11 11–12 12 12 14–15 16 18–19 20 22

BN

Meine f GottN ] SchwesterN ] BGottN ] BihrN ] BvonN ] Bgelassen.N ] BimN ] Bvon f Lango-Ply,N ] BN] Bwoanders.N ] BUnangenehmesN ] BbleibN ] Bdas JahrN ] Bsollen,N ] Bdamit!N ] B B

N

N

]

ÖLA 3/W 172 – BS 26 i [1], Bl. 2

N

B

N BN

NN

[Es gibt keine Gerechtigkeit, das hab ich jetzt schon heraussen. Daran können auch unserer Führer nich\t/s ändern, wenn sie \auch/ auf aussenpolitischem Gebiet [auch] noch so [geschickt] |[geschickt und] genial| operieren. Der Mensch ist eben nur ein Tier und auch die Führer sind \nur/ Tiere, wenn auch mit [einer] Spezialbegabungen. Warum bin ich nicht so begabt? Warum bin ich kein Führer? Wer [best] |bestimmt| da mit einem Menschen? Wer sagt [zu] |zu| dem einen: Du wirst ein Führer. Zum anderen: Du wirst ein Untermensch. Zum dritten: Du wirst eine dürre, stellungslose Verkäuferin. Zum vierten: Du wirst ein Kellner. Zum fünften: Du wird ein Schweinskopf. Zum sechsten: \Du wirst die Witwe eines Hauptmanns. Zum siebten:/ Gib mir Deinen Arm – Wer ist das, der [zu bestimmen] |das zu befehlen| hat? Das kann kein lieber Gott sein, denn die Verteilung ist zu [ungerecht] |gemein| – Wenn ich der liebe Gott wär, würd ich alle Menschen gleich machen. Einen wie den anderen – gleiche Rechte, gleiche Pflichten. Aber so ist die Welt ein Saustall. [\Es kommt nicht drauf an, was einer/]] korrigiert aus: [Meine f Gott] [Krank] |Schwester| [„]Gott [sie] |ihr| [{ }] |von| gelassen\./ [und hab mich nie um ihn gekümmert.] [das] |im| \von f Lango-Ply,/ gestrichen: , [anderswo.] |woanders.| [{ }]|U|nangenehmes [{ha}] |bleib| d[ie]|as| Jahr[e] sollen\,/ [–] damit\!/ [–]

349

ÖLA 3/W 172 – BS 26 i [1], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K3/TS12 (Korrekturschicht)

Lesetext

Mein Vater sagte: wir haben gesiegt – jawohl: wir. Als wär er auch dabei gewesen – Einst hat er den Krieg verabscheut, seinen Weltkrieg, weil er dabei gewesen ist. Aber mein Krieg, der versetzt ihn in Begeisterung – Ja, er ist und bleibt ein verlogener Mensch. Aber ich bin ihm nicht bös, wenn ich dieses Zimmer betrachte. Wer arm ist, darf sich was vorlügen – das ist sein Recht. Vielleicht sein einziges Recht. B

B

5



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N B

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BN

Vielleicht sein einziges Recht. Ich trete ans Fenster und schau hinaus. Drunten auf der Strasse gehen zwei Kinder. Mit kleinen, steifen Schritten – so bist Du auch mal gegangen. Ein Radfahrer fährt vorbei. Dann kommt eine alte Frau und ein Mann mit einem Rucksack. Ein Herr mit einer Zigarre und ein Lastauto –

10

B

N B

N

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15

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 22

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BN

Das alles sind Deine Volksgenossen. Dein Volk, Dein Vaterland. Für das Du sterben wolltest – (höchstes Ideal) Du hast Dich aber mit einem kleinen Ideal begnügt und beschütztest es mit Deinem Arm. Du hast es beschützt – mit Deinem Arm. Beschützt! Wer hats denn eigentlich bedroht? Jenes kleine Land? Lächerlich! N B

B

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20

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25

N B

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3 4 4 4 4 9

10 12 12 12 13 13 16 17 18 18 19 20–22 23 24 24 24 24 25

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N B

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N

[den] |seinen| mein[\en/] [den lobt er,] i[m]|n| Begeisterung \–/ [und er reisst kühne Sprüch.] [(Aufseher) Ich werde mir eine grosse Peitsche kaufen, denn es sind alles Tiere – (Schwest) Liebe Deine Feinde –] BVielleicht f Recht. N ] \Vielleicht f Recht./ BDrunten f derN ] [Auf der] |Drunten f der| BStrasseN ] S\t/rasse BKinder.N ] [Mädchen.] |Kinder.| BMit f gegangen.N ] \Mit f gegangen./ BsoN ] [S]|s|o BZigarreN ] [Zigarre] [|{h}|] |Zigarre| BN] [Und das alles gehört] [|Das sind Deine Volksgenossen.|] BDas allesN ] [Sie] |Das| alle\s/ Bsind f Volksgenossen.N ] [gehör[en] t zu Deinem Volk] sind f Volksgenossen. || | | BDein f Vaterland.N ] [{Damit es}] |Dein f Vaterland.| BFür f Arm.N ] \Für f Arm./ BesN ] [sie] |es| BBeschützt!N ] \Beschützt!/ BWerN ] [Doch] [w]|W|er BhatsN ] hat\s/ Bdenn eigentlichN ] [sie] |denn eigentlich| BJenesN ] [Das] |Jenes| seinenN ] meinN ] BN] BinN ] BBegeisterung –N ] BN] B B

350

Fragmentarische Fassung

K3/TS12 (Korrekturschicht)

Lesetext

Mein Vaterland beginnt zu wackeln. Meine einzige Hoffnung ist und bleibt diese Hauptmannswitwe. Hoffentlich nutzt ihre Protektion und ich werde zum Hilfsdiener ernannt. In irgendeinem staatlichen Betrieb. B

N

B

N B

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5

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Wie kalt das Licht wird, wenn man denkt! B

N

BN BN B

Mein Herz beginnt zu frieren. Warte nur, bald hast Du nichtsmehr zu lachen! N

B

N

BN

10

In den Zeitungen steht , wir kriegen Schnee. Dann hast Du nichtsmehr zum lachen! Schad, dass jetzt meine dicke Schwester nicht da ist, der würd ich so manches erzählen – B

BBN

B

B

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\Abbruch der Bearbeitung\

1 2 2 3 4 5

6 6 7 8 8 8 9 10 10 10 12 12 12 12 12 12

Mein f wackeln.N ] und bleibtN ] Bdiese Hauptmannswitwe.N ] BHilfsdienerN ] BstaatlichenN ] BN] B B

] kaltN ] BN] BN] BMeinN ] BWarte f lachen.N ] BN] BIn f Schnee.N ] BN] BstehtN ] BSchad f jetztN ] BdassN ] Bmeine dickeN ] Bnicht f würdN ] BwürdN ] BsoN ] BN B

[\S/] |Mein f wackeln.| \und bleibt/ [die Witwe [des] |meines| Hauptm] |diese Hauptmannswitwe.| [Aufseher] |Hilfsdiener| \staatlichen/ [Dort werd ich dann mit einer langen Peitsche herumlaufen und wer aufmuckt, der soll mich spüren! Denn wir sind alle Tiere, ob Freund, ob Feind. Ob, Führer, [und] |ob| Untermensch\./ [– es ist dasselbe Skelett – dasselbe Skelett, derselbe Dreck.]] gestrichen: 1.) [scharf] |kalt| [2.) Scharf und kalt.] gestrichen: [3]|2|.) [Und] [m]|M|ein [Warte nur, bald kommt das Eis!] |Warte f lachen.| gestrichen: 4.) \In f Schnee./ gestrichen: \5.)/ s[tand]|teht| [Als ich mich von] |Schad f jetzt| korrigiert aus: das meine[r] dicke[n] [verabschiedete, fiel mir der Satz] |nicht f würd| [{h}] |würd| \so/

351

Strukturpläne

ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 22

352

Strukturpläne

K3/E3–E5

353

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K3/TS13 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



Ich will ihm erwidern , mich verteidigen , aber er lässt mich nicht zu Wort kommen. „Ich weiss schon, Sie waren im Krieg und das ist Ihre Privattragödie.“ Privattragödie? Hab ich dieses Wort nicht auch mal gesagt? „Sie müssen sich vor mir nicht entschuldigen, ich weiss. Ich weiss: Krieg ist ein Naturgesetz und der Vater aller Dinge und das Vaterland nimmt mit Recht keine Rücksicht, humanistische Duseleien --“ Ich höre alle meine Worte von ihm. Alle meine früheren Anschauungen. Ich hatte ja damals recht. Aber ich habe nicht recht, wenn er es sagt! Nein, er hat kein Recht es zu sagen! Mir wirds schlecht und übel, während er schwätzt! Und während er schwätzt, bröckelt es Stein für Stein ab von dem Bau meiner Weltanschauung. Jetzt fällt mein Vaterland zusammen. Und all meine Sprüch. Das war alles immer auf Sand gebaut, aber ich konnt mir nichts anderes leisten, als Sand – Aber stattdessen wächst etwas neues aus den Ruinen und das kommt ganz zart und schlicht und das ist die Liebe -Ich hör garnichtmehr zu, was dieser dumme Zwerg sagt. Es kümmert mich auch nichtmehr, ob ich Hilfsdiener werde. Ich suche nur sie. Ich denk nur an sie . Und warte -- es ist mir als würd ich warten, auf etwas Neues, schönes. Auf eine schönere Zukunft. Jetzt hat sich der Zwerg ausgequatscht und sagt noch: „Im übrigen kann Ihnen mein Buchhalter die Adresse geben“ -B

N

B

N B

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5

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BB

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20

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B

25

2 2 2 2–3 5 5 6 6 6 7 8 14 15 15–17

15 16 20 21–22 21 23

N

erwidernN ] michN ] BverteidigenN ]

korrigiert aus: erwiedern korrigiert aus: amich (1) entschuldigen (2) verteidigen Bzu f kommen.N ] (1) reden (2) zu f kommen. BPrivattragödie f Liebe --N ] gestrichen: \Buchhalter – Ich/ \Anna, die Soldatenbraut/ BHabN ] korrigiert aus: hab B B

B

\„Sie f weiss:/

B

„Sie f weiss:N ] „SieN ] BKriegN ] BderN ] humanistischeN ] schwätzt, bröckeltN ] BWeltanschauung.N ] BJetzt f Sand –N ]

korrigiert aus: Sie korrigiert aus: „Krieg (1) das (2) der korrigiert aus: hummanistische korrigiert aus: schwätzt,bröckelt korrigiert aus: Weltanschauung, (1) und dann bricht es ganz zusammen mein Gebäude -- jetzt ist es nur mehr

] aber ichN ] Bdieser dummeN ] BEs f sie.N ] BkümmertN ] BsieN ]

eine Ruine, und nun fällt die letzte Wand -- und jetzt ist nichts da , nichtsmehr da -(2) \[j]|J|etzt f Sand –/ gestrichen: \(Seite 11.)/ [aber ich] |aber ich| korrigiert aus: dieservdumme \Es f sie./ [geht] |kümmert| korrigiert aus: Sie

B B

BN B

354

ÖLA 3/W 176 – BS 26 j [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

K3/TS13 (Korrekturschicht)

Lesetext

Dann geht er. Und der Buchhalter blättert in einer Kartothek. „Hier“, sagt er, „ich schreibs Ihnen auf.“ Und während er schreibt, sagt er: „Das war ein nettes Fräulein, ein liebes. Sie tat mir sehr leid --“ „Warum?“ Er lächelt sonderbar. „Sie wurde krank und da hat er sie entlassen.“ \Textverlust\

355

Strukturplan in vier Kapiteln

ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 5

356

Strukturplan in vier Kapiteln

K3/E6

357

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 ANNA, DIE SOLDATENBRAUT

5

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 2

Gott hat mit jedem einzelnem etwas vor, sagte meine dicke Schwester und ich glaube allmählich, sie hatte recht. Denn ich trag keine Schuld an dem, was vor einer Stund geschah, es musste so sein. Wenn ichs mir jetzt überlege, wieso es dazu gekommen ist, dann flimmert der Schnee vor meinen Augen, als hätt ich noch Fieber. Es steht ein Engel in der Nacht und hält meinen Arm in seiner Hand, meinen Arm, den ich diesem Vaterland gab, das seine Ehre verlor und zwar für immer – Ja, der Hauptmann hatte recht! Jetzt eckelts auch mich vor meinem Vaterlande. – Es ist bequem, sich mit dem Vaterland zu umhüllen, als wärs ein weisser Mantel der Unschuld. Denn das Vaterland ist ein falscher Gott, ein elender Götze, das vertilgt gehört von der Welt. Und es wird nicht das Vaterland vor Gott treten, sondern immer der einzelne. Und was man im Dienste des Vaterlandes verbrach, diese Verbrechen bleiben Verbrechen. Es gibt nur den einzelnen Menschen und nur der zählt für das Gute und das Böse und sonst nichts, nur der hat sich zu verantworten, und sonst niemand. Denn das Vaterland besteht aus lauter einzelnen. Es schneit immer stärker, ich werde Gott fragen, warum es so kalt sein muss -BN

10

BN

B

N

B

N

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15

B

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20

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25

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B

BN

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B

N

\Textverlust\

9 11 12 12 12–13

B

es f ist,N ] ] BdiesemN ] Bgab,N ] Bdas f immer –N ]

12 15 15

B

16–17 19

B

22 23 24 25 25 25–26

B

BN

verlorN ] Vaterlande. –N ] BN] B

B

Es f Unschuld.N ] esN ]

für f BöseN ] nichts f niemand.N ] BDenn f einzelnen.N ] BN] Bstärker ichN ] Bsein mussN ] B

[das alles gekommen ist , wieso] |es f ist,| gestrichen: \Seite 116/ [für dieses] |diesem| [gegeben habe,] |gab,| [für dieses das versinkt in der Schande, vor dem es mich eckelt --] |das f immer –| verlor[en] [hat] Vaterlande. \–/ gestrichen: \Was einer privat sündigt – (S. 39)/ \Es f Unschuld./ (1) wenn (2) es \für f Böse/ nichts[.]|, nur f niemand.| \Denn f einzelnen./ gestrichen: \Der Schneemann/ stärker [und die Nacht wird bitterkalt.] [|und|] \i/Ich [ist geworden ist] |sein muss|

358

Fragmentarische Fassung



K3/TS15/A1 (Korrekturschicht)

BN

Kein Mensch. Aber die Kriminale sind raffiniert, ich kann mich noch gut erinnern. Es stehen ihnen alle Angebote und Hilfsmittel zur Verfügung, sie bringen ja das unerforschliche an den Tag , früher oder später – vielleicht hats doch wer gesehen, jemand, an den man garnicht denkt, was ich tat, eine Uniform fällt immer auf, besonders eine mit drei Sternen, mit drei silbernen Sternen – Mein Vater bringt mir Käs und Brot. Und ein Glas Bier. Ich schau ihn überrascht an. „ Bier?“ „Ausnahmsweise!“ lächelt er, „weil ich mich freu, dass Du noch da bist. Noch lebst. Und dann, dann auch zum Trost“ -Zum Trost? „Ja, aber erschrick nicht! Du hast heut abend folgenden Brief bekommen, meine Hausfrau war so lieb und hat ihn hergebracht, sie dachte gleich, es ist was wichtiges, weil ich niemand kenn, der mir schreibt , und leider ist es auch was wichtiges, aber leider etwas trauriges “ -N B

B

N B

N B

B

N

N B

N B

B

BN

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5

Lesetext

B

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B

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N B

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B

15

N BN

B

B

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1

2 2 2–6

2 2 2–3 2 3 3 3–4 4 5 5 7 7 7 7 8 9 9 10 10 15 16 16

N

N

B

10

B

N

B

N

N

N B

N

[Hier also hab ich hast Du jetzt viele Wochen gegessen, denke ich, Mittag und Abend, wenn auch auf Kosten Deines Vaters, zu ermässigten Preisen -- aber er ist ein braver Mann. Es [ist] |wär| wirklich arg, [dass] |wenn| ich ihm [das] |etwas| [angetan habe.] |antun würde.| Denn [ich werd] [|ich werde|] |ich werd| vielleicht [werde] [|werde ich|] [|nichtmehr|] |nimmer| lang hier essen \können/, vielleicht heut [abend] |Nacht| zum letztenmal -Vielleicht kommt \sie schon/ morgen [schon] |früh,| die Polizei\,/ und holt mich ab. Unsinn! Woher soll \es/ denn die Polizei [das] wissen? Es hats doch niemand gesehen.] BKein Mensch.N ] \Kein Mensch./ BAber dieN ] Aber [man weiss sowas nie.] [D]|d|ie BKriminale f Sternen –N ] (1) [Polizei bringt meist alles heraus,] früher oder später -- und sie werden sicher gewaltig nachforschen und vielleicht hat michdoch jemand gesehen, eine Uniform fällt ja auf -- besonders mit drei Sternen -(2) \Kriminale f Sternen –/ BsindN ] [ist] |sind| Braffiniert,N ] raffiniert\,/ [und] Bich f erinnern.N ] \ich f erinnern./ BgutN ] \gut/ BEsN ] [e]|E|s BN] [\kriminalistischen/] BbringenN ] bring[t]|en| Ban f TagN ] [heraus] |an f Tag| Bjemand f denkt,N ] \jemand f denkt,/ Btat,N ] tat\,/ [und] BMeinN ] [Jetzt kommt] [m]|M|ein Bbringt mirN ] [mit] |bringt mir| BKäsN ] Käs[e] BBrot f einN ] Brot\./ [U]nd ein[em] BIch f an.N ] \Ich f an./ BBier?“N ] Bier\?“/ [krieg ich auch?] BN] gestrichen: “ BlächeltN ] [sagt] |lächelt| BNochN ] korrigiert aus: noch Bniemand f schreibtN ] [nie einen Brief bekomm] |niemand f schreibt| BetwasN ] \et/was BtraurigesN ] [unerfreuliches] |trauriges| BN

]

359

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A1 (Korrekturschicht)

„So red doch schon!“ „Nanana, nur nicht gar so ungeduldig: Ich red ja schon! Also der Brief ist von Deiner Hauptmannswitwe, sie schreibt -- da les es übrigens selber -- mit der Hilfsdienerstelle ist es nichts, nichts zu machen“ -Ich lese den Brief und leg ihn dann weg. „Schön“, sage ich und beginne den Käs zu essen. Mein Vater glotzt mich verwundert an. „Du sagst so ruhig schön, als wär das nicht eine Katastrophe “ -B

5

B

N

N

B

얍 10

N

BN

„Franz“, ruft der eine Chauffeur. „Zahlen!“ Mein Vater geht. Ja, ich muss etwas in Angriff nehmen. Ich esse ruhig meinen Käs und denke: ja, Du musst etwas. Der Hilfsdiener – das ist vorbei! Das kommt mir ja direkt schon komisch vor. In einem Zimmer zu wohnen mit der Aussicht nach einem vornehmen Park, wo der Efeu sich um die alten Bäume rankt – wie lächerlich! Ich bin etwas anderes geworden -Die Hauptsache ist, es kommt nicht auf. Dann wär schon alles in Ordnung. Denn ich hatte recht mit dem, was ich tat, jawohl: recht! Ich erinnere mich noch genau, wie eckelhaft mir dieser Buchhalter war, als ich ihn fragte: „Und was macht sie jetzt, das Fräulein Anna?“ Er zuckte nur die Schultern: „Das wissen die Götter!“ N

B

N

B

B

B

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B

B

N

N

B

15

Lesetext

BN

BNN

20

B

2 7 8 9

B

ungeduldig: f schon!N ] glotztN ] BKatastropheN ] BN]

10

B

„Franz f Zahlen!“N ]

11 12–16

B

Mein f geht.N ] Ja f lächerlich!N ]

12

B

13–16 13 14 14 16 20

B

B

B

ich f nehmen.N ]

Ich f lächerlich!N ] etwas.N ] BDer f vorbei!N ] BN] BN] Bjawohl:N ] B

N

ungeduldig[!]|: Ich f schon!| [starrt] |glotzt| korrigiert aus: Kat strophe [„Es gibt ärgere Katastrophen“ -„Kaum, mein liebes Kind, kaum! Was [willst] |wollen| [Du] |wir| denn jetzt [machen] |anfangen|? Du kannst doch nicht bis in alle Ewigkeiten hier essen, ich hab ja nichts dagegen -- ich zahls ja gern, aber einmal ist \auch damit/ Schluss! Vergiss nicht, [ich stirb vor Dir.“ „Das ist noch nicht so sicher ausgemacht.“ „Aller Wahrscheinlichkeit nach aber ja.] [I]|i|ch bin ein alter Mann[,] |und| Du bist jung -- Du musst etwas [machen!“] |in Angriff nehmen!“|] [Er [geht weg,] |lässt mich allein,| denn der eine Chauffeur will zahlen.] |„Franz f Zahlen!“| [\„Sofort!“ sagt mein V/] |Mein Vater [lässt mich allein] |geht.|| (1) Ja, [er ist ein alter Mann und ich] weiss nicht, was nun werden soll. Aber das regt mich nicht auf. Der Hilfsdiener, das kommt mir ja direkt komisch vor -- wie lächerlich! In einem Zimmer zu wohnen mit einer Aussicht in einen vornehmen Park, wie lang ist das vorbei! Nein-nein, ich bin nicht zum Hilfsdiener geboren! (2) Ja, \Die Post erledigen/ [N]|n|ein-nein, ich bin nicht zum Hilfsdiener geboren! (3) \Ja f lächerlich!/ [er ist ein alter Mann und ich] |ich muss etwas [unternehmen.] |in Angriff nehmen.|| \Ich f lächerlich!/ korrigiert aus: etwas [Ich muss] |Der f vorbei!| [Wie lächerlich!] [Die Post {erl}] [|Die P|] jawohl\:/

360

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Auf die Götter reden sich alle hinaus, aber an den lieben Gott denkt keiner. Vor fünf Stunden dachte ich noch: wie wär es möglich, dass sie mir schrieb? Woher hätte sie meinen Namen wissen sollen? Sie hätt mir ja damals nachgegangen sein müssen und hätt sich in der Kaserne erkundigt haben müssen? B

B

B

5

N

N

B

\Abbruch der Bearbeitung\

1 2

B B

anN ] wärN ]

3

B

hätteN ]

3

B

nachgegangenN ]

N

[auf] |an| (1) ist (2) wär (1) wus (2) hätte korrigiert aus: nachgega gen

361

N

Strukturplan in vier Kapiteln

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 2

362

Strukturplan in vier Kapiteln

K3/E7

363

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



B N

„Franz“, ruft der eine Chauffeur. „Zahlen!“ Mein Vater geht. Ich esse ruhig meinen Käs und denke: ja, Du musst etwas in Angriff nehmen -Der Hilfsdiener -- das ist vorbei. Der kommt mir ja fast schon komisch vor. In einem eigenem Zimmer zu wohnen, direkt im Amtsgebäude, mit Aussicht auf einen vornehmen Park, in dem sich der Efeu um die alten Bäume rankt -- wie lächerlich! Ich hab mir einen blauen Anzug auf Raten gekauft und dreimal täglich muss ich zur Post -- nein-nein, ich bin nicht zum Hilfsdiener geboren! Ich bin etwas anderes geworden. Die Hauptsache ist und bleibt: es kommt nicht auf. Dann wär wirklich alles in Ordnung. Denn ich hatte ja auch recht mit dem, was ich tat, jawohl: recht! Ich erinner mich noch genau, wie eckelhaft mir jener Buchhalter war, als ich ihn fragte: „Und was macht sie jetzt, das Fräulein Anna?“ Er zuckte nur die Schultern: „Das wissen die Götter!“ Auf die Götter reden sich alle hinaus, aber an den lieben Gott denkt keiner. Vor vier Stunden dachte ich noch: ausgeschlossen, dass Du es bist, dem sie ihre Briefe schrieb. Woher hätte sie es denn wissen sollen, wer ich gewesen bin? Sie hätt mir ja seinerzeit heimlich nachschleichen und hätt sich beim Posten in der Kaserne erkundigen müssen, um meinen Namen zu erfahren -- nein, das ist ausgeschlossen!

5

B

N

B

10

B

15

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 13

N

N

B

20

N

BN

BN

BN

Als ich heut abend den Buchhalter verliess, dachte ich nur: jetzt weisst Du wenigstens, wo die wohnt. Sie wohnt sehr weit. Wenn Du zu Fuss gehst, brauchst Du gut anderthalb Stunden, aber Du sparst das Trambahngeld, es dämmert zwar schon, doch die Nacht ist noch fern. B

25

N

B

B

N

B

N

N

BN

30

\Textverlust\



35

„Sind Sie mit dem Fräulein verwandt?“ Ich? Was soll ich nur sagen? Irgendwie muss ich zu ihr gehören, sonst wär ich ja jetzt nicht da -- aber verwandt? Nicht dass ichs wüsste -B

2 6 7 12 20–21 21 21 24 25 25 28 28 30 32

N

] fastN ] BAussichtN ] Bbleibt:N ] BSie f mirN ] BN] BN] BN] BabendN ] BDuN ] Bgehst,N ] Bgut anderthalbN ] BN] B„SindN ] BN B

gestrichen: XxXxXxXxXxXxXx

[direkt] |fast| korrigiert aus: rAussicht korrigiert aus: bleibt, \:/

[Sie f mir] [müssen] [in der Kaserne] [Und wie ich so überlegte] [abend] |abend| Du[,] gehst\,/ [eine halbe] |gut anderthalb| [Rasch] korrigiert aus: Sind

364

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 14

Fragmentarische Fassung

5

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30

40

45

Lesetext

Ich möchte grinsen, aber das alte Kind beobachtet mich scharf, fast lauernd. Und ich sage: „Ich bin ihr Bruder.“ „Ihr Bruder?!“ „Ja.“ „Nicht möglich!“ „Warum nicht?“ Sie gibt keine Antwort vor lauter Ueberraschung. Wir schweigen. „Also Sie sind der Bruder“, fängt sie endlich wieder an, „und Sie haben sich nicht um Ihre Schwester gekümmert“ -„Ich hatte keine Zeit.“ „Ausreden! Nichts als Ausreden! Für einen Menschen muss man immer Zeit haben -- der Mensch kommt an erster Stelle und dann kommt erst alles andere!“ „Möglich“ -„Sicher! Wo kämen wir denn sonst hin?“ Ja, wohin? Wir marschieren über ein hohes Plateau. Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Wir haben fünf Menschen gefangen und warten auf den nächsten Baum. Im Tal brennen die Dörfer und zwei Krähen fliegen vorbei -Wir säubern, wir säubern. Was hat er nur geschrieben, mein Hauptmann? „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige Mörder. Wir kämp얍 fen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete“ -Komisch, ich weiss noch jedes Wort! Es ist mir geblieben. Ja, er ist von uns gegangen, der Hauptmann. Er sah weder rechts noch links. Und die Krähen, sie kommen wieder und der Hauptmann, der schreibt mit seinem Säbel in den Sand -Zeichnet er auch Linien? Auf einmal wirds mir klar: Immer, wenn es mir heimlich einfiel, jetzt geschieht etwas Niederträchtiges, dann fiel mir auch sie wieder ein, meine liebe Schwester, dann musst ich immer denken: eigentlich wollt ich zu Dir -„Wenn der Herr Bruder früher gekommen wären“, höre ich die Stimme meines Gegenübers, „dann wär vielleicht alles anders gekommen, dieses ganze Unglück.“ „Unglück?“ „Es tut mir sehr leid, dass ausgerechnet ich vom Schicksal dazu ausersehen wurde, es Ihnen mitzuteilen, aber mit dem Schicksal lässt sichs bekanntlich nicht streiten -- kurz und gut: es ist eine böse Sache und ist dennoch mit paar Worten erzählt. Ihre arme Schwester hatte eine ganz hübsche Anstellung“ -„Im verwunschenem Schloss“ -„Jawohl, aber eines schönen Tages wurde sie abgebaut“ -„Wegen der Autohalle?“ B

35

K3/TS15/A2 (Korrekturschicht)

33

B

wirdsN ]

N

wir[s]|ds|

365

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 15

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Autohalle? Aber nein! Sie wurde fristlos entlassen, weil sie etwas erwartete, etwas kleines -- ein Kind.“ „Ein Kind?!“ \Textverlust\

366

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



B N

„Franz“, ruft der eine Chauffeur. „Zahlen!“ Mein Vater geht. Ich esse ruhig meinen Käs und denke: ja, Du musst etwas in Angriff nehmen -Der Hilfsdiener -- das ist vorbei. Der kommt mir ja fast schon komisch vor. In einem eigenem Zimmer zu wohnen, direkt im Amtsgebäude, mit Aussicht auf einen vornehmen Park, in dem sich der Efeu um die alten Bäume rankt -- wie lächerlich! Ich hab mir einen blauen Anzug auf Raten gekauft und dreimal täglich muss ich zur Post -- nein-nein, ich bin nicht zum Hilfsdiener geboren! Ich bin etwas anderes geworden. Die Hauptsache ist und bleibt: es kommt nicht auf. Dann wär wirklich alles in Ordnung. Denn ich hatte ja auch recht mit dem, was ich tat, jawohl: recht! Ich erinner mich noch genau, wie eckelhaft mir jener Buchhalter war, als ich ihn fragte: „Und was macht sie jetzt, das Fräulein Anna?“ Er zuckte nur die Schultern: „Das wissen die Götter!“ Auf die Götter reden sich alle hinaus, aber an den lieben Gott denkt keiner. Vor vier Stunden dachte ich noch: ausgeschlossen, dass Du es bist, dem sie ihre Briefe schrieb. Woher hätte sie es denn wissen sollen, wer ich gewesen bin? Sie hätt mir ja seinerzeit heimlich nachschleichen und hätt sich beim Posten in der Kaserne erkundigen müssen, um meinen Namen zu erfahren -- nein, das ist ausgeschlossen!

5

B

N

B

10

B

15

20

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 13

N

N

B

N

BN

BN

BN

25

Als ich heut abend den Buchhalter verliess, dachte ich nur: jetzt weisst Du wenigstens, wo die wohnt. Sie wohnt sehr weit. Wenn Du zu Fuss gehst, brauchst Du gut anderthalb Stunden, aber Du sparst das Trambahngeld, es dämmert zwar schon, doch die Nacht ist noch fern. B

N

B

30

B

N

B

N

N

BN

\Textverlust\

얍 35

„Sind Sie mit dem Fräulein verwandt?“ Ich? Was soll ich nur sagen? Irgendwie muss ich zu ihr gehören, sonst wär ich ja jetzt nicht da -- aber verwandt? B

2 6 7 13 21–22 22 22 25 26 26 29 29 31 33

N

] fastN ] BAussichtN ] Bbleibt:N ] BSie f mirN ] BN] BN] BN] BabendN ] BDuN ] Bgehst,N ] Bgut anderthalbN ] BN] B„SindN ] BN B

gestrichen: XxXxXxXxXxXxXx [direkt] |fast| korrigiert aus: rAussicht korrigiert aus: bleibt, \:/ [Sie f mir] [müssen] [in der Kaserne] [Und wie ich so überlegte] [abend] |abend| Du[,] gehst\,/ [eine halbe] |gut anderthalb| [Rasch] korrigiert aus: Sind

367

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 14

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Nicht dass ichs wüsste -Ich möchte grinsen, aber das alte Kind beobachtet mich scharf, fast lauernd. Und ich sage: „Ich bin ihr Bruder.“ „Ihr Bruder?!“ „Ja.“ „Nicht möglich!“ „Warum nicht?“ Sie gibt keine Antwort vor lauter Ueberraschung. Wir schweigen. „Also Sie sind der Bruder“, fängt sie endlich wieder an, „und Sie haben sich nicht um Ihre Schwester gekümmert“ -„Ich hatte keine Zeit.“ „Ausreden! Nichts als Ausreden! Für einen Menschen muss man immer Zeit haben -- der Mensch kommt an erster Stelle und dann kommt erst alles andere!“ „Möglich“ -„Sicher! Wo kämen wir denn sonst hin?“

5

10

15



BN

ÖLA 3/W 178 – BS 26 j [4], Bl. 1

Ja, wohin? BN BN

20

Hauptmann, Hauptmann, was schreibst Du mir in Deinem Brief? „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern feige 얍 Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete“ -B

N

BN

17 19

BN

20 21 22 22

BN

BN

] ]

] ] BN] BN] BN

BN

gestrichen: Aenderungen.

[Ich frage] [|So frag ich mich und der Nebel wird immer gelber –| Dicht und schmutzig, so [legt] |senkt| er sich auf meine Seele.] [Und aus] [|Und ich geh durch den Nebel und|] [|Die Bilder der Vergangenheit|] [|Luft, meine Herrschaften, Luft!|] [|So frag ich mich und der Nebel senkt sich auf meine Seele|] [|Dicht|] [|So frag ich mich und die [N] |Nebel| kommen aus den Wäldern der Erinnerung|] [|So frag ich mich und der Nebel wird immer gelber – [Dicht] |Dicht| und schmutzig, so senkt er sich auf meine Seele. Es wächst ein Baum, ein toter Baum. Am Rande eines hohen Plateaus. \Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser./ Wir haben fünf Menschen gefangen, jetzt hängen wir sie auf den Baum. Zuerst den [Jüngsten] |Ältesten|, dann den [Ältesten.] |Jüngsten.| Denn dem Alter gebührt der Vortritt. \Wir säubern, wir säubern!/ [Und] |Und| der Hauptmann reisst [die] |einen| Ster[ne]|n| [ab] |herunter|, \einen/ silbernen Stern – (Aber wir leben [nimmer] |nichtmehr| in den [Zei] |Tagen| der Turnierritter.)|] gestrichen: – 109 – [schriebst] |schreibst| gestrichen: .... (usw.) gestrichen: „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige

368

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 16

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Komisch, ich weiss noch jedes Wort! Es ist mir geblieben. BN BN BN

5

Und die Krähen, sie kommen wieder und der Hauptmann, er ist von uns gegangen – Jetzt sitzt er auf einem Stein und schreibt mit seinem Säbel in den Sand -Er sah weder rechts noch links. Er will mich nicht sehen. Was zeichnet er dort? Linien? Und wie ich mich so frage, wird der dicke Nebel dünn. Der Schmutz wird weiss und auf einmal wirds mir klar: Immer, wenn es mir heimlich einfiel, jetzt geschieht etwas Niederträchtiges, dann fiel mir auch sie wieder ein, meine liebe Schwester, dann musst ich immer denken: eigentlich wollt ich zu Dir -„Wenn der Herr Bruder früher gekommen wären“, höre ich die Stimme meines Gegenübers, „dann wär vielleicht alles anders gekommen, dieses ganze Unglück.“ „Unglück?“ „Es tut mir sehr leid, dass ausgerechnet ich vom Schicksal dazu ausersehen wurde, es Ihnen mitzuteilen, aber mit dem Schicksal lässt sichs bekanntlich nicht streiten -- kurz und gut: es ist eine böse Sache und ist dennoch mit paar Worten erzählt. Ihre arme Schwester hatte eine ganz hübsche Anstellung“ -„Im verwunschenem Schloss“ -„Jawohl, aber eines schönen Tages wurde sie abgebaut“ -„Wegen der Autohalle?“ „Autohalle? Aber nein! Sie wurde fristlos entlassen, weil sie etwas erwartete, etwas kleines -- ein Kind.“ „Ein Kind?!“ B

BN

BN

B

N

N

BBN

N

B

10

B

NN

B

BN B

BN BB

15

20

25

NN

N

N

\Textverlust\

2 3 4 5 5–6

BN

gestrichen: \1.)/

BN

] ] BN] BN] Ber f schreibtN ]

6 6 7 7 8–10

BN

[Ja, er ist von uns gegangen, der Hauptmann.] [Er f links.]f x gestrichen: \2.)/ \er ist von uns gegangen – 4.) [Er] |Jetzt| sitzt auf einem Stein und/ [der schreibt] |zeichnet|] gestrichen: \4.)/

B

eingefügt

] erN ] BEr f links.N ] BN] BEr f Linien?N ]

x

Er f links.

gestrichen: \3.)/ (1) \5.)/ [Zeichnet er] [a] A uch Linien? (2) [ Was zeichnet er dort? ] Er f Linien?

| | | |

|

10 11 11 11 12 12 12

Linien?N ] BN] BUnd f dünn.N ] Bdünn.N ] BN] BDer f klar:N ] BDerN ] B

|

[Auch Li] |Linien?| gestrichen: \6.)/ [Auf einmal wir[s]|ds| mir klar:] |Und f dünn [und der Schmutz wird weiss –]| korrigiert aus: dünn gestrichen: \7.)/ [\Der Schmutz/] |Der f klar:| [{Je}] |Der|

369

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

BN

Und wieder fällt mir sein Blick ein. Als hätt er sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Er bleibt noch eine Weile drinn stehen, obwohl er nichtsmehr isst, und er wirft nur verstohlen ab und zu einen Blick auf mich, ob ich noch da bin. Warte nur, ich bleibe auch da! Du entkommst mir jetzt nicht, Du kommst mir gerade recht. Denn ich will Dich fragen, warum Ihr das Fräulein entlassen habt? Du hast Angst, weil Du es weisst, dass es unrecht gewesen ist. Eine Schweinerei. Ich geh paar Schritte weiter – weiss, jetzt denkt er, ich bin fort. Die Tür geht auf, es kommt aber nur ein Betrunkener. Er singt vor sich hin und torkelt der Heimat zu. Endlich kommt mein Mann . Vorsichtig bleibt er in der Türe stehen und sieht sich misstrauisch um. Ich drücke mich an die Hauswand, er kann mich nicht sehen. Jetzt geht er plötzlich los – nach links. Ich geh ihm nach. Er geht schnell. Geh nur, aber ich kann auch schnell gehen. B

10

N

N

B

B

B

N B

N

N

B

N

B

BN

B

15

N

N

B

N

BB

N N

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B

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B

20

2

BN

8 9 9

B

12 12 12

B

13 14 14 15 15 15 16

B

17 17 18 18 18

B

B

]

nicht f recht.N ] Denn ichN ] Bdas FräuleinN ] B

SchritteN ] weiter –N ] Bjetzt f fort.N ] B

ein Betrunkener.N ] Er f zu.N ] BN] BEndlichN ] Bmein MannN ] Bmein Mann.N ] BVorsichtig f um.N ] B

kannN ] nicht sehen.N ] BJetztN ] BplötzlichN ] Blos –N ] B

N B

N

B

N

N

[Denn drinnen steht der Buchhalter. Er holt sich gerade ein belegtes Brot, irgendeinen Hering. Er ist sehr kurzsichtig und der Hering fällt ihm vom Brot. Er hat Pulswärmer an, damit er nicht friert. Und ich muss plötzlich denken, Du sollst auch keinen Hering fressen. Staub sollst Du fressen. Wie der heut kicherte -Das Fräulein tat ihm leid, geht es mir plötzlich durch den Sinn, aber es schien ihm dennoch Spass zu machen, dass sie leiden musste -Du bist eine Kreatur, eine niedere Kreatur. Jetzt blickt er mir in die Augen und erkennt mich. Er zuckt furchtbar zusammen. Hat er Angst?] nicht[.]|, Du f recht.| [Denn] |Denn| [i]|i|ch (1) sie (2) das Fräulein Schritt\e/ [weiter] [|zurück|] [|nach|] [|nach rechts|] [und] |–| (1) [j]|j|etzt wird er \bald/ kommen. (2) \jetzt f fort./ [ein Mädchen und ein junger Mann.] |ein Betrunkener.| [\Er spricht mit sich selber/] |Er f zu.| gestrichen: hin [Dann] [e]|E|ndlich [er \selbst –/] |mein Mann| korrigiert aus: mein Mann [e]|E|r3 bleibt2 [v]|V|orsichtig1 \in der Türe/ stehen4 und5 sieht6 sich7 \misstrauisch/ um[7]|8|. [sieht] |kann| nicht[.]|sehen.| [Dann] |Jetzt| [rasch] |plötzlich| \los –/

370

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 5

Fragmentarische Fassung



K3/TS15/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er biegt in eine Seitenstrasse -- dann kommt ein Kanal. Eile nur zu, ich hol Dich schon ein – Jetzt sieht er sich um, erblickt mich, zuckt wieder zusammen und beginnt noch rascher zu gehen. „Herr Buchhalter“, rufe ich, „einen Moment!“ „Was wollen Sie?“ höre ich seine widerliche Stimme. Er hält nicht an dreht sich nichtmehr um. Jetzt bin ich schon direkt hinter ihm. B

N

N B

B

B

N

B

N B

N B

N

B

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N B

N B

N

BN

B

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B

N

5

B

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B

B

N B

N B

N

N

B

B

N

N

BN

10

Es weht ein kalter Wind. „Sie gehen schnell“, sage ich, „aber ich kann auch schnell gehen.“ Mit einem Ruck steh ich vor ihm und versperr ihm den Weg. Jetzt muss er halten. „Was wollen Sie von mir ?“ fragt er. „Wer sind Sie denn ?“ B

BN

N

N

BN B B

B

N

N

B

1 1 2 2 2 2 2 2 3 3 3 3 3–4 5 6 6 6 7 8 8 9 10 10 11 11 11 12 12 12 13 14 14 14

N

B

BBN

in f SeitenstrasseN ] dann f Kanal.N ] BEile f zu,N ] BichN ] BholN ] BDichN ] BschonN ] Bein –N ] BJetztN ] BerN ] BN] BwiederN ] Bbeginnt f gehen.N ] BrufeN ] Bhöre f Stimme.N ] BErN ] Bhält f anN ] BnichtmehrN ] BJetzt f ihm.N ] BhinterN ] BN] BN] BWind.N ] B„Sie f gehen.“N ] BN] BsageN ] BN] BMit f stehN ] Bihm f Weg.N ] BJetzt f halten.N ] Bvon mirN ] Ber.N ] BdennN ] B B

N

B

N

B

N

[nach rechts ein] |in f Seitenstrasse| [und geht nun neben einem Kanal.] |[und] dann f Kanal.| \Eile f zu,/ [I]|i|ch hol[e] [ihn]|Dich| [\fast/] |schon| ein[.] [|, s|] |– [sicher!]| [Er] [|Plötzlich|] |Jetzt| \er/ [\rasch/] [etwas] |wieder| [geht \noch rascher/ weiter.] |beginnt f gehen.| [sage] |rufe| [höre ich ihn[,]|.|] [|ruft er.|] \seine f Stimme./ [e]|E|r \hält f an/ nicht\mehr/ \Jetzt f ihm./ [hint] |hinter| [„Sie f gehen.“]f x gestrichen: \1.)/ [Wind.] [|Nordwind|] |Wind.| x„Sie f gehen.“ gestrichen: \2.)/ [sage] [|rufe|] gestrichen: \3.)/ [Jetzt steh] |Mit f steh| ihm[. Er hält.] |und f Weg.| [\Er hält./] |Jetzt f halten.| [denn] |von mir| er\./ [mich.] \denn/

371

N

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 6

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A4 (Korrekturschicht)

„Das wissen Sie genau“, wurde?“ frage ich. B

BN BB

Lesetext

„Und Sie finden es in Ordnung, dass sie entlassen NN B

N

B

N

N

BN

„Da sie ihren Dienst korrekt ausfüllen nichtmehr konnte durch die stände , in die sie geraten war “ -Er stockt und kichert. Oder ists mir nur so? B

N B

N

B

BN

5

B

B

N

B

N B

N

BN

Um-

N

N

B

N

BN

Ich lasse ihn nicht aus den Augen. „Wissen Sie, wo das Fräulein nun ist?“ „Nein.“ „Sie wurde eingesperrt.“ „ Eingesperrt?!“ N

B

B

10

B

N

B

얍 15

N

N

BN

„Das tut mir aber leid.“ Es tut ihm leid, geht es mir plötzlich durch den Sinn, aber es scheint ihm doch Spass zu machen, dass sie leiden muss -- denn er sieht gar so zufrieden und freundlich drein. Du bist eine Kreatur, eine niedere Kreatur -B

1

BN

1

B

1 1 1 2 3 4 4 4 4 5 5 5 6 6 6 7

B

8 9 11 12 13

B

15

B

]

„UndN ]

„UndN ] SieN ] BsieN ] Bfrage ich.N ] BN] B„DaN ] BsieN ] Bkorrekt f konnteN ] BN] BN] BsieN ] BwarN ] Bstockt undN ] Bkichert.N ] BistsN ] BN] B

Ich f Augen.N ] das f nunN ] BwurdeN ] BEingesperrt?!“N ] BN] B

leid, gehtN ]

N

[sage ich, „und ich möchte mich nur [um] |über| verschiedenes erkundigen.“ „Kommen Sie morgen ins Büro!“ „Morgen! Wer weiss, ob ich morgen noch leb!“ „Das wollen wir doch nicht hoffen!“ sagt er und lächelt ängstlich. „Hören Sie,“ sage ich, „es dreht sich um [das]|jenes| Fräulein. \Sie wissen, aus dem ehemaligen verwunschenen Schloss./ Sie sagten mir heute, [die Aermste] |das Fräulein| wurde krank“ -„Ja, das stimmt doch auch“ -„Sie kennen ihre Krankheit?“ „Ja.“] [„Und] |[„Sie war meine Schwester.“ „Oh pardon!“ „Oh bitte!] Und| korrigiert aus: Und korrigiert aus: „[S]|S|ie si\e/ \frage ich./ [\Lieber Herr“ – „Ich bin nicht Ihr lieber Herr!“/] korrigiert aus: [[„Ja.]|„|Denn] |Da| korrigiert aus: [sie konnte] nichtmehr3 ausfüllen2 korrekt1 \konnte4/ [seligen] [gesegneten] eingefügt

[ist] |war| \stockt und/ kichert\./ [wieder.] [ists] |ists| [„Und ist es nicht eine Schmach sie zu entlassen?“ „Warum?“] \Ich f Augen./ [sie jetzt] [|meine Schwester nun|] |das f nun| [ist] |wurde| korrigiert aus: Eingesperrt?\!/ [Warum?“] [\“/Weil \ihr/ sie [das Kind weg haben wollte] |entlassen habt|.“] [|[Da] |Da| sie [keine] |die| Stellung verlor, wei|] korrigiert aus: leid, geht

372

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Mein Herr“, sagt er, „ es gibt eben Privattragödien“ -Privattragödie? Das Wort hatt ich doch auch mal gebraucht. B

N

BN

B

N

BN

„Und ausserdem“, schliesst er, „der einzelne spielt keine Rolle mehr – auf den einzelnen kommt es nicht an.“ „Meinen Sie?“ „ Ja, sehen Sie die Bombardierungen! 100-te Tote, Kinder, Weiber – das muss so sein.“ B

5

N BB

B

N

N

BN

BN

B

N B

B

N

NN

\Abbruch der Bearbeitung\

1 1

B

sagtN ] ]

1 3

B

4

B

schliesst er,N ]

4–8

B

„der f sein.“N ]

4 5 6 7 7 7 8

B

BN

gibt ebenN ] ]

BN

„derN ] an.“N ] BN] BN] BJa,N ] BsehenN ] Bsein.“N ] B

sag[r]|t| [das ist nicht der erste Fall, solche Fälle gehen in die tausende, aber da lässt sich nichts ändern,] [sind halt] |gibt eben| [„Und es ist halt ein Unglück, dass Sie als ihr Bräutigam im Krieg waren, aber daran lässt sich nichts ändern, Krieg ist ein Naturgesetz“ -- und er redet weiter und ich höre alle meine ehemaligen Sprüche von ihm und es wird mir übel, wenn er es sagt, ich weiss, ich hab nicht recht, aber wenns er sagt, werde ich jetzt schrecklich bös, bei mir übel.] (1) sagt er, (2) schliesst er, (1) „vergessen Sie nicht, wir sind ein grosser Betrieb, wir haben auch eine Verantwortung getragen zu tragen“ -„Gegen wen?“ „Wir müssen rentabel bleiben, da können wir nicht jede mit einem Kind durchbringen. Wir sind genau so wie der Staat, so denken wir auch,“ „So?“ „Warum haben Si Ihrer Braut nicht geholfen?“ „Ich? Hören Sie: der Bräutigam jenes Fräuleins fiel für den Staat, der so wirtschaftet, rentabel“ -„Sie fielen? Sie sind doch noch da!“ „Ich bin tot.“ „Einen Schmrnn sind Sie! Vielleicht sind Sie betrunken? Aber nicht tot!X“ (2) \„der f sein.“/ korrigiert aus: der korrigiert aus: an. gestrichen: 1.) gestrichen: 2.) Ja[.]|,| korrigiert aus: Sehen korrigiert aus: sein.

373

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A5 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



5

10

Wenn Sie alle beinander hocken und das gestohlene Land verteilen. Du kriegst das Erz, Du das Fett, Du den Wein, Du das Brot -Und ich? Krieg ich denn nichts davon?! Du kriegst eine Rente, von der Du nichts abbeissen kannst, denn unser Volk ist arm und hat kein Erz, kein Fett, keinen Wein und kein Brot -- drum halt Dein Maul und kusch! Und meine Schwester? Die hat sich an dem ewigem Leben unseres Volkskörpers schändlich vergangen, also gehört sie hinter Schloss und Riegel und ihre Strafe geht in Ordnung, drum halt Dein Maul! Aber meine Schwester hätt sich doch garnicht vergangen, wenn sie nicht abgebaut worden wär, wenn Ihr sie beschützt hättet -- zu was hockt Ihr denn dort droben?! Nicht denken! Nur nicht denken! Das würd Euch so passen, was?! Frag nicht so dumm und kusch! Dein Fräulein Schwester war eben volkswirtschaftlich nichtmehr tragbar, sie hatte sich nichtmehr rentiert, da wäre Schutz hinausgeworfenes Geld! Und Geld ist Volksvermögen. Du hast eben keine Ahnung von wirtschaftspolitischen, bevölkerungspolitischen, geopolitischen Zwangserwägungen -Oh, wie kenn ich diese elenden Sprüch! Was blüht denn unseren ungeborenen Volksgenossen, warum sollen sie denn geboren werden? Um als elende Räuber und feige Mörder niederträchtig gegen Weiber, Kinder und Verwundete zu kämpfen, was?! Sie werden silberne Sterne bekommen, sagt Ihr -Und einen kaputten Arm, sage ich. Oder den Heldentod – Still, ist das nicht das Höchste, was ein Mann geben kann? B

15

20

25

B

30



N

B

N

B

N

N

BN

Halt! Warst Du nicht selber begeistert bei jener Säuberei? Hast Du nicht gesagt: bravo Flieger! Gewiss, weil ich dumm war! Aber Ihr habt gescheiter zu sein, Ihr seid ja die Führer! Wenn Ihr dumm seid, dann lebt von meiner Rente! B

BN

35

B

N

N

14 28 28 28 30

B

Ihr f dortN ] UndN ] BArm,N ] BOder f Heldentod –N ] BN]

31–35 34 34

B

B

Halt f Rente!N ] ] BgescheiterN ] BN

denn2 Ihr1 dort3 [Oder] |Und| Arm\,/ [oder den Heldentod,] \Oder f Heldentod –/ [Ja, es ist das Höchste! Und das soll er nicht hergeben für einen Dreck! Man lebt nur einmal und kein Führer hat das Recht, einem zu sagen: Du musst sterben, weil es ein Land gibt, das [wir uns] |ich mir| holen wollen. Einen kleinen Staat und sein Name wird bald der Geschichte angehören -- erinnert Ihr Euch? Ein lebensunfähiges Gebilde, beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt -Ein lächerlicher Standpunkt -- wie? Meint Ihrs nicht auch, Ihr hundserbärmlichen Betrüger?!] \Halt f Rente!/ [seid die Führer, Ihr] [nicht dumm] |gescheiter|

374

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 8

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 9

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A5 (Korrekturschicht)

Ihr redet immer von einer Sendung -Ihr habt keine Sendung zu haben! Macht uns nicht blöd! Ihr habt nur dafür zu sorgen, dass keine Mutter entlassen wird. Dass kein Fräulein sitzen muss. Dafür hockt Ihr dort drunten und sonst für nichts! Das wär alles. -- -- -Rasch geh ich durch die dunkle Nacht, wieder zum Hafen hinab. Denn ich will diese Firma zur Rede stellen, warum sie ein Fräulein entlassen hat . Es geht mich zwar direkt nichts an, aber man kann doch nicht alles hinnehmen! B

N

B

5

B

N B

B

N

N

B

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B

B

NN

B

10

Lesetext

N

B

N

N

B

N

B

N

BN

Ich geh an der Autohalle vorbei, da rodeln die letzten Gäste im Kreis. Blödes Gesindel! Und dort ist die weisse Wand mit der schwarzen Tür. Sie ist schon zu. „Wann ist denn hier wieder jemand?“ frage ich einen Schaukelburschen. „Morgen um acht.“ Schön, dann werde ich morgen wiederkommen. -B

15

B

20

3 4

N

B

N B

N

N

B

B B

4–5 4 5 6 6 7 8 8 10 11 11 13 14 14 14 15

B

16 16

B

Macht f blöd!N ] keine f wird.N ]

Dass f muss.N ] keinN ] Bsitzen muss.N ] BdruntenN ] Bnichts!N ] BwärN ] BwiederN ] Bhinab.N ] BhatN ] BaberN ] BmanN ] BN] BrodelnN ] BGästeN ] Bim Kreis.N ] BBlödes Gesindel!N ] B

B

mit derN ] schwarzenN ]

N B

N

\Macht f blöd!/ [jeder zum fressen hat.] [|keiner dem anderen etwas wegfrisst.|] |kein\e/ [Fräulein] |Mutter| entlassen wird.| \Dass f muss./ kein[e] [ins Zu] |sitzen muss.| [droben] |drunten| nichts! [-- -- --] wär[e] [ich gehe] |wieder| [zurück.] |hinab.| ha[ben]|t| [aber] |aber| \man/ [Man soll sich nicht alle\s/ bieten lassen!] [fahren] |rodeln| korrigiert aus: Gäste. \im Kreis./ (1) [Blödes Gesindel!] (2) |Viel Vergnügen!| [und die] |mit der| schwarze\n/

375

Fragmentarische Fassung



K3/TS15/A5 (Korrekturschicht)

Es ist ja auch Winter geworden und die Tage werden immer kürzer. Ich will schon hinein, da halt ich im letztem Moment -Denn drinnen erblick ich einen alten lieben Bekannten. Den Buchhalter. Und ich hab gefragt: „Was hat ihr gefehlt?“ Und Du hast gesagt: „Nichts besonderes“ – Und dann hast Du so widerlich gegrinst, ich hörs noch jetzt – Und sagte er nicht auch: das Frl wurde krank? Er wusste es natürlich, warum sie ihre Stellung verlor -Er bemitleidete sie, aber es freute ihn auch -Du bist eine Kreatur, eine kurzsichtige niedrige Kreatur. Er verzehrt gerade einen Hering. Er hat Pulswärmer an, damit er nicht friert. Und ich muss plötzlich denken, Du sollst frieren und sollst keinen Hering essen -Jetzt wirft er zufällig einen Blick auf die Glastür und erblickt mich. Er zuckt etwas zusammen -- und schaut mir einen Augenblick in die Augen, dann schaut er gleich weg. Ja, er hat mich erkannt, er weiss, wer ich bin. Der Hering fällt von seiner Gabel – Hat er Angst? B

B

B

5

NBNN

N

B

B

B

10

15

B

20

Lesetext

NN

N

N

\Textverlust\

1

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Es f kürzer.N ]

1

B

die f kürzer.N ]

1 3 5–6

BN

6 7

B B

ich f jetzt –N ] das FrlN ]

18

B

seiner Gabel –N ]

] liebenN ] BUnd f jetzt –N ] B

[Langsam [geh] |wander| ich die Allee zurück, denn heut hab ich nichtsmehr zu verlieren. Die meisten Buden sind schon zu. Die [Dame] |Frau| mit dem Bart, der Mann mit dem Löwenkopf und die dickste Dame der Welt, sie liegen schon in ihren Bettchen und träumen blauen Dunst. \Die Messerschlucker \und {Feuerfresser}/, sie schlucken [nichtsmehr,] und fressen nichtsmehr./ Nur [zwei] |ein kleiner| Affe[n kleine] frier[en]|t| noch in der Nacht. [Sie]|Er| [zitter[n]|t|] |möcht| um die Wette[.]|zittern, aber er ist [allein.] [|niemand|] |kein zweiter Affe da,|, mit dem er zittern könnt.| Im Hippodrom wird auch nichtmehr geritten, und die Schiessbuden sind auch zu, [nur] [e]|E|in Betrunkener schiesst daneben. Er [verschiesst] |{verjuchert}| [noch] sein \ganzes/ Vermögen. Es wär schön, wenn man sich wiedermal einen Rausch leisten könnt, um [alles zu vergessen oder] [|die Welt, den Dreck und das All|] |sich selber| rosiger zu sehen -Links [[ist] [|läutet|] ein Automaten[buffet] [|restaurant|] [|betrieb|] |lokal| [,]|.| [das]|Der| [ist] |bleibt| natürlich noch \lange/ offen -- [da]|dort| kauf ich mir \jetzt/ ein Glas\./ [Bier.]] |fällt [das] |ein| \grünes/ Licht auf den Schnee. [Es ist] |Aus einem Bierpalast.| Von [den] leuchtenden Buchstaben – aha, ein Automatenbuffet.|] |Es f kürzer.| [der Schnee,] [er hört nicht auf,] [|wird nimmer weniger.|] [|tanzt immer begeistert.|] |hört nimmer auf.| |die f kürzer.| gestrichen: hört nimmer auf. \lieben/ (1) Diesen kichernden (2) Wie der heut widerlich kicherte -(3) \Und f jetzt –/ [dass es mir –] [|es ist mir|] |ich f jetzt –| (1) sie (2) das Frl seine[m]|r| [Brot --] |Gabel –|

376

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 10

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A6 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



Es wär schön, wenn man sich wiedermal einen richtigen Rausch leisten könnt, um wieder eine Zukunft zu sehen -Ich leg schon die Hand auf die Klinke, da halt ich im letzten Moment. Denn drinnen in diesem Bierpalast erblick ich einen alten Bekannten. Den Mann, der mir den Zettel gab -- mit der Adresse meiner Schwester . Er ist es, der Buchhalter. Er verzehrt gerade einen Hering. Wie fein der frisst -- oder scheints mir nur so, weil er kurzsichtig ist? Er wusste es natürlich, warum sie ihre Stellung verlor, er wusste es genau -Jawohl, er hats doch auch gesagt: „ Das Fräulein wurde krank.“ Und ich hab gefragt: „Was hat ihr gefehlt?“ Und er hat gesagt: „Nichts besonderes“ – Nichts besonderes? Na warte nur! – Er frisst noch immer. Ich sehe, dass er Pulswärmer trägt damit er nicht friert. Und ich muss plötzlich denken, Du sollst frieren. Und Du sollst auch keinen Hering fressen – Er wirft einen Blick auf die Glastür und zuckt etwas zusammen. Der Hering fällt von seiner Gabel. Hat er mich erkannt? Er sah gleich wieder weg -Jawohl, er weiss, wer ich bin -- trotz seiner Kurzsichtigkeit. Jetzt hat er den Hering herunten . Er steht auf von seinem Tisch, doch er bleibt noch drinnen , obwohl er sich nichtsmehr kauft, er wirft nur ab und zu einen verstohlenen Blick auf mich, ob ich noch vorhanden bin. B

B

5

N

N

B

B

10

N

N

B

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B

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N B

N

15

N

B

B

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BB

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2 3

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25

N B

N

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20

B

NN

N N B

B

N

B

6 9 11 11 11 11–14 15 15 15 17 18 18 18 23 23 23 23 23 23 24

B

24 24 24 25 25

B

richtigenN ] wieder f sehenN ]

meiner SchwesterN ] feinN ] BJawohl f auchN ] BDas FräuleinN ] Bkrank.“N ] BUnd f immer.N ] BIch f erN ] BträgtN ] Bdamit f friert.N ] Bfressen –N ] BErN ] BundN ] Bzusammen. DerN ] BheruntenN ] Bherunten.N ] BErN ] Bsteht f Tisch,N ] BdochN ] BerN ] Bbleibt f drinnenN ] B

drinnenN ] sichN ] Bab f zuN ] BverstohlenenN ] BvorhandenN ] B

N

N B

N B

N

B

N

B

B

B

N B

N

N

N

\richtigen/ [die Welt und das All und sich selber rosiger zu sehen] [|alle seine \hohen/ Renten|] |wieder f sehen| meine[s]|r| [Fräulein] |Schwester| [gierig] [|behut|] |fein| [Ha[st]|t| [Du] |er| mir denn nicht] |Jawohl f auch| [sie] |Das Fräulein| krank\./“[?] \Und f immer./ [Er hat] [|Und|] |Ich f er| [an[,]|hat,|] |trägt| [damit f friert.] fressen[.]|–| [Und wie ich so denke,] [|Da|] |Er| [-- er]|und| zusammen\./ [und] [d]|D|er [gefressen] |herunten| korrigiert aus: herunten[, aber er bleibt noch sitzen] [und] |Er| korrigiert aus: [erhebt sich[.]|,|] |steht f Tisch.| [D]|d|och korrigiert aus: [e]|E|r (1) kommt nicht heraus, (2) \bleibt f drinnen/ korrigiert aus: drinnen. \sich/ [verstohlen] |ab f zu| \verstohlenen/ [draussen] [|heraussen|] |vorhanden|

377

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 11

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Ja, ich bin noch draussen und geh nicht hinein. Ich warte, bis der Herr zu erscheinen geruht -Denn ich will Dich nun unter vier Augen fragen, warum Ihr das Fräulein entlassen habt. Unter vier Augen, denn es besteht die Möglichkeit, dass ich Dir eine herunterhau. Und Du bleibst noch immer drinnen , weil Du es genau weisst, dass es eine Schweinerei gewesen ist -Aber warte nur, ich bring Dich schon heraus! -B

N

B

N

B

5

N

B

N

BN

\Textverlust\

10



„Was wollen Sie?” höre ich seine Stimme. Er dreht sich nichtmehr um und hält nicht an. Jetzt bin ich schon dicht hinter ihm. B

B

ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 12

N

N

BN BN

15

Es weht ein kalter Wind. „Sie gehen schnell“, sage ich, „aber ich kann auch schnell gehen“ – Mit zwei Schritten steh ich vor ihm und versperr ihm den Weg. Jetzt muss er halten. „Was wollen Sie denn von mir?“ fragt er und sieht sich hilfesuchend um. Doch es kommt nirgends ein Mensch, jetzt gibts nur ihn und mich. „Ich möchte Sie etwas fragen, was die Firma betrifft“ -„Kommen Sie morgen ins Bureaux“, fällt er mir ins Wort und versucht krampfhaft sicher zu scheinen. „Morgen?“ grinse ich. „Wer weiss, ob ich morgen noch leb!“ „Das wollen wir doch nicht hoffen“, sagt er und lächelt ängstlich. BN

BBN

B

B

BN

20

B

25

1 2 5 7 7 12 13 14 15 16 17 17 17 18 18 21 21 21 21 21 21

N

N B

draussenN ] zu f geruht --N ] BUnter f herunterhau.N ] Bbleibst f drinnenN ] BN] Bum f an.N ] Bihm.N ] BN] BN] BN] B„Sie f gehen“ –N ] BN] Bgehen“ –N ] BN] Bzwei SchrittenN ] Bkommt f einN ] BMensch,N ] Bjetzt gibtsN ] BnurN ] BihnN ] Bmich.N ] B B

N B

N B

N B

N

[da] [|vorhanden|] |draussen| [erscheint] |zu f geruht --| \Unter f herunterhau./ [kommst nicht heraus] |bleibst f drinnen| [Du Angst hast, weil es] um[.]|und f an.| ihm\./ [Er hält nicht an.] [„Sie f gehen“ –]f x gestrichen: \1.)/ x„Sie f gehen“ – gestrichen: \2.)/ korrigiert aus: gehen[.“]|“–| gestrichen: \3.)/ [einem] |zwei| [Ruck] [|Sprung|] |Schritten| [ist kein] |kommt f ein| Mensch\,/ [vorhanden,] |jetzt gibts| [nur wir zwei,] [|uns|] |nur| [er] |ihn| [ich.] |mich.|

378

B

N

NN

Fragmentarische Fassung

K3/TS15/A6 (Korrekturschicht)

„Hören Sie“, sage ich streng , „es dreht sich um das Fräulein aus dem verwunschenem Schloss. Sie sagten mir heut Nachmittag , das Fräulein sei krank geworden“ -„Leider, leider“ -„Sie wussten es , was ihr gefehlt hat?“ Er starrt mich einen Augenblick an, dann fährt er sich mit der Hand über die Augen und blickt wie zum Himmel empor -- sucht er dort Hilfe? Nein, jetzt gehörst Du mir. BB

B

5

Lesetext

N N

N

B

B

B

N

N

N

BN

B

N

BN

Plötzlich gibt er sich einen Ruck und erkundigt sich kleinlaut: „Verzeihen Sie -waren Sie der Herr Papa ?“ „Nein.“ „Nein?“ fragt er gedehnt und mustert mich. Er wird frech. „Was geht dann Sie jenes Fräulein an?“ B

10 B

N

N

B

B

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N

B

B

B

15

N

N

BN

B

N

B

N

BNN

\Abbruch der Bearbeitung\

1 1 1 2 2 5 7 7–8 9 10 10 11 11 12–15 13 14 14 15 15 15

B

[und lasse ihn nicht aus den Augen,] |streng|

B

korrigiert aus: streng korrigiert aus: sic h

strengN ] streng,N ] BsichN ] BSchloss.N ] Bheut NachmittagN ] BesN ] BN] Bgehörst f mir.N ] BN] BgibtN ] Berkundigt sichN ] BwarenN ] BHerr PapaN ] B„Nein.“ f an?“N ] Bmustert mich.N ] BErN ] BN] BgehtN ] BSieN ] BN]

Schloss\./ [--] heut[e] \Nachmittag/ [\{ }/] |es| [hilfesuchend] [hilft Dir niemand, jetzt musst Du antworten --] [|Dass|] |gehörst f mir.| [Ich lasse ihn nicht aus den Augen.] [reisst] |gibt| [fragt mich] |erkundigt sich| [leise und] [sind] |waren| [Vater] |Herr Papa| [„Nein.“] [|Was soll ich sagen?|] |„Nein.“ f an?“| [wird] [|mustert mich.|] [|grinst erleichtert.|] [Jetzt] |Er| [er] geht[s] [Sie an,] |Sie| [fragt er.]

379

Replik, Notizen

ÖLA 3/W 182 – BS 26 l [3], Bl. 2

380

Replik, Notizen

K3/E8–E11

381

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K3/TS16 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 DER SCHNEEMANN

5

10

B

ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 3

Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat. Ich war Soldat. Und ich war gerne Soldat. Der Brief des Hauptmanns. Die Führer sagten: „Marschieren!“ Der liebe Gott sah zu und strafte den einzelnen. Ob wir dann auch noch marschieren werden , wir Soldaten der Diktatur? Hoffentlich nicht! Hoffentlich sind wir dann alle verreckt! Wir säubern! Ich höre noch das Wasser gurgeln, aber es stört mich nicht. Ich hör es gern. Der Kinderspielplatz – Hab ich hier nichtmal gespielt? Wo bin ich hier? In einer fremden Stadt? BN B

B

N

N

BN

15

BN B

NN

BN

20

\Abbruch der Bearbeitung\

5–19

B

Es f Stadt?N ]

5 5 10 12 16

BN

] Soldat.N ] BwerdenN ] BN] BN]

16–19 20

B

B

Der f Stadt?N ] ]

BN

[Die letzten Chauffeure verliessen die Stadt Paris und es blieben nur mein Vater und ich. „Komm!“ sagte mein Vater. „Es ist Sperrstund, wir sperren zu, gehen wir schlafen!“ Er dreht die Lichter aus und ich erhebe mich. „Werden sehen, was der nächste Tag bringt“, sagt mein Vater . Ich zieh mir den Mantel an und er starrt plötzlich hin. „Was ist denn das? Wer hat Dir denn da den Knopf ausgerissen? Und mit einem ganzen Stück vom Mantel?“ -Ich schrecke zusammen. Was für einen Knopf? „Da“, sagt mein Vater, „hast Du denn gerauft?“ Er fixiert mich. „Ja“, sag ich, „ich hab gerauft.“ „Na sowas“, sagt er, „wegen was denn? Na, ich kanns mir schon denken -- ein Mädchen, was?“ „Ja“, ein Mädchen“ -Wir gehen heim und ich bekomme lötzlich schreckliche Angst. „Ich geh noch weg“, sage ich, „ich komm gleich wieder, hab noch was zu erledigen.“ „Wieder das Mädel?“ „ja“ „Na gut!“ Wir trennen uns.] |Es f Stadt?| [\braver/] Soldat\./ [der Diktatur.] \werden/ [schon] [\Der Staat = die Rüstungsindustrie. Jetzt verdient der Staat./] \Der f Stadt?/ [\Ich möchte ihr den Brief schreiben. Die Sterne, sie funkeln so hell und klar, als wär der Himmel aus schwarzem Samt./]

382

Fragmentarische Fassung

K3/TS17/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



Noch funkeln die Sternlein, sie funkeln so hell und klar, als wär der Himmel schwarzer Samt – Was war das für ein komischer Satz ? Der hatte doch geheimen Sinn! – BB

N

B

N

N

B

5

B

N

N

BN

Der Schnee beginnt zu treiben – Das silberne Licht der Sterne wird weisser – und die Kälte zwickt mich, Was tragen die als kröchen Ameisen über mich und errichteten eine Burg – Ameisen? Sie bauen, sie bauen – Es schneit, es schneit – Was bauen die Ameisen? Das wird die Zukunft zeigen – Jetzt schneits schon ganz prächtig – wie in einem Märchenbuch. Jetzt schlafen auch schon die Ameisen und es wird mir unsagbar angenehm – Ich hab keine Sorgen mehr. Der Wind weht mir ins Gesicht, es wird mir immer wärmer. Und der Wind bringt mir wieder diesen komischen Satz von vorhin und jetzt kann ich ihn auswendig: N

BN B

BBNB

BN

N B

N

B

N

BN B

10

N

BN BN

B

N

BN

BN

15

BN B

N

B

BN B

N

N

BN

BN

20

B

N

B

N B

N B

N

2–3 2 2 4 5 6 7 7 7 8 8 8 8 8 9 9 11 12 12 13 14 15 15 16 16–17 16 18 19 19 19 19 19–20

Noch f Samt –N ] Noch funkelnN ] Bfunkeln soN ] BSatzN ] BhatteN ] BN] BN] BDerN ] BN] BDas f weisser –N ] BN] BDasN ] BsilberneN ] BundN ] B B

] WasN ] BN] BN] Bschneit f schneit –N ] BN] BN] BN] BJetzt f Märchenbuch.N ] BN] BJetzt f mehr.N ] BschonN ] BN] BN] Bder f mirN ] BdiesenN ] BkomischenN ] BSatz f auswendig:N ] BN B

\Noch f Samt –/ [Und] |Noch funkeln| funkeln\ /so [Z] |Satz| hat\te/ [Das f weisser –]f x gestrichen: \1.)/ [Und] [d]|D|er [\Das f weisser –/] xDas f weisser – gestrichen: \2.)/ [Und die Nebel kommen und] [d]|D|as [golde] [|silb|] |silberne| [Ich werde immer müder – Es wird so kalt;] |und| gestrichen: \4.)/ [w]|W|as gestrichen: \5.)/ gestrichen: \6.)/ schneit\,/ [immer mehr.]|es schneit –| gestrichen: \7.)/ gestrichen: \8.)/ gestrichen: \9.)/ [Und es kommen die Nebel, die Nebel der Zukunft –] |Jetzt f Märchenbuch.| gestrichen: \1[1]|0|.)/ [\10.)/ Der Wind weht, aber mir wirds immer wärmer.] |Jetzt f mehr.| \schon/ gestrichen: \11.)/ gestrichen: \12.)/ [mit ihm kommt] |der f mir| diese[r]|n| korrigiert aus: komische Satz[:]|von f auswendig:|

383

ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K3/TS17/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den feuerigen Schwertern. B

N

BN

Ob die Frau meines Hauptmanns den Brief zerriss ? Oder ob ihn einst jemand finden wird? Andere Menschen – – Es wird immer schärfer und kälter. Geh heim, sonst schliesst man noch Dein Tor. Lass nur, lass! Die Kälte wird schon kommen – Eine grosse Hand nimmt mich in die Hand und hebt mich auf. Sie hält mich an die Sonne, die ich nicht sehen kann , denn die Welt ist noch voll Nebel – Das sind die Nebel der Zukunft, geht es mir durch den Sinn. Und der Schnee schmilzt und da sagt die Hand: „Siehe, eine Seele“ – B

B

N

B

5

B

N

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N

NN

N

B

B

B

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N BN

N

B

N

B

BBN

10

B

N

BN

N

B

B

N

B

N

B

N

N

BN

BN

15



Wo bin ich? Und das Zimmer ist dunkel, ich sitze auf dem Boden: Die Fenster sind hoch und ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt. B

B

NN

N B

B

N

B

N B

N

1 3 4–5

B

korrigiert aus: am

BN

4 4 4 5 6 7 7 7 8

B

[\Ich glaube, er hat keinen Sinn./] [(Wie dumm ich war) – in Reih und Glied, da [ha] |hatte| ich keine Angst vor dem Eis. (Kapitel 1.) [\Ich war Soldat. Und ich war gerne Soldat./] [\Einst dachte ich, mit dem Hass komm\en/ [ich weiter.] |wir weiter.| Jetzt kam die Liebe. Aber ich [bin ge] |ertrag sie nicht.| [Auch wenn ich liebe, muss ich [zuschlagen.] |zuschlagen.|/] (Wie dumm ich war)] |Ob f wird?| [Witwe des] |Frau meines| zerr[eisst]|iss| [mal] |einst| finde[t?]|n wird?| [\In einer anderen Zeit –/] |Andere [Leut, in] |Menschen – – || \Es f kälter./ \schärfer und/ [und kalt wird werden.] [(Gletscher)] [|Ja, es wird Zeit, dass Du heimgehst.|] [|Geh heim,|] \,/ sonst schliess[en]|t| [sie] |man [\Dir/]| noch [das] |Dein| Tor[!]|.| [Verhunger oder friss Dich selbst! –] |Lass f kommen –| [\10.)/ Der Wind weht, aber mir wirds immer wärmer.] |Eine f Nebel –| [{\10.)/}] Sonne\,/ [und sagte] |die| [\noch/] sehe\n/ \kann/ [es ist alles] |die f noch| [Es]|Das| Zukunft[.]|, geht f Sinn.| [in der Hand] [Ich] [|Der Schnee wird immer wärmer und ich immer müder.|] [Es ist mir wohlig, warm, nur mein Herz friert –] |Wo f ich?| ich [hier eigentlich?] |?| [\Das Zimmer ist dunkel und/] |\Und/ [D]|d|as Zimmer ist dunkel,| [Ich] |[I]|i|ch| \dem/ Boden\:/ [und [das Zimmer ist dunkel.] |[ich] kann nicht hinausschauen[,]|.||] |[Denn] [d]|D|ie f hebt.|

9 10–11 10 11 11 11 11 12 12 13 14 15 15 16 16 16 16–17

AmN ] ] BOb f wird?N ]

Frau meinesN ] zerrissN ] BeinstN ] Bfinden wird?N ] BAndere Menschen – –N ] BEs f kälter.N ] Bschärfer undN ] BN] BGeh f Tor.N ] B

Lass f kommen –N ] Eine f Nebel –N ] BN] BSonne, dieN ] BN] Bsehen kannN ] Bdie f nochN ] BDasN ] BZukunft f Sinn.N ] BN] BN] BWo f ich?N ] Bich?N ] BUnd f dunkel,N ] BichN ] BdemN ] BBoden f hebt.N ] B B

384

ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K3/TS17/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

BN B

Jaja, nach einem Krieg gibts oft keine Kohlen.

N

BN

Ich werde den lieben Gott fragen, warum es Kriege geben muss. „Es ist kalt“, das ist meine erste Erinnerung – – – Die Nacht vergeht, langsam kommt wieder der Tag. Wie der schleicht, als hätt er ein böses Gewissen – Heut schneit es nichtmehr und die Sonne schaut mich neugierig an. Sie schüttelt ihren runden Kopf. Ich bin voll Schnee und rühre mich nicht. Damit ich kein bisschen Schnee verlier. B

5

B

N

N

B

BN B

N

N

B

N B

B

N B

N B

B

B

10

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N B

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N BN

Kind \Abbruch der Bearbeitung\

1 2 3 4 4 6 6 6 7 8 8 8 8 8 9 9 9 9

] Jaja f Kohlen.N ] BN] Bden liebenN ] BKriege f muss.N ] BDieN ] BN] Blangsam f Tag.N ] BWie f Gewissen –N ] BHeutN ] BschneitN ] BesN ] Bnichtmehr undN ] Bneugierig an.N ] BSie f Kopf.N ] BihrenN ] BrundenN ] BN] BN B

[Es ist kalt.] [O] |\Jaja,/ [„][[N]|n|ach f Kohlen.][“]| [\Weine nicht, Mutter, weine nicht –/] \den lieben/ [so kalt sein muss.] [|keine Kohlen gibt –|] |Kriege f muss.| [Und] [d]|D|ie [\und/] [der Tag kommt.] [|es wird allmählich Tag.|] |langsam f Tag.| \Wie f Gewissen –/ [Es] |Heut| [ha] |schneit| \es/ nichtmehr[,]|und| [an.] |neugierig an.| [Aber ihre Strahlen sind schwach und kalt.] |Sie f Kopf.| [den Kopf] |ihren| [heiss] |runden| [\Heut ist er/]

385

N

Fragmentarische Fassung

K3/TS17/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat. Und Du, Du wirst grösser werden und wirst den Soldaten vergessen. Oder? Vergess ihn nicht, vergess ihn nicht! Denn er gab seinen Arm für einen Dreck. Und wenn Du gross sein wirst und es wird vielleicht andere Tage geben und Deine Kinder werden Dir sagen: dieser Soldat war ja ein gemeiner Mörder, dann schimpfe nicht auch auf mich. Bedenk es doch: er wusst sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit. B

5

B

B

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N B

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XXX

N

3–13

3 5 5 7–8 7 7 7 7 7–8 8 8 8 10

B

Und f XXXN ]

Du, DuN ] VergessN ] BvergessN ] Bwenn f sagen:N ] BN] BwirstN ] BvielleichtN ] BandereN ] Bgeben undN ] BDeine f DirN ] BjaN ] BgemeinerN ] BBedenkN ] B B

[Ich war Soldat. Und ich war gerne Soldat.

kl. Mädel: Vielleicht wusst er sich nicht anders zu helfen. Er war eben ein Kind seiner Zeit.] |Und f XXX| Du [wirs] |, Du| Verg[i]|e|ss verg[i]|e|ss [dann hat er auch noch einen umgebracht] |wenn f sagen:| [längst] wirs[t]|t| \vielleicht/ [eine] |andere| geben [–]|und| [man wird Dir] |Deine f Dir| \ja/ \gemeiner/ [Denk] |Bedenk|

386

ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 5

Endfassung

K3/TS18 (Korrekturschicht)

Lesetext

Ödön von Horváth 얍

EIN KIND UNSERER ZEIT

Horváth 1938b, o. Pag.

ROMAN 5



10

15

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30

35

40

45

DER VATER ALLER DINGE

Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat. Wenn morgens der Reif auf den Wiesen liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, wenn das Korn wogt und die Sense blitzt, obs regnet, schneit, ob die Sonne lacht, Tag und Nacht – immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen. Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem jungen Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt hab ich sie wieder, meine Zukunft, 얍 und lasse sie nimmer los, auferstanden aus der Gruft! Es ist noch kaum ein halbes Jahr her, da stand sie bei meiner Musterung neben dem Oberstabsarzt. „Tauglich!“ sagte der Oberstabsarzt, und die Zukunft klopfte mir auf die Schulter. Ich spürs noch heut. Und drei Monat später erschien ein Stern auf meinem leeren Kragen, ein silberner Stern. Denn ich hatte hintereinander ins Schwarze getroffen, der beste Schütz der Kompagnie. Ich wurde Gefreiter und das will schon etwas heissen. Besonders in meinem Alter. Denn ich bin fast unser Jüngster. Aber eigentlich sieht das nur so aus. Denn eigentlich bin ich viel älter, besonders innerlich. Und daran ist nur eines schuld, nämlich die jahrelange Arbeitslosigkeit. Als ich die Schule verliess, wurde ich arbeitslos. Buchdrucker wollte ich werden, denn ich liebte die grossen Maschinen, die die Zeitungen drucken, das Morgen-, Mittag- und Abendblatt. Aber es war nichts zu machen. Alles umsonst! 얍 Nicht einmal zum Lehrling konnte ichs bringen in irgendeiner Vorstadtdruckerei. Von der inneren Stadt ganz zu schweigen! Die grossen Maschinen sagten: „Wir haben eh schon mehr Menschen, als wir brauchen. Lächerlich, schlag Dir uns aus dem Kopf!“ Und ich verjagte sie aus meinem Kopf und auch aus meinem Herzen, denn jeder Mensch hat seinen Stolz. Auch ein arbeitsloser Hund. Raus mit Euch, ihr niederträchtigen Räder, Pressen, Kolben, Transmissionen! Raus! Und ich wurde der Wohltätigkeit überwiesen, zuerst der staatlichen, dann der privaten – Da stand ich in einer langen Schlange und wartete auf einen Teller Suppe. Vor einem Klostertor.

387

Horváth 1938b, S. 5

Horváth 1938b, S. 6

Horváth 1938b, S. 7

Endfassung

5

10

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45

K3/TS18 (Korrekturschicht)

Lesetext

Auf dem Kirchendach standen sechs steinerne Figuren. Sechs Heilige. Fünf Männer und ein Weib. Ich löffelte die Suppe. Der Schnee fiel und die Heiligen hatten hohe weisse Hüte. Ich hatte keinen Hut und wartete auf den Tau. Die Sonne wurde länger und die Stürme wärmer – 얍 Ich löffelte die Suppe. Gestern sah ichs wieder, das erste Grün. Die Bäume blühen und die Frauen werden durchsichtig. Auch ich bin durchsichtig geworden. Denn mein Rock ist hin und meiner Hose gings ebenso – Man weicht mir fast schon aus. Viele Ideen gehen durch meinen Kopf, kreuz und quer. Mit jedem Löffel Suppe werden sie ekelhafter. Plötzlich hör ich auf. Ich stell das Blech auf den steinernen Boden, es ist noch halb voll und mein Magen knurrt, aber ich mag nicht mehr. Ich mag nicht mehr! Die sechs Heiligen auf dem Dache blicken in die blaue Luft. Nein, ich mag sie nicht mehr, meine Suppe! Tag für Tag dasselbe Wasser! Mir wirds schon übel, wenn ichs nur seh, diese Bettelbrüh! Schütt sie aus, Deine Suppe! Weg! In den Dreck damit! – 얍 Die Heiligen auf dem Dache schauen mich vorwurfsvoll an. Glotzt nicht dort droben, helft mir lieber da drunten! Ich brauch einen neuen Rock, eine ganze Hose – eine andere Suppe! Abwechslung, Herrschaften! Abwechslung! Lieber stehlen als betteln! Und so dachten auch viele andere von unserer Schlange, ältere und jüngere – es waren nicht die schlechtesten. Ja, wir haben viel gestohlen, meist warens dringende Lebensmittel. Aber auch Tabak und Zigaretten, Bier und Wein. Meist besuchten wir die Schrebergärten. Wenn der Winter nahte und die glücklichen Besitzer daheim in der warmen Küche sassen. Zweimal wurde ich fast erwischt, einmal bei einer Badehütte. Aber ich entkam unerkannt. Über das Eis, im letzten Moment. Wenn mich der Kriminaler erreicht hätt, dann wär ich jetzt vorbestraft. Aber das Eis war mir 얍 gut, er flog der Länge nach hin. Und meine Papiere blieben lilienweiss. Kein Schatten der Vergangenheit fällt auf meine Dokumente. Ich bin doch auch ein anständiger Mensch und es war ja nur die Hoffnungslosigkeit meiner Lage, dass ich so schwankte wie das Schilf im Winde – sechs trübe Jahre lang. Die Ebene wurde immer schiefer und das Herz immer trauriger. Ja, ich war schon sehr verbittert. Aber heut bin ich wieder froh! Denn heute weiss ichs, wo ich hingehör. Heut kenn ich keine Angst mehr, ob ich morgen fressen werde. Und wenn die Stie-

388

Horváth 1938b, S. 8

Horváth 1938b, S. 9

Horváth 1938b, S. 10

Endfassung

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

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fel hin sind, werden sie geflickt, und wenn der Anzug hin ist, krieg ich einen neuen, und wenn der Winter kommt, werden wir Mäntel bekommen. Grosse warme Mäntel. Ich hab sie schon gesehen. Das Eis braucht mir nicht mehr gut zu sein! Jetzt ist alles fest. Endlich in Ordnung. Adieu, Ihr täglichen Sorgen! Jetzt ist immer einer neben Dir. Rechts und links, Tag und Nacht. „Angetreten!“ tönt das Kommando. 얍 Wir treten an, in Reih und Glied. Mitten auf dem Kasernenhof. Und die Kasern ist so gross wie eine ganze Stadt, man kann sie auf einmal garnicht sehen. Wir sind Infanterie mit leichten und schweren Maschinengewehren und nur zum Teil erst motorisiert. Ich bin noch unmotorisiert. Der Hauptmann schreitet unsere Front ab, wir folgen ihm mit den Blicken, und wenn er beim Dritten vorbei ist, schauen wir wieder vor uns hin. Stramm und starr. So haben wirs gelernt. Ordnung muss sein! Wir lieben die Disziplin. Sie ist für uns ein Paradies nach all der Unsicherheit unserer arbeitslosen Jugend – Wir lieben auch den Hauptmann. Er ist ein feiner Mann, gerecht und streng, ein idealer Vater. Langsam schreitet er uns ab, jeden Tag, und schaut nach, ob alles stimmt. Nicht nur, ob die Knöpfe geputzt sind – nein, er schaut durch die Ausrüstung hindurch in unsere Seelen. Das fühlen wir alle. Er lächelt selten und lachen hat ihn noch keiner gesehen. Manchmal tut er uns fast 얍 leid, aber man kann ihm nichts vormachen. Wie er möchten wir gerne sein. Wir alle. Da ist unser Oberleutnant ein ganz anderes Kaliber. Er ist zwar auch gerecht, aber oft wird er schon furchtbar jähzornig und brüllt einen an wegen der geringsten Kleinigkeit oder wegen nichts und wieder nichts. Aber wir sind ihm nicht bös, er ist halt sehr nervös, weil er vollständig überarbeitet ist. Er möcht nämlich in den Generalstab hinein und da lernt er Tag und Nacht. Immer steht er mit einem Buch in der Hand und liest sein Zeug. Neben ihm ist unser Leutnant nur ein junger Hund. Er ist kaum älter als wir, also auch so zirka zweiundzwanzig. Er möcht zwar oft auch gern brüllen, aber er traut sich nicht recht. Trotzdem haben wir ihn gern, denn er ist ein fabelhafter Sportsmann, unser bester Sprinter. Er läuft einen prächtigen Stil. Überhaupt hat das Militär eine starke Ähnlichkeit mit dem Sport. Man möcht fast sagen: es ist der schönste Sport, 얍 denn hier gehts nicht nur um den Rekord. Hier gehts um mehr. Um das Vaterland. Es war eine Zeit, da liebte ich mein Vaterland nicht. Es wurde von vaterlandslosen Gesellen regiert und von finsteren überstaatlichen Mächten beherrscht. Es ist nicht ihr Verdienst, dass ich noch lebe. Es ist nicht ihr Verdienst, dass ich jetzt marschieren darf. In Reih und Glied. Es ist nicht ihr Verdienst, dass ich heut wieder ein Vaterland hab. Ein starkes und mächtiges Reich, ein leuchtendes Vorbild für die ganze Welt!

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Und es soll auch einst die Welt beherrschen, die ganze Welt! Ich liebe mein Vaterland, seit es seine Ehre wieder hat! Denn nun hab auch ich sie wieder, meine Ehre! Ich muss nicht mehr betteln, ich brauch nicht mehr zu stehlen. Heute ist alles anders. Und es wird noch ganz anders werden! Den nächsten Krieg gewinnen wir. Garantiert! Alle unsere Führer schwärmen zwar immer vom Frieden, aber ich und meine Ka얍 meraden, wir zwinkern uns nur zu. Unsere Führer sind schlau und klug, sie werden die anderen schon hineinlegen, denn sie beherrschen die Kunst der Lüge wie keine zweiten. Ohne Lüge gibts kein Leben. Wir bereiten uns immer nur vor. Jeden Tag treten wir an und dann gehts zum Tor hinaus, im gleichen Schritt und Tritt. Wir marschieren durch die Stadt. Die Zivilisten sehen uns glücklich an, nur einige Ausnahmen würdigen uns keines Blickes, als wären sie böse auf uns. Das sind aber immer nur alte Männer, die eh nichts mehr zählen. Aber es ärgert uns doch, wenn sie wegschauen oder plötzlich sinnlos vor einer Auslage halten, nur um uns nicht sehen zu müssen. Bis sie uns dann doch erblicken, bis sie es nämlich merken, dass wir uns im Glas der Auslage spiegeln. Dann ärgern sie sich gelb und grün. Jawohl, Ihr Herrschaften, Ihr Ewig-Gestrigen, Ausrangierten, mit Euerem faden pazifistischen Gesäusel, ihr werdet uns nicht entrinnen! Be-얍trachtet nur die Delikatessen, die Spielwaren, Bücher und Büstenhalter – Ihr werdet uns überall sehen! Wir marschieren auch durch die Auslagen! Es ist uns bekannt, wir gefallen Euch nicht. Ich kenne Euch schon – durch und durch! Mein Vater ist auch so ein Ähnlicher. Auch er schaut weg, wenn er mich marschieren sieht. Er kann uns Soldaten nicht ausstehen, weil er die Rüstungsindustrie hasst. Als wärs das Hauptproblem der Welt, ob ein Rüstungsindustrieller verdienen darf oder nicht! Soll er verdienen, wenn er nur treu liefert! Prima Kanonen, Munition und den ganzen Behelf – Das ist für uns Heutige kein Problem mehr. Denn wir haben erkannt, dass das Höchste im Leben des Menschen das Vaterland ist. Es gibt nichts, was darüber steht an Wichtigkeit. Alles andere ist Unsinn. Oder im besten Fall nur so nebenbei. Wenn es dem Vaterland gut geht, geht es jedem seiner Kinder gut. Gehts ihm schlecht, geht es 얍 zwar nicht allen seinen Kindern schlecht, aber auf die paar Ausnahmen kommts auch nicht an im Angesicht des lebendigen Volkskörpers. Und gut gehts dem Vaterland nur, wenn es gefürchtet wird, wenn es nämlich eine scharfe Waffe sein eigen nennt – Und diese Waffe sind wir. Auch ich gehör dazu. Aber es gibt eben noch immer verrannte Leute, die sehen diese selbstverständlichen Zusammenhänge nicht, sie wollen sie auch nicht sehen, denn sie sind noch immer in

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ihren plumpen Ideologien befangen, die im neunzehnten Jahrhundert wurzeln. Auch mein Vater ist solch einer von dieser Garde. Es ist eine traurige Garde. Eine geschlagene Armee. Mein Vater ist ein verlogener Mensch. Er war drei Jahr in Kriegsgefangenschaft, ab 1917. Erst Ende 1919 ist er wieder heimgekehrt. Ich selbst bin 1917 geboren, bin also ein sogenanntes Kriegskind, aber ich kann mich natürlich an diesen ganzen Weltkrieg nicht mehr erinnern. Und auch nicht an die Zeit hinterher, an 얍 die sogenannten Nachkriegsjahre. Nur manchmal so ganz verschwommen. Meine richtige Erinnerung setzt erst ein zirka 1923. Mein Vater ist von Beruf Kellner, ein Trinkgeldkuli. Er behauptet, dass er durch den Weltkrieg sozial gesunken wär, weil er vor 1914 nur in lauter vornehmen Etablissements arbeitete, während er jetzt draussen in der Vorstadt in einem sehr mittelmässigen Betrieb steckt. Er hinkt nämlich etwas seit seiner Gefangenschaft, und ein hinkender Kellner, das kann halt in einem Luxuslokal nicht sein. Aber trotz seiner Privattragödie hat er kein Recht, auf den Krieg zu schimpfen, denn Krieg ist ein Naturgesetz. Überhaupt ist mein Vater ein Nörgler. Als ich noch bei ihm in seinem Zimmer wohnte, krachten wir uns jeden Tag. Immer schimpft er über die Leut, die das Geld haben, und derweil sehnt er sich nach ihnen – wie gern würde er sich wieder vor ihnen verbeugen, denn er denkt ja nur an sein Trinkgeld! Ja, er ist ein durch und durch verlogener Mensch und ich mag ihn nicht. Wenn er nicht zufällig mein Vater wär, würde 얍 ich mich fragen: wer ist denn dieser widerliche Patron? Einmal sagte ich zu ihm: „Hab nur keine Angst vor dem kommenden Krieg, Du kommst eh nimmer dran mit Deinem Alter!“ Er blieb vorerst ganz ruhig und sah mich an, als würde er sich an etwas erinnern wollen. „Ja“, fuhr ich fort, „Du zählst nicht mehr mit.“ Er blieb noch immer ruhig, aber plötzlich traf mich ein furchtbar gehässiger Blick, wie aus einem Hinterhalt. Und dann begann er zu schreien. „So geh nur in Deinen Krieg!“ brüllte er. „Geh und lern ihn kennen! Einen schönen Gruss an den Krieg! Fall, wenn Du magst! Fall!“ Ich ging fort. Das war vor drei Jahren. Ich hör ihn noch brüllen und sehe mich im Treppenhaus. Auf einmal hielt ich an und ging zurück. Ich hatte meinen Bleistift vergessen, ich wollte nämlich zu den Redaktionen, wo die Zeitungen mit den kleinen Anzeigen im Schaukasten hängen, um dort vielleicht eine Arbeit zu finden, irgendeine – ja, damals glaubte ich trotz allem noch an Märchen. Als ich das Zimmer wieder betrat, stand mein Vater am Fenster und sah hinaus. 얍 Es war sein freier Tag in der Woche. Er wandte sich mir nur kurz zu – „Ich hab meinen Bleistift vergessen“, sagte ich. Er nickte und sah wieder hinaus. Was war das für ein Blick? Hat er geweint? B

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Ich ging wieder fort. Weine nur, dachte ich, Du hast auch allen Grund dazu, denn eigentlich trägt Deine Generation die Hauptschuld daran, dass es mir jetzt so dreckig geht – (damals war ich ja noch arbeitslos und hatte keine Zukunft). Die Generation unserer Väter hat blöden Idealen von Völkerrecht und ewigem Frieden nachgehangen und hat es nicht begriffen, dass sogar in der niederen Tierwelt einer den anderen frisst. Es gibt kein Recht ohne Gewalt. Man soll nicht denken, sondern handeln! Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Ich hab mit meinem Vater nichts mehr zu tun. Ich kann es nicht ausstehen, das ewige Geweine! Immer wieder hören müssen: „Vor dem Krieg, das war eine schöne Zeit!“ – da 얍 werd ich ganz wild. Mir hätt sie nicht gefallen, Deine schöne Zeit! Ich kann sie mir genau vorstellen nach den alten Photographien. Du hattest eine Dreizimmerwohnung, warst noch nicht verheiratet und führtest, wie es seinerzeit hiess, ein flottes Junggesellenleben. Mit Weibern und Kartenspiel. Alle Welt hatte Geld. Es war eine verfaulte Zeit. Ich hasse sie. Jeder konnte arbeiten, verdienen, niemand musste hungern, keiner hatte Sorgen – Eine widerliche Zeit! Ich hasse das bequeme Leben! Vorwärts, immer nur vorwärts! Marsch-marsch! Wir stürmen vor – nichts hält uns zurück! Kein Acker, kein Zaun, kein Strauch – Wir treten es nieder! Marsch-marsch! So stürmen wir vor und gehen auf einer Höhe in 얍 Deckung, um die Strasse, die unten vorbeizieht, zu beherrschen. Vorerst sinds nur noch Manöver. Aber bald wirds ernst, die Zeichen werden immer sichtbarer. Und der Krieg, der morgen kommen wird, wird ganz anders werden als dieser sogenannte Weltkrieg! Viel grösser, gewaltiger, brutaler – ein Vernichtungskrieg, so oder so! Ich oder Du! Wir schauen der Wirklichkeit ins Auge. Wir weichen ihr nicht aus, wir machen uns nichts vor – Jetzt schiessen Haubitzen. In der weiten flimmernden Ferne. Man hört sie kaum. Sie schiessen vorerst noch blind. Unten auf der Strasse erscheinen zwei radfahrende Mädchen. Sie sehen uns nicht. Sie halten plötzlich und sehen sich um. Dann geht die eine hinter einen Busch und hockt sich hin. Wir grinsen und der Leutnant hinter mir lacht ein bisschen.

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Der Feldwebel schaut mit dem Feldstecher hin. Jetzt surrt es am Himmel. Ein Flieger. Er fliegt über uns hinweg. Das Mädchen lässt sich nicht stören, sondern blickt nur empor. Er fliegt sehr hoch, der Flieger, und kann sie nicht sehen. Das weiss sie. An uns denkt sie nicht. Und derweil werdens doch immer wir Infanteristen sein, die die Kriege entscheiden – und nimmer die Flieger! Obwohl man von ihnen soviel spricht und von uns so wenig. Obwohl sie die eleganteren Uniformen haben – werden sehen, ob sie das taugen, was sie sich einbilden! Die denken, sie legen ein Land von droben einfach in Trümmer und wir Infanteristen hätten dann einfach die Trümmer nur zu besetzen – ohne jede Gefahr! Eine bessere Polizei. Abwarten! Werden sehen, ob wir überflüssig sind! Oder gar zweiten Ranges! Nein, ich mag die Flieger nicht! Ein hochnäsiges Pack. Und die Weiber sind auch so blöd, sie wollen nur einen Flieger. 얍 Das ist ihr höchstes Ideal! Auch die zwei da drunten auf der Strasse – jetzt winken sie ihm begeistert zu. Alle Kühe wollen mit einem Flieger tanzen! Winkt nicht, Ihr Tiere – er schaut auch auf Euch herab, weil Ihr nicht fliegen könnt! Jawohl, wir schlucken den Staub der Strassen und marschieren durch den Dreck! Aber wir werden dafür sorgen, dass der Dreck himmelhoch staubt! Nur keine Angst! „Um Gotteswillen!“ kreischt der Leutnant. Was ist denn los?! Er starrt auf den Himmel – Dort, der Flieger! Er stürzt ab! „Der linke Flügel ist futsch“, sagt der Feldwebel durch den Feldstecher. Er stürzt, er stürzt – Mit einer Rauchwolke hinter sich her – Immer rascher. Wir starren hin. 얍 Und es fällt mir ein: Komisch, hast Du nicht grad gedacht: stürz ab –? „Mit denen ists vorbei“, meint der Leutnant. Wir waren alle aufgesprungen. „Deckung!“ schreit uns der Feldwebel an. „Deckung!“ – – – Drei Särge liegen auf drei Lafetten, drei Fliegersärge. Pilot, Beobachter, Funker. Wir präsentieren das Gewehr, die Trommel rollt und die Musik spielt das Lied vom guten Kameraden. Dann kommt das Kommando: „Zum Gebet!“ Wir senken die Köpfe, aber wir beten nicht. Ich weiss, dass bei uns keiner mehr betet. Wir tun nur so. Reine Formalität. „Liebe Deine Feinde“ – das sagt uns nichts mehr. Wir sagen: „Hasse Deine Feinde!“

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Mit der Liebe kommt man in den Himmel, mit dem Hass werden wir weiterkommen – – Denn wir brauchen keine himmlische Ewigkeit mehr, seit wirs wissen, dass der einzelne nichts zählt – er wird erst etwas in Reih und Glied. Für uns gibts nur eine Ewigkeit: das Leben unseres Volkes. Und nur eine himmlische Pflicht: 얍 für das Leben unseres Volkes zu sterben. Alles andere ist überlebt. Wir treten an. Ausgerichtet, Mann für Mann. Ich bin der neunte von rechts, von den Grössten her. Der Grösste ist einsachtundachtzig, der Kleinste einssechsundfünfzig, ich einsvierundsiebzig. Gerade richtig, nicht zu gross und nicht zu klein. So äusserlich gesehen gefall ich mir ja.

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DAS VERWUNSCHENE SCHLOSS

Heute ist Sonntag. Da haben wir frei. Von vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr. Nur die Bereitschaft bleibt zurück. Gestern bekam ich meinen zweiten Stern und heute werde ich zum erstenmal mit zwei Sternen am Kragen ausgehen. Der Frühling ist nah, man hört ihn schon in der Luft. Wir sind zu dritt, zwei Kameraden und ich. Wir haben weisse Handschuhe an und reden über die Weiber. Ich rede am wenigsten, ich denk mir lieber meinen Teil. Die Weiber sind ein notwendiges Übel, das ist bekannt. Man braucht sie zur 얍 Sicherstellung einer möglichst grossen Zahl kinderreicher, erbgesunder, für das Vaterland rassisch wertvoller Familien. Aber ansonsten stiften sie nur Wirrwarr. Ich könnt darüber manches Lied zum besten geben! Besonders die älteren Jahrgänge und vor allem die ganz Gescheiten. Die laufen Dir nach, weil Du sportlich ausgebildet bist, und wenn Du ihnen zu Gefallen warst, dann werden sie arrogant. Sagen: dummer Junge, grün, nass hinter den Ohren und dergleichen. Oder sie kommen mit dem Seelenleben daher und dann werdens ganz unappetitlich. Eine nicht mehr ganz junge Frau hat keine Seele zu haben, sie soll froh sein, wenn man sie anschaut. Sie hat kein Recht, einem hinterher mit Gefühlen, wie zum Beispiel Eifersucht oder sogenannter Mütterlichkeit, zu kommen. Die Seele ist im besten Falle ein Vorrecht der jungen Mädchen. Die dürfen sich eine solche Romantik fallweise 얍 noch leisten, vorausgesetzt, dass sie hübsch sind. Aber auch die romantischen Hübschen wollen, schon im zartesten Jungmädchenalter, nur einen Kerl mit Geld. Das ist das ganze Problem. Ich bewege mich lieber in männlicher Gesellschaft. Mein Kamerad sagt grad, dass sich dereinst vor dreihundert Jahren ein grosser Philosoph gefragt hätt, ob die Weiber überhaupt Menschen sind? Man könnts schon bezweifeln, das glaub ich gern. Bei dem weiblichen Geschlechte weisst Du nie, woran Du bist.

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Du findest keine Treu und keinen Glauben, immer kommens zu spät, ein Nest voller Lügen, usw. Und obendrein sollst Du noch auf ihr Inneres eingehen – Denn das verlangen sie. Aber das ist keine Betätigung für einen richtigen Mann. Jaja, die Herren Weiber sind ein Kapitel für sich! Sie bringen Dich auf die Welt und bringen Dich auch wieder um. – 얍 Die Strassen der inneren Stadt sind leer, denn hier gibts nur Geschäfte und hohe Bürohäuser und die haben heute zu. Die Arbeiter der Stirn und der Faust, sie feiern daheim, essen, schlafen, rauchen – heut werdens kaum Ausflüge machen, denn es regnet immer wieder. Zwar nur ein bisschen, aber es ist halt unsicher. Still ists in der inneren Stadt, direkt friedlich, als wärens alle ausgestorben. Wir hören uns gehen, jeden Schritt. Es klappert auf dem Asphalt. Und ich bemerk es wieder, dass wir uns spiegeln. In den vornehmen Auslagen. Jetzt gehen wir durch ein Korsett. Jetzt durch einen Hummer und einen Schinken so zart – Jetzt durch seidene Strümpfe. Jetzt durch Bücher und dann durch Perlen, Schminken, Puderquasten. – Zerreisst sie, zertrampelt sie! Es ist fad in der inneren Stadt und wir gehen 얍 zum Hafen hinab. Dort ist nämlich ewig Betrieb. Du kannst es zwar nicht erblicken, das weite Meer, denn dieses beginnt erst weiter draussen, aber herinnen liegen bereits die fremden Schiffe mit den schwarzen und gelben Matrosen. Wir gehen die breite Allee zum Hafen hinab. Sie wird immer breiter und lauter. Rechts und links beginnen die Sehenswürdigkeiten – grosse und kleine Affen, dressiert und undressiert. Schiessbuden und Spielautomaten, ein Tanzpalast und die dickste Dame der Welt. Ein Schaf mit fünf Füssen, ein Kalb mit zwei Köpfen – Karussell neben Karussell, Schaukel neben Schaukel und eine bescheidene Achterbahn, direkt bemitleidenswert. Wahrsagerinnen, Feuerfresser, Messerschlucker, saure Gurken und viel Eis. Tierische und menschliche Abnormitäten. Kunst und Sport. Und dort hinten am Ende das verwunschene Schloss. An den ersten Schiessbuden gehen wir noch vorbei, aber bei der vierten oder fünften können wir es nicht mehr lassen, es zwingt uns zu schiessen. In dieses Schwarze zu treffen ist für uns 얍 ein Kinderspiel und das Fräulein, das unsere Gewehre ladet, lächelt respektvoll. Wenn Soldaten schiessen, schauen immer viele zu. So auch jetzt. Besonders zwei Fräulein sind dabei, sie lachen bei jedem Schuss, als gälte er ihnen. Dadurch erregen sie unsere Aufmerksamkeit. Mir gefallen sie nicht, aber meine Kameraden fangen mit ihnen an. Ich will ihnen prinzipiell nicht im Wege stehen, so als überflüssiges Rad am Wagen, und überlasse sie ihrem Schicksal. Sie gehen tanzen, ich bleib allein zurück. Ich schau ihnen nach. Nein, diese beiden Fräulein könnten mich nicht interessieren – Die eine hat krumme Beine, die andere hat überhaupt keine Beine und wo der

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Hintern sitzen soll, sitzt nichts. Und die erste hat vorn einen schwarzen Zahn und einen schmutzigen Büstenhalter. Nein, mich stören diese Kleinigkeiten der Liebe, ich bin nämlich sehr anspruchsvoll. Ich betrete das Hippodrom. Dort reiten zwei andere Fräulein und ein Kind. Die Musik spielt, die Peitsche knallt, die alten 얍 Pferde laufen im Kreis. Das Kind hat Angst, die Fräulein sind sehr bei der Sache. Das Kind verliert seine Matrosenmütze und plärrt, die beiden Fräulein lächeln. Ihre Röcke sind hoch droben und man kann es sehen, dass sie dort nackt sind, wo der Strumpf aufhört. Die könnten mir schon gefallen, besonders die Grössere! Aber ein reitendes Fräulein täuscht. Denn ein Fräulein hoch zu Ross kann gar leicht gefallen, das ist keine Kunst. Aber wenn sie hernach herunten ist, dann merkt mans erst, was in Wirklichkeit los ist – ich kenn das schon, diese Enttäuschungen! Jetzt steigen sie aus dem Sattel und die Grössere gefällt mir noch immer. Und die Kleinere auch. Aber sie haben schon einen Kavalier. Ein kleines Männchen, eine elende Ratte. Die beiden hängen sich in die Ratte und lächeln: „Wir wollen noch reiten – bittebitte!“ „So oft Ihr wollt“, sagt die Ratte. Ich blicke nach der Preistafel. Einmal reiten kostet fünfzig. Und so oft Ihr wollt? 얍 Viel zu teuer für mich. Aber so treibens halt die feschen Weiber! Lieber eine alte Ratte, die nach Geld stinkt, als ein junger durchtrainierter Mann, der ausser seiner selbst nur zwei silberne Sterne am Kragen besitzt. Da nützen auch die weissen Handschuhe einen grossen Dreck. Ich verlasse das Hippodrom und wandle langsam die Buden entlang, ohne ein direktes Ziel. Rechts gibts den Mann mit dem Löwenkopf und links die Dame mit dem Bart. Ich bin etwas traurig geworden. Die Luft ist lau – ja, das ist der Frühling und nachts konzertieren die Katzen. Wir hören sie auch in der Kasern. Der Abend kommt und am Horizont geht der Tag mit einem lila Gruss. Hinter mir ist es schon Nacht. Und wie ich so weiterwandle, treffe ich einen unangenehmen Gedanken: es fällt mir auf, dass diese Ratte im Hippodrom mein Volksgenosse ist. Und ich sehe mich im Kasernenhof stehen 얍 und schwören, für das Vaterland zu sterben, jederzeit für unser Volk. Also auch für diese elende Ratte? Nein, hör auf! Nur nicht denken! Durch das Denken kommt man auf ungesunde Gedanken. Unsere Führer werdens schon richtig treffen! Und da kommt ein zweiter Gedanke, ich kenne ihn schon. Er begleitet mich ein Stück und lässt mich nicht los. „Eigentlich“, sagt er, „liebst Du ja niemand“ – Ja, das ist wahr.

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Ich mag keine Seele leiden – Auch mich nicht. Eigentlich hasse ich alle. Nur unseren Hauptmann nicht. – Und weiter wandle ich die Buden entlang dem Ende zu und erreiche das verwunschene Schloss mit seinen Giebeln und Türmen und Basteien. Die Fenster sind vergittert und die Drachen und Teufel schauen heraus. Aus dem Lautsprecher tönt ein leiser Walzer. Es ist eine alte Musik. Sie wird immer wieder übertönt, diese Musik, durch Gelächter und Ge-얍kreisch. Das sollen die Leute von sich geben, die drinnen sind. Man solls nämlich draussen hören, dass es ihnen drinnen gefällt. Aber ich kenne das schon. Alles Schwindel! Es ist eine Grammophonplatte, diese ganze laute Freude – nur um das Publikum anzulocken. Es ist nichts dahinter und ich fall nicht drauf rein, auf solche Narrenpaläste, in denen man das Gruseln lernen soll. Das ist mir zu blöd. Ich will schon wieder zurück, da blicke ich nach dem Eingang, ohne mir dabei etwas zu denken, gewissermassen automatisch. Und ich halte an. Oder wars mir nur so und ich bin weiter? Möglich. Aber nach zwei Schritten halte ich tatsächlich und schaue noch immer hin. Es ist jetzt ganz finster geworden und ich steh in der Nacht. An der Kasse des verwunschenen Schlosses sitzt eine junge Frau. Sie rührt sich nicht. Es kommt kein Mensch. Und einen Augenblick lang ist mir alles so fern, die ganze Welt, und ich denke, das Herz bleibt 얍 stehen. Es rührt sich kein Blatt, nur aus dem verwunschenen Schlosse tönt leise die alte Musik. Sie hat grosse Augen, die junge Frau, aber es waren nicht ihre Augen, nicht der Mund und nicht die Haare – ich glaube, es war eine Linie – Doch was red ich da?! Lauter Unsinn! Ich weiss ja nur, dass ich stehen blieb, als wär plötzlich eine Wand vor mir – Unsinn, Blödsinn! Geh weiter! Ich gehe weiter und stolpere. Über was? Über nichts. Es ist ja nichts da. Aber nun lächelt die Frau, weil ich gestolpert bin. Sie hat es gesehen. Sie lächelt noch immer. Ich betrachte sie genau. Da schaut sie nicht mehr her. Sie nimmt einen Bleistift und schreibt vor sich hin – oder tut sie nur so, damit sie mich nicht sieht? Warum will sie mich denn nicht sehen? Wahrscheinlich weil ich ihr nicht gefall – Sie wird schon einen haben, irgendeinen Budenkönig. Einen Seiltänzer, Messerschlucker, dummen August – 얍 Geh weiter! Ich geh, aber ich komme nicht weit. Nur über die Strasse. Dort steht ein Eismann und ich kaufe mir ein Eis. Ich kanns noch genau sehen, das verwunschene Schloss und die schreibende Frau.

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Es kommt noch immer kein Mensch. Ich schlecke mein Eis. Es schmeckt nach nichts. Es ist so kalt, dass ich lange Zähne bekomm wie ein altes Pferd. Es tut schon direkt weh – Warum kaufte ich es mir denn nur, dieses gefärbte Zeug? Ich mag ja gar kein Eis! Und während mir die Zähne immer länger werden, gesteh ichs mir ein, dass ich es mir nur deshalb kaufte, um die Frau dort drüben länger betrachten zu können. Komisch, ich weiss es noch immer nicht, ob sie mir gefallen könnt – ich weiss ja noch garnicht, wie sie aussieht, wenn sie aufsteht. Vorerst kenn ich nur das von ihr, was über die Kasse herausschaut. Vielleicht ist sie nur eine sogenannte Sitzschönheit – 얍 Und wenn sie aufsteht, ist sie vielleicht kleiner, als wie wenn sie sitzt, oder gleich dreimal so gross – Vielleicht ist sie ganz unproportioniert. Na gute Nacht! Jetzt schaut sie mich wieder an. Diesmal etwas länger. Und sie lächelt wieder – warum? Weil ich da so grimmig mein Eis schleck? – Endlich hab ichs drunten, das miserable Zeug. Da hör ich den Eismann hinter mir: „Noch eine Portion?“ „ Ja“, sage ich und schon hatte ich wieder eine in der Hand. Was ist denn mit mir?! Bin ich denn total verblödet?! Was fress ich da die zweite Portion, wenns mir von der ersten schon übel ist?! Ich mach mich ja noch ganz lächerlich mit meinem Eis, wie ein Schulbub steh ich da und derweil hab ich doch zwei silberne Stern – Und schon wollte ich das Eis wütend an die Erde hauen, da tauchte aus der Finsternis ein Rittmeister auf. Gottlob bemerkte ich ihn noch im 얍 allerletzten Moment und salutierte. Der Rittmeister dankte und ging vorbei. Jetzt lacht sie – natürlich! Weil ich die Ehrenbezeugung mit dem Eis in der Hand leistete, und sowas ist selbstredend lächerlich. Ich bin ja auch blöd und sie lacht, doch das Gelächter aus dem Lautsprecher übertönt sie. Ich höre sie nicht. Aber jetzt wirds mir allmählich zu bunt! Jetzt ists mir egal! Jetzt wird reiner Tisch gemacht! Und zwar sogleich, auf der Stell! Ich hau das Eis an die Erde, dass es nur so klatscht, und geh hinüber. Schnurgerade. Zum verwunschenen Schloss. Richtung: die Kasse. Direkt auf sie zu. Werden sehen, ob sie noch lacht, wenn ich komm! Sie sieht mich kommen und lacht nicht mehr. Aha! Sie sieht mich nur gross an, wie ich so näherkomm – gross und ernst. Hast Du Angst vor mir? Pass nur auf, jetzt komme ich! 얍

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Ich hab schon die letzten drei Stufen und nun stehe ich vor der Kasse. Sie blickt hinab, ich seh nur ihr Haar. Es ist weich und zart. Auf dem Pult liegt ein Blatt Papier. Sie hat zuvor nichts geschrieben, sondern nur so herumgekritzelt. Allerhand Linien – Und ich sage: „Eine Eintrittskarte“ – es klang fast streng und es tat mir leid. „Bitte“, sagt sie. Zittert ihre Hand? Oder zittere ich? Sie wechselt mein Geld. Ich hatte noch niemand so schön wechseln gesehen. Die Linie, die Linie – muss ich wieder denken. Und dann betrete ich das verwunschene Schloss. Zuerst wirds ganz finster, man muss sich vorwärtstappen – rechts und links. Und während ich so tappe, muss ich an ihre Stimme denken, wie sie vorhin „Bitte“ gesagt hat. Mir ists, als hätte ich diese Stimme schon gehört, irgendwo, irgendwann – vor einer halben Ewigkeit. Und plötzlich fällts mir auf, dass ich 얍 es nicht weiss, was meine Mutter für eine Stimme hatte. Überhaupt kann ich mich an meine Mutter nicht mehr erinnern. Sie starb ja gleich nach dem Weltkrieg, an der Grippe, noch wie ich ganz klein war – Oft, wenn ich allein auf Posten stehe, gehts mir durch den Sinn, wie eine alte Wolke, besonders in der Nacht. Was gewesen ist, greift nach mir. Dann seh ich mich zwischen Tisch und Bett. Ich bin drei Jahr, nicht älter – Das Fenster ist hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt. Und wenn ich hinausschau, dann seh ich noch nichts. Oder hab ichs inzwischen vergessen? Heut weiss ich nur, es zog zum Fenster herein – Doch im Ofen brannte kein Feuer. Nach einem Krieg gibts halt oft keine Kohlen. „Es ist kalt“, das ist meine erste Erinnerung. Mein erstes Gefühl, das mir blieb. Komisch, dass es mir noch niemals eingefallen ist, dass ichs nicht weiss, was meine Mutter für eine Stimme gehabt hat – bumm! Jetzt wär ich aber fast gestürzt! 얍 Da ist ja eine Versenkung, aber nur an der linken Seite, sodass man mit dem linken Bein tiefer gehen muss als mit dem rechten. Zu blöd! Endlich hab ich das linke Bein wieder auf gleicher Höh, da fall ich mit dem rechten hinab. Also das ist wirklich zu blöd! Ein feines Vergnügen! Jetzt sitzt sie draussen an ihrer Kasse und lacht, dass ich drin bin. Trotzdem hat sie einen schönen Mund – wenn mich nicht alles täuscht. Wie sieht sie eigentlich aus? Komisch, ich hab sie doch lange genug betrachtet und weiss es noch immer nicht genau – Warum hab ichs also gefressen, das Eis? Ich bin ein Tepp. Doch halt! Sie hatte ja den Kopf fast immer gesenkt, weil sie ihre Linien gekritzelt hat, um mich nicht sehen zu müssen – Jaja, diese Linien!

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Die sind schuld daran, dass ich jetzt da herumstolpern muss – über laufende Teppiche, wackelnde Brücken, an Särgen vorbei, in denen enthauptete Wachsfiguren liegen, umgeben von Ge-얍spenstern, Gehenkten, Geräderten – aber mich schreckt nichts. Da tät ich mir aufrichtig leid. Ich biege um eine Ecke und begegne einem Skelett. Ich betrachte es aus der Nähe. Es dürfte ein Originalskelett sein und so sehen wir aus, wenns vorbei ist mit unserem Zauber. Und mit den Linien – Ich reiche dem Knochen die Hand. Hinter der nächsten Tür steh ich wieder im Freien. Neben der Kasse. Aber meine Linie sitzt nicht mehr dort. Sondern eine alte Hex. Ich starre sie verdutzt an und sie kommt auf meine Gedanken. „Meine Tochter ist fort“, sagt sie fast spöttisch. „Wohin?“ frage ich mechanisch. „Ins Kino.“ Ich salutiere leicht und gehe auch fort. Kehrt Euch! An den Buden vorbei bis in die innere Stadt – rasch oder langsam, ich weiss es nicht mehr. Plötzlich gibts mir einen Stich. Ich halte. „Warum hast Du die Alte nicht gefragt, in welches Kino ihre Tochter gegangen 얍 ist? Du hast doch noch Zeit, Idiot!“ Ich eile zurück. Aber das verwunschene Schloss ist bereits zu und es ist niemand mehr vorhanden. Ja, heute ists schon zu spät – Doch wartet nur, ich komme wieder! Am nächsten Sonntag! Dann komm ich gleich her, sofort um vierzehn Uhr – Dann gibts nichts zu lachen! Auf Wiedersehen, Ihr Linien – – Ich muss immer lächeln, was ist mir denn nur? Der Mond scheint, die Luft ist lau und die Katzen konzertieren. Und als ich über den Kasernenhof gehe, seh ichs vor mir, das verwunschene Schloss mit seinen Giebeln und Türmen und Basteien. Die Fenster sind vergittert und die Drachen und Teufel, sie schauen heraus.

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DER HAUPTMANN Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie gewaltig sie gewesen ist. Unerwartet werfen oft die grössten Ereignisse ihre Schatten auf uns, aber sie treffen uns nicht unvorbereitet. Es gibt keinen Schatten der Welt, mit dem wir nicht immer rechnen würden. Wir fürchten uns nicht!

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In der Nacht zum Freitag gabs plötzlich Alarm. Wir fuhren aus dem Schlaf empor und traten an mit Sack und Pack. Ausgerichtet, Mann für Mann. Es war drei Uhr früh. Langsam schritt uns der Hauptmann ab – 얍 Langsamer als sonst. Er sah noch einmal nach, ob alles stimmt – denn nun gibts keine Manöver mehr. Rascher als wir träumten, kam der Ernst. Die Nacht ist noch tief und die grosse Minute naht – Bald gehts los. Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleiner Staat und sein Name wird bald der Geschichte angehören. Ein lebensunfähiges Gebilde. Beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt – Ein lächerlicher Standpunkt. Jetzt steht er vor mir, der Hauptmann, und als er mich anschaut, muss ich unwillkürlich denken: wenn ich ihren Namen wüsste, würd ich ihr schreiben, direkt ins verwunschene Schloss. „Wertes Fräulein“, würde ich schreiben, „ich wär am nächsten Sonntag gern gekommen, aber leider bin ich pflichtlich verhindert. Gestern war Donnerstag und heut ist schon Freitag, ich muss 얍 überraschend weg in einer dringenden Angelegenheit, von der aber niemand was wissen darf, denn darauf steht der Tod. Wann ich wiederkommen werd, das weiss ich noch nicht. Aber Sie werden immer meine Linie bleiben –“ Ich muss leise lächeln und der Hauptmann stutzt einen Augenblick. „Was gibts?“ fragt er. „Melde gehorsamst nichts.“ Jetzt steht er schon vor meinem Nebenmann. Ob der auch eine Linie hat? geht es mir plötzlich durch den Sinn – Egal! Vorwärts! Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. Es geht los. Endlich! – Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind. Wir zwinkern uns zu. Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur. Wir zwinkern uns zu. 얍 Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleines Land und wir sind zehnmal so gross – drum immer nur frisch voran! Wer wagt, gewinnt – besonders mit einer erdrückenden Übermacht. Und besonders wenn er überraschend zuschlägt. Nur gleich auf den Kopf – ohne jede Kriegserklärung! Nur keine verstaubten Formalitäten! Wir säubern, wir säubern – – Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die lächerliche Grenze dieses unmöglichen Staatswesens überschritten. Die paar Zöllner waren rasch entwaffnet – morgen sinds drei Wochen her, aber die Hauptstadt ist schon unser. Heut sind wir die Herren!

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Im Tal brennen die Dörfer. Sie stehen in Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt. Bravo, Flieger! Obwohl ich Euch persönlich nicht riechen kann, muss mans doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet! Nichts ist Euch entgangen, auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen 얍 angepasst hat. Alles habt Ihr erledigt – bravo, Flieger! Bravo! Schiesst das Zeug zusammen, in Schutt und Asche damit, bis es nichts mehr gibt, nur uns! Denn wir sind wir. Vorwärts! Frohen Mutes folgen wir Eueren Spuren – – Wir marschieren über ein hohes Plateau. Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Es ist ein milder Abend mit weissen Wölklein an einem rosa Horizont. Vor zwei Stunden nahmen wir fünf Zivilisten fest, die wir mit langen Messern angetroffen haben. Wir werden sie hängen, die Kugel ist zu schad für solch hinterlistiges Gelichter. Aber der Berg ist kahl und ganz aus Fels, nirgends ein Busch. Wir führen sie mit uns, unsere Gefangenen, und warten auf den nächsten Baum. Sie sind aneinandergefesselt, alle fünf an einen 얍 Strick. Der Älteste ist zirka sechzig, der Jüngste dürfte so siebzehn sein. Ihre Sprache ist hässlich, wir verstehen kein Wort. Ihre Häuser sind niedrig, eng und schmutzig. Sie waschen sich nie und stinken aus dem Mund. Aber ihre Berge sind voll Erz und die Erde ist fett. Ansonsten ist jedoch alles Essig. Selbst ihre Hunde taugen einen Dreck. Räudig und verlaust streunen sie durch die Ruinen. Keiner kann die Pfote geben. Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Zwei Krähen fliegen vorbei. Wir ziehen über das hohe Plateau. Die Krähen kommen wieder – Es war ein milder Abend und jetzt kommt die Nacht. Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen. Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen und sie werden den Nagel auf den Kopf 얍 treffen, wenn sie loben und preisen, dass wir bescheidene Helden waren. Denn auch von uns biss ja so mancher ins grüne Gras. Aber nichtmal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz auf ihr Opfer sein zu können. Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit. Nur unerlaubt sickerte es durch, das Blut – In der fünften Woche unseres Vormarsches fiel unser Hauptmann auf dem Felde der Ehre. Er fiel unter eigentlich eigenartigen Umständen. Überhaupt ist der Hauptmann ein anderer Mensch geworden, seit wir die Grenze überschritten. Er war wie ausgewechselt.

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Verwandelt ganz und gar. Wir fragten uns bereits, ob er nicht krank ist, ob ihn nicht ein Leiden bedrückt, das er heimlich verschleiert. Immer grauer wurd sein Gesicht, als schmerzte ihn jeder Schritt. Und am 5. Juni kam das Ende. Ohne Arg näherten wir uns einer Ruine, aus der plötzlich eine Salve über uns dahinkrachte. Wir werfen uns nieder und suchen Deckung. 얍 Nein, das war keine Salve – das war ein Maschinengewehr. Wir kennen die Musik. Es steckt vor uns in einer Scheune. Ringsum ist alles verbrannt, das ganze Dorf – Wir warten. Da wird drüben eine Gestalt sichtbar, sie geht durch das verkohlte Haus und scheint etwas zu suchen. Einer nimmt sie aufs Korn und drückt ab – die Gestalt schreit auf und fällt. Es ist eine Frau. Jetzt liegt sie da. Ihr Haar ist weich und zart, geht es mir plötzlich durch den Sinn und einen winzigen Augenblick lang muss ich an das verwunschene Schloss denken. Es fiel mir wieder ein. Und nun geschah etwas derart Unerwartetes, dass es uns allen die Sprache verschlug vor Verwunderung. Der Hauptmann hatte sich erhoben und ging langsam auf die Frau zu – Ganz aufrecht und so sonderbar sicher. Oder geht er der Scheune entgegen? 얍 Er geht, er geht – Sie werden ihn ja erschiessen – er geht ja in seinen sicheren Tod! Ist er wahnsinnig geworden?! In der Scheune steckt ein Maschinengewehr – Was will er denn?! Er geht weiter. Wir schreien plötzlich alle: „Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!“ Es klingt, als hätten wir Angst – Jawohl, wir fürchten uns und schreien – Doch er geht ruhig weiter. Er hört uns nicht. Da spring ich auf und laufe ihm nach – ich weiss es selber nicht, wieso ich dazu kam, dass ich die Deckung verliess – Aber ich will ihn zurückreissen, ich muss ihn zurückreissen! Da gehts los – das Maschinengewehr. Ich sehe, wie der Hauptmann wankt, sinkt – ganz ergeben – Und ich fühle einen brennenden Schmerz am Arm – oder wars das Herz? 얍 Ich werfe mich zu Boden und benutze den Hauptmann als Deckung. Er ist tot. Da seh ich in seiner Hand was weisses – Es ist ein Brief. B

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Ich nehm ihn aus seiner Hand und hör es noch schiessen – aber nun schützt mich mein Hauptmann. „An meine Frau“, steht auf dem Brief. Ich stecke ihn ein und dann weiss ich nichts mehr. 5



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DER BETTLER

Es war nicht das Herz, es war nur der Arm, aber leider der Knochen. Er wurde zersplittert. Man holte die Kugel heraus und allmählich wuchsen die Splitter wieder zusammen. Lange Wochen lag ich im Lazarett, zuerst noch im Feindesland, dann wurd ich in die Heimat transportiert. Denn der Schuss war doch komplizierter, als man ursprünglich annahm, und ich hatte hohes Fieber. Hoffentlich werd ich nur meinen Arm wieder richtig bewegen können, denn sonst müsst man ja das Militär verlassen und was würd ich dann beginnen? Ich habe ja nichts. Keinen Groschen. 얍 Der Dank des Vaterlandes wär mir zwar gewiss, dessen bin ich überzeugt, aber die Invalidenrenten sind minimal – davon wird keiner satt. Und wo bleiben die Kleider, die Schuhe? Vergangene Zeiten, an die ich längst nimmer dachte, tauchen wieder auf – Der Schnee beginnt zu treiben. Ich dachte, ich hätt Euch vergessen, Ihr Tage meiner aussichtslosen Jugend – Doch die Suppe, die ich löffelte, dampft und die Heiligen auf dem Kirchendach schauen mich wieder an. Lasst mich in Ruh! Aber sie weichen nicht. Sie ziehen an mir vorbei, stumm und schadenfroh, unter einem harten Himmel. Da kommen die kleinen Anzeigen in den grossen Zeitungen, die verlassenen Badehütten, der Kriminaler und das dünne Eis – Es ist eine Schand! Ich friere. Es schneit auf das Grab meiner Zukunft – 얍 „Er fiebert noch immer“, höre ich die Stimme einer Frau. Das ist die dicke Schwester, die mich pflegt. Ich seh sie gern, weil sie meist ein bisschen lächelt, als wär sie der zufriedenste Mensch. Ich schlage die Augen auf und erblicke neben der Dicken einen Offizier. Er betrachtet mich. Ich kenne ihn nicht. Es ist ein Oberleutnant und er spricht mich an. Ich höre, dass ich für die tollkühne Tapferkeit, mit der ich meinen Hauptmann retten wollte, belobt und befördert wurde. Und er gibt mir einen Stern, meinen dritten silbernen Stern. Er erkundigt sich, ob ich arge Schmerzen hätte, aber er wartet meine Antwort nicht ab, sondern fährt gleich fort, er wäre überzeugt, dass mein Arm wieder richtig werden und dass mir eine glänzende Zukunft bevorstehen würde. Vielleicht winke mir sogar ein goldener Stern – Und plötzlich tritt er ganz dicht an mich heran und spricht sehr leise, damit ihn die Schwester nicht hört. Ich solle es nur nie vergessen, sagt er, dass ich nicht als regu-

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lärer Soldat, sondern nur als ein sogenannter Freiwilliger mitge-얍kämpft hätte. Im Feindesland tobe nämlich nach offizieller Lesart kein Krieg, sondern eine abscheuliche Revolution und es stünden unsererseits keinerlei militärische Einheiten drüben, sondern wie gesagt nur freiwillige Kämpfer auf Seite aller Aufbauwilligen gegen organisiertes Untermenschentum – „Ich weiss es schon, Herr Oberleutnant“, sage ich. „Ich wollt Sie nur erinnern“, meint er und zieht sich wieder etwas zurück von mir. „Herr Oberleutnant!“ rufe ich. „Wie stehts denn eigentlich mit uns?“ Er grinst. „Ausgezeichnet! Eigentlich habt Ihr braven Freiwilligen bereits gesiegt, es wird nur noch gesäubert.“ Aha, gesäubert – Auch ich muss grinsen. Der Offizier geht und die Schwester richtet mein Polster. Dann bringt sie Milch und Brot. Draussen singt ein Vogel. Schau-schau, wir haben also schon gesiegt. Ja-얍ja, schlau muss man sein, wenn man seinem Vaterlande nützlich dienen will. Schlau und nicht nur tapfer. Jetzt wird dann irgendeine Scheinregierung eingesetzt, bestochene Kreaturen, und das Land, das wir holen wollten, fällt uns in den Schoss – geschickt gemacht! Ich freue mich. Wenn nur mein Arm wieder richtig wird! Was würd ich nicht darum geben – ich glaub: alles! Du hast doch nichts, geht es mir wieder durch den Sinn. Was kannst Du also für Deinen Arm geben? Zehn Jahre meines Lebens. Lächerlich! Was weisst Du denn, wie lange Du lebst? Lauter leere Versprechungen! Und ich denke, wenn ich noch daran glauben würde, was man mir in der Schule erzählt hat, dann würd ich jetzt sagen: ich verzicht auf meine himmlische Seligkeit und lass mich gern in der Hölle braten. Aber leider gibts keine Engel und auch keine Teufel – Halt! durchzuckt es mich. Was denkst Du da? „Keine Teufel“? Ich muss lächeln. 얍 Denn nun seh ichs wieder vor mir, das verwunschene Schloss. Die Fenster sind vergittert und die Drachen und Teufel, sie schauen heraus – Ich muss immer lächeln. Wenn ich auf sein werd – ja, dann geh ich mal wieder hin. Es kann nicht weit sein, denn dieses Krankenhaus liegt auch in der Nähe des Hafens, wo die fremden Schiffe liegen mit den gelben und schwarzen Matrosen. Vielleicht, wenn ich aus dem Fenster schauen könnt, dass ichs sogar erblicken würd, mein verwunschenes Schloss. Aber das Fenster ist hoch und ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt, als wär ich wieder ganz klein. Jaja, Du sitzt noch immer auf dem Boden und bist drei Jahr, nicht älter. „Es ist kalt“, das bleibt Deine erste Erinnerung – Wenn ich nur meinen Arm wieder hätt! Oh, wenn ich ihn nur wieder hätt! Man merkts erst, was man besessen, wenn mans verloren hat! Hoffentlich find ich ihn wieder, meinen Arm –

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Ich will ihn überall suchen, ich will die Splitter alle zusammenklauben und kunstvoll zusammensetzen, als wärs ein Kinderspiel – „Er fiebert noch immer“, höre ich die Stimme meiner Schwester. Ich möcht sie sehen – Neben ihr steht der Arzt. Er betrachtet mich nur und sagt: „Hm.“ Dann geht er wieder weiter – In meinem Saal liegen noch siebzehn andere. Lauter verwundete Freiwillige. Ausgerichtet, Mann für Mann. Manche dürfen schon aufstehen und spielen Karten. Oder Schach. Einige sind bereits fast wieder ganz gesund. Nur einem fehlt ein Bein. Der wird nimmer. Zwei sind schon gestorben. Der erste vor zehn Tagen, der zweite heut nacht. Ich wachte plötzlich auf und sah, dass auf seinem Nachtkästchen Kerzen brennen. In der Mitte stand ein Kruzifix. Es war sehr still. Schlafen denn alle? Siehts denn keiner, nur ich? Nein, alle hatten die Augen offen, aber sie rührten sich nicht. 얍 Es wurd immer stiller. Die Schwester stand vor dem Nachtkästchen und betete. Und plötzlich musst ich denken: jetzt steht dieser Freiwillige vor seinem höchsten Richter. So hab ichs einst gelernt. Und die Schwester betet für ihn. Sie bittet für seine unsterbliche Seele – Was hat er denn angestellt? Die dicke Schwester sagt zum Richter: „Bitte, sei ihm gnädig“ – Was hat er denn verbrochen? Warum soll er denn gnädig sein, Dein höchster Richter? Dieser brave Mann fiel doch für sein Vaterland, was will man denn noch von ihm?! Er gab sein Leben, das genügt! Denn was einer ansonsten privat sündigt, das wird alles ausradiert, wenn er für das ewige Leben seines Volkskörpers stirbt – merk Dir das, Schwester! Du betest noch immer? 얍 He, bet lieber für mich, damit mein Arm wieder richtig wird, das wär gescheiter! Wart nur, Du Dicke, ich werds Dir schon noch auseinandersetzen bei passender Gelegenheit! – Und die Gelegenheit kam. Nach wenigen Tagen. Die Dicke brachte Milch und Brot. Der Arm ist nicht besser geworden. „Schwester“, sage ich, „betens doch auch mal für mich, damit ich gesund werd.“ Sie horcht auf und sieht mich scharf an, aber nur einen Augenblick lang. Sagte ichs nicht fromm genug? Es war ja auch nicht ernst gemeint, denn ich wollte sie nur in Verlegenheit bringen – warum? Aus Bosheit. Ich glaube nicht daran, dass einem die Beterei was nützt, aber ich befleissigte mich, ernst dreinzuschauen.

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„Ich bete immer für alle meine Kranken“, sagt sie und jetzt lächelt sie wieder wie immer: „Auch Sie lass ich nicht aus.“ „Und glauben Sie, dass ich gesund werde?“ „Das weiss man nicht.“ Ach so, denke ich und werde immer boshafter. „Durch das Gebet kann man Gott nur bitten“, redet die Schwester weiter, „aber ob 얍 Er einen erhört, dafür kann niemand gutstehen, weil man ja als einfacher Sterblicher die Zusammenhänge nicht kennt.“ „Was für Zusammenhänge?“ „Gott weiss alles, hört alles und lässt keinen einzigen aus den Augen, Tag und Nacht, denn Er hat mit jedem etwas vor.“ „Mit jedem einzelnen?“ Sie sieht mich gross an. „Natürlich“, sagt sie, „und die Hauptsache ist, dass man Seine Gebote befolgt. Sie haben sie vergessen – nicht?“ Seine Gebote? Ich starre sie an. Sie fragt mich so mild, als würd sie es garnicht wundern. Da steht sie dick und sicher vor mir und ihre Zufriedenheit wird mir unangenehm. Sie verwirrt mich. „Natürlich kenne ich seine Gebote“, sage ich und muss leicht grinsen, „zum Beispiel: liebe Deine Feinde“ – „Ja“, fällt sie mir ins Wort und wird plötzlich 얍 sehr ernst, fast streng. „Liebe Deine Feinde, aber hasse den Irrtum.“ Den Irrtum? Ich horche auf. Jetzt lächelt sie wieder, als hätt sie nichts gesagt. Sie nickt mir nur zu – freundlich, sehr freundlich – – Der Arzt kommt. Er tritt an mein Bett. Und ich frage ihn: „Herr Doktor, wie stehts mit meinem Arm?“ Er schneidet ein saures Gesicht und gibt keine Antwort. Dann geht er wieder weiter – Ich seh ihm nach und bekomme plötzlich Angst, schreckliche Angst. Die Schwester steht noch neben mir. Sie beobachtet mich. Ich möchte weinen, aber ich beiss nur die Zähne zusammen. Ich schliess die Augen und es flimmert vor mir. Alles ist durcheinander – Ich werd immer schwächer. Es flimmert, es flimmert! Mir scheint, mein Arm wird nimmer – 얍 Das Durcheinander kreist um mein Bett und aus dem Kreise tritt ein Hügel. Ein sanfter Hügel. Auf dem Hügel steht ein Engel. Er wartet auf mich und hält meinen Arm in der linken Hand. In der rechten trägt er ein Schwert. Die Blumen blühen, aber es ist bitter kalt. Und ich muss denken, ich werde Gott fragen, warum es so kalt ist.

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Denn man kann ja auch mit Gott reden, fällt es mir ein. Ich erinner mich immer deutlicher, dass man ihm etwas versprechen soll, damit er einem hilft – Richtig, damit er einem hilft! Man muss ihm etwas geben, irgendetwas, und wärs das Kleinste, er ist für alles dankbar – Als wär er ein Bettler. Schenk ihm etwas – Schenk dem ersten Bettler, der Dir begegnet, wenn Du wieder ausgehen darfst – schenk ihm einen Taler. Nein, nicht einen – drei, vier, fünf! 얍 Jawohl, fünf Taler! Für fünf Taler kann man sich schon allerhand kaufen, wenn man sich nach der vorhandenen Decke streckt – Fünf Taler ist viel für mich. Ich will sie dem lieben Gott geben, damit mir der Engel meinen Arm zurückgibt. Es flimmert, es flimmert – – – Die Tage vergehen und nehmen die Nächte mit sich. Wenn der Arzt kommt, schneidet er keine Grimassen mehr. Der Arm wird besser. Heut kann ich ihn schon bewegen, natürlich nur sacht – Aber es wird besser! Besser, besser! Wenn er mir nicht so weh tun würd, wollt ich mit ihm die ganze Welt umarmen, so rosig scheint wieder meine Zukunft! Bald werd ich das Bett verlassen, wenn alles ohne Rückfall vergeht. Es geht, es geht – Die Schwester bringt meine Uniform. Heut darf ich zum erstenmal an die Luft, wenn auch nur für eine halbe Stund. 얍 Ich liebe meine Uniform. Wo warst Du solang? „Ich hing in einem Schrank“, sagt die Uniform, „neben einer alten Hose und einem hellen Paletot – lauter Zivilisten, brr!“ Ich zieh mich an. „Das ist aber allerhand“, wundert sich die Uniform, „wie dünn Du geworden bist! Ich schlotter ja direkt um Dich herum! Fesch seh ich nicht aus, das muss man Dir lassen!“ „Tröste Dich“, beruhige ich sie, „ich hab Dir auch etwas mitgebracht.“ Und ich zeig ihr meinen dritten silbernen Stern. Da strahlte sie natürlich und es war ihr egal, ob sie schlottert. Die Schwester nähte ihn an, den Stern – Ich betrachte ihn im Spiegel. In der Tasche steckt was weisses – Was ist das für ein Brief? „An meine Frau“, steht da droben. Ach, der Brief des Hauptmanns! B

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„Wir hätten ihn schon expediert“, höre ich die 얍 Schwester, „aber wir wusstens nicht, wem wir den Brief schicken sollten, Sie sind ja unverheiratet“ – Ach so, die Dicke meint, diesen Brief hätte ich geschrieben – Nein-nein, ich bin allein. Meine Mutter ist tot und mit meinem Vater hab ich nichts mehr zu tun. Der hinkt jetzt sicher in seiner Wirtschaft herum und das soll er auch. Ich stecke den Brief ein und geh an die Luft. Ich habe niemand. Warum sagt ichs nur nicht, dass der Brief der Witwe meines Hauptmanns gehört? Wahrscheinlich, weil ich ihn ihr persönlich überbringen will. Das schickt sich nämlich so. Ich weiss, wo sie ungefähr wohnt. Wenn ich länger ausbleiben darf, werde ich sie besuchen, denn sie wohnt ausserhalb und vielleicht muss ich dort übernachten. Hoffentlich ist es ihr schon bekannt, dass ihr Gatte fürs Vaterland fiel – Und plötzlich fällts mir wieder ein: warum ging denn ihr Gatte seinerzeit auf jene Scheune los? 얍 Wollt er denn das Maschinengewehr allein erobern? Er musst es doch wissen, dass er in den sicheren Tod geht, es war doch völlig ohne Sinn – was hat er denn nur bezwecken wollen? Was bildete er sich eigentlich ein? Ich biege um eine Ecke. Da hockt ein Bettler – Der erste Bettler, durchzuckt es mich. Ich greife in die Tasche, um ihm die versprochenen fünf Taler zu geben. Der Bettler nimmt von mir scheinbar keine Notiz. Ist er blind? Oder trägt er nur eine blaue Brille, weil er mich betrügen möcht? Fünf Taler sind viel Geld. Vielleicht sieht er mich genau – Vielleicht hat der Bettler mehr als ich. Gib ihm Deine Taler – Nein, ich geb sie Dir nicht und geh an Dir vorbei. Ich bin ja gestreckt worden, mein Herr, massiert, gefoltert, und diese Prozeduren gaben mir meinen Arm wieder zurück – verstanden? Es war die Kunst der Ärzte und mein Gelübde war eine Ausgeburt der Schwäche. 얍 Ich fieberte doch in einer Tour und war schon total verzweifelt, als ich Dir fünf Taler versprach – Ja, ich war nicht bei mir. Aber jetzt bin ich wieder der Alte!

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IM HAUSE DES GEHENKTEN Gott weiss alles, sagte die Schwester. Er lässt keinen aus den Augen, Tag und Nacht – Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein. Immer nur jeden einzelnen beobachten, wo der einzelne längst keine Rolle mehr spielt – ein undankbarer Beruf.

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Überhaupt wird der liebe Gott immer überflüssiger. Wahrscheinlich gibts ihn überhaupt nicht mehr, denn er lässt sich ja alles gefallen und tut nichts dagegen. Oder scheint es nur so? Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus und wer kann es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. Wer hätt sichs zum Beispiel zu ahnen getraut, dass ich einst in diesem Leben mit 얍 der Witwe meines Hauptmanns in nähere Beziehungen treten werde? In sogenannte nähere Beziehungen – und wenn auch nur für eine Nacht. Wer hätte diese Nacht geahnt? Sie war mir selbst so unvorstellbar, dass ich hinterher anfing darüber nachzudenken, was es auf unserer Welt für einfache Gesetze gibt. Gesetze, die keinen Witz verstehen, sodass man sich manchmal schon fürchten könnt. Vielleicht gibts doch ein höheres Wesen. Wenn mir einer vorher gesagt hätt, Du wirst mit der Witwe Deines Hauptmanns schlafen, hätt ich gesagt: Du Phantast! Ich weiss es ja auch garnicht, ob ich es eigentlich wollte. Ich wusste nur, sie hatte lange Beine. Sie muss grösser sein als der Hauptmann war. Jaja, manchmal bin ich imstand und liebe die Beine der Frauen, denn sie hören für mich nicht auf. Und sie können über alles gehen, über alles hinweg, so leicht, als wär alles nur nichts. Ich habe einmal ein Buch gelesen über die Sprache der Beine. Es war ein Maga얍 zin und ich trugs eine Weile mit mir herum. Der Stabsfeldwebel fand es und nahms mit nach Haus. Seine Gattin verbrannte es im Herd. „Eine Schweinerei“, sagte sie. Aber das war keine Schweinerei, sondern es waren stramme Weiber drin abphotographiert, die wenig anhatten oder fast nichts. Das Titelblatt bestand aus einem Brustbild: die Dame mit dem Hermelin. Und an dieses Brustbild musste ich denken, als ich die Witwe meines Hauptmanns zum erstenmal sah. Sie trug einen Morgenrock, obwohls schon Nachmittag war. Sie wohnt im ersten Stock einer kleinen Villa. Unter ihr wohnt ein pensionierter Prokurist und über ihr ist schon das Dach. Die Villa steht weit draussen am letzten Rand der Stadt. Es ist ein neuer Vorort. Vor fünf Jahren war da noch nichts zu sehen – kein Licht, kein Pflaster, keine Kanalisation, 얍 nur Gras. Aber wo einst das Vieh weidete, stehen heut schmucke Einfamilienhäuschen, denn die Welt dreht sich und das Leben lässt sich nicht lumpen. Wir entwickeln uns immer höher hinaus. Als ich den Vorortzug verliess, fühlte ich plötzlich, dass es schon Herbst geworden war. Drinnen in der Stadt konnte man sich noch täuschen, aber hier draussen schien die Sonne so traurig, als hätte sie verweinte Augen. Ringsum sammelten sich die Nebel und lautlos fielen die gelben Blätter. Ein alter Mann kehrte sie langsam zusammen – Was geschieht mit den gelben Blättern? Herr Hauptmann, wo bist Du jetzt? Ich darf garnicht an Dich denken, sonst fallen die Blätter noch stiller.

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Als ich Deine Witwe zum erstenmal sah, war es kurz nach sechs Uhr. Mein Zug ist zwar schon um 17 Uhr 9 auf die Minute pünktlich eingelaufen, aber ich ging nicht gleich zu ihr hin, sondern trank noch im Bahnhofsbuffet ein Glas Bier. Denn offen gestanden war es mir peinlich, sie zu sehen. Vielleicht wusste sie es ja noch gar-얍nicht, dass es Dich nicht mehr gibt, und dann hätt ich es ihr mitteilen müssen, sie hätt mich entsetzt angestarrt und ich hätt Trostworte finden müssen – nein, das kann ich nicht, das liegt mir nicht, ich mag keine heulenden Weiber! Aber meine Angst war umsonst. Als ich nämlich zu stottern begann, unterbrach sie mich sogleich und ich hörte, dass sie es bereits seit Monaten weiss, dass es Dich nicht mehr gibt. Ein Oberstleutnant hätt es ihr schonend übermittelt, dass Du als Freiwilliger gefallen wärst – sie lächelte bei dem Worte „Freiwilliger“ etwas bitter, aber ich bemerkte es dennoch, dass ihr Hauptschmerz bereits überwunden war. Ich trank also mein Bier umsonst. Es war ein elendes Bier. Ja, damals hätt ichs noch nicht gedacht, dass ich mit ihr schlafen werde, und zwar in selbiger Nacht. Wenn mir das damals einer prophezeit hätt, dem hätt ich mein Bier ins Gesicht geschüttet. Nicht nur, weil ich es für treulos gefunden hätte, mit der Frau meines Hauptmanns etwas anzufangen – doch halt! Eigentlich hab ich ihn 얍 doch garnicht betrogen, denn er weilt ja nicht mehr unter uns Lebenden. Und ausserdem ist das Fleisch schwach, das ist ein alter Schnee. Als ich das dumme Bier trank, betrachtete ich immer wieder seinen Brief mit der Aufschrift: „An meine Frau“ – Komisch, dass die Schwester dachte, ich hätt eine Frau. Das wär ein Witz, wenn ich verheiratet wär. Ich glaub, ich taug nicht recht dazu. Es geht mir in diesem Punkt genau wie Dir, mein Hauptmann. Auch Du warst unglücklich in der Ehe – still, wir habens alle gewusst! Drum wohntest Du auch bei uns in der Kaserne und Deine Gattin hier draussen in der entgegengesetzten Richtung. Du sahst sie nur Sonn- und Feiertags. Ihr verstandet Euch nicht, das war bekannt. Wir hätten es uns auch garnicht vorstellen können, wie Du mit einem Weibe auskommst, so sehr gehörtest Du zu uns. Die Kaserne war auch Deine alleinige Heimat, glaub es mir. Wenn Du unsere Front abschrittest, dann wuss-얍ten wirs alle, dass wir Deine Kinder sind. Was war daneben die Liebe eines Weibes? Ein schwacher Schimmer. Und trotzdem: wenn man längere Zeit kein Weib sein eigen nannte, dann kommen einem nachts die Träume, in denen man es nimmer weiss, ob man ein Herr ist oder ein Fräulein – Wie gesagt, es war kurz nach sechs Uhr. Wir sassen im Salon, sie und ich. Ihr Morgenrock hatte einen tiefen Ausschnitt und auf dem Tischchen lagen Zigaretten. Sie nahm sich eine davon und rauchte; und gab mir auch eine davon und ich rauchte auch. Sie trug schwarze seidene Strümpfe und daran konnte man es auch erkennen, dass sie es bereits wusste, dass es Dich nicht mehr gibt.

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An der Wand hing ihr Bild, Du kennst es. Ein Ölgemälde. Mit einem Hermelin. Vielleicht wars auch dieser Hermelin, dass ich unwillkürlich Vergleiche anstellte mit dem Brustbild im Magazin. Aber dies sagte ich ihr erst später. Doch glaubs mir, bitte – nicht ich wars, der begann, sondern sie. Sie war der aktive Teil. Sie 얍 umarmte mich und sagte: warum umarmst Du mich? Sie knöpfte mir den Waffenrock auf und sagte: was machst Du da? Sie gab mir einen Kuss und sagte: lass mich! Sie presste mich an sich und sagte: geh von mir – Aber dies alles tat sie erst nach dem Abendessen. Sie lud mich nämlich dazu ein, weil mein nächster Zug erst um 9 Uhr 12 zurückfuhr, jedoch damals dachten wir noch nicht weiter. Ich wenigstens nicht. Sie vielleicht schon. Jaja, wir Männer fallen im Feld und die Weiber fallen zu Haus. Wir Männer kommen unter die Erde, die Weiber stehen wieder auf und ziehen sich um. Auch Deine Gattin, mein lieber Hauptmann! Auch die Deine! Doch warum erzähl ich Dir das alles? Warum? Warum denk ich denn immer an Dich? Es klingt ja schon fast, als würd ich mich verteidigen wollen – Nein, das hab ich weissgott nicht nötig! Ich tat doch nichts böses und sie tat auch nichts 얍 dergleichen – und Du, Du bist tot! Verschwind! Überhaupt ist manches Band zwischen Dir und mir zerrissen, seit ich es weiss, was Du Deiner Frau geschrieben hast, seit ichs mit eigenen Augen las! Warum beschimpfst Du mich in Deinem Briefe? Was tat ich Dir denn? Wollt ich Dich denn nicht retten? Warum nennst Du mich einen ehrlosen Verbrecher? Hauptmann, was soll das heissen?! Ich kann nur annehmen, dass Du krank geworden warst, als Du diesen Brief geschrieben hast – und so erzählt ichs auch Deiner Witwe, dass Du anscheinend nicht mehr bei Sinnen gewesen bist, Deine Nerven hätten Dich höchstwahrscheinlich verlassen und Deine verwirrte Phantasie hätt Dir üble Streiche gespielt. Sie wurde immer bleicher, als sie Deine Zeilen las, und dann wurde sie rot, dunkelrot. Dabei liess sie den Mund offen wie ein masslos erstauntes Kind. Und dann, dann sah sie mich an – nein, nicht erstaunt, sondern entsetzt. Ich werd diesen Blick nie vergessen. Sie hat hellgraue Augen, Du weisst es. Sie starrten mich an, diese Augen, aber es 얍 war mir dabei, als dachte sie an nichts oder als lief ihr alles durch den Kopf. Sie brachte keinen Ton hervor und der Brief in ihren Händen begann zu zittern. Es wurde mir allmählich unangenehm und ich wollt mich bereits erkundigen, was Du geschrieben hättest, aber sie kam mir zuvor. „Entsetzlich“, sagte sie, und zwar sehr leise. Dann stand sie auf und ging hin und her. Was hat sie denn? Plötzlich hält sie dicht vor mir und lässt mich nicht aus den Augen. „Und er – er gab Ihnen diesen Brief?“ „Ja, das heisst: ich nahm ihn ihm aus der Hand“ – „Still!“ unterbricht sie mich schreiend. „Sprechen Sie nicht weiter, Sie Unmensch!

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Das ist ja zu grauenhaft – kein Wort, kein Wort!“ Sie wirft sich auf das Sofa und heult. Ich kenne mich nicht mehr aus und mir fällt das Wort hysterisch ein. Was tun? Ich weiss es nicht und lasse sie heulen. 얍 Sie weint immer leiser und langsam richtet sie sich wieder auf, trocknet ihre Tränen mit einem kleinen Taschentuch und schneuzt sich verstohlen. Dann fängt sie wieder mit mir an: „Hören Sie, Sie müssen mir alles erzählen, alles, alles – jetzt ja“ – Warum jetzt? „Also“, fährt sie fort und versucht sich zu beherrschen, „Sie nahmen ihm den Brief aus der Hand?“ „Ja, ich bemerkte nämlich, dass er was weisses in der Hand hält.“ „Sie wollten ihn retten, nicht?“ Es wird mir kalt, denn sie lächelt ganz irr – „Ja“, sage ich, „ich wollte ihn retten.“ „Aber Sie kamen zu spät?“ „Ja, zu spät.“ Sie lächelt noch immer. „Und Sie haben ihn abgeschnitten?“ „Abgeschnitten?!“ Ich starre sie an, sie lächelt nicht mehr. Abgeschnitten? Mir wirds ganz wirr – Sie beobachtet mich. „Erzählen Sie mir alles“, sagt sie und wird immer energischer, „ich habe ein 얍 Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, ich war ja zuguterletzt seine rechtmässige Gattin und ich will es nicht haben, dass man mir hier mit Heldentod und dergleichen Sand in die Augen streut! Ich verzichte auf jedwede ‚Schonung‘! Ich fordere die Wahrheit, die nackte Wahrheit!“ Sie ist verrückt geworden, durchzuckt es mich. „Hier aus diesen Zeilen, aus seinem letzten Briefe, geht es einwandfrei hervor, dass er nicht gefallen ist, sondern dass er sich erhängt hat.“ Ich schnelle empor. „Erhängt?!“ „Hier stehts schwarz auf weiss! Er schreibt es selber! Und jetzt will ich alles genau wissen, alles, alles!“ „Aber er hat sich doch garnicht erhängt!“ „Lügen Sie nicht!“ schreit sie mich an. „Genug gelogen!“ Jetzt wirds mir zu dumm. „Ich lüge nicht!“ fahr ich sie an. „Was fällt Ihnen eigentlich ein?! Er ist ordnungsgemäss gefallen!“ 얍 „Gefallen?!“ unterbricht sie mich kreischend und lacht ganz eisig. „Gefallen, sagen Sie?! Hier, hier lesen Sie seinen Brief, seinen letzten Brief, Sie Lügner!“ Sie wirft den Brief auf den Tisch und ich seh ihn dort liegen. Aber ich rühr ihn noch nicht an. Sie tritt ans Fenster und schaut hinaus. Draussen fährt ein Zug vorbei, ein Vorortzug – „So lesen Sie ihn doch!“ herrscht sie mich plötzlich wieder an. „Lesen Sie und seien Sie nicht so feig!“

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„Ich bin nicht feig“, sage ich und werde wütend. Rasch pack ich den Brief und beginne zu lesen. „Meine liebe Frau“, lese ich, „kurz vor meiner langen Reise in die Ewigkeit, will ich Dir nochmals danken, danken für all Deine Liebe und Treue. Verzeihe mir, aber ich kann nicht mehr weiterleben, mir gebührt der Strang“ – Ich stocke. Der Strang? Was schreibt er da, der Hauptmann? Und ich lese weiter: „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige 얍 Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete“ – Ich werfe einen Blick auf die Frau. Sie steht noch immer am Fenster und schaut hinaus. Gegen Weiber? Ja, das stimmt. „Verzeihe mir“, schreibt der Hauptmann, „aber ich pass nicht mehr in die Zeit“ – Ich schau die Frau Hauptmann an und denke: passt Du in die Zeit? Und ich frage mich: pass ich in die Zeit? „Es ist eine Schande“, lese ich weiter, „und was mich am tiefsten schmerzt, ist der Untergang meines Vaterlandes. Denn jetzt erst hat mein Vaterland seine Ehre verloren und zwar für immer. Gebe Gott mir die Kraft, dass ich ein Ende machen kann, denn ich will nicht als Verbrecher weiterleben, mich ekelt vor meinem Vaterlande“ – Ekelt? Die Frau schaut noch immer zum Fenster hinaus. 얍 Was gibts denn dort draussen so interessantes? Wahrscheinlich nichts. Ich blick auf sie und denk an den Hauptmann. Wohin soll das führen? Wer kann Dich noch verstehen? Warum ekelt Dich Dein Vaterland? Ja, es ist wahr: Du wolltest nicht mehr bei uns sein, bei Deinen Soldaten. Du warst uns fremd geworden, das fühlten wir schon damals – erinnerst Du Dich? Zum Beispiel, wie Du es seinerzeit erfahren hast, dass wir ein paar Gefangene erledigt hatten, was hast Du damals nur getrieben! Und derweil wars doch zuguterletzt nur ein beschleunigtes Verfahren – vielleicht brutal, zugegeben! Man gewinnt keinen Krieg mit Glacéhandschuhen, das müsstest Du wissen! Aber Du schriest uns an, ein Soldat sei kein Verbrecher und solch beschleunigtes Verfahren wäre frontunwürdig! Frontunwürdig? Was heisst das? 얍 Wir erinnern uns nur dunkel, dass dies ein Ausdruck aus dem Weltkrieg ist – wir haben ihn nicht mehr gelernt. Und Du hast dem Kameraden, der auf die Idee gekommen war, eigenhändig seinen Stern vom Kragen gerissen, seinen silbernen Stern – Sag, Hauptmann, was hat das für einen Sinn? Am nächsten Tag hat er doch seinen Stern wiedergehabt und Du, Du hast einen strengen Verweis bekommen – wir wissens alle, was in dem Schreiben stand. Der Leutnant hats uns erzählt.

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Die Zeiten, stand drinnen, hätten sich geändert und wir lebten nicht mehr in den Tagen der Turnierritter. Hauptmann, Hauptmann, es hat keinen Sinn! Glaub es mir, ich mein es gut mit Dir – Oder sprang ich Dir nicht nach? Wollte ich Dich denn nicht vom Tode zurückreissen? Jetzt weiss ichs ja, warum Du in das Maschinengewehr hineingelaufen bist, jetzt weiss ichs ja, dass ich Dir keinen Gefallen getan hätt – Aber mein Arm musste daran glauben. Er ist noch immer nicht ganz und vielleicht wird ers auch nimmer. 얍 Wie kannst Du mich einen Verbrecher nennen, wo ich Dir helfen wollte? Wie kannst Du Dich vor mir ekeln? Denn ich gehör doch auch zum Vaterland. Und Deine Frau dort am Fenster ebenfalls. Wenn ihr Euch auch immer gestritten habt, es wär ihr doch sicherlich lieber gewesen, Du wärst wieder heimgekehrt – Sie ist zwar noch ein relativ junges Weib und wird sich schon trösten. Aber trotzdem – trotzdem der einzelne keine Rolle spielt, Du hättest es nicht tun dürfen, schau, sie ist ja ganz ausser sich. Ich werds ihr jetzt auch sagen, dass da keinerlei Strang eine Rolle gespielt hat, ich werd sie beruhigen, dass es nur ein feindliches Maschinengewehr gewesen ist – Und ich sag es ihr. Sie hört mir aufmerksam zu und fragt dann: „Ist das auch die Wahrheit?“ „Ja.“ Sie sieht mich traurig an mit ihren hellen Augen 얍 und lächelt ein bisschen, als wär sie müd. Dann schweigen wir wieder. Ich wunder mich, wie ruhig sie geworden ist. Plötzlich fragt sie mich: „Wollen Sie mir etwas versprechen?“ „Natürlich.“ „Behalten wir den Inhalt dieses Briefes für uns, bitte“ – „Bitte“ – Sie nimmt den Brief an sich und fährt sich über die Frisur. „Es wär mir nämlich sehr, sehr peinlich, wenn jemand den wahren Tatbestand erfahren würde – ich stamme aus einer alten Beamten- und Offiziersfamilie und wenn dieser furchtbare Brief bekannt werden würde, gäbs nur einen himmelschreienden Skandal.“ „Zu Befehl.“ „Die wären ja imstand und liessen ihm selbst im Grab keine Ruh. Sie würden ihn noch ausgraben und irgendwo verscharren, wo weit und breit kein ehrlicher Mann liegt“ – „Nicht unmöglich.“ Sie sieht mich gross an. Du stammst also aus einer Beamten- und Offiziersfamilie – muss ich denken. 얍 „Sie sind jetzt mein Mitwisser“, unterbricht sie meine Gedanken und lächelt wieder ein wenig. „Auf Sie kommts an, dass es unter uns bleibt, nur auf Sie, denn der liebe Gott, der wird ja schweigen“ – Sie nickt mir zu und verlässt das Zimmer.

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Sie geht in die Küche und richtet das Essen. Denn, wie gesagt, ich sollte bei ihr zu Abend essen, weil doch mein Zug erst um 9 Uhr 12 zurückfuhr. Jetzt bin ich allein. Auf dem Tischchen liegen noch die Zigaretten, ich zünd mir eine an. Im Bücherschrank stehen Erinnerungen an den Weltkrieg. Es sind militärische Bücher, die gehörten ihm. Und blöde Romane, die gehören ihr. In der Küche klappern die Teller. Was wirds denn zum Essen geben? Wahrscheinlich kalt. Vielleicht einen feinen Aufschnitt, Butter, Käse und Brot – Draussen beginnt es zu regnen und die Bäume 얍 schütteln sich, doch drinnen bleibt alles warm und still. Ja, es ist Herbst geworden. Es wird immer dunkler und der Lampe Schein fällt auf den grossen Tisch in der Mitte. Hier haben die beiden gegessen, der Hauptmann und seine Frau. Und plötzlich gehts mir durch den Sinn: schau, hier hast Du ja das bequeme Leben – Ein Leben, das Du so sehr verachtest. Mit Recht? Und wie ich mich so frage, fällt mir mein Vater ein. Der hinkt jetzt in seinem Lokal herum und beginnt mir leid zu tun – Auch er wollte doch solch ein Zimmer haben. Solch eine feine Lampe, einen Bücherschrank, den Sorgenstuhl, den grossen und den kleinen Tisch. Und eine Frau, die in der Küche mit den Tellern klappert. Ob meine Mutter eigentlich gut kochen konnte? Ich weiss es nicht. Aber ich muss sie mal wieder besuchen, ich war 얍 ja schon seit Jahren nimmer an ihrem Grab. Und plötzlich wirds mir ganz eigenartig, denn es ist mir so, als würd ich selbst das Vaterland vergessen können wegen einer Frau – als würd man das Vaterland nicht mehr fressen wollen, wenn ein Weib für einen kocht. Ja, die Liebe geht durch den Magen. Ich muss grinsen und geh auf und ab. In der Ecke steht ein grosser Spiegel, ich seh mich drin gehen und plötzlich durchzuckt es mich: wie ist eigentlich Dein Hauptmann gegangen? Ich versuche so zu gehen – Es gelingt mir nicht. Doch, zwei Schritte waren richtig. So ist er gegangen! Etwas schwer, etwas untersetzt – Jawohl, so ist er hier auf und ab und hat auf das Essen gewartet. Ob er auch solang warten musste? Ich hab schon richtig Hunger – was klappert denn die solang da draussen? Grad will ich mir die vierte Zigarette anstecken, da kommt sie endlich mit einem Tablett. Es gibt Schnitzel mit Salat. Bravo! B

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Sie deckt den Tisch und sagt kein Wort. Messer, Gabel, Löffel – alles in Ordnung. Alles in Reih und Glied, ausgerichtet Mann für Mann. Jetzt werd ich allmählich der Hauptmann. Ich setze mich auf seinen Platz. Vielleicht ist es schön, wenn man weiss, dass man zu Hause eine Frau hat, die die Schränke öffnet und schliesst. Die alles in Ordnung hält. Ja, das wär alles sehr schön, wenn man sichs leisten könnt! Das Glück ist eine reine Geldfrage und sonst nichts. Doch halt! Der Hauptmann konnte sichs ja leisten, dieses häusliche Glück, und wohnte trotzdem in der Kaserne. Sie sah ihn nur Sonn- und Feiertags. Es ist also alles Essig, diese ganze himmlische und irdische Liebe und es bleibt dabei: ich mag keine Seele leiden. Auch mich nicht. Eigentlich hasse ich alle. Selbst der Hauptmann entschwindet mir schon – seit seinem Brief. 얍 Seit es ihn ekelt. „Trinken Sie rot oder weiss?“ fragt sie. „Ich trink alles.“ Sie schenkt roten ein, zuerst sich, dann mir. Ich hebe das Glas: „Auf das Wohl der Hausfrau!“ „Danke“, sagt sie leise und nippt nur daran. Sie ist sehr bleich, und wir reden nichts. In der Ferne läutet ein Glockenspiel – Ich horche hin. „Das ist das Stellwerk vom Bahnhof“, sagt sie. „Wenn es dunkel wird, dann kann man die Signale hören.“ „Was hat das mit der Dunkelheit zu tun?“ frage ich, erleichtert, dass sie endlich redet, denn diese schweigende Esserei ging mir schon auf die Nerven. „Das weiss man nicht, es ist halt so“, meint sie. Und ohne mich anzuschauen, erklärt sie weiter: „Es gibt nämlich unerklärliche Dinge auf unserer Erde, seltsame Geheimnisse, unerforschte 얍 Zusammenhänge – finden Sie es nicht auch?“ Sie wartet meine Antwort garnicht ab, sondern fährt fort, indem sie prüfend in ihrem Salat herumstochert: „Ich hatte einst einen schrecklichen Traum. Ich lag hier auf diesem Sofa, träumte ich, und las einen Roman, da trat mein Mann rasch ein und schrie mich an: ‚Komm! Es ist höchste Zeit!‘ Und dann schimpfte er mit mir, weil ich noch nicht fertig war – oh, er schimpfte ganz schlimm, denn er konnte ja auch in Wirklichkeit recht ungeduldig werden, obwohl er zwar ein grundguter Mensch gewesen ist. Also ich zieh mich rasch an und da seh ich plötzlich, dass seine Stirne aus einer tiefen Wunde blutet. Ich schrei entsetzt auf, aber er lächelt nur, hält den Finger vor die Lippen und flüstert: ,Still, die Kinder schlafen ja schon‘ – und wir haben doch in Wirklichkeit gar keine Kinder. Ich starr ihn an und sage: ,Alfons, was ist denn nur mit Deinem Kopf?‘ Und er sagt: ‚Red keinen Unsinn! Das ist doch nicht mein Kopf, das ist mein Herz‘ – da wachte ich auf.“

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„Sonderbar“, sage ich. „Und das sonderbarste ist, dass ich das genau 얍 an dem Tage träumte, an dem er seinen Tod fand.“ „Sehr sonderbar. Und dann ist er so plötzlich verschwunden – ich meine: im Traum?“ „Ja, das heisst: er ging durch diese Türe, aber direkt durchs Holz hindurch, als hätt er kein Fleisch und Blut.“ „Und wohin geht diese Türe?“ Sie starrt mich einen Augenblick an, dann sagt sie: „In mein Schlafzimmer.“ Sie wird rot. Warum? Sie leert ihr Glas, fast hastig. Plötzlich beginnt sie wieder: „Was sind Sie denn von Beruf? Student?“ Ich?! Ein Student? Seh ich denn so aus? Soll ich es ihr sagen, dass ich ohne Uniform nichts bin? Dass ich sogar vorbestraft wäre, wenn der Kriminaler nicht über das Eis gerutscht wär – Und ich sage: „Ja, ich bin Student und bin dann mittendrin eingerückt – freiwillig.“ „Ach!“ sagt sie und wird bitter ernst. Wahrscheinlich fiel er ihr wieder ein bei dem Wörtchen „freiwillig“ – 얍 Aber ich muss nur lächeln, denn es schmeichelt mir, dass sie mich für einen Akademiker hält. Es dreht sich also nicht nur alles ums Geld, sondern auch um die persönliche Wirkung. Wer hat, der hat! Und auf einmal kann ich so frei zu ihr reden, als kämen mir die Worte und Sätze ganz von allein. Ursprünglich war ich nämlich befangen, aber während ich nun daherrede, denk ich immer wieder dasselbe: schau, auch mit einer Dame der Gesellschaft lässt sichs leicht essen, vorausgesetzt, dass sie Dich für einen Akademiker hält. Ich erzähle ihr allerhand Zeug und einmal lacht sie sogar hellauf – aber mittendrin stockt sie und schaut sich ängstlich um, als dürfte sie heute nicht lachen. Und ich erzähle ihr von meinem Arm, der noch immer nicht ganz ist, aber ich verschweig es ihr, warum er verletzt wurde – weil ich nämlich unseren Hauptmann retten wollte. 얍 Warum red ich nur nichts darüber? Warum sag ichs ihr nicht, dass mich mein Arm selbst beim Trinken noch schmerzt, weil ich ihren Gatten tollkühn zurückreissen wollte? Warum protz ich denn nicht damit, dass ich eigentlich ein Held bin? Ich wusste es selber nicht. Es war nur eine leise innere Stimme da, die mir sagte: erwähne seinen Namen nicht mehr, nur seinen Namen nicht – Er hat jetzt nicht mehr da zu sein. Sein Schatten soll nicht mehr auf unseren Tisch fallen. Weg damit! Weg, vielleicht weil sie vorhin gelacht hat – Sie soll sich nicht mehr umschauen! Weg damit! –

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Es wird immer später. „Ich muss jetzt gehen“, sage ich. „Wir haben noch Wein“, sagt sie. Und ich habe solang keinen Wein mehr getrunken, er steigt mir zu Kopf und ich erzähle von einem Fräulein, das mir nachlief und das ich nicht mochte, weil es zu jung für mich war – 얍 da bemerke ich, dass sie mich betrachtet. Ich stocke, denn sie lächelt spöttisch. Jetzt läutet es wieder, das Stellwerk. Sie horcht auf und zuckt etwas zusammen. „Was gibts?“ „Das war Ihr letzter Zug.“ „Der letzte? Na gute Nacht!“ Aber sie beruhigt mich. „Sie können ruhig hier übernachten, hier auf dem Sofa, vorausgesetzt, dass es Ihrem Arm nichts schadet“ – „Aber das geht doch nicht“ – „Warum soll das nicht gehen? Mich stören Sie nicht, im Gegenteil: ich bin garnicht so gern allein in der Wohnung, im Parterre ist alles verreist und mein Mädchen erscheint erst morgen früh, es ist also niemand im Haus und oft kommen so unheimliche Bettler“ – Bettler?! Das Wort versetzt mir einen Stich, denn ich muss an meine fünf Taler denken, die ich noch in der Tasche hab. Und an denjenigen, dem ich sie nicht gab. Ich erblick mich im Spiegel. Es fällt mir erst jetzt auf, dass ich mich von meinem Platz aus erblicken kann. 얍 Ich gefalle mir nicht. Und sie sagt: „Diese Bettler werden immer unverschämter.“

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Sie hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und ich zog mich aus. Den Rock legte ich über einen Stuhl, aber dann zog ich ihn wieder an, denn die Nacht wurde bitterkalt. Es ist nämlich ein Sturm gekommen und die Vorhänge bewegen sich. Besonders der linke und es zieht auf meinen kranken Arm. Ich krieche tiefer unter die Decke, die sie mir gab, aber ich schlaf nur für Augenblicke ein. Dann wach ich wieder auf – sein Brief lässt mich nicht los. Immer länger wird die Nacht und der Sturm setzt sich auf das Dach. Dort geht er jetzt hin und her – Dieser Brief, dieser Brief! 얍 Schlaf, blöder Hund, und grübel nicht weiter – Siehst Du die hohen Berge rings um den Tisch? Im Spiegel brennt eine Stadt. Marschier nur zu – über das hohe Plateau. Vorwärts, Soldaten der Diktatur!

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Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser. Wir haben fünf Zivilisten gehenkt. Einen nach dem anderen. Zwei Krähen fliegen vorbei – Was ist denn nur mit dem Hauptmann los? Es freut ihn scheinbar kein Schuss. Wir schütteln oft alle die Köpfe. Du hast von Deiner Beliebtheit schon viel verloren – Einige murren sogar. Zwar schreitest Du noch jeden Morgen unsere Front ab, aber Du siehst nur noch unsere Ausrüstung und nicht mehr durch sie hindurch in uns hinein. Manchmal fühlen wir uns schon direkt einsam, trotzdem wir in Reih und Glied stehen. Als wären wir hilflos in einer drohenden Nacht und es 얍 wär niemand da, der uns beschützt – Die Krähen kommen wieder. Und mit Sehnsucht denken wir an die schönen Tage im Kasernenhof zurück. Wie schön wars, wenn er uns abschritt, wenn er beifällig nickte in seiner sicheren Art, weil alles stimmte, aussen und innen. Ach, Hauptmann, wohin soll das führen? Wohin? So fragte ich, als Deine Witwe plötzlich in der Schlafzimmertür erschien. Sie war käsweiss und zitterte. Ich fahre hoch – Sie hat wenig an, setzt sich auf einen Stuhl, legt ihr Gesicht auf den Tisch und weint. „Was ist Ihnen?“ frage ich. „Ich kann nicht mehr drüben bleiben“, wimmert sie, „wahrscheinlich sinds nur die Nerven, aber ich kann nicht mehr allein sein, immer hör ich so Geräusche, als ging was um mein Bett herum“ – „Was denn?“ Sie sieht mich gross an mit ihren verweinten Augen und sagt dann langsam: „Ein Hund.“ Ein Hund? „Nein!“ schreit sie plötzlich los. „Ich geh da jetzt nimmer zurück! Nie wieder, nie 얍 wieder!“ Sie heult immer heftiger. Ich erheb mich, denn ich hatte ja nur die Stiefel ausgezogen, und biete ihr mein Sofa an, aber sie will im Sorgenstuhl schlafen. Das lass ich nicht zu und berühr dabei ihre Schulter. Da fährt sie wütend herum und haut mir auf meinen Arm. Ich werde wild und geb ihr einen Stoss – „Was fällt Ihnen ein?!“ brüllt sie. „Ruhe!“ herrsch ich sie an. „Mein Arm ist ja kaputt! Dort ist das Sofa und kein Wort mehr!“ „Kein Wort mehr?“ fragt sie gedehnt und lässt mich nicht aus den Augen. Als wär sie mein Todfeind, so steht sie vor mir. Still und bös. Ich muss an das Brustbild mit dem Hermelin denken – aber ich schau nicht hinab. Es wird immer stiller. B

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korrigiert aus: kaputt!Dort

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Jetzt fliegt ein Engel durch das Zimmer, sagen die Kinder. Ich seh nur ihren Mund. Sie schliesst ihn nicht – Ihre Lippen sind nass. „Leg Dich hin“, sag ich leise. 얍 Sie fährt hoch: „Was fällt Ihnen ein, mich zu duzen, Sie?!“ Hab ich Du gesagt? Weiss ich garnicht – Ich will mich schon entschuldigen, da fährt sie mir langsam durch das Haar. Ihre Lippen bewegen sich – „Was sagten Sie?“ „Nichts.“ Aber ich habe es gehört, dass sie lügt. Sie sagte nämlich: „Was machst Du aus mir?“

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DER VERLORENE SOHN

Eigentlich wollt ich sie nimmermehr wiedersehen, die Witwe meines Hauptmanns, und sie wollt mich auch nimmer sehen. Als damals der Morgen graute und ich mich rasch verabschiedete, um noch den ersten Vorortzug zu erreichen, sagte sie nur: „Vergessen wir es, mein Freund“ – Sie hielt mich für einen Studenten. Und das tut mir heute noch wohl. Ja, es war nur ein sogenanntes Abenteuer, wie es millionen- und millionenmal Tag und Nacht zustande kommt, wenn auch jedesmal unter anderen Voraussetzungen. Aber vielleicht sind alle diese Bedingungen nur rein äusserlicher Natur. Offen gestanden war ich sogar froh darüber, dass wir zwei es vergessen sollten, 얍 denn wir waren zuguterletzt nicht füreinander erschaffen. Ich weiss es natürlich nicht, wars ihre Haut oder war sie mir zu lebhaft – kurz: trotz allem kam keinerlei innere Verbindung zustande und das einzige, was mir blieb, war meine alte Ahnung, dass nämlich die Damen der Gesellschaft auch nur Weiber sind. Ich fühlte mich bestätigt und wollt nichts mehr von ihr wissen, denn selbst das Brustbild mit dem Hermelin erschien mir danach nur als optische Täuschung. Aber es gibt eben in unserem Leben unerforschte Zusammenhänge, die keinen Witz verstehen – das wird mir allmählich dennoch immer klarer. Ich sollte sie noch einmal wiedersehen, die Witwe meines Hauptmanns, wenn auch in einer ganz anderen Angelegenheit. Zirka drei Wochen nach unserer Nacht stand ich wieder auf jenem Vorortbahnhof – „Frisches Bier!“ rief das Mädchen am Buffet. Nein danke, sauf ihn selber, Deinen Mist! Dass ich wieder zu ihr hinausfuhr, daran war 얍 nur mein Vater Schuld – jawohl, mein Herr Vater! Diese Idee war auf seinem Mist gewachsen, er hat mir diesen Floh ins Ohr gesetzt, er und sonst niemand! Mein Arm wurd und wurd nämlich nicht besser und mein Schicksal schien besiegelt, weil eben zu viele Nerven zerrissen waren. Am Tage nach jener Nacht untersuchte mich der Arzt und sagte: „Was ist denn das? Der Knochen ist ja schlechter geworden!“ Ich erschrak sehr.

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„Haben Sie denn etwas Schweres gehoben oder getragen, gezogen?“ „Nein“, antwortete ich und musste unwillkürlich lächeln, obwohl es mir eher zum weinen war. „Trauen Sie sich nur nicht allzuviel zu!“ meinte der Arzt und trat zu meinem Nebenmann. Ich hätte sie wecken sollen, als sie auf meinem Arme schlief. Aber ich wollt sie in Frieden ruhen lassen und jetzt steht es schlimm um mich. Undank ist der Welten Lohn. Ich hätte den Hund hereinrufen sollen, der in 얍 ihrem Schlafzimmer sass. Dann wär sie schon aufgesprungen – Was wiegt denn so ein Weib? Sie war ja schwer wie ein Kalb. Sicher 70 Kilo. Ich will ihr zwar keine Vorwürfe machen, dass mein Arm nimmer ganz wird – seit vorgestern steht dies nämlich medizinisch erhärtet bereits felsenfest – aber sie trug halt auch ihr Steinchen dazu bei, ihr Steinchen zu dem Haufen, der meinen Arm endgültig zerquetschte. Ja, das war ein harter Schlag, als es sich unwiderruflich herauskristallisierte, dass ich das Militär verlassen muss. Aber harte Schläge machen hart. Und ohne mit der Wimper zu zucken, sagte ich: Adieu, ihr silbernen Sterne! Zwar darf ich die Uniform noch tragen, doch nimmer lang. Nur als Übergangsmassnahme – Ich weiss es noch nicht, was nun kommen soll. Ich weiss nur, man erntet nichts gutes, wenn man gut ist. Bös muss man sein, berechnend und immer kälter – Rücksichtslos bis zum Äussersten! 얍 Denn es kümmert sich keiner um Dich, wenn Du ihn im Frieden ruhen lässt. Weckst Du ihn auf, zertritt er Dir Deine Zukunft. Oh, hätt ich ihn doch nur niemals retten wollen, diesen Hauptmann! Diesen altmodischen Ritter mit seinen überspannten Ansichten – Der so zartbesaitet war, dass es ihm übel wurde, wenn er mal irgendwo tote Kinder sah – Richtig, er passte nicht in seine Zeit! Hätt ich dies nur schon früher gewusst, dann hätt ich heut noch meinen Arm! Denn wer nicht in seine Zeit passt, den soll man nicht abschneiden. Hoch droben soll er hängen an seinem freiwilligen Galgen, bis ihn die Krähen holen! Hörst Du mich, Hauptmann? Hörst Du mich da drunten?! Lieg nur in Deinem Heldengrab – aber ich soll von einer jämmerlichen Invalidenrente leben, was? Mit ehernen Lettern steht Dein Name im Ehrenbuch unseres Volkes, doch ich darf sehen, was sich findet – wie bitte?! Pass auf, es dauert jetzt nimmer lang und ich 얍 werd Dich endgültig hassen! Denn Du warst ein Schwächling, der für sein Vaterland nicht einmal das Opfer bringen konnte, ein paar feindliche Weiber niederzuknallen – Jawohl, ein Schwächling! Ein Bursche, dens vor seinem Volke ekelt! Wer kümmert sich jetzt um mich?!

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Ich gab Dir meine Zukunft, aber Du lässt mich allein zurück und kümmerst Dich in Deinem Sarg einen Dreck darum, ob ich satt bin oder nicht. Erschein mir doch wenigstens als Geist und erleuchte mich, was ich jetzt beginnen soll! Aber Du denkst nicht daran zu geistern, Du verwest ruhig weiter, als hättest Du nichts verbrochen! Wenn ichs Deiner Witwe nicht versprochen hätt, würd ich Deinen Brief in alle Welt hinausposaunen – alle sollens wissen, dass Du feige in den Tod marschiert bist, ein Fahnenflüchtiger, ein Schurke, ein Schuft! Ausgraben sollen sie Dich aus Deinem Heldengrab und verscharren in der hintersten Ecke, wo sich die Verbrecher gute Nacht sagen – Ich will von Deinem Brief erzählen, jedem, der 얍 mir in den Weg läuft, alle sollens wissen, was Du für eine Seele gewesen bist – garantiert! Doch halt-halt! Deine saubere Witwe würde natürlich alles prompt ableugnen, jeden Meineid würde sie schwören, wahrscheinlich hat sie auch den Brief schon längst verbrannt, sie ist ja ein raffiniertes Stück – und ich würd dann dastehen als der blöde Hund und würd vielleicht gar noch verurteilt werden als öffentlicher Verleumder. Vorsicht, Vorsicht, lieber Freund! Überhaste nichts, überleg Dir alles haargenau! Du stehst jetzt wieder am Anfang und nicht mehr in Reih und Glied. Heut steht keiner neben Dir, weder rechts noch links. Du bist allein, nur Du – Aber diesmal packs gescheiter an. Gescheiter! Nimm einen Bleistift in die Hand und rechne nach, was Dir bleibt. Es bleibt Dir nur ein einziger Mensch. Dein Vater. Dein lieber Vater. Er hat Dich in die Welt gesetzt, ohne sich zu erkundigen, ob Du es haben wolltest – er muss 얍 Dir also helfen und wenn er Blut schwitzen sollte. Du magst ihn zwar nicht, doch das ist egal. Nütze ihn aus! Sei freundlich zu ihm! Halt das Maul, wenn er in seiner dummen Art auf die Rüstungsindustrie schimpft – Wer weiss, vielleicht hat er garnicht so unrecht damit! Denn wenn ein Rüstungsindustrieller seinen Arm opfert, verliert er noch nicht seine Aufträge. Er liefert trotzdem weiter. Prima Kanonen, Munition und den ganzen Behelf – Eine Invalidenrente ist für ihn kein Problem. Widersprich also Deinem Vater nicht, er hat Dich ja auch gezeugt. Im Jahre 1917. Es muss im Fasching gewesen sein, denn ich hab im Herbst das Licht dieser Welt erblickt. Ehre Deinen Vater, auf dass Du ihn auspressen kannst. Geh zu ihm hin, fall auf die Knie und bitte ihn 얍 um seinen Segen! Er muss Dir Geld geben. Geh, Du kennst ja das Lokal, in dem er sich sein Brot verdient! Geh! – – – Ich ging also zu meinem Vater, bis in die Vorstadt hinaus.

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Der herbstliche Abend lag mild auf den weiten Plätzen und durch die engen Gassen kam leis eine traurige Nacht. Ohne jedes Licht am Himmel, als wären sie alle heruntergefallen, die schönen silbernen Sterne. Jetzt muss ich noch einmal nach rechts, dann links und quer hinüber – dort neben der Molkerei und dem photographischen Atelier, dort werd ich den lieben Vater treffen. Ich steh vor der kleinen Gastwirtschaft und lese das Schild: Zur Stadt Paris. Die Stadt Paris hat nur zwei Fensterscheiben. Die Vorhänge sind vorgezogen und ich schau durch einen Riss hinein. Die Luft da drinnen ist matt und grau. Ich seh nur wenig Gäste, aber sie rauchen fürs doppelte. Und da – da kommt er selbst! Mein Vater. Er bringt zwei Gläser Bier und stellt sie auf einen Tisch. Dort hocken drei Chauf얍 feure und würfeln. Mein Vater hat sich kaum verändert. Er ist nicht älter geworden und es kommt mir sogar vor, als würd er weniger hinken. Ist es denn möglich, dass ein Schuss besser wird? Oder ists nur die Macht der Gewohnheit, dass man mit der Zeit elastischer wirkt? Oder hab ich ihn nur hinkender in der Erinnerung? Der eine Chauffeur zahlt, mein Vater kassiert und verbeugt sich untertänig. Jaja, er ist der Alte geblieben. Ein Trinkgeldkuli – Sicher verdient er ganz hübsch. Trinkgelder summieren sich nämlich. Auch die allerwinzigsten. Vielleicht hat er schon ein Palais. Ich muss grinsen – Führst wieder ein flottes Junggesellenleben, was? Mit Weibern und Kartenspiel, wie vor Deinem Weltkrieg? Vorbei, vorbei! Das war einmal – vor mindestens dreihundert Jahren. Wie alt bist Du heut eigentlich? 얍 Ich schau mich um und betrete die Stadt Paris. In der Nähe der Türe setz ich mich gleich. Mein Vater erkennt mich nicht, denkt, ich wär ein gewöhnlicher Gast, und kommt zu mir, jedoch drei Schritt vor mir zuckt er sehr zusammen und starrt mich fassungslos an. Ich lächle verbindlich. Endlich findet er seine Sprache wieder. „Du?“ fragt er gedehnt – „Ja, ich bins.“ Er rührt sich noch immer nicht und schaut und schaut mich nur an, fast forschend. Ich steh auf und reich ihm die Hand. „Guten Abend, Vater!“ Langsam nimmt er meine Hand, als wär sie zerbrechlich, und erholt sich allmählich von der Überraschung. Dann sagt er: „Schön von Dir, dass Du noch an mich denkst. Was soll ich Dir bringen, was willst Du trinken?“ „Was Du mir gibst.“ B

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da drinnenN ]

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Er lächelt geschmeichelt. „Dann bring ich Dir etwas ganz besonderes, 얍 einen Extratropfen – aber dann musst Du mir auch alles erzählen, von A bis Z“ – Er nickt mir zu und ich hör ihn an der Schenke sagen: „Für meinen Sohn!“ „Oh!“ höre ich eine weibliche Stimme und dann beugt sich ein dicker, alter Schweinskopf über das Pult und glotzt mich neugierig an. Aha, seine Herrin und Meisterin! Ich nicke ihr ehrerbietig zu und sie verzieht befriedigt ihr Fett. Jetzt kommt mein Vater mit einem Glas Wein. „Ich darf mich nicht setzen“, sagt er, „ich bin im Dienst.“ „Auf Dein Wohl!“ sage ich. „Nein, auf Dein Wohl!“ Ich leere das Glas mit einem Zug. „Hoho!“ lacht mein Vater. „Wie der säuft!“ „Recht hat er!“ ruft der Schweinskopf. „Franz! Bringen Sie ihm noch einen Wein, tapfere Soldaten haben immer Durst!“ Franz ist mein Vater. Er bringt mir noch einen Extratropfen, beugt sich zu mir nieder und flüstert: „Du hast ja das Herz dieses alten Drachens im Sturm erobert, sie ist nämlich sonst der Geiz 얍 in persona, aber ich sags ja: man ist nicht umsonst mein Sohn!“ Stolz blickt er in der Runde umher und plötzlich bleiben seine Augen an meinem Kragen kleben: „Was? Wir haben schon drei Sterne? Drei silberne Sterne?! Gratuliere – gratuliere“ – „Danke“, fall ich ihm ins Wort, „ich hab sie doch nimmer lang.“ „Nimmer lang?!“ Er ist vor den Kopf geschlagen. Und ich erzähl ihm von meiner militärischen Zukunft, als ich nämlich noch eine hatte, denn ich bin doch einst der beste Schütze der Kompagnie gewesen und hab hintereinander ins Schwarze getroffen. Aber dann meldete ich mich freiwillig, um an der Säuberungsaktion gegen diese vertierten Untermenschen – Er unterbricht mich hastig: „Du warst auch dabei?“ „Ja, natürlich!“ „Aha!“ Was meint er mit diesem „Aha“? Ich werde nicht klug daraus und erwähne vorsichtig das kleine Land, das wir uns holen wollten – „Es ist schon unser“, unterbricht er mich wieder. 얍 Ich schau ihn misstrauisch an. Meint er dieses „unser“ spöttisch? Dem ist nämlich alles zuzutrauen, jeder Hohn und jede Zersetzung – Und während ich ihn heimlich beobachte, fahre ich fort zu erzählen. Von den braven Fliegern, die ich zwar persönlich nicht riechen kann, die jedoch ungemein präzis ihre waghalsige Pflicht erfüllten, von den fremden Städten und Dörfern, die wir zerstörten, von dem niederträchtigen feindlichen Gesindel, das uns oft genug mit der Waffe in der Hand entgegentrat, von der hässlichen Sprache jener Verbrecher, ihren dreckigen Hütten und räudigen Hunden. Er steht aufmerksam neben mir und plötzlich stört es mich, dass er nicht sitzen darf, und ich fasse mich immer kürzer. Ich berichte von meiner schweren Verwundung, weil ich nämlich unseren Hauptmann retten wollte, aber ich verschweige ihm den Brief des Hauptmanns, denn der wär ja nur Wasser auf seine Mühle – und ich rede natürlich auch kein Wort von der

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Nacht mit seiner Witwe, denn in 얍 diesen Punkten bin ich Kavalier und nenne nie einen Namen, sondern rede nur im allgemeinen mit. „Hm“, meint er, als ich geendet hatte, „ein zerschossener Arm ist natürlich nichts. Armer Kerl, hast wirklich Pech! Aber zunächst mach Dir nur keine besonderen Sorgen – wenn Du morgen oder übermorgen das Krankenhaus verlassen musst, dann sollst Du es wissen, dass Du immer bei Deinem Vater wohnen kannst.“ Ausgezeichnet! denke ich. Und ich sage: „Das wär sehr lieb von Dir“– „Das ist garnicht lieb“, fällt er mir wiedermal ins Wort, „das ist nur selbstredend! Sehr bequem wirst Du es zwar nicht haben, denn ich hab jetzt ein anderes Zimmer.“ „Ein anderes?“ „Ja, es ist etwas kleiner, eigentlich sogar um ein ziemliches kleiner als das frühere – die allgemeine wirtschaftliche Lage ist eben nicht gerade rosig, obwohl wir das Land erobert haben.“ Wir? Du hast das Land erobert? Was redet er da für Zeug? „Aber all diese misslichen Strömungen, Stockungen und Schwierigkeiten sind 얍 sicherlich nur vorübergehender Natur. Wir werden die Früchte unseres Sieges noch ernten, verlass Dich drauf!“ Himmelherrgott, meint er das ernst oder nicht?! Es wird mir allmählich zu dumm. „Das wundert mich, dass Du so redest“, sage ich. „Warum, wieso?“ „Früher hast Du doch immer behauptet, jeder Sieg ist zuguterletzt eine Niederlage und es würd nur eine Macht profitieren, ob Sieg oder Niederlage, nur eine Macht, nämlich die Rüstungsindustrie“ – „Unsinn!“ unterbricht er mich barsch. „Für uns ist das kein Problem mehr, darüber sind wir gottlob hinaus! Seit dem 1. Januar steht doch unsere Rüstungsindustrie unter staatlicher Kontrolle, gewissermassen ist sie sogar eigentlich bereits verstaatlicht und drum liegen natürlich heutzutag die Dinge diametral anders im Raum! Heutzutag profitiert die Allgemeinheit von jedem Sieg, wir alle, ich, Du, das ganze Volk – – 얍 was glotzt Du mich denn so geistreich an?“ Ich glotze ihn dumm an, weil ich plötzlich denken muss: wieso Du und wieso ich? Ich gab doch meinen Arm und Du hast ein kleineres Zimmer – Nein, ich will nicht weiterdenken! Denken tut weh – Aber es hilft mir nichts, es kommt eine Frage und setzt sich an meinen Tisch. Sie lässt mich nicht aus den Augen, während mein Vater dahinredet wie ein reissender Fluss. „Tröst Dich nur, es wird schon werden, Sorgen hat ein jeder, ob reich, ob arm“ – so rauscht der Fluss an mir vorüber und die Frage lächelt undurchsichtig. Sie lehnt sich zurück wie ein höhnischer Lehrer in der Schule: „Nun, mein Kind, so antworte doch! Was heisst das eigentlich: die Allgemeinheit?“ Es wird mir einen Augenblick schwarz vor meinem Hirn, und ich hör meinen Vater aus der Ferne: „Es ist zwar richtig, dass Du nichts gelernt hast, keinen richtigen zivilen Beruf, das ist allerdings arg, denn heut wärst Du zum Lehrling schon zu alt und als ungelernter Arbeiter 얍 kannst auch nicht unterkommen, dazu fehlt Dir ja die Vollkraft Deines Armes – aber hunderttausend anderen gehts akkurat ebenso, Du bist

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nicht der einzige, merk Dir das! Du bist eben leider ein Kriegskind, die haben alle nichts ordentliches gelernt, immer nur alles versäumt, entweder warens zu früh dran oder zu spät – doch halt-halt! Mir fällt grad etwas ein und das dürft einen Ausweg aus dem Labyrinth bedeuten, hör her, Dein Vater ist nicht der Dümmste! Ich denk nämlich, Du müsstest eine kleine Protektion haben“ – „Protektion?“ „Ja, vielleicht hilft Dir der liebe Gott, und Du kennst jemand, der Dich protegieren könnt – kennst Du denn niemand persönlich?“ „Nein.“ „Keinen Offizier oder dergleichen?“ „Nein, das heisst: ich kenne jemand, aber das ist kein Offizier, sondern eine Frau, die Witwe meines Hauptmanns“ – „Du kennst sie?“ „Ja, ich hab ihr mal einen Dienst erwiesen.“ „Wunderbar! Die wird Dir helfen, die muss Dir 얍 helfen! Pass auf, mein Kind: alles im Leben erreicht man nur durch die Weiber“ – – – So kam es, dass ich wieder zur Witwe meines Hauptmanns hinausfuhr. Sie erschrak sehr, als sie mir die Türe öffnete, aber sie beruhigte sich sogleich, als sie hörte, warum ich kam. Und sie versprach es mir, mich zu protegieren, sie kenne nämlich den Bruder eines Ministerialrates, vielleicht dass mir der eine staatliche Hilfsdienerstelle verschaffen könnte – und während sie mir dies versprach, beobachtete ich sie heimlich und wunderte mich sehr, wie sie mir jemals hatte gefallen können. Denn sie lebte in meiner Erinnerung um zwanzig Jahre jünger. Oder schien es mir nur so?

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DAS DENKENDE TIER Nun wohne ich bei meinem Vater. Er geht gegen Mittag weg und kommt erst nach Mitternacht heim. Sein Zimmer ist wirklich arm. Ein Schrank, ein Tisch, ein Bett, zwei Stühle und ein schiefes Sofa – das ist alles. Das Sofa ist übrigens obendrein zu kurz für mich. Dafür hab ich den halben Tag Musik. Nebenan wohnt nämlich eine stellungslose Verkäuferin mit einem heiseren Grammophon. Sie hat nur drei Platten, lauter Tanz. Also immer dasselbe, aber das stört mich nicht, was lustiges hört man immer gern. Ich lese ein Buch über Tibet, das geheimnisvolle Reich des Dalai-Lama am höchsten Punkte der Welt. Mein Vater hats von einem Stammgast 얍 bekommen, der Stammgast konnte nämlich plötzlich seine Zeche nicht mehr bezahlen, weil er wegen einer geringfügigen Unterschlagung seinen Posten verloren hatte. Ein kleines Menu ist das Buch wert. Aber ohne Kompott. Die Verkäuferin ist nicht hübsch. Sie wird also schwer eine Stellung bekommen. Wenn sie nicht verhungern will, wird sie sich wohl verkaufen müssen. Viel wird sie ja nicht bekommen – Eigentlich ist sie zu dürr. Zumindest für meinen Geschmack. Ich lieb nämlich nur das Gesunde.

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In den Zeitungen steht zwar, wir hätten keine Arbeitslosen mehr, doch das ist alles Schwindel. Denn in den Zeitungen stehen nur die unterstützten Arbeitslosen – da aber einer nach kurzer Zeit nicht mehr unterstützt wird, kann er also auch nicht mehr als Arbeitsloser in den Zeitungen stehen. Auch wenn er sich umbringt, um nicht zu verhungern, kann er nicht drinstehen, denn darüber zu berichten ist strengstens verboten. Nur wenn einer etwas stiehlt, das darf drinstehen und zwar in der Rubrik: Aus dem Rechtsleben. Es gibt keine Gerechtigkeit, das hab ich jetzt schon heraus. 얍 Daran können auch unsere Führer nichts ändern, selbst wenn sie auf aussenpolitischem Gebiet noch so genial operieren. Der Mensch ist eben nur ein Tier und auch die Führer sind nur Tiere, wenn auch mit Spezialbegabungen. Warum bin ich nicht so begabt? Warum bin ich kein Führer? Wer bestimmt da mit einem Menschen? Wer sagt zu dem einen: Du wirst ein Führer. Zum anderen: Du wirst ein Untermensch. Zum dritten: Du wirst eine dürre stellungslose Verkäuferin. Zum vierten: Du wirst ein Kellner. Zum fünften: Du wirst ein Schweinskopf. Zum sechsten: Du wirst die Witwe eines Hauptmanns. Zum siebten: gib mir Deinen Arm – Wer ist das, der da zu befehlen hat?! Das kann kein lieber Gott sein, denn die Verteilung ist zu gemein. Wenn ich der liebe Gott wär, würd ich alle Menschen gleich machen. Einen wie den anderen – gleiche Rechte, gleiche Pflichten! Aber so ist die Welt ein Saustall. 얍 Meine dicke Schwester im Krankenhaus sagte zwar immer: Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor – Heut tuts mir leid, dass ich ihr nie geantwortet hab: Und mit mir? Was hat er denn mit mir vor, Dein lieber Gott? Was hab ich denn verbrochen, dass er mir immer wieder die Zukunft nimmt? Was will er denn von mir? Was hab ich ihm denn getan?! Nichts, radikal nichts! Ich hab ihn immer in Ruhe gelassen – – Das Grammophon spielt, ich lese im Buch über Tibet von dem salzigen See Tschargut-tso, aber meine Gedanken sind weiter weg. Ich hab nämlich keine Angst mehr vor dem Denken, seit mir nichts anderes übrig blieb. Und ich freu mich über meine Gedanken, selbst wenn sie Wüsten entdecken. Denn ich bleib durch das Denken nicht mehr allein, weil ich mehr zu mir selber komm. Dabei find ich meistens nur Dreck. Die Uniform darf ich noch immer tragen, ich 얍 hätt ja auch keinen anderen Anzug und das Jahr in der Kaserne war mein goldenes Zeitalter. Vielleicht hätt ich jenem Bettler meine fünf Taler geben sollen, vielleicht wär dann heut mein Arm wieder ganz – nein, das ist ein zu dummer Gedanke! Weg damit! Mein Vater sagte: wir haben gesiegt – jawohl: wir. Als wär er auch dabei gewesen und einst hat er doch den Krieg verflucht, seinen Weltkrieg, weil er dabei gewesen ist. Aber mein Krieg, der versetzt ihn in einen Taumel der Begeisterung – Ja, er ist und bleibt ein verlogener Mensch. Ich bin ihm nicht bös, wenn ich mir dieses Zimmer überleg.

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Wer arm ist, darf sich was vorlügen – das ist sein Recht. Vielleicht sein einziges Recht. Ich trete ans Fenster und schau hinaus. Drunten auf der Strasse gehen zwei Kinder. Mit kleinen steifen Schritten – so bist Du auch mal gegangen. Ein Radfahrer fährt vorbei. Dann kommt eine alte Frau und ein Mann mit einem Rucksack. 얍 Ein Herr mit einer Zigarre und ein Lastauto – Das alles gehört zu Deinem Volk. Schau Dirs an, Dein Vaterland – das ist Dein alles. Das hat Dein alles zu sein. Du hast es beschützt – jetzt bist Du ein Krüppel. Ich stutze. „Beschützt“? Wer hats denn eigentlich bedroht? Jenes kleine Land? Lächerlich! Der Radfahrer sah das Lastauto, er begann zu wackeln und stieg vorsichtshalber ab, denn die Gasse ist eng. Auch mein Vaterland beginnt zu wackeln. Immer grösser werden die Lastautos – Die Rüstungsindustrie ist verstaatlicht, sagt mein Vater. Also verdient der Staat. Und der Staat ist das Volk. Warum verdien ich also nichts? Gehör ich denn nicht zu meinem Volk? 얍 Ich hab doch nur verloren – Warte nur, bald gibts nichts zum Lachen! Wie kalt das Licht wird, wenn man denkt – Mein Herz beginnt zu frieren. In der Zeitung steht, wir kriegen Schnee. Heuer kommt der Winter rasch. Wir heizen bereits, mein Vater und ich. Ihm kanns nicht heiss genug sein und ich schlaf schlecht, wenn das Fenster nicht offen ist. Das ergibt häufig Wortwechsel. Ich wohne ja bereits seit Wochen bei ihm und ich hab das deutliche Gefühl, dass er aufatmen würde, wenn ich endlich verschwunden wär. Er sagt jedoch nichts dergleichen, nur ab und zu schiesst er mit vergifteten Pfeilen. Besonders, wenn ich mich mit seinen Klingen rasier. Aber was bleibt mir denn übrig? Ich hab ja keine eigenen Klingen! Soll ich mir einen Vollbart wachsen lassen? Nein, nie! Niemals! Ich will glattrasiert leben, ganz glatt. Lieber rauch ich nichts! Ich schau nicht mehr hinaus, sondern leg mich 얍 aufs Sofa, aber das Buch über Tibet lass ich auf dem Tisch. Die Erforschung der weissen Flecke auf der Landkarte – nein, mich interessieren heut andere Gebiete!

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Wie gern würd ich auf alle Expeditionen verzichten, wenn mir die Post nur endlich ein kleines Brieflein bringen würde – Nur ein paar Zeilen müssten es sein. „Sie werden hiermit aufgefordert, sich am nächsten Donnerstag zwischen 10 und 11 unter Vorweisung Ihrer Militär- und Zivildokumente zwecks Einstellung als Hilfsdiener einzufinden“ – unleserliche Unterschrift. Und die unleserliche Unterschrift würde meine Dokumente prüfen und würde dann sagen: „Sie haben Glück, denn Sie haben die höchste Protektion! Sie sind also hiermit ein staatlich angestellter Hilfsdiener mit Pensionsberechtigung – man gratuliert!“ Der Dienst wär ausgesprochen leicht. Dreimal täglich muss ich zur Post, Briefe holen und befördern. Das ist eigentlich alles. Ich wohne nun nicht mehr bei meinem Vater, 얍 sondern bewohne ein eigenes Zimmer, direkt im Amtsgebäude. Es ist gross und hell und geht auf einen vornehmen Park hinaus, in dem sich der Efeu um die alten Bäume rankt. Die Uniform hängt im Schrank, ich hab mir einen blauen Anzug auf Raten gekauft, denn das kann ich mir nun leicht leisten, es ist ja nimmer so wie früher – Das Grammophon spielt noch immer. Wann wirst Du Dich verkaufen, liebliche Nachbarin? Von mir kriegst nichts. Schad, dass jetzt meine dicke Schwester nicht da ist, der würd ich gar manches erzählen! „Warum pflegst Du kranke Menschen?“ würd ich sie fragen. „Es gibt doch Gesunde mehr als genug, bet lieber für die, damit sie sich nicht verkaufen müssen, und lass die Kranken krank sein!“ Was würde sie antworten? Ich weiss es schon. Sie würde sagen: „Liebe Deine Feinde, aber hasse den Irrtum“ – Was ist Irrtum? Ich mag es nicht, dieses Wort! Weil man sich nicht auskennt damit und weil er dann immer wieder vor mir steht, 얍 mein Hauptmann! „Was gibts denn?“ fragt er mich. „Melde gehorsamst nichts.“ Ich dreh mich um – Nein-nein, denk nur weiter, sei nicht feig! Es ist ja so kalt geworden, dass Du nichts mehr spüren kannst – keinen Stich, keinen Hieb. Los-los! Was regt Dich denn auf? Was lässt Dir denn keine Ruh? Ich hör es wieder, wie sichs mir nähert – Hatte er recht, frage ich mich, dass er sich vor seinem Vaterlande ekelte? Ja oder nein? Gewiss, er war ein Schuft – aber hatte er recht? Kann ein Schuft recht haben? Als wir zum Beispiel seinerzeit zusahen, wie unsere Flieger das feindliche Lazarett mit Bomben belegten und die herumhüpfenden Insassen mit Maschinengeweh-

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ren bestrichen, da drehte sich unser Hauptmann plötzlich um und ging hinter unserer Reihe langsam hin und her. Er sah konstant zur Erde, wie in tiefe Gedanken versunken. Nur ab und zu hielt er und blickte in den stillen Wald. Dann nickte er mit dem 얍 Kopf, als würde er sagen: „Jaja“ – Oder zum Beispiel, als wir damals in der Siedlung beschlagnahmten, da stellte er sich uns in den Weg. Er wurde ganz weiss und schrie uns an, ein ehrlicher Soldat plündert nicht! Er musste erst durch unseren Leutnant, diesen jungen Hund, aufgeklärt werden, dass die Plünderung nicht nur erlaubt, sondern sogar anbefohlen worden war. Höheren Ortes. Da ging er wieder von uns, der Hauptmann. Er ging die Strasse entlang und sah weder rechts noch links. Am Ende der Strasse hielt er an. Ich beobachtete ihn genau. Er setzte sich auf einen Stein und schrieb mit seinem Säbel in den Sand. Merkwürdigerweise musste ich plötzlich an das verwunschene Schloss denken und an das Fräulein an der Kasse, das die Linien zeichnete – Sie wollte mich nicht sehen. Ja richtig, das verwunschene Schloss – das gibts ja auch noch! Komisch, dass ich jetzt solang nicht daran dachte – 얍 Natürlich, die Fenster sind vergittert und die Drachen und Teufel, sie schauen heraus. Fast hätt ichs vergessen. Und ich wollt doch immer wieder hin – Wie ist denn das nur gewesen? Stimmt, ich kaufte mir zwei Portionen Eis. Der Mond schien, die Luft war lau und die Katzen konzertierten. Aber ich mag kein Eis und vielleicht ist sie nur eine Sitzschönheit, ich kenn ja nur das von ihr, was über die Kasse herausschaute. Vielleicht hat sie krumme Beine – Nein-nein, das ist nicht möglich! Erinner Dich nur! Sie zeichnete ihre Linien und einen Augenblick lang war Dir doch alles so fern, die ganze Welt, und Du dachtest, das Herz bleibt stehen. Es rührte sich kein Blatt, nur aus dem verwunschenen Schlosse tönte leise die alte Musik. Wolltest Du ihr denn nicht schreiben? Ach jaja – „Wertes Fräulein“, wollte ich schreiben, „ge-얍stern war Donnerstag und heut ist schon Freitag. Wann ich wiederkommen werd, das weiss ich noch nicht, aber Sie werden immer meine Linie bleiben“ – Ich muss lächeln. Morgen geh ich mal hin.

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

Lesetext

IM REICHE DES LILIPUTANERS

In der Nacht hat es geschneit und jetzt ist alles weiss. Ich geh zu meinem verwunschenen Schloss. Die Stadt ist stiller geworden durch den Schnee, man hört seine eigenen Schritte nicht. Und wie ich so dahingeh, bemerk ich es wieder, dass ich mich spiegle. In den vornehmen Auslagen. Jetzt geh ich durch einen Schinken. Jetzt durch Bücher und dann durch Perlen, Puderquasten – Einst wollt ich das alles zertreten, zertrampeln – wie dumm! Heut möcht ich den Schinken fressen, die Bü-얍cher lesen und die Perlen und Puderquasten, die möcht ich jemand schenken – Aber wem? Vielleicht dem Fräulein an der Kasse – vielleicht kommt es noch dazu. Werden sehen! Eigentlich bist Du sehr allein – Werden sehen, werden sehen! Ich geh zum Hafen hinab. Die breite Allee wird immer breiter und lauter. Ja, hier ist immer Betrieb, Sommer und Winter. Die schwarzen und gelben Matrosen, sie weichen mir aus, denn ich hab noch die Uniform an. Mit meinen drei silbernen Sternen – Wenn diese Exoten wüssten, dass ich nichts mehr bin! Rechts und links beginnen die Sehenswürdigkeiten – die grossen und die kleinen Affen, sie frieren im Chor. Schiessbuden und Spielautomaten, das Schaf mit den fünf Füssen und das Kalb mit den zwei Köpfen – nichts ist geschlossen, trotz der eisigen Luft, die über das Meer gekommen war. Es ist alles noch da. 얍 Auf der Achterbahn quietschen die Leut und aus dem Hippodrom treten zwei Weiber, eine Grössere und eine Kleinere. Sie sind geritten und richten sich noch immer die Röcke. Ja, die könnten mir beide gefallen, aber sie haben schon einen Kavalier. Ein kleines Männchen, eine elende Ratte. Es hat sich nichts verändert. Es ist alles beim alten geblieben, nur dass inzwischen Schnee gefallen ist. Auch jene Ratte ist mein Volksgenosse und auch für diesen Mist gab ich meinen Arm – Ich muss grinsen, denn heut weiss ichs, dass, wenn ich was zu sagen hätte, dass ich dann dieser Ratte meinen Arm um den Schädel schlagen würde. Bis sie verreckt. Rascher wandle ich die Buden entlang, denn mein verwunschenes Schloss kommt ja erst ganz am Schluss. Rechts gibts den Mann mit dem Löwenkopf und links die Dame mit dem Bart. Und dort – richtig, dort steht er noch immer, mein Eismann! Dort kauft ich mir einst die bei-얍den Portionen, obwohl ich kein Eis mag. Aber heut ist es Winter geworden und er verkauft kein Eis mehr, sondern gebrannte Mandeln.

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

Ich würd mir auch keine gebrannten Mandeln kaufen, obwohl ich die sehr gern hab – nein, heut geh ich direkt auf sie zu! Pass nur auf, jetzt komme ich! Doch – was ist denn das?! Ich stocke – Ich halte an. Als wär plötzlich eine Wand vor mir – Was ist los?! Was heisst das?! Mein verwunschenes Schloss – es ist ja nimmer da! Es ist verschwunden – weg, ganz weg! Wo ist es denn hin?! Hier steht ja jetzt etwas ganz anderes, eine Autohalle oder irgendsowas dergleichen – Und meine Linie – meine schöne Linie? An der Kasse sitzt ein anderes Fräulein. Ich schau noch immer hin. Und einen Augenblick lang wirds mir so weh 얍 um das Herz, als hätte ich etwas verloren, das ich niemals besessen hab. Der Schnee fällt immer stiller und es geht eine Sehnsucht durch meine Seele – Ja, es war mal ein Frühling, aber ich musste weg. Das Vaterland rief und nahm auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. Mit Recht? Der Wind weht, kalt und nass, die Katzen konzertieren nicht mehr und ich spür meinen kaputten Arm, er wird nimmer ganz – Wo ist mein Fräulein geblieben? Ich geh weiter und stolpere. Über was? Über nichts. Es ist ja nichts da. Aber nun lächelt das andere Fräulein, weil ich gestolpert bin. Sie hat es gesehen. Sie lächelt noch immer und schaut mich an. Schau mich nur an, Du gefällst mir nicht! Ich will weg, aber ich komme nicht weit. Nur über die Strasse. Dort steht mein Eismann und ich kauf mir gebrannte Mandeln. Sie sind sehr gut. Ich blicke auf die Autohalle, wo die Menschen in kleinen Autos herumfahren, 얍 immer im Kreise, immer einer allein, und ich frage den Eismann: „Hier stand doch einst das verwunschene Schloss, nicht?“ „Ja“, sagt er, „das war einmal.“ „Und warum gibts das jetzt nimmer?“ „Es hat sich nicht mehr rentiert.“ Achso – „Es war zu altmodisch“, höre ich den Eismann, „es passte nicht mehr in unsere Zeit.“ Ich horche auf. B

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B

dasN ]

N

korrigiert aus: dass

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

Lesetext

Wie sagte er? Nicht in die Zeit? Wo hab ich das nur schon mal gehört – Richtig, der Hauptmann! Der schrieb es in seinem Briefe! Dort las ichs ja zum erstenmal, schwarz auf weiss: ich passe nicht mehr in diese Zeit – Was soll das eigentlich heissen? Warum passt denn mein verwunschenes Schloss nicht mehr in unsere Zeit? Passt denn diese Autohalle besser hinein? Diese blöde Autohalle, wo ein jeder wie der andere für sich allein herumfährt und sich einbil-얍den darf, dass er in seinem eigenen Auto fahren kann, wohin er will – Derweil gehts immer im Kreis. Es ist zu dumm! Da waren doch meine Drachen und Teufel ganz andere Leut! Und erst das Skelett persönlich – ich erinner mich noch genau. Und die allgemeine Finsternis, in der man das Gruseln lernen sollte, wenn man immer wieder mit einem Fuss ins Nichts getreten ist – weissgott, das hat mir besser gefallen, obwohls natürlich auch nur eine Dummheit gewesen ist. Aber es war eine schönere Dummheit. Oder: pass ich denn auch nicht mehr in die Zeit? Unsinn! Ich bin da und kann nirgends heraus, ich lass mir da nichts dreinreden! Natürlich pass ich in meine Zeit, nur in diese jämmerlichen Autos pass ich nicht hinein! Ich mag nicht immer im Kreis herumfahren, ich bin ja nicht blöd! Genug gegrübelt – Schluss! Ich hau die gebrannten Mandeln auf die Erde, 얍 dass es nur so klatscht, und geh hinüber. Schnurgerade. Zur Autohalle. „Eine Eintrittskarte?“ fragt das Fräulein an der Kasse. „Nein“, sage ich, „ich möchte nur eine Auskunft haben.“ „Bitte?“ „Hier stand doch einst etwas anderes“ – „Jawohl“, fällt sie mir ins Wort, „das verwunschene Schloss, mein Herr.“ „Stimmt. Und damals sass doch hier ein Fräulein an der Kasse, ein anderes Fräulein, wie soll ich sie Ihnen nur beschreiben“ – „Ich weiss schon“, unterbricht sie mich wieder, „aber jenes Fräulein ist jetzt nicht mehr bei uns.“ „Sondern?“ „Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben, ich hab auch keine Ahnung. Doch bemühen Sie sich bitte ins Bureau, sehen Sie drüben die weisse Wand und die schwarze Tür – die werdens wahrscheinlich wissen, wo das Fräulein jetzt steckt.“ Ich bedanke mich und geh auf die weisse Wand zu. An der Türe steht: Nicht klopfen! 얍 Ich klopf also nicht, sondern trete gleich ein, aber eine schrille Stimme kreischt mich an: „Können Sie nicht klopfen?!“ Ich wollt schon grob erwidern, da seh ich, wer vor mir steht. Es ist ein Zwerg, ein Liliputaner.

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er hat ein verkniffenes boshaftes Gesicht. Kein Wunder, er ärgert sich halt immer, dass er so klein geblieben ist. Er scheint gerade auf und ab gegangen zu sein, der Liliputaner, und er hielt inne, da ich eintrat. Ich bemerke erst jetzt einen zweiten Menschen – der steht vor einem Pult und schreibt in dicken Büchern, eine Art Buchhalter oder so. Er betrachtet mich über seine Brille hinweg. Der Zwerg winkt ihm mit einer herrischen Geste, dreht mir ostentativ den Rücken und blättert wichtigtuerisch in Papieren. „Sie wünschen?“ erkundigt sich der Buchhalter. Ich frage nach dem Fräulein, aber ich komme nicht weit – Mit einem Ruck dreht sich der Zwerg um und sagt: „Ah“ – Er sagt das gedehnt und fixiert mich. Dann grinst er. Und auch der Buchhalter 얍 grinst. Was haben denn die Beiden? Was soll das? Der Zwerg mustert mich noch immer und meint dann ironisch: „Also Sie sind derjenige, welcher“ – Welcher? Wieso? „Sie mussten in den Krieg?“ fährt er mit seiner Fragerei fort. „Ja, das heisst: ich ging als Freiwilliger“ – Der Zwerg unterbricht mich mit einer Handbewegung, als wollte er sagen, lassen wir das, das kennen wir schon, wir sind unter uns – Er betrachtet mich wieder von oben bis unten und sagt dann zum Buchhalter: „Er ist es.“ Der Buchhalter kichert wie eine alte Jungfer. Mir wirds zu dumm. „Wer bin ich?“ frag ich fast drohend. „Sie sind ein Soldat, mein Herr“, antwortet der Liliputaner mit einer spöttischen Höflichkeit, „und das Fräulein, nach dem Sie sich erkundigen, das hatte sich nämlich in einen Herrn Soldaten verliebt, anscheinend gleich so auf den er-얍sten Blick, sie soll ihn kaum gekannt haben, wahrscheinlich nur so vom sehen aus – na und dann ist halt eines Tages jener Herr Soldat nicht mehr erschienen.“ Ich starre ihn an. „Sie hat geschrieben?“ „In einer Tour, aber er hat nicht geantwortet. Nicht eine Zeile, mein Herr“ – Der Buchhalter kichert noch immer. Schadenfroh, sehr schadenfroh. „In einem Krieg gehen eben oft viele Briefe verloren“, meint der Zwerg und lacht kurz. Mir wirds ganz wirr im Kopf. Sie hat mir geschrieben? Gleich auf den ersten Blick? Woher wusste sie denn meinen Namen, wer ich bin und dergleichen – Wahrscheinlich nur so vom sehen aus? Ausgeschlossen! Ausgeschlossen – Und ich sage: „Meine Herren, hier scheint eine Verwechslung vorzuliegen“ – „Kaum!“ fällt mir der Zwerg ins Wort. „Aber das ist doch unmöglich“ – „Es ist alles möglich!“

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K3/TS18 (Korrekturschicht)



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„Nein, das kann ich nicht glauben, das kann nicht sein!“ „Moment, mein Herr!“ unterbricht mich wieder der Zwerg. „Wir sind hier kein Auskunftsbureau und haben zu arbeiten. Bitte, überzeugen Sie sich selbst, der Herr Buchhalter wird Ihnen die Adresse der Dame geben“ – Er verbeugt sich knapp und geht durch eine Tapetentür. Ich schau ihm nach und der Buchhalter blättert in einer Kartothek. „Wer war denn dieser kleine Herr?“ frage ich automatisch. „Der Direktor unserer Liliputanertruppe.“ Aha. Ich warte auf die Adresse. Und auf ihren Namen. Wie wird sie wohl heissen? Eulalia? Ich muss grinsen. Nein, das kann ich wirklich nicht glauben, dass ich es bin, dem sie geschrieben hat – sie wird einem anderen Soldaten geschrieben haben, aber ich werde der Sache mal nachgehen, obwohls 얍 doch nur eine einfache Verwechslung sein kann. Mir wars ja schon im Frühjahr klar, dass sie bereits einen haben musste, irgendeinen Budenkönig. Ich dachte an einen Seiltänzer, Messerschlucker, dummen August – aber ein Soldat, das fiel mir nicht ein. Eher noch ein Liliputaner – sofern er nämlich nach Geld stinkt. Doch jetzt will ich, wie gesagt, der Sache nachgehen, denn wenn ich mich nicht verwechsle, dann wärs allerdings ein Traum. Der Buchhalter blättert noch immer und ich schau mich in seinem Bureau um. An den Wänden hängen Plakate, Zirkus und so. Eine Dompteuse, zum Beispiel. Mit bengalischen Königstigern. Ein Balance-Akt und ein Magier. Ein brauner und ein weisser Bär. Und die dickste Dame der Welt. Nein, die wär nichts für meinen Arm – „Hier“, höre ich plötzlich den Buchhalter, „jetzt haben wir sie endlich, diese verflixte Adresse – einen Augenblick, ich schreib sie Ihnen nur auf!“ „Danke vielmals“ – 얍 „Keine Ursache!“ Er nimmt seine Brille ab, setzt sich eine schärfere auf, und während er die Adresse meines Fräuleins auf einen Zettel schreibt, meint er so nebenbei: „Das war ein braves Fräulein, ein freundliches. Sie tat mir sehr leid“ – „Warum?“ Er lächelt sonderbar. „Sie wurde eben krank und da hat man sie entlassen.“ „Krank?!“ „Jaja, ziemlich“ – er kichert wieder und es wird mir unangenehm. „Was hat ihr denn gefehlt?“ „Mein Gott“, sagt er, „nichts besonderes“ – Jetzt hat er meinen Zettel fertig, er erhebt sich, nimmt die Brille ab und wendet sich mir zu – Er stockt und glotzt mich mit seinen wässerigen Augen entsetzt an. Oder ist er nur kurzsichtig?

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

Lesetext

Nein, er hat Angst. Warum? Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Langsam reicht er mir den Zettel, fast zögernd, 얍 als fürchte er sich, mir den Zettel zu geben – „Hier“, sagt er und seine Stimme klingt plötzlich anders, hohl wie aus einer Gruft. Ich nehm ihm den Zettel ab und lese das erste Wort: Anna –

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ANNA, DIE SOLDATENBRAUT

Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor, sagte meine dicke Schwester und ich glaube allmählich, sie hatte recht. Denn ich trag keine Schuld an dem, was vor einer Stund geschah, es musste so sein. Wenn ichs mir jetzt überlege, wieso es dazu gekommen ist, dann flimmert der Schnee vor meinen Augen, als hätt ich noch Fieber. Es steht ein Engel in der Nacht und hält meinen Arm in seiner Hand, meinen armen Knochen, den ich diesem Vaterland gab, das seine Ehre verlor und zwar für immer – Ja, der Hauptmann hatte recht! Jetzt ekelts auch mich vor meinem Vaterland. – Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht, als ich langsam über den leeren Platz ging, 얍 quer hinüber zur Stadt Paris. Als ich eintrat, atmete mein Vater sichtbar auf. „Menschenskind, wo warst denn solang?!“ erkundigte er sich überstürzt. „Ich hab schon die grössten Sorgen gehabt, ob Dir nicht vielleicht etwas zugestossen ist, es werden ja täglich mehr Leut überfahren!“ Ich beruhigte ihn – zufällig hätte ich einen Freund getroffen und dieser Freund, der hätt mich ins Kino eingeladen und hinterher auf ein Glas Bier. Das war natürlich gelogen, aber mein Vater glaubte es mir. „Hoffentlich hast Du schon gegessen“, sagte er, „denn jetzt ist die Küche schon zu“ – „Ich hab keinen Appetit.“ Er sah mich forschend an. „Du bist doch nicht krank? Pass nur auf mit Deiner Verletzung, die ist noch lang nicht in Ordnung – hast Du nicht Fieber?“ „Nein.“ „Trau Dir nur nicht allzuviel zu! Wart, ich will 얍 sehn, ob ich nicht doch noch was Essbares auftreib, was kaltes – essen muss der Mensch, sonst geht er vor die Hunde!“ Er verschwand hinter dem Schanktisch, ich zog mir den Mantel aus und setzte mich, wo ich immer sass, gleich neben die Tür. Es waren nur noch wenig Gäste da, Chauffeure vom nahen Standplatz. Sie würfelten wie immer. Hier hast Du nun viele Wochen gegessen, denke ich, Mittag und Abend, wenn auch zu ermässigten Preisen, aber auf Kosten Deines Vaters.

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Er ist ein braver, verlogener Mann. Es wär wirklich arg, wenn ich ihm etwas antun würde. Denn ich werd vielleicht nimmer lang auf seine Kosten essen können, vielleicht heute nacht zum letztenmal – Vielleicht kommt sie schon morgen früh, die Polizei, und holt mich ab. Unsinn! Woher soll denn das die Polizei wissen? Wer hats denn gesehen? Kein Mensch. Aber die Kriminaler sind raffiniert, ich kann mich noch gut erinnern. Es stehen 얍 ihnen alle Apparate und Hilfsmittel zur Verfügung, sie bringen ja das Unglaublichste an den Tag, früher oder später – und vielleicht hats doch wer gesehen, jemand, an den man garnicht denkt, wär ja auch möglich, dass mich einer genau beobachtet hätt, eine Uniform fällt immer auf, besonders eine mit drei Sternen, mit drei silbernen Sternen – Mein Vater bringt mir Käse und Brot. Und ein Glas Wein von dem Extratropfen. Ich schau ihn überrascht an. „Wein?“ „Ausnahmsweise!“ lächelt er. „Weil ich mich freu, dass Du nicht überfahren worden bist, aber dann auch, damit Du Dich tröstest – erschrick nur nicht! Du hast nämlich heut abend einen Brief bekommen, meine Wirtin ist so lieb gewesen und hat ihn mir extra hergebracht, sie hat nämlich gleich richtig gedacht, dass es etwas wichtiges sein muss, weil ich doch niemand kenne, der mir schreiben sollte, und es ist auch etwas wichtiges, doch leider etwas trauriges“ – „So red doch schon!“ 얍 „Nanana, nur nicht gar so ungeduldig! Ich red ja schon! Also, dieser Brief stammt von Deiner Hauptmannswitwe, sie schreibt – da lies es übrigens selbst! Mit der Hilfsdienerstellung ist es Essig, nichts zu wollen, nichts zu machen“ – Ich lese den Brief und leg ihn dann weg. „In Ordnung“, sage ich und beginne den Käse zu essen. Mein Vater glotzt mich verwundert an. „In Ordnung, meinst Du? Das war doch der letzte Strohhalm, eine Katastrophe“ – „Es gibt ärgere Katastrophen.“ „Kaum, mein liebes Kind, kaum! Was wollen wir denn jetzt anfangen? Du kannst doch nicht bis in alle Ewigkeiten hier an diesem Katzentisch essen, ich persönlich hätt ja nichts dagegen – ich zahls ja gern, aber einmal wirds auch damit Schluss! Vergiss nicht, ich bin ein alter Mann, mich kann jeden Tag der Teufel holen, und Du, Du bist noch jung – Du musst etwas in Angriff nehmen!“ „Franz!“ ruft der eine Chauffeur. „Zahlen!“ 얍 Mein Vater geht. Ich esse ruhig meinen Käse und denke: ja, Du musst etwas in Angriff nehmen – Der Hilfsdiener – der ist vorbei. Der kommt mir ja fast schon komisch vor. In einem eigenen Zimmer zu wohnen, direkt im Amtsgebäude, mit Aussicht auf einen vornehmen Park, in dem sich der Efeu um die alten Bäume rankt – wie lächerlich! Ich hab mir einen blauen Anzug auf Raten gekauft und dreimal täglich muss ich zur Post – nein-nein, ich bin nicht zum Hilfsdiener geboren! Ich bin etwas anderes geworden. Die Hauptsache ist und bleibt: es kommt nicht auf. Dann wär wirklich alles in Ordnung.

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Lesetext

Denn ich hatte ja auch recht mit dem, was ich tat, jawohl: recht! Ich erinner mich noch genau, wie ekelhaft mir jener Buchhalter war, als ich ihn fragte: „Und was macht sie jetzt, das Fräulein Anna?“ Er zuckte nur die Schultern: „Das wissen die Götter!“ Auf die Götter reden sich alle hinaus, aber an den lieben Gott denkt keiner. 얍 Vor vier Stunden dachte ich noch: ausgeschlossen, dass Du es bist, dem sie ihre Briefe schrieb. Woher hätte sie es denn wissen können, wer ich gewesen bin? Sie hätt mir ja seinerzeit heimlich nachschleichen und hätt sich beim Posten in der Kaserne erkundigen müssen, um meinen Namen zu erfahren – nein, das ist ausgeschlossen! Als ich heut abend den Buchhalter verliess, dachte ich nur: jetzt weisst Du es wenigstens, wo sie wohnt. Sie wohnt sehr weit. Wenn Du zu Fuss gehst, brauchst Du gut anderthalb Stunden, aber Du sparst dabei das Trambahngeld, es dämmert zwar schon, doch die Nacht ist noch fern. Rasch ging ich die Buden entlang. Es gibt Millionen Annas auf der Welt, jede ist anders und keine ist die, die Du suchst. Blond oder braun oder schwarz – es wird auch rote Annas geben. Dicke und dünne, lange und kurze, ältere und jüngere. Wieviel Annas hast Du denn schon gehabt? Ich glaub, nur zwei, wenn mich nicht alles täuscht – 얍 Von einigen weiss ichs zwar nicht, wie sie geheissen haben, die kannt ich nämlich nur so für die Nacht. Wie gehts jetzt wohl Deinen beiden gewesenen Annas? Lasst mich in Ruh! Ob die noch leben, das ist mir egal, jetzt kümmert mich nur eine dritte Anna – Warum? Was hast Du denn an ihr gefressen? Vielleicht, weil ich einst um ihretwillen etwas tat, was ich eigentlich nicht tun wollte – Ich hab ja einst zwei Portionen Eis gefressen. Spöttel nicht! Man braucht sich noch lang nicht zu schämen, wenn man sich freut! Lieben ist keine Schand! – Rasch ging ich die Strassen entlang. Die Stadt wurd immer stiller. Wie kalt einem die Welt werden kann – Und plötzlich, da flog, ich weiss nicht woher, ein Gedanke in meine Seele hinein – und es wurd 얍 mir so licht und warm, dass ich unwillkürlich stehen blieb. Ich hatte so etwas schönes noch nie gesehen. Es war ein Lied, aber ich konnte die Worte nicht verstehen. Wer singt denn in meiner Nacht? Ist das mein Fräulein? Still, jetzt will sie mir etwas sagen – „Hör mich an“, sagt sie, „als ich Dich damals vor unserem verwunschenen Schlosse sah, dachte ich, Du würdest mich wiedererkennen“ – Wiedererkennen? „Erinner Dich, erinner Dich – Du und ich, wir waren uns ja schon bekannt“ – Schon bekannt?

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„Von früher her, von früher – und ich hoffte immer, Du würdest wieder zu mir kommen, aber Du hast Dir nur eine Eintrittskarte gekauft und hast Dein Fräulein nimmer gekannt“ – Wer bist Du? „Später, später – damals sagt ich natürlich kein Wort, sondern zeichnete nur meine Linien, denn jeder Mensch hat seinen Stolz“ – Seinen Stolz? 얍 „Kein Wort, kein Wort – geh nur zu, ich wart schon lange auf Dich“ – Du wartest? Ich schau mich um. Der Wind weht und der Schnee tanzt. „Komm nur, komm – Du hast nimmer weit. Siehst Du das gelbe Haus vor Dir? Dort wohne ich, dort wohne ich“ – – Ja, hier wohnst Du. Ich bin am Ziel. Auf dem Zettel steht im dritten Stock. Hinter welchem Fenster? Ich weiss es noch nicht – Im Haustor treff ich die Hausmeisterin. Sie scheuert den Boden. Ich grüsse und frage, ob hier das Fräulein wohnt. Sie glotzt mich an und sagt kein Wort. Auf einmal schreit sie: „Jesus Maria! Sie sinds?! Jetzt erkenn ich Sie erst wieder, ich dachte, Sie wären schon tot!“ Was? Ich?! Tot?! „Ich dachte, Sie wären im Krieg geblieben“, sagt sie und erhebt sich vom Boden. „Das arme Fräu-얍lein hat ja solang auf einen Brief von Ihnen gewartet“ – Ich starre sie an. „Sie kennen mich?“ Sie betrachtet mich langsam von oben bis unten. Dann lächelt sie hinterlistig: „Nein-nein, ich will nichts gesagt haben“ – „Wer bin ich denn?“ „Das wird der Herr wohl selber wissen. Auf alle Fäll ist es schön von Ihnen, dass Sie doch noch gekommen sind“ – Sie stockt im Satz und verstummt. Mir wirds immer wirrer im Kopf, unschlüssig blick ich ins Treppenhaus – und auf einmal kommts mir hier so bekannt vor, als hätt ich dieses Treppenhaus schon einmal geträumt. Richtig, hier kennst Du ja alles! Rechts gehen die Stufen empor und links um die Ecke wohnt diese Hausmeisterin und droben gibts einen dunklen Gang mit drei Türen in jedem Stock – Es wird mir unheimlich. Wo bin ich da? „Das Fräulein wohnt jetzt zwar nicht mehr hier“, höre ich die Stimme der Hausmeisterin, „sie ist 얍 schon vor einem halben Jahr ausgezogen.“ „Wohin?“ Sie lächelt wieder tückisch. „Gehens nur in den dritten Stock hinauf, die Frau, bei der sie gewohnt hat, die wirds Ihnen schon sagen, wo Sie sie besuchen können – das ärmste Fräulein wird ja eine Riesenfreud haben, wenn Sie wieder auftauchen unter den Lebendigen, besonders nach dem vielen Unglück, das sie hat erdulden müssen“ –

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

„Unglück?“ „Nun ja, einfach wars gerade nicht“ – „Was war nicht einfach?“ Sie schweigt und grinst. Ich lasse nicht locker. „So redens doch, ich hab ja keine Ahnung!“ Sie fixiert mich frech und beginnt zu lachen. „Natürlich-natürlich, die Herren der Schöpfung sind immer absolut unschuldig und haben keine Ahnung, als könntens nicht bis drei zählen, auch mein lieber Herr Mann“ – „Hören Sie“, unterbrech ich sie grob, „was schwätzen Sie da für dummes Zeug?!“ Sie zuckt die Schultern. „Denkens nur nach, junger Herr, Sie werdens schon erraten“ – 얍 „Ich kann nichts erraten!“ „Und ich sag kein Wort mehr, kein Sterbenswort – werd mich hüten! Mit der Sache will ich nichts zu tun haben! Gehens halt hin zu ihr selbst persönlich, sie wird Ihr Gedächtnis schon auffrischen ! Gute Nacht!“ Sie lässt mich stehen und wendet sich wieder ihrem Boden zu. Sie scheuert ihn verbissen. Ich schau ihr noch ein Weilchen zu, dann geh ich in den dritten Stock hinauf. Zu der Frau, von der mein Fräulein fortzog. Wohin denn nur? Diese Hausmeisterin ist eine bissige Bestie – Es gibt gottlob nicht nur solche, ich kenn auch sehr annehmbare. Überhaupt gibts zweierlei Menschen. Aber nur ein Fräulein – Es ist wahr, dieses Treppenhaus kommt mir wirklich bekannt vor. Warte nur, bald kennst Du Dich aus – Jetzt bin ich im dritten Stock. Ich läute an der zweiten Tür, wies auf dem Zettel steht. 얍 Eine Dame öffnet ängstlich und ich sehs auf den ersten Blick, dass sie nicht alt werden kann. Ihre Haare sind grau, aber schwarz wie Pech, und sie trägt einen grellen Bademantel – ein altes Stück. Misstrauisch mustert sie mich, ich merks ihr an, dass sie ihre Tür zuschlagen würde, wenn ich keine Uniform anhätte. Aber zur Uniform haben die Leute Vertrauen. „Sie wünschen?“ erkundigt sie sich. Sie lispelt stark. „Verzeihen Sie, dass ich noch so spät am Abend störe, ich möchte nämlich nur eine Auskunft haben“ – und ich sage es ihr, dass ich das Fräulein suche. Sie mustert mich immer misstrauischer. „Wen sucht der Herr?“ Ich verbeuge mich. „Verzeihen Sie, aber diese Hausmeisterin schickt mich zu Ihnen herauf, sie redet so wirres Zeug durcheinander, dass ichs schon selbst nicht mehr weiss, wer ich bin“ – B

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B

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korrigiert aus: BauffrisschenN

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„Darf man fragen“, fällt sie mir ins Wort, „in welchem Verhältnis der Herr zu dem Fräulein steht – ich meine: sind Sie mit ihr verwandt?“ Ich lächle verbindlich. „Die Frau Hausmeisterin meint, ich wär des Fräuleins Bräutigam“ – „Aber-aber!“ unterbricht sie mich entrüstet. „Diese unmögliche Person schwätzt wahrlich lauter ungereimtes Zeug, dabei verwechselt sie auch noch alle Leut, mir scheint, die Person ist nicht ganz normal – Sie, mein Herr, sind doch hier kein Bräutigam, der richtige Bräutigam war zwar auch ein Herr vom Militär, aber für diese idiotische Person da drunten ist Uniform eben Uniform und ausserdem kann sie ja auch den richtigen Bräutigam nur einmal gesehen haben, flüchtig, denn er war nur ein einzigesmal hier – achjaja, Glück währt nur kurze Zeit!“ So, denke ich, also Du bist nicht der, dem sie ihre Briefe schrieb – es war ein anderer Soldat. „Hm“, sag ich nur und eigentümlicherweise ists mir jetzt völlig gleichgültig, ob es ein anderer war oder ich – als wüsst ichs bereits, dass die Hauptsache erst kommt. „Sie waren auch im Krieg?“ fragt mich die Alte interessiert. 얍 „Ja, das heisst: als Freiwilliger“ – Jetzt macht sie eine Handbewegung wie zuvor der Liliputaner. Ja, das kennen wir schon, lassen wir das, wir sind unter uns – Dann fordert sie mich auf, in ihre Wohnung einzutreten, denn „man könne sich doch nicht mit einem Helden in einem kalten Treppenhaus unterhalten“. Sie führt mich in ihr Zimmer. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie in mein Schlafgemach führe, aber das ist der einzige Raum, den ich heize, obwohl wir ja allerhand erobert haben“ – Sie tut ironisch und ich tu nichts dagegen. Ja, wir haben gesiegt! „Ob wir allerdings die Früchte unserer Siege noch ernten werden“, parliert sie mit mir, „glaub ich kaum. Ich fürchte-fürchte, dass zumindest meine Wenigkeit jene prophezeiten Segnungen nicht mehr erleben wird, man ist ja schon steinalt“ – „Aber gnädige Frau!“ „Nanana!“ droht sie mir mit dem Zeigefinger. „Sie sind mir einer!“ 얍 „Ich sag nur die Wahrheit“, lüge ich. „Das ist sehr lobenswert, doch zumeist kein ungefährliches Unterfangen – Schauen Sie, das alles war einst ich!“ Sie deutet auf ihre vier Wände, die sind übersät mit Photographien. Ich erkenne verschwommen eine junge Frau in weissem Trikot. Das war einst mein Gegenüber? Sie nimmt ein Bild von der Wand. „Ich und mein Bruder.“ Eine Artistin? Trapez und Ringe und Scheinwerfer – „Mein guter Bruder, er blieb im grossen Krieg. Jaja, wir zwei, wir waren mal eine grosse Nummer – gesucht, sehr gesucht! Ich bin damals noch ein Kind gewesen.“ Ein Kind? Also das ist übertrieben. Nein, mit einem solchen Busen warst Du sicher schon achtzehn. Und ich rechne rasch nach, wie alt dies Kind heutzutag sein muss. „Das waren noch Zeiten!“ seufzt sie. „Aber 얍 heutzutag? Was leisten schon diese neumodischen Artisten? Alles Bluff! Eine hübsche Larve, das genügt! – doch ich

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rede und rede da von mir und meinen privaten Interessensphären und wir kommen dabei ganz ab vom Zweck Ihres Besuches! Sie wollten sich doch nach dem armen Fräulein Anna erkundigen? Nun, verzeihen Sie meine Indiskretion, aber ich möchte es natürlich aus diversen Beweggründen heraus gerne wissen, warum, das heisst: wieso, mit welchem Recht Sie das interessiert? Sind Sie mit dem Fräulein verwandt?“ Ich? Was soll ich nur sagen? Irgendwie muss ich zu ihr gehören, sonst wär ich ja jetzt nicht da – aber verwandt? Nicht dass ichs wüsste – Ich möchte grinsen, aber das alte Kind beobachtet mich scharf, fast lauernd. Und ich sage ohne mit der Wimper zu zucken: „Ich bin ihr Bruder.“ „Ihr Bruder?!“ „Ja.“ „Nicht möglich!“ „Warum nicht?“ Sie gibt keine Antwort vor lauter Überraschung. 얍 Wir schweigen. „Also Sie sind der Bruder“, fängt sie endlich wieder an, „und Sie haben sich nicht um Ihre Schwester gekümmert“ – „Ich hatte keine Zeit.“ „Ausreden! Nichts als Ausreden! Für einen Menschen muss man immer Zeit haben – der Mensch kommt an erster Stelle und dann kommt erst alles andere!“ „Möglich“ – „Sicher! Wo kämen wir denn sonst hin?“ Ja, wohin? So frag ich mich und der Nebel wird immer gelber – Dick und schmutzig, so senkt er sich auf meine Seele. Es wächst ein Baum, ein toter Baum. Am Rande eines hohen Plateaus. Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser – Wir haben fünf Menschen gefangen, jetzt hängen wir sie an den Baum. Zuerst den Ältesten, dann den Jüngsten. 얍 Denn dem Alter gebührt der Vortritt. Wir säubern, wir säubern! Und der Hauptmann reisst einen Stern herunter, einen silbernen Stern – Hauptmann, Hauptmann, was schreibst Du nur in Deinem Brief? „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete“ – Komisch, ich weiss noch jedes Wort! Es ist mir geblieben. Und die Krähen, sie ziehen wieder vorbei und der Hauptmann, er ist von uns gegangen – Er sah weder rechts noch links. Jetzt sitzt er auf einem Stein und zeichnet mit seinem Säbel in den Sand. Er will mich nicht sehen. Was zeichnet er dort?

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Linien? Und wie ich mich so frage, wird der dicke Nebel dünn, der Schmutz weiss und auf einmal wirds mir klar: Immer, wenn es mir heimlich einfiel, jetzt geschieht etwas Niederträchtiges, dann 얍 fiel mir auch sie wieder ein, meine liebe Schwester, dann musst ich immer denken: eigentlich wollt ich zu Dir – „Wenn der Herr Bruder früher gekommen wären“, höre ich die Stimme meines Gegenübers, „dann wär vielleicht alles anders gekommen, dieses ganze Unglück.“ „Unglück?“ „Es tut mir sehr leid, dass ausgerechnet ich vom Schicksal dazu ausersehen wurde, es Ihnen mitzuteilen, aber mit dem Schicksal lässt sichs bekanntlich nicht streiten – kurz und gut: es ist eine böse Sache und ist dennoch mit paar Worten erzählt. Ihre arme Schwester hatte eine ganz hübsche Anstellung“ – „Im verwunschenen Schloss“ – „Jawohl, aber eines schönen Tages wurde sie abgebaut“ – „Wegen der Autohalle?“ „Autohalle? Aber nein! Sie wurde fristlos entlassen, weil sie etwas erwartete, etwas kleines – ein Kind.“ „Ein Kind?!“ 얍 „Ja, und unter solch gesegneten Umständen hätte sie ihren Dienst naturnotwendig nicht immer auf die Minute pünktlich versehen können, sie hätte vielleicht mal ab und zu einen halben Tag pausieren müssen und deswegen hat sie die Firma abgebaut. Die Firma hätte es zwar überhaupt nicht gespürt, wenn sie mal ein paar Groschen für eine Aushilfe draufgezahlt hätte, Sie müssen nämlich wissen, dass das eine sehr grosse Gesellschaft ist, den Leuten gehört dort fast die halbe Allee, jede grössere Sehenswürdigkeit, sie konnten sich eben in unseren fortwährenden Krisenzeiten alles zusammenkaufen – aber so sind nun mal diese Leute, die keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen nehmen, sie bauen und bauen ab, ob dabei einer unter die Räder kommt, was kümmert sies? Es gibt noch genug, meinen sie, genug, die sichs gefallen lassen – und obendrein war doch der Vater des Kindes sogar ein Soldat, ein tapferer Vaterlandsverteidiger, auch solch ein berühmter ‚Freiwilliger‘! Ihre arme Schwester, sie hat ihm in einer Tour 얍 geschrieben und nie eine Antwort erhalten – wieso denn auch? Eines Tages kamen alle ihre Briefe ungeöffnet zurück mit einem staatlichen Begleitschreiben: Adressat bei einer militärischen Übung tödlich verunglückt. Da war sie natürlich riesig verzweifelt, sie hatte ja nichts, kein Geld, keine Stellung – ja, und da hat sie sich eben leider zu einer Dummheit hinreissen lassen, zu einer unüberlegten Dummheit. Sie liess sich von irgendeiner obskuren Person das Kind wegnehmen, die Sache kam ans Licht und jetzt, jetzt sitzt sie.“ „Sitzt?“ „Stellen Sie sichs vor: zwei Jahre hat sie bekommen!“ „Zwei Jahre?!“ „Es ist schrecklich“ – Wir schweigen. Mir fällt der Liliputaner ein. Er ist der Direktor der Liliputanertruppe – Sicher ist er auch finanziell an der Firma beteiligt, sonst hätt er sich nicht so herrisch benommen. Er hat ein verkniffenes boshaftes Gesicht – kein Wunder, er ärgert

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sich halt immer, dass 얍 er so klein geblieben ist. Und seine Wut, die lässt er an den anderen aus. Er baut ab. Rücksichtslos. Man müsst ihm eins auf den Schädel geben – Einem Zwerg? Willst Du einen Krüppel schlagen? Warum nicht? „Vielleicht wär, wie gesagt, alles anders gekommen, wenn der Herr Bruder früher gekommen wär“, schwätzt die Alte weiter. „Ich sags ja immer, es wär vieles besser auf der Welt, wenn sich die Männer mehr um die Weiber kümmerten, anstatt dass sie sich nur um sich selber kümmern. Der liebe Gott hat Adam und Eva erschaffen und nicht Regimenter, Kompagnien und Divisionen“ – „Wo sitzt sie denn?“ frage ich. „Am anderen Ende der Welt, sonst hätt ich die Ärmste schon längst besucht, jeden dritten Monat hat sie nämlich einen Besuchstag – auf alle Fälle: schreiben Sie ihr doch gleich einen lieben Brief!“ „Ja, schreiben werde ich auch“ – Ich erhebe mich und sie begleitet mich aus dem Zimmer. 얍 „Da reden die Zeitungen in jeder Nummer vom Geburtenrückgang und Schutz des keimenden Lebens der ungeborenen Volksgenossen, vom drohenden Volkstod und dergleichen, aber ein armes Mädel wird auf die Strasse gesetzt, wenn sie Mutter zu werden droht – hier sollten unsere Führer mal eingreifen!“ Ich muss grinsen. „Greifen sie denn nicht ein?“ „Lieber Herr, wo leben Sie? Auf dem Mond?“ „Nein, nicht mehr“ – „Bei uns hier unten auf der Erde kann eine stellungslose Mutter mit Kind im günstigsten Falle eine kleine Rente bekommen, von der weder Mutter noch Kind leben können, vorausgesetzt dass sie nicht einen Menschen haben, bei dem sie essen und wohnen können – hören Sie das zum erstenmal, weil Sie mich so perplex betrachten?“ „Nein“, sage ich und sehe meinen Vater vor mir. Er hinkt. Und meine Rente. Die hinkt noch mehr. 얍 Wir stehen nun im Treppenhaus. „Unsere Führer“, sage ich langsam, „sind eben grosse Betrüger“ – „Pst!“ fällt sie mir erschrocken ins Wort und sieht sich ängstlich um. „Um Gotteswillen, nicht so laut! Und noch dazu in Uniform – geben Sie acht!“ „Ja.“ „Es hätt auch wenig Sinn“ – „Möglich.“ „Leben Sie wohl – und kümmern Sie sich lieber um Ihre Schwester!“ „Gute Nacht, gnädige Frau!“ Ich geh das Treppenhaus hinab – Stufe für Stufe. Ruhig, sehr ruhig. Man merkt mir nichts an. Aber drinnen in mir sitzt eine schreckliche Wut, ein entsetzlicher Hass – Jetzt möcht ich säubern! Säubern, dass die Fetzen fliegen!

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Jetzt möcht ich ein Flieger sein, ein schwerer Bomber, und über unseren Führern kreisen – Wenn sie alle beieinander hocken und das Land 얍 verteilen, das kleine Land, das auch ich Euch holte. Jenes lebensunfähige Gebilde, beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt – Ein lächerlicher Standpunkt – wie? Das glaub ich Euch gern! Sagt, ihr Führer tief unter mir, wer kriegt wohl jenes eroberte Land? Wer kriegt das Erz, das Fett, das Brot? Wer?! Ich seh nur ein Zuchthaus. Ihr redet immer von einer welthistorischen Sendung – Ihr habt keine welthistorische Sendung zu haben! Macht uns nicht blöd, wenn Ihr stehlen wollt! – Rasch geh ich durch die dunkle Nacht, wieder zum Hafen hinab. In das Reich des Liliputaners. Denn ich will seine Firma zur Rede stellen, warum sie ein Fräulein entlassen hat. Es geht mich zwar direkt nichts an, aber man kann doch nicht alles hinnehmen! Wer lässt sich alles bieten? 얍 Ein Schuft. Und ich bin kein Schuft, mein Herz ist ein schwarzes Meer. Unter einem wilden Himmel. Die Wolken, sie ziehen so zornig dahin – Gib acht, gib acht! Du hast noch die Uniform an und es kostet Dich den Kopf. Lass Dir nichts anmerken – Deck es zu, Dein Meer und Deinen Himmel! Verstell Dich, bis Du Dich beruhigt hast! Verstell Dich! – – Ich geh an der Autohalle vorbei, da rodeln die letzten Gäste im Kreis. Viel Vergnügen! Und dort ist die weisse Wand mit der schwarzen Tür. Sie ist schon zu. „Wann ist denn hier wieder jemand?“ frage ich einen Schaukelburschen. „Morgen um acht.“ Schön, dann werde ich morgen wiederkommen. – 얍 Langsam wander ich die Allee zurück, denn heut hab ich nichts mehr zu verlieren. Die meisten Buden sind schon zu. Die Messerschlucker und Feuerfresser, sie schlucken und fressen nicht mehr. Die Frau mit dem Bart, der Mann mit dem Löwenkopf und die dickste Dame der Welt, sie liegen schon in ihren Bettchen und träumen blauen Dunst. Nur ein kleiner Affe friert noch in der Nacht. Er möchte um die Wette zittern, aber es ist kein zweiter Affe da, mit dem er zittern könnte. Die Pferde im Hippodrom, sie stehen bereits im Stall, und auch die Schiessbuden schliessen schon.

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Jetzt werden die Tage immer kürzer. Links fällt ein Licht auf den Schnee. Aus einem Bierpalast. Der bleibt natürlich ewig offen – dort kauf ich mir jetzt ein Glas. Es wär schön, wenn man sich wiedermal einen richtigen Rausch leisten könnte, um wieder eine Zukunft zu spüren – Ich leg schon die Hand auf die Klinke, da halt ich im letzten Moment. Denn drinnen in diesem Bierpalast erblick ich einen alten Bekannten. 얍 Den Mann, der mir den Zettel gab – mit der Adresse meiner Schwester. Er ist es, der Buchhalter. Er verzehrt gerade einen Hering. Wie fein der frisst – oder scheints mir nur so, weil er kurzsichtig ist? Er wusste es natürlich, warum sie ihre Stellung verlor, er wusste es genau – Er hat doch auch gesagt: „Das Fräulein wurde krank.“ Und ich hab gefragt: „Was hat ihr gefehlt?“ Und er hat gesagt: „Nichts besonderes“ – Nichts besonderes? Na warte nur! Er frisst noch immer. Ich sehe, dass er Pulswärmer trägt, damit er nicht friert. Und ich muss plötzlich denken, Du sollst frieren. Und Du sollst auch keinen Hering fressen – Er wirft einen Blick auf die Glastür und zuckt etwas zusammen. Der Bissen fällt von seiner Gabel. Hat er mich erkannt? Er sah gleich wieder weg – 얍 Jawohl, er weiss es, wer ich bin – trotz seiner Kurzsichtigkeit. Jetzt lässt er den Hering stehen – Ist Dir der Appetit vergangen? Er steht auf von seinem Tisch, doch er bleibt noch im Bierpalast, obwohl er sich nichts mehr kauft. Er kommt und kommt nicht, nur ab und zu blickt er verstohlen nach der Glastür, ob ich noch vorhanden bin. Ja, ich bin noch draussen und geh nicht hinein. Ich warte, bis der Herr zu erscheinen geruht – Denn ich will Dich nun unter vier Augen fragen, warum Ihr das Fräulein entlassen habt. Unter vier Augen, denn es besteht die Möglichkeit, dass ich Dir eine herunterhau. Warte nur, Dich bring ich schon heraus! – Ich verlasse die Türe und geh paar Schritte nach rechts – jetzt wird er denken, ich bin fort. Ich drücke mich an die Wand. Die Tür geht auf, es erscheint aber nur ein Betrunkener. Er singt vor sich hin und torkelt der Heimat zu. Endlich kommt mein Mann. 얍 Misstrauisch bleibt er in der Türe stehen und sieht sich um – ja, Du weisst es genau, dass es eine Schweinerei gewesen ist – Er kann mich nicht sehen. Ich steh im Schatten einer Schaukel. Plötzlich geht er los – nach links. Ich geh ihm nach. Er biegt in eine Seitenstrasse – die kenn ich noch nicht. Es kommen zwei kleine Brücken, hier ist alles Kanal.

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Wir sind hinter den Häusern, lauter Magazine – Jetzt geht er an einem Zaun entlang. Geh nur zu, ich hol Dich schon! Es weht ein kalter Wind. „Herr Buchhalter!“ rufe ich. „Einen Moment!“ Er sieht sich um, erblickt mich und erschrickt – Er beginnt noch rascher zu werden. Nun bin ich schon dicht hinter ihm. „Sie gehen schnell“, sage ich, „aber ich kann auch schnell gehen“ – Mit zwei Schritten steh ich vor ihm und versperr ihm den Weg. Jetzt muss er halten. 얍 „Was wollen Sie denn von mir?“ fragt er und sieht sich nach einem Menschen um. Doch es kommt niemand mehr, es bleiben nur wir zwei. „Ich möcht Sie etwas fragen, was die Firma betrifft“ – „Kommen Sie morgen ins Bureau“, fällt er mir ins Wort und versucht krampfhaft sicher zu scheinen. „Morgen?“ grinse ich. „Wer weiss, ob ich morgen noch leb!“ „Das wollen wir doch nicht hoffen“, sagt er und lächelt ängstlich. „Hören Sie“, sage ich streng, „es dreht sich um das Fräulein aus dem verwunschenen Schloss. Sie sagten mir heut nachmittag, das Fräulein sei seinerzeit krank geworden“ – „Leider, leider“ – „Sie wussten es, was ihr gefehlt hat?“ Er starrt mich einen Augenblick an, dann fährt er sich mit der Hand über die Augen und blickt zum Himmel empor – suchst Du dort Hilfe? Such nur, jetzt gehörst Du mir! Plötzlich gibt er sich einen Ruck und erkundigt 얍 sich kleinlaut: „Verzeihen Sie – sind Sie tatsächlich der Herr Papa?“ „Nein.“ „Nein?“ fragt er gedehnt und mustert mich. Er wird frech. „Was geht denn dann Sie jenes Fräulein an?“ „Es geht mich was an und Schluss!“ „Lassen Sie mich weiter!“ „Noch nicht! Sie finden es also in Ordnung, dass jenes Fräulein entlassen wurde?“ „Ich weiss nicht, was Sie von mir wollen“ – „Antwort will ich haben!“ „Bitte-bitte! Da das Fräulein Anna ihren Dienst nicht mehr korrekt bewältigen konnte, mussten wir sie natürlich abbauen. Vergessen Sie doch nicht, wir sind eine grosse Firma und tragen also auch eine grosse Verantwortung“ – „Für wen?“ „Wir haben für rund 240 Personen zu sorgen, Angestellte, Artisten und dergleichen – in einem solchen Zusammenhang kann es niemand von uns verlangen, dass wir uns um jeden einzelnen kümmern“ – „Warum nicht?“ „Weil der einzelne keine Rolle mehr spielt.“ 얍 Ich starre ihn an.

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Keine Rolle? Das hab ich doch auch mal einst gesagt – Wie dumm, wie dumm! „Wir müssen rentabel bleiben“, redet er weiter, „auch der geschäftliche Konkurrenzkampf ist nur ein Krieg, mein Herr, und ein Krieg lässt sich bekanntlich mit Glacéhandschuhen nicht gewinnen, das sollten Sie eigentlich schon wissen“ – Mit Glacéhandschuhen? Das waren doch meine Worte – Als der Hauptmann schrie, ein Soldat sei kein Verbrecher. Der Buchhalter schaut mich einen Augenblick höhnisch an und kichert. Oder schiens mir nur so? Dann redet er weiter sein Zeug und ich höre mich, ich höre mich – All die hohlen Sprüche und Phrasen, unverschämt und überheblich, nachgeplappert, nachgebetet – Es wird mir übel vor mir selbst. Mich ekelts vor meinem Schatten der Vergangenheit – Ja, der Hauptmann hatte 얍 recht! Ich hasste das bequeme Leben und schwärmte für das unbequeme – Was war ich für ein Lügner! Jawohl, ein feiger Lügner – denn wie bequem ist es doch, seine Untaten mit dem Vaterland zu verhüllen, als wär das ein weisser Mantel der Unschuld! Als blieb eine Untat kein Verbrechen, ob im Dienste des Vaterlandes oder irgendeiner anderen Firma – Verbrechen bleibt Verbrechen und vor einem gerechten Richter zerfällt jede Firma zu nichts. Für das Gute und für das Böse, da hat sich nur der Einzelne zu verantworten und keinerlei Vaterland zwischen Himmel und Hölle. Was war doch mein heissgeliebtes unbequemes Dasein für ein verlogener bequemer Morast! Ich stand in Reih und Glied und es kam mir nicht darauf an, ob meine Schwester sitzt oder nicht. Pfui Teufel, was war ich für ein Vieh! Nein, ich war kein Mensch! Wenn ich mir heute begegnen würde, so wie ich damals gewesen bin, ich glaube, 얍 ich könnte mich selber erschlagen – Und dieses kurzsichtige Luder vor mir, jetzt sagt er sogar: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ – „Ruhe!“ unterbreche ich ihn schroff. „Wissen Sie denn, was mit dem Fräulein geschah?“ „Keine Ahnung!“ „Sie wurde eingesperrt.“ „Eingesperrt?! Warum?“ „Zuguterletzt weil sie ihre Stellung verloren hat“ – „Das tut mir leid.“ Leid? Er sagt es, aber es scheint ihm doch Spass zu machen, dass sie leiden muss, denn er schaut gar so zufrieden und gesichert drein – als hätt er mich ganz vergessen. Aber ich bin noch da und lasse Dich nicht aus den Augen. Jetzt zuckt er die Schultern.

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„Lieber Herr, es bleibt dabei: auf den einzelnen Menschen kommts leider nicht an“ – Er lächelt und ich muss denken: Du bist eine Kreatur, eine verlogene Kreatur – 얍 Mich wunderts, dass ich so ruhig bin. „Sie sind ein Hund“, sage ich. Er glotzt mich an, als hätt er falsch verstanden, aber dann braust er auf: „Erlauben Sie“ – „Ich erlaub Ihnen garnichts, denn Sie sind ein Hund, jawohl, ein blöder Hund, der nicht denkt, dass er eines schönen Tages genau so seine Stellung verlieren könnt wie jenes Fräulein, weil es ja auf den einzelnen ‚leider‘ nicht ankommt!“ Er mustert mich gehässig. „Junger Mann“, sagt er, „vergleichen Sie mich nicht mit irgendeiner erstbesten Angestellten. Ich bin der Oberbuchhalter und bereits seit sechsunddreissig Jahren bei derselben Firma“ – „Deshalb sind Sie auch nicht mehr!“ „Oho, junger Mann!“ Jetzt grinst er höhnisch. „Und ausserdem vergessen Sie, dass ich nicht in der Lage wär, in gesegnete Umstände zu geraten“ – Er kichert und es wird mir rot vor den Augen. Ich pack ihn an seinem Kragen und schlag ihm 얍 die Faust ins Gesicht – seine Brille fällt zu Boden. „Sie schlagen mich?!“ brüllt er. „Sie schlagen einen alten Mann?! Hilfe! Hilfe!“ Ich stürz mich auf ihn und halt ihm den Mund zu, er krallt sich in meinen Mantel und ich versetz ihm noch ein paar Hiebe – Er torkelt. Auf einmal erblick ich den Kanal. War denn der immer schon da? Er beisst mir in die Hand. Wart, Du Schuft! Weg mit Dir! In den Kanal, in den Kanal – Weg! – – – Ich schau mich nicht mehr um. Der Wind weht und der Schnee tanzt – ich ging in die Stadt Paris. Seine Brille, die hob ich auf und warf sie ihm nach. Damit er den Schlamm besser sieht. Jetzt wird ers ja schon gesehen haben, ob ein einzelner keine Rolle spielt. Es geht mir ganz gut. Denn jeder, der da sagt, auf den einzelnen kommt es nicht an, der gehört weg. 얍

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DER SCHNEEMANN Zwei Tage sind vorbei und heut bin ich wieder der Alte. Gestern und vorgestern war ich nämlich schon sehr unruhig vor lauter Unsicherheit, ob es nämlich aufkommt oder nicht, dass ich es gewesen bin. Ich fing sogar schon wieder an mit dem lieben Gott zu reden.

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Man muss ihm etwas geben, erinnerte ich mich dunkel, irgendetwas, und wärs das kleinste, er ist für alles dankbar – Als wär er ein Bettler. Schenk ihm etwas – Schenk dem ersten Bettler, der Dir begegnet, schenk ihm fünf Taler – Doch halt! Du hast ja nur noch einen. 얍 Aber auch ein Taler ist viel Geld und er wird für Dich immer mehr. Schenk alles dem ersten Bettler, damit es nicht ans Licht kommt! So ging ich ruhelos durch die Stadt, aber ich traf nirgends einen Bettler, als hätte sie alle die Hölle verschluckt, die Herrschaften wollten anscheinend nichts mehr von mir wissen – Und das war auch sehr gut so, denn im heutigen Morgenblatt steht endlich eine kurze Notiz, dass ein Buchhalter auf dem Heimweg tödlich verunglückt ist. Infolge seiner starken Kurzsichtigkeit scheint er in der herrschenden Finsternis auf dem vereisten Gehsteig ausgeglitten und in den Kanal gestürzt zu sein. Er hinterlässt eine trauernde Witwe, einen verheirateten Sohn und zwei ledige Töchter. Ja, es kommt nicht auf. Es gibt doch noch eine höhere Gerechtigkeit. Und das Morgenblatt fragt die zuständige Behörde: wann kommt endlich das Geländer am Kanal? Ja, wann? Jetzt ist es Nachmittag – vor zwei Tagen um diese Zeit war es noch hell. 얍 Über Nacht ist es Winter geworden und die Eisblumen blühen im Fenster. Ich sitze im Zimmer meines Vaters und habe gerade einen Brief geschrieben, einen Brief an das Fräulein, das mein Schwesterlein geworden war. „Wertes Fräulein“, hab ich geschrieben, „Sie werden sich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern, aber ich wollt Ihnen immer schon schreiben. Ich war Soldat und war einst gerne Soldat. Zwar kenn ich Sie nur vom Sehen aus, aber ich hab oft an Sie gedacht und hab Sie auch überall gesucht. Heut kenne ich Ihr trauriges Unglück und vertrauen Sie mir, dass ich Sie nicht vergessen werde und Ihnen immer nach besten Kräften helfen will, denn ich liebe die Gerechtigkeit“ – Ich klebe den Brief zu und geh hinab auf die Strasse, um ihn aufzugeben. Seit gestern ist es bitterkalt. Die Luft verdämmert dunkelblau – ja, jetzt regiert das Eis. 얍 Und da ich den Brief in den Kasten warf, hielt ich nichts mehr in der Hand. Die Hand gehört zu meinem Arm und den werd ich wohl nie verschmerzen, solang ich noch zu leben hab. Der wird mir keine Ruhe geben – Wer weiss, ob sie meinen Brief bekommt. Wer weiss, ob sie antworten wird. Sie darf es ja nie erfahren, was ich ihretwegen schon alles tat. Denn das wär zu gefährlich für mich. Weiber schwätzen immer – Und was hat sie denn auch davon, dass die Behörde noch immer kein Geländer gebaut hat? Egal! Ob es ihr nützt oder nicht: es kümmert mich nicht, was werden soll, es kümmert mich nur, was nicht sein darf.

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Es darf nicht sein, dass der einzelne keine Rolle spielt, und wärs auch nur ein letztes Fräulein. Und jeder, der das Gegenteil behauptet, der gehört ausradiert – mit Haut und Haar! Was hinterher kommt, das steckt noch im Nebel der Zukunft. Jetzt ist er fort, mein Brief. – So geh ich die Strassen entlang. 얍 Langsam oder schnell, es wird mir nicht klar und ich versuche alles in mir zu ordnen, aber so sehr ich mich auch anstreng, immer wieder muss ich von vorne beginnen und plötzlich fühl ich mich ganz verlassen, als wär das Herz hinaus aus mir – vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Einst dachte ich, mit dem Hass werden wir weiterkommen. Da marschiert ich in Reih und Glied – Wie dumm ich war, wie dumm ich war! Denn wenn auch immer einer neben Dir marschiert, rechts und links, Tag und Nacht, so bleibst Du doch immer ein einsamer Gletscher. Und die Berge, sie wachsen Tag und Nacht, aber Du, Du gehst zurück. Du ziehst Dich in Dich hinein und hockst in Dir drinnen wie eine alte Eule. Am Tag bist Du blind und in der Nacht fängst Du nichts. Denn wo Du umherfliegst, hört das Leben auf. Verhunger oder friss Dich selbst! – Ich halte und schau mich um. Wohin geh ich da eigentlich? Du bist schon so weit von zu Haus – 얍 Kehr um! Du bist ja bereits so müde geworden – natürlich-natürlich, kein Wunder! Das ist nur das Resultat dieser beiden letzten Tage und besonders der Nächte, die möcht ich nicht noch einmal haben, es strengt nämlich an, wenn man sich fürchtet. Unwillkürlich muss ich lächeln. Jetzt ist ja alles in Ordnung! Er ist auf dem vereisten Gehsteig ausgeglitten, usw. usw. Geh nur zu – Bleib noch etwas an der Luft, damit Du besser schlafen kannst. Ich kehre nicht um und die Häuser werden weniger. Rechts beginnt ein eiserner Zaun und hinter ihm stehen viele weisse Bäume und Sträucher, gross und klein – Aha, ein Park. Es ist niemand zu sehen und ich atme tief. Es riecht nach Schnee. Hier ist es wirklich schön. 얍 Ein hohes Tor taucht vor mir auf und auf dem Tor hängt eine Tafel: „Geöffnet von 8 Uhr früh bis zum Einbruch der Dunkelheit.“ Es ist zwar schon dunkel geworden, aber das Tor ist noch offen – komm, tritt ein! Die silbernen Sternlein funkeln so klar, als wär der Himmel schwarzer Samt. Aber im Osten hängt eine Wolkenwand, ein ganzes Wolkengebirge – jaja, es wird wieder schneien in der Nacht. Und wie ich so durch den Park geh, wirds mir ganz eigen zu Mut, denn wenn

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mich nicht alles täuscht, muss nach der nächsten Ecke ein Kinderspielplatz kommen – richtig, da kommt er auch schon, mein Platz! Hier hast Du ja mal im Sand gespielt, erinner Dich nur! Hast Burgen gebaut und eine Stadt – wo blieb die Burg, wo blieb die Stadt? Der Sand ist verschneit. Vorbei, vorbei! Es kommt eine neue Zeit. Ich setze mich auf eine Bank und schliesse die Augen. Wie still die Welt werden kann – Und wie lautlos manches geht und kommt. 얍 Zum Beispiel die Erinnerung – Auch aus den fernsten Winkeln. In den Bäumen tickt eine Uhr – schlaf nur nicht ein! Ich gähne und gähne, als käm eine grosse Nacht. Ja, es wird Zeit, dass Du umkehrst, sonst schliesst man noch das Tor. Ich schrecke zusammen – was dachtest Du da? Was war das für ein komischer Satz? Der hatte doch gar keinen Sinn? – – Jetzt kommt der Schnee. Der Wind treibt ihn mir ins Gesicht – es juckt und zwickt, als wärens lauter Ameisen. Sie kriechen und bauen. Es wird immer schärfer und kälter. Und auf einmal, da find ich ihn wieder, meinen Satz, diesen komischen Satz von vorhin – jetzt kann ich ihn sogar auswendig: Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feurigen Schwertern. Ob die Frau meines Hauptmanns den Brief zerriss? Oder ob ihn einst jemand finden wird? 얍 Andere Menschen – – Geh heim, sonst schliesst man noch Dein Tor! Lass nur, lass! Jetzt schlafen auch schon die Ameisen und die Kälte wird wärmer werden – Es schneit, es schneit – wie in einem Märchenbuch. Wo bin ich denn schon? Das Zimmer ist dunkel, ich sitz auf dem Boden. Die Fenster sind hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt. Jaja, nach einem Krieg gibts oft keine Kohlen – Ich werde den lieben Gott fragen, warum es Kriege geben muss. „Es ist kalt“, das bleibt meine erste Erinnerung – – –

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Die Nacht vergeht, langsam kommt wieder ein Tag. Ich bin voll Schnee und rühre mich nicht. Es kommt eine junge Frau mit einem kleinen Kind. Das Kind erblickt mich zuerst, klatscht in die 얍 Hände und ruft: „Schau, Mutti! Ein Schneemann!“ B

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N

B

EsN ]

korrigiert aus: BErN

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Die Mutti schaut zu mir her und ihre Augen werden gross. Sie starrt mich entsetzt an und kreischt dann: „Um des Himmelswillen!“ Sie reisst das Kind mit sich weg und ich hör sie schreien: „Hilfe! Hilfe!“ Jetzt kommen die beiden wieder zurück und noch einer ist dabei: ein Polizist. Er bückt sich zu mir nieder und betrachtet mich aufmerksam: „Ja“, meint er, „der ist allerdings erfroren. Damit ists vorbei“ – Die Mutter wagt nicht mehr herzuschauen, aber das Kind kann sich kaum von mir trennen. Immer wieder dreht es sich um und schaut mich mit seinen runden Augen neugierig an. Schau nur, schau! Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat. Und Du, Du wirst grösser werden und wirst den Soldaten nicht vergessen. Oder? Vergiss ihn nicht, vergiss ihn nicht! Denn er gab seinen Arm für einen Dreck. Und wenn Du ganz gross sein wirst, dann wirds vielleicht andere Tage geben und 얍 Deine Kinder werden Dir sagen: dieser Soldat war ja ein gemeiner Mörder – dann schimpf nicht auch auf mich. Bedenk es doch: er wusst sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit. ENDE

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Horváth 1938b, S. 202

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K3/TS18 (Korrekturschicht)

Ein Kind unserer Zeit (Endfassung, emendiert)

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Lesetext

Ein Kind unserer Zeit

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Ödön von Horváth EIN KIND UNSERER ZEIT ROMAN 5

DER VATER ALLER DINGE

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Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat. Wenn morgens der Reif auf den Wiesen liegt, oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, wenn das Korn wogt und die Sense blitzt, obs regnet, schneit, ob die Sonne lacht, Tag und Nacht – Immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen. Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem jungen Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt hab ich sie wieder, meine Zukunft, und lasse sie nimmer los, auferstanden aus der Gruft! Es ist noch kaum ein halbes Jahr her, da stand sie bei meiner Musterung neben dem Oberstabsarzt. „Tauglich!“ sagte der Oberstabsarzt, und die Zukunft klopfte mir auf die Schulter. Ich spürs noch heut. Und drei Monat später erschien ein Stern auf meinem leeren Kragen, ein silberner Stern. Denn ich hatte hintereinander ins Schwarze getroffen, der beste Schütz der Kompagnie. Ich wurde Gefreiter, und das will schon etwas heißen. Besonders in meinem Alter. Denn ich bin fast unser Jüngster. Aber eigentlich sieht das nur so aus. Denn eigentlich bin ich viel älter, besonders innerlich. Und daran ist nur eines schuld, nämlich die jahrelange Arbeitslosigkeit. Als ich die Schule verließ, wurde ich arbeitslos. Buchdrucker wollte ich werden, denn ich liebte die großen Maschinen, die die Zeitungen drucken, das Morgen-, Mittag- und Abendblatt. Aber es war nichts zu machen. Alles umsonst! Nicht einmal zum Lehrling konnte ichs bringen in irgendeiner Vorstadtdruckerei. Von der inneren Stadt ganz zu schweigen! Die großen Maschinen sagten: „Wir haben eh schon mehr Menschen, als wir brauchen. Lächerlich, schlag dir uns aus dem Kopf!“ Und ich verjagte sie aus meinem Kopf und auch aus meinem Herzen, denn jeder Mensch hat seinen Stolz. Auch ein arbeitsloser Hund. Raus mit euch, ihr niederträchtigen Räder, Pressen, Kolben, Transmissionen! Raus! Und ich wurde der Wohltätigkeit überwiesen, zuerst der staatlichen, dann der privaten – Da stand ich in einer langen Schlange und wartete auf einen Teller Suppe. Vor einem Klostertor.

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Auf dem Kirchendach standen sechs steinerne Figuren. Sechs Heilige. Fünf Männer und ein Weib. Ich löffelte die Suppe. Der Schnee fiel, und die Heiligen hatten hohe weiße Hüte. Ich hatte keinen Hut und wartete auf den Tau. Die Sonne wurde länger und die Stürme wärmer – Ich löffelte die Suppe. Gestern sah ichs wieder, das erste Grün. Die Bäume blühen, und die Frauen werden durchsichtig. Auch ich bin durchsichtig geworden. Denn mein Rock ist hin, und meiner Hose gings ebenso – Man weicht mir fast schon aus. Viele Ideen gehen durch meinen Kopf, kreuz und quer. Mit jedem Löffel Suppe werden sie ekelhafter. Plötzlich hör ich auf. Ich stell das Blech auf den steinernen Boden, es ist noch halb voll, und mein Magen knurrt, aber ich mag nicht mehr. Ich mag nicht mehr! Die sechs Heiligen auf dem Dache blicken in die blaue Luft. Nein, ich mag sie nicht mehr, meine Suppe! Tag für Tag dasselbe Wasser! Mir wirds schon übel, wenn ichs nur seh, diese Bettelbrüh! Schütt sie aus, deine Suppe! Weg! In den Dreck damit! – Die Heiligen auf dem Dache schauen mich vorwurfsvoll an. Glotzt nicht dort droben, helft mir lieber da drunten! Ich brauch einen neuen Rock, eine ganze Hose – eine andere Suppe! Abwechslung, Herrschaften! Abwechslung! Lieber stehlen als betteln! Und so dachten auch viele andere von unserer Schlange, ältere und jüngere – Es waren nicht die schlechtesten. Ja, wir haben viel gestohlen, meist warens dringende Lebensmittel. Aber auch Tabak und Zigaretten, Bier und Wein. Meist besuchten wir die Schrebergärten. Wenn der Winter nahte und die glücklichen Besitzer daheim in der warmen Küche saßen. Zweimal wurde ich fast erwischt, einmal bei einer Badehütte. Aber ich entkam unerkannt. Über das Eis, im letzten Moment. Wenn mich der Kriminaler erreicht hätt, dann wär ich jetzt vorbestraft. Aber das Eis war mir gut, er flog der Länge nach hin. Und meine Papiere blieben lilienweiß. Kein Schatten der Vergangenheit fällt auf meine Dokumente. Ich bin doch auch ein anständiger Mensch, und es war ja nur die Hoffnungslosigkeit meiner Lage, daß ich so schwankte wie das Schilf im Winde – sechs trübe Jahre lang. Die Ebene wurde immer schiefer und das Herz immer trauriger. Ja, ich war schon sehr verbittert. Aber heut bin ich wieder froh! Denn heute weiß ichs, wo ich hingehör. Heut kenn ich keine Angst mehr, ob ich morgen fressen werde. Und wenn die

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Stiefel hin sind, werden sie geflickt, und wenn der Anzug hin ist, krieg ich einen neuen, und wenn der Winter kommt, werden wir Mäntel bekommen. Große warme Mäntel. Ich hab sie schon gesehen. Das Eis braucht mir nicht mehr gut zu sein! Jetzt ist alles fest. Endlich in Ordnung. Adieu, ihr täglichen Sorgen! Jetzt ist immer einer neben dir. Rechts und links, Tag und Nacht. „Angetreten!“ tönt das Kommando. Wir treten an, in Reih und Glied. Mitten auf dem Kasernenhof. Und die Kasern ist so groß wie eine ganze Stadt, man kann sie auf einmal gar nicht sehen. Wir sind Infanterie mit leichten und schweren Maschinengewehren und nur zum Teil erst motorisiert. Ich bin noch unmotorisiert. Der Hauptmann schreitet unsere Front ab, wir folgen ihm mit den Blicken, und wenn er beim dritten vorbei ist, schauen wir wieder vor uns hin. Stramm und starr. So haben wirs gelernt. Ordnung muß sein! Wir lieben die Disziplin. Sie ist für uns ein Paradies nach all der Unsicherheit unserer arbeitslosen Jugend – Wir lieben auch den Hauptmann. Er ist ein feiner Mann, gerecht und streng, ein idealer Vater. Langsam schreitet er uns ab, jeden Tag, und schaut nach, ob alles stimmt. Nicht nur, ob die Knöpfe geputzt sind – nein, er schaut durch die Ausrüstung hindurch in unsere Seelen. Das fühlen wir alle. Er lächelt selten, und lachen hat ihn noch keiner gesehen. Manchmal tut er uns fast leid, aber man kann ihm nichts vormachen. Wie er möchten wir gerne sein. Wir alle. Da ist unser Oberleutnant ein ganz anderes Kaliber. Er ist zwar auch gerecht, aber oft wird er schon furchtbar jähzornig und brüllt einen an wegen der geringsten Kleinigkeit oder wegen nichts und wieder nichts. Aber wir sind ihm nicht bös, er ist halt sehr nervös, weil er vollständig überarbeitet ist. Er möcht nämlich in den Generalstab hinein, und da lernt er Tag und Nacht. Immer steht er mit einem Buch in der Hand und liest sein Zeug. Neben ihm ist unser Leutnant nur ein junger Hund. Er ist kaum älter als wir, also auch so zirka zweiundzwanzig. Er möcht zwar oft auch gern brüllen, aber er traut sich nicht recht. Trotzdem haben wir ihn gern, denn er ist ein fabelhafter Sportsmann, unser bester Sprinter. Er läuft einen prächtigen Stil. Überhaupt hat das Militär eine starke Ähnlichkeit mit dem Sport. Man möcht fast sagen: Es ist der schönste Sport, denn hier gehts nicht nur um den Rekord. Hier gehts um mehr. Um das Vaterland. Es war eine Zeit, da liebte ich mein Vaterland nicht. Es wurde von vaterlandslosen Gesellen regiert und von finsteren überstaatlichen Mächten beherrscht. Es ist nicht ihr Verdienst, daß ich noch lebe. Es ist nicht ihr Verdienst, daß ich jetzt marschieren darf. In Reih und Glied.

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Es ist nicht ihr Verdienst, daß ich heut wieder ein Vaterland hab. Ein starkes und mächtiges Reich, ein leuchtendes Vorbild für die ganze Welt! Und es soll auch einst die Welt beherrschen, die ganze Welt! Ich liebe mein Vaterland, seit es seine Ehre wieder hat! Denn nun hab auch ich sie wieder, meine Ehre! Ich muß nicht mehr betteln, ich brauch nicht mehr zu stehlen. Heute ist alles anders. Und es wird noch ganz anders werden! Den nächsten Krieg gewinnen wir. Garantiert! Alle unsere Führer schwärmen zwar immer vom Frieden, aber ich und meine Kameraden, wir zwinkern uns nur zu. Unsere Führer sind schlau und klug, sie werden die anderen schon hineinlegen, denn sie beherrschen die Kunst der Lüge wie keine zweiten. Ohne Lüge gibts kein Leben. Wir bereiten uns immer nur vor. Jeden Tag treten wir an, und dann gehts zum Tor hinaus, im gleichen Schritt und Tritt. Wir marschieren durch die Stadt. Die Zivilisten sehen uns glücklich an, nur einige Ausnahmen würdigen uns keines Blickes, als wären sie böse auf uns. Das sind aber immer nur alte Männer, die eh nichts mehr zählen. Aber es ärgert uns doch, wenn sie wegschauen oder plötzlich sinnlos vor einer Auslage halten, nur um uns nicht sehen zu müssen. Bis sie uns dann doch erblicken, bis sie es nämlich merken, daß wir uns im Glas der Auslage spiegeln. Dann ärgern sie sich gelb und grün. Jawohl, ihr Herrschaften, ihr Ewig-Gestrigen, Ausrangierten, mit eurem faden pazifistischen Gesäusel, ihr werdet uns nicht entrinnen! Betrachtet nur die Delikatessen, die Spielwaren, Bücher und Büstenhalter – Ihr werdet uns überall sehen! Wir marschieren auch durch die Auslagen! Es ist uns bekannt, wir gefallen euch nicht. Ich kenne euch schon – durch und durch! Mein Vater ist auch so ein Ähnlicher. Auch er schaut weg, wenn er mich marschieren sieht. Er kann uns Soldaten nicht ausstehen, weil er die Rüstungsindustrie haßt. Als wärs das Hauptproblem der Welt, ob ein Rüstungsindustrieller verdienen darf oder nicht! Soll er verdienen, wenn er nur treu liefert! Prima Kanonen, Munition und den ganzen Behelf – Das ist für uns Heutige kein Problem mehr. Denn wir haben erkannt, daß das Höchste im Leben des Menschen das Vaterland ist. Es gibt nichts, was darüber steht an Wichtigkeit. Alles andere ist Unsinn. Oder im besten Fall nur so nebenbei. Wenn es dem Vaterland gut geht, geht es jedem seiner Kinder gut. Gehts ihm schlecht, geht es zwar nicht allen seinen Kindern schlecht, aber auf die paar Ausnahmen kommts auch nicht an im Angesicht des lebendigen Volkskörpers. Und gut gehts dem Vaterland nur, wenn es gefürchtet wird, wenn es nämlich eine scharfe Waffe sein eigen nennt – Und diese Waffe sind wir. Auch ich gehör dazu.

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Aber es gibt eben noch immer verrannte Leute, die sehen diese selbstverständlichen Zusammenhänge nicht, sie wollen sie auch nicht sehen, denn sie sind noch immer in ihren plumpen Ideologien befangen, die im neunzehnten Jahrhundert wurzeln. Auch mein Vater ist solch einer von dieser Garde. Es ist eine traurige Garde. Eine geschlagene Armee. Mein Vater ist ein verlogener Mensch. Er war drei Jahr in Kriegsgefangenschaft, ab 1917. Erst Ende 1919 ist er wieder heimgekehrt. Ich selbst bin 1917 geboren, bin also ein sogenanntes Kriegskind, aber ich kann mich natürlich an diesen ganzen Weltkrieg nicht mehr erinnern. Und auch nicht an die Zeit hinterher, an die sogenannten Nachkriegsjahre. Nur manchmal so ganz verschwommen. Meine richtige Erinnerung setzt erst ein zirka 1923. Mein Vater ist von Beruf Kellner, ein Trinkgeldkuli. Er behauptet, daß er durch den Weltkrieg sozial gesunken wär, weil er vor 1914 nur in lauter vornehmen Etablissements arbeitete, während er jetzt draußen in der Vorstadt in einem sehr mittelmäßigen Betrieb steckt. Er hinkt nämlich etwas seit seiner Gefangenschaft, und ein hinkender Kellner, das kann halt in einem Luxuslokal nicht sein. Aber trotz seiner Privattragödie hat er kein Recht, auf den Krieg zu schimpfen, denn Krieg ist ein Naturgesetz. Überhaupt ist mein Vater ein Nörgler. Als ich noch bei ihm in seinem Zimmer wohnte, krachten wir uns jeden Tag. Immer schimpft er über die Leut, die das Geld haben, und derweil sehnt er sich nach ihnen – wie gern würde er sich wieder vor ihnen verbeugen, denn er denkt ja nur an sein Trinkgeld! Ja, er ist ein durch und durch verlogener Mensch, und ich mag ihn nicht. Wenn er nicht zufällig mein Vater wär, würde ich mich fragen: Wer ist denn dieser widerliche Patron? Einmal sagte ich zu ihm: „Hab nur keine Angst vor dem kommenden Krieg, du kommst eh nimmer dran mit deinem Alter!“ Er blieb vorerst ganz ruhig und sah mich an, als würde er sich an etwas erinnern wollen. „Ja“, fuhr ich fort, „du zählst nicht mehr mit.“ Er blieb noch immer ruhig, aber plötzlich traf mich ein furchtbar gehässiger Blick, wie aus einem Hinterhalt. Und dann begann er zu schreien. „So geh nur in deinen Krieg!“ brüllte er. „Geh und lern ihn kennen! Einen schönen Gruß an den Krieg! Fall, wenn du magst! Fall!“ Ich ging fort. Das war vor drei Jahren. Ich hör ihn noch brüllen und sehe mich im Treppenhaus. Auf einmal hielt ich an und ging zurück. Ich hatte meinen Bleistift vergessen, ich wollte nämlich zu den Redaktionen, wo die Zeitungen mit den kleinen Anzeigen im Schaukasten hängen, um dort vielleicht eine Arbeit zu finden, irgendeine – Ja, damals glaubte ich trotz allem noch an Märchen. Als ich das Zimmer wieder betrat, stand mein Vater am Fenster und sah hinaus. Es war sein freier Tag in der Woche. Er wandte sich mir nur kurz zu – „Ich hab meinen Bleistift vergessen“, sagte ich. Er nickte und sah wieder hinaus. Was war das für ein Blick? Hat er geweint? Ich ging wieder fort.

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Weine nur, dachte ich, du hast auch allen Grund dazu, denn eigentlich trägt deine Generation die Hauptschuld daran, daß es mir jetzt so dreckig geht – (Damals war ich ja noch arbeitslos und hatte keine Zukunft). Die Generation unserer Väter hat blöden Idealen von Völkerrecht und ewigem Frieden nachgehangen und hat es nicht begriffen, daß sogar in der niederen Tierwelt einer den anderen frißt. Es gibt kein Recht ohne Gewalt. Man soll nicht denken, sondern handeln! Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Ich hab mit meinem Vater nichts mehr zu tun. Ich kann es nicht ausstehen, das ewige Geweine! Immer wieder hören müssen: „Vor dem Krieg, das war eine schöne Zeit!“ – Da werd ich ganz wild. Mir hätt sie nicht gefallen, deine schöne Zeit! Ich kann sie mir genau vorstellen nach den alten Photographien. Du hattest eine Dreizimmerwohnung, warst noch nicht verheiratet und führtest, wie es seinerzeit hieß, ein flottes Junggesellenleben. Mit Weibern und Kartenspiel. Alle Welt hatte Geld. Es war eine verfaulte Zeit. Ich hasse sie. Jeder konnte arbeiten, verdienen, niemand mußte hungern, keiner hatte Sorgen – Eine widerliche Zeit! Ich hasse das bequeme Leben! Vorwärts, immer nur vorwärts! Marsch-marsch! Wir stürmen vor – Nichts hält uns zurück! Kein Acker, kein Zaun, kein Strauch – Wir treten es nieder! Marsch-marsch! So stürmen wir vor und gehen auf einer Höhe in Deckung, um die Straße, die unten vorbeizieht, zu beherrschen. Vorerst sinds nur noch Manöver. Aber bald wirds ernst, die Zeichen werden immer sichtbarer. Und der Krieg, der morgen kommen wird, wird ganz anders werden als dieser sogenannte Weltkrieg! Viel größer, gewaltiger, brutaler – ein Vernichtungskrieg, so oder so! Ich oder du! Wir schauen der Wirklichkeit ins Auge. Wir weichen ihr nicht aus, wir machen uns nichts vor – Jetzt schießen Haubitzen. In der weiten flimmernden Ferne. Man hört sie kaum. Sie schießen vorerst noch blind. Unten auf der Straße erscheinen zwei radfahrende Mädchen. Sie sehen uns nicht. Sie halten plötzlich und sehen sich um. Dann geht die eine hinter einen Busch und hockt sich hin. Wir grinsen, und der Leutnant hinter mir lacht ein bißchen. Der Feldwebel schaut mit dem Feldstecher hin.

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Jetzt surrt es am Himmel. Ein Flieger. Er fliegt über uns hinweg. Das Mädchen läßt sich nicht stören, sondern blickt nur empor. Er fliegt sehr hoch, der Flieger, und kann sie nicht sehen. Das weiß sie. An uns denkt sie nicht. Und derweil werdens doch immer wir Infanteristen sein, die die Kriege entscheiden – und nimmer die Flieger! Obwohl man von ihnen soviel spricht und von uns so wenig. Obwohl sie die eleganteren Uniformen haben – Werden sehen, ob sie das taugen, was sie sich einbilden! Die denken, sie legen ein Land von droben einfach in Trümmer, und wir Infanteristen hätten dann einfach die Trümmer nur zu besetzen – ohne jede Gefahr! Eine bessere Polizei. Abwarten! Werden sehen, ob wir überflüssig sind! Oder gar zweiten Ranges! Nein, ich mag die Flieger nicht! Ein hochnäsiges Pack. Und die Weiber sind auch so blöd, sie wollen nur einen Flieger. Das ist ihr höchstes Ideal! Auch die zwei da drunten auf der Straße – Jetzt winken sie ihm begeistert zu. Alle Kühe wollen mit einem Flieger tanzen! Winkt nicht, ihr Tiere – Er schaut auch auf euch herab, weil ihr nicht fliegen könnt! Jawohl, wir schlucken den Staub der Straßen und marschieren durch den Dreck! Aber wir werden dafür sorgen, daß der Dreck himmelhoch staubt! Nur keine Angst! „Um Gottes willen!“ kreischt der Leutnant. Was ist denn los?! Er starrt auf den Himmel – Dort, der Flieger! Er stürzt ab! „Der linke Flügel ist futsch“, sagt der Feldwebel durch den Feldstecher. Er stürzt, er stürzt – Mit einer Rauchwolke hinter sich her – Immer rascher. Wir starren hin. Und es fällt mir ein: Komisch, hast du nicht grad gedacht: Stürz ab –? „Mit denen ists vorbei“, meint der Leutnant. Wir waren alle aufgesprungen. „Deckung!“ schreit uns der Feldwebel an. „Deckung!“ – – – Drei Särge liegen auf drei Lafetten, drei Fliegersärge. Pilot, Beobachter, Funker. Wir präsentieren das Gewehr, die Trommel rollt, und die Musik spielt das Lied vom guten Kameraden. Dann kommt das Kommando: „Zum Gebet!“ Wir senken die Köpfe, aber wir beten nicht. Ich weiß, daß bei uns keiner mehr betet. Wir tun nur so. Reine Formalität. „Liebe deine Feinde“ – Das sagt uns nichts mehr. Wir sagen: „Hasse deine Feinde!“

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Mit der Liebe kommt man in den Himmel, mit dem Haß werden wir weiterkommen – – Denn wir brauchen keine himmlische Ewigkeit mehr, seit wirs wissen, daß der einzelne nichts zählt – Er wird erst etwas in Reih und Glied. Für uns gibts nur eine Ewigkeit: das Leben unseres Volkes. Und nur eine himmlische Pflicht: für das Leben unseres Volkes zu sterben. Alles andere ist überlebt. Wir treten an. Ausgerichtet, Mann für Mann. Ich bin der neunte von rechts, von den größten her. Der größte ist einsachtundachtzig, der kleinste einssechsundfünfzig, ich einsvierundsiebzig. Gerade richtig, nicht zu groß und nicht zu klein. So äußerlich gesehen, gefall ich mir ja.

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Heute ist Sonntag. Da haben wir frei. Von vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr. Nur die Bereitschaft bleibt zurück. Gestern bekam ich meinen zweiten Stern, und heute werde ich zum erstenmal mit zwei Sternen am Kragen ausgehen. Der Frühling ist nah, man hört ihn schon in der Luft. Wir sind zu dritt, zwei Kameraden und ich. Wir haben weiße Handschuhe an und reden über die Weiber. Ich rede am wenigsten, ich denk mir lieber meinen Teil. Die Weiber sind ein notwendiges Übel, das ist bekannt. Man braucht sie zur Sicherstellung einer möglichst großen Zahl kinderreicher, erbgesunder, für das Vaterland rassisch wertvoller Familien. Aber ansonsten stiften sie nur Wirrwarr. Ich könnt darüber manches Lied zum besten geben! Besonders die älteren Jahrgänge und vor allem die ganz Gescheiten. Die laufen dir nach, weil du sportlich ausgebildet bist, und wenn du ihnen zu Gefallen warst, dann werden sie arrogant. Sagen: dummer Junge, grün, naß hinter den Ohren und dergleichen. Oder sie kommen mit dem Seelenleben daher, und dann werdens ganz unappetitlich. Eine nicht mehr ganz junge Frau hat keine Seele zu haben, sie soll froh sein, wenn man sie anschaut. Sie hat kein Recht, einem hinterher mit Gefühlen, wie zum Beispiel Eifersucht oder sogenannter Mütterlichkeit, zu kommen. Die Seele ist im besten Falle ein Vorrecht der jungen Mädchen. Die dürfen sich eine solche Romantik fallweise noch leisten, vorausgesetzt, daß sie hübsch sind. Aber auch die romantischen Hübschen wollen, schon im zartesten Jungmädchenalter, nur einen Kerl mit Geld. Das ist das ganze Problem. Ich bewege mich lieber in männlicher Gesellschaft. Mein Kamerad sagt grad, daß sich dereinst vor dreihundert Jahren ein großer Philosoph gefragt hätt, ob die Weiber überhaupt Menschen sind? Man könnts schon bezweifeln, das glaub ich gern. Bei dem weiblichen Geschlechte weißt du nie, woran du bist.

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Du findest keine Treu und keinen Glauben, immer kommens zu spät, ein Nest voller Lügen, usw. Und obendrein sollst du noch auf ihr Inneres eingehen – Denn das verlangen sie. Aber das ist keine Betätigung für einen richtigen Mann. Jaja, die Herren Weiber sind ein Kapitel für sich! Sie bringen dich auf die Welt und bringen dich auch wieder um. – Die Straßen der inneren Stadt sind leer, denn hier gibts nur Geschäfte und hohe Bürohäuser, und die haben heute zu. Die Arbeiter der Stirn und der Faust, sie feiern daheim, essen, schlafen, rauchen – Heut werdens kaum Ausflüge machen, denn es regnet immer wieder. Zwar nur ein bißchen, aber es ist halt unsicher. Still ists in der inneren Stadt, direkt friedlich, als wärens alle ausgestorben. Wir hören uns gehen, jeden Schritt. Es klappert auf dem Asphalt. Und ich bemerk es wieder, daß wir uns spiegeln. In den vornehmen Auslagen. Jetzt gehen wir durch ein Korsett. Jetzt durch einen Hummer und einen Schinken so zart – Jetzt durch seidene Strümpfe. Jetzt durch Bücher und dann durch Perlen, Schminken, Puderquasten. – Zerreißt sie, zertrampelt sie! Es ist fad in der inneren Stadt, und wir gehen zum Hafen hinab. Dort ist nämlich ewig Betrieb. Du kannst es zwar nicht erblicken, das weite Meer, denn dieses beginnt erst weiter draußen, aber herinnen liegen bereits die fremden Schiffe mit den schwarzen und gelben Matrosen. Wir gehen die breite Allee zum Hafen hinab. Sie wird immer breiter und lauter. Rechts und links beginnen die Sehenswürdigkeiten – große und kleine Affen, dressiert und undressiert. Schießbuden und Spielautomaten, ein Tanzpalast und die dickste Dame der Welt. Ein Schaf mit fünf Füßen, ein Kalb mit zwei Köpfen – Karussell neben Karussell, Schaukel neben Schaukel und eine bescheidene Achterbahn, direkt bemitleidenswert. Wahrsagerinnen, Feuerfresser, Messerschlucker, saure Gurken und viel Eis. Tierische und menschliche Abnormitäten. Kunst und Sport. Und dort hinten am Ende das verwunschene Schloß. An den ersten Schießbuden gehen wir noch vorbei, aber bei der vierten oder fünften können wir es nicht mehr lassen, es zwingt uns zu schießen. In dieses Schwarze zu treffen ist für uns ein Kinderspiel und das Fräulein, das unsere Gewehre ladet, lächelt respektvoll. Wenn Soldaten schießen, schauen immer viele zu. So auch jetzt. Besonders zwei Fräulein sind dabei, sie lachen bei jedem Schuß, als gälte er ihnen. Dadurch erregen sie unsere Aufmerksamkeit. Mir gefallen sie nicht, aber meine Kameraden fangen mit ihnen an. Ich will ihnen prinzipiell nicht im Wege stehen, so als überflüssiges Rad am Wagen, und überlasse sie ihrem Schicksal. Sie gehen tanzen, ich bleib allein zurück. Ich schau ihnen nach. Nein, diese beiden Fräulein könnten mich nicht interessieren – Die eine hat krumme Beine, die andere hat überhaupt keine Beine und wo der

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Hintern sitzen soll, sitzt nichts. Und die erste hat vorn einen schwarzen Zahn und einen schmutzigen Büstenhalter. Nein, mich stören diese Kleinigkeiten der Liebe, ich bin nämlich sehr anspruchsvoll. Ich betrete das Hippodrom. Dort reiten zwei andere Fräulein und ein Kind. Die Musik spielt, die Peitsche knallt, die alten Pferde laufen im Kreis. Das Kind hat Angst, die Fräulein sind sehr bei der Sache. Das Kind verliert seine Matrosenmütze und plärrt, die beiden Fräulein lächeln. Ihre Röcke sind hoch droben, und man kann es sehen, daß sie dort nackt sind, wo der Strumpf aufhört. Die könnten mir schon gefallen, besonders die größere! Aber ein reitendes Fräulein täuscht. Denn ein Fräulein hoch zu Roß kann gar leicht gefallen, das ist keine Kunst. Aber wenn sie hernach herunten ist, dann merkt mans erst, was in Wirklichkeit los ist – Ich kenn das schon, diese Enttäuschungen! Jetzt steigen sie aus dem Sattel, und die größere gefällt mir noch immer. Und die kleinere auch. Aber sie haben schon einen Kavalier. Ein kleines Männchen, eine elende Ratte. Die beiden hängen sich in die Ratte und lächeln: „Wir wollen noch reiten – bittebitte!“ „So oft ihr wollt“, sagt die Ratte. Ich blicke nach der Preistafel. Einmal reiten kostet fünfzig. Und so oft ihr wollt? Viel zu teuer für mich. Aber so treibens halt die feschen Weiber! Lieber eine alte Ratte, die nach Geld stinkt, als ein junger durchtrainierter Mann, der außer seiner selbst nur zwei silberne Sterne am Kragen besitzt. Da nützen auch die weißen Handschuhe einen großen Dreck. Ich verlasse das Hippodrom und wandle langsam die Buden entlang, ohne ein direktes Ziel. Rechts gibts den Mann mit dem Löwenkopf und links die Dame mit dem Bart. Ich bin etwas traurig geworden. Die Luft ist lau – Ja, das ist der Frühling, und nachts konzertieren die Katzen. Wir hören sie auch in der Kasern. Der Abend kommt, und am Horizont geht der Tag mit einem lila Gruß. Hinter mir ist es schon Nacht. Und wie ich so weiterwandle, treffe ich einen unangenehmen Gedanken: Es fällt mir auf, daß diese Ratte im Hippodrom mein Volksgenosse ist. Und ich sehe mich im Kasernenhof stehen und schwören, für das Vaterland zu sterben, jederzeit für unser Volk. Also auch für diese elende Ratte? Nein, hör auf! Nur nicht denken! Durch das Denken kommt man auf ungesunde Gedanken. Unsere Führer werdens schon richtig treffen! Und da kommt ein zweiter Gedanke, ich kenne ihn schon. Er begleitet mich ein Stück und läßt mich nicht los. „Eigentlich“, sagt er, „liebst du ja niemand“ –

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Ja, das ist wahr. Ich mag keine Seele leiden – Auch mich nicht. Eigentlich hasse ich alle. Nur unseren Hauptmann nicht. – Und weiter wandle ich die Buden entlang dem Ende zu und erreiche das verwunschene Schloß mit seinen Giebeln und Türmen und Basteien. Die Fenster sind vergittert, und die Drachen und Teufel schauen heraus. Aus dem Lautsprecher tönt ein leiser Walzer. Es ist eine alte Musik. Sie wird immer wieder übertönt, diese Musik, durch Gelächter und Gekreisch. Das sollen die Leute von sich geben, die drinnen sind. Man solls nämlich draußen hören, daß es ihnen drinnen gefällt. Aber ich kenne das schon. Alles Schwindel! Es ist eine Grammophonplatte, diese ganze laute Freude – nur um das Publikum anzulocken. Es ist nichts dahinter, und ich fall nicht drauf rein, auf solche Narrenpaläste, in denen man das Gruseln lernen soll. Das ist mir zu blöd. Ich will schon wieder zurück, da blicke ich nach dem Eingang, ohne mir dabei etwas zu denken, gewissermaßen automatisch. Und ich halte an. Oder wars mir nur so, und ich bin weiter? Möglich. Aber nach zwei Schritten halte ich tatsächlich und schaue noch immer hin. Es ist jetzt ganz finster geworden, und ich steh in der Nacht. An der Kasse des verwunschenen Schlosses sitzt eine junge Frau. Sie rührt sich nicht. Es kommt kein Mensch. Und einen Augenblick lang ist mir alles so fern, die ganze Welt, und ich denke, das Herz bleibt stehen. Es rührt sich kein Blatt, nur aus dem verwunschenen Schlosse tönt leise die alte Musik. Sie hat große Augen, die junge Frau, aber es waren nicht ihre Augen, nicht der Mund und nicht die Haare – ich glaube, es war eine Linie – Doch was red ich da?! Lauter Unsinn! Ich weiß ja nur, daß ich stehenblieb, als wär plötzlich eine Wand vor mir – Unsinn, Blödsinn! Geh weiter! Ich gehe weiter und stolpere. Über was? Über nichts. Es ist ja nichts da. Aber nun lächelt die Frau, weil ich gestolpert bin. Sie hat es gesehen. Sie lächelt noch immer. Ich betrachte sie genau. Da schaut sie nicht mehr her. Sie nimmt einen Bleistift und schreibt vor sich hin – Oder tut sie nur so, damit sie mich nicht sieht? Warum will sie mich denn nicht sehen? Wahrscheinlich weil ich ihr nicht gefall – Sie wird schon einen haben, irgendeinen Budenkönig. Einen Seiltänzer, Messerschlucker, dummen August – Geh weiter! Ich geh, aber ich komme nicht weit. Nur über die Straße. Dort steht ein Eismann,

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und ich kaufe mir ein Eis. Ich kanns noch genau sehen, das verwunschene Schloß und die schreibende Frau. Es kommt noch immer kein Mensch. Ich schlecke mein Eis. Es schmeckt nach nichts. Es ist so kalt, daß ich lange Zähne bekomm wie ein altes Pferd. Es tut schon direkt weh – Warum kaufte ich es mir denn nur, dieses gefärbte Zeug? Ich mag ja gar kein Eis! Und während mir die Zähne immer länger werden, gesteh ichs mir ein, daß ich es mir nur deshalb kaufte, um die Frau dort drüben länger betrachten zu können. Komisch, ich weiß es noch immer nicht, ob sie mir gefallen könnt – Ich weiß ja noch gar nicht, wie sie aussieht, wenn sie aufsteht. Vorerst kenn ich nur das von ihr, was über die Kasse herausschaut. Vielleicht ist sie nur eine sogenannte Sitzschönheit – Und wenn sie aufsteht, ist sie vielleicht kleiner, als wie wenn sie sitzt, oder gleich dreimal so groß – Vielleicht ist sie ganz unproportioniert. Na gute Nacht! Jetzt schaut sie mich wieder an. Diesmal etwas länger. Und sie lächelt wieder – Warum? Weil ich da so grimmig mein Eis schleck? – Endlich hab ichs drunten, das miserable Zeug. Da hör ich den Eismann hinter mir: „Noch eine Portion?“ „Ja“, sage ich, und schon hatte ich wieder eine in der Hand. Was ist denn mit mir?! Bin ich denn total verblödet?! Was freß ich da die zweite Portion, wenns mir von der ersten schon übel ist?! Ich mach mich ja noch ganz lächerlich mit meinem Eis, wie ein Schulbub steh ich da, und derweil hab ich doch zwei silberne Stern – Und schon wollte ich das Eis wütend an die Erde hauen, da tauchte aus der Finsternis ein Rittmeister auf. Gottlob bemerkte ich ihn noch im allerletzten Moment und salutierte. Der Rittmeister dankte und ging vorbei. Jetzt lacht sie – natürlich! Weil ich die Ehrenbezeugung mit dem Eis in der Hand leistete, und so was ist selbstredend lächerlich. Ich bin ja auch blöd, und sie lacht, doch das Gelächter aus dem Lautsprecher übertönt sie. Ich höre sie nicht. Aber jetzt wirds mir allmählich zu bunt! Jetzt ists mir egal! Jetzt wird reiner Tisch gemacht! Und zwar sogleich, auf der Stell! Ich hau das Eis an die Erde, daß es nur so klatscht, und geh hinüber. Schnurgerade. Zum verwunschenen Schloß. Richtung: die Kasse. Direkt auf sie zu. Werden sehen, ob sie noch lacht, wenn ich komm! Sie sieht mich kommen und lacht nicht mehr. Aha! Sie sieht mich nur groß an, wie ich so näherkomm – groß und ernst.

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Hast du Angst vor mir? Paß nur auf, jetzt komme ich! Ich hab schon die letzten drei Stufen, und nun stehe ich vor der Kasse. Sie blickt hinab, ich seh nur ihr Haar. Es ist weich und zart. Auf dem Pult liegt ein Blatt Papier. Sie hat zuvor nichts geschrieben, sondern nur so herumgekritzelt. Allerhand Linien – Und ich sage: „Eine Eintrittskarte“ – Es klang fast streng, und es tat mir leid. „Bitte“, sagt sie. Zittert ihre Hand? Oder zittere ich? Sie wechselt mein Geld. Ich hatte noch niemand so schön wechseln gesehen. Die Linie, die Linie – muß ich wieder denken. Und dann betrete ich das verwunschene Schloß. Zuerst wirds ganz finster, man muß sich vorwärtstappen – rechts und links. Und während ich so tappe, muß ich an ihre Stimme denken, wie sie vorhin „Bitte“ gesagt hat. Mir ists, als hätte ich diese Stimme schon gehört, irgendwo, irgendwann – vor einer halben Ewigkeit. Und plötzlich fällts mir auf, daß ich es nicht weiß, was meine Mutter für eine Stimme hatte. Überhaupt kann ich mich an meine Mutter nicht mehr erinnern. Sie starb ja gleich nach dem Weltkrieg, an der Grippe, noch wie ich ganz klein war – Oft, wenn ich allein auf Posten stehe, gehts mir durch den Sinn, wie eine alte Wolke, besonders in der Nacht. Was gewesen ist, greift nach mir. Dann seh ich mich zwischen Tisch und Bett. Ich bin drei Jahr, nicht älter – Das Fenster ist hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt. Und wenn ich hinausschau, dann seh ich noch nichts. Oder hab ichs inzwischen vergessen? Heut weiß ich nur, es zog zum Fenster herein – Doch im Ofen brannte kein Feuer. Nach einem Krieg gibts halt oft keine Kohlen. „Es ist kalt“, das ist meine erste Erinnerung. Mein erstes Gefühl, das mir blieb. Komisch, daß es mir noch niemals eingefallen ist, daß ichs nicht weiß, was meine Mutter für eine Stimme gehabt hat – Bumm! Jetzt wär ich aber fast gestürzt! Da ist ja eine Versenkung, aber nur an der linken Seite, sodaß man mit dem linken Bein tiefer gehen muß als mit dem rechten. Zu blöd! Endlich hab ich das linke Bein wieder auf gleicher Höh, da fall ich mit dem rechten hinab. Also das ist wirklich zu blöd! Ein feines Vergnügen! Jetzt sitzt sie draußen an ihrer Kasse und lacht, daß ich drin bin. Trotzdem hat sie einen schönen Mund – wenn mich nicht alles täuscht. Wie sieht sie eigentlich aus? Komisch, ich hab sie doch lange genug betrachtet und weiß es noch immer nicht genau – Warum hab ichs also gefressen, das Eis?

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Ich bin ein Tepp. Doch halt! Sie hatte ja den Kopf fast immer gesenkt, weil sie ihre Linien gekritzelt hat, um mich nicht sehen zu müssen – Jaja, diese Linien! Die sind schuld daran, daß ich jetzt da herumstolpern muß – über laufende Teppiche, wackelnde Brücken, an Särgen vorbei, in denen enthauptete Wachsfiguren liegen, umgeben von Gespenstern, Gehenkten, Geräderten – Aber mich schreckt nichts. Da tät ich mir aufrichtig leid. Ich biege um eine Ecke und begegne einem Skelett. Ich betrachte es aus der Nähe. Es dürfte ein Originalskelett sein, und so sehen wir aus, wenns vorbei ist mit unserem Zauber. Und mit den Linien – Ich reiche dem Knochen die Hand. Hinter der nächsten Tür steh ich wieder im Freien. Neben der Kasse. Aber meine Linie sitzt nicht mehr dort. Sondern eine alte Hex. Ich starre sie verdutzt an, und sie kommt auf meine Gedanken. „Meine Tochter ist fort“, sagt sie fast spöttisch. „Wohin?“ frage ich mechanisch. „Ins Kino.“ Ich salutiere leicht und gehe auch fort. Kehrt euch! An den Buden vorbei bis in die innere Stadt – Rasch oder langsam, ich weiß es nicht mehr. Plötzlich gibts mir einen Stich. Ich halte. „Warum hast du die Alte nicht gefragt, in welches Kino ihre Tochter gegangen ist? Du hast doch noch Zeit, Idiot!“ Ich eile zurück. Aber das verwunschene Schloß ist bereits zu, und es ist niemand mehr vorhanden. Ja, heute ists schon zu spät – Doch wartet nur, ich komme wieder! Am nächsten Sonntag! Dann komm ich gleich her, sofort um vierzehn Uhr – Dann gibts nichts zu lachen! Auf Wiedersehen, ihr Linien – – Ich muß immer lächeln, was ist mir denn nur? Der Mond scheint, die Luft ist lau, und die Katzen konzertieren. Und als ich über den Kasernenhof gehe, seh ichs vor mir, das verwunschene Schloß mit seinen Giebeln und Türmen und Basteien. Die Fenster sind vergittert, und die Drachen und Teufel, sie schauen heraus.

DER HAUPTMANN Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie gewaltig sie gewesen ist.

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Unerwartet werfen oft die größten Ereignisse ihre Schatten auf uns, aber sie treffen uns nicht unvorbereitet. Es gibt keinen Schatten der Welt, mit dem wir nicht immer rechnen würden. Wir fürchten uns nicht! In der Nacht zum Freitag gabs plötzlich Alarm. Wir fuhren aus dem Schlaf empor und traten an mit Sack und Pack. Ausgerichtet, Mann für Mann. Es war drei Uhr früh. Langsam schritt uns der Hauptmann ab – Langsamer als sonst. Er sah noch einmal nach, ob alles stimmt – denn nun gibts keine Manöver mehr. Rascher, als wir träumten, kam der Ernst. Die Nacht ist noch tief, und die große Minute naht – Bald gehts los. Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleiner Staat und sein Name wird bald der Geschichte angehören. Ein lebensunfähiges Gebilde. Beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt – Ein lächerlicher Standpunkt. Jetzt steht er vor mir, der Hauptmann, und als er mich anschaut, muß ich unwillkürlich denken: Wenn ich ihren Namen wüßte, würd ich ihr schreiben, direkt ins verwunschene Schloß. „Wertes Fräulein“, würde ich schreiben, „ich wär am nächsten Sonntag gern gekommen, aber leider bin ich pflichtlich verhindert. Gestern war Donnerstag, und heut ist schon Freitag, ich muß überraschend weg in einer dringenden Angelegenheit, von der aber niemand was wissen darf, denn darauf steht der Tod. Wann ich wiederkommen werd, das weiß ich noch nicht. Aber Sie werden immer meine Linie bleiben –“ Ich muß leise lächeln, und der Hauptmann stutzt einen Augenblick. „Was gibts?“ fragt er. „Melde gehorsamst, nichts.“ Jetzt steht er schon vor meinem Nebenmann. Ob der auch eine Linie hat? geht es mir plötzlich durch den Sinn – Egal! Vorwärts! Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. Es geht los. Endlich! – Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind. Wir zwinkern uns zu. Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur. Wir zwinkern uns zu. Es gibt ein Land, das werden wir uns holen. Ein kleines Land und wir sind zehnmal so groß – drum immer nur frisch voran! Wer wagt, gewinnt – besonders mit einer erdrückenden Übermacht. Und besonders, wenn er überraschend zuschlägt. Nur gleich auf den Kopf – ohne jede Kriegserklärung! Nur keine verstaubten Formalitäten!

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Wir säubern, wir säubern – – Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die lächerliche Grenze dieses unmöglichen Staatswesens überschritten. Die paar Zöllner waren rasch entwaffnet – Morgen sinds drei Wochen her, aber die Hauptstadt ist schon unser. Heut sind wir die Herren! Im Tal brennen die Dörfer. Sie stehen in Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt. Bravo, Flieger! Obwohl ich euch persönlich nicht riechen kann, muß mans doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet! Nichts ist euch entgangen, auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen angepaßt hat. Alles habt ihr erledigt – bravo, Flieger! Bravo! Schießt das Zeug zusammen, in Schutt und Asche damit, bis es nichts mehr gibt, nur uns! Denn wir sind wir. Vorwärts! Frohen Mutes folgen wir euren Spuren – – Wir marschieren über ein hohes Plateau. Um uns gähnen Abgründe, und drunten rauschen die Wasser. Es ist ein milder Abend mit weißen Wölklein an einem rosa Horizont. Vor zwei Stunden nahmen wir fünf Zivilisten fest, die wir mit langen Messern angetroffen haben. Wir werden sie hängen, die Kugel ist zu schad für solch hinterlistiges Gelichter. Aber der Berg ist kahl und ganz aus Fels, nirgends ein Busch. Wir führen sie mit uns, unsere Gefangenen, und warten auf den nächsten Baum. Sie sind aneinandergefesselt, alle fünf an einen Strick. Der älteste ist zirka sechzig, der jüngste dürfte so siebzehn sein. Ihre Sprache ist häßlich, wir verstehen kein Wort. Ihre Häuser sind niedrig, eng und schmutzig. Sie waschen sich nie und stinken aus dem Mund. Aber ihre Berge sind voll Erz, und die Erde ist fett. Ansonsten ist jedoch alles Essig. Selbst ihre Hunde taugen einen Dreck. Räudig und verlaust streunen sie durch die Ruinen. Keiner kann die Pfote geben. Um uns gähnen Abgründe, und drunten rauschen die Wasser. Zwei Krähen fliegen vorbei. Wir ziehen über das hohe Plateau. Die Krähen kommen wieder – Es war ein milder Abend, und jetzt kommt die Nacht. Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen. Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen, und sie werden den Nagel auf den Kopf treffen, wenn sie loben und preisen, daß wir bescheidene Helden waren. Denn auch von uns biß ja so mancher ins grüne Gras. Aber nicht mal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz auf ihr Opfer sein zu können. Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit. Nur unerlaubt sickerte es durch, das Blut –

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In der fünften Woche unseres Vormarsches fiel unser Hauptmann auf dem Felde der Ehre. Er fiel unter eigentlich eigenartigen Umständen. Überhaupt ist der Hauptmann ein anderer Mensch geworden, seit wir die Grenze überschritten. Er war wie ausgewechselt. Verwandelt ganz und gar. Wir fragten uns bereits, ob er nicht krank ist, ob ihn nicht ein Leiden bedrückt, das er heimlich verschleiert. Immer grauer wurd sein Gesicht, als schmerzte ihn jeder Schritt. Und am 5. Juni kam das Ende. Ohne Arg näherten wir uns einer Ruine, aus der plötzlich eine Salve über uns dahinkrachte. Wir werfen uns nieder und suchen Deckung. Nein, das war keine Salve – Das war ein Maschinengewehr. Wir kennen die Musik. Es steckt vor uns in einer Scheune. Ringsum ist alles verbrannt, das ganze Dorf – Wir warten. Da wird drüben eine Gestalt sichtbar, sie geht durch das verkohlte Haus und scheint etwas zu suchen. Einer nimmt sie aufs Korn und drückt ab – Die Gestalt schreit auf und fällt. Es ist eine Frau. Jetzt liegt sie da. Ihr Haar ist weich und zart, geht es mir plötzlich durch den Sinn, und einen winzigen Augenblick lang muß ich an das verwunschene Schloß denken. Es fiel mir wieder ein. Und nun geschah etwas derart Unerwartetes, daß es uns allen die Sprache verschlug vor Verwunderung. Der Hauptmann hatte sich erhoben und ging langsam auf die Frau zu – Ganz aufrecht und so sonderbar sicher. Oder geht er der Scheune entgegen? Er geht, er geht – Sie werden ihn ja erschießen – er geht ja in seinen sicheren Tod! Ist er wahnsinnig geworden?! In der Scheune steckt ein Maschinengewehr – Was will er denn?! Er geht weiter. Wir schreien plötzlich alle: „Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!“ Es klingt, als hätten wir Angst – Jawohl, wir fürchten uns und schreien – Doch er geht ruhig weiter. Er hört uns nicht. Da spring ich auf und laufe ihm nach – Ich weiß es selber nicht, wieso ich dazu kam, daß ich die Deckung verließ – Aber ich will ihn zurückreißen, ich muß ihn zurückreißen! Da gehts los – das Maschinengewehr. Ich sehe, wie der Hauptmann wankt, sinkt – ganz ergeben – Und ich fühle einen brennenden Schmerz am Arm – oder wars das Herz?

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Ich werfe mich zu Boden und benutze den Hauptmann als Deckung. Er ist tot. Da seh ich in seiner Hand was Weißes – Es ist ein Brief. Ich nehm ihn aus seiner Hand und hör es noch schießen – aber nun schützt mich mein Hauptmann. „An meine Frau“, steht auf dem Brief. Ich stecke ihn ein, und dann weiß ich nichts mehr.

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DER BETTLER

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Es war nicht das Herz, es war nur der Arm, aber leider der Knochen. Er wurde zersplittert. Man holte die Kugel heraus, und allmählich wuchsen die Splitter wieder zusammen. Lange Wochen lag ich im Lazarett, zuerst noch im Feindesland, dann wurd ich in die Heimat transportiert. Denn der Schuß war doch komplizierter, als man ursprünglich annahm, und ich hatte hohes Fieber. Hoffentlich werd ich nur meinen Arm wieder richtig bewegen können, denn sonst müßt man ja das Militär verlassen, und was würd ich dann beginnen? Ich habe ja nichts. Keinen Groschen. Der Dank des Vaterlandes wär mir zwar gewiß, dessen bin ich überzeugt, aber die Invalidenrenten sind minimal – Davon wird keiner satt. Und wo bleiben die Kleider, die Schuhe? Vergangene Zeiten, an die ich längst nimmer dachte, tauchen wieder auf – Der Schnee beginnt zu treiben. Ich dachte, ich hätt euch vergessen, ihr Tage meiner aussichtslosen Jugend – Doch die Suppe, die ich löffelte, dampft, und die Heiligen auf dem Kirchendach schauen mich wieder an. Laßt mich in Ruh! Aber sie weichen nicht. Sie ziehen an mir vorbei, stumm und schadenfroh, unter einem harten Himmel. Da kommen die kleinen Anzeigen in den großen Zeitungen, die verlassenen Badehütten, der Kriminaler und das dünne Eis – Es ist eine Schand! Ich friere. Es schneit auf das Grab meiner Zukunft – „Er fiebert noch immer“, höre ich die Stimme einer Frau. Das ist die dicke Schwester, die mich pflegt. Ich seh sie gern, weil sie meist ein bißchen lächelt, als wär sie der zufriedenste Mensch. Ich schlage die Augen auf und erblicke neben der Dicken einen Offizier. Er betrachtet mich. Ich kenne ihn nicht. Es ist ein Oberleutnant, und er spricht mich an. Ich höre, daß ich für die tollkühne Tapferkeit, mit der ich meinen Hauptmann retten wollte, belobt und befördert wurde. Und er gibt mir einen Stern, meinen dritten silbernen Stern. Er erkundigt sich, ob ich arge Schmerzen hätte, aber er wartet meine Antwort nicht ab, sondern fährt gleich fort, er wäre überzeugt, daß mein Arm wieder richtig

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werden, und daß mir eine glänzende Zukunft bevorstehen würde. Vielleicht winke mir sogar ein goldener Stern – Und plötzlich tritt er ganz dicht an mich heran und spricht sehr leise, damit ihn die Schwester nicht hört. Ich solle es nur nie vergessen, sagt er, daß ich nicht als regulärer Soldat, sondern nur als ein sogenannter Freiwilliger mitgekämpft hätte. Im Feindesland tobe nämlich nach offizieller Lesart kein Krieg, sondern eine abscheuliche Revolution, und es stünden unsererseits keinerlei militärische Einheiten drüben, sondern wie gesagt nur freiwillige Kämpfer auf Seite aller Aufbauwilligen gegen organisiertes Untermenschentum – „Ich weiß es schon, Herr Oberleutnant“, sage ich. „Ich wollt Sie nur erinnern“, meint er und zieht sich wieder etwas zurück von mir. „Herr Oberleutnant!“ rufe ich. „Wie stehts denn eigentlich mit uns?“ Er grinst. „Ausgezeichnet! Eigentlich habt ihr braven Freiwilligen bereits gesiegt, es wird nur noch gesäubert.“ Aha, gesäubert – Auch ich muß grinsen. Der Offizier geht, und die Schwester richtet mein Polster. Dann bringt sie Milch und Brot. Draußen singt ein Vogel. Schau-schau, wir haben also schon gesiegt. Jaja, schlau muß man sein, wenn man seinem Vaterlande nützlich dienen will. Schlau und nicht nur tapfer. Jetzt wird dann irgendeine Scheinregierung eingesetzt, bestochene Kreaturen, und das Land, das wir holen wollten, fällt uns in den Schoß – geschickt gemacht! Ich freue mich. Wenn nur mein Arm wieder richtig wird! Was würd ich nicht darum geben – Ich glaub: alles! Du hast doch nichts, geht es mir wieder durch den Sinn. Was kannst du also für deinen Arm geben? Zehn Jahre meines Lebens. Lächerlich! Was weißt du denn, wie lange du lebst? Lauter leere Versprechungen! Und ich denke, wenn ich noch daran glauben würde, was man mir in der Schule erzählt hat, dann würd ich jetzt sagen: Ich verzicht auf meine himmlische Seligkeit und laß mich gern in der Hölle braten. Aber leider gibts keine Engel und auch keine Teufel – Halt! durchzuckt es mich. Was denkst du da? „Keine Teufel“? Ich muß lächeln. Denn nun seh ichs wieder vor mir, das verwunschene Schloß. Die Fenster sind vergittert, und die Drachen und Teufel, sie schauen heraus – Ich muß immer lächeln. Wenn ich auf sein werd – ja, dann geh ich mal wieder hin. Es kann nicht weit sein, denn dieses Krankenhaus liegt auch in der Nähe des Hafens, wo die fremden Schiffe liegen mit den gelben und schwarzen Matrosen. Vielleicht, wenn ich aus dem Fenster schauen könnt, daß ichs sogar erblicken würd, mein verwunschenes Schloß. Aber das Fenster ist hoch, und ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt, als wär ich wieder ganz klein.

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Jaja, du sitzt noch immer auf dem Boden und bist drei Jahr, nicht älter. „Es ist kalt“, das bleibt deine erste Erinnerung – Wenn ich nur meinen Arm wieder hätt! Oh, wenn ich ihn nur wieder hätt! Man merkts erst, was man besessen, wenn mans verloren hat! Hoffentlich find ich ihn wieder, meinen Arm – Ich will ihn überall suchen, ich will die Splitter alle zusammenklauben und kunstvoll zusammensetzen, als wärs ein Kinderspiel – „Er fiebert noch immer“, höre ich die Stimme meiner Schwester. Ich möcht sie sehen – Neben ihr steht der Arzt. Er betrachtet mich nur und sagt: „Hm.“ Dann geht er wieder weiter – In meinem Saal liegen noch siebzehn andere. Lauter verwundete Freiwillige. Ausgerichtet, Mann für Mann. Manche dürfen schon aufstehen und spielen Karten. Oder Schach. Einige sind bereits fast wieder ganz gesund. Nur einem fehlt ein Bein. Der wird nimmer. Zwei sind schon gestorben. Der erste vor zehn Tagen, der zweite heut nacht. Ich wachte plötzlich auf und sah, daß auf seinem Nachtkästchen Kerzen brennen. In der Mitte stand ein Kruzifix. Es war sehr still. Schlafen denn alle? Siehts denn keiner, nur ich? Nein, alle hatten die Augen offen, aber sie rührten sich nicht. Es wurd immer stiller. Die Schwester stand vor dem Nachtkästchen und betete. Und plötzlich mußt ich denken: Jetzt steht dieser Freiwillige vor seinem höchsten Richter. So hab ichs einst gelernt. Und die Schwester betet für ihn. Sie bittet für seine unsterbliche Seele – Was hat er denn angestellt? Die dicke Schwester sagt zum Richter: „Bitte, sei ihm gnädig“ – Was hat er denn verbrochen? Warum soll er denn gnädig sein, dein höchster Richter? Dieser brave Mann fiel doch für sein Vaterland, was will man denn noch von ihm?! Er gab sein Leben, das genügt! Denn was einer ansonsten privat sündigt, das wird alles ausradiert, wenn er für das ewige Leben seines Volkskörpers stirbt – merk dir das, Schwester! Du betest noch immer? He, bet lieber für mich, damit mein Arm wieder richtig wird, das wär gescheiter! Wart nur, du Dicke, ich werds dir schon noch auseinandersetzen bei passender Gelegenheit! – Und die Gelegenheit kam. Nach wenigen Tagen. Die Dicke brachte Milch und Brot. Der Arm ist nicht besser geworden. „Schwester“, sage ich, „betens doch auch mal für mich, damit ich gesund werd.“

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Sie horcht auf und sieht mich scharf an, aber nur einen Augenblick lang. Sagte ichs nicht fromm genug? Es war ja auch nicht ernst gemeint, denn ich wollte sie nur in Verlegenheit bringen – Warum? Aus Bosheit. Ich glaube nicht daran, daß einem die Beterei was nützt, aber ich befleißigte mich, ernst dreinzuschauen. „Ich bete immer für alle meine Kranken“, sagt sie, und jetzt lächelt sie wieder wie immer: „Auch Sie laß ich nicht aus.“ „Und glauben Sie, daß ich gesund werde?“ „Das weiß man nicht.“ Ach so, denke ich und werde immer boshafter. „Durch das Gebet kann man Gott nur bitten“, redet die Schwester weiter, „aber ob Er einen erhört, dafür kann niemand gutstehen, weil man ja als einfacher Sterblicher die Zusammenhänge nicht kennt.“ „Was für Zusammenhänge?“ „Gott weiß alles, hört alles und läßt keinen einzigen aus den Augen, Tag und Nacht, denn Er hat mit jedem etwas vor.“ „Mit jedem einzelnen?“ Sie sieht mich groß an. „Natürlich“, sagt sie, „und die Hauptsache ist, daß man Seine Gebote befolgt. Sie haben sie vergessen – nicht?“ Seine Gebote? Ich starre sie an. Sie fragt mich so mild, als würd sie es gar nicht wundern. Da steht sie dick und sicher vor mir, und ihre Zufriedenheit wird mir unangenehm. Sie verwirrt mich. „Natürlich kenne ich seine Gebote“, sage ich und muß leicht grinsen, „zum Beispiel: liebe deine Feinde“ – „Ja“, fällt sie mir ins Wort und wird plötzlich sehr ernst, fast streng. „Liebe deine Feinde, aber hasse den Irrtum.“ Den Irrtum? Ich horche auf. Jetzt lächelt sie wieder, als hätt sie nichts gesagt. Sie nickt mir nur zu – freundlich, sehr freundlich – – Der Arzt kommt. Er tritt an mein Bett. Und ich frage ihn: „Herr Doktor, wie stehts mit meinem Arm?“ Er schneidet ein saures Gesicht und gibt keine Antwort. Dann geht er wieder weiter – Ich seh ihm nach und bekomme plötzlich Angst, schreckliche Angst. Die Schwester steht noch neben mir. Sie beobachtet mich. Ich möchte weinen, aber ich beiß nur die Zähne zusammen. Ich schließ die Augen, und es flimmert vor mir. Alles ist durcheinander – Ich werd immer schwächer. Es flimmert, es flimmert! Mir scheint, mein Arm wird nimmer – Das Durcheinander kreist um mein Bett, und aus dem Kreise tritt ein Hügel.

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Ein sanfter Hügel. Auf dem Hügel steht ein Engel. Er wartet auf mich und hält meinen Arm in der linken Hand. In der rechten trägt er ein Schwert. Die Blumen blühen, aber es ist bitter kalt. Und ich muß denken, ich werde Gott fragen, warum es so kalt ist. Denn man kann ja auch mit Gott reden, fällt es mir ein. Ich erinner mich immer deutlicher, daß man ihm etwas versprechen soll, damit er einem hilft – Richtig, damit er einem hilft! Man muß ihm etwas geben, irgendetwas, und wärs das kleinste, er ist für alles dankbar – Als wär er ein Bettler. Schenk ihm etwas – Schenk dem ersten Bettler, der dir begegnet, wenn du wieder ausgehen darfst – schenk ihm einen Taler. Nein, nicht einen – drei, vier, fünf! Jawohl, fünf Taler! Für fünf Taler kann man sich schon allerhand kaufen, wenn man sich nach der vorhandenen Decke streckt – Fünf Taler ist viel für mich. Ich will sie dem lieben Gott geben, damit mir der Engel meinen Arm zurückgibt. Es flimmert, es flimmert – – – Die Tage vergehen und nehmen die Nächte mit sich. Wenn der Arzt kommt, schneidet er keine Grimassen mehr. Der Arm wird besser. Heut kann ich ihn schon bewegen, natürlich nur sacht – Aber es wird besser! Besser, besser! Wenn er mir nicht so weh tun würd, wollt ich mit ihm die ganze Welt umarmen, so rosig scheint wieder meine Zukunft! Bald werd ich das Bett verlassen, wenn alles ohne Rückfall vergeht. Es geht, es geht – Die Schwester bringt meine Uniform. Heut darf ich zum erstenmal an die Luft, wenn auch nur für eine halbe Stund. Ich liebe meine Uniform. Wo warst du solang? „Ich hing in einem Schrank“, sagt die Uniform, „neben einer alten Hose und einem hellen Paletot – lauter Zivilisten, brr!“ Ich zieh mich an. „Das ist aber allerhand“, wundert sich die Uniform, „wie dünn du geworden bist! Ich schlotter ja direkt um dich herum! Fesch seh ich nicht aus, das muß man dir lassen!“ „Tröste dich“, beruhige ich sie, „ich hab dir auch etwas mitgebracht.“ Und ich zeig ihr meinen dritten silbernen Stern. Da strahlte sie natürlich, und es war ihr egal, ob sie schlottert. Die Schwester nähte ihn an, den Stern – Ich betrachte ihn im Spiegel. In der Tasche steckt was Weißes –

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Was ist das für ein Brief? „An meine Frau“, steht da droben. Ach, der Brief des Hauptmanns! „Wir hätten ihn schon expediert“, höre ich die Schwester, „aber wir wußtens nicht, wem wir den Brief schicken sollten, Sie sind ja unverheiratet“ – Ach so, die Dicke meint, diesen Brief hätte ich geschrieben – Nein-nein, ich bin allein. Meine Mutter ist tot, und mit meinem Vater hab ich nichts mehr zu tun. Der hinkt jetzt sicher in seiner Wirtschaft herum, und das soll er auch. Ich stecke den Brief ein und geh an die Luft. Ich habe niemand. Warum sagt ichs nur nicht, daß der Brief der Witwe meines Hauptmanns gehört? Wahrscheinlich, weil ich ihn ihr persönlich überbringen will. Das schickt sich nämlich so. Ich weiß, wo sie ungefähr wohnt. Wenn ich länger ausbleiben darf, werde ich sie besuchen, denn sie wohnt außerhalb, und vielleicht muß ich dort übernachten. Hoffentlich ist es ihr schon bekannt, daß ihr Gatte fürs Vaterland fiel – Und plötzlich fällts mir wieder ein: warum ging denn ihr Gatte seinerzeit auf jene Scheune los? Wollt er denn das Maschinengewehr allein erobern? Er mußt es doch wissen, daß er in den sicheren Tod geht, es war doch völlig ohne Sinn – Was hat er denn nur bezwecken wollen? Was bildete er sich eigentlich ein? Ich biege um eine Ecke. Da hockt ein Bettler – Der erste Bettler, durchzuckt es mich. Ich greife in die Tasche, um ihm die versprochenen fünf Taler zu geben. Der Bettler nimmt von mir scheinbar keine Notiz. Ist er blind? Oder trägt er nur eine blaue Brille, weil er mich betrügen möcht? Fünf Taler sind viel Geld. Vielleicht sieht er mich genau – Vielleicht hat der Bettler mehr als ich. Gib ihm deine Taler – Nein, ich geb sie dir nicht und geh an dir vorbei. Ich bin ja gestreckt worden, mein Herr, massiert, gefoltert, und diese Prozeduren gaben mir meinen Arm wieder zurück – verstanden? Es war die Kunst der Ärzte, und mein Gelübde war eine Ausgeburt der Schwäche. Ich fieberte doch in einer Tour und war schon total verzweifelt, als ich dir fünf Taler versprach – Ja, ich war nicht bei mir. Aber jetzt bin ich wieder der alte!

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IM HAUSE DES GEHENKTEN

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Gott weiß alles, sagte die Schwester. Er läßt keinen aus den Augen, Tag und Nacht – Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein. Immer nur jeden einzelnen beobachten, wo der einzelne längst keine Rolle mehr spielt – ein undankbarer Beruf. Überhaupt wird der liebe Gott immer überflüssiger. Wahrscheinlich gibts ihn überhaupt nicht mehr, denn er läßt sich ja alles gefallen und tut nichts dagegen. Oder scheint es nur so? Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus, und wer kann es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. Wer hätt sichs zum Beispiel zu ahnen getraut, daß ich einst in diesem Leben mit der Witwe meines Hauptmanns in nähere Beziehungen treten werde? In sogenannte nähere Beziehungen – und wenn auch nur für eine Nacht. Wer hätte diese Nacht geahnt? Sie war mir selbst so unvorstellbar, daß ich hinterher anfing, darüber nachzudenken, was es auf unserer Welt für einfache Gesetze gibt. Gesetze, die keinen Witz verstehen, sodaß man sich manchmal schon fürchten könnt. Vielleicht gibts doch ein höheres Wesen. Wenn mir einer vorher gesagt hätt, du wirst mit der Witwe deines Hauptmanns schlafen, hätt ich gesagt: Du Phantast! Ich weiß es ja auch gar nicht, ob ich es eigentlich wollte. Ich wußte nur, sie hatte lange Beine. Sie muß größer sein, als der Hauptmann war. Jaja, manchmal bin ich imstand und liebe die Beine der Frauen, denn sie hören für mich nicht auf. Und sie können über alles gehen, über alles hinweg, so leicht, als wär alles nur nichts. Ich habe einmal ein Buch gelesen über die Sprache der Beine. Es war ein Magazin, und ich trugs eine Weile mit mir herum. Der Stabsfeldwebel fand es und nahms mit nach Haus. Seine Gattin verbrannte es im Herd. „Eine Schweinerei“, sagte sie. Aber das war keine Schweinerei, sondern es waren stramme Weiber drin abphotographiert, die wenig anhatten oder fast nichts. Das Titelblatt bestand aus einem Brustbild: die Dame mit dem Hermelin. Und an dieses Brustbild mußte ich denken, als ich die Witwe meines Hauptmanns zum erstenmal sah. Sie trug einen Morgenrock, obwohls schon Nachmittag war. Sie wohnt im ersten Stock einer kleinen Villa. Unter ihr wohnt ein pensionierter Prokurist, und über ihr ist schon das Dach. Die Villa steht weit draußen am letzten Rand der Stadt. Es ist ein neuer Vorort. Vor fünf Jahren war da noch nichts zu sehen – kein Licht, kein Pflaster, keine Kanalisation, nur Gras. Aber wo einst das Vieh weidete, stehen heut schmucke Einfamilienhäuschen, denn die Welt dreht sich und das Leben läßt sich nicht lumpen. Wir entwickeln uns immer höher hinaus. Als ich den Vorortzug verließ, fühlte ich plötzlich, daß es schon Herbst geworden war. Drinnen in der Stadt konnte man sich noch täuschen, aber hier draußen schien

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die Sonne so traurig, als hätte sie verweinte Augen. Ringsum sammelten sich die Nebel, und lautlos fielen die gelben Blätter. Ein alter Mann kehrte sie langsam zusammen – Was geschieht mit den gelben Blättern? Herr Hauptmann, wo bist du jetzt? Ich darf gar nicht an dich denken, sonst fallen die Blätter noch stiller. Als ich deine Witwe zum erstenmal sah, war es kurz nach sechs Uhr. Mein Zug ist zwar schon um 17 Uhr 9 auf die Minute pünktlich eingelaufen, aber ich ging nicht gleich zu ihr hin, sondern trank noch im Bahnhofsbuffet ein Glas Bier. Denn, offen gestanden, war es mir peinlich, sie zu sehen. Vielleicht wußte sie es ja noch gar nicht, daß es dich nicht mehr gibt, und dann hätt ich es ihr mitteilen müssen, sie hätt mich entsetzt angestarrt und ich hätt Trostworte finden müssen – Nein, das kann ich nicht, das liegt mir nicht, ich mag keine heulenden Weiber! Aber meine Angst war umsonst. Als ich nämlich zu stottern begann, unterbrach sie mich sogleich, und ich hörte, daß sie es bereits seit Monaten weiß, daß es dich nicht mehr gibt. Ein Oberstleutnant hätt es ihr schonend übermittelt, daß du als Freiwilliger gefallen wärst – Sie lächelte bei dem Worte „Freiwilliger“ etwas bitter, aber ich bemerkte es dennoch, daß ihr Hauptschmerz bereits überwunden war. Ich trank also mein Bier umsonst. Es war ein elendes Bier. Ja, damals hätt ichs noch nicht gedacht, daß ich mit ihr schlafen werde, und zwar in selbiger Nacht. Wenn mir das damals einer prophezeit hätt, dem hätt ich mein Bier ins Gesicht geschüttet. Nicht nur, weil ich es für treulos gefunden hätte, mit der Frau meines Hauptmanns etwas anzufangen – doch halt! Eigentlich hab ich ihn doch gar nicht betrogen, denn er weilt ja nicht mehr unter uns Lebenden. Und außerdem ist das Fleisch schwach, das ist ein alter Schnee. Als ich das dumme Bier trank, betrachtete ich immer wieder seinen Brief mit der Aufschrift: „An meine Frau“ – Komisch, daß die Schwester dachte, ich hätt eine Frau. Das wär ein Witz, wenn ich verheiratet wär. Ich glaub, ich taug nicht recht dazu. Es geht mir in diesem Punkt genau wie dir, mein Hauptmann. Auch du warst unglücklich in der Ehe – Still, wir habens alle gewußt! Drum wohntest du auch bei uns in der Kaserne und deine Gattin hier draußen in der entgegengesetzten Richtung. Du sahst sie nur sonn- und feiertags. Ihr verstandet euch nicht, das war bekannt. Wir hätten es uns auch gar nicht vorstellen können, wie du mit einem Weibe auskommst, so sehr gehörtest du zu uns. Die Kaserne war auch deine alleinige Heimat, glaub es mir. Wenn du unsere Front abschrittest, dann wußten wirs alle, daß wir deine Kinder sind. Was war daneben die Liebe eines Weibes? Ein schwacher Schimmer. Und trotzdem: wenn man längere Zeit kein Weib sein eigen nannte, dann kommen einem nachts die Träume, in denen man es nimmer weiß, ob man ein Herr ist oder ein Fräulein – Wie gesagt, es war kurz nach sechs Uhr. Wir saßen im Salon, sie und ich.

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Ihr Morgenrock hatte einen tiefen Ausschnitt, und auf dem Tischchen lagen Zigaretten. Sie nahm sich eine davon und rauchte; und gab mir auch eine davon, und ich rauchte auch. Sie trug schwarze seidene Strümpfe, und daran konnte man es auch erkennen, daß sie es bereits wußte, daß es dich nicht mehr gibt. An der Wand hing ihr Bild, du kennst es. Ein Ölgemälde. Mit einem Hermelin. Vielleicht wars auch dieser Hermelin, daß ich unwillkürlich Vergleiche anstellte mit dem Brustbild im Magazin. Aber dies sagte ich ihr erst später. Doch glaubs mir, bitte – nicht ich wars, der begann, sondern sie. Sie war der aktive Teil. Sie umarmte mich und sagte: Warum umarmst du mich? Sie knöpfte mir den Waffenrock auf und sagte: Was machst du da? Sie gab mir einen Kuß und sagte: Laß mich! Sie preßte mich an sich und sagte: Geh von mir – Aber dies alles tat sie erst nach dem Abendessen. Sie lud mich nämlich dazu ein, weil mein nächster Zug erst um 9 Uhr 12 zurückfuhr, jedoch damals dachten wir noch nicht weiter. Ich wenigstens nicht. Sie vielleicht schon. Jaja, wir Männer fallen im Feld, und die Weiber fallen zu Haus. Wir Männer kommen unter die Erde, die Weiber stehen wieder auf und ziehen sich um. Auch deine Gattin, mein lieber Hauptmann! Auch die Deine! Doch warum erzähl ich dir das alles? Warum? Warum denk ich denn immer an dich? Es klingt ja schon fast, als würd ich mich verteidigen wollen – Nein, das hab ich weiß Gott nicht nötig! Ich tat doch nichts Böses, und sie tat auch nichts dergleichen – und du, du bist tot! Verschwind! Überhaupt ist manches Band zwischen dir und mir zerrissen, seit ich es weiß, was du deiner Frau geschrieben hast, seit ichs mit eigenen Augen las! Warum beschimpfst du mich in deinem Briefe? Was tat ich dir denn? Wollt ich dich denn nicht retten? Warum nennst du mich einen ehrlosen Verbrecher? Hauptmann, was soll das heißen?! Ich kann nur annehmen, daß du krank geworden warst, als du diesen Brief geschrieben hast – und so erzählt ichs auch deiner Witwe, daß du anscheinend nicht mehr bei Sinnen gewesen bist, deine Nerven hätten dich höchstwahrscheinlich verlassen, und deine verwirrte Phantasie hätt dir üble Streiche gespielt. Sie wurde immer bleicher, als sie deine Zeilen las, und dann wurde sie rot, dunkelrot. Dabei ließ sie den Mund offen wie ein maßlos erstauntes Kind. Und dann, dann sah sie mich an – nein, nicht erstaunt, sondern entsetzt. Ich werd diesen Blick nie vergessen. Sie hat hellgraue Augen, du weißt es. Sie starrten mich an, diese Augen, aber es war mir dabei, als dachte sie an nichts, oder als lief ihr alles durch den Kopf. Sie brachte keinen Ton hervor, und der Brief in ihren Händen begann zu zittern. Es wurde mir allmählich unangenehm, und ich wollt mich bereits erkundigen, was du geschrieben hättest, aber sie kam mir zuvor. „Entsetzlich“, sagte sie, und zwar sehr leise.

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Dann stand sie auf und ging hin und her. Was hat sie denn? Plötzlich hält sie dicht vor mir und läßt mich nicht aus den Augen. „Und er – er gab Ihnen diesen Brief?“ „Ja, das heißt: ich nahm ihn ihm aus der Hand“ – „Still!“ unterbricht sie mich schreiend. „Sprechen Sie nicht weiter, Sie Unmensch! Das ist ja zu grauenhaft – kein Wort, kein Wort!“ Sie wirft sich auf das Sofa und heult. Ich kenne mich nicht mehr aus, und mir fällt das Wort hysterisch ein. Was tun? Ich weiß es nicht und lasse sie heulen. Sie weint immer leiser, und langsam richtet sie sich wieder auf, trocknet ihre Tränen mit einem kleinen Taschentuch und schneuzt sich verstohlen. Dann fängt sie wieder mit mir an: „Hören Sie, Sie müssen mir alles erzählen, alles, alles – jetzt ja“ – Warum jetzt? „Also“, fährt sie fort und versucht sich zu beherrschen, „Sie nahmen ihm den Brief aus der Hand?“ „Ja, ich bemerkte nämlich, daß er was Weißes in der Hand hält.“ „Sie wollten ihn retten, nicht?“ Es wird mir kalt, denn sie lächelt ganz irr – „Ja“, sage ich, „ich wollte ihn retten.“ „Aber Sie kamen zu spät?“ „Ja, zu spät.“ Sie lächelt noch immer. „Und Sie haben ihn abgeschnitten?“ „Abgeschnitten?!“ Ich starre sie an, sie lächelt nicht mehr. Abgeschnitten? Mir wirds ganz wirr – Sie beobachtet mich. „Erzählen Sie mir alles“, sagt sie und wird immer energischer, „ich habe ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, ich war ja zu guter Letzt seine rechtmäßige Gattin, und ich will es nicht haben, daß man mir hier mit Heldentod und dergleichen Sand in die Augen streut! Ich verzichte auf jedwede ‚Schonung‘! Ich fordere die Wahrheit, die nackte Wahrheit!“ Sie ist verrückt geworden, durchzuckt es mich. „Hier aus diesen Zeilen, aus seinem letzten Briefe, geht es einwandfrei hervor, daß er nicht gefallen ist, sondern daß er sich erhängt hat.“ Ich schnelle empor. „Erhängt?!“ „Hier stehts schwarz auf weiß! Er schreibt es selber! Und jetzt will ich alles genau wissen, alles, alles!“ „Aber er hat sich doch gar nicht erhängt!“ „Lügen Sie nicht!“ schreit sie mich an. „Genug gelogen!“ Jetzt wirds mir zu dumm. „Ich lüge nicht!“ fahr ich sie an. „Was fällt Ihnen eigentlich ein?! Er ist ordnungsgemäß gefallen!“ „Gefallen?!“ unterbricht sie mich kreischend und lacht ganz eisig. „Gefallen, sagen Sie?! Hier, hier lesen Sie seinen Brief, seinen letzten Brief, Sie Lügner!“

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Sie wirft den Brief auf den Tisch, und ich seh ihn dort liegen. Aber ich rühr ihn noch nicht an. Sie tritt ans Fenster und schaut hinaus. Draußen fährt ein Zug vorbei, ein Vorortzug – „So lesen Sie ihn doch!“ herrscht sie mich plötzlich wieder an. „Lesen Sie, und seien Sie nicht so feig!“ „Ich bin nicht feig“, sage ich und werde wütend. Rasch pack ich den Brief und beginne zu lesen. „Meine liebe Frau“, lese ich, „kurz vor meiner langen Reise in die Ewigkeit will ich dir nochmals danken, danken für all deine Liebe und Treue. Verzeihe mir, aber ich kann nicht mehr weiterleben, mir gebührt der Strang“ – Ich stocke. Der Strang? Was schreibt er da, der Hauptmann? Und ich lese weiter: „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete“ – Ich werfe einen Blick auf die Frau. Sie steht noch immer am Fenster und schaut hinaus. Gegen Weiber? Ja, das stimmt. „Verzeihe mir“, schreibt der Hauptmann, „aber ich paß nicht mehr in die Zeit“ – Ich schau die Frau Hauptmann an und denke: Paßt du in die Zeit? Und ich frage mich: Paß ich in die Zeit? „Es ist eine Schande“, lese ich weiter, „und was mich am tiefsten schmerzt, ist der Untergang meines Vaterlandes. Denn jetzt erst hat mein Vaterland seine Ehre verloren und zwar für immer. Gebe Gott mir die Kraft, daß ich ein Ende machen kann, denn ich will nicht als Verbrecher weiterleben, mich ekelt vor meinem Vaterlande“ – Ekelt? Die Frau schaut noch immer zum Fenster hinaus. Was gibts denn dort draußen so Interessantes? Wahrscheinlich nichts. Ich blick auf sie und denk an den Hauptmann. Wohin soll das führen? Wer kann dich noch verstehen? Warum ekelt dich dein Vaterland? Ja, es ist wahr: Du wolltest nicht mehr bei uns sein, bei deinen Soldaten. Du warst uns fremd geworden, das fühlten wir schon damals – Erinnerst du dich? Zum Beispiel, wie du es seinerzeit erfahren hast, daß wir ein paar Gefangene erledigt hatten, was hast du damals nur getrieben! Und derweil wars doch zu guter Letzt nur ein beschleunigtes Verfahren – vielleicht brutal, zugegeben! Man gewinnt keinen Krieg mit Glacéhandschuhen, das müßtest du wissen! Aber du schriest uns an, ein Soldat sei kein Verbrecher, und solch beschleunigtes Verfahren wäre frontunwürdig! Frontunwürdig? Was heißt das? Wir erinnern uns nur dunkel, daß dies ein Ausdruck aus dem Weltkrieg ist – Wir haben ihn nicht mehr gelernt.

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Und du hast dem Kameraden, der auf die Idee gekommen war, eigenhändig seinen Stern vom Kragen gerissen, seinen silbernen Stern – Sag, Hauptmann, was hat das für einen Sinn? Am nächsten Tag hat er doch seinen Stern wieder gehabt, und du, du hast einen strengen Verweis bekommen – Wir wissens alle, was in dem Schreiben stand. Der Leutnant hats uns erzählt. Die Zeiten, stand drinnen, hätten sich geändert, und wir lebten nicht mehr in den Tagen der Turnierritter. Hauptmann, Hauptmann, es hat keinen Sinn! Glaub es mir, ich mein es gut mit dir – Oder sprang ich dir nicht nach? Wollte ich dich denn nicht vom Tode zurückreißen? Jetzt weiß ichs ja, warum du in das Maschinengewehr hineingelaufen bist, jetzt weiß ichs ja, daß ich dir keinen Gefallen getan hätt – Aber mein Arm mußte daran glauben. Er ist noch immer nicht ganz, und vielleicht wird ers auch nimmer. Wie kannst du mich einen Verbrecher nennen, wo ich dir helfen wollte? Wie kannst du dich vor mir ekeln? Denn ich gehör doch auch zum Vaterland. Und deine Frau dort am Fenster ebenfalls. Wenn ihr euch auch immer gestritten habt, es wär ihr doch sicherlich lieber gewesen, du wärst wieder heimgekehrt – Sie ist zwar noch ein relativ junges Weib und wird sich schon trösten. Aber trotzdem – trotzdem der einzelne keine Rolle spielt, du hättest es nicht tun dürfen, schau, sie ist ja ganz außer sich. Ich werds ihr jetzt auch sagen, daß da keinerlei Strang eine Rolle gespielt hat, ich werd sie beruhigen, daß es nur ein feindliches Maschinengewehr gewesen ist – Und ich sag es ihr. Sie hört mir aufmerksam zu und fragt dann: „Ist das auch die Wahrheit?“ „Ja.“ Sie sieht mich traurig an mit ihren hellen Augen und lächelt ein bißchen, als wär sie müd. Dann schweigen wir wieder. Ich wunder mich, wie ruhig sie geworden ist. Plötzlich fragt sie mich: „Wollen Sie mir etwas versprechen?“ „Natürlich.“ „Behalten wir den Inhalt dieses Briefes für uns, bitte“ – „Bitte“ – Sie nimmt den Brief an sich und fährt sich über die Frisur. „Es wär mir nämlich sehr, sehr peinlich, wenn jemand den wahren Tatbestand erfahren würde – Ich stamme aus einer alten Beamten- und Offiziersfamilie, und wenn dieser furchtbare Brief bekannt werden würde, gäbs nur einen himmelschreienden Skandal.“ „Zu Befehl.“ „Die wären ja imstand und ließen ihm selbst im Grab keine Ruh. Sie würden ihn noch ausgraben und irgendwo verscharren, wo weit und breit kein ehrlicher Mann liegt“ – „Nicht unmöglich.“ Sie sieht mich groß an.

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Du stammst also aus einer Beamten- und Offiziersfamilie – muß ich denken. „Sie sind jetzt mein Mitwisser“, unterbricht sie meine Gedanken und lächelt wieder ein wenig. „Auf Sie kommts an, daß es unter uns bleibt, nur auf Sie, denn der liebe Gott, der wird ja schweigen“ – Sie nickt mir zu und verläßt das Zimmer. Sie geht in die Küche und richtet das Essen. Denn, wie gesagt, ich sollte bei ihr zu Abend essen, weil doch mein Zug erst um 9 Uhr 12 zurückfuhr. Jetzt bin ich allein. Auf dem Tischchen liegen noch die Zigaretten, ich zünd mir eine an. Im Bücherschrank stehen Erinnerungen an den Weltkrieg. Es sind militärische Bücher, die gehörten ihm. Und blöde Romane, die gehören ihr. In der Küche klappern die Teller. Was wirds denn zum Essen geben? Wahrscheinlich kalt. Vielleicht einen feinen Aufschnitt, Butter, Käse und Brot – Draußen beginnt es zu regnen, und die Bäume schütteln sich, doch drinnen bleibt alles warm und still. Ja, es ist Herbst geworden. Es wird immer dunkler, und der Lampe Schein fällt auf den großen Tisch in der Mitte. Hier haben die beiden gegessen, der Hauptmann und seine Frau. Und plötzlich gehts mir durch den Sinn: Schau, hier hast du ja das bequeme Leben – Ein Leben, das du so sehr verachtest. Mit Recht? Und wie ich mich so frage, fällt mir mein Vater ein. Der hinkt jetzt in seinem Lokal herum und beginnt mir leid zu tun – Auch er wollte doch solch ein Zimmer haben. Solch eine feine Lampe, einen Bücherschrank, den Sorgenstuhl, den großen und den kleinen Tisch. Und eine Frau, die in der Küche mit den Tellern klappert. Ob meine Mutter eigentlich gut kochen konnte? Ich weiß es nicht. Aber ich muß sie mal wieder besuchen, ich war ja schon seit Jahren nimmer an ihrem Grab. Und plötzlich wirds mir ganz eigenartig, denn es ist mir so, als würd ich selbst das Vaterland vergessen können wegen einer Frau – als würd man das Vaterland nicht mehr fressen wollen, wenn ein Weib für einen kocht. Ja, die Liebe geht durch den Magen. Ich muß grinsen und geh auf und ab. In der Ecke steht ein großer Spiegel, ich seh mich drin gehen, und plötzlich durchzuckt es mich: Wie ist eigentlich dein Hauptmann gegangen? Ich versuche, so zu gehen – Es gelingt mir nicht. Doch, zwei Schritte waren richtig. So ist er gegangen! Etwas schwer, etwas untersetzt – Jawohl, so ist er hier auf und ab und hat auf das Essen gewartet. Ob er auch so lang warten mußte?

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Ich hab schon richtig Hunger – Was klappert denn die so lang da draußen? Grad will ich mir die vierte Zigarette anstecken, da kommt sie endlich mit einem Tablett. Es gibt Schnitzel mit Salat. Bravo! Sie deckt den Tisch und sagt kein Wort. Messer, Gabel, Löffel – alles in Ordnung. Alles in Reih und Glied, ausgerichtet Mann für Mann. Jetzt werd ich allmählich der Hauptmann. Ich setze mich auf seinen Platz. Vielleicht ist es schön, wenn man weiß, daß man zu Hause eine Frau hat, die die Schränke öffnet und schließt. Die alles in Ordnung hält. Ja, das wär alles sehr schön, wenn man sichs leisten könnt! Das Glück ist eine reine Geldfrage und sonst nichts. Doch halt! Der Hauptmann konnte sichs ja leisten, dieses häusliche Glück, und wohnte trotzdem in der Kaserne. Sie sah ihn nur sonn- und feiertags. Es ist also alles Essig, diese ganze himmlische und irdische Liebe, und es bleibt dabei: Ich mag keine Seele leiden. Auch mich nicht. Eigentlich hasse ich alle. Selbst der Hauptmann entschwindet mir schon – seit seinem Brief. Seit es ihn ekelt. „Trinken Sie rot oder weiß?“ fragt sie. „Ich trink alles.“ Sie schenkt roten ein, zuerst sich, dann mir. Ich hebe das Glas: „Auf das Wohl der Hausfrau!“ „Danke“, sagt sie leise und nippt nur daran. Sie ist sehr bleich, und wir reden nichts. In der Ferne läutet ein Glockenspiel – Ich horche hin. „Das ist das Stellwerk vom Bahnhof“, sagt sie. „Wenn es dunkel wird, dann kann man die Signale hören.“ „Was hat das mit der Dunkelheit zu tun?“ frage ich, erleichtert, daß sie endlich redet, denn diese schweigende Esserei ging mir schon auf die Nerven. „Das weiß man nicht, es ist halt so“, meint sie. Und ohne mich anzuschauen, erklärt sie weiter: „Es gibt nämlich unerklärliche Dinge auf unserer Erde, seltsame Geheimnisse, unerforschte Zusammenhänge – Finden Sie es nicht auch?“ Sie wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern fährt fort, indem sie prüfend in ihrem Salat herumstochert: „Ich hatte einst einen schrecklichen Traum. Ich lag hier auf diesem Sofa, träumte ich, und las einen Roman, da trat mein Mann rasch ein und schrie mich an: ‚Komm! Es ist höchste Zeit!‘ Und dann schimpfte er mit mir, weil ich noch nicht fertig war – Oh, er schimpfte ganz schlimm, denn er konnte ja auch in Wirklichkeit recht ungeduldig werden, obwohl er zwar ein grundguter Mensch gewesen ist. Also ich zieh mich rasch an, und da seh ich plötzlich, daß seine Stirne aus einer tiefen Wunde blutet. Ich schrei entsetzt auf, aber er lächelt nur, hält den Finger

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vor die Lippen und flüstert: ,Still, die Kinder schlafen ja schon‘ – und wir haben doch in Wirklichkeit gar keine Kinder. Ich starr ihn an und sage: ,Alfons, was ist denn nur mit deinem Kopf?‘ Und er sagt: ‚Red keinen Unsinn! Das ist doch nicht mein Kopf, das ist mein Herz‘ – da wachte ich auf.“ „Sonderbar“, sage ich. „Und das sonderbarste ist, daß ich das genau an dem Tage träumte, an dem er seinen Tod fand.“ „Sehr sonderbar. Und dann ist er so plötzlich verschwunden – ich meine: im Traum?“ „Ja, das heißt: Er ging durch diese Türe, aber direkt durchs Holz hindurch, als hätt er kein Fleisch und Blut.“ „Und wohin geht diese Türe?“ Sie starrt mich einen Augenblick an, dann sagt sie: „In mein Schlafzimmer.“ Sie wird rot. Warum? Sie leert ihr Glas, fast hastig. Plötzlich beginnt sie wieder: „Was sind Sie denn von Beruf? Student?“ Ich?! Ein Student? Seh ich denn so aus? Soll ich es ihr sagen, daß ich ohne Uniform nichts bin? Daß ich sogar vorbestraft wäre, wenn der Kriminaler nicht über das Eis gerutscht wär – Und ich sage: „Ja, ich bin Student und bin dann mittendrin eingerückt – freiwillig.“ „Ach!“ sagt sie und wird bitter ernst. Wahrscheinlich fiel er ihr wieder ein bei dem Wörtchen „freiwillig“ – Aber ich muß nur lächeln, denn es schmeichelt mir, daß sie mich für einen Akademiker hält. Es dreht sich also nicht nur alles ums Geld, sondern auch um die persönliche Wirkung. Wer hat, der hat! Und auf einmal kann ich so frei zu ihr reden, als kämen mir die Worte und Sätze ganz von allein. Ursprünglich war ich nämlich befangen, aber während ich nun daherrede, denk ich immer wieder dasselbe: Schau, auch mit einer Dame der Gesellschaft läßt sichs leicht essen, vorausgesetzt, daß sie dich für einen Akademiker hält. Ich erzähle ihr allerhand Zeug, und einmal lacht sie sogar hellauf – aber mittendrin stockt sie und schaut sich ängstlich um, als dürfte sie heute nicht lachen. Und ich erzähle ihr von meinem Arm, der noch immer nicht ganz ist, aber ich verschweig es ihr, warum er verletzt wurde – weil ich nämlich unseren Hauptmann retten wollte. Warum red ich nur nichts darüber? Warum sag ichs ihr nicht, daß mich mein Arm selbst beim Trinken noch schmerzt, weil ich ihren Gatten tollkühn zurückreißen wollte? Warum protz ich denn nicht damit, daß ich eigentlich ein Held bin? Ich wußte es selber nicht. Es war nur eine leise innere Stimme da, die mir sagte: Erwähne seinen Namen nicht mehr, nur seinen Namen nicht – Er hat jetzt nicht mehr da zu sein.

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Sein Schatten soll nicht mehr auf unseren Tisch fallen. Weg damit! Weg, vielleicht weil sie vorhin gelacht hat – Sie soll sich nicht mehr umschauen! Weg damit! – Es wird immer später. „Ich muß jetzt gehen“, sage ich. „Wir haben noch Wein“, sagt sie. Und ich habe so lang keinen Wein mehr getrunken, er steigt mir zu Kopf, und ich erzähle von einem Fräulein, das mir nachlief und das ich nicht mochte, weil es zu jung für mich war – Da bemerke ich, daß sie mich betrachtet. Ich stocke, denn sie lächelt spöttisch. Jetzt läutet es wieder, das Stellwerk. Sie horcht auf und zuckt etwas zusammen. „Was gibts?“ „Das war Ihr letzter Zug.“ „Der letzte? Na gute Nacht!“ Aber sie beruhigt mich. „Sie können ruhig hier übernachten, hier auf dem Sofa, vorausgesetzt, daß es Ihrem Arm nichts schadet“ – „Aber das geht doch nicht“ – „Warum soll das nicht gehen? Mich stören Sie nicht, im Gegenteil: Ich bin gar nicht so gern allein in der Wohnung, im Parterre ist alles verreist, und mein Mädchen erscheint erst morgen früh, es ist also niemand im Haus, und oft kommen so unheimliche Bettler“ – Bettler?! Das Wort versetzt mir einen Stich, denn ich muß an meine fünf Taler denken, die ich noch in der Tasche hab. Und an denjenigen, dem ich sie nicht gab. Ich erblick mich im Spiegel. Es fällt mir erst jetzt auf, daß ich mich von meinem Platz aus erblicken kann. Ich gefalle mir nicht. Und sie sagt: „Diese Bettler werden immer unverschämter.“

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Sie hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, und ich zog mich aus. Den Rock legte ich über einen Stuhl, aber dann zog ich ihn wieder an, denn die Nacht wurde bitterkalt. Es ist nämlich ein Sturm gekommen, und die Vorhänge bewegen sich. Besonders der linke, und es zieht auf meinen kranken Arm. Ich krieche tiefer unter die Decke, die sie mir gab, aber ich schlaf nur für Augenblicke ein. Dann wach ich wieder auf – Sein Brief läßt mich nicht los. Immer länger wird die Nacht, und der Sturm setzt sich auf das Dach. Dort geht er jetzt hin und her – Dieser Brief, dieser Brief!

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Schlaf, blöder Hund, und grübel nicht weiter – Siehst du die hohen Berge rings um den Tisch? Im Spiegel brennt eine Stadt. Marschier nur zu – über das hohe Plateau. Vorwärts, Soldaten der Diktatur! Um uns gähnen Abgründe, und drunten rauschen die Wasser. Wir haben fünf Zivilisten gehenkt. Einen nach dem anderen. Zwei Krähen fliegen vorbei – Was ist denn nur mit dem Hauptmann los? Es freut ihn scheinbar kein Schuß. Wir schütteln oft alle die Köpfe. Du hast von deiner Beliebtheit schon viel verloren – Einige murren sogar. Zwar schreitest du noch jeden Morgen unsere Front ab, aber du siehst nur noch unsere Ausrüstung und nicht mehr durch sie hindurch in uns hinein. Manchmal fühlen wir uns schon direkt einsam, trotzdem wir in Reih und Glied stehen. Als wären wir hilflos in einer drohenden Nacht und es wär niemand da, der uns beschützt – Die Krähen kommen wieder. Und mit Sehnsucht denken wir an die schönen Tage im Kasernenhof zurück. Wie schön wars, wenn er uns abschritt, wenn er beifällig nickte in seiner sicheren Art, weil alles stimmte, außen und innen. Ach, Hauptmann, wohin soll das führen? Wohin? So fragte ich, als deine Witwe plötzlich in der Schlafzimmertür erschien. Sie war käsweiß und zitterte. Ich fahre hoch – Sie hat wenig an, setzt sich auf einen Stuhl, legt ihr Gesicht auf den Tisch und weint. „Was ist Ihnen?“ frage ich. „Ich kann nicht mehr drüben bleiben“, wimmert sie, „wahrscheinlich sinds nur die Nerven, aber ich kann nicht mehr allein sein, immer hör ich so Geräusche, als ging was um mein Bett herum“ – „Was denn?“ Sie sieht mich groß an mit ihren verweinten Augen und sagt dann langsam: „Ein Hund.“ Ein Hund? „Nein!“ schreit sie plötzlich los. „Ich geh da jetzt nimmer zurück! Nie wieder, nie wieder!“ Sie heult immer heftiger. Ich erheb mich, denn ich hatte ja nur die Stiefel ausgezogen, und biete ihr mein Sofa an, aber sie will im Sorgenstuhl schlafen. Das laß ich nicht zu und berühr dabei ihre Schulter. Da fährt sie wütend herum und haut mir auf meinen Arm. Ich werde wild und geb ihr einen Stoß – „Was fällt Ihnen ein?!“ brüllt sie. „Ruhe!“ herrsch ich sie an. „Mein Arm ist ja kaputt! Dort ist das Sofa und kein Wort mehr!“ „Kein Wort mehr?“ fragt sie gedehnt und läßt mich nicht aus den Augen. Als wär sie mein Todfeind, so steht sie vor mir.

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Still und bös. Ich muß an das Brustbild mit dem Hermelin denken – aber ich schau nicht hinab. Es wird immer stiller. Jetzt fliegt ein Engel durch das Zimmer, sagen die Kinder. Ich seh nur ihren Mund. Sie schließt ihn nicht – Ihre Lippen sind naß. „Leg dich hin“, sag ich leise. Sie fährt hoch: „Was fällt Ihnen ein, mich zu duzen, Sie?!“ Hab ich du gesagt? Weiß ich gar nicht – Ich will mich schon entschuldigen, da fährt sie mir langsam durch das Haar. Ihre Lippen bewegen sich – „Was sagten Sie?“ „Nichts.“ Aber ich habe es gehört, daß sie lügt. Sie sagte nämlich: „Was machst du aus mir?“

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Eigentlich wollt ich sie nimmermehr wiedersehen, die Witwe meines Hauptmanns, und sie wollt mich auch nimmer sehen. Als damals der Morgen graute und ich mich rasch verabschiedete, um noch den ersten Vorortzug zu erreichen, sagte sie nur: „Vergessen wir es, mein Freund“ – Sie hielt mich für einen Studenten. Und das tut mir heute noch wohl. Ja, es war nur ein sogenanntes Abenteuer, wie es millionen- und millionenmal Tag und Nacht zustande kommt, wenn auch jedes Mal unter anderen Voraussetzungen. Aber vielleicht sind alle diese Bedingungen nur rein äußerlicher Natur. Offen gestanden war ich sogar froh darüber, daß wir zwei es vergessen sollten, denn wir waren zu guter Letzt nicht füreinander erschaffen. Ich weiß es natürlich nicht, wars ihre Haut, oder war sie mir zu lebhaft – Kurz: Trotz allem kam keinerlei innere Verbindung zustande, und das einzige, was mir blieb, war meine alte Ahnung, daß nämlich die Damen der Gesellschaft auch nur Weiber sind. Ich fühlte mich bestätigt und wollt nichts mehr von ihr wissen, denn selbst das Brustbild mit dem Hermelin erschien mir danach nur als optische Täuschung. Aber es gibt eben in unserem Leben unerforschte Zusammenhänge, die keinen Witz verstehen – Das wird mir allmählich dennoch immer klarer. Ich sollte sie noch einmal wiedersehen, die Witwe meines Hauptmanns, wenn auch in einer ganz anderen Angelegenheit. Zirka drei Wochen nach unserer Nacht stand ich wieder auf jenem Vorortbahnhof – „Frisches Bier!“ rief das Mädchen am Buffet. Nein danke, sauf ihn selber, deinen Mist! Daß ich wieder zu ihr hinausfuhr, daran war nur mein Vater schuld – jawohl, mein Herr Vater! Diese Idee war auf seinem Mist gewachsen, er hat mir diesen Floh ins Ohr gesetzt, er und sonst niemand! Mein Arm wurd und wurd nämlich nicht besser, und mein Schicksal schien besiegelt, weil eben zu viele Nerven zerrissen waren.

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Am Tage nach jener Nacht untersuchte mich der Arzt und sagte: „Was ist denn das? Der Knochen ist ja schlechter geworden!“ Ich erschrak sehr. „Haben Sie denn etwas Schweres gehoben oder getragen, gezogen?“ „Nein“, antwortete ich und mußte unwillkürlich lächeln, obwohl es mir eher zum Weinen war. „Trauen Sie sich nur nicht allzuviel zu!“ meinte der Arzt und trat zu meinem Nebenmann. Ich hätte sie wecken sollen, als sie auf meinem Arme schlief. Aber ich wollt sie in Frieden ruhen lassen, und jetzt steht es schlimm um mich. Undank ist der Welten Lohn. Ich hätte den Hund hereinrufen sollen, der in ihrem Schlafzimmer saß. Dann wär sie schon aufgesprungen – Was wiegt denn so ein Weib? Sie war ja schwer wie ein Kalb. Sicher 70 Kilo. Ich will ihr zwar keine Vorwürfe machen, daß mein Arm nimmer ganz wird – seit vorgestern steht dies nämlich medizinisch erhärtet bereits felsenfest – aber sie trug halt auch ihr Steinchen dazu bei, ihr Steinchen zu dem Haufen, der meinen Arm endgültig zerquetschte. Ja, das war ein harter Schlag, als es sich unwiderruflich herauskristallisierte, daß ich das Militär verlassen muß. Aber harte Schläge machen hart. Und ohne mit der Wimper zu zucken, sagte ich: Adieu, ihr silbernen Sterne! Zwar darf ich die Uniform noch tragen, doch nimmer lang. Nur als Übergangsmaßnahme – Ich weiß es noch nicht, was nun kommen soll. Ich weiß nur, man erntet nichts Gutes, wenn man gut ist. Bös muß man sein, berechnend und immer kälter – Rücksichtslos bis zum Äußersten! Denn es kümmert sich keiner um dich, wenn du ihn im Frieden ruhen läßt. Weckst du ihn auf, zertritt er dir deine Zukunft. Oh, hätt ich ihn doch nur niemals retten wollen, diesen Hauptmann! Diesen altmodischen Ritter mit seinen überspannten Ansichten – Der so zartbesaitet war, daß es ihm übel wurde, wenn er mal irgendwo tote Kinder sah – Richtig, er paßte nicht in seine Zeit! Hätt ich dies nur schon früher gewußt, dann hätt ich heut noch meinen Arm! Denn wer nicht in seine Zeit paßt, den soll man nicht abschneiden. Hoch droben soll er hängen an seinem freiwilligen Galgen, bis ihn die Krähen holen! Hörst du mich, Hauptmann? Hörst du mich da drunten?! Lieg nur in deinem Heldengrab – aber ich soll von einer jämmerlichen Invalidenrente leben, was? Mit ehernen Lettern steht dein Name im Ehrenbuch unseres Volkes, doch ich darf sehen, was sich findet – wie bitte?! Paß auf, es dauert jetzt nimmer lang, und ich werd dich endgültig hassen! Denn du warst ein Schwächling, der für sein Vaterland nicht einmal das Opfer bringen konnte, ein paar feindliche Weiber niederzuknallen –

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Jawohl, ein Schwächling! Ein Bursche, dens vor seinem Volke ekelt! Wer kümmert sich jetzt um mich?! Ich gab dir meine Zukunft, aber du läßt mich allein zurück und kümmerst dich in deinem Sarg einen Dreck darum, ob ich satt bin oder nicht. Erschein mir doch wenigstens als Geist und erleuchte mich, was ich jetzt beginnen soll! Aber du denkst nicht daran zu geistern, du verwest ruhig weiter, als hättest du nichts verbrochen! Wenn ichs deiner Witwe nicht versprochen hätt, würd ich deinen Brief in alle Welt hinausposaunen – Alle sollens wissen, daß du feige in den Tod marschiert bist, ein Fahnenflüchtiger, ein Schurke, ein Schuft! Ausgraben sollen sie dich aus deinem Heldengrab und verscharren in der hintersten Ecke, wo sich die Verbrecher gute Nacht sagen – Ich will von deinem Brief erzählen, jedem, der mir in den Weg läuft, alle sollens wissen, was du für eine Seele gewesen bist – garantiert! Doch halt-halt! Deine saubere Witwe würde natürlich alles prompt ableugnen, jeden Meineid würde sie schwören, wahrscheinlich hat sie auch den Brief schon längst verbrannt, sie ist ja ein raffiniertes Stück – und ich würd dann dastehen als der blöde Hund und würd vielleicht gar noch verurteilt werden als öffentlicher Verleumder. Vorsicht, Vorsicht, lieber Freund! Überhaste nichts, überleg dir alles haargenau! Du stehst jetzt wieder am Anfang und nicht mehr in Reih und Glied. Heut steht keiner neben dir, weder rechts noch links. Du bist allein, nur du – Aber diesmal packs gescheiter an. Gescheiter! Nimm einen Bleistift in die Hand und rechne nach, was dir bleibt. Es bleibt dir nur ein einziger Mensch. Dein Vater. Dein lieber Vater. Er hat dich in die Welt gesetzt, ohne sich zu erkundigen, ob du es haben wolltest – Er muß dir also helfen, und wenn er Blut schwitzen sollte. Du magst ihn zwar nicht, doch das ist egal. Nütze ihn aus! Sei freundlich zu ihm! Halt das Maul, wenn er in seiner dummen Art auf die Rüstungsindustrie schimpft – Wer weiß, vielleicht hat er gar nicht so unrecht damit! Denn wenn ein Rüstungsindustrieller seinen Arm opfert, verliert er noch nicht seine Aufträge. Er liefert trotzdem weiter. Prima Kanonen, Munition und den ganzen Behelf – Eine Invalidenrente ist für ihn kein Problem. Widersprich also deinem Vater nicht, er hat dich ja auch gezeugt. Im Jahre 1917. Es muß im Fasching gewesen sein, denn ich hab im Herbst das Licht dieser Welt erblickt. Ehre deinen Vater, auf daß du ihn auspressen kannst. Geh zu ihm hin, fall auf die Knie, und bitte ihn um seinen Segen! Er muß dir Geld geben.

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Geh, du kennst ja das Lokal, in dem er sich sein Brot verdient! Geh! – – – Ich ging also zu meinem Vater, bis in die Vorstadt hinaus. Der herbstliche Abend lag mild auf den weiten Plätzen, und durch die engen Gassen kam leis eine traurige Nacht. Ohne jedes Licht am Himmel, als wären sie alle heruntergefallen, die schönen silbernen Sterne. Jetzt muß ich noch einmal nach rechts, dann links und quer hinüber – dort neben der Molkerei und dem photographischen Atelier, dort werd ich den lieben Vater treffen. Ich steh vor der kleinen Gastwirtschaft und lese das Schild: Zur Stadt Paris. Die Stadt Paris hat nur zwei Fensterscheiben. Die Vorhänge sind vorgezogen, und ich schau durch einen Riß hinein. Die Luft da drinnen ist matt und grau. Ich seh nur wenig Gäste, aber sie rauchen fürs doppelte. Und da – da kommt er selbst! Mein Vater. Er bringt zwei Gläser Bier und stellt sie auf einen Tisch. Dort hocken drei Chauffeure und würfeln. Mein Vater hat sich kaum verändert. Er ist nicht älter geworden, und es kommt mir sogar vor, als würd er weniger hinken. Ist es denn möglich, daß ein Schuß besser wird? Oder ists nur die Macht der Gewohnheit, daß man mit der Zeit elastischer wirkt? Oder hab ich ihn nur hinkender in der Erinnerung? Der eine Chauffeur zahlt, mein Vater kassiert und verbeugt sich untertänig. Jaja, er ist der Alte geblieben. Ein Trinkgeldkuli – Sicher verdient er ganz hübsch. Trinkgelder summieren sich nämlich. Auch die allerwinzigsten. Vielleicht hat er schon ein Palais. Ich muß grinsen – Führst wieder ein flottes Junggesellenleben, was? Mit Weibern und Kartenspiel, wie vor deinem Weltkrieg? Vorbei, vorbei! Das war einmal – vor mindestens dreihundert Jahren. Wie alt bist du heut eigentlich? Ich schau mich um und betrete die Stadt Paris. In der Nähe der Türe setz ich mich gleich. Mein Vater erkennt mich nicht, denkt, ich wär ein gewöhnlicher Gast, und kommt zu mir, jedoch drei Schritt vor mir zuckt er sehr zusammen und starrt mich fassungslos an. Ich lächle verbindlich. Endlich findet er seine Sprache wieder. „Du?“ fragt er gedehnt – „Ja, ich bins.“ Er rührt sich noch immer nicht und schaut und schaut mich nur an, fast forschend. Ich steh auf und reich ihm die Hand. „Guten Abend, Vater!“ Langsam nimmt er meine Hand, als wär sie zerbrechlich, und erholt sich allmählich von der Überraschung. Dann sagt er: „Schön von dir, daß du noch an mich denkst. Was soll ich dir bringen, was willst du trinken?“

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„Was du mir gibst.“ Er lächelt geschmeichelt. „Dann bring ich dir etwas ganz Besonderes, einen Extratropfen – aber dann mußt du mir auch alles erzählen, von A bis Z“ – Er nickt mir zu, und ich hör ihn an der Schenke sagen: „Für meinen Sohn!“ „Oh!“ höre ich eine weibliche Stimme, und dann beugt sich ein dicker, alter Schweinskopf über das Pult und glotzt mich neugierig an. Aha, seine Herrin und Meisterin! Ich nicke ihr ehrerbietig zu, und sie verzieht befriedigt ihr Fett. Jetzt kommt mein Vater mit einem Glas Wein. „Ich darf mich nicht setzen“, sagt er, „ich bin im Dienst.“ „Auf dein Wohl!“ sage ich. „Nein, auf dein Wohl!“ Ich leere das Glas mit einem Zug. „Hoho!“ lacht mein Vater. „Wie der säuft!“ „Recht hat er!“ ruft der Schweinskopf. „Franz! Bringen Sie ihm noch einen Wein, tapfere Soldaten haben immer Durst!“ Franz ist mein Vater. Er bringt mir noch einen Extratropfen, beugt sich zu mir nieder und flüstert: „Du hast ja das Herz dieses alten Drachens im Sturm erobert, sie ist nämlich sonst der Geiz in persona, aber ich sags ja: Man ist nicht umsonst mein Sohn!“ Stolz blickt er in der Runde umher, und plötzlich bleiben seine Augen an meinem Kragen kleben: „Was? Wir haben schon drei Sterne? Drei silberne Sterne?! Gratuliere – gratuliere“ – „Danke“, fall ich ihm ins Wort, „ich hab sie doch nimmer lang.“ „Nimmer lang?!“ Er ist vor den Kopf geschlagen. Und ich erzähl ihm von meiner militärischen Zukunft, als ich nämlich noch eine hatte, denn ich bin doch einst der beste Schütze der Kompagnie gewesen und hab hintereinander ins Schwarze getroffen. Aber dann meldete ich mich freiwillig, um an der Säuberungsaktion gegen diese vertierten Untermenschen – Er unterbricht mich hastig: „Du warst auch dabei?“ „Ja, natürlich!“ „Aha!“ Was meint er mit diesem „Aha“? Ich werde nicht klug daraus und erwähne vorsichtig das kleine Land, das wir uns holen wollten – „Es ist schon unser“, unterbricht er mich wieder. Ich schau ihn mißtrauisch an. Meint er dieses „unser“ spöttisch? Dem ist nämlich alles zuzutrauen, jeder Hohn und jede Zersetzung – Und während ich ihn heimlich beobachte, fahre ich fort zu erzählen. Von den braven Fliegern, die ich zwar persönlich nicht riechen kann, die jedoch ungemein präzis ihre waghalsige Pflicht erfüllten, von den fremden Städten und Dörfern, die wir zerstörten, von dem niederträchtigen feindlichen Gesindel, das uns oft genug mit der Waffe in der Hand entgegentrat, von der häßlichen Sprache jener Verbrecher, ihren dreckigen Hütten und räudigen Hunden. Er steht aufmerksam neben mir, und plötzlich stört es mich, daß er nicht sitzen darf, und ich fasse mich immer kürzer. Ich berichte von meiner schweren Verwundung, weil ich nämlich unseren Haupt-

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mann retten wollte, aber ich verschweige ihm den Brief des Hauptmanns, denn der wär ja nur Wasser auf seine Mühle – und ich rede natürlich auch kein Wort von der Nacht mit seiner Witwe, denn in diesen Punkten bin ich Kavalier und nenne nie einen Namen, sondern rede nur im allgemeinen mit. „Hm“, meint er, als ich geendet hatte, „ein zerschossener Arm ist natürlich nichts. Armer Kerl, hast wirklich Pech! Aber zunächst mach dir nur keine besonderen Sorgen – Wenn du morgen oder übermorgen das Krankenhaus verlassen mußt, dann sollst du es wissen, daß du immer bei deinem Vater wohnen kannst.“ Ausgezeichnet! denke ich. Und ich sage: „Das wär sehr lieb von dir“– „Das ist gar nicht lieb“, fällt er mir wieder mal ins Wort, „das ist nur selbstredend! Sehr bequem wirst du es zwar nicht haben, denn ich hab jetzt ein anderes Zimmer.“ „Ein anderes?“ „Ja, es ist etwas kleiner, eigentlich sogar um ein ziemliches kleiner als das frühere – Die allgemeine wirtschaftliche Lage ist eben nicht gerade rosig, obwohl wir das Land erobert haben.“ Wir? Du hast das Land erobert? Was redet er da für Zeug? „Aber all diese mißlichen Strömungen, Stockungen und Schwierigkeiten sind sicherlich nur vorübergehender Natur. Wir werden die Früchte unseres Sieges noch ernten, verlaß dich drauf!“ Himmelherrgott, meint er das ernst oder nicht?! Es wird mir allmählich zu dumm. „Das wundert mich, daß du so redest“, sage ich. „Warum, wieso?“ „Früher hast du doch immer behauptet, jeder Sieg ist zu guter Letzt eine Niederlage, und es würd nur eine Macht profitieren, ob Sieg oder Niederlage, nur eine Macht, nämlich die Rüstungsindustrie“ – „Unsinn!“ unterbricht er mich barsch. „Für uns ist das kein Problem mehr, darüber sind wir gottlob hinaus! Seit dem 1. Januar steht doch unsere Rüstungsindustrie unter staatlicher Kontrolle, gewissermaßen ist sie sogar eigentlich bereits verstaatlicht, und drum liegen natürlich heutzutag die Dinge diametral anders im Raum! Heutzutag profitiert die Allgemeinheit von jedem Sieg, wir alle, ich, du, das ganze Volk – – Was glotzt du mich denn so geistreich an?“ Ich glotze ihn dumm an, weil ich plötzlich denken muß: Wieso du und wieso ich? Ich gab doch meinen Arm, und du hast ein kleineres Zimmer – Nein, ich will nicht weiterdenken! Denken tut weh – Aber es hilft mir nichts, es kommt eine Frage und setzt sich an meinen Tisch. Sie läßt mich nicht aus den Augen, während mein Vater dahinredet wie ein reißender Fluß. „Tröst dich nur, es wird schon werden, Sorgen hat ein jeder, ob reich, ob arm“ – So rauscht der Fluß an mir vorüber, und die Frage lächelt undurchsichtig. Sie lehnt sich zurück wie ein höhnischer Lehrer in der Schule: „Nun, mein Kind, so antworte doch! Was heißt das eigentlich: die Allgemeinheit?“ Es wird mir einen Augenblick schwarz vor meinem Hirn, und ich hör meinen Vater aus der Ferne: „Es ist zwar richtig, daß du nichts gelernt hast, keinen richtigen zivilen Beruf, das ist allerdings arg, denn heut wärst du zum Lehrling schon zu alt und als ungelernter Arbeiter kannst auch nicht unterkommen, dazu fehlt dir ja die Voll-

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kraft deines Armes – aber hunderttausend anderen gehts akkurat ebenso, du bist nicht der einzige, merk dir das! Du bist eben leider ein Kriegskind, die haben alle nichts Ordentliches gelernt, immer nur alles versäumt, entweder warens zu früh dran oder zu spät – doch halt-halt! Mir fällt grad etwas ein, und das dürft einen Ausweg aus dem Labyrinth bedeuten, hör her, dein Vater ist nicht der Dümmste! Ich denk nämlich, du müßtest eine kleine Protektion haben“ – „Protektion?“ „Ja, vielleicht hilft dir der liebe Gott, und du kennst jemand, der dich protegieren könnt – Kennst du denn niemand persönlich?“ „Nein.“ „Keinen Offizier oder dergleichen?“ „Nein, das heißt: Ich kenne jemand, aber das ist kein Offizier, sondern eine Frau, die Witwe meines Hauptmanns“ – „Du kennst sie?“ „Ja, ich hab ihr mal einen Dienst erwiesen.“ „Wunderbar! Die wird dir helfen, die muß dir helfen! Paß auf, mein Kind: Alles im Leben erreicht man nur durch die Weiber“ – – – So kam es, daß ich wieder zur Witwe meines Hauptmanns hinausfuhr. Sie erschrak sehr, als sie mir die Türe öffnete, aber sie beruhigte sich sogleich, als sie hörte, warum ich kam. Und sie versprach es mir, mich zu protegieren, sie kenne nämlich den Bruder eines Ministerialrates, vielleicht daß mir der eine staatliche Hilfsdienerstelle verschaffen könnte – und während sie mir dies versprach, beobachtete ich sie heimlich und wunderte mich sehr, wie sie mir jemals hatte gefallen können. Denn sie lebte in meiner Erinnerung um zwanzig Jahre jünger. Oder schien es mir nur so?

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Nun wohne ich bei meinem Vater. Er geht gegen Mittag weg und kommt erst nach Mitternacht heim. Sein Zimmer ist wirklich arm. Ein Schrank, ein Tisch, ein Bett, zwei Stühle und ein schiefes Sofa – Das ist alles. Das Sofa ist übrigens obendrein zu kurz für mich. Dafür hab ich den halben Tag Musik. Nebenan wohnt nämlich eine stellungslose Verkäuferin mit einem heiseren Grammophon. Sie hat nur drei Platten, lauter Tanz. Also immer dasselbe, aber das stört mich nicht, was Lustiges hört man immer gern. Ich lese ein Buch über Tibet, das geheimnisvolle Reich des Dalai-Lama am höchsten Punkte der Welt. Mein Vater hats von einem Stammgast bekommen, der Stammgast konnte nämlich plötzlich seine Zeche nicht mehr bezahlen, weil er wegen einer geringfügigen Unterschlagung seinen Posten verloren hatte. Ein kleines Menu ist das Buch wert. Aber ohne Kompott. Die Verkäuferin ist nicht hübsch. Sie wird also schwer eine Stellung bekommen. Wenn sie nicht verhungern will, wird sie sich wohl verkaufen müssen. Viel wird sie ja nicht bekommen – Eigentlich ist sie zu dürr. Zumindest für meinen Geschmack. Ich lieb nämlich nur das Gesunde.

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In den Zeitungen steht zwar, wir hätten keine Arbeitslosen mehr, doch das ist alles Schwindel. Denn in den Zeitungen stehen nur die unterstützten Arbeitslosen – Da aber einer nach kurzer Zeit nicht mehr unterstützt wird, kann er also auch nicht mehr als Arbeitsloser in den Zeitungen stehen. Auch wenn er sich umbringt, um nicht zu verhungern, kann er nicht drinstehen, denn, darüber zu berichten, ist strengstens verboten. Nur wenn einer etwas stiehlt, das darf drin stehen, und zwar in der Rubrik: Aus dem Rechtsleben. Es gibt keine Gerechtigkeit, das hab ich jetzt schon heraus. Daran können auch unsere Führer nichts ändern, selbst wenn sie auf außenpolitischem Gebiet noch so genial operieren. Der Mensch ist eben nur ein Tier, und auch die Führer sind nur Tiere, wenn auch mit Spezialbegabungen. Warum bin ich nicht so begabt? Warum bin ich kein Führer? Wer bestimmt da mit einem Menschen? Wer sagt zu dem einen: Du wirst ein Führer. Zum anderen: Du wirst ein Untermensch. Zum dritten: Du wirst eine dürre stellungslose Verkäuferin. Zum vierten: Du wirst ein Kellner. Zum fünften: Du wirst ein Schweinskopf. Zum sechsten: Du wirst die Witwe eines Hauptmanns. Zum siebten: Gib mir deinen Arm – Wer ist das, der da zu befehlen hat?! Das kann kein lieber Gott sein, denn die Verteilung ist zu gemein. Wenn ich der liebe Gott wär, würd ich alle Menschen gleich machen. Einen wie den anderen – gleiche Rechte, gleiche Pflichten! Aber so ist die Welt ein Saustall. Meine dicke Schwester im Krankenhaus sagte zwar immer: Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor – Heut tuts mir leid, daß ich ihr nie geantwortet hab: Und mit mir? Was hat er denn mit mir vor, dein lieber Gott? Was hab ich denn verbrochen, daß er mir immer wieder die Zukunft nimmt? Was will er denn von mir? Was hab ich ihm denn getan?! Nichts, radikal nichts! Ich hab ihn immer in Ruhe gelassen – – Das Grammophon spielt, ich lese im Buch über Tibet von dem salzigen See Tschargut-tso, aber meine Gedanken sind weiter weg. Ich hab nämlich keine Angst mehr vor dem Denken, seit mir nichts anderes übrigblieb. Und ich freu mich über meine Gedanken, selbst wenn sie Wüsten entdecken. Denn ich bleib durch das Denken nicht mehr allein, weil ich mehr zu mir selber komm. Dabei find ich meistens nur Dreck. Die Uniform darf ich noch immer tragen, ich hätt ja auch keinen anderen Anzug, und das Jahr in der Kaserne war mein goldenes Zeitalter. Vielleicht hätt ich jenem Bettler meine fünf Taler geben sollen, vielleicht wär dann heut mein Arm wieder ganz – Nein, das ist ein zu dummer Gedanke! Weg damit! Mein Vater sagte: Wir haben gesiegt – jawohl: wir. Als wär er auch dabei gewesen und einst hat er doch den Krieg verflucht, seinen Weltkrieg, weil er dabei gewesen ist. Aber mein Krieg, der versetzt ihn in einen Taumel der Begeisterung – Ja, er ist und bleibt ein verlogener Mensch. Ich bin ihm nicht bös, wenn ich mir dieses Zimmer überleg.

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Wer arm ist, darf sich was vorlügen – Das ist sein Recht. Vielleicht sein einziges Recht. Ich trete ans Fenster und schau hinaus. Drunten auf der Straße gehen zwei Kinder. Mit kleinen steifen Schritten – So bist du auch mal gegangen. Ein Radfahrer fährt vorbei. Dann kommt eine alte Frau und ein Mann mit einem Rucksack. Ein Herr mit einer Zigarre und ein Lastauto – Das alles gehört zu deinem Volk. Schau dirs an, dein Vaterland – das ist dein alles. Das hat dein alles zu sein. Du hast es beschützt – Jetzt bist du ein Krüppel. Ich stutze. „Beschützt“? Wer hats denn eigentlich bedroht? Jenes kleine Land? Lächerlich! Der Radfahrer sah das Lastauto, er begann zu wackeln und stieg vorsichtshalber ab, denn die Gasse ist eng. Auch mein Vaterland beginnt zu wackeln. Immer größer werden die Lastautos – Die Rüstungsindustrie ist verstaatlicht, sagt mein Vater. Also verdient der Staat. Und der Staat ist das Volk. Warum verdien ich also nichts? Gehör ich denn nicht zu meinem Volk? Ich hab doch nur verloren – Warte nur, bald gibts nichts zum Lachen! Wie kalt das Licht wird, wenn man denkt – Mein Herz beginnt zu frieren. In der Zeitung steht, wir kriegen Schnee. Heuer kommt der Winter rasch. Wir heizen bereits, mein Vater und ich. Ihm kanns nicht heiß genug sein, und ich schlaf schlecht, wenn das Fenster nicht offen ist. Das ergibt häufig Wortwechsel. Ich wohne ja bereits seit Wochen bei ihm, und ich hab das deutliche Gefühl, daß er aufatmen würde, wenn ich endlich verschwunden wär. Er sagt jedoch nichts dergleichen, nur ab und zu schießt er mit vergifteten Pfeilen. Besonders, wenn ich mich mit seinen Klingen rasier. Aber was bleibt mir denn übrig? Ich hab ja keine eigenen Klingen! Soll ich mir einen Vollbart wachsen lassen? Nein, nie! Niemals! Ich will glattrasiert leben, ganz glatt. Lieber rauch ich nichts! Ich schau nicht mehr hinaus, sondern leg mich aufs Sofa, aber das Buch über Tibet laß ich auf dem Tisch. Die Erforschung der weißen Flecke auf der Landkarte – Nein, mich interessieren heut andere Gebiete!

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Wie gern würd ich auf alle Expeditionen verzichten, wenn mir die Post nur endlich ein kleines Brieflein bringen würde – Nur ein paar Zeilen müßten es sein. „Sie werden hiermit aufgefordert, sich am nächsten Donnerstag zwischen 10 und 11 unter Vorweisung Ihrer Militär- und Zivildokumente zwecks Einstellung als Hilfsdiener einzufinden“ – unleserliche Unterschrift. Und die unleserliche Unterschrift würde meine Dokumente prüfen und würde dann sagen: „Sie haben Glück, denn Sie haben die höchste Protektion! Sie sind also hiermit ein staatlich angestellter Hilfsdiener mit Pensionsberechtigung – Man gratuliert!“ Der Dienst wär ausgesprochen leicht. Dreimal täglich muß ich zur Post, Briefe holen und befördern. Das ist eigentlich alles. Ich wohne nun nicht mehr bei meinem Vater, sondern bewohne ein eigenes Zimmer, direkt im Amtsgebäude. Es ist groß und hell und geht auf einen vornehmen Park hinaus, in dem sich der Efeu um die alten Bäume rankt. Die Uniform hängt im Schrank, ich hab mir einen blauen Anzug auf Raten gekauft, denn das kann ich mir nun leicht leisten, es ist ja nimmer so wie früher – Das Grammophon spielt noch immer. Wann wirst du dich verkaufen, liebliche Nachbarin? Von mir kriegst nichts. Schad, daß jetzt meine dicke Schwester nicht da ist, der würd ich gar manches erzählen! „Warum pflegst du kranke Menschen?“ würd ich sie fragen. „Es gibt doch Gesunde mehr als genug, bet lieber für die, damit sie sich nicht verkaufen müssen, und laß die Kranken krank sein!“ Was würde sie antworten? Ich weiß es schon. Sie würde sagen: „Liebe deine Feinde, aber hasse den Irrtum“ – Was ist Irrtum? Ich mag es nicht, dieses Wort! Weil man sich nicht auskennt damit, und weil er dann immer wieder vor mir steht, mein Hauptmann! „Was gibts denn?“ fragt er mich. „Melde gehorsamst, nichts.“ Ich dreh mich um – Nein-nein, denk nur weiter, sei nicht feig! Es ist ja so kalt geworden, daß du nichts mehr spüren kannst – keinen Stich, keinen Hieb. Los-los! Was regt dich denn auf? Was läßt dir denn keine Ruh? Ich hör es wieder, wie sichs mir nähert – Hatte er recht, frage ich mich, daß er sich vor seinem Vaterlande ekelte? Ja oder nein? Gewiß, er war ein Schuft – aber hatte er recht? Kann ein Schuft recht haben? Als wir zum Beispiel seinerzeit zusahen, wie unsere Flieger das feindliche Lazarett mit Bomben belegten und die herumhüpfenden Insassen mit Maschinengewehren bestrichen, da drehte sich unser Hauptmann plötzlich um und ging hinter unserer Reihe langsam hin und her.

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Er sah konstant zur Erde, wie in tiefe Gedanken versunken. Nur ab und zu hielt er und blickte in den stillen Wald. Dann nickte er mit dem Kopf, als würde er sagen: „Jaja“ – Oder zum Beispiel, als wir damals in der Siedlung beschlagnahmten, da stellte er sich uns in den Weg. Er wurde ganz weiß und schrie uns an, ein ehrlicher Soldat plündert nicht! Er mußte erst durch unseren Leutnant, diesen jungen Hund, aufgeklärt werden, daß die Plünderung nicht nur erlaubt, sondern sogar anbefohlen worden war. Höheren Ortes. Da ging er wieder von uns, der Hauptmann. Er ging die Straße entlang und sah weder rechts noch links. Am Ende der Straße hielt er an. Ich beobachtete ihn genau. Er setzte sich auf einen Stein und schrieb mit seinem Säbel in den Sand. Merkwürdigerweise mußte ich plötzlich an das verwunschene Schloß denken und an das Fräulein an der Kasse, das die Linien zeichnete – Sie wollte mich nicht sehen. Ja richtig, das verwunschene Schloß – Das gibts ja auch noch! Komisch, daß ich jetzt so lang nicht daran dachte – Natürlich, die Fenster sind vergittert, und die Drachen und Teufel, sie schauen heraus. Fast hätt ichs vergessen. Und ich wollt doch immer wieder hin – Wie ist denn das nur gewesen? Stimmt, ich kaufte mir zwei Portionen Eis. Der Mond schien, die Luft war lau, und die Katzen konzertierten. Aber ich mag kein Eis, und vielleicht ist sie nur eine Sitzschönheit, ich kenn ja nur das von ihr, was über die Kasse herausschaute. Vielleicht hat sie krumme Beine – Nein-nein, das ist nicht möglich! Erinner dich nur! Sie zeichnete ihre Linien, und einen Augenblick lang war dir doch alles so fern, die ganze Welt, und du dachtest, das Herz bleibt stehen. Es rührte sich kein Blatt, nur aus dem verwunschenen Schlosse tönte leise die alte Musik. Wolltest du ihr denn nicht schreiben? Ach jaja – „Wertes Fräulein“, wollte ich schreiben, „gestern war Donnerstag, und heut ist schon Freitag. Wann ich wiederkommen werd, das weiß ich noch nicht, aber Sie werden immer meine Linie bleiben“ – Ich muß lächeln. Morgen geh ich mal hin.

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In der Nacht hat es geschneit, und jetzt ist alles weiß. Ich geh zu meinem verwunschenen Schloß. Die Stadt ist stiller geworden durch den Schnee, man hört seine eigenen Schritte nicht.

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Und wie ich so dahingeh, bemerk ich es wieder, daß ich mich spiegle. In den vornehmen Auslagen. Jetzt geh ich durch einen Schinken. Jetzt durch Bücher und dann durch Perlen, Puderquasten – Einst wollt ich das alles zertreten, zertrampeln – wie dumm! Heut möcht ich den Schinken fressen, die Bücher lesen, und die Perlen und Puderquasten, die möcht ich jemand schenken – Aber wem? Vielleicht dem Fräulein an der Kasse – Vielleicht kommt es noch dazu. Werden sehen! Eigentlich bist du sehr allein – Werden sehen, werden sehen! Ich geh zum Hafen hinab. Die breite Allee wird immer breiter und lauter. Ja, hier ist immer Betrieb, Sommer und Winter. Die schwarzen und gelben Matrosen, sie weichen mir aus, denn ich hab noch die Uniform an. Mit meinen drei silbernen Sternen – Wenn diese Exoten wüßten, daß ich nichts mehr bin! Rechts und links beginnen die Sehenswürdigkeiten – Die großen und die kleinen Affen, sie frieren im Chor. Schießbuden und Spielautomaten, das Schaf mit den fünf Füßen und das Kalb mit den zwei Köpfen – Nichts ist geschlossen, trotz der eisigen Luft, die über das Meer gekommen war. Es ist alles noch da. Auf der Achterbahn quietschen die Leut, und aus dem Hippodrom treten zwei Weiber, eine größere und eine kleinere. Sie sind geritten und richten sich noch immer die Röcke. Ja, die könnten mir beide gefallen, aber sie haben schon einen Kavalier. Ein kleines Männchen, eine elende Ratte. Es hat sich nichts verändert. Es ist alles beim alten geblieben, nur daß inzwischen Schnee gefallen ist. Auch jene Ratte ist mein Volksgenosse, und auch für diesen Mist gab ich meinen Arm – Ich muß grinsen, denn heut weiß ichs, daß, wenn ich was zu sagen hätte, daß ich dann dieser Ratte meinen Arm um den Schädel schlagen würde. Bis sie verreckt. Rascher wandle ich die Buden entlang, denn mein verwunschenes Schloß kommt ja erst ganz am Schluß. Rechts gibts den Mann mit dem Löwenkopf und links die Dame mit dem Bart. Und dort – richtig, dort steht er noch immer, mein Eismann! Dort kauft ich mir einst die beiden Portionen, obwohl ich kein Eis mag. Aber heut ist es Winter geworden, und er verkauft kein Eis mehr, sondern gebrannte Mandeln. Ich würd mir auch keine gebrannten Mandeln kaufen, obwohl ich die sehr gern hab – Nein, heut geh ich direkt auf sie zu! Paß nur auf, jetzt komme ich! Doch – was ist denn das?! Ich stocke – Ich halte an.

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Als wär plötzlich eine Wand vor mir – Was ist los?! Was heißt das?! Mein verwunschenes Schloß – es ist ja nimmer da! Es ist verschwunden – weg, ganz weg! Wo ist es denn hin?! Hier steht ja jetzt etwas ganz anderes, eine Autohalle oder irgendsowas dergleichen – Und meine Linie – meine schöne Linie? An der Kasse sitzt ein anderes Fräulein. Ich schau noch immer hin. Und einen Augenblick lang wirds mir so weh um das Herz, als hätte ich etwas verloren, das ich niemals besessen hab. Der Schnee fällt immer stiller, und es geht eine Sehnsucht durch meine Seele – Ja, es war mal ein Frühling, aber ich mußte weg. Das Vaterland rief und nahm auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. Mit Recht? Der Wind weht, kalt und naß, die Katzen konzertieren nicht mehr, und ich spür meinen kaputten Arm, er wird nimmer ganz – Wo ist mein Fräulein geblieben? Ich geh weiter und stolpere. Über was? Über nichts. Es ist ja nichts da. Aber nun lächelt das andere Fräulein, weil ich gestolpert bin. Sie hat es gesehen. Sie lächelt noch immer und schaut mich an. Schau mich nur an, du gefällst mir nicht! Ich will weg, aber ich komme nicht weit. Nur über die Straße. Dort steht mein Eismann, und ich kauf mir gebrannte Mandeln. Sie sind sehr gut. Ich blicke auf die Autohalle, wo die Menschen in kleinen Autos herumfahren, immer im Kreise, immer einer allein, und ich frage den Eismann: „Hier stand doch einst das verwunschene Schloß, nicht?“ „Ja“, sagt er, „das war einmal.“ „Und warum gibts das jetzt nimmer?“ „Es hat sich nicht mehr rentiert.“ Ach so – „Es war zu altmodisch“, höre ich den Eismann, „es paßte nicht mehr in unsere Zeit.“ Ich horche auf. Wie sagte er? Nicht in die Zeit? Wo hab ich das nur schon mal gehört – Richtig, der Hauptmann! Der schrieb es in seinem Briefe! Dort las ichs ja zum erstenmal, schwarz auf weiß: Ich passe nicht mehr in diese Zeit – Was soll das eigentlich heißen? Warum paßt denn mein verwunschenes Schloß nicht mehr in unsere Zeit? Paßt denn diese Autohalle besser hinein?

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Diese blöde Autohalle, wo ein jeder wie der andere für sich allein herumfährt und sich einbilden darf, daß er in seinem eigenen Auto fahren kann, wohin er will – Derweil gehts immer im Kreis. Es ist zu dumm! Da waren doch meine Drachen und Teufel ganz andere Leut! Und erst das Skelett persönlich – Ich erinner mich noch genau. Und die allgemeine Finsternis, in der man das Gruseln lernen sollte, wenn man immer wieder mit einem Fuß ins Nichts getreten ist – Weiß Gott, das hat mir besser gefallen, obwohls natürlich auch nur eine Dummheit gewesen ist. Aber es war eine schönere Dummheit. Oder: Paß ich denn auch nicht mehr in die Zeit? Unsinn! Ich bin da und kann nirgends heraus, ich laß mir da nichts dreinreden! Natürlich paß ich in meine Zeit, nur in diese jämmerlichen Autos paß ich nicht hinein! Ich mag nicht immer im Kreis herumfahren, ich bin ja nicht blöd! Genug gegrübelt – Schluß! Ich hau die gebrannten Mandeln auf die Erde, daß es nur so klatscht, und geh hinüber. Schnurgerade. Zur Autohalle. „Eine Eintrittskarte?“ fragt das Fräulein an der Kasse. „Nein“, sage ich, „ich möchte nur eine Auskunft haben.“ „Bitte?“ „Hier stand doch einst etwas anderes“ – „Jawohl“, fällt sie mir ins Wort, „das verwunschene Schloß, mein Herr.“ „Stimmt. Und damals saß doch hier ein Fräulein an der Kasse, ein anderes Fräulein, wie soll ich sie Ihnen nur beschreiben“ – „Ich weiß schon“, unterbricht sie mich wieder, „aber jenes Fräulein ist jetzt nicht mehr bei uns.“ „Sondern?“ „Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben, ich hab auch keine Ahnung. Doch bemühen Sie sich bitte ins Bureau, sehen Sie drüben die weiße Wand und die schwarze Tür – Die werdens wahrscheinlich wissen, wo das Fräulein jetzt steckt.“ Ich bedanke mich und geh auf die weiße Wand zu. An der Türe steht: Nicht klopfen! Ich klopf also nicht, sondern trete gleich ein, aber eine schrille Stimme kreischt mich an: „Können Sie nicht klopfen?!“ Ich wollt schon grob erwidern, da seh ich, wer vor mir steht. Es ist ein Zwerg, ein Liliputaner. Er hat ein verkniffenes boshaftes Gesicht. Kein Wunder, er ärgert sich halt immer, daß er so klein geblieben ist. Er scheint gerade auf und ab gegangen zu sein, der Liliputaner, und er hielt inne, da ich eintrat. Ich bemerke erst jetzt einen zweiten Menschen – der steht vor einem Pult und schreibt in dicken Büchern, eine Art Buchhalter oder so. Er betrachtet mich über seine Brille hinweg. Der Zwerg winkt ihm mit einer herrischen Geste, dreht mir ostentativ den Rücken und blättert wichtigtuerisch in Papieren. „Sie wünschen?“ erkundigt sich der Buchhalter. Ich frage nach dem Fräulein, aber ich komme nicht weit –

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Mit einem Ruck dreht sich der Zwerg um und sagt: „Ah“ – Er sagt das gedehnt und fixiert mich. Dann grinst er. Und auch der Buchhalter grinst. Was haben denn die beiden? Was soll das? Der Zwerg mustert mich noch immer und meint dann ironisch: „Also Sie sind derjenige, welcher“ – Welcher? Wieso? „Sie mußten in den Krieg?“ fährt er mit seiner Fragerei fort. „Ja, das heißt: ich ging als Freiwilliger“ – Der Zwerg unterbricht mich mit einer Handbewegung, als wollte er sagen, lassen wir das, das kennen wir schon, wir sind unter uns – Er betrachtet mich wieder von oben bis unten und sagt dann zum Buchhalter: „Er ist es.“ Der Buchhalter kichert wie eine alte Jungfer. Mir wirds zu dumm. „Wer bin ich?“ frag ich fast drohend. „Sie sind ein Soldat, mein Herr“, antwortet der Liliputaner mit einer spöttischen Höflichkeit, „und das Fräulein, nach dem Sie sich erkundigen, das hatte sich nämlich in einen Herrn Soldaten verliebt, anscheinend gleich so auf den ersten Blick, sie soll ihn kaum gekannt haben, wahrscheinlich nur so vom Sehen aus – Na und dann ist halt eines Tages jener Herr Soldat nicht mehr erschienen.“ Ich starre ihn an. „Sie hat geschrieben?“ „In einer Tour, aber er hat nicht geantwortet. Nicht eine Zeile, mein Herr“ – Der Buchhalter kichert noch immer. Schadenfroh, sehr schadenfroh. „In einem Krieg gehen eben oft viele Briefe verloren“, meint der Zwerg und lacht kurz. Mir wirds ganz wirr im Kopf. Sie hat mir geschrieben? Gleich auf den ersten Blick? Woher wußte sie denn meinen Namen, wer ich bin und dergleichen – Wahrscheinlich nur so vom Sehen aus? Ausgeschlossen! Ausgeschlossen – Und ich sage: „Meine Herren, hier scheint eine Verwechslung vorzuliegen“ – „Kaum!“ fällt mir der Zwerg ins Wort. „Aber das ist doch unmöglich“ – „Es ist alles möglich!“ „Nein, das kann ich nicht glauben, das kann nicht sein!“ „Moment, mein Herr!“ unterbricht mich wieder der Zwerg. „Wir sind hier kein Auskunftsbureau und haben zu arbeiten. Bitte, überzeugen Sie sich selbst, der Herr Buchhalter wird Ihnen die Adresse der Dame geben“ – Er verbeugt sich knapp und geht durch eine Tapetentür. Ich schau ihm nach, und der Buchhalter blättert in einer Kartothek. „Wer war denn dieser kleine Herr?“ frage ich automatisch. „Der Direktor unserer Liliputanertruppe.“ Aha. Ich warte auf die Adresse. Und auf ihren Namen.

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Wie wird sie wohl heißen? Eulalia? Ich muß grinsen. Nein, das kann ich wirklich nicht glauben, daß ich es bin, dem sie geschrieben hat – Sie wird einem anderen Soldaten geschrieben haben, aber ich werde der Sache mal nachgehen, obwohls doch nur eine einfache Verwechslung sein kann. Mir wars ja schon im Frühjahr klar, daß sie bereits einen haben mußte, irgendeinen Budenkönig. Ich dachte an einen Seiltänzer, Messerschlucker, dummen August – aber ein Soldat, das fiel mir nicht ein. Eher noch ein Liliputaner – sofern er nämlich nach Geld stinkt. Doch jetzt will ich, wie gesagt, der Sache nachgehen, denn wenn ich mich nicht verwechsle, dann wärs allerdings ein Traum. Der Buchhalter blättert noch immer, und ich schau mich in seinem Bureau um. An den Wänden hängen Plakate, Zirkus und so. Eine Dompteuse, zum Beispiel. Mit bengalischen Königstigern. Ein Balance-Akt und ein Magier. Ein brauner und ein weißer Bär. Und die dickste Dame der Welt. Nein, die wär nichts für meinen Arm – „Hier“, höre ich plötzlich den Buchhalter, „jetzt haben wir sie endlich, diese verflixte Adresse – Einen Augenblick, ich schreib sie Ihnen nur auf!“ „Danke vielmals“ – „Keine Ursache!“ Er nimmt seine Brille ab, setzt sich eine schärfere auf, und während er die Adresse meines Fräuleins auf einen Zettel schreibt, meint er so nebenbei: „Das war ein braves Fräulein, ein freundliches. Sie tat mir sehr leid“ – „Warum?“ Er lächelt sonderbar. „Sie wurde eben krank, und da hat man sie entlassen.“ „Krank?!“ „Jaja, ziemlich“ – er kichert wieder, und es wird mir unangenehm. „Was hat ihr denn gefehlt?“ „Mein Gott“, sagt er, „nichts Besonderes“ – Jetzt hat er meinen Zettel fertig, er erhebt sich, nimmt die Brille ab und wendet sich mir zu – Er stockt und glotzt mich mit seinen wässerigen Augen entsetzt an. Oder ist er nur kurzsichtig? Nein, er hat Angst. Warum? Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Langsam reicht er mir den Zettel, fast zögernd, als fürchte er sich, mir den Zettel zu geben – „Hier“, sagt er, und seine Stimme klingt plötzlich anders, hohl wie aus einer Gruft. Ich nehm ihm den Zettel ab und lese das erste Wort: Anna –

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Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor, sagte meine dicke Schwester, und ich glaube allmählich, sie hatte recht. Denn ich trag keine Schuld an dem, was vor einer Stund geschah, es mußte so sein. Wenn ichs mir jetzt überlege, wieso es dazu gekommen ist, dann flimmert der Schnee vor meinen Augen, als hätt ich noch Fieber. Es steht ein Engel in der Nacht und hält meinen Arm in seiner Hand, meinen armen Knochen, den ich diesem Vaterland gab, das seine Ehre verlor und zwar für immer – Ja, der Hauptmann hatte recht! Jetzt ekelts auch mich vor meinem Vaterland. – Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht, als ich langsam über den leeren Platz ging, quer hinüber zur Stadt Paris. Als ich eintrat, atmete mein Vater sichtbar auf. „Menschenskind, wo warst denn so lang?!“ erkundigte er sich überstürzt. „Ich hab schon die größten Sorgen gehabt, ob dir nicht vielleicht etwas zugestoßen ist, es werden ja täglich mehr Leut überfahren!“ Ich beruhigte ihn – Zufällig hätte ich einen Freund getroffen, und dieser Freund, der hätt mich ins Kino eingeladen und hinterher auf ein Glas Bier. Das war natürlich gelogen, aber mein Vater glaubte es mir. „Hoffentlich hast du schon gegessen“, sagte er, „denn jetzt ist die Küche schon zu“ – „Ich hab keinen Appetit.“ Er sah mich forschend an. „Du bist doch nicht krank? Paß nur auf mit deiner Verletzung, die ist noch lang nicht in Ordnung – Hast du nicht Fieber?“ „Nein.“ „Trau dir nur nicht allzuviel zu! Wart, ich will sehn, ob ich nicht doch noch was Eßbares auftreib, was Kaltes – Essen muß der Mensch, sonst geht er vor die Hunde!“ Er verschwand hinter dem Schanktisch, ich zog mir den Mantel aus und setzte mich, wo ich immer saß, gleich neben die Tür. Es waren nur noch wenig Gäste da, Chauffeure vom nahen Standplatz. Sie würfelten wie immer. Hier hast du nun viele Wochen gegessen, denke ich, Mittag und Abend, wenn auch zu ermäßigten Preisen, aber auf Kosten deines Vaters. Er ist ein braver, verlogener Mann. Es wär wirklich arg, wenn ich ihm etwas antun würde. Denn ich werd vielleicht nimmer lang auf seine Kosten essen können, vielleicht heute nacht zum letzten Mal – Vielleicht kommt sie schon morgen früh, die Polizei, und holt mich ab. Unsinn! Woher soll denn das die Polizei wissen? Wer hats denn gesehen? Kein Mensch. Aber die Kriminaler sind raffiniert, ich kann mich noch gut erinnern. Es stehen ihnen alle Apparate und Hilfsmittel zur Verfügung, sie bringen ja das Unglaublichste an den Tag, früher oder später – Und vielleicht hats doch wer gesehen, jemand, an

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den man gar nicht denkt, wär ja auch möglich, daß mich einer genau beobachtet hätt, eine Uniform fällt immer auf, besonders eine mit drei Sternen, mit drei silbernen Sternen – Mein Vater bringt mir Käse und Brot. Und ein Glas Wein von dem Extratropfen. Ich schau ihn überrascht an. „Wein?“ „Ausnahmsweise!“ lächelt er. „Weil ich mich freu, daß du nicht überfahren worden bist, aber dann auch, damit du dich tröstest – erschrick nur nicht! Du hast nämlich heut abend einen Brief bekommen, meine Wirtin ist so lieb gewesen und hat ihn mir extra hergebracht, sie hat nämlich gleich richtig gedacht, daß es etwas Wichtiges sein muß, weil ich doch niemand kenne, der mir schreiben sollte, und es ist auch etwas Wichtiges, doch leider etwas Trauriges“ – „So red doch schon!“ „Nanana, nur nicht gar so ungeduldig! Ich red ja schon! Also, dieser Brief stammt von deiner Hauptmannswitwe, sie schreibt – Da, lies es übrigens selbst! Mit der Hilfsdienerstellung ist es Essig, nichts zu wollen, nichts zu machen“ – Ich lese den Brief und leg ihn dann weg. „In Ordnung“, sage ich und beginne den Käse zu essen. Mein Vater glotzt mich verwundert an. „In Ordnung, meinst du? Das war doch der letzte Strohhalm, eine Katastrophe“ – „Es gibt ärgere Katastrophen.“ „Kaum, mein liebes Kind, kaum! Was wollen wir denn jetzt anfangen? Du kannst doch nicht bis in alle Ewigkeiten hier an diesem Katzentisch essen, ich persönlich hätt ja nichts dagegen – Ich zahls ja gern, aber einmal wirds auch damit Schluß! Vergiß nicht, ich bin ein alter Mann, mich kann jeden Tag der Teufel holen, und du, du bist noch jung – Du mußt etwas in Angriff nehmen!“ „Franz!“ ruft der eine Chauffeur. „Zahlen!“ Mein Vater geht. Ich esse ruhig meinen Käse und denke: Ja, du mußt etwas in Angriff nehmen – Der Hilfsdiener – der ist vorbei. Der kommt mir ja fast schon komisch vor. In einem eigenen Zimmer zu wohnen, direkt im Amtsgebäude, mit Aussicht auf einen vornehmen Park, in dem sich der Efeu um die alten Bäume rankt – wie lächerlich! Ich hab mir einen blauen Anzug auf Raten gekauft, und dreimal täglich muß ich zur Post – nein-nein, ich bin nicht zum Hilfsdiener geboren! Ich bin etwas anderes geworden. Die Hauptsache ist und bleibt: Es kommt nicht auf. Dann wär wirklich alles in Ordnung. Denn ich hatte ja auch recht mit dem, was ich tat, jawohl: recht! Ich erinner mich noch genau, wie ekelhaft mir jener Buchhalter war, als ich ihn fragte: „Und was macht sie jetzt, das Fräulein Anna?“ Er zuckte nur die Schultern: „Das wissen die Götter!“ Auf die Götter reden sich alle hinaus, aber an den lieben Gott denkt keiner. Vor vier Stunden dachte ich noch: Ausgeschlossen, daß du es bist, dem sie ihre Briefe schrieb. Woher hätte sie es denn wissen können, wer ich gewesen bin? Sie hätt mir ja seinerzeit heimlich nachschleichen und hätt sich beim Posten in der Kaserne erkundigen müssen, um meinen Namen zu erfahren – Nein, das ist ausgeschlossen! Als ich heut abend den Buchhalter verließ, dachte ich nur: Jetzt weißt du es wenigstens, wo sie wohnt.

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Sie wohnt sehr weit. Wenn du zu Fuß gehst, brauchst du gut anderthalb Stunden, aber du sparst dabei das Trambahngeld, es dämmert zwar schon, doch die Nacht ist noch fern. Rasch ging ich die Buden entlang. Es gibt Millionen Annas auf der Welt, jede ist anders und keine ist die, die du suchst. Blond oder braun oder schwarz – Es wird auch rote Annas geben. Dicke und dünne, lange und kurze, ältere und jüngere. Wieviel Annas hast du denn schon gehabt? Ich glaub, nur zwei, wenn mich nicht alles täuscht – Von einigen weiß ichs zwar nicht, wie sie geheißen haben, die kannt ich nämlich nur so für die Nacht. Wie gehts jetzt wohl deinen beiden gewesenen Annas? Laßt mich in Ruh! Ob die noch leben, das ist mir egal, jetzt kümmert mich nur eine dritte Anna – Warum? Was hast du denn an ihr gefressen? Vielleicht, weil ich einst um ihretwillen etwas tat, was ich eigentlich nicht tun wollte – Ich hab ja einst zwei Portionen Eis gefressen. Spöttel nicht! Man braucht sich noch lang nicht zu schämen, wenn man sich freut! Lieben ist keine Schand! – Rasch ging ich die Straßen entlang. Die Stadt wurd immer stiller. Wie kalt einem die Welt werden kann – Und plötzlich, da flog, ich weiß nicht woher, ein Gedanke in meine Seele hinein – und es wurd mir so licht und warm, daß ich unwillkürlich stehen blieb. Ich hatte so etwas Schönes noch nie gesehen. Es war ein Lied, aber ich konnte die Worte nicht verstehen. Wer singt denn in meiner Nacht? Ist das mein Fräulein? Still, jetzt will sie mir etwas sagen – „Hör mich an“, sagt sie, „als ich dich damals vor unserem verwunschenen Schlosse sah, dachte ich, du würdest mich wiedererkennen“ – Wiedererkennen? „Erinner dich, erinner dich – du und ich, wir waren uns ja schon bekannt“ – Schon bekannt? „Von früher her, von früher – und ich hoffte immer, du würdest wieder zu mir kommen, aber du hast dir nur eine Eintrittskarte gekauft und hast dein Fräulein nimmer gekannt“ – Wer bist du? „Später, später – Damals sagt ich natürlich kein Wort, sondern zeichnete nur meine Linien, denn jeder Mensch hat seinen Stolz“ – Seinen Stolz? „Kein Wort, kein Wort – Geh nur zu, ich wart schon lange auf dich“ – Du wartest? Ich schau mich um. Der Wind weht, und der Schnee tanzt.

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„Komm nur, komm – Du hast nimmer weit. Siehst du das gelbe Haus vor dir? Dort wohne ich, dort wohne ich“ – – Ja, hier wohnst du. Ich bin am Ziel. Auf dem Zettel steht im dritten Stock. Hinter welchem Fenster? Ich weiß es noch nicht – Im Haustor treff ich die Hausmeisterin. Sie scheuert den Boden. Ich grüße und frage, ob hier das Fräulein wohnt. Sie glotzt mich an und sagt kein Wort. Auf einmal schreit sie: „Jesus Maria! Sie sinds?! Jetzt erkenn ich Sie erst wieder, ich dachte, Sie wären schon tot!“ Was? Ich?! Tot?! „Ich dachte, Sie wären im Krieg geblieben“, sagt sie und erhebt sich vom Boden. „Das arme Fräulein hat ja so lang auf einen Brief von Ihnen gewartet“ – Ich starre sie an. „Sie kennen mich?“ Sie betrachtet mich langsam von oben bis unten. Dann lächelt sie hinterlistig: „Nein-nein, ich will nichts gesagt haben“ – „Wer bin ich denn?“ „Das wird der Herr wohl selber wissen. Auf alle Fäll ist es schön von Ihnen, daß Sie doch noch gekommen sind“ – Sie stockt im Satz und verstummt. Mir wirds immer wirrer im Kopf, unschlüssig blick ich ins Treppenhaus – und auf einmal kommts mir hier so bekannt vor, als hätt ich dieses Treppenhaus schon einmal geträumt. Richtig, hier kennst du ja alles! Rechts gehen die Stufen empor, und links um die Ecke wohnt diese Hausmeisterin, und droben gibts einen dunklen Gang mit drei Türen in jedem Stock – Es wird mir unheimlich. Wo bin ich da? „Das Fräulein wohnt jetzt zwar nicht mehr hier“, höre ich die Stimme der Hausmeisterin, „sie ist schon vor einem halben Jahr ausgezogen.“ „Wohin?“ Sie lächelt wieder tückisch. „Gehens nur in den dritten Stock hinauf, die Frau, bei der sie gewohnt hat, die wirds Ihnen schon sagen, wo Sie sie besuchen können – Das ärmste Fräulein wird ja eine Riesenfreud haben, wenn Sie wieder auftauchen unter den Lebendigen, besonders nach dem vielen Unglück, das sie hat erdulden müssen“ – „Unglück?“ „Nun ja, einfach wars gerade nicht“ – „Was war nicht einfach?“ Sie schweigt und grinst. Ich lasse nicht locker. „So redens doch, ich hab ja keine Ahnung!“ Sie fixiert mich frech und beginnt zu lachen. „Natürlich-natürlich, die Herren der Schöpfung sind immer absolut unschuldig und haben keine Ahnung, als könntens nicht bis drei zählen, auch mein lieber Herr Mann“ – „Hören Sie“, unterbrech ich sie grob, „was schwätzen Sie da für dummes Zeug?!“

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Sie zuckt die Schultern. „Denkens nur nach, junger Herr, Sie werdens schon erraten“ – „Ich kann nichts erraten!“ „Und ich sag kein Wort mehr, kein Sterbenswort – Werd mich hüten! Mit der Sache will ich nichts zu tun haben! Gehens halt hin zu ihr selbst persönlich, sie wird Ihr Gedächtnis schon auffrischen! Gute Nacht!“ Sie läßt mich stehen und wendet sich wieder ihrem Boden zu. Sie scheuert ihn verbissen. Ich schau ihr noch ein Weilchen zu, dann geh ich in den dritten Stock hinauf. Zu der Frau, von der mein Fräulein fortzog. Wohin denn nur? Diese Hausmeisterin ist eine bissige Bestie – Es gibt gottlob nicht nur solche, ich kenn auch sehr annehmbare. Überhaupt gibts zweierlei Menschen. Aber nur ein Fräulein – Es ist wahr, dieses Treppenhaus kommt mir wirklich bekannt vor. Warte nur, bald kennst du dich aus – Jetzt bin ich im dritten Stock. Ich läute an der zweiten Tür, wies auf dem Zettel steht. Eine Dame öffnet ängstlich, und ich sehs auf den ersten Blick, daß sie nicht alt werden kann. Ihre Haare sind grau, aber schwarz wie Pech, und sie trägt einen grellen Bademantel – ein altes Stück. Mißtrauisch mustert sie mich, ich merks ihr an, daß sie ihre Tür zuschlagen würde, wenn ich keine Uniform anhätte. Aber zur Uniform haben die Leute Vertrauen. „Sie wünschen?“ erkundigt sie sich. Sie lispelt stark. „Verzeihen Sie, daß ich noch so spät am Abend störe, ich möchte nämlich nur eine Auskunft haben“ – Und ich sage es ihr, daß ich das Fräulein suche. Sie mustert mich immer mißtrauischer. „Wen sucht der Herr?“ Ich verbeuge mich. „Verzeihen Sie, aber diese Hausmeisterin schickt mich zu Ihnen herauf, sie redet so wirres Zeug durcheinander, daß ichs schon selbst nicht mehr weiß, wer ich bin“ – „Darf man fragen“, fällt sie mir ins Wort, „in welchem Verhältnis der Herr zu dem Fräulein steht – Ich meine: Sind Sie mit ihr verwandt?“ Ich lächle verbindlich. „Die Frau Hausmeisterin meint, ich wär des Fräuleins Bräutigam“ – „Aber-aber!“ unterbricht sie mich entrüstet. „Diese unmögliche Person schwätzt wahrlich lauter ungereimtes Zeug, dabei verwechselt sie auch noch alle Leut, mir scheint, die Person ist nicht ganz normal – Sie, mein Herr, sind doch hier kein Bräutigam, der richtige Bräutigam war zwar auch ein Herr vom Militär, aber für diese idiotische Person da drunten ist Uniform eben Uniform, und außerdem kann sie ja auch den richtigen Bräutigam nur einmal gesehen haben, flüchtig, denn er war nur ein einziges Mal hier – Ach jaja, Glück währt nur kurze Zeit!“ So, denke ich, also du bist nicht der, dem sie ihre Briefe schrieb – Es war ein anderer Soldat. „Hm“, sag ich nur, und eigentümlicherweise ists mir jetzt völlig gleich-

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gültig, ob es ein anderer war oder ich – Als wüßt ichs bereits, daß die Hauptsache erst kommt. „Sie waren auch im Krieg?“ fragt mich die Alte interessiert. „Ja, das heißt: als Freiwilliger“ – Jetzt macht sie eine Handbewegung wie zuvor der Liliputaner. Ja, das kennen wir schon, lassen wir das, wir sind unter uns – Dann fordert sie mich auf, in ihre Wohnung einzutreten, denn „man könne sich doch nicht mit einem Helden in einem kalten Treppenhaus unterhalten“. Sie führt mich in ihr Zimmer. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie in mein Schlafgemach führe, aber das ist der einzige Raum, den ich heize, obwohl wir ja allerhand erobert haben“ – Sie tut ironisch, und ich tu nichts dagegen. Ja, wir haben gesiegt! „Ob wir allerdings die Früchte unserer Siege noch ernten werden“, parliert sie mit mir, „glaub ich kaum. Ich fürchte-fürchte, daß zumindest meine Wenigkeit jene prophezeiten Segnungen nicht mehr erleben wird, man ist ja schon steinalt“ – „Aber gnädige Frau!“ „Nanana!“ droht sie mir mit dem Zeigefinger. „Sie sind mir einer!“ „Ich sag nur die Wahrheit“, lüge ich. „Das ist sehr lobenswert, doch zumeist kein ungefährliches Unterfangen – Schauen Sie, das alles war einst ich!“ Sie deutet auf ihre vier Wände, die sind übersät mit Photographien. Ich erkenne verschwommen eine junge Frau in weißem Trikot. Das war einst mein Gegenüber? Sie nimmt ein Bild von der Wand. „Ich und mein Bruder.“ Eine Artistin? Trapez und Ringe und Scheinwerfer – „Mein guter Bruder, er blieb im großen Krieg. Jaja, wir zwei, wir waren mal eine große Nummer – gesucht, sehr gesucht! Ich bin damals noch ein Kind gewesen.“ Ein Kind? Also, das ist übertrieben. Nein, mit einem solchen Busen warst du sicher schon achtzehn. Und ich rechne rasch nach, wie alt dies Kind heutzutag sein muß. „Das waren noch Zeiten!“ seufzt sie. „Aber heutzutag? Was leisten schon diese neumodischen Artisten? Alles Bluff! Eine hübsche Larve, das genügt! – Doch ich rede und rede da von mir und meinen privaten Interessensphären, und wir kommen dabei ganz ab vom Zweck Ihres Besuches! Sie wollten sich doch nach dem armen Fräulein Anna erkundigen? Nun, verzeihen Sie meine Indiskretion, aber ich möchte es natürlich aus diversen Beweggründen heraus gerne wissen, warum, das heißt: Wieso, mit welchem Recht Sie das interessiert? Sind Sie mit dem Fräulein verwandt?“ Ich? Was soll ich nur sagen? Irgendwie muß ich zu ihr gehören, sonst wär ich ja jetzt nicht da – aber verwandt? Nicht daß ichs wüßte – Ich möchte grinsen, aber das alte Kind beobachtet mich scharf, fast lauernd. Und ich sage, ohne mit der Wimper zu zucken: „Ich bin ihr Bruder.“ „Ihr Bruder?!“ „Ja.“

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„Nicht möglich!“ „Warum nicht?“ Sie gibt keine Antwort vor lauter Überraschung. Wir schweigen. „Also, Sie sind der Bruder“, fängt sie endlich wieder an, „und Sie haben sich nicht um Ihre Schwester gekümmert“ – „Ich hatte keine Zeit.“ „Ausreden! Nichts als Ausreden! Für einen Menschen muß man immer Zeit haben – Der Mensch kommt an erster Stelle, und dann kommt erst alles andere!“ „Möglich“ – „Sicher! Wo kämen wir denn sonst hin?“ Ja, wohin? So frag ich mich, und der Nebel wird immer gelber – Dick und schmutzig, so senkt er sich auf meine Seele. Es wächst ein Baum, ein toter Baum. Am Rande eines hohen Plateaus. Um uns gähnen Abgründe, und drunten rauschen die Wasser – Wir haben fünf Menschen gefangen, jetzt hängen wir sie an den Baum. Zuerst den Ältesten, dann den Jüngsten. Denn dem Alter gebührt der Vortritt. Wir säubern, wir säubern! Und der Hauptmann reißt einen Stern herunter, einen silbernen Stern – Hauptmann, Hauptmann, was schreibst du nur in deinem Brief? „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete“ – Komisch, ich weiß noch jedes Wort! Es ist mir geblieben. Und die Krähen, sie ziehen wieder vorbei, und der Hauptmann, er ist von uns gegangen – Er sah weder rechts noch links. Jetzt sitzt er auf einem Stein und zeichnet mit seinem Säbel in den Sand. Er will mich nicht sehen. Was zeichnet er dort? Linien? Und wie ich mich so frage, wird der dicke Nebel dünn, der Schmutz weiß, und auf einmal wirds mir klar: Immer, wenn es mir heimlich einfiel, jetzt geschieht etwas Niederträchtiges, dann fiel mir auch sie wieder ein, meine liebe Schwester, dann mußt ich immer denken: Eigentlich wollt ich zu dir – „Wenn der Herr Bruder früher gekommen wären“, höre ich die Stimme meines Gegenübers, „dann wär vielleicht alles anders gekommen, dieses ganze Unglück.“ „Unglück?“ „Es tut mir sehr leid, daß ausgerechnet ich vom Schicksal dazu ausersehen wurde, es Ihnen mitzuteilen, aber mit dem Schicksal läßt sichs bekanntlich nicht streiten – Kurz und gut: Es ist eine böse Sache und ist dennoch mit paar Worten erzählt. Ihre arme Schwester hatte eine ganz hübsche Anstellung“ – „Im verwunschenen Schloß“ –

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„Jawohl, aber eines schönen Tages wurde sie abgebaut“ – „Wegen der Autohalle?“ „Autohalle? Aber nein! Sie wurde fristlos entlassen, weil sie etwas erwartete, etwas Kleines – ein Kind.“ „Ein Kind?!“ „Ja, und unter solch gesegneten Umständen hätte sie ihren Dienst naturnotwendig nicht immer auf die Minute pünktlich versehen können, sie hätte vielleicht mal ab und zu einen halben Tag pausieren müssen, und deswegen hat sie die Firma abgebaut. Die Firma hätte es zwar überhaupt nicht gespürt, wenn sie mal ein paar Groschen für eine Aushilfe draufgezahlt hätte, Sie müssen nämlich wissen, daß das eine sehr große Gesellschaft ist, den Leuten gehört dort fast die halbe Allee, jede größere Sehenswürdigkeit, sie konnten sich eben in unseren fortwährenden Krisenzeiten alles zusammenkaufen – Aber so sind nun mal diese Leute, die keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen nehmen, sie bauen und bauen ab, ob dabei einer unter die Räder kommt, was kümmert sies? Es gibt noch genug, meinen sie, genug, die sichs gefallen lassen – Und obendrein war doch der Vater des Kindes sogar ein Soldat, ein tapferer Vaterlandsverteidiger, auch solch ein berühmter ‚Freiwilliger‘! Ihre arme Schwester, sie hat ihm in einer Tour geschrieben und nie eine Antwort erhalten – Wieso denn auch? Eines Tages kamen alle ihre Briefe ungeöffnet zurück mit einem staatlichen Begleitschreiben: Adressat bei einer militärischen Übung tödlich verunglückt. Da war sie natürlich riesig verzweifelt, sie hatte ja nichts, kein Geld, keine Stellung – Ja, und da hat sie sich eben leider zu einer Dummheit hinreißen lassen, zu einer unüberlegten Dummheit. Sie ließ sich von irgendeiner obskuren Person das Kind wegnehmen, die Sache kam ans Licht, und jetzt, jetzt sitzt sie.“ „Sitzt?“ „Stellen Sie sichs vor: Zwei Jahre hat sie bekommen!“ „Zwei Jahre?!“ „Es ist schrecklich“ – Wir schweigen. Mir fällt der Liliputaner ein. Er ist der Direktor der Liliputanertruppe – Sicher ist er auch finanziell an der Firma beteiligt, sonst hätt er sich nicht so herrisch benommen. Er hat ein verkniffenes boshaftes Gesicht – Kein Wunder, er ärgert sich halt immer, daß er so klein geblieben ist. Und seine Wut, die läßt er an den anderen aus. Er baut ab. Rücksichtslos. Man müßt ihm eins auf den Schädel geben – Einem Zwerg? Willst du einen Krüppel schlagen? Warum nicht? „Vielleicht wär, wie gesagt, alles anders gekommen, wenn der Herr Bruder früher gekommen wär“, schwätzt die Alte weiter. „Ich sags ja immer, es wär vieles besser auf der Welt, wenn sich die Männer mehr um die Weiber kümmerten, anstatt daß sie sich nur um sich selber kümmern. Der liebe Gott hat Adam und Eva erschaffen und nicht Regimenter, Kompagnien und Divisionen“ – „Wo sitzt sie denn?“ frage ich. „Am anderen Ende der Welt, sonst hätt ich die Ärmste schon längst besucht, je-

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den dritten Monat hat sie nämlich einen Besuchstag – Auf alle Fälle: Schreiben Sie ihr doch gleich einen lieben Brief!“ „Ja, schreiben werde ich auch“ – Ich erhebe mich, und sie begleitet mich aus dem Zimmer. „Da reden die Zeitungen in jeder Nummer vom Geburtenrückgang und Schutz des keimenden Lebens der ungeborenen Volksgenossen, vom drohenden Volkstod und dergleichen, aber ein armes Mädel wird auf die Straße gesetzt, wenn sie Mutter zu werden droht – Hier sollten unsere Führer mal eingreifen!“ Ich muß grinsen. „Greifen sie denn nicht ein?“ „Lieber Herr, wo leben Sie? Auf dem Mond?“ „Nein, nicht mehr“ – „Bei uns hier unten auf der Erde kann eine stellungslose Mutter mit Kind im günstigsten Falle eine kleine Rente bekommen, von der weder Mutter noch Kind leben können, vorausgesetzt, daß sie nicht einen Menschen haben, bei dem sie essen und wohnen können – Hören Sie das zum erstenmal, weil Sie mich so perplex betrachten?“ „Nein“, sage ich und sehe meinen Vater vor mir. Er hinkt. Und meine Rente. Die hinkt noch mehr. Wir stehen nun im Treppenhaus. „Unsere Führer“, sage ich langsam, „sind eben große Betrüger“ – „Pst!“ fällt sie mir erschrocken ins Wort und sieht sich ängstlich um. „Um Gottes willen, nicht so laut! Und noch dazu in Uniform – Geben Sie acht!“ „Ja.“ „Es hätt auch wenig Sinn“ – „Möglich.“ „Leben Sie wohl – und kümmern Sie sich lieber um Ihre Schwester!“ „Gute Nacht, gnädige Frau!“ Ich geh das Treppenhaus hinab – Stufe für Stufe. Ruhig, sehr ruhig. Man merkt mir nichts an. Aber drinnen in mir sitzt eine schreckliche Wut, ein entsetzlicher Haß – Jetzt möcht ich säubern! Säubern, daß die Fetzen fliegen! Jetzt möcht ich ein Flieger sein, ein schwerer Bomber, und über unseren Führern kreisen – Wenn sie alle beieinander hocken und das Land verteilen, das kleine Land, das auch ich euch holte. Jenes lebensunfähige Gebilde, beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt – Ein lächerlicher Standpunkt – wie? Das glaub ich euch gern! Sagt, ihr Führer tief unter mir, wer kriegt wohl jenes eroberte Land? Wer kriegt das Erz, das Fett, das Brot? Wer?! Ich seh nur ein Zuchthaus. Ihr redet immer von einer welthistorischen Sendung – Ihr habt keine welthistorische Sendung zu haben! Macht uns nicht blöd, wenn ihr stehlen wollt! –

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Rasch geh ich durch die dunkle Nacht, wieder zum Hafen hinab. In das Reich des Liliputaners. Denn ich will seine Firma zur Rede stellen, warum sie ein Fräulein entlassen hat. Es geht mich zwar direkt nichts an, aber man kann doch nicht alles hinnehmen! Wer läßt sich alles bieten? Ein Schuft. Und ich bin kein Schuft, mein Herz ist ein schwarzes Meer. Unter einem wilden Himmel. Die Wolken, sie ziehen so zornig dahin – Gib acht, gib acht! Du hast noch die Uniform an, und es kostet dich den Kopf. Laß dir nichts anmerken – Deck es zu, dein Meer und deinen Himmel! Verstell dich, bis du dich beruhigt hast! Verstell dich! – – Ich geh an der Autohalle vorbei, da rodeln die letzten Gäste im Kreis. Viel Vergnügen! Und dort ist die weiße Wand mit der schwarzen Tür. Sie ist schon zu. „Wann ist denn hier wieder jemand?“ frage ich einen Schaukelburschen. „Morgen um acht.“ Schön, dann werde ich morgen wiederkommen. – Langsam wander ich die Allee zurück, denn heut hab ich nichts mehr zu verlieren. Die meisten Buden sind schon zu. Die Messerschlucker und Feuerfresser, sie schlucken und fressen nicht mehr. Die Frau mit dem Bart, der Mann mit dem Löwenkopf und die dickste Dame der Welt, sie liegen schon in ihren Bettchen und träumen blauen Dunst. Nur ein kleiner Affe friert noch in der Nacht. Er möchte um die Wette zittern, aber es ist kein zweiter Affe da, mit dem er zittern könnte. Die Pferde im Hippodrom, sie stehen bereits im Stall, und auch die Schießbuden schließen schon. Jetzt werden die Tage immer kürzer. Links fällt ein Licht auf den Schnee. Aus einem Bierpalast. Der bleibt natürlich ewig offen – Dort kauf ich mir jetzt ein Glas. Es wär schön, wenn man sich wieder mal einen richtigen Rausch leisten könnte, um wieder eine Zukunft zu spüren – Ich leg schon die Hand auf die Klinke, da halt ich im letzten Moment. Denn drinnen in diesem Bierpalast erblick ich einen alten Bekannten. Den Mann, der mir den Zettel gab – mit der Adresse meiner Schwester. Er ist es, der Buchhalter. Er verzehrt gerade einen Hering. Wie fein der frißt – Oder scheints mir nur so, weil er kurzsichtig ist? Er wußte es natürlich, warum sie ihre Stellung verlor, er wußte es genau – Er hat doch auch gesagt: „Das Fräulein wurde krank.“ Und ich hab gefragt: „Was hat ihr gefehlt?“ Und er hat gesagt: „Nichts Besonderes“ – Nichts Besonderes? Na warte nur! Er frißt noch immer.

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Ich sehe, daß er Pulswärmer trägt, damit er nicht friert. Und ich muß plötzlich denken, du sollst frieren. Und du sollst auch keinen Hering fressen – Er wirft einen Blick auf die Glastür und zuckt etwas zusammen. Der Bissen fällt von seiner Gabel. Hat er mich erkannt? Er sah gleich wieder weg – Jawohl, er weiß es, wer ich bin – trotz seiner Kurzsichtigkeit. Jetzt läßt er den Hering stehen – Ist dir der Appetit vergangen? Er steht auf von seinem Tisch, doch er bleibt noch im Bierpalast, obwohl er sich nichts mehr kauft. Er kommt und kommt nicht, nur ab und zu blickt er verstohlen nach der Glastür, ob ich noch vorhanden bin. Ja, ich bin noch draußen und geh nicht hinein. Ich warte, bis der Herr zu erscheinen geruht – Denn ich will dich nun unter vier Augen fragen, warum ihr das Fräulein entlassen habt. Unter vier Augen, denn es besteht die Möglichkeit, daß ich dir eine herunterhau. Warte nur, dich bring ich schon heraus! – Ich verlasse die Türe und geh paar Schritte nach rechts – Jetzt wird er denken, ich bin fort. Ich drücke mich an die Wand. Die Tür geht auf, es erscheint aber nur ein Betrunkener. Er singt vor sich hin und torkelt der Heimat zu. Endlich kommt mein Mann. Mißtrauisch bleibt er in der Türe stehen und sieht sich um – Ja, du weißt es genau, daß es eine Schweinerei gewesen ist – Er kann mich nicht sehen. Ich steh im Schatten einer Schaukel. Plötzlich geht er los – nach links. Ich geh ihm nach. Er biegt in eine Seitenstraße – Die kenn ich noch nicht. Es kommen zwei kleine Brücken, hier ist alles Kanal. Wir sind hinter den Häusern, lauter Magazine – Jetzt geht er an einem Zaun entlang. Geh nur zu, ich hol dich schon! Es weht ein kalter Wind. „Herr Buchhalter!“ rufe ich. „Einen Moment!“ Er sieht sich um, erblickt mich und erschrickt – Er beginnt noch rascher zu werden. Nun bin ich schon dicht hinter ihm. „Sie gehen schnell“, sage ich, „aber ich kann auch schnell gehen“ – Mit zwei Schritten steh ich vor ihm und versperr ihm den Weg. Jetzt muß er halten. „Was wollen Sie denn von mir?“ fragt er und sieht sich nach einem Menschen um. Doch es kommt niemand mehr, es bleiben nur wir zwei. „Ich möcht Sie etwas fragen, was die Firma betrifft“ – „Kommen Sie morgen ins Bureau“, fällt er mir ins Wort und versucht krampfhaft sicher zu scheinen.

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„Morgen?“ grinse ich. „Wer weiß, ob ich morgen noch leb!“ „Das wollen wir doch nicht hoffen“, sagt er und lächelt ängstlich. „Hören Sie“, sage ich streng, „es dreht sich um das Fräulein aus dem verwunschenen Schloß. Sie sagten mir heut nachmittag, das Fräulein sei seinerzeit krank geworden“ – „Leider, leider“ – „Sie wußten es, was ihr gefehlt hat?“ Er starrt mich einen Augenblick an, dann fährt er sich mit der Hand über die Augen und blickt zum Himmel empor – Suchst du dort Hilfe? Such nur, jetzt gehörst du mir! Plötzlich gibt er sich einen Ruck und erkundigt sich kleinlaut: „Verzeihen Sie – Sind Sie tatsächlich der Herr Papa?“ „Nein.“ „Nein?“ fragt er gedehnt und mustert mich. Er wird frech. „Was geht denn dann Sie jenes Fräulein an?“ „Es geht mich was an und Schluß!“ „Lassen Sie mich weiter!“ „Noch nicht! Sie finden es also in Ordnung, daß jenes Fräulein entlassen wurde?“ „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen“ – „Antwort will ich haben!“ „Bitte-bitte! Da das Fräulein Anna ihren Dienst nicht mehr korrekt bewältigen konnte, mußten wir sie natürlich abbauen. Vergessen Sie doch nicht, wir sind eine große Firma und tragen also auch eine große Verantwortung“ – „Für wen?“ „Wir haben für rund 240 Personen zu sorgen, Angestellte, Artisten und dergleichen – In einem solchen Zusammenhang kann es niemand von uns verlangen, daß wir uns um jeden einzelnen kümmern“ – „Warum nicht?“ „Weil der einzelne keine Rolle mehr spielt.“ Ich starre ihn an. Keine Rolle? Das hab ich doch auch mal einst gesagt – Wie dumm, wie dumm! „Wir müssen rentabel bleiben“, redet er weiter, „auch der geschäftliche Konkurrenzkampf ist nur ein Krieg, mein Herr, und ein Krieg läßt sich bekanntlich mit Glacéhandschuhen nicht gewinnen, das sollten Sie eigentlich schon wissen“ – Mit Glacéhandschuhen? Das waren doch meine Worte – Als der Hauptmann schrie, ein Soldat sei kein Verbrecher. Der Buchhalter schaut mich einen Augenblick höhnisch an und kichert. Oder schiens mir nur so? Dann redet er weiter sein Zeug, und ich höre mich, ich höre mich – All die hohlen Sprüche und Phrasen, unverschämt und überheblich, nachgeplappert, nachgebetet – Es wird mir übel vor mir selbst. Mich ekelts vor meinem Schatten der Vergangenheit – Ja, der Hauptmann hatte recht! Ich haßte das bequeme Leben und schwärmte für das unbequeme – Was war ich für ein Lügner!

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Jawohl, ein feiger Lügner – Denn wie bequem ist es doch, seine Untaten mit dem Vaterland zu verhüllen, als wär das ein weißer Mantel der Unschuld! Als blieb eine Untat kein Verbrechen, ob im Dienste des Vaterlandes oder irgendeiner anderen Firma – Verbrechen bleibt Verbrechen, und vor einem gerechten Richter zerfällt jede Firma zu nichts. Für das Gute und für das Böse, da hat sich nur der einzelne zu verantworten und keinerlei Vaterland zwischen Himmel und Hölle. Was war doch mein heißgeliebtes unbequemes Dasein für ein verlogener bequemer Morast! Ich stand in Reih und Glied, und es kam mir nicht darauf an, ob meine Schwester sitzt oder nicht. Pfui Teufel, was war ich für ein Vieh! Nein, ich war kein Mensch! Wenn ich mir heute begegnen würde, so wie ich damals gewesen bin, ich glaube, ich könnte mich selber erschlagen – Und dieses kurzsichtige Luder vor mir, jetzt sagt er sogar: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ – „Ruhe!“ unterbreche ich ihn schroff. „Wissen Sie denn, was mit dem Fräulein geschah?“ „Keine Ahnung!“ „Sie wurde eingesperrt.“ „Eingesperrt?! Warum?“ „Zu guter Letzt, weil sie ihre Stellung verloren hat“ – „Das tut mir leid.“ Leid? Er sagt es, aber es scheint ihm doch Spaß zu machen, daß sie leiden muß, denn er schaut gar so zufrieden und gesichert drein – als hätt er mich ganz vergessen. Aber ich bin noch da und lasse dich nicht aus den Augen. Jetzt zuckt er die Schultern. „Lieber Herr, es bleibt dabei: Auf den einzelnen Menschen kommts leider nicht an“ – Er lächelt, und ich muß denken: Du bist eine Kreatur, eine verlogene Kreatur – Mich wunderts, daß ich so ruhig bin. „Sie sind ein Hund“, sage ich. Er glotzt mich an, als hätt er falsch verstanden, aber dann braust er auf: „Erlauben Sie“ – „Ich erlaub Ihnen gar nichts, denn Sie sind ein Hund, jawohl, ein blöder Hund, der nicht denkt, daß er eines schönen Tages genau so seine Stellung verlieren könnt wie jenes Fräulein, weil es ja auf den einzelnen ‚leider‘ nicht ankommt!“ Er mustert mich gehässig. „Junger Mann“, sagt er, „vergleichen Sie mich nicht mit irgendeiner erstbesten Angestellten. Ich bin der Oberbuchhalter und bereits seit sechsunddreißig Jahren bei derselben Firma“ – „Deshalb sind Sie auch nicht mehr!“ „Oho, junger Mann!“ Jetzt grinst er höhnisch.

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„Und außerdem vergessen Sie, daß ich nicht in der Lage wär, in gesegnete Umstände zu geraten“ – Er kichert, und es wird mir rot vor den Augen. Ich pack ihn an seinem Kragen und schlag ihm die Faust ins Gesicht – Seine Brille fällt zu Boden. „Sie schlagen mich?!“ brüllt er. „Sie schlagen einen alten Mann?! Hilfe! Hilfe!“ Ich stürz mich auf ihn und halt ihm den Mund zu, er krallt sich in meinen Mantel, und ich versetz ihm noch ein paar Hiebe – Er torkelt. Auf einmal erblick ich den Kanal. War denn der immer schon da? Er beißt mir in die Hand. Wart, du Schuft! Weg mit dir! In den Kanal, in den Kanal – Weg! – – – Ich schau mich nicht mehr um. Der Wind weht, und der Schnee tanzt – Ich ging in die Stadt Paris. Seine Brille, die hob ich auf und warf sie ihm nach. Damit er den Schlamm besser sieht. Jetzt wird ers ja schon gesehen haben, ob ein einzelner keine Rolle spielt. Es geht mir ganz gut. Denn jeder, der da sagt, auf den einzelnen kommt es nicht an, der gehört weg.

DER SCHNEEMANN Zwei Tage sind vorbei, und heut bin ich wieder der alte. Gestern und vorgestern war ich nämlich schon sehr unruhig vor lauter Unsicherheit, ob es nämlich aufkommt oder nicht, daß ich es gewesen bin. Ich fing sogar schon wieder an, mit dem lieben Gott zu reden. Man muß ihm etwas geben, erinnerte ich mich dunkel, irgendetwas, und wärs das kleinste, er ist für alles dankbar – Als wär er ein Bettler. Schenk ihm etwas – Schenk dem ersten Bettler, der dir begegnet, schenk ihm fünf Taler – Doch halt! Du hast ja nur noch einen. Aber auch ein Taler ist viel Geld, und er wird für dich immer mehr. Schenk alles dem ersten Bettler, damit es nicht ans Licht kommt! So ging ich ruhelos durch die Stadt, aber ich traf nirgends einen Bettler, als hätte sie alle die Hölle verschluckt, die Herrschaften wollten anscheinend nichts mehr von mir wissen – Und das war auch sehr gut so, denn im heutigen Morgenblatt steht endlich eine kurze Notiz, daß ein Buchhalter auf dem Heimweg tödlich verunglückt ist. Infolge seiner starken Kurzsichtigkeit scheint er in der herrschenden Finsternis auf dem vereisten Gehsteig ausgeglitten und in den Kanal gestürzt zu sein. Er hinterläßt eine trauernde Witwe, einen verheirateten Sohn und zwei ledige Töchter. Ja, es kommt nicht auf. Es gibt doch noch eine höhere Gerechtigkeit.

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Und das Morgenblatt fragt die zuständige Behörde: Wann kommt endlich das Geländer am Kanal? Ja, wann? Jetzt ist es Nachmittag – Vor zwei Tagen um diese Zeit war es noch hell. Über Nacht ist es Winter geworden, und die Eisblumen blühen im Fenster. Ich sitze im Zimmer meines Vaters und habe gerade einen Brief geschrieben, einen Brief an das Fräulein, das mein Schwesterlein geworden war. „Wertes Fräulein“, hab ich geschrieben, „Sie werden sich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern, aber ich wollt Ihnen immer schon schreiben. Ich war Soldat und war einst gerne Soldat. Zwar kenn ich Sie nur vom Sehen aus, aber ich hab oft an Sie gedacht und hab Sie auch überall gesucht. Heut kenne ich Ihr trauriges Unglück, und vertrauen Sie mir, daß ich Sie nicht vergessen werde und Ihnen immer nach besten Kräften helfen will, denn ich liebe die Gerechtigkeit“ – Ich klebe den Brief zu und geh hinab auf die Straße, um ihn aufzugeben. Seit gestern ist es bitterkalt. Die Luft verdämmert dunkelblau – Ja, jetzt regiert das Eis. Und da ich den Brief in den Kasten warf, hielt ich nichts mehr in der Hand. Die Hand gehört zu meinem Arm, und den werd ich wohl nie verschmerzen, solang ich noch zu leben hab. Der wird mir keine Ruhe geben – Wer weiß, ob sie meinen Brief bekommt. Wer weiß, ob sie antworten wird. Sie darf es ja nie erfahren, was ich ihretwegen schon alles tat. Denn das wär zu gefährlich für mich. Weiber schwätzen immer – Und was hat sie denn auch davon, daß die Behörde noch immer kein Geländer gebaut hat? Egal! Ob es ihr nützt oder nicht: Es kümmert mich nicht, was werden soll, es kümmert mich nur, was nicht sein darf. Es darf nicht sein, daß der einzelne keine Rolle spielt, und wärs auch nur ein letztes Fräulein. Und jeder, der das Gegenteil behauptet, der gehört ausradiert – mit Haut und Haar! Was hinterher kommt, das steckt noch im Nebel der Zukunft. Jetzt ist er fort, mein Brief. – So geh ich die Straßen entlang. Langsam oder schnell, es wird mir nicht klar, und ich versuche alles in mir zu ordnen, aber so sehr ich mich auch anstreng, immer wieder muß ich von vorne beginnen, und plötzlich fühl ich mich ganz verlassen, als wär das Herz hinaus aus mir – vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Einst dachte ich, mit dem Haß werden wir weiterkommen. Da marschiert ich in Reih und Glied – Wie dumm ich war, wie dumm ich war! Denn wenn auch immer einer neben dir marschiert, rechts und links, Tag und Nacht, so bleibst du doch immer ein einsamer Gletscher. Und die Berge, sie wachsen Tag und Nacht, aber du, du gehst zurück. Du ziehst dich in dich hinein und hockst in dir drinnen wie eine alte Eule. Am Tag bist du blind, und in der Nacht fängst du nichts.

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Denn wo du umherfliegst, hört das Leben auf. Verhunger oder friß dich selbst! – Ich halte und schau mich um. Wohin geh ich da eigentlich? Du bist schon so weit von zu Haus – Kehr um! Du bist ja bereits so müde geworden – Natürlich-natürlich, kein Wunder! Das ist nur das Resultat dieser beiden letzten Tage und besonders der Nächte, die möcht ich nicht noch einmal haben, es strengt nämlich an, wenn man sich fürchtet. Unwillkürlich muß ich lächeln. Jetzt ist ja alles in Ordnung! Er ist auf dem vereisten Gehsteig ausgeglitten, usw., usw. Geh nur zu – Bleib noch etwas an der Luft, damit du besser schlafen kannst. Ich kehre nicht um, und die Häuser werden weniger. Rechts beginnt ein eiserner Zaun, und hinter ihm stehen viele weiße Bäume und Sträucher, groß und klein – Aha, ein Park. Es ist niemand zu sehen, und ich atme tief. Es riecht nach Schnee. Hier ist es wirklich schön. Ein hohes Tor taucht vor mir auf, und auf dem Tor hängt eine Tafel: „Geöffnet von 8 Uhr früh bis zum Einbruch der Dunkelheit.“ Es ist zwar schon dunkel geworden, aber das Tor ist noch offen – Komm, tritt ein! Die silbernen Sternlein funkeln so klar, als wär der Himmel schwarzer Samt. Aber im Osten hängt eine Wolkenwand, ein ganzes Wolkengebirge – Jaja, es wird wieder schneien in der Nacht. Und wie ich so durch den Park geh, wirds mir ganz eigen zu Mut, denn wenn mich nicht alles täuscht, muß nach der nächsten Ecke ein Kinderspielplatz kommen – Richtig, da kommt er auch schon, mein Platz! Hier hast du ja mal im Sand gespielt, erinner dich nur! Hast Burgen gebaut und eine Stadt – Wo blieb die Burg, wo blieb die Stadt? Der Sand ist verschneit. Vorbei, vorbei! Es kommt eine neue Zeit. Ich setze mich auf eine Bank und schließe die Augen. Wie still die Welt werden kann – Und wie lautlos manches geht und kommt. Zum Beispiel die Erinnerung – Auch aus den fernsten Winkeln. In den Bäumen tickt eine Uhr – Schlaf nur nicht ein! Ich gähne und gähne, als käm eine große Nacht. Ja, es wird Zeit, daß du umkehrst, sonst schließt man noch das Tor. Ich schrecke zusammen – Was dachtest du da? Was war das für ein komischer Satz? Der hatte doch gar keinen Sinn? – – Jetzt kommt der Schnee. Der Wind treibt ihn mir ins Gesicht – Es juckt und zwickt, als wärens lauter Ameisen.

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Sie kriechen und bauen. Es wird immer schärfer und kälter. Und auf einmal, da find ich ihn wieder, meinen Satz, diesen komischen Satz von vorhin – Jetzt kann ich ihn sogar auswendig: Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feurigen Schwertern. Ob die Frau meines Hauptmanns den Brief zerriß? Oder ob ihn einst jemand finden wird? Andere Menschen – – Geh heim, sonst schließt man noch dein Tor! Laß nur, laß! Jetzt schlafen auch schon die Ameisen, und die Kälte wird wärmer werden – Es schneit, es schneit – wie in einem Märchenbuch. Wo bin ich denn schon? Das Zimmer ist dunkel, ich sitz auf dem Boden. Die Fenster sind hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt. Jaja, nach einem Krieg gibts oft keine Kohlen – Ich werde den lieben Gott fragen, warum es Kriege geben muß. „Es ist kalt“, das bleibt meine erste Erinnerung – – –

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Die Nacht vergeht, langsam kommt wieder ein Tag. Ich bin voll Schnee und rühre mich nicht. Es kommt eine junge Frau mit einem kleinen Kind. Das Kind erblickt mich zuerst, klatscht in die Hände und ruft: „Schau, Mutti! Ein Schneemann!“ Die Mutti schaut zu mir her, und ihre Augen werden groß. Sie starrt mich entsetzt an und kreischt dann: „Um des Himmels willen!“ Sie reißt das Kind mit sich weg, und ich hör sie schreien: „Hilfe! Hilfe!“ Jetzt kommen die beiden wieder zurück, und noch einer ist dabei: ein Polizist. Er bückt sich zu mir nieder und betrachtet mich aufmerksam: „Ja“, meint er, „der ist allerdings erfroren. Damit ists vorbei“ – Die Mutter wagt nicht mehr herzuschauen, aber das Kind kann sich kaum von mir trennen. Immer wieder dreht es sich um und schaut mich mit seinen runden Augen neugierig an. Schau nur, schau! Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat. Und du, du wirst größer werden und wirst den Soldaten nicht vergessen. Oder? Vergiß ihn nicht, vergiß ihn nicht! Denn er gab seinen Arm für einen Dreck. Und wenn du ganz groß sein wirst, dann wirds vielleicht andere Tage geben, und deine Kinder werden dir sagen: Dieser Soldat war ja ein gemeiner Mörder – Dann schimpf nicht auch auf mich. Bedenk es doch: Er wußt sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit. ENDE

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Kommentar

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Vorarbeit 1

Chronologisches Verzeichnis Vorarbeiten Vorarbeit 1: Die stille Revolution Die Blätter des genetischen Konvoluts der Vorarbeit 1 Die stille Revolution dürften in den Monaten Juli oder August 1937 entstanden sein. Auf der Rückseite eines Entwurfsblatts (ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 4), das zu einer längeren, handschriftlich ausgearbeiteten Textstufe (VA1/TS2) gehört, befindet sich eine gestrichene Textstufe zum Roman Jugend ohne Gott, was darauf hindeutet, dass die Entwürfe zu Die stille Revolution erst nach Abschluss der Arbeiten zu Jugend ohne Gott entstanden sind, also frühestens im Juli 1937 (vgl. den Kommentar zu K1/E4 und das Vorwort zu diesem Band). Zum genetischen Konvolut zu Die stille Revolution zählen einige Entwurfsblätter und eine Reihe von handschriftlich und maschinenschriftlich verfertigten Textstufen. H1 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, doppelt gefaltet, schwarzblaue Tinte E1 = fragm. Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Die stille Revolution. Roman“ (links) E2 = Figurenliste mit Werktitel „Die stille Revolution“ (rechts oben) TS1 = fragm. Fassung (rechts mittig; Korrekturschicht) Druck von TS1 (gemeinsam mit TS2) in: Horváth 1975, S. 27f.

Die Blätter BS 16 b [1], Bl. 1–6 sind durch Papierqualität und -größe als zusammengehörig erkennbar. Eine doppelte Längs- und Querfaltung in der Mitte weist überdies die Bl. 1–5 als Einheit aus. Bei dem verwendeten Papier handelt es sich um dünnes Durchschlagspapier, wie Horváth es auch und vor allem für Typoskripte verwendet (vgl. TS6 und TS7). E1 bildet wahrscheinlich den ersten Entwurf zu dem Werkprojekt Die stille Revolution. Horváth skizziert darin unter dem Werktitel „Die stille Revolution. Roman“ einen Strukturplan in sieben Kapiteln, von denen jedoch nur die ersten drei und das letzte mit Kapiteltiteln versehen sind: „Der Individualist als Verbrecher“, „Das Zuchthaus“, „Wieder auf der Strasse“ und „Der gehobene Individualist“. Aus den Kapiteltiteln lässt sich vermuten, dass es sich um eine Art Entwicklungsroman handeln sollte, der den Aufstieg eines Individualisten zeigt, der zunächst zum Verbrecher wird, ins Zuchthaus kommt, wieder freigelassen wird und schließlich eine gehobene Stellung erreicht. Elemente einer solchen Entwicklungsstruktur finden sich noch im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit, allerdings verläuft die Entwicklung dort zunächst aufsteigend, dann absteigend oder regressiv, wenn der Ich-Erzähler als Krüppel den Militärdienst verlassen muss und als Arbeitsloser wieder bei seinem Vater wohnt. In E2 notiert Horváth wieder unter dem Werktitel „Die stille Revolution“ eine allerdings nur sehr fragmentarisch ausgearbeitete Figurenliste, von der schließlich nur der Figurenname Peter Zapfel (vgl. TS9) übrig bleibt. Unter diesem hatte er zunächst „Soldat“ (vgl. E5) vermerkt, diesen Eintrag aber wieder gestrichen. Ein dritter Eintrag lautete wohl „Michael“, wurde aber ebenfalls gestrichen. Darunter beginnt Horváth

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Chronologisches Verzeichnis

mit der Ausarbeitung des Romanbeginns (TS1). Eine Datumsangabe nennt den 18. April 1934, eine Ortsangabe das „Städtche[n] Sanct-Martin im Burgenland“. Das Datum rückt die Geschehnisse des geplanten Romans in die Nähe der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die sich im ständestaatlichen Österreich des Jahres 1934, vor allem zwischen 12. und 15. Februar 1934 („Februarkämpfe“), in den verschiedenen Industrieorten abspielten. In der vorliegenden Textstufe ist von einer „Detonation“ und von „zwei Böller[n]“ die Rede, von zerbrochenen „Fensterscheiben“, von Gendarmerie und Miliz. Unmittelbar danach bricht die Textstufe inmitten eines Satzes ab. Es wäre naheliegend, in der Datumsangabe eine Nähe zum Entstehungszeitpunkt des Blattes zu vermuten. In diesem Fall dürfte dies jedoch nicht zutreffen, da Horváth die Entwürfe und Textstufen zu Die stille Revolution mit einiger Sicherheit erst nach der Fertigstellung von Jugend ohne Gott geschrieben hat, also frühestens im Juli 1937 (vgl. den Kommentar zu TS2). H2 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 2–4 3 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, doppelt gefaltet, schwarzblaue Tinte TS2 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck von TS2 (gemeinsam mit TS1) in: Horváth 1975, S. 27f.

TS2 erstreckt sich über drei Blätter der Mappe BS 16 b [1], die dieselbe Papierqualität und -größe sowie dieselbe Faltung aufweisen wie das Blatt, auf dem E1 und TS1 eingetragen sind. Es ist deshalb ein unmittelbarer entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang anzunehmen. In TS2 arbeitet Horváth vermutlich den Romanbeginn bzw. das erste Kapitel von Die stille Revolution aus, allerdings ohne die Textstufe mit dem Werktitel zu versehen. Während in TS1 der Erzählbeginn noch in Form eines (neutralen) Erzählerberichts gestaltet wird, dramatisiert Horváth in TS2 den Erzähleinstieg, indem er ihn dialogisch gestaltet. Er lässt zwei Figuren, eine Frau Krennhuber und einen Herrn Pichelmeyer, über „zwei Bomben“ (Bl. 2; in TS1 „zwei Böller“) reden, die in der Nacht in Sanct-Martin explodiert seien, „die eine vor dem Rathaus, die zweite vor dem Pfarrhaus“ (Bl. 2). Frau Krennhuber schildert in der Folge noch weitere Anschläge, die in Ostösterreich stattgefunden haben. Ziel der Anschläge waren: eine Eisenbahnbrücke zwischen Wien und St. Pölten, ein christlich-deutscher Turner, ein jüdischer Juwelier und Kinder auf einem Kinderspielplatz (vgl. K2/TS24/Bl. 1), denen es die Hände „weggerissen“ (Bl. 2) hat. Horváth schildert in diesem Eröffnungsdialog, der möglicherweise auch als Fortsetzung der allerdings nur fragmentarisch ausgearbeiteten TS1 gedacht war oder aber diese ersetzen sollte (vgl. KW 15, S. 95f.), wie schon dort die bürgerkriegsähnlichen Zustände im ständestaatlichen Österreich des Jahres 1934. Frau Krennhuber vermutet: „[D]iese Herren Nationalsozialisten, die wollens erzwingen, dass wir preussisch werden!“ (Bl. 3) Worauf Herr Pichelmeyer repliziert: „[W]ir Österreicher werden niemals preussisch. Selbst wenn uns die Preussen einverleiben sollten, so bleiben wir doch immer, was wir sind!“ (Bl. 3) Frau Krennhuber lässt sich aber von Pichelmeyer nicht beruhigen und wünscht sich den Kaiser Franz Joseph zurück. Auch vom Assistenten Pichelmeyer heißt es in der Folge, er sei „immer schon Legitimist“ gewesen und er hasse die „Preussen“ so sehr, dass er immer folgenden Satz zu sagen pflege: „Man muss sich von dem Vorurteil frei machen, dass die Preussen auch Menschen sind“ (Bl. 4). Auf der Rückseite von Bl. 4 befindet sich eine fragmentarische Textstufe zum Werkprojekt Jugend ohne Gott. Es handelt sich dabei um eines der zwei überlieferten

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Vorarbeit 1

Blätter aus der engeren Werkgenese dieses Romans. Horváth dürfte die darauf befindliche Textstufe in Henndorf (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 1) geschrieben haben, hat sie dann nachträglich gestrichen und auf der eigentlichen Versoseite des Blattes, das dann aber als Rectoseite gewertet wurde, den Schluss von TS2 notiert. Das Blatt kann insofern als Hinweis auf die genetische Abfolge der beiden Romane, und insbesondere als Hinweis auf die Datierung der Entwürfe und Textstufen zu Die stille Revolution gewertet werden. Die Textstufe zu Jugend ohne Gott fand keine weitere Verwendung und wurde deshalb von Horváth gestrichen; anschließend hat er das Blatt für die Ausarbeitung der Textstufe zu Die stille Revolution wiederverwendet. Da Letztere nicht nachträglich gestrichen wurde und sich überdies über mehrere Blätter zieht, liegt es nahe, dass sie später entstanden ist. H3 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, doppelt gefaltet, schwarzblaue Tinte E3 = fragm. Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Die stille Revolution. Roman“ (links oben) E4 = Strukturplan in 1 Kapitel (rechts oben) TS3 = fragm. Fassung des I. Kapitels (rechts oben und mittig; Korrekturschicht) TS4 = fragm. Fassung des 1. Kapitels (unten; Korrekturschicht)

Bl. 5 gehört ebenfalls aufgrund der Papierqualität und -größe zu den zuvor gereihten Blättern der Mappe BS 16 b [1] und weist wie diese eine doppelte Faltung auf, die aber nicht deckungsgleich mit den vorhergehenden Blättern ist. In E3 entwirft Horváth ähnlich wie schon in E1 einen fragmentarischen Strukturplan in sieben Kapiteln, wobei er wie im früheren Entwurf wieder nur die Kapitel 1–3 und Kapitel 7 betitelt: „Die Brücke“, „Der Landstreicher“, „Die durchgefallene Première“ und „Das befreiende Lachen“ mit dem alternativen Kapiteltitel „Die Brücke“ (womit der Kreis zum 1. Kapitel geschlossen wäre; vgl. in der Werkgenese von Hin und her, WA 6/K2/E1, wo sich eine ähnliche Struktur findet) und dem Zusatz „Der König in Unterhosen“. Der Strukturplan E3 bringt damit im Vergleich zu E1 lauter neue Kapiteltitel, allerdings gibt es doch thematische Ähnlichkeiten, wenn vom „Landstreicher“ die Rede ist, während im früheren Strukturplan „Der Individualist als Verbrecher“ und „Wieder auf der Strasse“ gestanden war. Auch „Das befreiende Lachen“ des Schlusskapitels verweist auf den „gehobene[n] Individualist[en]“ von E1. Der Titel des 3. Kapitels „Die durchgefallene Première“ deutet an, dass darin ein Stück bei der Premiere durchfallen soll (vgl. K2/E29). Ob damit ein Stück des Landstreichers gemeint ist (vgl. TS4) oder aber ein Stück einer anderen Figur, wird aus dem Strukturplan nicht ersichtlich. In E4 nimmt Horváth neuerlich den Kapiteltitel „Die durchgefallene Première“ auf, setzt diesen aber an den Romanbeginn. In TS3 arbeitet Horváth eine Fassung des I. Kapitels aus, die inhaltlich von den bisherigen Textstufen zum Romanbeginn (TS1 und TS2) völlig abweicht. Hier finden sich „vier Herren“, die im „Gasthaus zur Rose“ sitzen. Bei diesen vier Herren handelt es sich offensichtlich um vier Kriminelle, die darüber diskutieren, ob sie besser bei „Schwarz & Co“ oder bei „Weiss & Co“ „einbrechen“ sollen. Das Quartett beschließt besser beim Letzteren einzubrechen, denn „dort gibts wenigstens Zigaretten“. In TS4 arbeitet Horváth neuerlich eine Fassung des 1. Kapitels aus, dieses Mal wie in E1, E3 und E4 mit einer arabischen Ziffer nummeriert. In dieser Textstufe führt Horváth wieder eine andere Hauptfigur ein: einen Studenten, der auf die Universität geht, aber nicht studiert, sondern ein Stück geschrieben hat: „Er war recht schüchtern und

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Chronologisches Verzeichnis

reichte das Stück ein.“ Der Verlag Elysium, dem er das Stück geschickt hatte, lädt ihn daraufhin ein, ihn „zu besuchen“: „Der junge Mann ging hin. Er meldete sich an.“ Damit bricht die fragmentarische Fassung TS4 ab. Der Student dieser Textstufe kehrt jedoch in den folgenden Entwürfen und Textstufen wieder und taucht in Konzeption 2, Ein Soldat der Diktatur, wieder auf (vgl. E5, TS5, E8, E9, TS6, E20 sowie K2/E33, TS17 und E35). H4 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, gefaltet, schwarzblaue Tinte E5 = Strukturplan in 2 Kapiteln mit Werktitel „Die stille Revolution. Roman“ (links oben) E6 = Strukturplan in 3 Kapiteln (links unten) E7 = Strukturplan (rechts oben) TS5 = fragm. Fassung (rechts mittig und unten; Korrekturschicht)

Das vorliegende Bl. 6 der Mappe 16 b [1] weist dieselbe Papierqualität und -größe auf wie die zuvor gereihten Blätter 1–5. Es ist aber nur einfach gefaltet. In E5 skizziert Horváth einen Strukturplan in zwei Kapiteln mit den Kapiteltiteln „Der Landstreicher. = der verbummelte Student“ und „Der Soldat“. Damit nimmt der Autor nicht nur den Studenten aus TS4 wieder auf, sondern nennt erstmals eine Soldaten-Figur, wie sie für den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit zentral sein wird (vgl. auch E2, wo der „Soldat“ eigentlich schon erwähnt, aber wieder gestrichen wird). In E6 nimmt Horváth eine Einteilung in drei Kapitel vor, wobei er hier Jahresschnitte setzt: Das erste Kapitel hätte demnach 1913, also in der Vorkriegszeit, zu spielen, das zweite während des Ersten Weltkriegs (1914–1918), das dritte auf einem „Urlaub“, hierzu notiert der Autor: „Die Liebe mit der Bürgerstochter, die dann Kellnerin wird – ein Sohn wird geboren“. Erstmals führt er damit eine Liebeshandlung in sein Werkprojekt ein, wie sie auch im späteren Roman eine bedeutende Rolle spielen wird (vgl. die Kapitel „Das verwunschene Schloss“ und „Anna, die Soldatenbraut“). In E7 skizziert Horváth neuerlich einen Strukturplan, den er allerdings nicht durchnummeriert. Dennoch sind darin vier Jahresschnitte, die wohl vier Kapiteln entsprechen sollten, erkennbar: 1913, 1914–1918, 1922 und 1935. Zu 1922 notiert er: „die schiefe Ebene. Er kommt ins Zuchthaus. Wird dann frei“, was zurückverweist auf E1. Außerdem soll er zunächst „reich“ werden und dann wieder „arm“. Damit spannt Horváth geschichtlich einen weiten Bogen vom Kaiserreich über den Ersten Weltkrieg bis in die Mitte der dreißiger Jahre, also in seine unmittelbare Gegenwart (vgl. dazu den vergleichbar groß angelegten Entwurf K1/E2 in der Werkgenese des Schauspiels Don Juan kommt aus dem Krieg, WA 9). In TS5 arbeitet Horváth neuerlich eine Fassung des ersten Kapitels aus. Wie in TS4 findet sich hier ein Student. Von ihm heißt es, dass er Jus studiere, aber nicht wisse, was er werden sollte. Atmosphärisch wird hier ein Spätsommer des Jahres 1913 beschrieben, in dem der Himmel grau ist und es zu regnen beginnt (vgl. die Textstufen der Vorarbeit Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit zum Roman Jugend ohne Gott in WA 15 sowie die Endfassung desselben, wo es auch wiederholt regnet). Von dem Studenten heißt es auch, dass er Gedichte schrieb, „moderne Gedichte“. Auch ein „literarische[r] Zirkel“ wird hier erwähnt. Der Student wohnt, wie der Ich-Erzähler in Jugend ohne Gott, bei einer Hausfrau in Untermiete. Allerdings hat er sein Zimmer jetzt aufgegeben, weil seine Hausfrau, eine Beamtin, gestorben ist. Ferner werden in der Fassung, die durch Notizen angereichert ist, ein „Korsett“ (vgl. TS6/Bl. 3)

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Vorarbeit 1

und ein „alte[r] Sozi“ (vgl. E21) erwähnt. Aus einem nicht näher spezifizierten Grund soll der Student schließlich seine Gedichte zerreißen. Auch ein „Vorkriegserlebnis mit der Hur“ (vgl. K1/TS9/Bl. 1, K2/E23, E25 und E26) wird hier erwähnt. Es erinnert an das 1936 fertiggestellte Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg, zu dem es im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit einige Parallelen gibt. Der Vater des Protagonisten wird hier erstmals genannt. Von ihm heißt es, dass er „Laternenanzünder“ ist. Die Vaterfigur des Ich-Erzählers spielt in Ein Kind unserer Zeit eine ganz zentrale Rolle. Horváth erwägt also schon zu diesem frühen Zeitpunkt in der Werkgenese, die Vaterfigur des Protagonisten in das Werkprojekt aufzunehmen. Unter der Notiz: „Seine Beziehung zum Proletariat“ vermerkt Horváth: „Er hat keine; er ist ein Ästhet, aber trotzdem Revolutionär.“ Weiters soll das „Fronterlebnis“ in den Roman aufgenommen werden. Auch hierzu ist wieder die Parallele zu Don Juan kommt aus dem Krieg nennenswert, wo die Kriegserfahrung (inklusive Verwundung und Grippeerkrankung) den Don Juan innerlich zerrüttet hat. H5 = ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (208 × 104 mm), unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte E8 = Notiz und Replik (oben) E9 = Notiz (mittig und unten)

Auf dem vorliegenden Blatt, das von der Größe her an die vorhergehenden Blätter anschließt, allerdings dicker ist und unregelmäßig gerissen wurde, hält Horváth zwei Notizen und eine Replik fest. In E8 notiert er zum Studenten (vgl. E5, TS5, E9, TS6, E20 sowie K2/E33, TS17 und E35), dass er alles „vom Kriegsstandpunkt aus ansieht“, womit er wie schon in den vorhergehenden Entwürfen und Textstufen die Verbindung zwischen dem Studenten und dem Krieg herstellt. Aus dem Studenten soll in diesen frühen Entwürfen ein Soldat werden. In Ein Kind unserer Zeit ist die Ich-Figur nicht sonderlich gebildet, kann deshalb auch keinen Job finden und wird durch den Eintritt ins Militär gewissermaßen erlöst. In E8 findet sich auch die folgende Replik des Studenten: „Sehen Sie, die Brücke, die sprengt man dort. Und hier dies Haus, da zündet man es an.“ (vgl. E1 und E3) In E9 notiert Horváth: „Der Student, der literarische Ambitionen entwickelt.“ (vgl. TS4–TS6) Diese Ambitionen seien zunächst „formalästhetische“ (hierzu notiert Horváth den Flaubert-Titel: die „Verführung des heiligen Antonius“), dann jedoch verfasst er ein „patriotisches Gedicht“, zu dem es heißt: „[E]ntstanden in einem Cafèhaus, weil ein Jude mit einem netten Mädel getanzt hat.“ Damit verweist der Autor neuerlich auf den grassierenden Antisemitismus seiner Zeit (vgl. TS2/Bl. 2), den seine Hauptfigur offensichtlich teilt und nicht ablehnt. T1 = ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 2–6 5 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Paginierung 1–5

T2 = ÖLA 3/W 353 – BS 16 b [2], Bl. 7–11 5 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Durchschlag, Paginierung 1–5 TS6 = Fassung mit Werktitel „Die stille Revolution“ (Grundschicht) Druck in: Horváth 1975, S. 29–32.

Bei dem Typoskript T2 handelt es sich um einen text- und seitenidentischen Durchschlag von T1, weshalb es dieselbe Textstufe TS6 repräsentiert. In TS6 arbeitet Hor-

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váth neuerlich eine Fassung des ersten Kapitels seines Romanprojekts Die stille Revolution aus, die in diesem Fall zwar mit einem Werk-, aber nicht mit einem Kapiteltitel oder einer -nummer versehen ist. Das Typoskript weist keine handschriftlichen Korrekturen oder Ergänzungen auf, weshalb es in der Grundschicht ediert wird. Inhaltlich schließt die Fassung TS6 an die vorhergehende Fassung TS5 an. Die ersten Sätze übernimmt Horváth fast unverändert aus der früheren Fassung. Erst nach dem Satz: „Der Student schrieb ein Gedicht“ (Bl. 2) verändert sich die Richtung des Textes ganz wesentlich. Während der Student in TS5 noch ein Gedicht über „düster[e] Leidenschaften“, ja über einen „Lustmord“ (TS5/Bl. 6) schrieb, ist es in TS6 „kein Liebesgedicht“ mehr, sondern: „Ganz im Gegenteil. Es wurde ein Gedicht, das in einem überheiztem Glashause spielte, ein wildes, anklägerisches Gedicht, ein tief resigniertes, von einem Sohne, der seine Mutter umbringt. Es war sprachlich einwandfrei, aber es liess dennoch kalt, denn der Student liebte seine Mutter nicht.“ (Bl. 2) Während Horváth in der früheren Fassung TS5 den Vater des Protagonisten in die Betrachtung einbezieht, ist hier also zunächst von der Mutter die Rede, die „dum[m]“ und „eifersüchtig“ auf ihren Mann sei, einen „Frauenarzt“ (ebd.). Als der Student das Gedicht fertig geschrieben hat, trifft ein „Brief von dem literarischen Zirkel“ (vgl. TS5) ein, zu dem er geladen wird. Er wird von einer „Gräfin“ geleitet, die für die „moderne Literatur“ (Bl. 2) eintrete, aber in Wirklichkeit nichts von ihr verstehe. Als lebende Parodie auf eine neusachliche Literaturmäzenin „applaudier[t]“ (Bl. 3) sie jedes Mal, wenn die Wörter „Hose“ oder „Korsett“ (ebd.) in einem Text vorkommen. In diesem Zirkel will der Student sein Gedicht mit dem Titel „Der Knabe als Muttermörder“ vortragen, das eher an ein expressionistisches Kunstwerk erinnert. Der Student wandelt dann durch die Stadt und wird dabei mit „Autos“ und „Technik“ (ebd.) konfrontiert, also durchaus neusachlichen Elementen. Schließlich landet er vor einem „Warenhaus“ (Bl. 4) – auch dies ein klassischer Topos der neusachlichen Literatur –, wo er auf ein „Mädel“ (ebd.) wartet. Sie ist „blond und hübsch“, aber „traurig“ und klagt darüber, dass der Student sie sicher nie „heiraten“ werde und nur „ausnütze“ (ebd.). Da der Onkel einer Freundin des Mädels ihr eingeredet hat, dass sie nur ausgenützt werde, ist der Student sehr aufgebracht gegen diesen Onkel und möchte ihn zur Rede stellen. Doch das Mädel weiß das zu verhindern, indem sie auf die romantische Stimmung („Mond“ und „Sterne“, ebd.) ablenkt. Sie haben einen „kleinen Krach“ (Bl. 5) und das Mädel zieht einen Schlussstrich mit den Worten: „Ja, der Onkel hat doch recht: arm und reich vertragen sich nie.“ (ebd.) Anschließend geht der Student in den literarischen Zirkel, wo er sein Gedicht vorträgt, das von der Gräfin und den anderen Damen mit Komplimenten überhäuft wird. Doch dem Studenten gehen das Mädel und der Onkel nicht mehr aus dem Sinn. Er spricht mit zwei Freunden über die Frauen und einer äußert die Ansicht von der „Zweiteilung des Weibes“ in „Heilig[e]“ und „Dirnen“ (ebd.), was ein weiterer Hinweis auf den Expressionismus und auf Otto Weiningers Thesen in Geschlecht und Charakter (1903) ist. Schließlich geht der Student in ein „Cabaret“. Dort singt eine Sängerin ein Lied von einem „Strassenleuchter“ (vgl. den „Laternenanzünder“ in TS5), dessen Tochter auf den Strich geht. Es „erschüttert“ den Studenten „zutiefst“ (ebd.) und er betrachtet es als „Fingerzeig Gottes“ (Bl. 6), weshalb er das Mädchen wieder aufsucht und ihr sagt, er möchte mit ihrem Onkel – jetzt ist es der des Mädels – sprechen. Das Mädel bittet ihn, nett zu dem „alte[n] Mann“ zu sein, und weist ihn auf ein Restaurant hin, in dem er ihn treffen könne: Es handelt sich um ein „vegetarisches Restaurant“ mit dem Namen „Ceres“ (ebd.). Der Onkel trägt einen „Spitzbart“ und verwendet offen-

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Vorarbeit 1

sichtlich das Wort „Masse“ (ebd.), das der Student zum ersten Mal hört. Es verwirrt ihn. Er trifft sich noch ein paar Mal mit dem Mädchen, doch dann ist ihre Affäre vorbei. Der Student beschließt, keine Gedichte mehr zu schreiben, denn: „Sie gefielen ihm nicht.“ (ebd.) Mit dem Schluss der Textstufe schließt Horváth neuerlich an TS5 an: einerseits an den „alte[n] Sozi“ (TS5 und E21), andererseits an die Notiz: „Er zerreisst seine Gedichte“ und an die Bemerkung: „[s]eine Beziehung zum Proletariat“: „Er hat keine; er ist ein Ästhet, aber trotzdem Revolutionär.“ (TS5) T3 = ÖLA 3/W 354 – BS 16 b [3], Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Durchschlag, Paginierung 1–3 TS7 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die stille Revolution“ (Grundschicht) Druck in: Horváth 1975, S. 37–39.

Die vorliegende Textstufe weicht beträchtlich von TS6 ab, ist aber auf demselben Papier verfasst, weshalb sie genetisch wohl in der Nähe von TS6 zu platzieren ist. Horváth entwirft hier ein gänzlich anderes Szenario: Ein Mann, der Ich-Erzähler, von dem man praktisch nichts erfährt, wartet in der „tiefen Nacht“ auf einen „Unbekannten“ (Bl. 1). Allerdings ist es erst „halbacht“ (ebd.), wie man wenig später erfährt. Dann taucht zunächst ein Gendarm auf, mit dem sich der Protagonist über die „wirtschaftliche Depression“ (ebd.) unterhält. Er schließt: „Und derweil hätt ein jeder zu leben auf der Welt, wenn die Güter ein bisserl gerechter verteilt werden möchten.“ (ebd.) Auch von großer Arbeitslosigkeit ist die Rede (ebd. und Bl. 2). Schließlich kommt das Gespräch auf den Krieg. Der Gendarm bekräftigt: „wie ich jung war, da war ich ein Militarist, alles hab ich erobern wollen, dann war ich aber im Krieg, und dann wars anders bei mir --“ (Bl. 2). Der Ich-Erzähler hat den Krieg nicht miterlebt, er ist erst „zwanzig“ und bekennt: „Ich bin ein Kriegskind.“ (ebd.) Sowohl der Verweis auf die wirtschaftliche Krisenzeit als auch der Gegensatz zwischen einer älteren Figur, die den Krieg mitgemacht hat, und einem jungen Protagonisten, der ein „Kriegskind“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16) ist, weist bereits voraus auf den Roman Ein Kind unserer Zeit. Die Situation des Protagonisten ist äußerst prekär, wie man folgenden Zeilen entnehmen kann: „Du konntest auch ein Gendarm werden, aber ich? Ich kann mir ja nichts leisten, keine Unterhaltung und nichts -- am liebsten tät ich mich schon manchmal erschiessen.“ (Bl. 2) Auch dies weist voraus auf die prekäre finanzielle und berufliche Situation des Protagonisten in Ein Kind unserer Zeit, zumindest vor und nach seiner Militärzeit. Schließlich taucht der Unbekannte auf. Er trägt eine dunkle Brille (vgl. den „Bettler“ in K2/TS16, TS22 und K3/E2). Der Unbekannte hofft, dass er dem Mann „vertrauen“ (Bl. 3) kann. Er übergibt ihm einen Brief und fordert ihn auf, ihn dem Bürgermeister zu geben: „Niemand soll es bemerken […]. Alle Parteimitglieder werden überwacht.“ (ebd.) Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die historischen Rahmenbedingungen des geplanten Romans, der, noch deutlicher als der spätere Roman Ein Kind unserer Zeit, in der Ära der faschistischen Diktatur spielen sollte.

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H6 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 11 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte TS8 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die stille Revolution“ und „Die zweite Revolution“ (Korrekturschicht) Druck in: Horváth 1975, S. 40.

Die Blätter 7 und 11–19 der Mappen BS 16 b [1] und BS 16 b [2] weisen eine charakteristische Überlänge von 343 mm und das Wasserzeichen „Drei Sterne“ auf, wie sie sich auch bei den Blättern 1–9, 14, 16 und 17 der Mappe BS 26 a [1], den Blättern 1–6 und 8 der Mappe BS 26 a [2], den Blättern 1–6 der Mappe BS 26 a [3] und den Blättern 1–21 der Mappe BS 26 a [4] finden. Es ist deshalb von einem genetischen Naheverhältnis dieser Blätter auszugehen. Außerdem weisen sie alle eine Längsfaltung in der Mitte auf, was vermuten lässt, dass sie gemeinsam transportiert wurden (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 1). Die Blätter verteilen sich im Wesentlichen auf die beiden Vorarbeiten und die Konzeptionen 1 und 2 des Werkprojekts Ein Kind unserer Zeit. Blätter mit demselben charakteristischen Wasserzeichen verwendete Horváth auch in der Schlussbearbeitung des Stückes Pompeji, das mit einiger Sicherheit im Juli 1937 fertig wurde (vgl. den Brief Ödön von Horváths an Alma MahlerWerfel vom 24. Juli 1937, Original in der Van Pelt Library, University of Pennsylvania, Ms. Coll. 575). Dies stützt die Vermutung, dass die Vorarbeit Die stille Revolution im Juli oder August 1937 entstanden ist. Das erste Blatt, das Horváth aus diesem Konvolut von Blättern mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ für Die stille Revolution verwendete, dürfte das vorliegende Blatt BS 16 b [1], Bl. 11 gewesen sein. Es enthält eine Fassung des I. Kapitels mit zwei eingetragenen Werktiteln „Die zweite Revolution“ und „Die stille Revolution“, wobei Ersterer als Alternative hinzugefügt worden sein dürfte. Die Fassung schildert einen revolutionären Umbruch, der aber leise und in einem Tag erfolgt ist. Dies zeigt schon der Eröffnungssatz, der folgendermaßen lautet: „Gestern war Revolution. Endlich!“ Offensichtlich handelt es sich um einen revolutionären Umbruch von einer demokratischen staatlichen Ordnung zu einer autoritären Gesellschaftsordnung, in der zwar die „Gleichheit und Brüderlichkeit und Freiheit“ verkündet wird, aber ein „Führer“ dem „Volk“ vorsteht. Der Freiheitsbegriff dieser neuen Ordnung äußert sich nicht zuletzt darin, dass ihre Kritiker, die monieren, dass trotz aller vermeintlichen „Gleichheit“ „manche viel Geld haben und manche nichts“, „kurzerhand erschlagen“ werden. Die in dieser Fassung geschilderten Zustände erinnern mehr an Jugend ohne Gott als an Ein Kind unserer Zeit, wo Horváth allerdings durch den Mord am Buchhalter (vgl. K3/E6, TS15/A1/Bl. 4 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 191) doch einen Rachefeldzug des wirtschaftlich benachteiligten Einzelnen am grausamen wirtschaftlichen System und so letztlich auch an der bestehenden Gesellschaftsordnung darstellt. H7 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 12 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E10 = gestrichener Werktitel (links ganz oben) E11 = Strukturplan in 1 Kapitel mit Werktitel „Das Ende der Kunst. Roman“ und Notiz (links oben) E12 = Notiz (links mittig) TS9 = Fassung mit Werktitel „Die stille Revolution“ (rechts; Korrekturschicht) Druck von TS9 in: KW 15, S. 105f.

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Vorarbeit 1

Horváth hat auf dem vorliegenden Blatt, das wieder der Mappe BS 16 b [1] entstammt und das Wasserzeichen „Drei Sterne“ aufweist (vgl. den Kommentar zu TS8), zunächst zwei Entwürfe skizziert. In E10 notiert er den Werktitel „Die stille Revolution“, streicht ihn aber gleich wieder. In E11 vermerkt er erstmals den Werktitel „Das Ende der Kunst“ mit dem Gattungszusatz „Roman“ und dazu ein I. Kapitel mit dem Titel „Der Schlafwagenschaffner“. Die Werkprojekte Die stille Revolution, Das Ende der Kunst und Krieg ohne Kriegserklärung sind eng miteinander verflochten, wie vor allem der Strukturplan E25 zeigt, auch wenn Horváth in einem anderen Entwurf erwägt, drei getrennte Romane mit den erwähnten Titeln zu schreiben (vgl. VA2/E4; vgl. weiters VA2/TS4). In einem Brief an seinen Lektor beim Verlag Allert de Lange, Walter Landauer, vom 26. Februar 1938 schreibt Horváth, kurz nachdem er Landauer sein fertiges Manuskript von Ein Kind unserer Zeit gesandt hatte: „Nun etwas anderes: / morgen will ich einen neuen Roman beginnen und zwar werde ich dieses Buch spätestens am 1. September fertig haben. Titel: ‚Das Ende der Kunst.‘ Ein Bohème-Roman aus unserer Zeit, sogenannte Erlebnisse eines Autors, der für das Theater schreibt. Abgesehen von einer ‚richtigen‘ (sozusagen fast filmgemässen) Handlung, möchte ich in diesem Buche folgendes versuchen: zum Beispiel: es sitzen drei Leute (Künstler) in einem Zimmer und unterhalten sich, was man heutzutag schreiben soll und muss (und schreiben sollte und müsste). Sie erzählen sich ganze Romane – wobei die Thematas und die ‚Helden‘ der zu schreibenden Bücher nicht nur von allen Seiten ‚beleuchtet‘ werden, sondern – und dies ist die Hauptsache – von dem Standpunkt aus gesehen werden, von welchem aus sie in unserer Zeit gesehen werden können, dürfen und sollen. Ich bin, das muss ich gestehen, sehr begeistert von diesem Einfall.“ (zitiert nach dem Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IIHS), Amsterdam, Signatur 27/529–31; Hervorhebungen im Original) Es wird also klar, dass Horváth bereits wesentlich früher, als dieser Brief entstanden ist, über ein weiteres Werkprojekt nachdachte, das aber hier noch nicht wirklich von dem laufenden Projekt Die stille Revolution zu trennen ist. Deshalb scheint es legitim, E11 zur Vorarbeit Die stille Revolution zu rechnen. Der Kapiteltitel „Der Schlafwagenschaffner“ bringt eine gänzlich neue Dimension in das Werkprojekt. Offensichtlich sollte hier der Protagonist mit der Bahn fahren und mit einem Schlafwagenschaffner in Kontakt treten, oder aber selbst dieser Schlafwagenschaffner sein. Die Notiz „Begegnung mit der Göttin der Kunst“ verweist möglicherweise zurück auf TS4–TS6, wo die studentische Hauptfigur literarische Ambitionen hat und in einem literarischen Zirkel verkehrt. In E12 notiert der Autor eine aphoristische Bemerkung, die wohl keine weitere Verwendung gefunden hat, aber wahrscheinlich doch zum Kontext des Werkprojekts Die stille Revolution zu zählen ist. Horváth vermerkt hier: „Wenn die Weiber wüssten, was die Männer über sie denken, sie könnten niemehr unbefangen durch ein Lokal gehen.“ Ein unmittelbarer Bezug zum Roman Ein Kind unserer Zeit ist nicht herstellbar. Allerdings ist es nicht selten, dass Horváth in der Genese eines Werkprojekts solche Sätze notiert, die dann nirgendwo Verwendung finden. Reflexionen über Männlichkeit und Weiblichkeit finden sich indes im Roman zuhauf. Im Kapitel „Das verwunschene Schloss“ etwa finden sich Sätze wie: „Die Weiber sind ein notwendiges Übel, das ist bekannt. Man braucht sie zur Sicherstellung einer möglichst grossen Zahl kinderreicher, erbgesunder, für das Vaterland rassisch wertvoller Familien. Aber ansonsten stiften sie nur Wirrwarr.“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 27) Oder: „Eine nicht mehr ganz junge Frau hat keine Seele zu haben, sie soll froh sein, wenn man sie anschaut. Sie hat kein Recht, einem hinterher mit Gefühlen, wie zum Beispiel

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Eifersucht oder sogenannter Mütterlichkeit, zu kommen.“ (ebd.) Oder: „Bei dem weiblichen Geschlechte weisst Du nie, woran Du bist. / Da findest Du keine Treu und keinen Glauben, immer kommens zu spät, ein Nest voller Lügen, usw.“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 28) Oder: „Jaja, die Herren Weiber sind ein Kapitel für sich! / Sie bringen Dich auf die Welt und bringen Dich auch wieder um. –“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 28f.) In TS9 arbeitet Horváth neuerlich eine Fassung zum I. Kapitel des Romanprojekts Die stille Revolution aus. Werk- und Gattungstitel scheinen zu Beginn der Textstufe auf. Anschließend notiert der Autor den Kapiteltitel „Die Personalien“, der den zuerst vermerkten Kapiteltitel „Der Name des Menschen“ ersetzt (vgl. VA2/TS1). Ein solches expositorisches Kapitel findet sich noch in Ein Kind unserer Zeit. Das Kapitel „Der Vater aller Dinge“ klärt dort nicht nur über den Vater des Ich-Erzählers auf, sondern auch über diesen selbst. Im Fall der vorliegenden Fassung heißt der Ich-Erzähler wie schon in E2 Peter Zapfel. In Form eines (Polizei-)Verhörs wird seine Identität überprüft: Geburtsdatum, Geburtsort, Staatsangehörigkeit und Beruf (vgl. VA2/TS1). Ersteres ist noch leicht eruierbar („10. Oktober 1911“), doch schon der ungarische Geburtsort Békéscsaba, den Horváth kurzfristig zu Budapest korrigiert, dann aber wieder rückkorrigiert, macht Schwierigkeiten, weil er für den verhörenden Beamten kaum verständlich ist. Gänzlich prekär wird es bei der Klärung der Staatsangehörigkeit des Peter Zapfel, da sein Geburtsort einmal ungarisch war, jetzt aber zu Rumänien gehört (vgl. die Posse Hin und her in WA 6). Außerdem ist seine Mutter „eine halbe Rumänin, eine halbe Deutsche“ und sein Vater „ein halber Ungar und ein halber Slowak“. Von Beruf ist Peter Zapfel „Tischler“. Da er ohne „gültige Dokumente“ die deutsche Grenze überschritten hat, bleibt er vorerst in Gewahrsam. Ein zeitgeschichtlicher Bezug liegt nicht explizit vor, ist aber aufgrund des Geburtsdatums für die Zeit zwischen 1933 und 1938 wahrscheinlich (vgl. TS1 und TS2). H8 = ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 13 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E13 = Strukturplan in 5 Kapiteln mit Werktitel „Die stille Revolution. Roman“ (links oben) E14 = Strukturplan in 8 Kapiteln mit Notizen (links mittig) E15 = fragm. Strukturplan in 5 bzw. 8 Kapiteln mit Notizen (rechts mittig und unten)

In E13 notiert Horváth den Werktitel „Die stille Revolution“ mit dem Zusatz „Roman“ sowie einen Strukturplan in fünf Kapiteln, der folgende Kapiteltitel umfasst: „Die Komplexe“, „Landstrasse“, „Verbrechen“, „Einordnung in die Gemeinschaft“ und „Die stille Revolution“. Dabei verwendet er erstmals den Titel „Die stille Revolution“ als Kapiteltitel und entwirft eine Kapitelfolge, die mit der Revolution endet (vgl. TS8, wo die Revolution am Anfang des Romans steht). Dies ist charakteristisch für die späteren Entwürfe von Vorarbeit 1, dass sie alle auf die „Stille Revolution“ finalisiert sind. Außerdem wird hier neuerlich die „Landstrasse“ erwähnt, die schon in TS7 eine Rolle spielte. Auch die „Verbrechen“, die der Protagonist begehen sollte, werden dort angedeutet. Neu ist die Idee einer „Einordnung in die Gemeinschaft“, die im Roman Ein Kind unserer Zeit mit der militärischen Gemeinschaft realisiert scheint. In E14 nimmt Horváth einen Teil dieser Kapiteltitel wieder auf, stellt sie aber um und erweitert den Strukturplan auf acht Kapitel. Die Kapitelfolge lautet hier: „Er arbeitet nicht gern, denn was er arbeitet, gehört nicht ihm“, „Das Abrutschen auf die

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Vorarbeit 1

schiefe Ebene“, „Gefängnis“, „Ausweisung. (Brücke)“, „Der Aufstieg von der Brücke her“, „Die Einordnung in die Gemeinschaft“, „Landstrasse“ und „Die stille Revolution“. Die Problematik des Arbeitens ist hier nicht als Arbeitslosigkeit (vgl. TS7) angesprochen, sondern in der Form der ‚falschen‘ oder nicht lohnenden Arbeit. Wie schon in E7 wird hier das „Abrutschen auf die schiefe Ebene“ erwähnt, eine Wendung, die Horváth allenthalben (vgl. WA 4 und WA 14) und auch im Roman Ein Kind unserer Zeit wiederverwendet. Dort heißt es im Eröffnungskapitel: „Ich bin doch auch ein anständiger Mensch und es war ja nur die Hoffnungslosigkeit meiner Lage, dass ich so schwankte wie das Schilf im Winde – sechs trübe Jahre lang. Die Ebene wurde immer schiefer und das Herz immer trauriger. Ja, ich war schon sehr verbittert.“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 10) Der Protagonist landet daraufhin laut E14 im „Gefängnis“, wird ausgewiesen und schafft den sozialen „Aufstieg“ (vgl. E1). Wie in E13 erfolgt dann eine „Einordnung in die Gemeinschaft“. Allerdings erweist sich die Gemeinschaft als „verfälschte“, wie aus einer Notiz zu diesem Kapiteltitel hervorgeht. Der Strukturplan endet wie schon E13 mit „Die stille Revolution“. E15 entwickelt diese Kapitelfolge weiter. In zwei Ansätzen skizziert Horváth hier einen Strukturplan in fünf Kapiteln, der zunächst folgende Kapitelfolge umfasst: „Er ist arbeitslos und verliert durch die Arbeitslosigkeit seine Braut“ (vgl. Kasimir und Karoline, WA 4), „Das Abrutschen auf die schiefe Ebene“, „Der Autodieb“ und „Gefängnis“. Das fünfte Kapitel wird nur nummeriert, aber nicht mehr betitelt. In der Überarbeitung ergänzt Horváth zum ersten Kapitel: „Er sucht zuerst eine Bewegung, der er sich anschliesst. Es ist die richtige. / Aber er wird eingesperrt wegen Mitgliedschaft zu dieser Bewegung.“ Anschließend ersetzt Horváth die Kapitel 2–5 durch die folgende Abfolge, wobei nicht ganz klar wird, ob es sich dabei um Einzelkapitel oder Unterkapitel handeln sollte: „Schiefe Ebene“, „Landstrasse“, „Trappisten“, „Wieder Gefängnis“, „Ausweisung. (Brücke)“, „Die Einordnung in die Gemeinschaft. (Die verfälschte Gemeinschaft)“ und „Die stille Revolution“. Damit nimmt der Autor größtenteils die Kapiteltitel von E14 wieder auf und kommt, wenn man alle Notate als Kapiteltitel zählt, neuerlich zu einer Struktur in acht Kapiteln. H9 = ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 14 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E16 = Strukturplan in 12 Kapiteln mit Werktitel „Die stille Revolution“ mit Notizen und Repliken

Der Strukturplan E16 stellt den bis dato elaboriertesten Entwurf zum Werkprojekt Die stille Revolution dar. Es handelt sich dabei um einen Strukturplan in zwölf Kapiteln mit den Titeln: „Er ist arbeitslos (und verliert durch die Arbeitslosigkeit seine Braut)“ (vgl. E15), „Er sucht eine Bewegung, der er sich anschliesst“, „Er wird eingesperrt, wegen Mitgliedschaft und Betätigung für diese Bewegung. Der Böller“, „Gefängnis als politischer Häftling“, „Er verlässt das Gefängnis“, „Auf der schiefen Ebene“, „Auf der Landstrasse“, „Wieder Gefängnis. Ausweisung“, „Auf der Brücke“, „Er wird frei“, „Jetzt hat er seine Freiheit“ und „Das andere Land. Die stille Revolution“. E16 stellt damit eine Erweiterung der vorhergehenden Strukturpläne dar, vor allem von E14 und E15, die er um jeweils vier Kapitel ergänzt. Dabei kommen wenige wirklich neue Aspekte hinzu, es werden einzig die bereits vorhandenen Themen und Motive auf eine größere Zahl von Kapitel verteilt. Der „Böller“ im dritten Kapitel erinnert an TS1 und TS2. Zum sechsten Kapitel „Auf der schiefen Ebene“ (vgl. E14 und

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E15) notiert Horváth „Autodieb“, „Hochstapler“ und „das Zimmermädel, das ihn liebt und beschützt. Kraft der Liebe“, was eine Reihe neuer Motive darstellt. Zum siebenten Kapitel „Auf der Landstrasse“ (vgl. E13–E15) vermerkt Horváth zu den „Trappisten“ (vgl. E15) die Replik: „Es gibt nur eine Gleichheit mit dem Hintergrund ‚Gott.‘[“], womit die religiöse Thematik eingeführt ist, die ja nicht nur im Roman Jugend ohne Gott, sondern auch im Folgeroman Ein Kind unserer Zeit eine Rolle spielt. Überdies notiert der Autor zu diesem Kapitel „Der Betrug an dem Bauern. (Aberglaube; der Herr ‚Doktor‘)“, was in der Form in den vorhergehenden Entwürfen noch nicht vorkam und eher in die Richtung der Komödie Figaro läßt sich scheiden weist, wo vor allem in den frühen Entwürfen von Horváth immer wieder Bauern in die Konzeption des Stückes eingebaut werden (vgl. WA 8, insbesondere VA2 und VA3). Der „Herr ‚Doktor‘“ erinnert indes an die Konzeption 2 der Posse Hin und her, wo Horváth die Hauptfigur Havlicek als „Wunderdoktor“ konzipiert (vgl. WA 6/K2/E2, E4, E7, E8 und E12). Ein nachträglich in E16 eingetragener Pfeil verschiebt das siebente Kapitel hinter das elfte. Die „Ausweisung“ und die „Brücke“ (vgl. E3, E8, E14 und E15) der Kapitel acht und neun erinnern ebenfalls an die Posse Hin und her (vgl. WA 6). Das zehnte Kapitel „Er wird frei“ erweitert der Autor um den Zusatz „Wird gefilmt“, was eine motivische Weiterentwicklung darstellt (vgl. WA 9/K1/E2 und E4). Zum zwölften Kapitel schließlich notiert Horváth „Die dritte Braut“, was neu ist und an die drei Bräute in Entwürfen zu Horváths letztem Romanprojekt Adieu, Europa! erinnert (vgl. ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 2 sowie K1/E5 und E7). Der vorliegende Entwurf E16 zeigt also in paradigmatischer Weise auf, wie eng die Werkprojekte der Jahre 1934 bis 1938 miteinander verflochten sind. H10 = ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 15 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte TS10 = fragm. Fassung des I. Kapitels „Zerrissen“ mit Werktitel „Die stille Revolution“ (Korrekturschicht)

Das vorliegende Blatt gehört zu dem Konvolut an überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. den Kommentar zu TS8), das innerhalb des Werkprojekts Die stille Revolution einer späteren Bearbeitungsphase zuzuordnen ist, weshalb TS10 mit einiger Wahrscheinlichkeit nach den maschinenschriftlichen Ausarbeitungen zum ersten Kapitel TS6 und TS7 sowie den handschriftlichen Ausarbeitungen TS8 und TS9 zu reihen ist. In TS10 skizziert Horváth den Beginn eines neuen ersten Kapitels zum Werkprojekt Die stille Revolution. Dabei nimmt er im Vergleich zu den vorher gereihten Strukturplänen E13–E16 eine Neuordnung der Kapitelfolge vor. Das erste Kapitel des Romanprojekts soll nun auf der „Landstrasse“ (vgl. Kap. 2 bzw. 7 von E13–E16) spielen und zeigt einen Protagonisten, der völlig „zerrissen“ ist und kein Geld und keine Frau hat. Er quittiert diesen Zustand jedoch mit dem Satz: „Aber es macht mir nichts aus.“ Damit bricht die Textstufe ab. Horváth findet in ihr bereits zu der den späteren Roman kennzeichnenden Ich-Erzählsituation (vgl. deren Transformationen in den Textstufen von VA2). Der Eröffnungssatz der Fassung TS10: „Alles weicht mir aus“ wird in den folgenden Textstufen TS12 und TS13 sowie im folgenden Strukturplan E17 zu „Man weicht mir aus“ variiert und lässt annehmen, dass das vorliegende Blatt vor den Blättern BS 16 b [2], Bl. 16–19 und vor BS 16 d, Bl. 1–4 zu reihen ist.

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H11 = ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 19 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E17 = Strukturplan in 20 Kapiteln mit Werktitel „Zweiter Roman. Die stille Revolution“ (links oben und mittig) E18 = gestrichener Werktitel „Dritter Roman. Die Schande unserer Zeit“ (rechts oben) TS11 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Langstreckengeher“ mit Strukturplan in 4 Kapiteln mit Notizen (rechts; Korrekturschicht) E19 = Werktitel „Dritter Roman. Die Schande unserer Zeit“ mit Notizen (links unten) E20 = Werktitel „Vierter Roman. Ich kämpfe nicht mit!“ mit Notizen (unten und mittig)

Das vorliegende Blatt entstammt wie die vorhergehenden Blätter einem Konvolut von überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Sterne“, die wohl in einem werkgenetischen Zusammenhang zueinander stehen (vgl. den Kommentar zu TS8). Auf Bl. 19 sind vier Entwürfe und eine Textstufe eingetragen. In E17 skizziert Horváth ähnlich wie in E16 einen umfassenden Strukturplan unter dem Werktitel „Die stille Revolution“, der in diesem Fall noch mit dem Zusatz „Zweiter Roman“ versehen ist. Möglicherweise sollte der in E11 genannte Titel „Das Ende der Kunst“ den ersten Roman bilden, darauf würde dann der zweite Roman „Die stille Revolution“ folgen, dann, wie aus E19 hervorgeht, der dritte Roman mit dem Titel „Die Schande unserer Zeit“ und, wie E20 andeutet, der vierte Roman mit dem Titel „Ich kämpfe nicht mit!“ (vgl. auch VA2/E4, wo Horváth eine Romantrilogie mit ähnlicher Abfolge entwirft, vgl. weiters VA1/E25 und VA2/TS4). In E17 notiert Horváth zwanzig Kapitel zu seinem Romanprojekt Die stille Revolution. Kapitel 1 trägt den Titel „Man weicht mir aus“ und nimmt damit unmittelbar Bezug auf TS10, in der das erste Kapitel „Zerrissen“ ansatzweise ausgearbeitet wurde. Der Eröffnungssatz dieser Fassung „Alles weicht mir aus“ wird also unter Punkt 1 von E17 so umformuliert, wie er auch in den folgenden Fassungen TS12 und TS13 sowie in der Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit erscheint (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 8, hier um „fast“ erweitert). Dies kann als Argument für die Reihung der entsprechenden Handschriften und Typoskripte angesehen werden. Die darauffolgenden Kapitel nehmen zum Teil Altes wieder auf, stellen im Großen und Ganzen aber doch eine wesentliche Weiterentwicklung gegenüber den Strukturplänen E13–E16 dar. Der Roman scheint in E17 eine neue Richtung zu nehmen. Für das zweite Kapitel etwa ist eine „Autopanne“ vorgesehen, wie man sie aus den frühen Entwürfen zu Kasimir und Karoline kennt (vgl. etwa WA 4/VA2/E1, E3 und E4). Das dritte Kapitel nimmt mit den „Trappisten“ wieder Bekanntes auf (vgl. E15 und E16), geht aber doch darüber hinaus, weil hier erstmals der Schauplatz „Im Kloster“ genannt wird. Folgerichtig handelt das vierte Kapitel von „Den lieben Gott betrügen“. Kapitel fünf spielt „Im Heu beim Bauern“ (vgl. E16). Kapitel sechs erwähnt erstmals das „Betteln“ und folgerichtig die „Polizei“ und nimmt damit ein zentrales Motiv des späteren Romans Ein Kind unserer Zeit vorweg (vgl. das Kapitel „Der Bettler“ in K3/TS18/Horváth 1938b, S. 55–71 sowie 99f., 129 und 192f.). Das „Bettlerlager“ von Kapitel 7 kehrt in TS11 wieder. Die „Fabrik“, die „Arbeiter“, „Angestellten“ und „Direktoren“ der Folgekapitel 8–11 stellen eine Zutat von E17 dar. Der ebenfalls hier erwähnte „Kollektivismus“ taucht in Form der „neuen Kollektivität“ in TS11 wieder auf. Kapitel 12 soll in einem „geheimen Klub“ spielen, was an ähnliche Bildtitel in der Werkgenese von Don Juan kommt aus dem Krieg erinnert (vgl. etwa WA 9/K1/E2–E4). Mit der „Debatte“ wird eine Notiz von E16 wiederaufgenommen, wo es heißt: „Die Spiesser am Stammtisch. Der Ortsführer ist seiner Meinung. Er debat-

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tiert mit.“ Wie dort könnten also auch in E17 politische Debatten gemeint sein. Kapitel 13 trägt den Titel „Auf der Flucht“, der in TS11 wiederaufgenommen wird. In Kapitel 14 und 15 soll es ein „Attentat“ (vgl. ebd.) geben und der „Attentäter“ schließlich erschossen werden. Kapitel 16 trägt den Titel „Das Mädchen“, eine Notiz deutet an, dass sich der Protagonist in sie „verliebt“. In Kapitel 17 gibt es folgerichtig ein „Kind“, die Notiz „sie bekommt ein Kind, eine tumbe Bauernmagd“ wird in TS11 wiederaufgenommen. In Kapitel 18 werden „drei Landstreicher“ erwähnt, die das Kind „schützen“. Für das Schlusskapitel 19 ist, wie in E13–E16, „Die stille Revolution“ vorgesehen, die also den Abschluss des Romans bilden sollte. Eine Notiz lautet „Die Prämierung der besten Milchspenderin“, wobei nicht ganz klar ist, welchem Kapitel diese Notiz zugeordnet ist, möglicherweise dem fünften Kapitel „Im Heu beim Bauern“. E18, E19 und E20 setzen in gewisser Weise E17 fort, handelt es sich doch dabei um Werktitelentwürfe, die einen dritten Roman mit dem Titel „Die Schande unserer Zeit“ und einen vierten Roman mit dem Titel „Ich kämpfe nicht mit!“ beinhalten, die offensichtlich an den in E17 skizzierten zweiten Roman „Die stille Revolution“ anschließen sollten. E18 wird von Horváth gleich wieder gestrichen. Stattdessen macht er sich an die Ausarbeitung von TS11, die aufgrund der Verteilung auf dem Blatt wohl vor E19 und E20 entstanden sein dürfte. Insbesondere der kurze erzählerische Einstieg von E20, der in äußerst kleiner Schrift und in vertikaler Ausrichtung zwischen E17 und TS11 gezwängt wurde, legt diese genetische Abfolge nahe. Es wäre allerdings auch möglich, dass Horváth zunächst nur die reinen Werktitel von E19 und E20 notierte, dann E18 vermerkte, sich in der Folge an die Ausarbeitung von TS11 machte und schließlich erst die zusätzlichen Notizen zu E20 hinzufügte. Allerdings legt die Tatsache, dass E18 gestrichen wurde, nahe, dass dieser Entwurf vor E19 und E20 entstanden ist. In TS11 skizziert Horváth ein Kapitel mit dem Titel „Der Langstreckengeher“, das keine weitere Verwendung findet. Der Protagonist soll zunächst etwas „mit einer tumben Bauernmagd“ (vgl. E17 und E20) haben. Dann landet er in einem „Bettlerlager“ (vgl. E17) und wird durch „Betrug“ (vgl. E16 und E17) „gross“ (vgl. E1 und E14). So lautet zumindest die Grundschicht, in der Korrekturschicht streicht Horváth dies und ergänzt „[durch] sportliche Leistung in der Firmenmannschaft“, eben als „Langstreckengeher“. Danach wird der Protagonist in die „Erfordernisse der ‚neuen Kollektivität‘“ (vgl. E13–E15) „eingeweiht“. Ein im Anschluss skizzierter Handlungsverlauf führt die Kapiteltitel „Flucht“, „Trappisten“, „Das Kind der tumben Bauernmagd“ und „Die stille Revolution“ an und greift damit bereits bekannte Kapiteltitel (vgl. E17) wieder auf. Ein nachträglich notierter Zusatz enthält eine weitere kurze narrative Ausarbeitung, in der zum Schlusskapitel „Die stille Revolution“ Folgendes vermerkt wird: „Ich trete vor die Hütte. / Es ist sehr still auf der Welt. / Alles ist verschneit. / Und der Schnee fällt so leise – / Und genau so leise, wie jetzt der Schnee fällt, wird Euere Welt zusammenstürzen.“ Damit nimmt Horváth bereits das Schlusskapitel „Der Schneemann“ des Romans Ein Kind unserer Zeit vorweg (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 192–202). Das Kälte- und Schnee-Motiv spielt im gesamten Werkprozess und im späteren Roman eine zentrale Rolle (vgl. VA2/E1, K1/E18–E24, E27–E29, K2/E6/Bl. 15, E10–E14, E22, E25, E26, E31, E32/Bl. 4, TS16, E33, E35, E36, E39, TS21, K3/E8, E9, E11, TS17/A1, A2 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 37, 41, 60, 66, 82, 90, 101, 131, 134, 142, 155, 160, 168, 184, 194 und 200). Außerdem betitelt Horváth das Schlusskapitel des Romans gleich wie den Schlussakt des Schauspiels Don Juan

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kommt aus dem Krieg, in dem eine ähnliche Kälte- und Schnee-Motivik und ein ähnliches Schlussbild des eingeschneit werdenden und im Schnee sterbenden Protagonisten gestaltet ist (vgl. WA 9/K5/TS10/A11/BS 19 b, Bl. 21f.). In E19 notiert Horváth neben dem Titel einen thematischen Aspekt, wonach die „Schande unserer Zeit“ wohl darin bestehen sollte, „[d]ass man jemand verfolgt für etwas, wofür er nichts kann“. Ein unmittelbarer Bezug zum späteren Roman Ein Kind unserer Zeit scheint nicht gegeben. Mit E20 scheint dieser Bezug eher gegeben, skizziert Horváth doch darin den „Roman eines Deserteurs“, wie der Untertitel des Romans „Ich kämpfe nicht mit!“ lautet. Der Protagonist soll dabei „aus einem nichterklärtem Krieg, wo nur gesäubert wird“ desertieren, wie man einer Notiz entnehmen kann (vgl. VA2/E9, K1/E9, E16/Bl. 9, E21, K2/E22, E25 und E26). Der Werktitel ist überdies erweitert durch einen kurzen erzählerischen Einstieg, wo es heißt: „Gestern war ein wichtiger Tag in meinem Leben: Ich hab die Matura bestanden. Jetzt komm ich auf die Universität, aber vorher muss ich noch Soldat werden. Bevor ich Medizin studiere, muss ich lernen, die Leute zu töten. Pazifistisches Geschwätz! – Schluss: Ich erschlage den Freund. Denn er ist nichtmehr mehr Freund. Und gegen Gewalt, hilft nur Gewalt.“ Damit sind wichtige Themen des Romans Ein Kind unserer Zeit angesprochen, die Hauptfigur als Soldat, die Missachtung des Pazifismus (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 14) und die Gewaltverherrlichung (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 15). Zwar gibt es im späteren Roman keinen „Freund“ des Protagonisten, der „erschlagen“ würde, wohl aber den Buchhalter, den der Ich-Erzähler in den Kanal stößt, worauf er ertrinkt (vgl. K3/E6 und TS18/Horváth 1938b, S. 191). Die Todeserfahrung, die der Protagonist dort macht – der Tod des Hauptmanns auf offenem Felde –, und seine damit einhergehende Verkrüppelung sind indes äußerst negativ konnotiert (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 45–54). In einer weiteren Notiz von E20 wird die „tumbe Bauernmagd“ wieder erwähnt (vgl. E17 und TS11). Außerdem wird der Titel „Ich kämpfe nicht mit!“ in einer weiteren Notiz zu „Wir kämpfen nicht mit!“ variiert und mit der Notiz „Die Anderen haben gesiegt“ versehen. Eine weitere Notiz besagt, dass der „Sohn des Diktators“ im Roman eine Rolle spielen soll und dass er ein „Cretin“ ist. Diese Idee findet in der Folge keine weitere Verwendung. H12 = ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 16, 17 2 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1, 2 TS12 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die stille Revolution“ (Korrekturschicht) Druck in: Horvàth 1975, S. 33f.

Die Bl. 16 und 17 sind Teil eines Konvoluts von Blättern, die sich durch eine Überlänge von 343 mm und das Wasserzeichen „Drei Sterne“ auszeichnen und deshalb als genetisch zusammengehörig erkennbar sind (vgl. den Kommentar zu TS8). Auf den vorliegenden drei Blättern arbeitet Horváth handschriftlich eine Fassung des ersten Kapitels von E17 „Man weicht mir aus“ aus, die er mit dem Werktitel „Die stille Revolution“ versieht. TS12 schließt dabei zunächst an TS10 an, wo eine ähnliche Situation des Zerrissenseins geschildert wird. Anstelle des dort notierten Eröffnungssatzes: „Alles weicht mir aus“ findet sich indes hier der auf E17 basierende Eröffnungssatz: „Man weicht mir aus.“ (Bl. 16), der auch in TS13 wiederaufgenommen wird (vgl. auch K3/TS18/Horváth 1938b, S. 8). Die Schuhe des Protagonisten sind „zerrissen“ und sein „Anzug ist auch nicht so ganz in der Ordnung.“ (ebd.) Aber er hat kein Geld und

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kann sich deshalb seine Sachen nicht „flicken“ (ebd.) lassen. Auch bei den Eltern des Protagonisten war es so: „Sie lebten von heut auf morgen.“ (ebd.) Er hatte zwei Schwestern, von denen jedoch die eine mit vierzehn Jahren starb. Er sagt von sich, dass er sich an vieles nicht mehr erinnern kann, „z.B. an den Weltkrieg“ (ebd.; vgl. TS7/Bl. 2) – eine Thematik, die auch im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit eine Rolle spielen wird, wo sich zwar der Vater des Protagonisten noch an den Weltkrieg erinnern kann, den er auch mitgemacht hat, er selbst aber nicht (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16f.). Der nächste Absatz zeigt den Protagonisten auf der „Landstrasse“ (Bl. 17; vgl. E1, TS7/Bl. 1, E13–E16 und TS10) als „Landstreicher“ (ebd.; vgl. E3, E5 und E17). Er hat verschiedene Berufe durchgemacht: Buchdrucker (vgl. VA2/TS4), Feldarbeiter, Maurer, dann sollte er Straßenarbeiter werden. Da beschloss er, lieber nicht zu arbeiten. Er „will nicht arbeiten!“, weil er nichts von seiner Arbeit hat, außer „das Fressen“ (ebd.; vgl. E14 und E22). H13 = ÖLA 3/W 352 – BS 16 b [2], Bl. 18 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 3 E21 = fragm. Strukturplan in 7 Kapiteln mit Notizen und Repliken (links) E22 = Notizen (rechts)

Bl. 18 gehört ebenfalls zu dem Konvolut an überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. den Kommentar zu TS8). Die Paginierung 3 legt nahe, das vorliegende Blatt als Fortsetzung von TS12 zu werten. Dies würde bedeuten, dass der mit E21 vorliegende fragmentarische Strukturplan in sieben Kapiteln das erste Kapitel, das in TS12 ausgearbeitet wurde, fortsetzt. Das scheint stimmig, zumal Papierqualität und -größe sowie Schreibmaterial und -duktus (v.a. der Paginierung) ein unmittelbares Naheverhältnis annehmen lassen. Da die topografische Verteilung des Textmaterials von E21 eine lineare Darstellung nicht unbedingt nahelegt und sich auf dem Blatt ein weiterer Entwurf E22 befindet, wurden E21 und TS12 indes getrennt voneinander realisiert. Von einer Zusammengehörigkeit des Entwurfs und der Textstufe ist aber unbedingt auszugehen. In E21 skizziert Horváth also einen Strukturplan in sieben Kapiteln, der mit dem zweiten Kapitel einsetzt. Das erste Kapitel – wohl „Man weicht mir aus“ (vgl. E17) – dürfte mit TS12 bereits realisiert sein und wird in E21 deshalb nicht mehr genannt. Das zweite Kapitel trägt den Titel „Die Kameraden des Landstreichers“, darunter notiert Horváth: „Ein alter Sozi“ (vgl. TS5) und „Ein junger Kommunist“. Der Protagonist trifft sie auf der „Landstrasse“ (vgl. E1, TS7, E13–E16, TS10 und TS12) und sie übernachten in einem „Heuschober“ (vgl. E17 und TS12/Bl. 17). Kapitel 3 trägt den Titel „Die Autopanne“ (vgl. E17). Der Protagonist fährt in einem Auto mit, was er als „Verrat“ an seinen Landstreicher-„Kameraden“ empfindet, und führt ein „Gespräch mit der Frau und dem Mann“, denen das Auto gehört. Vom „Ich“, das hier als Ich-Erzähler eindeutig ausgewiesen ist (vgl. TS7, TS10 und TS12), heißt es: „Ich bin ein Arbeiterdichter. Ich mache Gedichte.“ Darunter wird ein Gedicht zitiert, das in TS12/Bl. 16 in der ursprünglichen Form nachzulesen ist. In E21 heißt es: „Jetzt starb er im Stehen und Liegen. Jetzt stirbt er auch im Fliegen.“ Folgerichtig wird dem „Arbeiterdichter“ vorgeworfen, das Gedicht von einem „ordinären Gedicht“ gestohlen zu haben (zu dichtenden Hauptfiguren vgl. auch TS4 und TS6). Im vierten Kapitel soll sich der Protagonist der Frau „näher[n]“ und wird deshalb „aus dem Auto geschmissen“, worauf er

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den/die „Kameraden“ wiedersieht. Kapitel 5 spielt im „Bettlerlager“ (vgl. E17 und TS11). Kapitel 6 zeigt die „Flucht aus dem Lager“ (vgl. ebd.). Zu Kapitel 7 notiert Horváth: „Beim Heu im Bauern“, meint aber wohl „Beim Bauern im Heu“ (E17). Kapitel 8 lautet „Die Fabrik“. Da dieses Kapitel im Strukturplan E17 das achte von neunzehn Kapiteln bildet, ist anzunehmen, dass E21 einen fragmentarischen Strukturplan darstellt, dem nicht nur das erste Kapitel, sondern auch die den Roman abschließenden Kapitel fehlen, deren Zahl jedoch unklar ist. In E22 macht sich Horváth eine Reihe von Notizen zum Themenkomplex „Arbeit“. Dabei geht es vor allem um die Frage, warum die Hauptfigur des Romans nicht arbeiten will (vgl. E14 und TS12/Bl. 17). Als Grund wird hier nicht die Tatsache angegeben, dass er nichts von seiner Arbeit hat, weil er an deren Ertrag nicht beteiligt ist, sondern: „Der Grund: Die Ableugnung jeglicher gesellsaschaftlicher [sic] Bindung“. Eine weitere Notiz spricht von der „Geschichte der Verfälschung“, die folgendermaßen erklärt wird: „Als ich aus dem Gefängnis herauskam, hatte sich die Welt gedreht.“ Es geht hier offensichtlich um Veränderungen, die ein Inhaftierter nicht miterlebt – eine Idee, die keine weitere Verwendung findet. T4 = ÖLA 3/W 355 – BS 16 d, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (295 × 210 mm), Paginierung 1, 2

T5 = ÖLA 3/W 355 – BS 16 d, Bl. 3, 4 2 Blatt unliniertes Papier (295 × 210 mm), dünn, Durchschlag, Paginierung 1, 2 TS13 = fragm. Fassung mit Titel „Ohne Geld“ (Grundschicht) Druck in: KW 15, S. 19f.

In TS13 arbeitet Horváth neuerlich eine Fassung des ersten Kapitels aus, diesmal unter dem (Kapitel-)Titel „Ohne Geld“. TS13 baut auf E17 auf und nimmt wesentliche Aspekte von TS12 wieder auf, so etwa den Eröffnungssatz: „Man weicht mir aus“ (Bl. 1), der sich in dem vorhergehenden Entwurf und der Textstufe findet (vgl. auch TS10 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 8). Wieder wird in der vorliegenden Textstufe der Zustand des Zerrissenseins beschrieben; dabei nimmt Horváth den Satz: „Denn meine Schuhe sind zerrissen und mein Anzug ist auch nicht in der Ordnung“ (Bl. 1) von TS12 wieder auf, erweitert diesen aber noch um den Zusatz: „Die Hose ist mir zu kurz, der Rock zu lang, der Hut zu klein, die Schuhe zu gross.“ (ebd.) Zuletzt kommt eine „Kravatte“ ins Spiel, die der Protagonist trägt, von der ihm aber sein „Kamera[d]“ abrät, weil sie viel „zu schön“ für ihn ist und sie jeder Gendarm sofort als „gestohlen“ (ebd.) erkennen würde. Der Protagonist war schon „[z]weimal“ (ebd.) im Gefängnis und möchte keinesfalls wieder eingesperrt werden. Wieder kann man den Protagonisten und seinen Kameraden, einen „alte[n], erfahrene[n] Landstreicher“, „auf der Landstrasse“ (vgl. E1, TS7, E13–E16, TS10, TS12/Bl. 17 und E21) beobachten. Schließlich übernachten die beiden bei einem „Bauern“, müssten ihm dafür aber am nächsten Tag „beim Heu“ (vgl. E17, TS12/Bl. 17 und E21 ) helfen, was sie aber nicht machen, sondern sie schleichen sich „in der Frühe“ (Bl. 2) einfach davon. Zuletzt reflektiert der Protagonist in der ersten Person Plural über das Arbeiten (vgl. E14, TS12/Bl. 17 und E22) und rechtfertigt seine Arbeitsverweigerung so: „Ja, wenn man gleich eine Arbeit bekäm, mir der man viel Geld verdienen könnt, dann natürlich schon! Aber das Geld reicht höchstens für ein Essen. Und das können wir uns auch erbetteln. Oder stehlen.“ (Bl. 2) Zuletzt reflektiert der Ich-Erzähler noch über das Thema „Geld“ und

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nimmt damit unmittelbar auf den Titel der Fassung Bezug. Wie in TS12 bekräftigt er, dass er „noch nie Geld gehabt“ habe und dass auch seine Eltern „immer von heut auf morgen“ (ebd.) gelebt hätten. Hier finden sich zum Teil wörtliche Übernahmen aus TS12/Bl. 16. Den Schluss bildet indes ein neuer thematischer Aspekt. Der Ich-Erzähler behauptet, ein „Findelkind“ (ebd.) zu sein. Eine „alte Bäuerin“ habe ihn gefunden, „in einem Korb mit einem Zettel, dass die Mutter eine arme Frau“ sei. Ob damit ein Widerspruch zum Vorhergehenden gegeben ist, lässt sich aufgrund des Abbruchs der Ausarbeitung nicht entscheiden. Es handelt sich bei der Idee jedenfalls um die klassische Findlingsgeschichte, von der Horváth jedoch in der Folge nicht mehr Gebrauch machen wird. Stattdessen nennt er in anderen Entwürfen und Textstufen von VA1 und VA2 sowie im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit seinen Protagonisten ein „Kriegskind“ (vgl. TS7/Bl. 2, VA2/E1, TS2, TS3/Bl. 4, TS5/Bl. 1, E5 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16), für dessen geistige und berufliche Entwicklung die Auseinandersetzung mit dem leiblichen Vater und seinem „ideale[n]“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11) Stellvertreter in Form des Hauptmanns eine ganz zentrale Rolle spielt. H14 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Doppelbogen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E23 = Strukturplan in 6 Kapiteln mit Werktitel „Die stille Revolution“ (oben) E24 = Strukturplan in 1 Kapitel mit Werktitel „Die stille Revolution“ (mittig) TS14 = fragm. Fassung des I. Kapitels (unten; Korrekturschicht)

Die folgenden Entwürfe und Textstufen markieren den Übergang vom Werkprojekt Die stille Revolution zum Werkprojekt Krieg ohne Kriegserklärung. In ihnen nimmt Horváth eine thematische Neuorientierung vor, die bereits deutlich in Richtung von VA2 geht, die man mit dem Stichwort „Irrenhaus“-Handlung bezeichnen könnte. Dennoch stehen die folgenden Entwürfe und Textstufen noch unter dem Titel Die stille Revolution und wurden deshalb und aufgrund inhaltlicher Kontinuitäten VA1 zugeordnet. In E25 fällt erstmals der Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ als Kapiteltitel. Den entscheidenden Bruch zwischen den beiden Werkprojekten markiert jedoch das Blatt BS 26 a [2], Bl. 9 (VA2/E4), auf dem der Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ erstmals als Werktitel erscheint. In E23 skizziert Horváth einen Strukturplan in sechs Kapiteln. Mit dem ersten Kapiteltitel „Der Landstreicher“ nimmt er eine soziologische Kategorisierung seiner Hauptfigur vor, wie er sie bereits in vorhergehenden Entwürfen und Textstufen vollzogen hatte (vgl. E3, E5, E17, TS12/Bl. 17, E21 und TS13/Bl. 1). Der zweite Kapiteltitel „Die Ehe“ lässt aber vermuten, dass der Landstreicher hier, anders als in den frühen Entwürfen und Textstufen, verheiratet ist bzw. eben in diesem Kapitel eine Ehe eingeht. Der dritte Kapiteltitel „Die Brücke“ verweist ebenfalls auf frühere Entwürfe (vgl. E3 und E14–E16), in denen es, ähnlich wie in der Posse Hin und her (vgl. WA 6), um eine „Ausweisung“ (E14–E16) gehen sollte. Kapitel vier trägt den neuen Titel „Der Irrsinnigenwärter“ (vgl. E25 und VA2/TS7) mit dem Zusatz „Der Manische“ und deutet an, dass hier von Horváth ein neuer Themenkomplex entworfen wird. Der Irrsinnigenwärter bzw. ein „Irrenarzt“ findet sich auch in den folgenden Entwürfen E24, E25, bzw. in TS15 sowie in VA2/TS7. Kapitel fünf trägt den Titel „Der Soldat“ und weist damit schon auf den Roman Ein Kind unserer Zeit voraus (vgl. auch E2, E5, E20, VA2/E3, E5–E7 und E9). Kapitel sechs ist mit „Die stille Revolution“ betitelt und schließt damit

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Vorarbeit 1

an die Entwürfe E13–E16 an, wo dieser Titel ebenfalls den Abschluss der jeweiligen Strukturpläne bildete. In E24 notiert Horváth zunächst den Werktitel „Sieg nach Punkten“, streicht diesen aber wieder und setzt darunter „Die stille Revolution“. Hier notiert er weiters eine Ich-Erzähler-Figur, die er, am unteren Rand des Entwurfs als „Irrenarzt“ bzw. „Ingenieur“ bezeichnet (vgl. TS15). Darüber hinaus vermerkt der Autor hier einen Strukturplan in einem Kapitel mit dem Titel „Die Ehe“, zu dem er jedoch noch „Die vielen Organisation“ und „Die Scheidung“ festhält. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um weitere Kapitel handelt und nicht etwa um alternative Kapiteltitel. TS14 stellt eine fragmentarische Fassung des ersten Kapitels dar, das hier römisch beziffert wird. Die Fassung enthält einen Ich-Erzähler, der, wie dies in E24 vorgesehen war, „Irrenarzt“ ist. Die Fassung liefert den Romanbeginn. Der Arzt berichtet darin über die Geschehnisse des Tages. Als er seinen Dienst antrat, meldete ihm eine Schwester, dass in der Nacht ein Patient eingeliefert wurde. Es handelt sich um: „Heinrich Meier, Droguist, 53 Jahre alt, Säuferwahn. Tobsuchtsanfälle.“ Außerdem wird von ihm vermerkt, dass er eine „Spritze“ erhielt und dann geschlafen habe. Horváth nimmt die Idee einer Irrenarzt-Figur in der folgenden Textstufe TS15 wieder auf und baut sie weiter aus. H15 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 8, 9 2 Blatt unliniertes Papier (298 × 210 mm), gefaltet, Doppelbogen, schwarzblaue Tinte TS15 = fragm. Fassung des I. und II. Kapitels mit Werktitel „Die stille Revolution“ (Korrekturschicht)

In TS15 arbeitet Horváth neuerlich das erste Kapitel seines Werkprojekts Die stille Revolution aus, allerdings bleibt die Fassung fragmentarisch. Zum zweiten Kapitel notiert der Autor nur eine kurze inhaltliche Zusammenfassung. Demnach soll im zweiten Kapitel, das den Titel „Im Irrenhaus“ (vgl. E23, E24 und TS14) trägt, ein „Politiker“ und „Wirtschaftsführer“ als „irrsinnig“ eingeliefert werden (vgl. VA2/TS7). Eine weitere Notiz besagt, dass ein „nicht irrsinnige[r] Politiker“ „eingesperrt wird, damit ihn keiner findet“ (Bl. 8). Kapitel eins führt den Ich-Erzähler ein, den Horváth zunächst als „Ingenieur“ bezeichnet, was er dann aber nachträglich zu „Arzt“ bzw. „Irrenarzt“ korrigiert (ebd.; vgl. E24). Es ist Morgen (vgl. TS14) und der Arzt hat „dienstfrei“ (Bl. 8), weshalb er ausschlafen kann. Er liegt noch im Bett und hört Briefe in den Postkasten fallen. Er ist verheiratet und seine Frau steht immer früher auf als er. Die beiden können sich „kein Mädchen leisten“ (ebd.). Der Ich-Erzähler reflektiert in der Folge über das Dienstboten-Halten und kommt zu dem Schluss, dass sich keiner mehr Dienstboten leisten können sollte, denn „das ist das letzte Überbleibsel der Sklaverei“ (ebd.). Da die Korrekturen Horváths nur den Anfangsteil der Fassung betreffen, findet sich im weiteren Verlauf derselben noch der „Ingenieur“ als Beruf des Ich-Erzählers. Er arbeite an einer „Erfindung zur Vereinfachung des Haushalts! Eine Putzmaschine, und dergl.“ (ebd.). Die Frau mache in der Früh den „Café“ und bringe ihm die Post, aber er „helfe ihr abends beim Abwaschen“ (ebd.). An diesem Tag erhält der Ich-Erzähler „drei Briefe“ (Bl. 9), einen vom „Luftschutzamt“, einen von der „Wirtshilfe“ (gemeint ist wohl: Wirtschaftshilfe) und einen dritten vom „Verband der Steuerzahler“ (ebd.). Da der erste von den „Gefahren des Luftkrieges“ (ebd.) berichtet, beschließt der Ich-Erzähler, sich eine „Gasmaske“ (ebd.) zu kaufen. Dann denkt er aber, dass der Staat gefälligst die „Gasmasken“ „liefern“ solle, wenn er schon „wert darauf leg[e], dass der einzelne Volksgenosse am Leben bleib[e]“ (ebd.). „Zwei

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Chronologisches Verzeichnis

Tage später“ kommt eine Frau vom „Luftschutzbund“ und sammelt für die „Masken“, aber der Ich-Erzähler gibt nichts. Weitere zwei Tage später taucht ein „Kriminalbeamter“ auf. An dieser Stelle bricht die Fassung ab. H16 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 10 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 210 mm), gefaltet, Doppelbogen, schwarzblaue Tinte E25 = gestrichener Strukturplan in 5 Kapiteln mit Werktitel „Die stille Revolution. Roman“ (oben) E26 = Notizen (unten)

In E25 skizziert Horváth einen Strukturplan in fünf Kapiteln mit der Kapitelfolge: „Krieg ohne Kriegserklärung“, „Der Landstreicher, der nicht arbeiten will“, „Der Droguist“, „Der Irrsinnigenwärter“ und „Das Ende der Kunst“. Damit nennt er erstmals den Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“, der in der Folge zum Werktitel seines Werkprojekts wird (vgl. VA2/E4 und E5). Auch der Titel des letzten Kapitels „Das Ende der Kunst“ markiert in der Folge den Titel eines Werkprojekts (vgl. VA2/E4 und TS4; vgl. auch VA1/E11). Der „Landstreicher“ von Kapitel zwei geht auf frühere Entwürfe und Textstufen zurück (vgl. E3, E5, E17, TS12/Bl. 17, E21, TS13/Bl. 1 und E23). Der „Droguist“ des Kapitels drei findet sich bereits in TS14, der „Irrsinnigenwärter“ von Kapitel vier in E23. Horváth streicht den Strukturplan E25 nachträglich. In E26 vermerkt er ein paar Notizen zum ersten Kapitel, das hier aber den Titel „Der Irrsinnigenwärter“ tragen soll. Er spricht darin von einem „Manischen“ (vgl. E23 und VA2/TS7), „der eine grosse Position erringt“. Dieser soll gefangen genommen, dann aber „aus politischen Gründen“ wieder freigelassen werden. Zuletzt notiert Horváth eine „Rede des echten Führers, der ausgelacht wird, weil man ihn für den Irrsinnigen hält“. Horváth arbeitet also in den beiden auf Bl. 10 befindlichen Entwürfen das Konzept ‚Irrsinn‘ weiter aus, das er erstmals in E23 genannt hat, das aber – mit Ausnahme der Textstufe VA2/TS7 – in der Folge keine Rolle mehr in dem Werkprojekt spielen wird.

Vorarbeit 2: Krieg ohne Kriegserklärung Das genetische Konvolut der Vorarbeit 2 Krieg ohne Kriegserklärung umfasst wenige handschriftlich verfasste und einige maschinenschriftliche Blätter. Diese stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Entwürfen, die Horváth unter dem Titel Die stille Revolution kurze Zeit früher wahrscheinlich im Juli oder August 1937 angefertigt hat. Der Titel von VA1 findet sich dementsprechend auf zwei Blättern des Konvoluts von VA2 (vgl. E4 und TS7). Das Blatt BS 26 a [2], Bl. 9 (VA2/E4 und E5) markiert am deutlichsten den Bruch zwischen den beiden Werkprojekten, da auf ihm der Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ erstmals als Werktitel aufscheint (vgl. VA1/E25, wo er nur als Kapiteltitel angeführt wird). Trotz inhaltlicher Kontinuitäten und nicht zuletzt aufgrund der Titeldifferenz schien es geboten, die beiden Werkprojekte Die stille Revolution und Krieg ohne Kriegserklärung als getrennte Vorarbeiten voneinander abzugrenzen, auch wenn sie auf vielfältige Weise miteinander verflochten sind.

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Vorarbeit 2

H1 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Doppelbogen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E1 = Strukturplan in 8 Kapiteln mit Notizen und einer Replik

Das vorliegende Blatt ist Teil eines Konvoluts von Entwurfsblättern, die sich durch eine charakteristische Überlänge von 343 mm und durch das Wasserzeichen „Drei Sterne“ auszeichnen (vgl. VA1/H6–H14). Diese Blätter finden sich auf die Mappen BS 16 b [1] und [2] sowie BS 26 a [1]–a [4] verteilt, in denen Entwürfe und Textstufen zu den Werkprojekten Die stille Revolution, Krieg ohne Kriegserklärung, Das Ende der Kunst und Ein Soldat seiner Zeit versammelt sind. Von einem unmittelbaren genetischen Zusammenhang dieser Blätter ist unbedingt auszugehen. D.h. dass diese vier Werkprojekte in großer zeitlicher Nähe zueinander entstanden sind, wobei auf die Blätter zum Werkprojekt Krieg ohne Kriegserklärung wohl die Monate September/ Oktober 1937 entfallen (vgl. den Kommentar zu K1/E4). Das vorliegende Blatt trägt keinen Werktitel, insofern ist nicht ganz klar, zu welchem der vier Werkprojekte es zu zählen ist. Die in den einzelnen Kapiteln genannten Motive machen jedoch eine relativ frühe Reihung wahrscheinlich. In E1 skizziert Horváth einen Strukturplan in acht Kapiteln mit den Kapiteltiteln: „Kriegskind“, „Es ist kalt“, „Der Ball“, „Die roten Schuhe“, „In der Kirche“, „Er lernt lesen und schreiben“, „Die Mädchen“ und „Er verlässt das Waisenhaus und tritt in das Leben hinaus, wo er aber bald noch viel verwaister sein wird“. Im Vergleich zu den Strukturplänen von VA1 handelt es sich dabei fast durchgängig um neue Kapitel. Das „Kriegskind“ findet sich bereits in VA1/TS7/Bl. 2, wird sonst jedoch in VA1 nicht erwähnt. Allerdings kommt dem Begriff und dem Konzept im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit eine ganz zentrale Bedeutung zu (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16). Nicht zuletzt scheint der Begriff des Kriegskindes schließlich ausschlaggebend für den definitiven Titel des Romans, der zunächst noch den „Soldaten“ in den Vordergrund stellt, dann aber das (Kriegs-)„Kind“ in den Fokus rückt (vgl. zur Titelfindung das Vorwort dieses Bandes, S. 2–5). Der zweite Kapiteltitel „Es ist kalt“ schlägt, wie bereits in VA1/TS11 angedeutet, das Kälte- und Schnee-Motiv an, das den Roman Ein Kind unserer Zeit (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 37, 41, 60, 66, 82, 90, 101, 131, 134, 142, 155, 160, 168, 184, 194 und 200) ganz wesentlich prägen wird, vor allem durch den Satz: „‚Es wird kalt‘, das ist [bzw. bleibt] meine [bzw. Deine] erste Erinnerung“ (ebd., S. 41, 60 und 200; vgl. auch TS5 in dieser Vorarbeit); eine ähnliche Motivik grundiert atmosphärisch auch das zwischen 1934 und 1936 entstandene Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg, vor allem dessen dritten Akt (vgl. WA 9 und den Kommentar zu VA1/TS11). Das dritte Kapitel von E1 trägt den Titel „Der Ball“ und stellt eine Neuerung dar, genauso wie das vierte Kapitel mit dem Titel „Die roten Schuhe“. Was damit gemeint ist, lässt sich aus TS5 schließen. Es geht wie in VA1 um Klassengegensätze, die sich in Gegenständen manifestieren; einmal ist es ein „bunter Ball“ gegenüber einem „grauen“, ein anderes Mal sind es „rote Schuhe“ gegenüber „grauen“ (vgl. TS5/Bl. 3f.). Die Kapitelnummern von Kapitel fünf und sechs hat Horváth nachträglich korrigiert. So soll das fünfte Kapitel „In der Kirche“ lauten, auch dies ist eine Neuerung, das sechste: „Er lernt lesen und schreiben“. Dazu notiert Horváth: „Er lernt einen Beruf“. Eine weitere Notiz, die mit einem Pfeil mit diesem sechsten Kapitel verbunden ist, trägt den Titel: „Das Vaterland im Waisenhaus“ (vgl. E2). Der Protagonist soll hier im Waisenhaus „Unterricht über das Vaterland“ bekommen (vgl.

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TS5/Bl. 2–4). Zum siebten Kapitel „Die Mädchen“ notiert Horváth: „Er überrascht den Mann und die Kohlenhändlerin“, zunächst hatte es statt der „Kohlenhändlerin“ noch geheißen „das Mädchen“, und „Tu nicht weh –“. Im achten Kapitel soll der Protagonist schließlich das Waisenhaus verlassen und ins Leben hinaus treten, „wo er aber bald noch viel verwaister wird“. Mit dem Strukturplan E1 entwirft Horváth im Vergleich zu VA1 einige neue Kapitel, hält aber an der verwahrlosten, ärmlichen Hauptfigur vor allem der späten Entwürfe und Textstufen von VA1 fest, die im vorliegenden Entwurf E1 sogar im Waisenhaus landen soll (vgl. das Findelkind in VA1/TS13/Bl. 2, VA2/TS2/Bl. 3). H2 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 11 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), dünn, schwarzblaue Tinte, Paginierung 3 E2 = Figurenliste mit Notizen

Auf dem vorliegenden Blatt ist handschriftlich die Pagina 3 eingetragen, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass H2 eine andere Handschrift fortsetzt (vgl. H6, wo eine Paginaefolge 1, 2 gegeben wäre). Allerdings weist H2 eine sehr spezifische Papierqualität und -größe auf, die sich im Konvolut zu Ein Kind unserer Zeit nur in Vorarbeit 1 (H1–H4) und bei VA2/H3 findet, die deshalb nach H2 gereiht wurde, sowie bei zwei Textträgern von K1 (H4 und H9). VA2/H3/BS 26 a [2], Bl. 12 weist überdies eine Pagina 5 auf, die zwar E2 nicht unmittelbar, aber doch indirekt fortzusetzen scheint. In E2 erstellt Horváth eine ausführliche Figurenliste zu seinem Werkprojekt. Er führt darin folgende Figuren an: den Pfarrer im Waisenhaus, die Kindergärtnerin im Waisenhaus, den Ober Fritz, die Wirtin, den Richter, den Landstreicher, die Verbrecher, den Gendarmen, die Stammtischgäste, den Minister, den Fürsorgerat, die Bettler, die Eingesperrten im Gefängnis, die Autofahrer (die Panne; vgl. VA1/E21), die geile Alte, der Revolutionär, die entfernten Verwandten, das Kriegsopfer, das Mädchen, das den Soldaten liebt, (vgl. VA1/E6 und TS6/Bl. 3–6) und den Oberstabsarzt. Die letzten vier Figuren notiert Horváth am rechten unteren Rand des Blattes und trennt sie durch eine Linie vom Rest des Entwurfs ab. Dennoch kann man davon ausgehen, dass dieser Eintrag zu E2 gehört, setzt er doch mit der Figurenaufzählung fort. Die Notizen, mit denen Horváth einen Teil der Figuren versieht, weisen folgenden Inhalt auf. Zur Kindergärtnerin notiert er: „sie lügt über die vaterländische Geschichte. Der Bub weint. Sie erinnert sich noch genau“ (vgl. E1). Damit thematisiert Horváth neuerlich die Frage der Erinnerungsfähigkeit, die bereits in VA1/TS12/Bl. 16 eine Rolle spielte und im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit an prominenter Stelle erwähnt wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16f.). Zum „Ober Fritz“ notiert Horváth: „Er ist in der Lehre“, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Hauptfigur bei ihm in der Lehre ist und also Kellner wird (vgl. TS1, E3, TS4, E5 und E6). Die „Stammtischgäste“ weisen voraus auf TS4, wo ein „Stammtisch“ erwähnt wird (vgl. auch VA1/TS3 und E16). H3 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 12 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), dünn, schwarzblaue Tinte, Paginierung 5 E3 = Notizen und Repliken

H3 führt wie das vorhergehende Bl. 11 eine Pagina, nämlich die Pagina 5, die H2 fortsetzt, allerdings fehlt hier offensichtlich ein Blatt, das die Pagina 4 getragen hat. Dieses Blatt muss als verloren erachtet werden. Vermutlich befand sich darauf der

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Vorarbeit 2

Beginn der in E3 ausgearbeiteten Notizen, die eine Handlungsfolge andeuten. Man könnte die Notizenfolge deshalb auch als fragmentarischen Strukturplan in sechs Kapiteln lesen. Zunächst sollte in dem geplanten Werkprojekt ein Kellner (vgl. E2, TS1, TS4 und TS5/Bl. 4, Grundschicht) auftauchen, „der Karten spielt“. Dazu ist weiters notiert: „Er holt ihn mit der Mutter ab“, wobei nicht ganz klar ist, wer mit dem Subjekt gemeint ist, vermutlich jedoch das Erzähler-Ich (vgl. TS5/Bl. 4, Grundschicht). Die Figur eines Kellners, der Karten spielt, setzt E2 fort, wo ein Ober Fritz vorkommt, bei dem die Hauptfigur „in die Lehre“ geht (vgl. auch E6, wo der Vater des Ich-Erzählers ein „Oberkellner“ ist). Ein Kellner spielt auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine ganz wesentliche Rolle, ist doch der Vater des Ich-Erzählers „Kellner“ und wird vom Sohn als „Trinkgeldkuli“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 17) verhöhnt. Die zweite Notiz lautet: „Der Tod der Mutter“ und weist ebenfalls auf den Roman voraus, weil auch dort die Mutter des Ich-Erzählers schon früh stirbt (vgl. TS2, TS3/Bl. 3, TS5/Bl. 1 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 41). Die dritte Notiz lautet: „Er wird Kellnerlehrling, findet aber nirgends eine Stelle“ (vgl. TS4), wodurch sich neuerlich eine Parallele zum späteren Roman herstellen lässt, wo der Ich-Erzähler lange Zeit keine Stelle findet und deshalb umso glücklicher ist, als er im Heer endlich eine Aufgabe bekommt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11). Allerdings wird im Roman nie erwähnt, dass er Kellner hätte werden wollen, vielmehr wollte er dort eine Lehre als „Buchdrucker“ anfangen: „Aber es war nichts zu machen. / Alles umsonst! / Nicht einmal zum Lehrling konnte ichs bringen in irgendeiner Vorstadtdruckerei. Von der inneren Stadt ganz zu schweigen!“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6f.; vgl. auch VA1/TS12/Bl. 17, VA2/TS3/Bl. 4 und TS4, Grundschicht) Zum Kellner notiert Horváth in E3 weiters: „Der Kellner ist Liberalist.“ Und in der folgenden Notiz heißt es: „Aus Opposition wird er gegen den Staat eingestellt“, was vermutlich bedeuten soll, dass der Ich-Erzähler gegen den Kellner opponiert und deshalb „gegen den Staat eingestellt“ ist. Die fünfte Notiz spricht von einer „Tanzunterhaltung mit 16 Jahren“. Dort soll ein „revolutionäre[r] Dichter“ „eleganten Frauen“ gegenüberstehen (vgl. VA1/TS6/Bl. 2f.). In der letzten Notiz schließlich kommt ein Mann zum Ich-Erzähler und sagt zu ihm: „Du bist arbeitslos. Ich geb Dir einen Taler und eine braune Uniform. Und Stiefel. Komm zu uns!“ Auf seine Frage, wer sie seien, antwortet er: „Wir sind Leute, die haben sich zusammengestellt, um das Vaterland zu retten.“ Die Szene erinnert in vielem an den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit. Außerdem führt Horváth damit den Diskurs über das Vaterland fort (vgl. E1 und E2), der im Roman eine so zentrale Rolle spielen wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 13, 15, 16, 24, 27, 34 etc.). Eine weitere, wohl nachträglich hinzugefügte Notiz lautet: „Er hatte eine vage Vorstellung von der Schönheit des Vaterlandes.“ Zuletzt notiert Horváth noch: „Die Frage: Was willst Du werden? / Und der Soldat dachte: / Kellner? Andere bedienen? / Arbeiter? Etwas bauen, in dem man nie wohnt.“ Damit nimmt der Autor die Problematik der Entfremdung von der eigenen Arbeit wieder auf, die sich bereits in VA1 findet (vgl. VA1/E14 und TS12/Bl. 17), und hegt wieder Zweifel daran, ob seine Hauptfigur wirklich Kellner werden soll (vgl. TS4 und die Ablösung des „Kellners“ durch eine „Kellnerin“ in E5 und E6; vgl. auch VA1/E6).

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Chronologisches Verzeichnis

T1 = ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 1 TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 578.

Die Blätter der Mappe BS 26 d [1] enthalten eine Reihe von maschinenschriftlich verfertigten Textstufen, die wahrscheinlich zu VA2 zu rechnen sind. Sie nehmen teils Motive aus VA1 wieder auf, stellen aber konsequent die Soldatenfigur in den Mittelpunkt (vgl. VA1/E2, E5, E20 und E23). Möglicherweise gingen diesen maschinenschriftlichen Ausarbeitungen noch handschriftliche Entwürfe oder Textstufen voraus, die dann aber als verloren erachtet werden müssten. Auf dem vorliegenden Blatt erstellt Horváth eine Art steckbriefartige Biografie seiner Hauptfigur, des Soldaten, wie er dies bereits in VA1/TS9 in ähnlicher Form – dort allerdings als polizeiliches Verhör – ausgeführt hatte. Dort hatte er auch vermerkt: „Die Personalien“ bzw. „Der Name des Menschen“, was eine ähnliche formale Idee andeutete, wie sie in der vorliegenden Textstufe realisiert wird. Erstmals fällt in TS1 der spätere Titel des Werkprojekts „[E]in Kind seiner Zeit“, allerdings noch nicht mit dem Possessivpronomen „unserer“ (vgl. K1/E1, E3, TS1 und TS2/Bl. 2). Die Textstufe wird mit den beiden Sätzen: „Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit“ eingeleitet. Dann folgt die steckbriefartige Biografie. Der Name lässt bereits aufhorchen: Er lautet „Peter XY“, womit Horváth an den „Peter Zapfel“ von VA1 anschließt (vgl. VA1/E2 und TS9). Sein Geburtsdatum datiert er aber nach hinten: Statt dem „10. Oktober 1911“ (VA1/TS9) soll es der „7. XI. 1915“ sein (vgl. TS2 und K1/TS2/Bl. 2). Als „Geburtsort“ wird die „Haupt- und Residenzstadt“ vermerkt, als Beruf „Kellner“ (vgl. E2, E3 und TS4). Sein Vater soll „in Galizien“ „gefallen“, seine Mutter nach dem Krieg an der „Grippe“ gestorben sein (vgl. E3). So gilt er als „Kriegerwaise“ (vgl. das „Kriegskind“ in VA1/TS7/Bl. 2, VA2/E1 und VA2/TS3/Bl. 4 sowie das „Findelkind“ in VA1/TS13/Bl. 2, VA2/TS2 und TS3/Bl. 3) und ist „[v]orbestraft wegen Bettelns“ (vgl. VA1/E17, TS11, E21 und TS13/Bl. 1).

T2 = ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, hs. Paginierung 1 TS2 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Die Textstufen TS1–TS3 und TS5 sind auf demselben Papier verfasst. Das unterstreicht ihre genetische Zusammengehörigkeit, die auch auf textlicher Ebene deutlich wird. Schon der Eröffnungssatz von TS2 schließt unmittelbar an TS1 an. Horváth notiert in TS2 allerdings zunächst eine Variante: „Es lebte einst ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit“, ersetzt sie aber maschinenschriftlich durch die Variante, die sich auch in TS1 findet: „Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.“ Mit schwarzblauer Tinte streicht er schließlich die erste Variante. Ebenfalls handschriftlich vermerkt er einen Satz, der in den folgenden Textstufen in ähnlicher Form wiederkehrt: „Es gibt gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre.“ (vgl. TS3/Bl. 3 und TS5/Bl. 1) Das Geburtsdatum seines Helden verändert Horváth gegenüber TS1, wo es der 7. November 1915 war (vgl. K1/TS2/Bl. 2), während er in TS2 in der Grundschicht den „fünften November 1916“ festhält. In der Korrekturschicht weiß der Protagonist

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Vorarbeit 2

nicht, „wann er geboren worden war“. Im Gegensatz zu TS1 sind die Eltern des Soldaten in TS2 unbekannt, denn: „Er war ein Findelkind. In einem warmen Decken lag er eines Tages in einer Türe. Es war kein Zettel dabei, nichts.“ (vgl. VA1/TS13/Bl. 2) Diese Passage der Grundschicht erweitert Horváth in der Korrekturschicht handschriftlich durch die atmosphärische Grundierung: „lautlos fiel der Schnee. In grossen Flocken“, die in TS3/Bl. 3 in der maschinenschriftlichen Grundschicht wiederaufgenommen wird, was ein deutliches Indiz für die Reihung dieser Typoskripte darstellt. Auch die handschriftlich hinzugefügten Bemerkungen, dass es eine Zeit war, in der sich die „Landkarten“ „änderten“, finden sich in TS3 bereits in der maschinenschriftlichen Grundschicht. Die Textstufe endet mit den Sätzen: „Ja, er war ein sogenanntes Kriegskind. / Aber er konnt sich an den Krieg nichtmehr erinnern.“ (vgl. VA1/TS7/Bl. 2, VA2/TS3/Bl. 4, TS5/Bl. 1 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16) T3 = ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 3, 4 2 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 1, 2 TS3 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck in: Horváth 1975, S. 44f.

In TS3 arbeitet Horváth neuerlich eine Fassung des ersten Kapitels aus. Wieder finden sich die Eröffnungssätze: „Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.“ (Bl. 3) Wie in TS2 sind auch in TS3 die Eltern des Soldaten unbekannt und er ein „Findelkind“ (ebd.). Diesmal aber wurde er vor eine Tür gestellt mit einem Zettel, auf dem stand: „Der liebe Gott beschütze Dich!“ (vgl. VA2/TS5/Bl. 1) Eine „Bäuerin“ fand ihn (vgl. VA1/TS13/Bl. 2). Die Passage vom „Schnee“, der „lautlos in grossen Flocken“ „fiel“, die in TS2 in der Korrekturschicht hinzugefügt wurde, ist hier schon in der maschinenschriftlichen Grundschicht vorhanden. Dasselbe gilt für die Passage über die „guten Zeiten“, die aber gegenüber TS2 variiert wird. Hatte es dort noch geheißen: „Es gibt gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre“, so lautet die Passage in TS3: „Es gibt gute Zeiten und fette Jahre, aber als unser Soldat geboren wurde, waren die Jahre mager und die Zeiten bös.“ (Bl. 3; vgl. TS5/Bl. 1) Den Abschluss von Bl. 3 bildet dann wieder die Passage, die ebenfalls schon in TS2 vorkommt, allerdings demgegenüber ins Präsens gesetzt: „Jaja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind. / Aber er kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern.“ Auf Bl. 4 notiert Horváth diese Passage in ähnlicher Form neuerlich – diese Variante wurde in der Transkription realisiert –, d.h. er trägt sie handschriftlich über einer bereits maschinenschriftlich ausgearbeiteten Passage ein, die lautet: „Der Onkel, bei dem er aufwuchs, war ein eingefleischter Junggeselle. Er liebte die kleinen Kinder und konnte die Weiber nicht ausstehen.“ Diese Passage bildet einen gewissen Widerspruch zur zuvor notierten Findlings-Geschichte und zur Unbekanntheit der Eltern, da ohne deren Bekanntheit ja auch der „Onkel“ (vgl. E5) schwer ausfindig zu machen wäre. Dennoch scheint mit Bl. 4 eine Fortsetzung zu Bl. 3 gegeben. Der Onkel wurde im Krieg „verschüttet, zweimal verwundet, aber man merkts ihm kaum an. Nur manchmal zuckt er ein bisschen.“ (Bl. 4) In der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit wird der Vater eine Kriegsverletzung davontragen, nämlich ein hinkendes Bein (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 17; vgl. auch K2/E1). Da der Junge über das Zucken des Onkels immer lacht, bekommt er jedes Mal eine „Ohrfeige“, durch sein Weinen beruhigt sich das Zucken des

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Onkels wieder. Einmal weint er daraufhin nicht, was den Onkel so aufregt, dass der Arzt gerufen werden muss: „Von dieser Zeit ab wollte der Onkel nichtsmehr von ihm wissen. / Er kam in die Lehre. Zu einem braven Buchdrucker. / Ob der Onkel ein Sonderling war? Wer weiss!“ Mit diesen Worten endet die Textstufe. Horváth nimmt also wieder den „Buchdrucker“ als Beruf für seinen Soldaten auf (vgl. VA1/TS12/Bl. 17, VA2/TS4, Grundschicht, K1/TS2/Bl. 3, Grundschicht, TS3/Bl. 1, TS9/Bl. 1, TS12/Bl. 3, Grundschicht, K2/TS4 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6f.). H4 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 3 TS4 = fragm. Fassung mit Werktitel „Das Ende der Kunst“ (Korrekturschicht)

Das vorliegende Blatt ist Teil der Mappe BS 26 a [4] und weist das charakteristische Wasserzeichen „Drei Sterne“ auf. Allerdings ist anzunehmen, dass dieses Blatt doch schon zu VA2 zu rechnen ist und nicht zu K1 wie das Gros der anderen Blätter dieser Mappe (vgl. auch TS6). In TS4 findet sich der Werktitel „Das Ende der Kunst“, den Horváth bereits in VA1/E11 als Titel eines eigenen Werkprojekts notiert hatte, der aber nur noch einmal in der Folge erwähnt wird (vgl. E4; vgl. auch den Kommentar zu VA1/E11). Die Erwähnung dieses Werktitels an dieser Stelle zeigt, dass der Titel des Werkprojekts zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand bzw. dass Horváth gleichzeitig mehrere Titel erwog oder aber an mehreren parallelen Werkprojekten arbeitete (vgl. VA1/E17–E20 und VA2/E4, wo dies besonders deutlich wird). Die Paginierung 3 deutet darauf hin, dass das Blatt eine Fortsetzung zu zwei anderen Blättern bildete. Möglicherweise stellt das Blatt eine Fortsetzung zu TS3 dar, die die Paginae 1 und 2 umfasst. Schreibmaterial und Schriftduktus sind ähnlich. Auch inhaltlich ließe sich das durchaus argumentieren. In der vorliegenden Textstufe reflektiert der Erzähler nämlich neuerlich über den Beruf seiner Hauptfigur, der am Ende von TS3 erwähnt wurde. Horváth notiert dabei zunächst in der Grundschicht: „Unser Soldat war ein gelernter Buchdrucker“, wie in TS3, korrigiert dann aber offensichtlich sofort zu „Kellner“ und versieht diese Korrektur mit dem Zusatz: „weil sein Onkel auch Kellner war. Auch sein Vater war Kellner gewesen. Es war eine Kellnerfamilie“, was eher als Fortsetzung von TS1 gelesen werden kann. Auch die Appellation „[u]nser Soldat“ erinnert deutlich an die vorhergehenden Textstufen (TS2 und TS3/Bl. 3), durch die Er-Form, aber auch durch den erzählerischen Tonfall: „Jaja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind“, hatte es in TS3/Bl. 4 geheißen. In der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit wird Horváth als Beruf seiner Hauptfigur wieder den „Buchdrucker“ verwenden (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6f.; vgl. auch den Kommentar zu VA2/TS3). Hier streicht er ihn aber noch und entscheidet sich doch für den „Kellner“, der in VA2 zusammen mit der „Kellnerin“ eine wichtige Rolle spielt (vgl. den Beruf des Adoptivvaters in TS5/Bl. 4 sowie E2, E3, E5 und E6) und letztlich bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt, wo der Vater des Ich-Erzählers als Kellner arbeitet (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 17).

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T4 = ÖLA 3/W 155 – BS 26 d [2], Bl. 1–4 4 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift, Paginierung 1–4 TS5 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck von Bl. 1–3 in: GW IV, S. 578–580. Druck der Grundschicht von TS5 in: KW 14, S. 133–136.

Materiell entspricht der vorliegende Textträger den Typoskripten T1–T3 (TS1–TS3). Schreibmaterielle und inhaltliche Argumente sprechen jedoch dafür, die Handschrift H4 dazwischenzureihen, darunter v.a. die Tatsache, dass TS4 wohl eine Fortsetzung von TS3 darstellt. In TS5 arbeitet Horváth noch einmal maschinenschriftlich eine Fassung des ersten Kapitels aus und geht dabei neuerlich über den in TS3 erarbeiteten Stand hinaus. TS5 geht im Wesentlichen auf die beiden Strukturpläne E1 und E3 zurück, die hier erzählerisch ausgearbeitet werden. Die Eröffnungssätze bleiben gegenüber TS3 unverändert. Die Passage über die „guten Zeiten“ (Bl. 1) variiert Horváth zunächst, kehrt dann aber wieder zur Variante von TS3 zurück. Seine Mutter sang ihm das Wiegenlied: „Flieg Maikäfer, flieg, Vater ist im Krieg --“ (ebd.) Als der Vater im Krieg fällt, verfällt die Mutter zusehends. Sie geht schließlich „ins Wasser“ (vgl. Horváths „Komödie“ Eine Unbekannte aus der Seine in WA 6 und den „kleine[n] Totentanz“ Glaube Liebe Hoffnung) und kommt so noch am Ende ihres Lebens in die Zeitung unter der Rubrik: „Die Lebensmüden des Tages“ (Bl. 1). Sie wollte das Kind mitnehmen in den Tod, doch ein „Schutzengel“ hielt sie davon ab und versprach, es zu beschützen. In der Folge nimmt Horváth wieder die Passage über das „Kriegskind“ von TS3 auf, wie dort im Präsens: „Ja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind. / Aber er kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern.“ (ebd.) Auf Bl. 2 widmet sich Horváth der ersten Erinnerung des Soldaten. Er sieht sich auf einem Bretterboden sitzen und die „Striche“ mit den Fingern entlangfahren. Wie er so auf dem Boden sitzt, friert er: „Denn in dem Waisenhaus, wo er heranwuchs, wurde oft nicht geheizt.“ (vgl. E1, E2 und TS6) Den letzten Satz dieses Blattes: „Ja, die Kälte, das war seine erste Erinnerung“ überarbeitet Horváth zu: „Es ist kalt, das ist seine erste Erinnerung“ (vgl. E1), wie er in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit leitmotivisch und nur mit geringen Variationen mehrfach wiederholt wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 41, 60 und 200). Bl. 3 ist ganz der Schilderung der Lebensumstände im Waisenhaus gewidmet. Hier ist wieder von Erinnerungen die Rede. Zunächst an eine Frau, die dem Jungen sagte, was er tun darf und was nicht. Dann an einen „verschütteten Teller“ und an ein „Hündchen, das er am Schwanz reisst“, an einen „Arzt“, der kam, als er hustete, und dessen Hände „nach Seife“ „rochen“ (Bl. 3). Die wichtigste Passage scheint aber diejenige über den bunten Ball zu sein, der einmal über die Mauer geflogen kam, während die Heimkinder nur einen „grauen Ball“ zum Spielen hatten (ebd.; vgl. E1). Der Ball gehört einem kleinen Mädchen, das mit seinem „Fräulein“ vorbeikam. Das Mädchen ist „ganz in weiss gekleidet, in einen feinen Stoff mit einem roten Schaal und roten Schüchen“ (ebd.; vgl. E1). Nicht nur der Ball, auch die Kleidung des Mädchens ist bunt und verweist auf das „Geld“, das die Eltern des Mädchens haben, und das der Armut der Waisenkinder gegenübergestellt wird (vgl. den Titel „Ohne Geld“ von VA1/TS13). Bl. 4 zeigt in der Grundschicht, wie der Junge von einem „Kellner“ und seiner Frau abgeholt wird (Bl. 4; vgl. E3 und TS3/Bl. 4): „Er bekam viele Geschenke und Spielsachen. Aber er weinte nach seinen Kameraden. Er hatte Sehnsucht nach dem Waisenhaus.“ (Bl. 4) Damit entwickelt Horváth das Adoptionsmotiv von TS3 weiter. In diesem Fall ist es nicht mehr ein Verwandter (der On-

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kel), der ihn großzieht, sondern ein fremdes Elternpaar. Erstmals hat er ein eigenes Zimmer, aber Angst allein in der Nacht und klopft deshalb am Zimmer seiner Eltern an: „Er darf bei den Eltern schlafen, es ist schön.“ (ebd.) Dann lernt er „lesen und schreiben“ (ebd.; vgl. E1) und „den lieben Gott kennen“ (ebd.; vgl. E1). Darauf folgt neuerlich eine „schlechte Zeit“ (ebd.). Er belauscht die Eltern, die nebenan über ihn sprechen, und er erfährt, dass sie es bereuen, ihn zu sich genommen zu haben: „Und zum erstenmal trauerte er, wer will ihn denn? Wer sind seine Eltern?“ Die Szene mit dem Kinderfräulein und dem kleinen Mädchen wird in TS6 wiederaufgenommen. H5 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte TS6 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck in: KW 14, S. 132.

Die Blätter der Mappe BS 26 a [4] (mit Ausnahme von Bl. 22) weisen eine charakteristische Überlänge von 343 mm auf, außerdem tragen sie (wieder mit Ausnahme von Bl. 22) das Wasserzeichen „Drei Sterne“, das sie als zusammengehörig ausweist (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8). Nicht zuletzt sind sie in der Mitte längs geknickt, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie gemeinsam transportiert wurden. Es ist also davon auszugehen, dass diese Blätter auch in einem entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang zueinander stehen. In TS6 arbeitet der Autor eine Fassung eines Kapitels aus, das vom Waisenhaus handelt, das in dem Strukturplan E1, in der Figurenliste E2 und in der Fassung TS5/Bl. 2 und 3 erwähnt wird (vgl. auch K2/E11). In TS6 wird geschildert, wie eine Figur namens Frau von Skadletzky damals, als sie noch ein Kind war und Marianne von Klausewitz hieß, mit ihrem Kinderfräulein an dem Waisenhaus vorbeigekommen ist. Sie war sehr berührt von den Waisenkindern: „Und der sechste von hinten, das war der Peter XY“, heißt es hier (vgl. VA1/E2 und TS9 sowie VA2/TS1): „Er hat die Kleine vergessen, aber das Fräulein nie die Kinder. Sie [das Fräulein; in diesem Fall ist damit die kleine Marianne gemeint; Anm.] hat sehr reich geheiratet und wenn sie ihren Mann betrügt, denkt sie an die Waisenkinder. ‚Recht geschiehts ihm!‘ sagt sie.“ Eine weitere Verwendung der Figur der Frau von Skadletzky im Laufe des Werkprojekts ist nicht gegeben. Möglicherweise wird aus der Frau von Skadletzky jedoch die Witwe des Hauptmanns entwickelt, die ab K2 (vgl. K2/E15, E22 und E23) und bis zur Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit eine große Rolle spielt (vgl. die Kapitel „Im Hause des Gehenkten“, „Der Hund“ und „Der verlorene Sohn“ in K3/TS18/Horváth 1938b). H6 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 9, 10 2 Blatt unliniertes Papier (298 × 210 mm), gerissen, Halbbogen, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1, 2 E4 = Werktitel (Bl. 9, oben) E5 = Strukturplan in 11 Kapiteln mit Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ (Bl. 9 mittig und unten, Bl. 10 oben) TS7 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die stille Revolution“ (Bl. 10 unten; Grundschicht)

Die vorliegenden Blätter weisen eine reguläre Länge und Breite (A4-Format) auf, fallen also aus dem Konvolut der überlangen Blätter (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8) heraus. Aufgrund der darauf notierten Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ und

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„Die stille Revolution“ ist jedoch eine Einordnung in VA1 oder VA2 wahrscheinlich. In E4 notiert Horváth erstmals den bisher nur in Form eines Kapiteltitels genannten Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ (vgl. VA1/E25) als Werktitel zusammen mit dem Gattungstitel „Roman“. Darunter vermerkt er den in VA1/E11 und VA1/E25 ebenfalls genannten Titel „Das Ende der Kunst“ als Werktitel (vgl. auch TS4), wieder mit dem Zusatz „Roman“, und zuletzt den aus VA1 bekannten Werktitel „Die stille Revolution“, ebenfalls mit dem Gattungstitel „Roman“. Der Entwurf lässt vermuten, dass Horváth zu diesem Zeitpunkt damit spekulierte, eine Romantrilogie zu schreiben (vgl. VA1/E17–E20 und den Kommentar zu VA1/E11) andere Möglichkeit wäre, dass es sich bei den drei Titelentwürfen um alternative Werktitel handelt, die Horváth zum besseren Vergleich untereinander notierte, wie er dies auch in anderen Fällen machte (vgl. etwa WA 4/K5b/E9 und E12). Nachträglich streicht er den Werktitel-Entwurf wieder und notiert darunter E5, der einen Strukturplan in elf Kapiteln unter dem erstmals in E4 als Werktitel genannten Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ darstellt. Dieser Titel bleibt in K1 und K2 als Kapiteltitel erhalten (vgl. etwa K1/E21–E24, E27–E29 und K2/E1) und findet sich noch in der Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit, allerdings nicht mehr als Kapiteltitel, sondern nur als Motiv (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 48). E5 weist folgende Kapitelreihung auf: „Die jüngste Truppe“, „Das Kriegskind“ (vgl. E1), „Die Kellnerin“ (vgl. E6), „Die Revolution im Nachbarland“, „Der Verlauf der Revolution“, „Der geheime Befehl“, „Der Abschied von der Familie“ (vgl. E6), „Der Abschied von der Kellnerin“, „Der Transport“, „Das Land X“ und „Die feindlichen Brüder“ (vgl. E9). In Kapitel eins soll es um die „Flugwaffe“ (gemeint ist: Luftwaffe) gehen, die Untertitel heißen dementsprechend: „Hoch in der Luft“ (vgl. K1/TS5/BS 26 d [5], Bl. 1, Grundschicht), „Über der Erde“ und „Im Sonnenglanz“. Zu Letzterem notiert Horváth ein „Gedicht zu Ehren der Flugwaffe“ (vgl. das Muttergedicht in VA1/TS6/Bl. 2). Kapitel zwei trägt den Titel „Das Kriegskind“ (vgl. VA1/TS7/Bl. 2, VA2/E1, TS2, TS3/Bl. 4 und TS5/Bl. 1) und weist voraus auf den Roman Ein Kind unserer Zeit, wo die Problematik des hier erwähnten Generationenunterschieds zwischen Vater und Sohn eine zentrale Rolle spielt (vgl. v.a. das 1. Kapitel „Der Vater aller Dinge“). Außerdem notiert Horváth hierzu „Mein Onkel“, was ein Hinweis darauf ist, dass er hier wie schon in Textstufen von VA1 erwägt, die Ich-Erzählform für sein Romanprojekt zu verwenden (vgl. VA1/TS10, E17, E20, TS11, TS12, E21, TS13, E24, TS14, TS15; vgl. auch VA2/E6 und E9). Der „Onkel“ verweist zurück auf TS3/Bl. 4 und TS4. Für Kapitel drei ist eine „Kellnerin“ vorgesehen, mit der die Hauptfigur wohl eine Liebesaffäre haben soll (vgl. VA1/E6, VA2/E6, K1/TS5/BS 26 d [1], Bl. 5 und E9). Hier ist auch die Rede von „neuen Autos“, die „[e]in[ge]fahren“ werden sollen, eine motivische Neuerung, die in K1/TS5/BS 26 d [1], Bl. 5 und K1/E16/Bl. 8 wiederaufgenommen wird. In den Kapiteln vier und fünf soll es um eine „Revolution“ gehen, die im „Nachbarland“ stattfindet. Im Roman Ein Kind unserer Zeit ist vom „kleine[n] Staat“ die Rede, den sich die Soldaten „holen“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46), womit wohl auf den sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland angespielt wird. Kapitel sechs handelt vom „geheime[n] Befehl“, was aber nicht weiter spezifiziert wird. Kapitel sieben bringt den „Abschied von der Familie“, Kapitel acht den „Abschied von der Kellnerin“. Damit wird wohl angedeutet, dass die Hauptfigur in den Krieg zieht. Kapitel neun lautet dementsprechend: „Der Transport“ und Kapitel zehn: „Das Land X“. Das Schlusskapitel trägt den Titel „Die feindlichen Brüder“, wobei der eine für die eine Partei ist, der andere für eine andere. Weiters notiert Horváth zu diesem Kapitel eine

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Reihe von „Verfolger[n]“: „der feindliche Bruder, der Sportler“, „der Feldwebel, der Halbgebildete“, „der Soldat, der überhaupt nicht denkt, der sture Pflichtmensch“, „der Offizier, der einen Profit davon hat, seine Familie hat ein grosses Gut“ und „der Soldat, der Intellektuelle, bewusste Betrüger“ (Bl. 10). Damit vermerkt der Autor eine Reihe von sehr unterschiedlichen Militärfiguren. In der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit finden sich deren eigentlich nur noch vier: der Ich-Erzähler, ein einfacher Soldat, der Hauptmann, die positive Vorbildfigur, der Oberleutnant, die negative Vorbildfigur, und der Leutnant, ein „fabelhafter Sportsmann, unser bester Sprinter“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 12). Horváth verweist im Eröffnungskapitel „Der Vater aller Dinge“, in dem die genannten Figuren geschildert werden, auch auf die „Ähnlichkeit“ des Militärs „mit dem Sport“ (ebd.), ein Gedanke, der in E5 schon angedacht scheint. In TS7 arbeitet Horváth den Beginn eines ersten Kapitels unter dem Werktitel „Die stille Revolution“ aus. An dieser Textstufe, die einen Fremdkörper in VA2 darstellt, aber aus materiellen Gründen an dieser Stelle gereiht werden muss, zeigt sich, wie eng die beiden Werkprojekte Die stille Revolution und Krieg ohne Kriegserklärung genetisch miteinander verflochten sind, dass sie zu diesem Zeitpunkt aber eben noch als getrennte Werkprojekte zu betrachten sind (vgl. E4). Wie in VA1/E26 findet sich hier als Ich-Erzähler der „Irrsinnigenwärter“. Zu ihm notiert Horváth: „der Manische, der ausbricht und eine grosse Position erringt“ (Bl. 10; vgl. VA1/E26 und TS15/Bl. 8). Allerdings kommt dieser Ich-Erzähler nicht gleich zum Einsatz. In dem ausgearbeiteten Erzählbeginn reflektiert vielmehr ein auktorialer Erzähler über die Durchorganisiertheit der meisten Länder: „In unserer Zeit, 20 Jahr nach dem Weltkrieg, muss jeder Mensch einer Organisation angehören.“ (vgl. VA1/E13–E16) Die Organisiertheit habe zunächst nur die Politik betroffen, greife allerdings allmählich „in die sogenannten nur menschlichen Bezirke über“ (Bl. 10). Zuletzt erwähnt der Erzähler die drei Länder, „in welchen die Organisation zur Staatsmacht gelangt [ist]: Russland, Deutschland, Italien“ (ebd.). Die Organisiertheit ist einer der zentralen Aspekte des späteren Romans Ein Kind unserer Zeit, wo der Ich-Erzähler vor allem die „Ordnung“ und „Disziplin“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11) beim Heer schätzt, die er der „Unsicherheit [seiner] arbeitslosen Jugend“ (ebd.) entgegenstellt. Horváth versucht mit TS7 sein Romanprojekt stärker politisch auszurichten, was eine wesentliche thematische Linie noch des späteren Romans Ein Kind unserer Zeit sein wird. Ähnlich wie im Vorgängerroman Jugend ohne Gott bildet dort der politische Hintergrund indes nur die Folie, auf der sich das persönliche Leid abzeichnet. H7 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E6 = fragm. Strukturplan in 3 Kapiteln mit Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ mit einer Dialogskizze, Notizen und Repliken (oben) E7 = Strukturplan in 1 Kapitel mit Notizen und Repliken (mittig) E8 = Strukturplan in 3 Kapiteln mit Notizen und einer Replik (unten)

Auf dem vorliegenden Blatt, das wiederum dem Konvolut mit überlangen Blättern und mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ entstammt (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8), entwirft Horváth in drei Anläufen Strukturpläne zu seinem Werkprojekt Krieg ohne Kriegserklärung. Diese fallen allerdings in puncto Ausgereiftheit hinter E5 zurück.

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Offensichtlich war er jedoch mit der dort entworfenen Kapitelfolge nicht zufrieden und entwickelt deshalb in den vorliegenden drei Entwürfen E6–E8 neue Kapitelfolgen, zunächst jedoch nur für den Romanbeginn, d.h. für die ersten drei Kapitel. In E6 lautet die Kapitelfolge: „Der Soldat (Flieger)“, „Die Kellnerin“ und „Der Abschied von den Eltern“. Damit nimmt Horváth wesentliche Kapitel von E5 wieder auf, ändert aber ihre Abfolge und den Fokus, indem in E6 im ersten Kapitel der „Soldat (Flieger)“ im Mittelpunkt steht und nicht die ganze „Flugwaffe“ wie in E5 vorgesehen. Zum ersten Kapitel notiert er: „Der abgestürzte Flieger“ (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 23f.), was jemand mit den Worten: „Na wenn schon!“ kommentieren soll (vgl. K1/TS5/BS 26 d [5], Bl. 3 und BS 26 d [1], Bl. 5). Die Notiz: „Er starb fürs Vaterland.“ verweist der Autor mittels nachträglichem Eintrag in ein „späteres Kapitel“, das vermutlich den Titel „Der Götze“ (vgl. die Transformation dieses Kapitels in „Der Bonze“ in K1/E16/Bl. 9 und in „Im Reiche des Liliputaners“ in K1/E28) tragen soll. Zum zweiten Kapitel „Die Kellnerin“ notiert er „Ein Osterspaziergang“, auf dem sich der folgende Dialog zutragen soll: „Kellnerin: Ich hab den Abgestürzten gekannt. / Ich: War er bei Dir? (es lässt mir keine Ruh) / Kellnerin: Nein. (Ich fühle, sie lügt. Sie lag mit dem Toten, wie jetzt ich. / Aber das ist ja auch egal!)“ Außerdem notiert Horváth zu dem Kapitel die Replik: „Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod!“, die wohl die Hauptfigur äußern soll. Eine weitere Notiz lautet: „Ich fühle ihre Schenkel. Ihr Busen ist fest.“ Zum dritten Kapitel „Der Abschied von den Eltern“ notiert der Autor eine ganze Erzählsequenz. Hier heißt es, in der für Jugend ohne Gott und auch den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit so charakteristischen Absatzgestaltung: „Heut habe ich etwas erfahren. / Aber ich darf niemand was davon sagen. / Denn das wäre Landesverrat. / Und darauf steht der Tod. / Es wird ernst. / Ich verabschiede mich von meinen Eltern. / Mein Vater ist ein Oberkellner im Meisl und Schaden.“ Damit greift Horváth in E6 neuerlich zur Ich-Form (vgl. „Mein Onkel“ in E5/Bl. 9) und formuliert in der Form des inneren Monologs, der den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit kennzeichnen wird. Außerdem nimmt Horváth neuerlich zwei Motive auf, die im späteren Roman eine gewichtige Rolle spielen: die Frage des „Landesverrats“ und der Vater als „Oberkellner“, der als genuine Weiterentwicklung der Kellner-Motivik der Entwürfe E3 und E5 sowie der Textstufen TS1, TS4 und TS5 (Grundschicht) erscheint. Ein Kapitel vier wollte Horváth zunächst zu den erwähnten drei Kapiteln hinzufügen, streicht die Kapitelnummer aber wieder. In E7 nennt Horváth nur den ersten Kapiteltitel „Der Soldat (Flieger)“, der einen Rückgriff auf die Er-Form andeutet (vgl. aber K1/TS3, wo der Kapiteltitel mit der IchForm gekoppelt wird), und ergänzt diesen um die Notiz „Die Parade“ (vgl. E8). In E8, einem weiteren Strukturplan in drei Kapiteln, skizziert der Autor folgende Kapitelfolge: „Täglicher Dienst“ (vgl. K1/E8, E9, E11–E13), „Parade“ (vgl. E7) und „Ein Absturz“ (vgl. E6). Dazu vermerkt er die Notizen: „Die Wahrsagerin“ (vgl. K1/E6, E14/Bl. 11, E16/Bl. 8, E20, E24 und E26) und „Das Traumbuch der Hunde“ (vgl. WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 153). Eine Replik, die mit einem Verweispfeil der Wahrsagerin zugeordnet wurde, lautet: „Sie werden General oder nichts.“ In Klammern notiert Horváth hierzu: „Pythia = die Weissagungen der Pythia“, was aber ohne weitere Verwendung bleibt. Mit den Kapiteltiteln „Täglicher Dienst“ und „Parade“ entwickelt Horváth eine stärker am militärischen Alltag orientierte Konzeption seines Romanprojekts, in dem die Vorgeschichte im zivilen Leben (Kellnerin und Eltern) nun offensichtlich eine untergeordnete Rolle spielen soll und nur noch retrospektiv erwähnt wird (vgl. K1/E8, E9 und E11).

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H8 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E9 = Strukturplan in 11 Kapiteln mit Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ mit Notizen und einer Dialogskizze Druck in: KW 14, S. 215f.

Das vorliegende Blatt entspricht materiell dem vorhergehenden, entstammt also wieder dem Konvolut an überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8). In E9 skizziert Horváth wie schon in E5 einen Strukturplan in elf Kapiteln mit dem Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“, den er mit zahlreichen Notizen und einer Dialogskizze versieht. Der Strukturplan nimmt zum Teil alte Motive wieder auf, geht aber noch stärker als vorhergehende Strukturpläne in Richtung des späteren Romans Ein Kind unserer Zeit, weshalb er innerhalb der genetischen Reihe relativ spät zu verorten ist. Der Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ wird erstmals in E4 als eigenständiger Werktitel genannt, bis dorthin war er nur als Kapiteltitel vorgekommen (vgl. VA1/E25). Der alternativ oder attributiv darunter notierte Titel „Ich kämpfe nicht mit!“ findet sich indes bereits in VA1/E20, wo er den letzten der vier Werktitel einer dort geplanten Romantetralogie darstellt, die mit dem solcherart betitelten „Roman eines Deserteurs“ enden sollte. Anders als in E5 hat man es in E9 wieder mit deutlich ausformulierten Kapiteltiteln zu tun. Die Kapitelfolge lautet: „Als Soldat“ (vgl. E6 und E7), „Der Abschied von den Eltern“ (vgl. E5 und E6), „Der Transport“ (vgl. E5), „Der Einmarsch“, „Die Flieger“ (vgl. E5), „Der Deserteur“ (vgl. VA1/E20), „Beim General“, „Desertiert“ (vgl. VA1/E20), „Im Hochgebirge bei den Tieren“ (vgl. K1/E20), „Auf der Alm“ und „Durch den Nebel“ (vgl. K1/E19 und E20). Der Titel des vierten Kapitels „Der Einmarsch“ verweist möglicherweise auf das „Land der Revolution“ von E5 zurück, zugleich aber voraus auf Ein Kind unserer Zeit, wo das kleine Nachbarland in einer Nacht- und Nebelaktion annektiert wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46–48). Eine Notiz zu Kapitel fünf „Die Flieger“ deutet an, dass es zu einer „Bombardierung der Spitäler und zur Zerstörung einer Stadt“ kommen soll. Zu Kapitel sechs „Der Deserteur“ notiert Horváth: „Ich stürze ab und werde gefangen. / Fliehe aus der Gefangenschaft. / Bin verwundet und werde dann Adjutant.“ Damit nimmt Horváth neuerlich die Ich-Erzählform von E5 und E6 auf, bezieht aber den „abgestürzte[n] Flieger“ (E6) auf die Hauptfigur, was jedoch im Romanprojekt singulär bleibt. Das siebente Kapitel „Beim General“ ist mit der Notiz „Die Landkarte, der Brief“ versehen und weist deshalb schon voraus auf den Hauptmann und dessen Abschiedsbrief in Ein Kind unserer Zeit (vgl. insbesondere die Kapitel „Der Hauptmann“ und „Im Hause des Gehenkten“ in K3/TS18/Horváth 1938b sowie K2/E15 und E23). Das achte Kapitel trägt den Titel „Desertiert“ und beinhaltet überdies die Notiz: „Der Offizier, der mich entlässt“ (neuerlicher Hinweis auf die Ich-Form). Auch der Soldat in Ein Kind unserer Zeit wird entlassen, er desertiert aber nicht, sondern wird nach dem Kriegseinsatz als Krüppel suspendiert und findet keine Arbeit mehr. Kapitel neun ist mit „Im Hochgebirge bei den Tieren“ betitelt, außerdem soll hier ein „Hund“ vorkommen. Dies ist eine neue motivische Idee Horváths, die im Roman im Kapitel „Der Hund“ ihre Weiterverwendung findet (vgl. das „Traumbuch der Hunde“ in E8). Auch Kapitel zehn sollte „Auf der Alm“ angesiedelt sein. Eine Notiz verweist auf die „Idioten“ bzw. „Cretins“ (vgl. VA1/E20), die dort leben und mit denen die Hauptfigur offensichtlich zusammentreffen soll. Der Strukturplan E9 ist

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Konzeption 1

mit zahlreichen Notizen versehen, die die notierten Kapiteltitel erklären und erweitern. Eine wichtige Notiz lautet „Die beiden feindlichen Brüder“ (vgl. E5) und weist darauf hin, dass der Ich-Erzähler einen Bruder haben soll, mit dem er auslost, „auf welcher Seite [er] kämpfen soll“. Ein paar weitere Notizen deuten an, dass der IchErzähler abstürzt und in „Gefangenschaft“ gerät, dann aus der Gefangenschaft flieht, verwundet und „Adjutant“ wird. Bei einem „Verhör“ schweigt er und wird deshalb „verprügelt“. Das ist eine Reihe von Motiven, die bisher nicht erwähnt wurden. Gefangenschaft gibt es in Ein Kind unserer Zeit keine, aber ein Flieger stürzt bereits im ersten Kapitel ab (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 23f.) und der Ich-Erzähler wird am Arm verwundet, wird danach allerdings nicht befördert, sondern als Krüppel aus dem Militärdienst entlassen. Eine Notiz zu dem in Kapitel zwei erwähnten Land X lautet: „Das Land, von dem man nicht sprechen darf“ (vgl. K2/TS7). In einer Dialogskizze zwischen Vater und Sohn, über die es heißt, dass sie „Misstrauen“ füreinander empfinden, äußert der Vater: „Ich glaube, ich weiss, wohin Du kommst –“. Der Sohn repliziert darauf nichts, in einer Regieanweisung heißt es jedoch: „[er] betrachtet seinen Vater als alten Liberalisten, er verachtet ihn, denn man lebt für höhere Ideale“ (vgl. VA2/E5). Damit entwickelt Horváth bereits die für den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit so zentrale Vater-Sohn-Problematik. In ihr spielen auch ideologischweltanschauliche Differenzen eine wichtige Rolle. So erscheint der Sohn zu Romanbeginn als Gegner des Vaters, dessen soziale Stellung (als hinkender Kellner in einem Vorstadtgasthaus) er gering achtet und dessen Ablehnung des Krieges und Verherrlichung seiner Vorkriegsexistenz er nicht teilen kann (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16–25). Diese Ablehnung kulminiert in der bekannten Satzfolge: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge. / Ich hab mit meinem Vater nichts mehr zu tun.“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 19) Bemerkenswerterweise wandelt sich aber das Vater-Sohn-Verhältnis im Laufe des Romans, nicht zuletzt durch die Verwundung und Verabschiedung aus dem Heer, die der Sohn erleben muss, wodurch er wieder in Abhängigkeit zu seinem Vater gerät und diesen plötzlich in einem milderen Licht sieht (vgl. K2/E33 und das Kapitel „Das denkende Tier“ in K3/TS18/Horváth 1938b, S. 125–137).

Konzeptionen Konzeption 1: Ein Soldat seiner Zeit Die Entwürfe und Textstufen von Konzeption 1 stehen unter dem Titel Ein Soldat seiner Zeit, wobei Horváth im Laufe der Konzeption wiederholt am Titel feilt, auch wenn dieser schon in K1/E3 zum ersten Mal fällt und die gesamte Konzeption kennzeichnet (vgl. E5, E7, E10, E16, E18, E19, E21, E22, E24, E27 und E29). Wahrscheinlich hat Horváth an dieser Konzeption in den Monaten Oktober und November 1938 gearbeitet. Das Blatt mit der Signatur ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 11 (K1/E4) trägt eine handschriftliche Notiz, in der die Namen „Hatvany/Budapest“ und „Thomas/Prager Tagblatt“ fallen, denen Horváth „Bücher“ schicken will (vgl. den Kommentar zu K1/E4). Dies lässt annehmen, dass das Blatt etwa um die Zeit des Auslieferungstermins (26. Oktober 1937) von Jugend ohne Gott entstanden ist, was ein Licht auf die Datierung von Konzeption 1 wirft, die wohl im Umfeld dieses Auslieferungsdatums entstanden ist. In K1 lässt sich schon deutlich die Handlung des späteren Romans Ein Kind unserer Zeit erkennen, auch wenn Horváth hier meistens noch zu einer Struktur in sieben Kapiteln greift.

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Chronologisches Verzeichnis

H1 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 10 1 Blatt unliniertes Papier (171 × 104 mm), Achtelbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E1 = Notizen und eine Replik mit Werktitel „Ein Soldat. Roman“ (oben und mittig) E2 = Notiz (unten) E3 = teilweise gestrichener Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit“ (ganz unten) Druck in: KW 14, S. 208.

Bei dem vorliegenden Blatt handelt es sich um ein Teilblatt eines Bogens mit der Überlänge von 343 mm und Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8), das Horváth in diesem Fall nicht nur halbierte, sondern dann noch viertelte, wodurch ein ganz kleines Blatt (Achtelbogen) im Format 171 × 104 mm entstand. Auf diesem trug er drei Entwürfe ein, zunächst einen Entwurf E1 mit dem Werktitel „Ein Soldat“ und dem Gattungstitel „Roman“. Unter dem Werktitel macht sich Horváth Notizen zu diesem Roman, wobei er sich vorerst mit der Frage des Tons beschäftigt: „Soll man das mit Trauer sagen oder mit Freude? / Denn es gibt auf der Welt nur die Gewalt, die Macht – und ohne Macht gibt es kein Recht! / Ich sag es mit Freude, denn es ist klar!“ Daneben notiert er sich eine „Debatte“ und ein Zitat oder eine mündliche Äußerung Anton Kuhs: „Schon wenn Sie fragen, sind Sie kein Überzeugter, sie dürfen garnicht fragen!“ (vgl. E21) Abschließend dürfte Horváth den Titel dieses Entwurfs mit einer Variante versehen haben, die „Soldat unserer Zeit“ lautet, was er aber wieder streicht. In E2 notiert er sich nur den Satz oder Titel: „Der Soldat, der erste Mann der Welt.“ In E3 skizziert er noch einmal einen Werktitel, wobei er zunächst „Ein Soldat seiner Zeit“ schreibt, dann aber den Artikel streicht. Damit findet sich bereits auf diesem Blatt der Werktitel von K1, Ein Soldat seiner Zeit (vgl. E5, E7, E10, E16, E18, E19, E21, E22, E24, E27 und E29). Die Soldatenfigur als zentrale Figur des Werkprojekts hatte Horváth jedoch schon in den beiden Vorarbeiten entwickelt (vgl. VA1/E2, E5, E20, E23, VA2/E3, TS1–TS5, E5–E7 und E9).

H2 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 11 1 Blatt unliniertes Papier (165 × 208 mm), dünn, gefaltet, unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte, Bleistift E4 = Notizen und Repliken mit Werktitel „Ein Soldat“ Druck in: KW 14, S. 207.

Auf dem vorliegenden Blatt, das sich durch die Papierqualität vom vorhergehenden deutlich unterscheidet, aber wieder ein geteiltes kleines Blatt ist, das überdies unregelmäßig gerissen und gefaltet wurde, hat sich Horváth zunächst mit schwarzer Tinte zwei Namen notiert: „Herrn Thomas ‚Prager Tagblatt‘“ und „Hatvanj Budapest“. Wer mit Ersterem gemeint ist, konnte leider nicht eruiert werden, wahrscheinlich ein Redakteur des Prager Tagblatts, für das unter anderem auch der in E1 genannte Anton Kuh schrieb. Mit Zweiterem waren mit Sicherheit Jolán oder Lajos Hatvany (mit „y“, nicht mit „j“, wie Horváth schreibt) gemeint, Bekannte Horváths in Budapest, mit denen er in seinen letzten beiden Lebensjahren einen intensiven Briefwechsel pflegte. Wahrscheinlich wollte Horváth den beiden Genannten vom Verlag ein (Rezensions-)Exemplar des zu diesem Zeitpunkt gerade erschienenen Romans Jugend ohne Gott (Auslieferungstermin: 26. Oktober 1937) schicken lassen. Ein Brief Horváths an Jolán Hatvany vom 28. Oktober 1937 aus Henndorf bei Salzburg bestätigt

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Konzeption 1

diese Vermutung, denn darin schreibt der Autor: „[W]enn Sie diese Zeilen lesen, werden Sie wahrscheinlich schon im Besitze meines Romans sein, er ist nämlich vorgestern in Amsterdam erschienen und ich liess Ihnen sogleich ein Exemplar zusenden. Bin schon sehr neugierig, was Sie dazu sagen werden!“ (zitiert nach dem Faksimile in Báder 1970, S. 205) Damit liefert dieses Blatt einen wertvollen Hinweis für die Datierung nicht nur seiner selbst, sondern darüber hinausgehend für die Arbeit Horváths an K1, die wohl erst Mitte Oktober 1937 begonnen wurde. Indirekt bestätigt dies auch die Datierung der Blätter zu den beiden Vorarbeiten Die stille Revolution und Krieg ohne Kriegserklärung, die wohl zuvor, wahrscheinlich zwischen August und September 1937, entstanden sein dürften. In E4, der, was für Horváth eher unüblich ist, mit Bleistift verfasst wurde, skizziert der Autor neuerlich unter dem Werktitel „Ein Soldat“ (vgl. E1) eine Reihe von Notizen, die wichtige Motive des Romanprojekts nennen: „Kind“, „Soziale Ungerechtigkeit“, „Verbrecher“, „Trappisten“, „Enttäuschte Religion“ und „Das nationale Bewustsein“, die sich in ähnlicher Form schon in VA1 finden (vgl. etwa VA1/E17). Als spontane Idee könnte man die Notiz „Radfahrchampion“ betrachten, die jedoch ebenfalls ihren Vorläufer in VA1 hat (vgl. VA1/TS11, wo sich immerhin ein „Langstreckengeher“ findet). Die Replik: „Stimme: So wie Du als einzelner nichts bist, so gibt es auch Völker, die nichts sind – sie müssen sich ihr Recht erkämpfen“ verweist zurück auf den Machtdiskurs von E1 und voraus auf die Reflexionen über den „Einzelnen“ von K2 sowie des späteren Romans Ein Kind unserer Zeit (vgl. K2/E7, E11, E33 und E34 sowie K3/TS18/Horváth 1938b, S. 24, 64, 72, 88, 128, 153, 174, 186, 188f., 191 und 195; vgl. auch WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 79). Die Replik eines Freundes: „In der heutigen Zeit sind wir alle Findelkinder“ verweist zurück auf VA1/TS13/Bl. 2, VA2/TS2 und TS3/Bl. 3, wo die Hauptfigur ebenfalls bereits als „Findelkind“ bezeichnet wird. H3 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 12 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 109 mm), Viertelbogen, unregelmäßig gerissen, Bleistift E5 = Strukturplan in 8 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit“ mit Notizen Druck in: KW 14, S. 208.

Das vorliegende Bl. 12 ist ebenso wie Bl. 11 (vgl. E4) mit Bleistift beschrieben. Horváth skizziert darauf zunächst einen Strukturplan in sieben, dann in acht Teilen, wobei man davon ausgehen kann, dass es sich dabei um Kapitel handelt. Der Strukturplan steht unter dem Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit“, der damit erstmals in dieser Konzeption vollständig formuliert und nicht gestrichen wird (vgl. E3). Die Kapitelfolge lautet: „Geburt“, „Es ist kalt“ (vgl. VA2/E1 und TS5/Bl. 2), „Das Geld“ (vgl. VA1/TS13 und VA2/TS5/Bl. 3), „Der liebe Gott“ (vgl. VA2/E1 und TS5/Bl. 4), „Das Vaterland“ (vgl. VA2/E1 und E3), „Die Arbeit“ (vgl. VA2/E1), „Die Liebe“ und „Der Soldat“. Das Kapitel „Die Liebe“ hat Horváth bei der Überarbeitung eingefügt, wodurch „Der Soldat“ an die achte Stelle rückt. Die meisten Kapiteltitel stehen allein da, nur zu den Kapiteln sechs bis acht macht sich Horváth Notizen. Zu Kapitel sechs „Die Arbeit“ vermerkt er: „Es freut ihn nicht“ (vgl. VA1/E14, E22 und TS13/Bl. 2); zu Kapitel sieben „Die Liebe“ notiert er quasi eine Liebesaffärenabfolge, wie man sie ihn ähnlicher Form auch in dem zwischen 1934 und 1936 entstandenen Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg (WA 9) findet: „Die Meisterin; die Arbeiterin; das Mädel“ (vgl. E7); zu Kapitel acht schließlich notiert er: „Nach dem Beruf freute es ihn, als er endlich Soldat wurde.“ (vgl. VA1/E20)

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Chronologisches Verzeichnis

H4 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 13 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), dünn, gefaltet, Bleistift, schwarzblaue Tinte E6 = Strukturplan in 4 Teilen mit einer Notiz Druck in: KW 14, S. 208f.

Auf dem vorliegenden Bl. 13, das von der Papierqualität her dem für VA2/E2, E3, K1/E4 und E5 verwendeten entspricht, die wohl alle in kurzem zeitlichen Abstand zueinander entstanden sind, befindet sich am rechten oberen Eck der Entwurf eines Widmungsschreibens (vgl. KW 14, S. 209) mit der Anrede „Mein liebes Werchen“, womit Horváths Freundin Wera Liessem gemeint ist. Weiter heißt es in dem Entwurf: „[E]ben erhalt ich mein Buch und ich schick es Dir sofort zu. Ich bin so froh, dass es Dir gefällt und grüsse Dich in Freundschaft / Dein alter Ödön“. Bei dem erwähnten Buch handelt es sich mit einiger Sicherheit um die Druckfassung des Romans Jugend ohne Gott, der zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Blattes soeben erschienen war. Wera Liessem hatte einen Großteil der Entstehung des Romans im Sommer 1937 in Henndorf selbst miterlebt (vgl. KW 13, S. 156f.), wohnte aber inzwischen wohl aufgrund schauspielerischer Verpflichtungen nicht mehr mit Horváth zusammen (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 1 und 6). Da der Auslieferungszeitpunkt von Jugend ohne Gott bekannt ist, der 26. Oktober 1937, wird auch klar, dass das vorliegende Blatt kurze Zeit später, also Ende Oktober/Anfang November 1937 beschrieben worden sein muss (vgl. den Kommentar zu E4 und E5). Dabei wurde E6 vor dem Entwurf des Widmungsschreibens eingetragen, der auch in einem anderen Schreibmaterial (schwarzblaue Tinte) abgefasst ist, möglicherweise also vor dem Auslieferungstermin des Romans. In E6 skizziert Horváth einen Strukturplan in vier bzw. sechs Teilen, je nachdem ob man die ersten drei Einträge als getrennte Teile liest oder nicht. Da sie nicht durch Strukturierungszeichen (Kreuze) getrennt sind wie die restlichen Teiltitel, ist eher davon auszugehen, dass es sich um vier Teile handelt, die der Autor im vorliegenden Entwurf notiert. Die Abfolge der Teile lautet demnach: „Der Soldat / Das Mädchen / Er geht in die Kaserne“, „Sie am nächsten Tag zu ihm hin und das Regiment ist weg. Niemand weiß, wohin“, „Der Soldat im Felde“ und „Die Wahrsagerin“ (vgl. VA2/E8, K1/TS2/Bl. 5, E14/Bl. 11, E16/Bl. 8, E20, E24 und E26). Letztere hatte Horváth schon für den ersten Teil notiert, sie dann aber doch in den letzten Teil gestellt und den Eintrag im ersten Teil mit einem Pfeil mit diesem verbunden. Zum Mädchen im ersten Teil vermerkt der Autor die Notiz: „Sie hat ein Kind“ (vgl. TS2/Bl. 6 und E14/Bl. 11). Gemäß dem Werktitel dieser Konzeption (vgl. E1–E5) rückt hier also der Soldat als Hauptfigur in den Mittelpunkt des Geschehens. Von ihm geht die Handlung aus. Allerdings wird er in dem vorliegenden Entwurf E6 nicht ab ovo, von Kindesbeinen an, gezeigt (vgl. VA2/TS3, TS5, K1/E4 und E5), sondern erst mit seiner aktiven Dienstzeit als Soldat eingesetzt (vgl. VA2/E5–E9). Dass jeder Soldat ein Mädchen hat, ist ein Gemeinplatz, den Horváth freilich in spezifischer Weise abzuwandeln sucht (vgl. TS2, E10, E11, E13–E16, E18–E25 und E27–E29). Das Motiv findet sich schon in den beiden Vorarbeiten (VA1/E6, TS6, E15–E17, E23, E24, TS15, VA2/E1–E3, E5 und E6) in verschiedensten Ausprägungen und bleibt bis zum Roman Ein Kind unserer Zeit erhalten (vgl. die Kapitel „Das verwunschene Schloss“, „Im Hause des Gehenkten“, „Der Hund“ und „Anna, die Soldatenbraut“).

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Konzeption 1

H5 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 9 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Das vorliegende Blatt entstammt wieder dem Konvolut von überlangen Blättern mit 343 mm und dem Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8). In TS1 arbeitet Horváth eine Fassung des ersten Kapitels von E6 „Der Soldat“ aus, die allerdings über drei Sätze nicht hinauskommt. Der Eröffnungssatz: „Es war einmal ein Soldat, ein Kind unserer Zeit“ erinnert an die Eröffnungssätze der Textstufen VA2/TS1, TS3 und TS5. Zunächst hatte Horváth wie dort „seiner“ geschrieben, dann aber sofort zu „unserer“ korrigiert. Diese Änderung, die schon in Richtung des späteren Titels Ein Kind unserer Zeit geht, kann als Indiz dafür angesehen werden, dass es sich bei der vorliegenden Textstufe um eine spätere Ausarbeitung handelt (vgl. auch das „unserer“ in E1 und TS2, Grundschicht). Die folgende Passage handelt vom „Vaterland“, das bereits in früheren Entwürfen (vgl. VA2/E1–E3) thematisiert wurde und in späteren Entwürfen (vgl. E16/Bl. 8, E27, E29, K2/E5/Bl. 6, E7, E20 und E26) bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine ganz zentrale Rolle innerhalb des Romanprojekts spielt (vgl. etwa K3/TS18/Horváth 1938b, S. 13, 15f., 27, 47, 85f., 130 und 188).

H6 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 2–6 5 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte und Bleistift TS2 = fragm. Fassung in 16 Kapiteln (Korrekturschicht) Druck als Entwurf in: KW 14, S. 211–213.

Die Bl. 2–6 der Mappe BS 26 a [4] gehören wie das vorhergehende Bl. 9 zu dem Konvolut von überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“, die charakteristisch sind für die Vorarbeiten 1 und 2 sowie die Konzeptionen 1 und 2 (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8). In TS2 arbeitet Horváth eine fragmentarische Fassung seines Werkprojekts Ein Soldat seiner Zeit aus, wobei er diese in sechzehn Kapitel aufteilt. Die Kapitel weisen keine Kapiteltitel auf, deshalb kann die eigentliche Kapitelfolge hier nicht angeführt werden. Es lässt sich nur beschreiben, was in den einzelnen Kapiteln enthalten sein soll. Das erste Kapitel könnte den Titel „Der Soldat“ (vgl. E6) tragen. Die eröffnende Passage enthält wieder eine Reflexion über die „gute[n] und böse[n] Zeiten“, die „fette[n] und magere[n] Jahre“, wie Horváth sie schon in VA2/TS2, TS3/Bl. 3 und TS5/Bl. 1 notiert hatte. Allerdings geht er in der vorliegenden Textstufe über die dort notierten Varianten hinaus und hält schließlich nach einigen Überarbeitungen, die gestrichen wurden, folgende Variante fest: „Es gab immer schon gute und böse Zeiten, fette und magere Jahre, Krieg und Frieden. / Und unsere Zeit? / Ist sie gut oder böse? Fett oder mager? / Für viele böse – für wenige gut.“ (Bl. 2) Der Autor notiert anschließend ähnlich wie in VA2/TS2, TS3/Bl. 3, TS5/Bl. 1 und in K1/TS1 die Satzfolge: „Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.“ (Bl. 2) Zunächst hatte er „unserer Zeit“ geschrieben, dann aber durch „seiner“ ersetzt (vgl. die Ersetzung in TS1 und die Titelvarianten in E1–E5). In einer gestrichenen Passage erfolgt die Ersetzung in umgekehrter Richtung. Als Geburtsdatum des Protagonisten vermerkt Horváth in TS2 den „7. November 1915“ (vgl.

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Chronologisches Verzeichnis

VA2/TS1 und anders VA2/TS2, Grundschicht), wobei er zunächst den „6. November 1916“ notiert hatte. Als Alter hält er letztlich „22 Jahre“ fest, was, bezogen auf das Jahr 1915, bestätigt, dass der Zeitpunkt der Niederschrift dieser Textstufe im Jahr 1937 zu verorten ist, wahrscheinlich in den letzten beiden Monaten dieses Jahres (vgl. die Kommentare zu E4–E6). Während der Vater des Protagonisten in VA2/TS5/Bl. 1 noch im Krieg fällt, gerät er in TS2 in „Kriegsgefangenschaft“, kehrt aber ein Jahr nach dem Krieg zurück. Seine Mutter indes ist nicht freiwillig aus dem Leben geschieden wie in VA2/TS5/Bl. 1, sondern „an der Grippe“ gestorben (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 41). Dies quittiert der Erzähler wieder mit den in VA2/TS3/Bl. 4 und ähnlich in VA2/TS5/Bl. 1 vermerkten Sätzen: „Jaja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind. Aber er kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern.“ (Bl. 2) Zuletzt notiert Horváth zu diesem Kapitel: „Es ist kalt, das ist seine erste Erinnerung –“, wie die Korrekturschicht von VA2/TS5/Bl. 2 lautet. Entgegen der Annahme, dass Handschriftliches dem Maschinenschriftlichen vorausgeht, ist in diesem Fall also davon auszugehen, dass die vorliegende Handschrift den Typoskripten VA2/T1–T4 (VA2/TS1–TS3 und TS5) in einigem zeitlichen Abstand nachfolgte. Möglicherweise hat Horváth Bl. 2 erst im Laufe des Verfassens von Bl. 3 zu dem Strukturplan hinzugenommen; dies legt die Tatsache nahe, dass die Nummerierung „1.)“ auf Bl. 2 wahrscheinlich erst nachträglich eingefügt wurde, sowie die Paginae 1 und 2. Ebenfalls nachträglich korrigiert Horváth die Kapitelnummern 1 und 2 auf Bl. 3 zu 2 und 3. Kapitel zwei soll das Verhältnis des Protagonisten und seines Vaters zum Krieg zeigen, wobei hier erstmals der spätere Kapiteltitel „Der Vater aller Dinge“ fällt, denn der Sohn behauptet diesen Satz und beruft sich dabei auf einen „alte[n] Griechen“ (Bl. 3, Grundschicht). Gemeint ist Heraklit, von dem der Satz stammt. Der Vater, der seit der Gefangenschaft „Pazifist“ ist, kommentiert diesen Gewährsmann aber mit den Worten: „Auch Dein alter Grieche ist ein Tepp“ (ebd.). Als Beruf des Vaters wird hier „Kellner“ genannt, während der Sohn „Buchdrucker“ ist (vgl. VA2/TS1, TS3/Bl. 4, TS4, TS5/Bl. 4, Grundschicht und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6f. und 17). Erstmals notiert Horváth hier ein Lob der militärischen Disziplin und Ordnung: „In Reih und Glied. Nie allein.“ (Bl. 3, Grundschicht; vgl. TS3 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11) Zu Kapitel drei vermerkt Horváth die Liebe des Soldaten: Sie wird hier erstmals „Anna“ genannt und ist „Verkäuferin“ und nicht mehr „Kellnerin“ wie in einigen Entwürfen der beiden Vorarbeiten (Bl. 3; vgl. VA1/E6, VA2/E5 und E6; vgl. auch K1/E5, E6 und E9). Sie ist der einzige Mensch, der den Soldaten „liebt“: „Denn sein Vater mag ihn eigentlich nicht.“ (Bl. 3, Grundschicht) Damit hält Horváth schon an dieser Stelle den Konflikt zwischen Vater und Sohn fest, der für die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit so zentral sein wird (vgl. auch VA2/E9). Zu Anna vermerkt er weiters, dass sie immer an den Soldaten denkt: „Und zuerst mochte sie ihn doch nicht, aber dann ja. Sie lächelt oft, wenn sie an ihn denkt. Es ist ihr, wie eine heimliche Königin, sie hat ein heimliches Königreich –“ (Bl. 3). Mit einem nachträglichen Eintrag verweist Horváth diese Passage auf „später!!!!“. Das folgende Kapitel trägt neuerlich die Nummer 3, die Horváth nicht korrigiert. Hier notiert er noch einmal, wie stark Anna ihren Soldaten liebt. Kapitel vier soll zeigen, wo sich die beiden kennengelernt haben, nämlich auf einem „Rummelplatz“, „[v]or der Grottenbahn“ (vgl. das spätere Kapitel „Das verwunschene Schloss“, belegt ab E18, sowie das Volksstück Kasimir und Karoline, WA 4). Sie war vorher mit einem „Chauffeur“ verlobt: „Da wurde der Chauffeur arbeitslos und sie entzweiten sich.“ (Bl. 3; vgl. WA 4) Kapitel fünf, in dem erstmals der militärische Befehl „Angetreten!“ fällt (Bl. 4; vgl. TS5, E8,

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Konzeption 1

E9, E11–E14, E16 und E18), soll die Liebeshistorie des Soldaten nachtragen. Er hatte bisher drei Geliebte: „die Kellnerin“, „Traute“ (hierzu notiert Horváth: „Die Zweiteilung der Liebe“) und „Else, die reife Frau“ (Bl. 4; vgl. E7). Kapitel sechs zeigt den Soldaten und Anna „[a]uf der Bank“ (Bl. 4). Kapitel sieben soll ihr „heimliches Königreich“ (ebd.) genauer beleuchten. Hierher sollte wohl die Passage verschoben werden, die Horváth zum zweiten Kapitel notiert hatte. In Kapitel acht soll der Soldat gegenüber den Kameraden seine „Liebe“ verschweigen (vgl. ebd.). Kapitel neun soll die beiden wieder „auf der Bank“ zeigen, wobei es „regnet“ (Bl. 5). Kapitel zehn zeigt die Braut „allein“, wie sie darüber nachdenkt, wie sie mit ihrem Soldaten „im Bett“ liegen kann (ebd.). Kapitel elf soll die beiden dann in ein „billiges Stundenhotel“ bringen, wo sie „die Läden“ herunterlassen und „Nacht“ „spielen“ (Bl. 5). In Kapitel zwölf soll der Soldat „seine Liebe zu ihr“ merken, dabei soll man ihn „[g]ewandelt“ in „Kufstein, Tirol“ sehen (ebd.; vgl. E10). Kapitel dreizehn spielt „[b]ei der Wahrsagerin“ (Bl. 5; vgl. VA2/E8, K1/E6, E14/Bl. 11, E16/Bl. 8, E20, E24 und E26). Diese prophezeit ihm „Liebe“, aber auch „eine weite Reise“: „Und sie, das Mädel, wird auch eine weite Reise machen.“ (ebd.; vgl. E14/Bl. 11 und E26) In Kapitel vierzehn soll er zu seiner Braut kommen und ihr sagen, dass er wegmüsse: „Er darf das Land nicht nennen“ (Bl. 5; vgl. VA2/E6). In Kapitel fünfzehn soll das „Mädel“ von der „Revolution im Nachbarland“ hören und von den „Greuel[n]“ (Bl. 6; vgl. VA2/E5, K1/E14/Bl. 12, E21 und E24). Die Braut reagiert darauf jedoch mit Ignoranz: „Was geht das mich an? denkt sie. / Ich habe meine kleine Welt.“ (Bl. 6; vgl. anders in E23 und E24, wo Anna „die Menschlichkeit“ verteidigt) In Kapitel sechzehn schließlich soll sie ein „Kind“ (Bl. 6) kriegen (vgl. E11, E14/Bl. 11f., E16/Bl. 8, E18, TS9/Bl. 5, E21–E23, E25, E27 und E29). Es ist durchaus keine Seltenheit, dass Horváth relativ früh in der Werkgenese eine solche ausführliche Fassung skizziert, diese aber in der Folge wieder verwirft und gänzlich andere Abläufe entwirft (vgl. die folgenden Entwürfe von K1). H7 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1, 2, xy TS3 = fragm. Fassung mit Werktitel „Ein Soldat. Roman“ (Korrekturschicht) Druck (als Entwurf) in KW 14, S. 209–211.

Das vorliegende Blatt entstammt wie die vorhergehenden Blätter wiederum dem Konvolut von überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. den Kommentar zu VA1/TS8). In TS3 skizziert Horváth eine Fassung der ersten beiden Kapitel, die er mit dem Werktitel „Ein Soldat. Roman“ (vgl. E1 und E4) versieht. An diesem Blatt wird deutlich, wie sehr der Titel seines Romanprojekts für Horváth zu diesem Zeitpunkt noch unklar ist (vgl. zum Titel das Vorwort zu diesem Band, S. 3–5). Zunächst hatte er nämlich auf dem vorliegenden Blatt folgende Titel notiert: „Ein Soldatenroman“, „Ein Soldat in unserer Zeit“, „Ein Heldenleben“ und „Ich bin Soldat“, die aber alle gestrichen und schließlich durch den zunächst genannten Titel ersetzt werden. Im ersten Kapitel beschreibt Horváth den militärischen Alltag seines Soldaten (vgl. VA2/E8, K1/E8, E9 und E11–E14). Dabei verändert er den Eröffnungssatz und die Erzählform gegenüber den bisherigen Fassungen des ersten Kapitels (VA2/TS1–TS3, TS5 und K1/TS1). Horváth greift hier nämlich wie schon in einigen vorhergehenden Entwürfen und Textstufen (vgl. VA1/TS10, E17, E20, E21, E24, TS11–TS15, VA2/E5, E6 und E9) neuerlich zur Ich-Form. Der erste Satz lautet: „Ich bin Soldat.“

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Chronologisches Verzeichnis

Darunter notiert Horváth: „Und ich bin gerne Soldat“, was er aber wieder streicht. Die Fortsetzung sieht folgendermaßen aus: „Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, Frühling und Herbst, Sommer und Winter, obs regnet oder schneit, Tag und Nacht – immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen“ (vgl. TS2/Bl. 3). Vergleicht man damit die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, so erkennt man, dass Horváth bereits in TS3 ein paar Sätze und Formulierungen gefunden hat, die bis zur Endfassung erhalten bleiben (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 5). Auch der Beruf des Soldaten wird hier wieder erwähnt, er ist „Buchdruckerlehrling“ (vgl. VA2/TS3/Bl. 3, TS4 (Grundschicht), K1/TS2/Bl. 3 (Grundschicht) und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6f.), aber er hasst die Bücher. Nachträglich streicht Horváth diese Passage wieder und ersetzt sie durch: „Ich bin Gymnasiast.“ (vgl. VA1/E20) Und laut dem Wunsch des Vaters hätte er auf die „Universität“ (vgl. den „Student“ in VA1/TS4, TS5, E8, E9, TS6, E20, K2/E33, TS17 und E35) sollen, doch: „Als der Staabsarzt ‚Tauglich!‘ sagte, hätte ich ihn umarmen können. Ich ging nachhaus und schmiss meine Bücher in die Ecke. Dann holte ich sie hervor und verkaufte sie. Zuwas brauch ich Bücher? Was soll ich auf der Universität? Ein Arzt werden, der verhungert? Ein Chemiker? Ein Erfinder, der betrogen wird? / Nein! / Ich bin Soldat! / Jetzt hat mein Leben einen Sinn! Ja, ich bin 18 Jahre – geboren am 5. Nov. 1917. / Ich bin ein Kriegskind. / Aber ich kann mich an den Krieg nichtmehr erinnern.“ (vgl. VA1/TS2/Bl. 2, VA2/TS2, TS3/Bl. 4, TS5/Bl. 1 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16) TS3 wirkt auf den ersten Blick sehr ausgereift, aufgrund der Streichungen und Ersetzungen, die darin vorgenommen werden, ist aber doch davon auszugehen, dass sie eher früher im Laufe der Werkgenese anzusiedeln ist. T1 = ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 6, ÖLA 3/W 156 – BS 26 d [3], Bl. 1–3, ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 4–6 7 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, masch. Paginierung 1–7 TS4 = fragm. Fassung in 3 Kapiteln (nicht gedruckt) Druck von BS 26 d [3], Bl. 1–3 in: GW IV, S. 581–583. Druck von BS 26 d [5], Bl. 4–6 in: Horváth 1981, S. 241–243. Druck von BS 26 d [1], Bl. 6 in: KW 14, S. 152.

T2 = ÖLA 3/W 154 – BS 26 d [1], Bl. 5, ÖLA 3/W 156 – BS 26 d [3], Bl. 4, 5, ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 1–3, ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 3, (vgl. T6) 7 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1, 2 auf BS 26 d [3], Bl. 4, 5, masch. Paginierung 3 auf BS 26 i [3], Bl. 3, masch. Paginierung 4–6, hs. Paginierung 8–10 auf BS 26 d [5], Bl. 1–3, masch. Paginierung 7 auf BS 26 d [1], Bl. 5, TS5 = fragm. Fassung in 3 Kapiteln (Korrekturschicht) Druck von BS 26 d [5], Bl. 1–3 und BS 26 d [1], Bl. 5 (gemeinsam mit TS6 unter dem Titel „Der Vater aller Dinge“) in: Horváth 1975, S. 49–57.

Bei T1 handelt es sich um einen Durchschlag von T2, der jedoch eine weitreichende handschriftliche Korrekturschicht enthält, sodass dieser Textträger genetisch später zu verorten ist. Materiell gesehen weisen die beiden vorliegenden Typoskripte ein Naheverhältnis zu den Typoskripten von Vorarbeit 2 (VA2/TS1–TS3 und TS5) auf. Dennoch dürften sie vermutlich später anzusiedeln sein. Horváth nimmt darin zwar einige Motive von Vorarbeit 2 wieder auf und arbeitet sie in narrativer Form aus, den-

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Konzeption 1

noch lässt der Grad der Ausgereiftheit eine Platzierung in Konzeption 1 wahrscheinlicher erscheinen, insbesondere nach TS3, das in einigem TS4 schon vorwegnimmt. So ist etwa die Passage über den „Reif auf den Feldern“ dort schon vorgebildet und wird fast unverändert in TS4 übernommen. TS4 stellt gegenüber TS3, die nur ein oder maximal zwei Kapitel umfasst, eine Ausarbeitung von drei aufeinanderfolgenden Kapiteln dar, die die Titel „Der Soldat“, „Hoch in der Luft“ und „Abends im Dorf“ tragen. Die ersten beiden Kapitel sind als abgeschlossen zu betrachten, das letzte Kapitel bleibt indes fragmentarisch. Die Zusammengehörigkeit der drei Kapitel, die als getrennte Typoskripte in drei unterschiedlichen Mappen abgelegt wurden, wird vor allem durch die darauf eingetragenen maschinenschriftlichen Paginae 1–7 ersichtlich. Eine vergleichbare Kapitelabfolge findet sich jedoch in keinem der überlieferten Strukturpläne. Dennoch ist eine strukturelle Nähe etwa zu VA2/E5, E6 und E9 nicht von der Hand zu weisen. Das Kapitel „Hoch in der Luft“ wird etwa in VA2/E5 als eine Art Unterkapitel des ersten Kapitels „Die jüngste Truppe“ erwähnt. „Der Soldat“ bzw. „Als Soldat“ erscheint in VA2/E6, E7 und E9 als Titel des Eingangskapitels. Das „Dorf“ findet sich in keinem der erwähnten Strukturpläne. Immerhin wird jedoch in VA2/E5 der Ort „Kyritz“ erwähnt, wohl ein Dorf, das noch in der Korrekturschicht von TS5) eine Rolle spielt. Die Ich- bzw. Wir-Erzählform, die Horváth für diese Fassung wählt, geht auf VA1/TS10, E17,E20, E21, E24, TS11–TS15, VA2/E5, E6 und E9 sowie auf K1/TS3 zurück. In einigen Textstufen von VA2 hatte sich Horváth indes noch der Er-Form bedient (vgl. VA2/TS1–TS6). Inhaltlich gesehen, stellt TS4 eine Fassung dar, in der der Soldat vorgestellt und in seinem „[t]ägliche[n] Dienst“ (VA2/E8) gezeigt wird. Im zweiten Kapitel wird die Absturz-Szene geschildert, die seit VA2/E6 für das Romanprojekt vorgesehen ist und bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 23f.). Einige Details wie die „radfahrenden Mädchen“ (vgl. E13) sowie die schon fertig ausgearbeitete „Reif“-Passage legen eine etwas spätere Reihung nahe. Entgegen dem Strukturplan VA2/E9 ist es auch nicht der Ich-Erzähler, der abstürzt, sondern es sind zwei anonyme Flieger (vgl. VA2/E6 und E8). Erstmals wird in TS4 der „Hauptmann“ (BS 26 d [5], Bl. 4) erwähnt (vgl. E11). Er wird ab K2 zu einer der zentralen Figuren des Werkprojekts (vgl. etwa K2/E15, E19, E22 und E23). Das letzte Kapitel der Fassung beginnt mit den Worten: „Der abgestürzte Flieger blieb in meiner Seele.“ (BS 26 d [1], Bl. 6; vgl. VA2/E6, E8 und E9) In der Folge arbeitet Horváth die Idee der „Magie der Gedanken“ aus, was sich auf eine Passage auf BS 26 d [5], Bl. 6 bezieht, in der der Ich-Erzähler folgenden Gedanken hatte: „Komisch, hab ich nicht gerade gedacht: stürz ab!“ (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 24) Einer der Kameraden antwortet ihm auf die Frage, ob es eine „Magie der Gedanken“ gebe: „Ja, […] das ist schon möglich, dass wenn einer dem anderen was Böses wünscht, dass das in Erfüllung geht. Ich hab mal gelesen, dass man das die schwarze Magie nennt.“ Diese Passage geht nicht in die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit ein. Wann die Korrekturschicht von TS5 eingetragen wurde, lässt sich nur vermuten. In den folgenden Strukturplänen E8, E11–E14, E16 und E18 lautet das erste Kapitel „Angetreten!“, wie Horváth in TS5 aus „Der Soldat“ korrigiert. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die genannten Strukturpläne erst nach TS5 entstanden sind, da etwa in E8 in der „Reif“-Passage bereits wieder „stehen“ zu lesen ist, wie in TS5 in der Korrekturschicht hinzugefügt, statt des in der Fassung TS4 genannten „marschieren“. Außerdem entwickelt Horváth in diesen Entwürfen eine neue Strukturierung des Anfangskapitels, nämlich nach militärischen Kommandos (erstmals in E8), die in TS5 noch nicht reali-

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siert oder auch nur angedeutet ist. Weiters trägt Horváth in TS5 eine Reihe von Korrekturen ein, etwa das Motiv der „Stern[e]“, die der Soldat nach und nach verliehen bekommt (BS 26 d [3], Bl. 4; vgl. E14/Bl. 12 und TS9/Bl. 1). Zuletzt hält er ein paar Notizen fest, die sich in ganz ähnlicher Form vor allem in VA2/E5, aber auch in E6–E9 finden: „Die neuen Autos“, „Das Einfahren der Autos“, „Die Kellnerin in Kyritz“ (vgl. den Kommentar zu TS4), „Die grosse Parade“, „Das Land X“ und „Abschied vom Vater“. Die Nähe dieser Notizen zu den erwähnten Entwürfen von VA2 wäre ein Argument für die Platzierung von TS4 und TS5 in VA2, allerdings lässt die Titeländerung von TS5 eine Reihung in K1 wahrscheinlicher erscheinen. Die Korrektur der Paginae von BS 26 d [5], Bl. 1–3 wird erst zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen, als Horváth das „Hoch in der Luft“-Kapitel in ein andernorts ausgearbeitetes erstes Kapitel mit dem vorläufigen Titel „Angetreten!“ einfügt, der schließlich zu „Der Vater aller Dinge“ korrigiert wird (vgl. TS9). H8 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E7 = gestrichene Notizen mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ (links oben) E8 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Notizen (unten) E9 = Strukturplan in 6 Teilen mit Notizen (rechts oben)

Bl. 7 der Mappe BS 26 a [1] weist eine charakteristische Überlänge von 343 mm sowie das Wasserzeichen „Drei Sterne“ auf, eine Kombination, die auch Blätter der Mappen BS 16 b [1], BS 16 b [2], BS 26 a [1]–a [4] aufweisen (vgl. VA1 und VA2, insbesondere den Kommentar zu VA1/TS8). Eine zeitliche Nähe der Entstehung des vorliegenden Blattes und der anderen Blätter desselben Formats und Wasserzeichens ist unbedingt anzunehmen. Allerdings sind sie aufgrund unterschiedlicher Titel doch auf die beiden Vorarbeiten, K1 und K2 zu verteilen und wohl nicht alle unmittelbar nacheinander entstanden. In E7 vermerkt Horváth den erstmals in E3 erwähnten Titel „Ein Soldat seiner Zeit“ mit dem Gattungszusatz „Roman“. Darunter notiert er thematische Aspekte, die in dem Roman eine Rolle spielen und wohl in der notierten Reihenfolge aufeinanderfolgen sollten. Da Horváth zunächst eine Nr. 1 vermerkt, ist jedoch davon auszugehen, dass es sich um keine Kapiteltitel handelt. Die genannten Motive lauten: „Die Arbeitslosigkeit“, „Die Aussichtslosigkeit“, „Die Liebe“ und „Der Soldat“, wobei Horváth zur „Liebe“ noch notiert: „Erstes Erlebnis“, „Zweites Erlebnis“ und „Drittes Erlebnis“ (vgl. die drei Annas in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, K3/TS18/Horváth 1938b, S. 160). Eine solche Liebesaffärenfolge kennzeichnet nicht nur das Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg, sondern findet sich bereits in den Vorarbeiten des Werkprojekts Ein Kind unserer Zeit (vgl. VA1/E16, E17 und VA2/E2). Die „Arbeitslosigkeit“ und die „Aussichtslosigkeit“ finden sich ebenfalls schon in den Vorarbeiten (vgl. VA1/TS7, E15, E16 und VA2/E3), wobei sie teilweise auch als frei gewählte Arbeitslosigkeit und Landstreichertum erscheinen (vgl. VA1/E3, E5, TS7, E13–E16, TS10, E17, TS12, E21–E23 und TS13), und weisen voraus auf die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, wo diese Thematik eine gewichtige Rolle spielt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6f., 10f., 122–124, 126, 132 und 157). In E8 notiert Horváth einen Strukturplan vermutlich in sieben Kapiteln, die in diesem Fall nicht mit Kapitelnummern versehen sind. Eine gestrichene Kapitelnummer 1 lässt nicht erkennen, ob die folgenden Überschriften ebenfalls als Kapitel zu werten

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sind. Jedenfalls handelt es sich bei der Abfolge: „Angetreten!“, „Rechts um!“, „Links um!“, „Kehrt!“, „Zum Gebet!“, „Feuert!“ und „Sturmauf – marsch-marsch, hurrah!“ um eine neue Strukturidee (vgl. TS2/Bl. 4), die bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt, wo diese militärischen Befehle das Eröffnungskapitel „Der Vater aller Dinge“ strukturieren. Wie schon in vorhergehenden Entwürfen (vgl. E6; weiters VA2/E3 und E6–E9) sollte der Roman in E8 mit der Soldatenzeit des Helden einsetzen und – so lässt sich aus einer Randnotiz folgern – sein „ganzes bisheriges Leben. Die Arbeitslosigkeit, die Aussichtslosigkeit, die politische Wandlung, der Soldat und seine Freiheit“ retrospektiv erzählt werden. Ähnliches wird im bereits erwähnten Kapitel „Der Vater aller Dinge“ in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit geschehen, zu dem der vorliegende Entwurf E8 als veritable Vorstufe angesehen werden kann, da Horváth hier quasi die Erzählmethode für dieses Kapitel skizziert. In E7 und E8 werden gewissermaßen die beiden Vorarbeiten Die stille Revolution und Krieg ohne Kriegserklärung miteinander zu einem neuen Dritten, dem Roman Ein Soldat seiner Zeit, verschmolzen. In E9 greift der Autor bereits Bekanntes wieder auf. Er entwirft hier einen Strukturplan in sechs Kapiteln oder Teilen mit folgenden Titeln: „Die Kommandos“ (vgl. E8, E11–E14 und E16), „Die Kellnerin“ (vgl. VA1/E6, VA2/E5/Bl. 9, E6/K1/E14/Bl. 10 und E16/Bl. 8 und 9), „Über die Grenze“ (vgl. VA2/E5 und E6), „Das Mysterium der Front“ (vgl. VA1/TS5), „In Feindeshand (Gefangen)“ (vgl. VA2/E9 und K1/E10) und „Urlaub nachhaus“ (vgl. VA1/E6). Darunter notiert Horváth zwei weitere Kapiteltitel, die jedoch nicht mehr nummeriert sind: „Wieder an der Front“ und „Die Desertion“ (vgl. VA1/E20 und VA2/E9). Zum ersten Kapiteltitel „Die Kommandos“ vermerkt Horváth: „Unter den Kommandoworten Rekonstruktion seines bisherigen Lebens“, was schon in E8 angedeutet war und bis zur Endfassung des Eröffnungskapitels „Der Vater aller Dinge“ von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt (vgl. auch E16/Bl. 8). Zum zweiten Kapitel „Die Kellnerin“ vermerkt der Autor: „Die Nacht. Die Vision der Zerstörung Europas im Bett“. Zum sechsten Kapitel „Urlaub nachhaus“ (vgl. VA1/E6) notiert er: „Die Kellnerin ist tot. Er sucht sie überall“ (vgl. E16/Bl. 9). H9 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 15 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), dünn, schwarzblaue Tinte E10 = Strukturplan in 7 Teilen mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman in sieben Teilen“ mit Notizen

Die Papierqualität (vgl. VA2/E2, E3 und K1/E4–E6) und -größe legt es nahe, dieses Blatt aus der Folge der überlangen Blätter, die ansonsten großteils die Mappe BS 26 a [1] bilden, herauszulösen. Allerdings spricht doch einiges dafür, das Blatt an dieser Stelle zu platzieren. Horváth notiert darauf einen Strukturplan in sieben Teilen, den er mit dem Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit“ und dem Gattungstitel „Roman in sieben Teilen“ versieht. Der Autor verwendet damit wie vermutlich schon in E9 Teile für die Strukturierung seines Romans (vgl. auch E11). Da der Werktitel auf dem vorliegenden Blatt schon festzustehen scheint, ist davon auszugehen, dass der darauf befindliche Entwurf etwa in der Mitte von K1 zu platzieren ist. Die Folge der Teile sollte folgendermaßen aussehen: „Das Kriegskind“, „Anna, die Soldatenbraut“, „Die Flieger“, „In Feindeshand“, „Flucht“, „Heimkehr“ und „Erschlaget sie!“. Mit dem ersten Kapiteltitel verweist der Autor auf VA2/E1, aber auch auf K1/E4 und E5, wobei in diesem Fall nicht ganz klar ist, ob wirklich bei der Kindheit des Protagonisten einge-

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setzt oder aber nur auf seinen Status als „Kriegskind“ verwiesen werden sollte, wie dies auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit geschieht (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16). Mit dem zweiten Teiltitel „Anna, die Soldatenbraut“ nennt Horváth erstmals den Namen der Soldatenbraut, der bis zur Endfassung erhalten bleibt (vgl. auch E16/Bl. 8, E19–E21, E23, E24 und E27). Der dritte Teiltitel „Die Flieger“, ergänzt um die alternativen Titel „Ikarus“ und „Hoch in der Luft“, nimmt Motive von VA2/E5 und K1/TS5 wieder auf, würde also vielleicht für eine frühere Positionierung sprechen. Allerdings stellt der vierte Teiltitel „In Feindeshand“ den vorliegenden Entwurf wiederum in die Nähe von E9 und E14, bietet also weitere Argumente für solch eine späte Reihung. Teiltitel fünf „Flucht“ verweist zurück auf eine Menge von Entwürfen und Textstufen, in denen sich Flucht- und Desertionsmotive finden (vgl. VA1/TS11, E20, E21, VA2/E9 und K1/E9). Der sechste Teiltitel lautet zunächst „Heimkehr“, alternativ dazu notiert Horváth jedoch „Urlaub“ und den Zusatz „das Mädel ist tot“. Damit nimmt der Autor Motive wieder auf, die sich schon in vorhergehenden Entwürfen dieser Konzeption (vgl. E5–E7 und E9) und auch in späteren finden (E14, E16 und E20), die Liebeshandlung an sich geht jedoch auf die beiden Vorarbeiten und die frühen Entwürfe von Konzeption 1 zurück (vgl. VA1/E6, TS6, E15–E17, E23, E24, VA2/E1–E3, E5, E6, K1/E5–E7, TS2 und E9). Teiltitel sieben „Erschlaget sie!“ stellt eine Neuerung von E10 dar, die im neunten Kapiteltitel von E16/Bl. 9 und in E27 wiederaufgenommen wird. Da der Teiltitel durch keine Notizen ergänzt wird, bleibt er kryptisch, findet aber möglicherweise in den später mehrfach notierten Worten „Sie müssen weg!“, die sich auf die antihumanen, verbrecherischen Soldaten beziehen, ihre Erklärung (vgl. K2/E13, E22, E25 und E26). Eine Strukturierung in sieben Abschnitten findet sich zuhauf bei Horváth und taucht auch im weiteren Verlauf von Konzeption 1 wiederholt auf (vgl. E18, E21–E24 und E27–E29). In E12, E13, E19 und E20 kehrt Horváth allerdings kurzfristig zu einer größeren Struktur (in neun Teilen bzw. elf Kapiteln) zurück. H10 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 16 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1 E11 = Strukturplan in 6 Teilen

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In E11 arbeitet Horváth einen Strukturplan in sechs Teilen aus, die römische Ziffern tragen, weshalb es sich dabei wahrscheinlich nicht um Kapitel, sondern um größere Abschnitte handelt. Die Teilfolge lautet: „Angetreten!“, „Rechts um!“, „Links um!“, „Abzählen!“, „Weggetreten!“ und „Zum Gebet!“ (vgl. E8). Zum ersten Teil notiert er „Ich bin Soldat“ und ein Geburtsdatum: „9. Nov. 1915“ (vgl. VA1/TS9, VA2/TS1, TS2, Grundschicht, K1/TS2/Bl. 2, TS3 und TS5/BS 26 i [3], Bl. 3). Auch der „Hauptmann“, der die Front abschreitet, wird hier erwähnt (vgl. TS5/BS 26 d [3], Bl. 5 und E14/Bl. 10f.). Zum zweiten Teil vermerkt er: „Das bisherige Leben“ (vgl. E8 und E9): „Die Eltern – Vater und Mutter“ und „Der Onkel“ (vgl. VA2/TS3, TS4 und E5), was er aber wieder streicht. Außerdem notiert er hierzu wieder die „Kellnerin“, die schon in früheren Entwürfen und Textstufen vorgekommen war (vgl. VA1/E6, VA2/E5, E6, K1/TS2/Bl. 4, E9 und TS5/BS 26 d [1], Bl. 5). Zum dritten Teil notiert er: „Der Beruf. Die Strassenarbeit. Ich sehe ein freies Feld. Autos fahren. Das Gefängnis. (Das Gitter,

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die Soldaten) Die Trambahn.“ Im vierten Teil sollen sich die „Kameraden“ „[a]bzählen“. (vgl. E12 und E13) Der fünfte Teil soll den Soldaten mit seinem „Mädchen“ zeigen. Hierzu heißt es: „Ich habe ein Mädchen. / Ich weiss nicht, ob ich es liebe.“ (vgl. E13) Und: „Ein Flieger spannt mir das Mädel aus.“ (vgl. E13) Der sechste Teil schließlich sieht eine „Heldengedenkfeier“ vor (vgl. E13, E18 und E24), auch vom „Onkel“ ist hier neuerlich die Rede sowie von „neuen Götter[n]“ (vgl. E13) und vom „Mädchen“ und ihrem „Kind“ (vgl. E6, TS2/Bl. 6, E14/Bl. 11f., E16/Bl. 8, E18, E21–E23, E25, E27, E29 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 173f.). H11 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E12 = gestrichener Strukturplan in 11 Kapiteln mit Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ mit Notizen (links oben) E13 = Strukturplan in 9 Kapiteln mit Notizen (rechts und links unten)

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Bei den beiden Strukturplänen E12 und E13 handelt es sich vermutlich um die letzten Entwürfe, die unter dem Werktitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ stehen, der ja eigentlich der Werktitel von Vorarbeit 2 ist. Bl. 3 der Mappe BS 26 a [2] weist dieselbe Beschaffenheit (Blattgröße und Wasserzeichen) wie die Blätter der Mappe BS 26 a [4] auf, weshalb es durchaus auch so spät platziert werden kann, auch wenn einige Blätter dieser Mappe bereits in VA2 verortet wurden (andere finden sich indes erst in K2 und K3). Da der Ausreifungsgrad der beiden Strukturpläne ein sehr hoher ist, spricht einiges für eine solche späte Platzierung. Wie schon in E11 angedeutet, rückt in diesen beiden Strukturplänen der „Täglich[e] Dienst“ (vgl. VA2/E8) beim Militär in den Vordergrund der Handlung und bestimmt diese vollends. In E12 lautet die Kapitelfolge: „Angetreten!“, „Rechts um!“, „Links um!“, „Kehrt Euch!“, „Marsch-marsch!“, „Zum Gebet!“, „Die Parade“ (vgl. VA2/E7 und E8), „Weggetreten!“, „Abzählen!“, „Auf und nieder!“ und „Rapport“ und ist damit gegenüber E11 um fünf Kapitel erweitert. Bei den Kapiteltiteln handelt es sich wie dort um militärische Befehle (vgl. die in E8 und E9 erwähnten „Kommandos“), die das spätere erste Kapitel „Der Vater aller Dinge“ der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit strukturieren. Die Kapiteltitel stehen im Fall von E12 praktisch ohne Zusatz da. Nur bei den Kapiteltiteln sieben und neun finden sich Notizen. Zur „Parade“ vermerkt Horváth „Präsentiert das Gewehr!“ und zum „Abzählen“ die Ziffernfolge: „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 .....“ (vgl. E11). Die ersten vier Kapiteltitel von E13 sind identisch mit den entsprechenden Kapiteltiteln in E12: „Angetreten!“, „Rechts um!“, „Links um!“ und „Kehrt Euch!“. Dann gruppiert der Autor jedoch die Kapitelfolge um. Es folgen die Kapiteltitel „Abzählen!“, „Zum Gebet!“, „Die Parade“, „Weggetreten!“ und „In Stellung“. Zu Kapitel drei „Links um!“ notiert er die Replik: „Jetzt bin ich schon ein halbes Jahr dabei.“ Zu Kapitel vier vermerkt er: „Der Vater“, „die Eltern“ und „der Beruf“ (vgl. E11), womit angedeutet ist, dass hier die Vater-Sohn-Problematik offensichtlich retrospektiv (vgl. E8 und E9) behandelt werden soll (vgl. das Kapitel „Der Vater aller Dinge“ im Roman Ein Kind unserer Zeit), und dass die Berufswahl unmittelbar mit den Eltern zusammenhängt (vgl. ebd. und VA1/TS12). Zu Kapitel fünf, das nun „Abzählen!“ betitelt ist, notiert Horváth neuerlich die Ziffernfolge von E11 und E12. Kapitel sechs, „Zum

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Gebet!“, beinhaltet die Notizen: „Die neuen Götter“, „Feldmesse“, „Keiner glaubt mehr, nur einer, der Nummer 4“ und „Es sind neue Götter entstanden: Blut, Boden, Nation“ (vgl. E11), womit Horváth neuerlich auf den politischen Hintergrund seines Romanprojekts verweist (vgl. TS1). Außerdem finden sich hier die Notizen: „Heldengedenkfeier“ (vgl. E11, E18 und E24), „Der Onkel“ (vgl. VA2/TS3, TS4, E5 und K1/E11) und „Die Eisenbahn“. Zu Kapitel acht „Weggetreten!“ notiert Horváth: „Ich habe ein Mädchen. Ich weiß nicht, ob ich es liebe. Sie liebt mich auch nicht. Sie hats auch mit einem Flieger. Der Flieger spannt sie mir aus.“ (vgl. E11) Damit rekurriert Horváth auf die Liebeshandlung, die von den Vorarbeiten an das Werkprojekt Krieg ohne Kriegserklärung begleitet (vgl. VA1/E6, TS6, E15–E17, E23, E24, VA2/E1–E3, E5, E6, K1/E5–E7, TS2 und E9–E11) und die auch im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit eine zentrale Rolle spielen wird, und zwar durch die Figuren der Witwe des Hauptmanns und durch diejenige von „Anna, [der] Soldatenbraut“. Das letzte Kapitel „In Stellung“ enthält die Notizen: „Die beiden radfahrenden Mädchen“ und „Der abstürzende F[lieger]“ (vgl. VA2/E6–E9, K1/TS5/BS 26 d [5], Bl. 1–3 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 23f.). H12 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 10–12 3 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1–3 E14 = Strukturplan in 19 Kapiteln mit Notizen, einer Dialogskizze und Repliken (Bl. 10–12) E15 = Strukturplan in 3 Kapiteln mit Notizen (Bl. 11, mittig)

Die Blätter BS 16 a [4], Bl. 10 bis 12 sind Teil des Konvoluts von überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7) und weisen eine handschriftliche Paginierung auf, wodurch sie leicht als zusammengehörig erkennbar sind. In E14 skizziert Horváth einen umfassenden Strukturplan in neunzehn Kapiteln, wobei er zu Kapitel vier „Abzählen!“ eine größere Textpassage ausarbeitet, die von Duktus und Stil schon an den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit, besonders an dessen erstes Kapitel „Der Vater aller Dinge“, erinnert (vgl. den Kommentar zu E8 und E9). Die Kapitelfolge von E14 lautet: „Angetreten!“, „Rechts um!“, „Links um!“, „Abzählen!“, „Zum Gebet“, „Weggetreten!“, „In der Stellung“, „Das Land X“, „Abschied vom Mädchen“, „Bei der Wahrsagerin“, „Abschied vom Vater“, „Der betrunkene Arbeiter, der uns Soldaten anstänkert. Er spricht vom Nachbarland“, „Das Mädchen verliert ihre Stellung, weil sie in der Hoffnung ist“, „Im Feindesland“, „Ich besuche sie, Urlaub vom Feld“, „Das Mädel ist tot“, „Friedhof“, „Wo ist das Kind?“ und „Wieder zurück ins Feld“. Die ersten sieben Kapiteltitel entsprechen dabei weitgehend K1/E8 und E11–E13. Die folgenden Kapiteltitel erinnern vor allem an den Strukturplan VA2/E5, wo sich Titel wie „Die Kellnerin“, „Der Abschied von der Familie“, „Der Abschied von der Kellnerin“ und „Das Land X“ finden. In E14 geht Horváth jedoch letztlich über alle genannten Entwürfe hinaus. Zu Kapitel vier „Abzählen!“ notiert er eine längere narrative Textpassage. In ihr werden die Soldaten gemäß dem Titel abgezählt bzw. zählen sich selbst ab. Der die Abzählung durchführende Feldwebel erscheint als harter, unbarmherziger Militarist. Zu einzelnen Soldaten sind Charaktereigenschaften vermerkt. Nummer sechs gilt als „schüchtern“: „Er ist ein Student. Er ist blass.“ Dennoch soll er ein Verhältnis mit einer „Kellnerin“ (vgl. VA1/E6, VA2/E5, E6 und K1/E16/Bl. 8) gehabt haben und dabei „eine Sau“ gewesen sein: „Was der alles verlangt hat!“ Der Ich-Erzähler hat deshalb kein Vertrauen mehr zu „Nummer 6“. Er zieht ihm „Nummer 5“ und vor allem „Num-

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mer 8“ vor. Horváth notiert hierzu zwei Namen: „Woditschka. = (Christian)“ und „Der Leutnant = Hodschi“, die keine weitere Verwendung finden. Damit brechen die Notizen zu Kapitel vier ab. Zum sechsten Kapitel „Weggetreten!“ vermerkt Horváth: „Wir haben Ausgang. Ich – oder der Nummer 5 – hat ein Mädchen.“ (Bl. 11) Damit nimmt er die bereits seit den frühen Entwürfen virulente Liebesthematik wieder auf (vgl. VA1/E6, TS6, E15–E17, E23, E24, VA2/E1–E3, E5, E6, K1/E5–E7, TS2, E9, E10, E11 und E13). Kapitel sechs „In der Stellung“ mit dem Zusatz „Der abgestürzte Flieger“ (vgl. VA2/E6–E9 und K1/TS5/BS 26 d [5], Bl. 1–3) wird zunächst wieder gestrichen, dann aber mit Fragezeichen versehen, bleibt also in gewisser Weise aktuell. Das achte Kapitel lautet zunächst „Bei der Wahrsagerin“ (vgl. VA2/E9, K1/E6, TS2/Bl. 5, E16/Bl. 8, E20, E24 und E26), anschließend schiebt Horváth jedoch mittels Pfeil das ursprünglich neunte Kapitel „Das Land X“ sowie das Kapitel „Abschied vom Mädchen“ an die achte und neunte Stelle, wodurch die „Wahrsagerin“ auf Platz zehn landet. Zu ihr vermerkt der Autor eine ganze Reihe von Notizen und eine Dialogskizze, in der der Ich-Erzähler die Wahrsagerin befragt, ob er der Vater des Kindes sei, das das Mädchen bekommt, was sie bejaht; darauf er: „Und ich soll den Dreck glauben?!“ Zuletzt erklärt sie ihm, dass in den Karten noch „was wichtigeres drinn“ steht: „Sie werden eine Reise machen, eine weite Reise – es gibt Krieg.“ Bereits im Stück Sladek oder Die schwarze Armee (1928) kommt eine Handleserin vor, die Sladek sagt: „Sie fahren bald fort, das steht ganz deutlich da“. (KW 2, S. 89) Der Autor selbst erfuhr bei einem Wahrsager wenige Wochen vor seinem Tod: „Sie werden sich auf eine Reise begeben, auf der Sie das größte Erlebnis Ihres Lebens haben werden.“ (zit. nach Krischke 1998, S. 269; vgl. das Vorwort zu diesem Band, S. 8) Bekanntlich ist Horváth auf einer Reise nach Paris am 1. Juni 1938 auf den Champs-Elysées einem herunterstürzenden Ast zum Opfer gefallen, auch eine Art „größtes Erlebnis“. Dass er eine ähnliche Prophezeiung bereits in die Entwurfsblätter zu Ein Soldat seiner Zeit einarbeitet, mutet gespenstisch an. Zum achten Kapitel „Das Land X“ notiert er „Die sieben Todsünden“ (Bl. 11), womit er andeutet, dass er seinen Roman neuerlich mit religiösen Themen zu unterfüttern beabsichtigt (vgl. den kurz zuvor entstandenen Roman Jugend ohne Gott sowie das ebenfalls 1937 fertiggestellte Schauspiel Der jüngste Tag). Kapitel zwölf soll einen „betrunkene[n] Arbeiter“ zeigen, „der uns Soldaten anstänkert“ (Bl. 12): „Er spricht vom Nachbarland.“ (vgl. VA2/E5, E9 und K1/TS2/Bl. 6) Zum Mädchen heißt es in Kapitel dreizehn: „Das Mädchen verliert ihre Stellung, weil sie in der Hoffnung ist.“ (Bl. 12; vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 173f.) Eine weitere Notiz lautet neuerlich „Die sieben Todsünden“ und verweist auf den „Bolschewismus“ und „Das Unrecht“, Themen, die bis in die Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit eine wichtige Rolle spielen und ebenfalls auf die beiden Vorarbeiten zurückgehen (vgl. VA1/TS6–TS8, E13–E17, E21, TS13 und VA2/E3). Weiters notiert der Autor hierzu: „In unseren Zeitungen stand seit längerer Zeit, dass in diesem Land X Terror herrsche, Kirchen würden angezündet, etc. Nonnen verbrannt. (Die Greuel) Wir freuten uns, dass es bei uns nicht so ist.“ (Bl. 12; vgl. VA2/E5) Den Gegensatz zwischen zwei Ländern behält Horváth bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit bei (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46–50). Kapitel vierzehn lautet: „Im Feindesland“. Hierzu notiert Horváth: „Der zweite Stern“, „Der dritte Stern“ und „Am Kragen“. Damit nimmt der Autor eine Motivkette vorweg, die in einer späteren Textstufe eine wichtige Rolle spielt (vgl. TS9/BS 26 d [4], Bl. 7) und bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit bedeutsam ist (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6, 26, 33, 38, 57, 68, 87,

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109 etc.). Zum fünfzehnten Kapitel vermerkt der Autor: „Ich besuche sie, Urlaub vom Feld.“ (vgl. VA1/E6 und K1/E10) Darunter zwei weitere Kapiteltitel: „Das Mädel ist tot.“ (vgl. E10) Und „Friedhof“ (vgl. K2/E6/Bl. 15, E14, E16, E17 und E27). In einer Randnotiz ist zu lesen: „Suche nach ihr, Don Juan-Motiv“ (vgl. K2/E6/Bl. 13). Damit legt Horváth eine Interpretationsfährte und stellt sein Romanprojekt selbst in den Kontext des 1934–1936 entstandenen düsteren Schauspiels Don Juan kommt aus dem Krieg. Mit dem Don Juan-Motiv ist gemeint, dass Don Juan in allen Frauen nach seiner verlorenen Braut sucht (vgl. etwa WA 9/K1/E1). Ähnliches sollte also auch dem Ich-Erzähler in Ein Kind unserer Zeit widerfahren. Tatsächlich sucht dieser nach seiner Entlassung aus dem Heer nach seiner „Soldatenbraut“, die er im „verwunschenen Schloss“ kennengelernt hatte. Allerdings war sie wahrscheinlich nie wirklich seine Braut gewesen (vgl. die Kapitel „Das verwunschene Schloss“ und „Anna, die Soldatenbraut“). Das achtzehnte Kapitel des Strukturplans E14 ist der Suche nach dem „Kind“ gewidmet: In einer „Kinderbewahranstalt“ hängt das „Bild des Führers an der Wand“, womit Horváth sein Geschehen eindeutig politisch verortet, mit einer Eindeutigkeit, die dem späteren Roman Ein Kind unserer Zeit fehlen wird, der ähnlich abstrakt – und damit polyvalent – ist wie sein Vorgängerroman Jugend ohne Gott. Das neunzehnte und letzte Kapitel trägt den Titel „Wieder zurück ins Feld“ (vgl. E16/Bl. 9, wo das letzte Kapitel den Titel „Wieder beim Oberkommando“ trägt), womit Horváth den Roman noch gänzlich anders enden lassen wollte, als er dies in späteren Entwürfen (vgl. etwa E18–E24 und E27–E29) tun wird, wo meist Kapitel mit den Titeln „Der Schneemann“ oder „Im Nebel der Zukunft“ den Abschluss bilden. Diese weisen schon voraus auf die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, wo der Soldat als Krüppel aus dem Heer entlassen wird, dann wieder arbeitslos bei seinem Vater lebt, schließlich im Park eingeschneit wird und als „Schneemann“ den Kältetod stirbt. In E15, den Horváth auf Bl. 11 mittig notiert, skizziert er einen Strukturplan in drei (nummerierten) Kapiteln mit der Kapitelfolge: „Im Gasthof“, „Bei dem Mädchen“ und „Das Gespräch mit dem Flieger“. Zum Gasthof-Kapitel findet sich die Notiz: „Das Gespräch über das Kind. Was soll man tun?“ (vgl. E14/Bl. 11) Zum dritten Kapitel vermerkt er zum „Flieger“ „ein Student“ und „der Kavalier“ sowie die Replik des Kavaliers: „Jawohl, Kamerad. Ich war mit ihr beisammen!“ T3 = ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 1–7 (vgl. T6) 7 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1–7 TS6 = fragm. Fassung des Kapitels „Angetreten!“ (nicht gedruckt) Druck (gemeinsam mit T5 unter dem Titel „Der Vater aller Dinge“) in: Horváth 1975, S. 48–57.

In TS6 arbeitet Horváth eine Fassung des ersten Kapitels aus, die in einigen Details an TS5 erinnert, vor allem die bereits mehrfach genannte „Reif“-Passage ist praktisch identisch, wobei die handschriftliche Korrektur von TS5 („stehen“ statt „marschieren“) in TS6 die maschinenschriftliche Grundschicht bildet, was die vorgenommene Reihung dieser Typoskripte untermauert. Dass der Soldat am liebsten „Bauer“ geworden wäre, findet sich bereits in TS3 und TS5/BS 26 d [3], Bl. 4. Die Geschichte mit der Soldatenbraut, die hier erstmals und, mit Ausnahme einer weiteren Erwähnung (TS9), das einzige Mal in diesem Werkprojekt Kitty heißt (vgl. die Figur der Kitty in den Werkprojekten Der Lenz ist da!, einer Vorarbeit von Jugend ohne Gott, WA 15, und Figaro läßt sich scheiden, WA 8) und geschwängert wird, wobei nicht klar ist, von

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Konzeption 1

wem das Kind ist, da sie mit vielen Soldaten Kontakt hatte, wird von Horváth in E16 wiederaufgenommen, dann aber fallengelassen (vgl. den Kommentar zu TS9). Der am Blattende von Bl. 7 notierte „abstürzende Flieger“ geht auf VA2/E6 zurück und findet sich zuletzt in K1/E13. Dieses Motiv wird in TS9 durch die Hinzunahme des Kapitels „Hoch in der Luft“ von TS4 realisiert. Die ebenfalls auf Bl. 7 notierten „neuen Götter“ gehen auf E11 und E13 zurück. Auch der hier erwähnte „Onkel“ findet sich in früheren Entwürfen (vgl. VA2/TS3, TS4, E5, K1/E11 und E13), soll aber laut TS6 „gefalle[n]“ (Bl. 7) sein, was ein Novum darstellt. Insgesamt weist die Fassung bereits einige Ähnlichkeit mit dem definitiven ersten Kapitel „Der Vater aller Dinge“ der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit auf, vor allem die Beschreibung der unterschiedlichen militärischen Charaktere und die Strukturierung dieses ersten Kapitels durch militärische Kommandos (vgl. E8, E9, E11–E14 und E16) weist schon auf dieses voraus. H13 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 8, 9 2 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E16 = Strukturplan in 9 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit einer Dialogskizze, Notizen und Repliken (Bl. 8 und 9) E17 = fragm. Strukturplan in 3 Kapiteln (Bl. 9, oben) Druck in: KW 14, S. 214f.

Die vorliegenden Bl. 8 und 9 weisen wieder die charakteristische Überlänge von 343 mm und das Wasserzeichen „Drei Sterne“ auf und gehören zu einem Konvolut von Blättern, die sich auf die beiden Vorarbeiten und die Konzeptionen 1 und 2 des Werkprojekts Ein Kind unserer Zeit verteilen (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Der Werktitel, den Horváth in E16 notiert, lautet zunächst: „Ein Soldat seiner Zeit“, wird dann zu „Ein Mensch seiner Zeit“ korrigiert, schließlich aber wieder zu „Ein Soldat seiner Zeit“ (vgl. E3, E5, E7 und E10) rückkorrigiert. Damit erwägt der Autor kurzfristig, den Titel seines Romanprojekts noch allgemeiner zu fassen, wie er dies schließlich mit dem von seinem Lektor Walter Landauer angeregten Titel Ein Kind unserer Zeit tun wird (vgl. dazu das Vorwort zu diesem Band, S. 3–5). Auf den beiden Blättern 8 und 9 vermerkt Horváth zunächst einen ausführlichen Strukturplan in neun Kapiteln (E16), den er mit einer Dialogskizze und zahlreichen Notizen und Repliken versieht. Die Kapitelfolge lautet: „Die Kommandos / Angetreten!“, „Die Kellnerin / Anna, die Soldatenbraut“, „Über die Grenze / Krieg ohne Kriegserklärung“, „Verprügelt“, „Das Geschäft“, „Der Bonze“, „Wieder beim Oberkommando / Gespenster“, „Heimat“ und „Wieder beim Oberkommando / Nebel“. Im ersten Kapitel nimmt Horváth die „Kommandos“ von E9 wieder auf und die in E8 erstmals angedeutete und in E9 formulierte Idee, während der militärischen Kommandos sein „bisheriges Leben“ (E8) Revue passieren zu lassen, wird in E16 neuerlich vermerkt: „Unter den Kommandoworten Rekonstruktion seines bisherigen Lebens“, ein Zusatz lautet: „sozialen Lebens, ausser der Liebe“. Mit dem alternativ notierten Kapiteltitel „Angetreten!“ schließt der Autor an E8 und E11–E14 an. Das zweite Kapitel sollte zunächst „Die Kellnerin“ betitelt sein (vgl. VA1/E6, VA2/E5, E6 und K1/E9), alternativ dazu notiert Horváth aber wie schon in E10 den Titel „Anna, die Soldatenbraut“, der sich in späteren Strukturplänen (vgl. E19, E20, E24 und E27) und noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (dort Kap. 10) findet. Wieder geht es hier um eine Schwangerschaft, für die niemand die Verantwortung übernehmen will, im spe-

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Chronologisches Verzeichnis

ziellen Fall handelt es sich hier um vier potentielle Väter, von denen jedoch keiner für das Kind „zahlen“ will (vgl. E14/Bl. 11f. und TS6). Eine zusätzliche Notiz verweist darauf, dass Horváth in diesem Kapitel alle früheren „Liebesverhältnisse“ seines IchErzählers retrospektiv berichten will, die ja im ersten Kapitel bei der Rekapitulation seines „bisherigen Lebens“ ausgespart wurden (vgl. E7). Eine weitere Notiz „Die Wahrsagerin“ verweist zurück auf E6 und E14/Bl. 11 sowie auf VA2/E8 (vgl. auch K1/TS2/Bl. 5, E20, E24 und E26). Die bereits in E9 erwähnten „Visionen der Zerstörung Europas im Bett“ erfahren hier eine Erläuterung. Der Ich-Erzähler soll diese Vision(en) haben, während sich seine Geliebte, die Kellnerin bzw. Anna, auszieht. Neuerlich wird hier der „Hauptmann“ erwähnt (vgl. TS5/BS 26 d [5], Bl. 1–3, E11 und Kap. 3 von Ein Kind unserer Zeit). Er mokiert sich über die „sonderbare[n] Kavaliere“ (vgl. E15), die seine Soldaten darstellen, da sie nicht für das Kind der Kellnerin/Annas zahlen wollen; der Hauptmann wird also schon, wie später im Roman Ein Kind unserer Zeit, als Edelmann dargestellt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11 und 134f.). Eine nachträglich hinzugefügte Notiz lautet: „Die Autos, die eingefahren werden müssen“ und verweist auf VA2/E5 und K1/TS5/BS 26 d [1], Bl. 5, mit denen der vorliegende Entwurf offensichtlich in engem Zusammenhang steht. Kapitel drei, das zunächst den Titel „Über die Grenze“ trägt, wird dann mit „Krieg ohne Kriegserklärung“ überschrieben (vgl. VA2/E4, E5/Bl. 9, E6, E9 und K1/E12). Beide Kapiteltitel lassen vermuten, dass hier der kriegerische Einfall in das Nachbarland stattfinden soll (vgl. VA1/E25, VA2/E5/Bl. 10 und E9), der noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine Rolle spielen wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46–48). Der vierte Kapiteltitel „Verprügelt“ ist eine Novität, zunächst war hier jedoch „In der Gefangenschaft“ gestanden (vgl. VA2/E9). Eine zusätzliche Notiz lautet: „Der fremde Kommissär: Das Geschäft“. Zu Kapitel 5 notiert Horváth zunächst den Titel: „Verwundet zurück“, dann „Der Bonze“, dann „Das Geschäft“. Damit erwähnt Horváth erstmals jene Figur, die in der Folge in den Liliputaner transformiert wird (vgl. E27 und den „Götze[n]“ in VA2/E6) und bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt (vgl. das Kap. „Im Reiche des Liliputaners“). Zwei weitere Notizen lauten: „Beim Oberkommando. Als Adjutant, der sonderbare Gespräche mitanhört“ und „Der Nationalismus zerbricht, ich werde reiner Geschäftsmann, ich gehöre dazu“. Dies stellt eine Neuerung gegenüber den vorhergehenden Entwürfen und Textstufen dar, soll der Ich-Erzähler doch im vorliegenden Entwurf E16 wieder ins zivile Leben integriert werden. Ähnliches ereignet sich auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, auch dort wird der Ich-Erzähler nach seiner Verwundung aus dem Heer relegiert, ist aber nicht mehr ins zivile Leben integrierbar und stirbt deshalb den Kältetod im Schnee. Kapitel sechs trägt zunächst den Titel „Urlaub in der Heimat“ (vgl. VA2/E6, K1/E9 und E10), wird dann jedoch zu „Der Bonze“ korrigiert. Hierzu vermerkt der Autor vorerst „Bei der Kellnerin“, streicht dies aber wieder und notiert stattdessen: „In der Gesellschaft mit Künstlerinnen; bei der Kellnerin. Die Visionen der Zerstörung Europas im Bett. Die Visionen, während sie sich auszieht“ – ein Zusatz lautet: „Von Punkt 2“ und verweist auf die dort bereits festgehaltenen ähnlichen Notizen. Kapitel sieben ist „Wieder beim Oberkommando“ betitelt, alternativ dazu notiert Horváth: „Gespenster“. Weitere Notizen lauten: „Auch der Geschäftsmann zerbricht“ und „Der Bonze zerbricht an der Liebe“. Dazu ein Zusatz, der den zweiten Titel erklärt: „Das Schloss mit den Gespenstern. Er desertiert zur Kellnerin“. Man ist hier an das „Spukzimmer“ erinnert, das Horváth zur Zeit der Niederschrift des Romans

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Konzeption 1

Jugend ohne Gott im Henndorfer Gasthaus „Bräu“ bewohnte (vgl. das Vorwort zu Jugend ohne Gott in WA 15, S. 2). Das Verb „desertiert“ verweist zurück auf VA1/E20, VA2/E9 und K1/E9, wo ebenfalls vorgesehen ist, dass der Soldat desertiert. Kapitel acht trägt den Titel „In der Heimat“, den Horváth mehrfach überarbeitet. Zu ihm notiert er: „Suche nach der Kellnerin. Am Grabe“ (vgl. E9 und E14/Bl. 12, wo dies als „Don Juan-Motiv“ bezeichnet wird, womit Horváth selbst den Bezug zum Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg von 1936 herstellt; vgl. auch E21, K2/E6/Bl. 13, E14, E16, E17 und E27, wo Horváth jeweils für eines der letzten Kapitel einen Besuch am „Grab“ vorsieht). Kapiteltitel neun lautet zunächst: „Wieder beim Oberkommando“, wird dann jedoch zu: „Im Nebel“ (vgl. VA2/E9) korrigiert; dieser Titel wird meist in Form der Wendung „Im Nebel der Zukunft“ im weiteren Verlauf von K1 und in K2 eine wichtige Rolle spielen (vgl. K1/E17, E19, E20, E22, E24, E25, E27–E29, K2/E10–E12, E14, E16, E22, E25, E26, E32/Bl. 4 und E39) und bleibt als Idee bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 195). Zum Kapitel „Im Nebel“ notiert Horváth in E16: „Er kommt zurück und wird eingesperrt. Der Hauptmann lässt ihn frei“. Auch hier verweist der Autor wieder auf den Begriff der „Desertion“ und vermerkt dazu die Notiz: „Die müssen weg!“ und „Ich kenne sie nicht. Aber sie müssen weg. Ich kann ihre Gesichter nicht sehen. Vielleicht denken sie wie ich, aber sie verfolgen mich. Sie müssen weg!“ (vgl. den Kommentar zu E10 sowie K2/E13, E22, E25 und E26) In E17, der auf Bl. 9 nachträglich hinzugefügt wurde, skizziert Horváth einen fragmentarischen Strukturplan in drei Kapiteln für die Kapitel fünf bis sieben mit der Kapitelfolge: „Der Bonze“, „Gespenster“ und „Nebel“. Es dürfte sich dabei um eine Revision des vorhergehenden Strukturplans E16 handeln, den der Autor dementsprechend modifiziert und von neun auf sieben Kapitel verkürzt. Die Kapiteltitel sind im vorhergehenden Strukturplan allesamt schon enthalten und bilden dort die Kapitel sechs, sieben und neun. T4 = ÖLA 3/W 159 – BS 26 d [6], Bl. 3, 4 2 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, Paginierung 1, 2 TS7 = fragm. Fassung des Kapitels „Anna, die Soldatenbraut“ (nicht gedruckt) Druck in: GW IV, S. 583f.

T5 = ÖLA 3/W 159 – BS 26 d [6], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 1, 2 TS8 = fragm. Fassung des Kapitels „Anna, die Soldatenbraut“ (Korrekturschicht)

T4 ist ein Durchschlag von T5, der handschriftliche Überarbeitungen enthält, die als Korrekturschicht genetisch nach der Grundschicht von T4 zu platzieren sind. Ein Kapitel mit dem Titel „Anna, die Soldatenbraut“ ist seit E10 belegt. In E16/Bl. 8 wird es neuerlich erwähnt, und zwar als zweites von neun Kapiteln, und scheint von da an in K1 mehrfach auf (vgl. E19, E20 und E24). Gegen Ende der Konzeption wird es zu dem Titel „Die Ballade von der grossen Liebe“ (E27, wo es allerdings daneben auch ein Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ gibt) und „Die Ballade von der Soldatenbraut“ (E28 und E29) variiert, der sich auch in der Frühphase von Konzeption 2 findet (vgl. K2/E1, E5, E6, E9, TS4 und E10–E13). Doch auch der Titel „Anna, die Soldatenbraut“ taucht hier noch einmal auf (vgl. K2/E4). Das ursprünglich am Beginn des Ro-

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mans geplante Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ wird ab E18 durch das Kapitel „Das verwunschene Schloss“ ersetzt, in dem der Soldat von da an seine Braut kennenlernen soll, die nicht mehr „Kellnerin“ ist wie in VA2 (VA2/E5 und E6) und den frühen Entwürfen von K1 (E9 und E16), sondern Kassierin beim verwunschenen Schloss (vgl. E22, E23, E27 und K2/E2). In TS8 wollen der Soldat und Anna ins Kino gehen, aber sie verpassen den Beginn der Vorstellung, weil die Uhr des Soldaten „nachgeht“ (Bl. 1), weshalb Anna sehr bös auf ihn ist. Anna ist „Kellnerin im Hotel zur Stadt Paris“ (vgl. K3/E6) wie später der Vater des Ich-Erzählers (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 114). Zuletzt findet sich in TS8 die Reif-Passage: „Ich bin nämlich Soldat. Und ich bin gerne Soldat. / Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt […]“ (Bl. 2; vgl. TS3, TS5/Bl. 4 und E8). H14 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 17 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E18 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit Notizen

Bei dem vorliegenden Blatt handelt es sich wieder um eines aus dem Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“. Von einem entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang dieser Blätter ist unbedingt auszugehen (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Im vorliegenden Entwurf E18 notiert Horváth einen Strukturplan in sieben Kapiteln, der folgende Kapitelfolge aufweist: „Angetreten!“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Vater aller Dinge“, „Der Bonze“, „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“, „Eine irrende Seele“ und „Der Schneemann“. Damit stellt dieser Strukturplan eine wesentliche Weiterentwicklung gegenüber den vorhergehenden Strukturplänen dar und weist schon mit einigen Kapiteltiteln eindeutig auf den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit voraus, etwa mit: „Das verwunschene Schloss“, „Der Vater aller Dinge“ und mit dem Schlusskapitel „Der Schneemann“, das bereits den atmosphärischen Hintergrund des Romans, und insbesondere des Schlusskapitels, andeutet. Dabei wollte Horváth den Kapiteltitel „Der Vater aller Dinge“ zunächst sogar schon ins erste Kapitel setzen, wie dies im Roman der Fall sein wird. Dann ersetzt er ihn jedoch durch „Angetreten!“ (vgl. E8, E11–E14 und E16) und verschiebt den „Vater aller Dinge“ in das dritte Kapitel. Zu diesem notiert er: „Ganz sachlich berichtet über die furchtbarsten Dinge; wie ein Brief“. Das Kapitel „Der Bonze“ findet sich seit E16/Bl. 9; in VA2/E6 findet sich ein „Götze“, der damit in Zusammenhang stehen könnte. Wahrscheinlich weist der Kapiteltitel „Der Bonze“ auf den Liliputaner im Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ in Ein Kind unserer Zeit voraus (vgl. E27 und E28). Dazu notiert Horváth, dass das Mädchen des Ich-Erzählers sein Kind „abgetrieben“ habe und dass es in den „Abort“ gekommen sei (vgl. E21, E25 und E27). Als Grund dafür wird Geldmangel genannt. Das Abtreibungsmotiv findet sich noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 175) genauso wie im ein Jahr früher fertiggestellten Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg (1936) (vgl. WA 9/K5/TS10/A11/BS 19 a, Bl. 32). Die Liebeshandlung spielt im vorliegenden Entwurf E18 eine wichtige Rolle; die zu Kapitel vier vermerkte Notiz: „Und wir schlafen nur nebeneinander. Und ich möchte immer neben ihr schlafen.“ verweist auf eine starke emotionale Bindung, die schon in den Vorarbeiten angedeutet ist (vgl. VA1/E6, TS6, E15–E17, E23, E24, VA2/E1, E2, E5 und E6) und bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (vgl. die Kapitel „Das verwun-

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Konzeption 1

schene Schloss“ und „Anna, die Soldatenbraut“) erhalten bleibt. Die „Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“ gehen auf E9 zurück (vgl. auch E16/Bl. 8); es handelt sich dabei wohl um die Idee einer Verquickung von Eros und Tod. Horváth notiert hierzu auch: „Heldengedenkfeier“ (vgl. E11, E13 und E24) und: „Ich sehe dabei aber auch die hingeschlachteten Frauen – – und jetzt kommen die Tiere. / Es kommt eine Kuh, eine Ziege, ein Kalb, ein Schaf, ein Hund – – ein Pferd, sie haben ihm die Beine abgeschossen. Und die Tiere treten vor Gottes Trohn und sagen: ‚Siehe die Menschen!‘ Und die Engel haben Löwenköpfe, und die Köpfe von Tiegern.“ Damit entwirft der Autor eine apokalyptische Vision für sein Romanende, die indes keine weitere Verwendung findet. Der spätere Roman Ein Kind unserer Zeit enthält zwar weniger religiöse Anspielungen als der Vorgängerroman Jugend ohne Gott, allerdings spielt auch hier die Auseinandersetzung mit dem „lieben Gott“ (vgl. etwa K3/TS18/ Horváth 1938b, S. 62–67) eine wichtige Rolle, wie dies auch schon einige Entwürfe und Textstufen der Vorarbeiten und von Konzeption 1 (vgl. VA1/E16, E17, TS11, VA2/E1, K1/E5, E11 und E13) vorsehen. Als weiteres Indiz in diese Richtung könnte der Kapiteltitel des sechsten Kapitels „Eine irrende Seele“ gelten (vgl. E21). Mit dem Schlusskapitel „Der Schneemann“, das hier erstmals so benannt wird, wie es noch im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit lautet (vgl. auch das Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg, WA 9/K5/TS10/A11/BS 19 b, Bl. 1, 13–15 und 22), deutet Horváth neuerlich die Kälte- und Schnee-Motivik an, die sich schon in einigen Entwürfen und Textstufen der beiden Vorarbeiten findet (vgl. VA1/TS11, VA2/E1, TS2, TS3/Bl. 3 und TS5/Bl. 2) und den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit kennzeichnet (vgl. die Kommentare zu VA1/TS11 und VA2/E1). H15 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 14 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E19 = fragm. Strukturplan in 11 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit einer gestrichenen Notiz (links) 20 E = Strukturplan in 11 Kapiteln mit Notizen und Dialogskizzen (rechts) Druck in: KW 14, S. 217f.

Die beiden vorliegenden Entwürfe befinden sich wieder auf einem überlangen Blatt der Mappe BS 26 a [1] (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In beiden Entwürfen skizziert Horváth eine Struktur in elf Kapiteln. Damit notiert er neuerlich (vgl. VA2/E5, E9 und K1/E12) die Kapitelzahl, die sich auch in der Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit finden wird. Allerdings hatte er in E19 zunächst dreizehn Kapitel geplant, die letzten beiden jedoch ohne Kapiteltitel belassen und nachträglich gestrichen. Die Kapitel neun bis elf lässt Horváth ebenfalls ohne Kapiteltitel, streicht die Kapitelnummern aber nicht. Kapitel eins trägt den auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit im ersten Kapitel so lautenden Titel „Der Vater aller Dinge“ (vgl. auch E18, wo der Titel zum ersten Mal genannt wird, allerdings für das dritte Kapitel). Auch das zweite Kapitel lautet wie im späteren Roman „Das verwunschene Schloss“ (vgl. E18). Kapitel drei ist mit „Anna, die Soldatenbraut“ betitelt (vgl. E10 und E16/Bl. 8) und verweist damit ebenfalls auf den Roman voraus, wo dieser Titel für das zehnte Kapitel verwendet wird. Zu diesem dritten Kapitel notiert Horváth „Jenseits der Gletscher“ (vgl. VA2/E9), streicht diese Notiz aber wieder. Kapitel vier lautet „Es wird gesäubert“ und verweist zurück auf VA1/E20, wo der Protagonist

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Chronologisches Verzeichnis

des Romans „Ich kämpfe nicht mit! Roman eines Deserteurs“ aus einem Krieg flüchten soll, in dem nur „gesäubert“ wird. Kapitel fünf sollte zunächst den Titel „Der Bonze“ (vgl. E16/Bl. 9, E17 und E18) tragen, wird dann aber mit „Gefangen“ betitelt (vgl. VA2/E9, K1/E9, E10 und E16/Bl. 9). Der Titel „Der Bonze“ wandert stattdessen in das sechste Kapitel. Kapitel sieben lautet „Der Schneemann“ (vgl. K1/E18 sowie den „Schnee“ in VA1/TS11), Kapitel acht „Im Nebel“ (vgl. VA2/E9, K1/E16/Bl. 9 und E17). Die restlichen Kapitel sind, wie bereits erwähnt, unbetitelt. In E20 nimmt Horváth großteils die Kapiteltitel von E19 wieder auf, bringt sie aber in eine etwas andere Reihenfolge und ergänzt sie um einige Titel, die er vorhergehenden Entwürfen entnimmt. Die elf Kapitel von E20 sind im Vergleich zu E19 durchgängig betitelt. Die Kapitelfolge lautet hier: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Wahrsagerin“, „Am Ende der Nacht“, „Es wird gesäubert“, „Gefangen“, „Verwundet“, „Briefe einer toten Frau. Anna, die Soldatenbraut“, „Der Bonze“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel“. Die beiden ersten Kapiteltitel „Der Vater aller Dinge“ und „Das verwunschene Schloss“ sind identisch mit E19, Kapiteltitel drei „Die Wahrsagerin“ verweist zurück auf VA2/E8, K1/E6, TS2/Bl. 5, E14/Bl. 11 und E16/Bl. 8 sowie vor auf E24 und E26. Hierzu notiert Horváth einen kurzen Dialog, in dem die Wahrsagerin versucht, den Soldaten zu verführen, der versichert ihr aber: „Ich kann nicht. Ich muss in die Kaserne.“ Das vierte Kapitel hätte zunächst „Anna, die Soldatenbraut“ heißen sollen, wird dann aber mit „Am Ende der Nacht“ betitelt. Kapiteltitel fünf „Es wird gesäubert“ verweist wieder zurück auf VA1/E20 und K1/E19. Horváth notiert dazu: „Wir fahren in der fremden Uniform in die andere Stadt und knallen den Führer nieder“ (vgl. VA1/TS8). Kapiteltitel sechs lautet „Gefangen“ (vgl. den Kommentar zu E19). Kapiteltitel sieben „Verwundet“ verweist zurück auf VA2/E9 und voraus auf die Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit, in dem der Protagonist ebenfalls verwundet und schließlich aus dem Militärdienst entlassen wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 53). Kapitel acht mit den zwei alternativen Titeln „Briefe einer toten Frau“ und „Anna, die Soldatenbraut“ (vgl. E10, E16/Bl. 8, E19, E24 und E27) bringt erstmals das Brief-Motiv in das Werkprojekt ein (vgl. K2/E15 und E23), das im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit eine wichtige Rolle spielen wird (vgl. die Kap. „Der Hauptmann“ und „Im Hause des Gehenkten“). Kapitel neun „Der Bonze“ hätte zunächst an achter Stelle stehen sollen, wird vom Autor dann aber an die neunte Position verschoben. Der Titel findet sich bereits in E16/Bl. 9 und E17–E19. Kapitel zehn trägt den Titel „Der Schneemann“ und verweist zurück auf VA1/TS11 (wo erstmals „Schnee“ fällt) sowie auf K1/E18 und E19. Zum Schlusskapitel elf „Im Nebel“ (vgl. VA2/E9, E17 und den Kommentar zu K1/E16) notiert Horváth einen „Skandal im Offizierskasino“ und skizziert einen kurzen Dialog zwischen dem IchErzähler, der „gegen den Krieg, gegen alles“ redet, worauf „Einer“ aufspringt und „Bravo! Es lebe die Menschlichkeit!“ ruft (vgl. zur Bedeutung des Begriffs der „Menschlichkeit“ in der 1936 abgeschlossenen Komödie Figaro läßt sich scheiden das Vorwort in WA 8, S. 18f.). Nach diesem Einwurf kommt es laut Horváths Plan zu einem „Tumult“, worauf der Ich-Erzähler flieht und schließlich „In den Bergen“ (vgl. VA2/E9) landet.

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Konzeption 1

T6 = ÖLA 3/W 157 – BS 26 d [4], Bl. 1–7, ÖLA 3/W 158 – BS 26 d [5], Bl. 1–3 (vgl. T2 und T3) 10 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1–7, hs. Paginierung 8–10 auf BS 26 d [5], Bl. 1–3 TS9 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Vater aller Dinge“ (Korrekturschicht)

Materiell gesehen sind die Typoskripte der Mappen BS 26 d [4] und BS 26 d [5] identisch. Das würde jedoch nicht genügen, um eine Zusammengehörigkeit zu rechtfertigen. Bei dem Typoskript der Mappe BS 26 d [4] handelt es sich um eine Fassung des ersten Kapitels, die zunächst den Titel „Angetreten!“ trägt (vgl. TS5 sowie E8, E11–E14/Bl. 10, E16/Bl. 8 und E18). Da dieser in der Korrekturschicht zu „Der Vater aller Dinge“ geändert wird, ist anzunehmen, dass diese frühestens nach dem Strukturplan E18 eingetragen wurde, wo erstmals das erste Kapitel mit „Der Vater aller Dinge“ betitelt ist, was allerdings in der Korrektur wieder zu „Angetreten!“ geändert wird. Das dritte Kapitel trägt in diesem Strukturplan noch den Titel „Der Vater aller Dinge“. Erst ab den Strukturplänen E19 und E20 weist das erste Kapitel definitiv den zuletzt genannten Titel auf. Es ist also wahrscheinlich, dass die Korrekturschicht von T4 und frühestens nach diesen beiden Strukturplänen oder unmittelbar davor eingetragen wurde. Auch die Zusammenlegung mit dem Typoskript der Mappe BS 26 d [5] dürfte erst hier erfolgt sein. D.h. die auf diesem Typoskript vorgenommene handschriftliche Änderung der Paginae ist auch erst zu diesem Zeitpunkt erfolgt. Da die Fassung noch eine Hauptfigur Kitty enthält, die im gesamten genetischen Konvolut von Ein Kind unserer Zeit mit Ausnahme desselben Typoskripts in der Grundschicht (TS6) nicht vorkommt (vgl. aber die Figur der Kitty in Der Lenz ist da!, einer Vorarbeit zu Jugend ohne Gott, WA 15, sowie in Figaro läßt sich scheiden, WA 8), wohl aber eine „Anna, die Soldatenbraut“, die seit E10 belegt ist, wäre anzunehmen, dass TS9 früher zu platzieren ist. Dies gilt aber nur für die mit TS6 gegebene Grundschicht. Die handschriftlichen Bearbeitungen betreffen vor allem die Bl. 1 und 2. Dabei lassen sich auf Bl. 1 zwei Bearbeitungsstufen unterscheiden. Wohl in einem ersten Korrekturvorgang wollte Horváth das gesamte Kapitel anders strukturieren und entschied sich dabei dafür, Kitty wegzulassen, wie er in großen Lettern notiert. Dabei entwickelt er einen Handlungsablauf in zwei Abschnitten, in deren erstem der Soldat von einem Arbeiter beschimpft werden sollte, während im zweiten eine Hur „angespukt“ (recte: angespuckt) werden soll. Vielleicht sollte dieses „Kitty weg!“ auch bedeuten, dass die im Typoskript vorkommende Kitty durch einen anderen Namen, wohl den der Anna, ersetzt werden sollte. Dass die Braut des Soldaten sterben soll, wie sie dies auch in TS9 tut, gilt noch in E20, wo im achten Kapitel vom „Brief einer toten Frau“ („Anna, die Soldatenbraut“) die Rede ist. In einem zweiten Korrekturvorgang entscheidet sich der Autor wohl doch wieder dafür, am schon existenten ersten Kapitel festzuhalten und überarbeitet nur den Beginn, i.e. die Bl. 1 und 2, großflächiger. Das Motiv des „Abzählen[s]“ ist in TS9 schon integriert (vgl. BS 26 d [4], Bl. 5 und E11–E14). Dass die Soldatenbraut ein Kind bekommt, von dem nicht klar ist, von wem es stammt, und dass der Hauptmann darüber nicht sehr erfreut ist, findet sich schon in E16/Bl. 8. In den folgenden Strukturplänen erwägt Horváth jedoch andere Handlungsverläufe (vgl. etwa E21, E23, E24 und E27). Diese sprechen eher dafür, dass sich Horváth in der Folge dafür entschied, die Kitty-Episode überhaupt wegzulassen. Denn in der Folge entwickelt er die „Ballade von der grossen Liebe“ zu „Anna, [der] Soldatenbraut“ (E27). Der auf BS 26 d [4], Bl. 7 erwähnte „abstürzende Flieger“

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kommt zuletzt in E13 vor (vgl. auch VA2/E6, E8, E9 und K1/TS5/BS 26 d [5], Bl. 3). Dieser Absturz wird in TS9 durch das hinzugefügte Typoskript BS 26 d [5], Bl. 1–3 realisiert (vgl. TS5), dessen handschriftlich geänderte Seitenzahlen an die vorhergehenden Blätter anschließen, und bleibt bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 23f.). H16 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 16 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E21 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In E21 greift Horváth wieder auf eine Struktur in sieben Kapiteln zurück (vgl. E18, E22–E24 und E27–E29). Die Kapitelfolge lautet hier: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Krieg ohne Kriegserklärung“, „Der Bonze“, „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“, „Die irrende Seele“ und „Der Schneemann“. In dem Strukturplan findet sich kein neuer Kapiteltitel. Zu Kapitel vier notiert Horváth jedoch: „Das verwunschene Schloss wird abgebrochen“, was eine motivische Weiterentwicklung darstellt, die ein erster Hinweis darauf ist, dass E21 nach den vorhergehenden Entwürfen zu reihen ist. Auch die zahlreichen Notizen und Repliken, die Horváth zu den Kapiteltiteln vermerkt, deuten darauf hin, dass es sich um einen ausgereifteren Strukturplan handelt. So notiert der Autor etwa zum zweiten Kapitel „Das verwunschene Schloss“ (vgl. E18–E20) Annas Frage: „Warum machst Du Dich jünger?“, wobei die Selbstverständlichkeit, mit der hier der Figurenname Anna gehandhabt wird, auf den sich der Autor erst in K1 festlegt (vgl. E10, E16/Bl. 8, TS8, E19 und E20), darauf hinweist, dass der Strukturplan einer späteren Bearbeitungsphase entstammt. Auch ein „Gespräch über die Flieger“ (vgl. VA2/E5, K1/TS5/BS 26 d [5], Bl. 2, E11 und E13) mit dem Ergebnis, dass „diese Erfindung nichts Gutes gebracht“ habe, soll hier stattfinden. Kapitel drei mit dem Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ (erstmals in VA1/E25) führt Motive von VA2 fort. Hierzu notiert Horváth: „Die Greuel des Krieges, der Säuberung. Kurze Gefangenschaft. Kurze Unterredung mit dem ‚Kommissar.‘ Verprügelt. Befreiung. Ich bekomme einen goldenen Stern. Ich bin Leutnant. Aber mein Glaube an die gerechte Sache meines Kampfes ist wankelmütig geworden.“ Damit nimmt Horváth einerseits Motive aus E14/Bl. 12 („Stern“), E16/Bl. 8 („Verprügelt“) und E19 sowie E20 („Säuberung“) wieder auf, geht aber noch über diese hinaus, indem er die genannten Motive ausarbeitet und in eine narrative Form bringt. Horváth versieht dieses Kapitel mit zahlreichen Notizen. Eine weitere lautet: „Wir werden alles zerstören, denn wir kennen kein Herz mehr.“ Sie wird erweitert um: „[W]ir rächen uns für unsere Arbeitslosigkeit“. Mit diesen beiden Notizen verweist Horváth auf die für den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit zentralen Themen (soziale) Kälte und Arbeitslosigkeit, die sich jedoch schon in den frühen Entwürfen und Textstufen finden (vgl. VA1/TS7, E15–E17, TS11, TS12/Bl. 17, VA2/E1, TS2, TS3/Bl. 3 und TS5/Bl. 2). Die Notiz: „Wer fragt, der zweifelt bereits“ verweist zurück auf das in E1 notierte Zitat von Anton Kuh. Der in der Notiz: „Wir erinnern uns, dass wir keine Zukunft haben. Was ist ein Mensch? Nichts“ durchklingende Nihilismus verweist voraus auf die Endfassung des Romans. Dass der Protagonist nichts weiß, dafür aber „Fußballspielen“ und „Tur-

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Konzeption 1

nen“ kann, ist eine Novität von E21, die jedoch keine weitere Verwendung findet (vgl. VA1/TS11, wo der Protagonist „Langstreckengeher“ ist, und K1/E4, wo er „Radfahrchampion“ sein soll). Zu Kapitel vier „Der Bonze“ notiert Horváth zwei Teile, einen „Im Krankenhaus“, wo der Protagonist die „Phantasien der grauenhaften Verbrechen“ erleiden soll, und einen mit dem Titel „Das verwunschene Schloss wird abgebrochen“. Horváth notiert zu diesem Unterkapitel folgenden Text: „Anna hatte ein Kind von ihm, sie trieb es ab. Es geht ihr schlecht. Er verteidigt den Krieg, sie verteidigt die Menschlichkeit: das Werden. Meine Seele erwacht. Sie trennen sich. Es geht in solchen Zeiten vieles auseinander. Sie lebt von einem anderem Mann. Sie sagt: ‚Du bist ungerecht.‘ Sie hustet. Bist Du krank? Mein Urlaub ist zu Ende. Sie: ‚Denn ich hatte das Gefühl, dass Du mich brauchst.‘“ Das Abtreibungsmotiv findet sich erstmals in E18 (vgl. den Kommentar dort) und wird auch in der Folge von Horváth weiterverwendet (vgl. E25, E27 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 175). Eine Randnotiz lautet: „Er redet von dem Sieg, dann wird jede ihr Kind haben können, sie redet dagegen“. Zu Kapitel fünf, den „Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“ (vgl. E9, E16/Bl. 9 und E18), macht sich Horváth eine Reihe von Notizen: Wie in E16/Bl. 9 notiert er „Adjutant des Generals“ und wie in VA2/E9 „Der Flieger, dessen Bruder im feindlichen Lager kämpfte“. Außerdem soll hier die Entfremdungsproblematik von VA1 wiederaufgenommen werden: „Es ist alles nur Geld, aber es ist nicht Dein Geld!“: „Was Du arbeitest, was Du schaffst.“ (vgl. VA1/TS12/Bl. 17) Weiters notiert Horváth hier ein „Erlebnis mit der Filmnutte“ und „Das Fronttheater. Die gestellten Aufnahmen“, was beides an Entwürfe zu dem 1936 abgeschlossenen Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg (vgl. etwa WA 9/K1/E2–E4) erinnert. Ähnliches gilt für das sechste Kapitel, das zunächst den Kapitel „Der Schneemann“ tragen sollte, dann aber zu „Auf der Suche nach der Seele“, dann zu „Die Desertion“ und schließlich zu „Die irrende Seele“ (vgl. E18 und E24) korrigiert wird. Die Replik: „Ich suche meine Seele“ verweist noch einmal implizit auf den Don Juan, der in ähnlicher Weise auf der „Suche nach der Seele“ und zugleich nach seiner Braut ist. Wie dort findet er sie im vorliegenden Entwurf nur noch tot, weshalb Horváth hier notiert: „Am Grab.“ (vgl. E14/Bl. 12, wo der Hinweis auf den Don Juan vom Autor selbst gegeben wird) Das Schlusskapitel, das zunächst den Titel „Leben oder Tod“ tragen sollte, wird dann wie in einem vorhergehenden Entwurf (vgl. E18) mit „Der Schneemann“ betitelt (vgl. den Kommentar zu VA1/TS11). In E20 bildet das Kapitel „Der Schneemann“ das vorletzte Kapitel und wird noch von einem Kapitel „Im Nebel“ gefolgt, das aber im vorliegenden Entwurf E21 in das Schneemann-Kapitel integriert wird, denn hier heißt es: „Morgen werde ich hingerichtet. Der Hauptmann. Der Nebel.“ T7 = ÖLA 3/W 152 – BS 26 c [1], Bl. 1, 2 (vgl. H19) 2 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, masch. Paginierung 1, 2 TS10 = fragm. Fassung des Kapitels „Das verwunschene Schloss“ (Korrekturschicht) Druck der Grundschicht (gemeinsam mit BS 26 a [3], Bl. 1–5 aus K2/TS2) in: Horváth 1975, S. 58–62.

Das Kapitel „Das verwunschene Schloss“ ist seit K1/E18 im Werkprojekt Ein Kind unserer Zeit belegt. In TS10 arbeitet Horváth dieses Kapitel, das von Anfang an als zweites Kapitel geplant war, erstmals narrativ aus. Da er dabei die Paginae 1 und 2 verwendet, dürfte es sich um eine erste Ausarbeitung handeln, die kein bestehendes erstes Kapitel direkt fortsetzt (vgl. TS4–TS9). Horváth bedient sich in TS10 noch der

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Wir-Form, wie sie etwa auch die Fassungen TS4 und TS5 kennzeichnet. Auch materiell ähnelt die vorliegende den erwähnten Fassungen. Wahrscheinlich ist sie wenig später entstanden. In TS10 erhält der Soldat seinen „zweiten Stern“ (Bl. 1; vgl. E14/Bl. 12) und geht mit drei Kameraden in ein Café. Dort lesen sie die Zeitung und die Illustrierten. Sie haben „weisse Handschuhe an“ (Bl. 1; vgl. K2/TS5/Bl. 2). Einer der Kameraden schlägt vor, auf die „Wiese“ (Bl. 1) zu gehen, was sie dann machen. Die Kameraden lernen zwei Mädchen kennen, „aber mir gefallen sie nicht“ (ebd.). Er denkt in der Folge über die Frauen nach, über die „Abnormitäten“ und das „Volk“, aber er kommt zu dem Schluss: „Durch das Denken kommt man auf ungesunde Gedanken.“ (Bl. 2; vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 34) Auch der Soldat hätte gerne „eine schöne Frau“ (Bl. 2; vgl. K2/TS5/Bl. 1): „Es fällt mir auf, dass ich niemand liebe, ausser dem Vaterland. Dass ich alle und alles hasse.“ (ebd.; vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 34) Horváth trägt wenig später zwei handschriftliche Entwürfe auf dem Blatt ein, die wesentliche Argumente zur werkgenetischen Einordnung auch des Typoskripts liefern (vgl. den Kommentar zu E25 und E26). H17 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E22 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit Notizen (oben) E23 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Notizen, Repliken und Dialogskizzen (mittig und unten)

Die vorliegenden Entwürfe E22 und E23 befinden sich wieder auf einem Blatt mit der charakteristischen Überlänge von 343 mm und dem Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Horváth entwirft darin zwei Strukturpläne in sieben Kapiteln (vgl. E18, E21, E24 und E27–E29). Die Kapitelfolge lautet in E22: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Krieg ohne Kriegserklärung“, „Der Bonze“, „Gespenster“, „Der Schneemann“ und „Nebel“. Damit nimmt Horváth bekannte Kapiteltitel wieder auf (vgl. E16–E21). Im Vergleich zu E21 fällt auf, dass er die beiden Motive „Schneemann“ und „Nebel“ wieder auf zwei getrennte Kapitel aufteilt (vgl. E19 und E20). Zum fünften Kapitel „Gespenster“ (vgl. E16/Bl. 9 und E17) notiert Horváth: „Hier erwacht erst die wirkliche Liebe; eine fast christliche, zärtliche Liebe“ und „Sie ist sehr arm und verheiratet. Das Kind, es ist das Kind des Soldaten. Die Zukunft des Kindes“. Zum sechsten Kapitel „Der Schneemann“ vermerkt er: „Die Grossmutter, die Inhaberin des verwunschenen Schlosses“. Damit führt Horváth eine Großmutter-Figur in das Werkprojekt ein, wie sie etwa auch im Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg eine wichtige Rolle spielt. In E23 lautet die Kapitelfolge: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Krieg ohne Kriegserklärung“, „Verwundet in der Heimat“, „Gespenster“, „Der Schneemann“ und „Leben oder Tod“. Die entstehungsgeschichtliche Nähe der drei Strukturpläne E21–E23 wird aus E23 unmittelbar evident, wo Horváth teilweise wieder auf Kapiteltitel zurückgreift, die er in E21 gestrichen hatte. Kapitel vier hätte zunächst „Der Bonze“ heißen sollen, alternativ dazu notiert der Autor jedoch „Verwundet in der Heimat“ und vermerkt die Replik: „Weisst Du, dass ich von Dir ein Kind hatte? Es ist aber weg.“ (vgl. E21) Und weiters: „Mit Krach getrennt von Anna. Es geht ihr schlecht. Krach über den Krieg. Sie verteidigt die Menschlichkeit.“ (vgl. E21) Eine Replik Annas lautet: „Es geht in solchen Zeiten vieles auseinander. Sehr vieles. Menschen werden auseinandergerissen. Sei mir nicht böse, dass das verwunschene

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Konzeption 1

Schloss abgebaut ist. Ich lebe von einem Manne, den ich nicht liebe.“ (vgl. E21) Diese Replik führt Horváth in folgenden Dialog über: „Ich: Wir müssen uns trennen. / Sie: Wie Du willst. Ich kann dazu nichts sagen. / Ich gehe weg. / Von was soll ich leben, wenn ich bei Dir bleib? / Ich:? / Sie: Sie hustet. Du bist ungerecht.“ Eine später hinzugefügte Notiz lautet: „Ich bin ungerecht? Es lässt mir keine Ruhe. Ich werde sie suchen.“ Zu Kapitel fünf „Gespenster“ (vgl. E16/Bl. 9 und E17) notiert der Autor: „Das Erlebnis mit der Filmdiva: die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“. Kapitel sechs „Der Schneemann“ ist mit folgender Notiz versehen: „Verhaftet am Grabe; Rücktransport zum General; der Hauptmann lässt ihn frei“ (vgl. E16/Bl. 9), womit neuerlich die positive Rolle des Hauptmanns angedeutet wird, wie er sie auch noch im Roman Ein Kind unserer Zeit haben wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11 und 134f.). H18 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E24 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit Notizen und Repliken

E24 befindet sich wieder auf einem Blatt mit der charakteristischen Überlänge von 343 mm und dem Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). E24 stellt neuerlich einen Strukturplan in sieben Kapiteln dar (vgl. E21–E23 und E27–E29), der den Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit“ und den Gattungstitel „Roman“ trägt. Die Kapitelfolge lautet: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Es wird gesäubert! / Krieg ohne Kriegserklärung“, „Anna, die Soldatenbraut“, „Der Bonze“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel der Zukunft“. Am ehesten erinnert diese Kapitelfolge an E22. Im Vergleich zu E23 fällt das Kapitel „Gespenster“ weg, das in E24 durch „Anna, die Soldatenbraut“ ersetzt wird. Das Kapitel „Der Bonze“ steht in E23 an vierter Stelle, in E24 an fünfter. Das Schlusskapitel lautet in E23 „Leben oder Tod“, zuvor hatte Horváth jedoch wie in E24 und zuvor in E22 „Nebel“ geschrieben. Zum ersten Kapitel „Der Vater aller Dinge“ notiert Horváth nichts. Wahrscheinlich ist dafür die Rekapitulation des „bisherigen Lebens“ seines Ich-Erzählers geplant, wie es etwa der Strukturplan E9 vorsieht (vgl. auch E16/Bl. 8). Dieses erste Kapitel steht seit E19 fest, in E18 ist erkennbar, dass es dem früheren ersten Kapitel „Angetreten!“ entspricht. Das zweite Kapitel „Das verwunschene Schloss“ steht seit E18 fest. Hierzu notiert Horváth in E24: „Die Wahrsagerin. Am Ende der Nacht“ (vgl. VA2/E8, K1/E6, E14/Bl. 11 und E16/Bl. 8). Kapitel drei sollte zunächst „Es wird gesäubert!“ heißen (vgl. E19–E21), alternativ dazu notiert Horváth jedoch den Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“, der den Werktitel von VA2 darstellt (vgl. VA2/E4–E6 und E9), in K1 jedoch wieder zu einem Kapiteltitel reduziert wird (vgl. E16/Bl. 8, E21–E23; anders jedoch: K1/E12). In E24 plant Horváth für dieses Kapitel eine „Hymne des Grauens“, während der wahrscheinlich der Protagonist „[v]erwundet“ werden soll und der „Hauptmann“ „erschossen wird“. Auch „Flieger“ erwähnt er hier wieder, sie sollen „Brüder“ sein (vgl. VA2/E5/Bl. 9, E6 und K1/E21), auch ein „Besuch des Vaters“ ist hier vorgesehen (vgl. K2/E27 und E32). Kapitel vier soll „Anna, die Soldatenbraut“ heißen, ein solches Kapitel ist seit E10 belegt. Hierzu notiert Horváth in E24: „Briefe, in denen sie zur Revolution aufruft, zur menschlichen Revolution“ (vgl. E21 und E23). Weiters vermerkt der Autor: „Ich habe die Briefe gelesen. Jetzt ist die Liebe in mir erwacht.

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Als hätt wer zu meiner Seele gesagt: ‚Steh auf!‘ Oder: ‚Suche sie! Suche Deine Seele!‘“ (vgl. E14, E18 und E21) Zu Anna notiert der Autor: „Sie wird irrsinnig“, ein Motiv, das sich auch in dem Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg findet (vgl. WA 9/ K5/TS10/A11/BS 19 b, Bl. 21; vgl. auch die Irrsinns-Motive in VA1/E23, E24, TS14, TS15/ Bl. 8, E25, E26 und VA2/TS7). Kapitel fünf trägt den Titel „Der Bonze“ (vgl. E16/Bl. 9 und E17–E24). Hierzu notiert Horváth: „Wieder im Feld. Ausgezeichnet und befördert zum Leutnant. Das Fronttheater. Die gestellten Greuel. Die Nutte, die erzählt, dass sie mit dem Agenten der Rüstungsindustrie geschlafen hat = die Visionen der Zerstörung Europas im Bett“ (vgl. E9, E16/Bl. 8, E21 und E23). Kapitel sechs trägt den Titel „Der Schneemann“ (vgl. K1/E18–E23; vgl. auch VA1/TS11, wo erstmals „Schnee“ fällt) und soll die Suche des Ich-Erzählers nach Anna beinhalten. Für Kapitel sieben, das erstmals den Titel „Im Nebel der Zukunft“ (vgl. „Nebel“ in E16/Bl. 9, E17 und E19–E23) trägt, sieht Horváth eine Rückkehr ins „Feld“ (vgl. E14/Bl. 12 und E16/Bl. 9), eine „Heldengedenkfeier“ (vgl. E13 und E18) und „Rausch und Skandal im Casino“ (vgl. E20) vor. H19 = ÖLA 3/W 152 – BS 26 c [1], Bl. 1 (vgl. T6) 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, schwarzblaue Tinte und roter Buntstift, masch. Paginierung 1 E25 = Strukturplan (mittig) E26 = Replik (oben)

Die beiden Entwürfe E25 und E26 wurden auf dem ersten Blatt eines Typoskripts (T6) eingetragen, das eine Ausarbeitung des zweiten Kapitels von E18 „Das verwunschene Schloss“ enthält (vgl. TS9). In E25 notiert Horváth eine Art Strukturplan, allerdings ohne Nummerierung, der folgende Kapitel umfasst: „Sie fühlt sich Mutter“, „Sie will es weghaben. Ich bin dagegen“, „Krach. Aus“, „Krieg“ und „Ich komme zurück. Sie hat das Kind nicht abgetrieben“. Zum letzten Kapitel notiert er: „Ich erfahre es erst durch einen Brief“ und dann: „Ich erfahre es erst durch die Grossmutter“ und: „Der Vater ist ein Soldat.“ Zuletzt vermerkt Horváth hierzu ein Kapitel „Nebel der Zukunft“ (vgl. E16/Bl. 9, E17 und E19–E24) und versieht dieses mit der Notiz: „Die müssen weg. Damits meinem Kinde besser geht.“ Die inhaltlichen Elemente dieses Strukturplans weisen eine große Nähe zu den Strukturplänen E21–E24 und E27 auf, weshalb eine Reihung in deren unmittelbarer Umgebung plausibel erscheint. Dass die Braut des Soldaten in E25 wieder namenlos ist, während der Name „Anna“ seit E10 belegt ist, scheint einer solchen späten Reihung zu widersprechen. Allerdings experimentiert Horváth immer wieder und auch noch in Konzeption 2 mit namenlosen Fräuleins, in die sich der Soldat verliebt (vgl. etwa K2/TS4), eine Variante, die er auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit wählen wird, wo das „Fräulein“ zunächst namenlos bleibt und erst gegen Ende (in Kap. 9 „Im Reiche des Liliputaners“) einen Namen bekommt. Die Kind- und Abtreibungs-Problematik findet sich wiederholt in den erwähnten Entwürfen. Am ehesten weist E25 eine Nähe zu E21 und E23 auf, wo nicht nur die „Abtreibung“ erwähnt ist, sondern auch der „Krach“ mit Anna. Die Großmutter wird erstmals in E22, aber auch in E27 erwähnt. Die oberhalb von E25 eingetragene Replik E26 lautet: „Die Wahrsagerin: Sie werden eine weite Reise machen und kommen zurück, aber dann werden sie eine sehr weite Reise machen und ich weiss nicht, ob sie zurückkommen.“ Diese Replik verweist zurück vor allem auf E14/Bl. 11, wo eine ganz ähnliche Prophezeiung erwähnt wird,

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Konzeption 1

aber auch auf E16/Bl. 8, E20 und E24, wo die „Wahrsagerin“ zuletzt erwähnt wurde. Das stärkste Indiz für die Reihung von E25 und E26 an dieser Stelle ist indes der Kapiteltitel „Nebel der Zukunft“, der erstmals in E24 genannt wird und annehmen lässt, dass die auf dem vorliegenden Blatt befindlichen Entwürfe frühestens nach diesem zu reihen sind. H20 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 208 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E27 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt ist Teil des Konvoluts von überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). E27 stellt eine genuine Weiterentwicklung von E24 dar. Die Kapitelfolge wird hier nur geringfügig verändert und lautet: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Ballade von der grossen Liebe“, „Die Hymne vom Krieg ohne Kriegserklärung“, „Anna, die Soldatenbraut“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel der Zukunft“. Die ersten beiden Kapitel scheinen für Horváth schon festzustehen und keiner weiteren Notizen zu bedürfen. Zu Kapitel drei, das erstmals den Titel „Die Ballade von der grossen Liebe“ (vgl. K2/E5/Bl. 5) trägt, notiert er: „Jetzt bin ich am Rande der Zeit – / Es steht alles still, ich liege bei ihr, es wird ein Kind gezeugt, da steht einen Moment die Zeit still. / Ist sie wichtiger, als das Vaterland? / Ich denke nach: nein, sie ist mein Vaterland. Meine Heimat. / Sie gab mir die Liebe wieder. Und jetzt find ich mein Vaterland schöner.“ (vgl. E29 und K2/TS4) Kapitel vier stellt eine Synthese her zwischen dem in E24 zum Kapitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ notierten „Hymne des Grauens“ mit diesem Kapiteltitel. Zu Kapitel fünf „Anna, die Soldatenbraut“ vermerkt Horváth die Replik Annas: „Ich war eine Angestellte des Liliputaners; alles gehört ihm.“ Damit wird die Figur des Liliputaners, der in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine zentrale Rolle spielen wird, erstmals erwähnt. Möglicherweise geht er aus der Figur des „Bonzen“ hervor, der in den vorhergehenden Strukturplänen (vgl. E16/Bl. 9 und E17–E24) noch vorkam, in E27 aber nicht mehr genannt wird. Im gleichen Kapitel erwähnt Horváth auch das Kind, das der Soldat mit Anna hat: „Er weiss, er hat ein Kind.“ Und: „Ich rechne nach. / Es muss jetzt schon da sein, das Kind. / Ich will es sehen. / Ich bekomme Urlaub. / Es liegt in der Wiege. / Wir feiern das Kind!“ Damit scheint Horváth die Idee des Kindes weiterzuentwickeln, weg von der Abtreibungsproblematik (vgl. E18 und E21) zu einer positiven Wendung der Geschichte, die es jedoch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit nicht mehr geben wird, wo der Kontakt zwischen dem Soldaten und Anna rudimentär bleibt, Anna aber wegen illegaler Abtreibung „zwei Jahre“ im Gefängnis „sitzt“ (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 175). Kapitel sechs hätte zunächst den Titel „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“ (vgl. E9 und E16/Bl. 8) tragen sollen, wird dann jedoch wie in E24 mit „Der Schneemann“ betitelt. Hier zeigt sich, dass Horváth letztlich doch an der Abtreibung festhält und die Notizen zu Kapitel fünf wohl als obsolet zu betrachten sind. Stattdessen vermerkt er: „Er weiss, dass er kein Kind hat“ und: „Sie sollte wegen Abtreibung verhaftet werden und da ist sie ins Wasser“ (vgl. E18 und E21), eine motivische Idee, die an Glaube Liebe Hoffnung und Eine Unbekannte aus der Seine (vgl. WA 6) erinnert. Doch Horváth korrigiert schließlich zu: „Und da hat sie sich in der Gefängniszelle erhängt.“ Die „Grossmutter“

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beschwört: „Ein Soldat hat sie verlassen.“ (vgl. E25) Eine Idee, die noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine Rolle spielen wird, wird doch Anna dort von einem Soldaten verlassen, allerdings nicht vom Ich-Erzähler, den die Hausmeisterin irrtümlich für den Bräutigam Annas hält (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 162–167). Zu Kapitel sieben, das zunächst mit „Der Schneemann“, dann jedoch mit „Im Nebel der Zukunft“ betitelt wurde, notiert der Autor: „Es wird der Geburtstag des Führers gefeiert“ (vgl. Jugend ohne Gott, WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 161–164) und: „ich halte eine Rede gegen ihn; der grösste Schurke“ und weiters: „Ich kämpfe jetzt für alle Kinder der Menschen.“ Zuletzt vermerkt er: „Der Parlamentär, der kommt und der es will, dass ich mich ergebe. Er sagt, es hat keinen Sinn. / Wer sagt, es hat keinen Sinn, der gehört weg! Abgeschossen!“ (vgl. E10, E13, E16/Bl. 9, E22 und E25) Darunter notiert Horváth in Großbuchstaben: „Ende“. H21 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E28 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Notizen

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Im Strukturplan E28 entwickelt Horváth E27 weiter, indem er sich noch einmal die Kapitelfolge notiert, dabei aber ein Kapitel umbenennt. Die Kapitelfolge lautet jetzt: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Ballade von der Soldatenbraut“, „Die Hymne vom Krieg ohne Kriegserklärung“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel der Zukunft“. Damit nimmt Horváth erstmals den Liliputaner (seit E27) in einen Kapiteltitel auf und ersetzt den in vorhergehenden Strukturplänen (vgl. E16/Bl. 9 und E17–E24) genannten „Bonzen“ durch ihn. Der Autor nimmt damit eine zentrale Transformation vor, durch die eine der schillerndsten Figuren des späteren Romans Ein Kind unserer Zeit entsteht (vgl. die Kap. „Das verwunschene Schloss“ und „Im Reiche des Liliputaners“). Zugleich findet Horváth im vorliegenden Strukturplan E28 bereits die Kapitelbenennung, die bis zum Roman erhalten bleibt. Zum entsprechenden Kapitel notiert der Autor: „Es ist eine ganz einfache Tatsache. / Aber sie ist wahr. / Es geht ihnen nicht gut, den Zuhausegebliebenen. Und es ist eine Lüge, dass es ihnen gut geht!“ Damit rekurriert er erstmals auf das Motiv der „Lüge“, das noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine bedeutende Rolle spielen wird (vgl. etwa K3/TS18/Horváth 1938b, S. 14, 28 und 126). Eine weitere Notiz sieht ein „Vorwort“ vor, in dem es um die Frage: „Was soll ein Schriftsteller heutzutag schreiben?“ gehen soll (vgl. die Entwürfe zum Werkprojekt Adieu, Europa?, teilweise zitiert und aufgelistet im Vorwort zum Band Figaro läßt sich scheiden, WA 8, S. 19). Die Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit weist kein Vorwort auf. Ebenso wie beim Werkprojekt Jugend ohne Gott (vgl. WA 15/VA2/TS2/A1) wurde ein solches im Zuge der Werkgenese erwogen, dann aber wieder verworfen.

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Konzeption 2

H22 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E29 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“ mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In E29 notiert Horváth dieselbe Kapitelfolge wie in E28. Allerdings versieht er diese Kapitelfolge mit anderen und weiter reichenden Notizen und Repliken. Zum dritten Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ (erstmals in E10) notiert er folgende Worte des Ich-Erzählers: „Ich habe ein Kind. Und ich werde für dieses Kind kämpfen. Jetzt ist mein Vaterland lebendig geworden. Der Begriff war bisher etwas leer.“ (vgl. E27) Zu Kapitel fünf, „Im Reiche des Liliputaners“ (vgl. E27 und E28), vermerkt er: „Wir haben gesiegt, ich kehre zurück. Der Krieg ist aus, der Frieden beginnt. Ich habe Urlaub. Aber nur acht Tage. Wir werden gefeiert, die Strassen sind beflaggt.“ Eine weitere zu diesem Kapitel notierte Eintragung, die sich wohl auf die erzählerische Methode bezieht, lautet: „Wo ein Leben rekonstruiert wird durch die Anderen“ (vgl. E8, E9 und E16/Bl. 8). Darüber steht als separate Notiz: „Und was ist das Produkt des Sieges?“ Zum sechsten Kapitel „Der Schneemann“ notiert Horvath: „Mein Urlaub ist abgelaufen. / Aber ich kehre nicht zurück. / Ich suche meine Frau.“ (vgl. E9, E10, E14/Bl. 12 und E21) Zum letzten Kapitel „Im Nebel der Zukunft“ findet sich die Notiz: „Ich muss in die Wälder fliehen. In die Berge.“ (vgl. VA2/E9 und K1/E20)

Konzeption 2: Ein Soldat der Diktatur Konzeption 2 steht unter dem Titel Ein Soldat der Diktatur, der bereits im ersten Entwurf E1 fällt. Praktisch gilt dieser Titel auch noch für einen Großteil von Konzeption 3, da er der Titel des ersten Einreichmanuskripts war, das Horváth dem Verlag wahrscheinlich am 11. Februar 1938 gesandt hat (vgl. den Brief vom 10. Februar 1938 im Vorwort zu diesem Band, S. 3). Konzeption 2 dürfte dementsprechend etwa auf die Monate November bis Dezember 1937 zu datieren sein. Im Briefwechsel zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Allert de Lange ist deutlich nachlesbar, wann Horváth die ersten drei Kapitel seines Romans abliefert (vgl. den Brief vom 1. Jänner 1938 und das Vorwort in diesem Band, S. 2), die etwa ab der Mitte von K2 feststehen (vgl. E13), wobei zu diesem Zeitpunkt das dritte Kapitel noch nicht den Titel „Der Hauptmann“ trägt, auf den er sich erst relativ spät festlegt (vgl. E22) und dem Verlag ein dementsprechendes Kapitel mit dem neuen Titel nachreichen will (vgl. den Brief an den Verlag Allert de Lange vom 1. Jänner 1938). Zu K2 zählt eine Reihe von Strukturplänen, in denen Horváth an der Makrostruktur seines Romanprojekts feilt, wobei er zwischen einer Struktur in sieben Kapiteln, wie er sie am Ende von K1 gefunden zu haben scheint, und einer größeren Struktur zwischen elf und 13 Kapiteln schwankt. Gegen Ende von K2 scheint er sich indes bereits auf die elf Kapitel festzulegen, die auch die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit kennzeichnen (vgl. E39) und die er im Brief vom 27. Jänner 1938 erwähnt (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 2). Zu K2 zählt überdies eine Fülle von Fassungen zu einzelnen Kapiteln des Romanprojekts, wobei die Titel dieser Fassungen noch entsprechend der Unter-

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Chronologisches Verzeichnis

schiedlichkeit der Strukturpläne variieren und in den meisten Fällen nicht den definitiven Kapiteltiteln entsprechen. H1 = ÖLA 3/W 148 – BS 26 a [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E1 = Strukturplan in 4 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat der Diktatur. Roman“ mit Notizen und einer Replik

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In E1 entwirft Horváth einen Strukturplan in vier Kapiteln mit dem Werktitel „Ein Soldat der Diktatur“ und dem Gattungstitel „Roman“. Der Werktitel „Ein Soldat der Diktatur“ findet sich auf diesem Blatt zum ersten Mal. Die Titeländerung markiert eine Wende in der Konzeption, weshalb hier ein konzeptioneller Schnitt gesetzt wird. Der Autor schließt jedoch mit dem vorliegenden Strukturplan an die späten Entwürfe von K1 (E16–E29) an. Die Kapitelfolge lautet „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Hymne vom Krieg ohne Kriegserklärung“ und „Es wird gesäubert“. Zum dritten Kapitel notiert er: „Ich denke nur manchmal ans verwunschene Schloss – / Und an die Linie – / Denn diese Linie ist etwas Neues in meinem Leben. / Etwas Neues, nach dem ich mich immer schon sehnte.“ Damit vermerkt Horváth erstmals die „Linie“, die bis zum Roman Ein Kind unserer Zeit (vgl. TS5/Bl. 1, E14, E15 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 36 und 40–44) eine ganz entscheidende Rolle für die Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten und Anna spielen wird. Zum vierten Kapitel notiert er: „Da lernt der Soldat eine Frau kennen, die ihn an das Fräulein vom verwunschenem Schlosse erinnert“ und „Die Ballade von der Soldatenbraut im Feindesland“ (vgl. K1/E28 und E29, hier allerdings ohne den Zusatz „im Feindesland“). Weiters notiert er eine Replik Annas: „Ich habe ein Kind von Dir. Es ist ein Mischling. Was machst Du?“ (vgl. K1/E14/Bl. 11f., E16/Bl. 8, E21, E22, E27 und E29) Zwei abschließende Notizen lauten: „Der hinkende Bote“, der im Roman in den hinkenden Vater transformiert wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 17) und „Das Kind, das lacht (Kaiser ohne Kleider)“, was in der Folge nicht weiterverwendet wird, aber möglicherweise in das Kind transformiert wird, das den „Schneemann“ auf dem Spielplatz erblickt (vgl. E36 und TS21/Bl. 10). T1 = ÖLA 3/W 160 – BS 26 d [7], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, masch. Paginierung 11 TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Die Paginierung könnte ein Hinweis darauf sein, dass BS 26 d [7], Bl. 1 Teil einer anderen größeren Fassung des ersten Kapitels oder mehrerer Kapitel war, die aber nicht überliefert ist. Dies stützt auch ein handschriftlich hinzugefügter Verweis auf eine „Seite 13“, in die eine Passage verschoben werden sollte. Es spricht also einiges dafür, davon auszugehen, dass die vorliegende Fassung in der Werkgenese relativ spät zu verorten ist. Einige der Korrekturen von TS1 haben überdies schon die Form, die sie in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit aufweisen, so etwa der Satz „Mit Weibern und Kartenspiel.“ (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 20) Oder die berühmten beiden Sätze:

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Konzeption 2

„Ich hab mit meinem Vater nichtsmehr zu tun. / Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Wobei die Reihenfolge hier noch im Vergleich zur Endfassung umgekehrt ist (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 19). Mit dem später folgenden Typoskript T2 ließe sich eine fragmentarische Fassung herstellen, bei der aber sehr viele Zwischenblätter fehlten. Beide Typoskripte dürften jedoch etwa der gleichen Arbeitsphase entstammen. Da T2 (TS5) wohl in der Nähe der Strukturpläne E4 und E5 entstanden ist, liefert dies auch einen Anhaltspunkt für die Platzierung von T1, das etwas früher, aber wahrscheinlich etwa zeitgleich entstanden sein dürfte. In TS1, die eine fragmentarische Fassung des ersten Kapitels „Der Vater aller Dinge“ (vgl. E1) darstellt, ist vom Krieg die Rede und vom Hass zwischen den Menschen. Die Kriegsreflexion, die dabei vom Ich-Erzähler betrieben wird, steht noch hinter den in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit angestellten Reflexionen zurück, weshalb davon auszugehen ist, dass die vorliegende Fassung zwar in der Werkgenese relativ spät, aber doch noch nicht in K3 zu verorten ist. H2 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E2 = Notizen zum 2. Kapitel „Das verwunschene Schloss“ (links oben) E3 = Strukturplan in 9 Bildern mit Notizen (rechts mittig und unten)

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Zunächst hatte Horváth in E2 den Kapiteltitel „Anna, die Soldatenbraut“ (vgl. E4) notiert, diesen dann aber gestrichen und mit Fragezeichen versehen. Darüber trägt er den Titel „Das verwunschene Schloss“ ein, der laut K1/E19–E24, E27–E29 und K2/E1 das zweite Kapitel des Werkprojekts Ein Soldat seiner Zeit darstellt. Unter diesem Kapiteltitel vermerkt der Autor ein paar Notizen, die bereits in erzählerische Form gefasst sind: „Gestern bekam ich meinen zweiten Stern.“ (vgl. K1/E14/Bl. 12, E21 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6, 26, 33, 38, 57, 68, 87, 109 etc.). Daran schließt folgende Erzählsequenz an: „Ich ging mit drei Freunden in den Prater. / Die zwei fanden zwei Mädchen und ziehen ab. / Ich bleib allein.“ (vgl. K1/TS10) Zu „Anna“, der „Kassierin beim verwunschenen Schloss“ notiert Horváth: „Sie ist lungenkrank. / Ihr Mann (oder Bräutigam) der Besitzer der Grottenbahn. / Ihr Vater, der Schlossbesitzer“. Darunter vermerkt er: „Die Abnormitäten“ und „Die Achterbahn“, was, wie das spätere Kapitel „Das verwunschene Schloss“ insgesamt, an Entwürfe und Textstufen zu dem Volksstück Kasimir und Karoline (WA 4) erinnert. Zuletzt notiert er „Das Hotel“, das er mit keinen weiteren Notizen versieht. Unter den beiden Begriffen „Phasen“ und „Bilder“ trägt Horváth den Strukturplan E3 ein, der eine detaillierte Handlungsfolge (in den erwähnten „Bildern“, es sind deren neun) für das Kapitel „Das verwunschene Schloss“ skizziert. Die Bilderfolge lautet: „Das Kennenlernen an der Kasse des verwunschenen Schlosses“, „Die Fahrt mit der Grottenbahn“, „Die Grottenbahn wird zugesperrt“, „Bei der Wahrsagerin“ (nachträglich eingefügt), „Im Hotel“, „Der Zusammenstoss mit dem Inhaber der Grottenbahn“, „Der Soldat kämpft um sein Glück“, „Der Soldat bleibt die ganze Nacht“ und „Der Soldat wird eingesperrt, weil er in der Nacht nicht heimkam“. Zusätzlich zu diesen Bildern macht sich Horváth in E3 eine Reihe von Notizen. Zum dritten Bild notiert er: „Ich gehe mit ihr zu den Abnormitäten.“ Zum vierten Bild „Im Hotel“ vermerkt er: „Das selbstverständliche Zusammentreffen“. Zu den Bildern sechs bis acht

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notiert er: „[E]inigemale bricht er heimlich aus der Kaserne aus“. Auch eine „Unterbrechung durch den Krieg“ wird hier vermerkt sowie der Satz: „Er kehrt zurück und das Haus steht nicht mehr“, was sich wahrscheinlich auf das „verwunschene Schloss“ bezieht (vgl. K1/E23). H3 = ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 5, 6 2 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E4 = Notizen (Bl. 5 oben) E5 = Strukturplan in 4 Kapiteln mit Titel „Die Beziehung zwischen dem Soldaten und Anna“ mit Notizen und Repliken (Bl. 5 unten und Bl. 6)

Die vorliegenden Blätter gehören zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In E4 macht sich Horváth eine Reihe von Notizen, die wohl das zweite Kapitel „Das verwunschene Schloss“ betreffen, um dessen neue Betitelung er in den eingetragenen Notizen ringt. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Titeln „Die Ballade vom Rande der Zeit“ (vgl. K1/E27), „Geschichte einer kleinen Liebe“, „Anna, die Soldatenbraut“ (seit K1/E10 belegt), „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“ (als Kapiteltitel erstmals in K1/E18), „Liebe und Pflicht“, „Im Schatten der Zeit“ und „Die Märchen der Liebe. oder: Das Märchen vom Ende der Welt“ um Alternativen für die Benennung der Entstehung der „Beziehung zwischen dem Soldaten und Anna“ (E5). Es wäre aber auch möglich, dass es sich dabei um Kapiteltitel und also um eine Kapitelfolge handelt, was E5 vermuten lässt, wo ein Teil dieser Titel als Kapiteltitel wiederkehrt. Hier arbeitet Horváth nämlich einen Strukturplan in vier Kapiteln aus, wobei der Titel „Die Beziehung zwischen dem Soldaten und Anna“, den Horváth über den Strukturplan stellt, möglicherweise als Werktitel gedacht war. Die Kapitelfolge lautet hier: „Geschichten der kleinen Liebe“, „Die Ballade von der grossen Liebe“ (erstmals in K1/E27), „Im Schatten der Zeit“ und „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“. Zum ersten Kapitel notiert der Autor in E5: „Es wird doch wieder nur eine kleine Liebe, wie so oft. / In der Trambahn überleg ich mir die kleinen Lieben meines Lebens. / Ich kenne sie nicht, die grosse Liebe. Und ich mag keine grosse Liebe! Aber ich möchte mit ihr im Bett liegen.“ Zum zweiten Kapitel macht sich Horváth folgende Notizen: „Ich hab meine Pflicht verletzt. Ich kam erst in der Frühe in die Kaserne. Und daran ist die Liebe schuld. / Aber sie sollen mich nur einsperren! / Ich bin zum Opfer bereit.“ (vgl. E8) Zunächst als drittes Kapitel war eine Reihe geplant, die der Autor unter den Titel „Die Stationen, wie die Liebe entstand“ setzt. Doch er streicht die Kapitelnummer drei wieder und fügt diese Stationenfolge zum zweiten Kapitel hinzu: „sie ist mir entgegengekommen“, „der Schnurrbart des Vaters“, „die erste Nacht; sie war so selbstverständlich, als kannten wir uns schon“, „die zweite Nacht, sie war so neu, als hätten wir uns nie gekannt“ und „die dritte Nacht – sie war am Rande der Zeit“. Das dritte Kapitel notiert Horváth auf Bl. 6, das den Strukturplan E5 fortsetzt. Hierzu vermerkt er: „Ich weiss, dass ich fortmuss in einen Krieg, aber ich darf es nicht sagen.“ Zum vierten Kapitel „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“ (vgl. K1/E9, E16/Bl. 8, E18, E21 und E23) notiert er: „Denn für den Mann gibt es grössere Verpflichtungen, als das Bett. / Ich nehme Abschied von ihr. / Ich muss jetzt fort. / Das Vaterland ruft. / Die Pflicht ruft. / Lebe wohl! / Auf Wiedersehn!“ (vgl. K1/E20, K2/E8 und TS7) Damit wird im Vergleich zu den

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Konzeption 2

früheren Strukturplänen klar, worum es in dem Kapitel gehen soll, nämlich um den Abschied des Soldaten von der Geliebten, aus deren Bett er an die Front muss. H4 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 13, 15 2 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1, 2 E6 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Notizen und Repliken Druck von Bl. 15 in: KW 14, S. 219.

Die beiden Blätter 13 und 15 der Mappe BS 26 l [1] dürften entgegen der vorgenommenen Foliierung genetisch zusammengehören. Dies legen nicht nur die Blattqualität und -größe nahe (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7), sondern vor allem eine nachträglich von Horváth eingefügte Paginierung, die im gleichen Schriftstil und -schwung verfasst ist und Bl. 15 als Fortsetzung von Bl. 13 ausweist. In E6 notiert Horváth einen Strukturplan in sieben Kapiteln, den er mit zahlreichen Notizen und Repliken versieht. Die Kapitelfolge lautet: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Hymne vom Krieg ohne Kriegserklärung“, „Die Ballade von der Soldatenbraut“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Don Juan kommt aus dem Krieg / Im Taumel des Sieges“ und „Am Grabe“. Auf Bl. 15 trägt Horváth zunächst noch ein fragmentarisches achtes Kapitel ein: „Ich gehe weiter und fordere nun mein“, streicht diesen Titel aber wieder und notiert noch einmal das siebente Kapitel „Am Grabe“, zu dem er eine kurze Erzählsequenz ausarbeitet. Die Einteilung in sieben Kapitel findet sich in einigen Strukturplänen von K1 (E18, E21–E24 und E27–E29) und stellt generell eine von Horváth bevorzugte Strukturierungsgröße dar (vgl. etwa das Schauspiel Der jüngste Tag, WA 10). Die ersten drei Kapiteltitel finden sich in vielen vorhergehenden Strukturplänen, zuletzt in E1, das vierte Kapitel benennt Horváth gemäß K1/E28, wo er zum ersten Mal von der „Ballade von der Soldatenbraut“ spricht. Sie soll laut einer Notiz in E6/Bl. 13 eine „Frau des fremden Landes“ sein, „deren Sprache ich nicht verstehen kann, die mich aber beschützt, da ich verwundet bin – die Liebe“. Hierzu vermerkt Horváth auch: „2. Inkarnation“. Die Idee einer Verwundung des Ich-Erzählers hat der Autor schon in Vorarbeit 2 angedeutet (vgl. VA2/E9). Sie findet hier erstmals ihre wirkliche Umsetzung und bleibt bis zur Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit erhalten (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 53 und 55). Außerdem notiert er hier: „Jeden Tag: Wird das Bein abgenommen oder nicht? Ich bin um zehn Jahre gealtert.“ Zunächst hatte er „der Arm“ geschrieben und damit erstmals den Körperteil genannt, der im späteren Roman von der Verwundung betroffen ist (vgl. ebd.). Außerdem vermerkt der Autor hier noch: „Wir haben gesiegt. Ich werde abgebaut, wegen meiner Verwundung“, was der späteren Entlassung aus dem Heer im Roman entspricht. Das Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ findet sich ebenfalls schon in Strukturplänen von K1 (E28 und E29). Es bleibt bis zur Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit erhalten, wo es das neunte Kapitel darstellt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 138–152). Hierzu notiert Horváth: „Das verwunschene Schloss gibts nichtmehr; die Frau hat geheiratet; ich beobachte sie im Familienleben; sie spielt Karten mit der Frau mit dem Bart; ihr Mann ein Schausteller: ein Atlet“. Weiters vermerkt er: „Bekomme eine Rente, aber von der Rente kann ich nicht leben“, womit bereits der spätere Romanschluss angedeutet ist, in dem der Ich-Erzähler aber keine Rente bekommt, arbeitslos ist und bei und von seinem Vater lebt. In E6/Bl. 13 verdingt er sich allerdings als „Vertreter“, wie Horváth zum sechsten Kapitel notiert, das einen deut-

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lichen und expliziten Bezug zum 1936 abgeschlossenen Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg markiert. Die vom Autor hier notierte Wendung „Der Krieg ist aus“ bildet im Schauspiel den Titel des ersten Aktes (vgl. WA 9/K1/E1 und K5/TS10/A11/BS 19, Bl. 7). Den alternativen Titel „Im Taumel des Sieges“, den Horváth für dieses Kapitel notiert, lehnt er ebenfalls an Don Juan kommt aus dem Krieg an, wo der Titel des zweiten Aktes „Im Taumel der Inflation“ lautet (vgl. WA 9/K1/E47 und K5/TS10/ A11/BS 19, Bl. 7). Eine explizite Bezugnahme auf den Don Juan findet sich bereits in K1/E14/Bl. 12. Auch der Titel des Schlusskapitels „Am Grabe“ ist an den Don Juan angelehnt, wo ein solches Bild bis zuletzt das Schlussbild darstellt (vgl. WA 9/K1/E19 und K5/TS10/A11/BS 19, Bl. 8, hier allerdings unter dem Titel „Friedhof“). Es ist auffällig, wie stark der Roman zu diesem Zeitpunkt der Konzeption noch unter dem Einfluss des Schauspiels steht, sich aber im Laufe von K2 wieder von diesem emanzipieren wird, auch wenn gewisse Motive und Strukturelemente (Rückkehr aus dem Krieg, Suche nach der Braut, Schnee und Kälte, Tod) bis hinein in die Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit erhalten bleiben. Auf Bl. 15 notiert Horváth zum Schlusskapitel „Am Grabe“ folgende Zeilen: „Der Schneemann denkt, während er stirbt: Und es kommen die Nebel der Zukunft. / ‚Ich würde sie alle über den Haufen schiessen. Ich denke an die Zukunft –‘ / Und jetzt kommt eine andere Zukunft. Und ich bin tot. / Man fand mich in der Frühe. / Erfroren. / Sie trugen mich weg. / Ich sehe Euch alle. / Und ich weiss, jetzt muss ich fort. / Fort vor Gottes Thron. / Und dort werde ich berichten. / Ich weiss nicht, was Gott sagen wird. / Er wird sagen: ‚Liebe Deine Feinde, aber hasse den Irrtum!‘“ (vgl. K1/E24) Damit skizziert Horváth erstmals in deutlicher Weise den Schluss seines Romanprojekts, das hier allerdings noch eine ‚himmlische‘ Facette enthält (vgl. K1/E18), die in der Endfassung entfallen wird. Das Motiv des erfrorenen „Schneemanns“ bleibt indes erhalten (vgl. VA1/TS11, K1/E18–E24, E27–E29, K2/E10–E14, E22, E25, E26, E31, E32/Bl. 4, E33, E35, E36, E39, TS21, E40, TS24/Bl. 1, K3/E3, E4, E6–E8, TS16, TS17/A1 und A2), auch wenn es zu diesem Zeitpunkt nicht den Titel des Schlusskapitels darstellt (vgl. anders: K1/E18 und E21). H5 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 15v 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E7 = Notiz

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). E7 wurde auf die Rückseite von Bl. 15 von E6 notiert. Wahrscheinlich erfolgte dieser Eintrag kurz nach der Niederschrift von E6. In E7 notiert sich Horváth eine Bemerkung zur Frage des Verhältnisses von Staat, Individuum und Gott, die bis zur Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit (vgl. etwa K3/TS18/Horváth 1938b, S. 15 und 47) eine zentrale Rolle innerhalb des Romanprojekts spielen wird. Der Autor vermerkt in E7: „Denn es ist nur der einzelne verpflichtet vor Gott und niemals das Kollektiv, das Vaterland und dergleichen!“ Der „[E]inzelne“ kehrt in Form von Notizen und auch in der eines eigenen Kapiteltitels in einigen Entwürfen von Konzeption 2 wieder (vgl. K2/E11, E31 und E33–E36; vgl. auch WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 79).

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Konzeption 2

H6 = ÖLA 3/W 150 – BS 26 a [3], Bl. 1–6 6 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 3–8 TS2 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck der Grundschicht von Bl. 1–5 (gemeinsam mit K1/TS10) in: Horváth 1975, S. 58–62.

Die vorliegenden Blätter entstammen wieder dem Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Die handschriftliche Paginierung weist die Blätter als zusammengehörig aus. Wahrscheinlich gab es noch zwei Blätter, die TS2 vorangingen und die die Paginae 1 und 2 trugen. Diese sind aber im überlieferten Material zu Ein Kind unserer Zeit nicht mehr aufzufinden. TS2 stellt eine Fassung des Kapitels „Das verwunschene Schloss“ dar, das seit K1/E18 als zweites Kapitel des Werkprojekts belegt ist und zuletzt im Strukturplan E6 erwähnt wurde. Auch der Beginn der Fassung, „Und wie ich so weitergehe, komme ich zu dem verwunschenem Schloss“, lässt vermuten, dass es sich dabei um die Fortsetzung einer Passage handelt, in der der Ich-Erzähler auf dem Rummelplatz gezeigt wurde. Das verwunschene Schloss wird hier bereits „mit seinen Giebeln und Türmen und Basteien“ beschrieben (vgl. TS5/Bl. 3). Der Soldat trägt „weiss[e] Handschuh[e]“ (vgl. K1/TS10/Bl. 1, K2/TS4, TS5/Bl. 2 und 5, TS14/Bl. 1 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 26 und 33) und er fürchtet, dass sie schmutzig und „schwarz“ (Bl. 1) werden. Er erblickt eine „junge Frau“ an der „Kasse“ (ebd.; vgl. E2). Er bemerkt ihre „grosse[n] Augen“ und ihren „Mund“ (Bl. 2; vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 36). Er sieht sie an, aber sie sieht weg. Schließlich geht er weiter und kauft sich ein Eis (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 37). In nuce ist darin schon das spätere Kapitel „Das verwunschene Schloss“ erkennbar. Doch Sätze wie: „Sie sah so fein aus und prüde und doch ist sie eine Sau, ging es mir durch den Sinn“ (Bl. 2) deuten auf eine frühere Bearbeitungsphase. Der Soldat kauft sich ein zweites Eis und sieht, wie die junge Frau ihm zulächelt. Da kommt ein Offizier vorbei und der Soldat „salutier[t]“ ihm, denn: „Einen Offizier muss man salutieren.“ (Bl. 3; vgl. K1/TS8/Bl. 2) Er beschließt, ins verwunschene Schloss zu gehen, um mit der jungen Frau reden zu können. Er kauft ein Billett. Und die Frau klagt darüber, dass „[d]ie Geschäfte“ „schlecht“ „gehen“ (Bl. 4; vgl. E8). Schließlich geht der Soldat hinein und verstaucht sich den Fuß in einer „Untiefe“ (Bl. 4). Wie er auf dem Boden sitzt, umarmt er plötzlich „ihre Beine, aber unter dem Rock“ (Bl. 5). Sie wehrt sich nicht, sondern lässt sich sogar küssen. Hier bricht die kontinuierliche narrative Ausarbeitung ab. Horváth macht sich jedoch in der Folge Notizen zum weiteren Verlauf. So soll der Soldat ins „Lazarett“ kommen und die junge Frau besucht ihn (vgl. Bl. 5). Als er „Ausgang“ hat, bleibt er bei ihr über Nacht „im Schräbergarten“ (Bl. 5; vgl. E8 und TS3/Bl. 18). Als der Soldat in der Früh in die Kaserne kommt, wird er vom Hauptmann rausgeschmissen, denn: „Der Hauptmann ist ein feiner Mensch“ (Bl. 5), wie es in einer Variante heißt. Zuletzt notiert Horváth zwei weitere Kapiteltitel. Kapitel drei sollte zunächst „Krieg ohne Kriegserklärung“ (vgl. VA1/E25, VA2/E4–E6, E9, K1/E16/Bl. 8, E21–E24, E27–E29, K2/E1 und E6) heißen, wird dann jedoch zu „Der Bonze“ (vgl. K1/E16/Bl. 9 und E17–E24) korrigiert. Darin sollen die „Greuel des Krieges“ beschrieben werden, die „Sinnlichkeit nach ihr“ und ein nächtlicher Überfall auf das „Nachbarland“, was an frühere Entwürfe erinnert (vgl. VA2/E5/Bl. 10, E9 und K1/E14/Bl. 11f.), aber auch an die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46–48). Hier vermerkt der Autor auch, dass es der Soldat ist, der „Bonze“ wird

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Chronologisches Verzeichnis

(vgl. K1/E16–E24). Das abschließende vierte Kapitel soll „Im Krankenhaus“ spielen. Der Soldat erinnert sich „dunkel an das verwunschene Schloss“: „Das verwunschene Schloss wird abgebaut“ (vgl. K1/E24). Zuletzt notiert Horváth zum Krieg, dass es dabei nur ums „Geschäft“ gehe, eine Notiz, die auf die Reflexionen über Krieg und Geschäft sowie über das skrupellose Verhalten der Unternehmer in Ein Kind unserer Zeit vorausweist. H7 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 19 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E8 = fragm. Strukturplan in 2 Kapiteln mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt entstammt dem Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7) und dürfte im Kontext von TS3 entstanden sein. Kapitel zwei lautet: „Das verwunschene Schloss“, Kapitel drei: „Im Schrebergarten“. Letzterer findet sich auch in K1/E24, K2/TS2/Bl. 5 und TS3/Bl. 18. Einen weiteren Hinweis auf das genetische Naheverhältnis von E8 und TS3 stellt das Bild der „Schiffe“ und des „Meers“ dar. Während die „Schiffe“ jedoch in E8 noch im „Meer“ versinken, fährt in TS3 ein „Schifflein […] über das Meer mit goldenen Segeln. Und der Wind ist Musik und die Segeln sind voller Musik und das Meer kommt über meine Seele –“ (TS3/Bl. 17). Derartige poetische Formulierungen liegen E8 noch fern. Hier geht es um das „zweite Treffen“ zwischen dem Soldaten und seiner Braut, das eine Woche nach dem ersten Zusammentreffen stattfindet. Auch der Liliputaner wird hier erwähnt (vgl. K1/E27–E29). Zu ihm notiert Horváth: „und dann werde ich später an ihn erinnert: in No 6.) in den Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“. Ein Kapitel sechs mit diesem Titel findet sich in K1/E27, wird dort allerdings gestrichen und durch „Der Schneemann“ ersetzt. In E4 und E5 stellt es das vierte Kapitel dar. Eine Replik der Braut in E8 lautet: „Es geht mir nicht gut. Wirtschaftlich.“ (vgl. K1/E21 und K2/TS2/Bl. 4) Der Liliputaner erscheint als „Wucherer“. In Kapitel drei, dem „Schrebergarten“, sollte ein wichtiges Thema zwischen dem Soldaten und seiner Braut diskutiert werden, nämlich die Frage nach „Liebe und Pflicht“ (vgl. E4), bei der der Soldat zu dem Schluss kommt: „Aber die Pflicht steht über der Liebe.“ (vgl. E4, TS7, E19 und E26) H8 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 13–15, 17, 18 Insgesamt 5 Blatt, davon 4 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“ und 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Doppelbogen, schwarzblaue Tinte, Wasserzeichen „Drei Sterne“, Paginierung 1–5 E9 = Strukturplan in 3 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat der Diktatur“ (Bl. 17 oben) TS3 = fragm. Fassung (Korrekturschicht; Bl. 17 mittig und unten, Bl. 18 und Bl. 13–15) Druck von Bl. 17 und 18 unter dem Titel „Die Ballade von der Soldatenbraut“) in: KW 14, S. 161f. Druck von Bl. 13 und 14 (gemeinsam mit K1/TS8 unter dem Titel „Anna, die Soldatenbraut“), in: Ebd., S. 163–165.

Die vorliegenden Blätter gehören zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Die Zusammengehörigkeit und Folge der Blätter lässt sich aus den darauf eingetragenen Paginae erschließen; außerdem deuten Schriftduktus und inhaltliche Elemente auf die zeitliche Nähe der Ausarbeitung. In E9 notiert Horváth einen Strukturplan in drei

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Konzeption 2

Kapiteln mit den Kapiteltiteln: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“ und „Die Ballade von der Soldatenbraut“. Er nimmt damit die ersten beiden Kapiteltitel von E6 wieder auf und setzt den vierten Kapiteltitel dieses Strukturplans ins dritte Kapitel. Anschließend arbeitet er eine Fassung TS3 dieses dritten Kapitels „Die Ballade von der Soldatenbraut“ aus. Er beschreibt darin ein einschneidendes Liebeserlebnis, das den Soldaten erkennen lässt, was die Liebe ist (vgl. das Kapitel „Das verwunschene Schloss“ in Ein Kind unserer Zeit). Er verliebt sich in das Fräulein Anna und sieht die Welt deshalb ganz neu (vgl. K1/E27). Die ganze Woche wartet er auf den Sonntag, an dem er mit ihr ausgehen wird (vgl. E8). Eine Notiz lautet: „Im Schräbergarten“ (Bl. 18; vgl. K1/E24, K2/TS2/Bl. 5 und E8). Als er mit ihr ins Café geht, liest er in den Zeitungen vom „Ende Europas“ (vgl. das Kap. „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“ in K1/E9, E16/Bl. 8, E18, E21, E23, K2/E4, E5 und E8). Im Café bemerkt er auch, dass er sie nicht mehr liebt. Sie, ein Kassafräulein (vgl. E2, TS2/Bl. 1, E12, E35, TS21/Bl. 10 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 35), ist nämlich „31“ und er erst „22“ und sie ist ihm einfach zu alt (Bl. 14). Hier fällt auch wieder der Satz vom „Kriegskind“, das sich an den „Weltkrieg nichtmehr erinnern“ (ebd.) kann (vgl. VA1/TS7/Bl. 2, VA2/E1, TS2, TS3/Bl. 4 und TS5/Bl. 1). Der Soldat ist davon überzeugt, dass er mit seinen Kameraden Europa „retten“ (Bl. 14) wird. Gegen Ende (auf Bl. 15) zerfällt die Fassung in Notizen. Hier vermerkt Horváth wieder die „Visionen der europäischen Zerstörung des Abendlandes im Bett“ (vgl. oben). Außerdem notiert er „Die Versuchung des hl. Antonius“, „Volk ohne Raum“, „Die Praeservativs“ und „[h]immlische und irdische Praeservativs“ (Bl. 15). Als er mit seiner Geliebten im Bett liegt, denkt er an eine andere, an „Thea“ (ebd.). Weiters notiert er: „Sie bekommt ein Kind; er dagegen“ (ebd.). Die Kind-Problematik durchzieht die Entwürfe und Textstufen von Konzeption 1 (vgl. K1/E6, TS2/Bl. 6, E11, E14/Bl. 11f., E16/Bl. 8, E18, TS9/Bl. 5, E21–E23, E25, E27 und E29). Auch in Konzeption 2 spielt die Thematik eine zentrale Rolle und bleibt bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten, wo Anna wegen illegaler Abtreibung zwei Jahre ins Gefängnis muss (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 175). Eine Notiz lautet: „Am Anfang jedes Volkes stehen die Engel mit den feuerigen Schwertern.“ (Bl. 15) Sie wird in K2 wiederholt erwähnt und dabei etwas abgewandelt und findet sich in der später entwickelten Form noch in der Endfassung des Romans (vgl. TS8, Grundschicht, TS9, E32/Bl. 4, TS21/Bl. 9 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 199). H9 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 20 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte TS4 = fragm. Fassung mit Titel „Die Ballade von der grossen Liebe“ (Korrekturschicht) Druck in: KW 14, S. 158.

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In TS4 arbeitet Horváth eine Fassung des Kapitels „Die Ballade von der grossen Liebe“ aus, die erstmals in K1/E27 erwähnt wird und als „Ballade von der Soldatenbraut“ seit K1/E28 belegt ist. Zuletzt wurde der von TS4 geführte Titel im Strukturplan E5 im zweiten Kapitel genannt. Wieder wird in der Textstufe erwähnt, dass der Ich-Erzähler ein anderer wurde durch die Liebe (vgl. TS3/Bl. 18): „Ich bin wirklich ein anderer Mensch geworden. Ich glaube sogar, ein besserer –“ und: „Aber wenn ich heut denke, wie ich war

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vor einem Jahr um diese Zeit, dann gefall ich mir nicht.“ Eine ähnliche Persönlichkeitsveränderung findet sich noch im späteren Kapitel „Das verwunschene Schloss“, wo Horváth eine Soldatenfigur zeichnet, die misogyn ist und niemanden liebt, sondern alle nur hasst (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 27–29 und 34), dann aber durch den Anblick der „Linie“ gewandelt wird. Am Ende von TS4 notiert der Autor eine Reihe von Stichwörtern, die wie Kapiteltitel wirken und in E4 und E5 vorgebildet sind: „Die Geschichten der kleinen Liebe“, „Die Stationen der Liebe“, „Im Schatten der Zeit“ und „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“. Sie spielen in der Folge mit Ausnahme des letzten Titels keine Rolle mehr. T2 = ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 1–5 (vgl. H11) 5 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, Paginierung 28–32 TS5 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck von Bl. 4 und 5 in: KW 14, S. 159f.

Die Blätter der Mappe BS 26 c [2] tragen die Paginae 28–32 und sind so relativ eindeutig als zusammengehörig erkennbar. Die Bl. 1–3 bilden den Abschluss des Kapitels „Das verwunschene Schloss“, das im Strukturplan E8 das zweite Kapitel bildet und seit dem Strukturplan K1/E18 für das zweite Kapitel belegt ist. Die Bl. 4 und 5 stellen dann den Beginn eines Kapitels dar, das in der Grundschicht den Titel „Am Rande der Zeit“ trägt. Der genaue Titellaut ist in der Grundschicht von K1/E27 belegt, wo er das dritte Kapitel bildet, weiters finden sich ähnliche (Kapitel-)Titel wie „Die Ballade vom Rande der Zeit“ oder „Im Schatten der Zeit“ in E4, E5 und TS4. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass das vorliegende Typoskript im Kontext dieser Strukturpläne und Textstufen oder wenig später entstanden ist, da vergleichbare Kapiteltitel in der Folge nicht mehr auftauchen. In der Fassung TS5 träumt der Soldat davon, „eine Wohnung zu haben, und Kinder --“, als er das Fräulein vom verwunschenen Schloss kennenlernt, aber er glaubt, „einem Soldaten steht nur eine kurze Liebe zu“ (Bl. 1). Diese Wendung steht in krassem Gegensatz zur „Ballade von der grossen Liebe“, die erstmals in K1/E27 und zuletzt in TS4 erwähnt wurde. Der Soldat befindet sich im „verwunschene[n] Schloss“ und betrachtet ein „Skelett“ (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 43). Auch von der „Linie“ (vgl. den Kommentar zu E1) ist hier die Rede, die noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit ein zentrales Motiv darstellen wird (vgl. etwa K3/TS18/Horváth 1938b, S. 36, 40 und 42f.). Im Gegensatz zu dieser kommt es jedoch in der vorliegenden Fassung TS5 noch zu einer deutlichen und längeren Interaktion zwischen dem Ich-Erzähler und dem Fräulein, dem er hilft einen Nagel rauszuziehen, was sie mit den Worten quittiert: „Da sieht mans halt, einen Mann kann man immer brauchen!“ (Bl. 1) Die „weissen Handschuhe“ (Bl. 2), die der Soldat trägt, verweisen zurück auf K1/TS10/Bl. 1 und K2/TS2/Bl. 1 und deuten eine genetische Nähe zwischen diesen drei Fassungen an (vgl. den Kommentar zu TS2). Als der Soldat zurück in die Kaserne geht, fasst er den Entschluss, am „nächsten Sonntag“ (Bl. 2; vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 44) wieder herzukommen. Und es ist ihm plötzlich, „als würde ich nichtmehr alles hassen“ (Bl. 3; vgl. TS4). Die „Katzen“, die „konzertieren“, die Horváth in der Korrekturschicht notiert, bleiben bis zur Endfassung erhalten (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 44). Das folgende Kapitel zeigt den Soldaten, der immer an das „Fräulein“ denken muss und die Tage bis zum „nächsten Sonntag“ (Bl. 4) zählt. Er reflek-

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Konzeption 2

tiert darüber, ob das Fräulein wohl „wie alle“ (ebd.) ist und hofft, dass sie anders sei. Als es endlich Sonntag ist, geht er wieder zum „verwunschenen Schloss“ (Bl. 5). Wieder trägt er „weiss[e] Handschuh[e]“, aber es ist ein „Sauwetter“ (ebd.). Den Soldaten stört der Regen aber nicht, denn in ihm scheint eine Sonne, und er singt vor sich hin und pfeift „allerhand Lieder“ (ebd.). Horváth markiert nachträglich einige Passagen von TS5 mit rotem Buntstift, was darauf hindeuten dürfte, dass er diese Textabschnitte weiterverwenden wollte. Den Strukturplan, den er handschriftlich auf Bl. 4 einträgt, dürfte er erst etwas später notiert haben (vgl. E10). Dass er dabei zu dem Werktitel von Konzeption 1 „Ein Soldat seiner Zeit“ zurückgreift, lässt in diesem Fall wohl keine Schlüsse auf eine frühere Positionierung dieser Blätter zu, sondern es dürfte sich dabei um einen für Horváth durchaus üblichen Rückgriff handeln, wie ja generell der Titel des Werkprojekts zu diesem Zeitpunkt noch nicht definitiv feststeht (vgl. etwa E9–E13, E18, E21, E35 und E39; vgl. auch das Vorwort in diesem Band, S. 3–5). H10 = ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 21 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, roter Buntstift, Paginierung 27 (zweimal) TS6 = gestrichene fragm. Fassung (oben; Korrekturschicht) TS7 = fragm. Fassung (unten; Korrekturschicht) Druck von TS7 in: Horváth 1975, S. 247.

Das vorliegende Blatt entstammt dem Konvolut von überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Sterne“, zwischen denen ein genetisches Naheverhältnis unbedingt anzunehmen ist (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Im vorliegenden Band erstrecken sie sich auf die beiden Vorarbeiten und die Konzeptionen 1 und 2, wobei sie in Letzterer etwa ab der Mitte durch die Blätter mit Wasserzeichen „Drei Räder“ abgelöst werden (vgl. den Kommentar zu E14). In TS6 und TS7 arbeitet Horváth zwei Fassungen aus, die offensichtlich ein Blatt mit der Pagina 26 und damit eine längere Fassung fortsetzen oder ein Blatt mit der Pagina 27 ergänzen sollten. Da die Pagina 27 über jeder der beiden Fassungen steht, ist davon auszugehen, dass es sich bei beiden Textstufen um Zusätze oder Ersetzungen handelt, wobei TS6 nachträglich gestrichen und wahrscheinlich selbst wieder durch TS7 ersetzt wurde. Die vorhergehende Textstufe TS5 reicht von Pagina 28 bis 32, ist aber nicht vollständig überliefert, weshalb es möglich wäre, dass es sich bei TS6 und TS7 um handschriftliche Ergänzungen zu dieser Fassung handelt. In TS6 notiert Horváth eine Reihe von Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Staat und Individuum (vgl. E5/Bl. 6, E7, E8, E11, E19, TS8, TS9, E26, E31, E33 und E35), die keinem bestimmten Kapitel zuordenbar sind. Da die Fassung aber mit den Worten „Im Schatten der Geschichte“ einsetzt, ist ein genetisches Naheverhältnis zu den Entwürfen E4 und E5 anzunehmen, wo diese und ähnliche Formulierungen („Im Schatten der Zeit“) ebenfalls vorkommen. Auch zu dem seit K1/E27 belegten und in TS5/Bl. 4 (Grundschicht) wiederaufgenommenen Titel „Am Rande der Zeit“ besteht ein Bezug. In TS7 setzt Horváth die Formulierungsbemühungen von TS6 fort und notiert schließlich den Satz: „Das Vaterland hat gesiegt, aber es nimmt auf das Privatleben seiner Kinder noch immer keine Rücksicht.“ (vgl. E5/Bl. 6, E8, E19, E26 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 142) Diese Variante kreist der Autor nachträglich mit rotem Buntstift ein, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass er sich letztlich für sie

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entscheidet. Dies zeigt sich auch darin, dass er sie in E19 in abgekürzter Form, aber mit demselben Wortlaut wiederaufnimmt. Darunter befindet sich die Ausarbeitung einer Passage über die Soldatenbraut, die die Reflexionen über das Verhältnis von Vaterland und Individuum fortsetzt. Hier heißt es: „Wenn ich es wüsste, wie sie heisst, dann würde ich ihr einen Brief schreiben.“ In diesem Brief würde der Ich-Erzähler seiner Braut erklären, warum er sie am Sonntag nicht sehen kann, weil nämlich das „ganze Regiment“ „schon am Freytag“ eingezogen wird und fort muss und „niemand weiss, wohin“, aber: „Wir können es uns schon denken, an welche Grenze.“ Den Grund dafür könne er ihr aber ohnehin nicht schreiben, denn „darauf steht der Tod“ (vgl. VA2/E9). Die hier notierten Passagen finden sich in ähnlicher Form in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46f.), was ein wesentliches Argument dafür ist, dass TS6 und TS7 nach TS5 zu reihen sind. H11 = ÖLA 3/W 153 – BS 26 c [2], Bl. 4 (vgl. T2) 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, schwarzblaue Tinte, masch. Paginierung 31 E10 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat seiner Zeit. Roman“

Der Strukturplan E10 wurde nachträglich auf BS 26 c [2], Bl. 4 eingetragen, das Teil einer fragmentarischen Fassung (TS5) ist. In E10 greift Horváth auf den Werktitel von Konzeption 1 „Ein Soldat seiner Zeit“ zurück (in exakt dieser Form erstmals in K1/E5). Dies ließe eine frühere Positionierung wahrscheinlich erscheinen, die aber durch die relativ späte Einordnung der ebenfalls auf dem Blatt befindlichen Textstufe, die als gesichert gelten kann, revidiert werden muss. E10 zeigt überdies deutliche Nähe zu den Strukturplänen E11 und E12, deren Kapitelquantität und -qualität er teilt. Die Kapitelfolge von E10 lautet: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Ballade von der Soldatenbraut“, „Die Hymne vom Krieg ohne Kriegserklärung“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel der Zukunft“. Dabei befindet sich gegenüber den beiden nachfolgenden Strukturplänen E11 und E12, aber auch gegenüber E13 das Kapitel „Die Ballade von der Soldatenbraut“ noch an der dritten Position wie in E9 sowie in K1/E28 und E29. Dies lässt vermuten, dass E10 näher bei diesen steht und die Entwürfe E11–E13 erst danach zu positionieren sind. H12 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 11 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte E11 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Das verwunschene Schloss. Roman“ mit Notizen (oben und mittig) E12 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat der Diktatur. Roman“ mit Notizen (mittig und unten)

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Auf dem vorliegenden Blatt entwirft Horváth zwei Strukturpläne in sieben Kapiteln (vgl. K1/E18, E21–E24, E27–E29, K2/E6 und E10), die mit Ausnahme des ersten Kapitels identisch ausfallen. Die Kapitelfolge lautet in E11: „Ein Soldat der Diktatur“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Hymne vom Krieg ohne Kriegserklärung“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Die Ballade von der Soldatenbraut“, „Der Schneemann“ und „Im Ne-

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Konzeption 2

bel der Zukunft“. In E12 ersetzt Horváth den ersten Titel durch „Der Vater aller Dinge“ (vgl. K1/E19 und folgende sowie K2/E1 und E6), was er in E11 zunächst auch geschrieben hatte. Bemerkenswert sind die Transformationen, die der Autor an den Werktiteln der beiden Strukturpläne vornimmt. Während er in E11 den Werktitel „Ein Soldat der Diktatur“ (vgl. E1) erstmals durch „Das verwunschene Schloss“ ersetzt (vgl. das Vorwort zu diesem Band, S. 4), der bisher nur einen Kapiteltitel darstellte, streicht er in E12 den zunächst notierten Werktitel „Das verwunschene Schloss“ wieder und setzt dafür „Ein Soldat der Diktatur“. Die Ersetzungen erfolgen also gegenläufig. Als dritte Titelalternative notiert er anschließend „Im Nebel der Zukunft“ (vgl. E13). Zum fünften Kapitel notiert Horváth in E11 „der einzelne ist alles“ und vermerkt damit neuerlich (vgl. E5/Bl. 6, E7, E8, TS6 und TS7) die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Individuum, die in den folgenden Entwürfen und Textstufen (vgl. E11, E19, TS8, TS9, E26, E31, E33 und E35) und im späteren Roman Ein Kind unserer Zeit eine zentrale Rolle spielen wird (vgl. etwa K3/TS18/Horváth 1938b, S. 15 und 47). Zum sechsten Kapitel „Der Schneemann“ vermerkt er: „Eisblumen“ und „Ich komme an einem Waisenhaus vorbei“ (vgl. VA2/E1, E2, TS5/Bl. 2f. sowie TS6). Das Motiv der „Eisblumen“ nimmt er in den folgenden Entwürfen wieder auf (vgl. E13, E14, E22 und E25). Es verstärkt die Kälte- und Schnee-Motivik, die sich schon in den Vorarbeiten findet (vgl. VA1/TS11 und VA2/E1) und bis zur Endfassung des Romans erhalten bleibt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 37, 41, 60, 66, 82, 90, 101, 131, 134, 142, 155, 160, 168, 184, 194 und 200). In E12 notiert Horváth zum vierten Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“: „Es droht der Verlust des Armes“ und „Ich hab ihn nicht verloren. / Aber ich kann ihn nicht ganz beugen. / Ich weiss noch nicht, wo ich beginnen soll. / Ich bekomme eine Rente, die klein ist. Das ist ungerecht.“ (vgl. E6/Bl. 13 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 53 und 55) Zu Kapitel fünf „Die Ballade von der Soldatenbraut“ vermerkt er: „Und ich suche das Frl. an der Kasse. / Ich weiss es nicht, wo ich sie finde. / Aber ich suche sie überall. / Überall ihre Linie.“ (vgl. den Kommentar zu E1) Das Schlusskapitel „Im Nebel der Zukunft“ (vgl. K1/E16/Bl. 9, E17, E19, E20, E22, E24, E25, E27–E29 und K2/E10; teilweise nur „Im Nebel“) soll eine positive Wendung bringen: „Ich treffe meine Braut. Und wir wohnen auf einer Wolke hoch über allem Elend.“ H13 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 14 1 Blatt unliniertes Papier (341 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarzblaue Tinte, Bleistift E13 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Im Nebel der Zukunft. Roman“ und Notizen Druck in: KW 14, S. 218.

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (343 mm) mit Wasserzeichen „Drei Sterne“ (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). In E13 skizziert Horváth neuerlich einen Strukturplan in sieben Kapiteln (vgl. K1/E18, E21–E24, E27–E29, K2/E6 und E10–E12), den er wie in E12 angedacht unter den Werktitel „Im Nebel der Zukunft“ stellt, der zuvor nur ein Kapiteltitel war (vgl. vgl. K1/E16, E17, E19, E20, E22, E24, E25, E27–E29 und K2/E10–E12; teilweise nur „Im Nebel“). Dies ist ein mehrfach im Laufe der Werkgenese von Ein Kind unserer Zeit beobachtbarer Vorgang, dass Horváth Kapiteltitel zu Werktiteln macht und umgekehrt. Man vergleiche dazu etwa die Transformation des Kapiteltitels „Krieg ohne Kriegserklärung“ von VA1/E25 zum Werktitel in VA2/E4 und den folgenden Entwürfen von VA2 und anschlie-

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ßend wieder zum Kapiteltitel in K1/E16 und den folgenden Entwürfen von K1 und K2 sowie die Transformation des Kapiteltitels „Das verwunschene Schloss“ von K1 zum Werktitel in K2/E11 (vgl. auch die Transformation des Werktitels Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit zum Kapiteltitel in Jugend ohne Gott in WA 15, S. 319f. und 324). Die Kapitelfolge in E13 lautet: „Ein Soldat der Diktatur“, „Das verwunschene Schloss“, „Die Hymne vom Krieg ohne Kriegserklärung“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Die Ballade von der Soldatenbraut“, „Eisblumen“ und „Der Schneemann“. Damit nimmt Horváth im Wesentlichen wieder die Kapitelfolge von E11 auf, nur dass er das sechste Kapitel durch „Eisblumen“ ersetzt (was in E11 schon angedeutet war) und den „Schneemann“ in das siebente Kapitel verschiebt. Der vormalige Titel des siebenten Kapitels „Im Nebel der Zukunft“ wird nun zum Werktitel, eine Idee, die der Autor in der Folge aber wieder fallen lässt. Zum letzten Kapitel „Der Schneemann“ notiert er offenbar in einem etwas späteren Bearbeitungsvorgang, der aber zu E13 gehört, mit Bleistift Folgendes: „Und ich sehe den General. / Ja, er gehört weg. / Und die Soldaten, die mich verfolgen. / Sie gehören weg. – / Ich gehe um die Ecke – / Ich bin nichtmehr. / Ich weiss, wer um die Ecke steht und wartet. / Das Fräulein vom verwunschenem Schloss.“ Damit rekurriert Horváth neuerlich auf die Tatsache, dass gewisse gesellschaftliche Gruppen nach dem Krieg „weg“ gehören (vgl. K1/E16/Bl. 9, E27, K2/E25, E26 und E32/Bl. 4), und entwickelt eine Vision für das Schlusskapitel seines Romans (vgl. E14), in dem die Braut/„die Linie“ eine wichtige Rolle spielen soll (vgl. das vorletzte Kap. „Anna, die Soldatenbraut“ in Ein Kind unserer Zeit). Generell lässt sich beobachten, dass im Laufe von K2 das Kapitel mit der Soldatenbraut bzw. die Suche nach ihr (im Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“) allmählich gegen das Ende verschoben wird (vgl. etwa E22, E27, E31, E32/Bl. 4, E35, E36 und E39). H14 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 12 1 Blatt unliniertes Papier (340 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1 E14 = Strukturplan in 10 Kapiteln mit Notizen, Repliken und Dialogskizzen

Die charakteristische Paginierung auf dem vorliegenden Bl. 12 ist ein Hinweis darauf, dass es dazu irgendwo eine Fortsetzung gab, die jedoch innerhalb der Mappen zum Werkprojekt Ein Kind unserer Zeit nicht aufgefunden werden konnte. Wahrscheinlich ist dieses Blatt verloren gegangen. Erstmals verwendet Horváth für diesen Entwurf ein Blatt mit dem Wasserzeichen „Drei Räder“, wie sie sich auch in weiterer Folge wiederholt finden. Die neue Papierqualität markiert keinen Bruch in der Konzeption, weist aber den entsprechenden Blättern einen späten Status – ab der Mitte von K2 und in K3 – in der Werkgenese zu. In E14 skizziert Horváth einen Strukturplan in zehn Kapiteln, der deutlich von den vorhergehenden Strukturplänen von K1 und K2 abweicht. Erstmals verschiebt er darin das Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ an den Beginn des Romanprojekts. Darauf folgen die Kapitel „Die Mutter“, „Die Tochter“, „Eisblumen“, „Die Flucht“, „Das Gefängnis“, „Der Besuch im Gefängnis“, „Die Grossmutter“, „Das Grab“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel der Zukunft“, wobei die Eigenständigkeit und Reihenfolge der letzten beiden Kapitel aus dem Entwurf nicht ganz klar wird. Damit führt Horváth eine Reihe neuer Figuren und Motive in sein Werkprojekt ein, so die Mutter und ihre Tochter – die Großmutter findet sich bereits in einem früheren Entwurf (vgl. K1/E22) – und das Gefängnis. Im Gegensatz zu K1/E27

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Konzeption 2

soll wohl der Ich-Erzähler darin landen. E14 weist aber noch eine andere Eigenart auf. In vorher kaum gekannter Intensität (vgl. VA1/E16 und K1/E7) sollen hier die „Weiber“ eine Rolle für den Ich-Erzähler spielen. Im ersten Kapitel hat er ein „Erlebnis mit der Hur“. Dann „gibt [er] sich der Mutter aus Minderwertigkeitskomplex, weil er meint, dass keine ihn mag“ (vgl. die Affäre mit der Gattin des Hauptmanns in Ein Kind unserer Zeit, K3/TS18/Horváth 1938b, S. 73 und 78f.). Auf der „Flucht“ bemerkt er jedoch, dass alle Frauen „auf ihn scharf“ sind, sogar im Gefängnis. Zum Kapitel „Der Schneemann“ notiert Horváth erstmals die Szene, die in die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eingehen wird, auch wenn sie hier nur rudimentär ausgeführt wird und eine andere Wendung nimmt: „Zwei Kinder: (kommen) Mutti, ein Schneemann! / Mutter: (schreit auf) / Gendarm: (kommt) Ja, er ist erfroren.“ Eine weitere Notiz lautet: „Und ich werde begraben. Jetzt lieg ich drunten, es gebührt mir auch nichts anderes. Und ich muss spuken und sagen: ‚Macht es anders! Seid nicht so dumm, wie ich![‘] Und so werden wir uns treffen in der Ewigkeit. Ich bin auch eine Linie. Und ich kreuze sie in der Ewigkeit.“ Damit entwickelt Horváth die Idee der Linie (vgl. E1) produktiv weiter und bezieht das Bild auch auf den Ich-Erzähler, was sich in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit allerdings nicht mehr findet. Die meisten Notizen betreffen das Schlusskapitel „Im Nebel der Zukunft“. Hierzu vermerkt Horváth einen Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und dem Hauptmann bzw. alternativ der Linie. Der Ich-Erzähler denkt: „Was ich hätte machen sollen: alle erschiessen.“ (vgl. E13) Der Hauptmann erwidert: „Ja, das stimmt! Das hättest Du machen sollen! Ich war zu feig dazu!“ Oder die Linie: „Ja, das hättest Du machen sollen. Aber ich will Dir jetzt zeigen, was kommt –“, worauf er zunächst „nur Nebel“ sieht. Dann jedoch offenbart ihm die Linie die Zukunft: „Sie zeigt mir einen ganz kleinen Fortschritt. Es wird der Krieg erklärt und wir stürzen die Leute nicht hinab, sondern hängen sie auf oder sperren sie ein in ein Gefängnis. Und dort sterben sie. / Und ich treffe die fünf Gefangenen. Sie sind noch aneinandergefesselt. / Der erste: Ich hab mein Weib geprügelt. / Zweiter: Ich hab betrogen.“ Weiters vermerkt Horváth einen Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und dem jüngsten Gefangenen. Auf die Frage, wofür er kämpfen soll, antwortet Letzterer: „Für die Wahrheit und die Liebe.“ Eine Vision lässt den IchErzähler sich selbst in „5000 Jahren“ sehen. Solche visionären Schlusspunkte finden sich in K2 wiederholt (deutlich in: E12, E25, E31, TS23 und TS24/Bl. 2), gehen aber nicht in die Endfassung ein. Zuletzt notiert der Autor ein paar Ausblicke auf das weitere Leben der Linie. Sie bekennt: „Wenn das verwunschene Schloss zugesperrt wird, werd ich kein Elend leiden müssen. Ich werd ruhig die Kinder kriegen können. Und es werden alle ungeborenen Volksgenossen erscheinen, das wird der Fortschritt sein. Na servus!“ H15 = ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 1, ÖLA 3/W 149 – BS 26 a [2], Bl. 7 2 Blatt unliniertes Papier (339 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1, 2 E15 = Notizen und Dialogskizze zum Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ (Bl. 1 und Bl. 7 oben) E16 = Strukturplan in 5 Kapiteln mit Notizen (Bl. 7 mittig)

Die vorliegenden Blätter BS 26 k, Bl. 1 und BS 26 a [2], Bl. 7 entstammen sehr unterschiedlichen Mappen, dürften aber mit Sicherheit zusammengehören. Dies zeigt sich nicht nur an der Papierqualität und -größe, die identisch sind, sondern vor allem an einer sich ergänzenden unregelmäßigen Reißung an der linken Seite der beiden

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Blätter, die diese als zusammengehörige Hälften eines Bogens ausweist. Auch das auf den Blättern befindliche Wasserzeichen („Drei Räder“) ist dasselbe (vgl. auch E14), während die Blätter der Mappe BS 26 a [2] ansonsten ausschließlich das Wasserzeichen „Drei Sterne“ aufweisen. Nicht zuletzt legen die Paginae 1 und 2 eine Zusammengehörigkeit der beiden Blätter nahe. Im Strukturplan E14 stellt das Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ das erste Kapitel dar. E15 liefert vermutlich Notizen zu diesem ersten Bild, das in E14 mit Ausnahme der Notiz vom „Erlebnis mit der Hur“ unkommentiert bleibt. Zunächst vermerkt Horváth „Briefe an sie; keine Antwort“, was sich wohl auf die Linie bezieht (vgl. TS14/Bl. 2). Dann trägt er den Titel „Variationen über ein unbekanntes Thema“ ein, der in der Folge mehrfach wiederaufgenommen wird (vgl. E18–E20 und TS13/Bl. 5): Hierzu notiert er eine Reihe von Reflexionen des Ich-Erzählers über die „Linie“, die von folgendem Satz ausgehen: „[W]ieso ist es möglich, dass es der ‚Linie‘ schlecht geht, wir haben doch gesiegt?“ (vgl. TS2/Bl. 4 und E8) und mit der Verstörung des Ich-Erzählers enden, dass ihm die „Linie“ nicht auf seine Briefe geantwortet hat. Er will die „Konsequenz“ ziehen und ebenfalls „nichtsmehr von ihr wissen“, aber dann muss er sich eingestehen: „ich träume noch von der Linie –“. In der Folge vermerkt Horváth: „Die Stimme aus dem Grabe“ und „Der Brief des Hauptmanns“ (vgl. E22 und E23). Letzteres Motiv bleibt bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten, wo der Brief des Hauptmanns an seine Gattin eine zentrale Rolle spielt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 54, 77, 80–85 und 89). In der Folge notiert der Autor einen Dialog zwischen der Mutter der „tanzende[n] Tochter“ und dem Ich-Erzähler, in dem es um den Brief des Hauptmanns geht. Der Hauptmann soll hier offensichtlich nicht nur eine Frau, sondern auch eine Tochter haben (vgl. E22 und E23). Aus dem Brief erfährt die „Mutter“, dass sich der Hauptmann „selber getötet“ hat. Sie bittet den Ich-Erzähler, dass das „niemand erfahren“ soll, denn sonst verliert sie vielleicht ihre „Pension“. In der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit widerspricht der Brief der Realität, in der der Hauptmann im Kampf gefallen ist, während er im Brief behauptet, sich erhängt zu haben (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 82f.). Auch Konflikte zwischen dem „altmodische[n]“ Hauptmann und seiner Gattin werden hier von Horváth bereits angedeutet (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 77) Auf BS 26 a [2], Bl. 7 notiert der Autor „Die erste Nacht“ zwischen der „Mutter“ und dem Ich-Erzähler, wobei dieser ein „Gespräch“ belauscht, „zwischen Mutter und Tochter“. In E16 schließlich skizziert Horváth einen Strukturplan in fünf Kapiteln, der Teile von E14 wiederaufnimmt. Die Kapitelfolge lautet hier: „Das Gefängnis“, „Der Besuch“, „Bei der Grossmutter“, „Auf dem Grabe“ und „Wieder an der Front / Im Nebel der Zukunft“. H16 = ÖLA 3/W 176 – BS 26 j [2], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 208 mm), Doppelbogen, gefaltet, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E17 = fragm. Strukturplan mit Notizen, Dialogskizze und Repliken

Das vorliegende Blatt entstammt wieder dem Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die etwa ab der Mitte von Konzeption 2 zu verorten sind (vgl. den Kommentar zu E14). In E17 skizziert Horváth einen Strukturplan für das Ende seines Werkprojekts, wahrscheinlich für das Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“, wie man der Kurzform „Lilip:“ zu Beginn des Entwurfs wohl entnehmen kann. Laut E17 soll der Soldat dreimal „Auskunft“ über den Verbleib seiner Braut er-

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Konzeption 2

halten. Die erste „Auskunft“ stammt vom Liliputaner, der behauptet: „Ich habe sie entlassen, weil sie schwerkrank war.“ Der Liliputaner ist im Werkprojekt seit K1/E27 vertreten (vgl. auch K3/TS18/Horváth 1938b, S. 151). Dann kommt der Protagonist zur „Hausmeisterin“, die eine Neuerung von E17 darstellt und bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 162). Von ihr erhält er die „Auskunft“, dass die Braut zu ihrer „Grossmutter“ (vgl. K1/E22, E27, K2/E14 und E16) gegangen ist. Die dritte „Auskunft“ erhält er schließlich von der Großmutter, die meint: „Sie hat abgetrieben und ist daran gestorben“ – Und: „Sie sind schuld! Sie!“ Es folgt dem ein längerer Dialog zwischen der Großmutter und dem Soldaten, in dem sich der Soldat schließlich denkt: „Was soll ich mich mit der alten Frau streiten?“, worauf er „auf den Friedhof“ flieht. Zum Abschluss notiert Horváth deshalb: „Am Grabe“ (vgl. E6/Bl. 15, E14 und E16). H17= ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, roter Buntstift E18 = gestrichener fragm. Strukturplan in 3 Gesängen mit Werktitel „Aus einem Heldenleben in sieben Gesängen“ (links oben) E19 = Strukturplan in 8 Kapiteln (rechts mittig) E20 = Kapiteltitel (rechts oben)

In E18 skizziert Horváth einen Strukturplan in drei Abschnitten, die er als „Gesänge“ bezeichnet, wobei der Werktitel verrät, dass die Struktur auf sieben Gesänge angelegt gewesen wäre. Allerdings bleibt E18 fragmentarisch. Der Werktitel, der bisher nicht vorgekommen ist und in der Folge keine weitere Verwendung mehr findet, lautet: „Aus einem Heldenleben“; er wird mit dem Zusatz „in sieben Gesängen“ versehen. Darunter notiert der Autor den „Erste[n] Gesang“ mit dem Titel „Variationen über ein bekanntes Thema“ (vgl. E15 („unbekanntes Thema“), E19, E20 („unbekanntes Thema“) und TS13/Bl. 5), darauf sollte, wohl als zweiter Gesang, ein Kapitel mit dem Titel „Lyrisches Intermezzo. / Frontunwürdig“ folgen. Als dritten Gesang notiert er: „Die Ballade vom braven Hauptmann“ (vgl. TS11 und TS12). Damit bricht der Strukturplan ab. Rechts mittig trägt der Autor den Strukturplan E19 ein, der E18 mit früheren Strukturplänen verbindet, indem er die beiden Kapiteltitel „Variationen über ein bekanntes Thema“ und „Die Ballade vom braven Hauptmann“ von E18 aufnimmt und mit bereits bekannten Kapiteltiteln kombiniert. Die Kapitelfolge lautet: „Ein Soldat der Diktatur“ (vgl. E11 und E13), „Das verwunschene Schloss“ (E1, E6/Bl. 13 und E8–E13), „Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kind[er] m[it] R[echt] k[eine] R[ücksicht]“ (vgl. E5/Bl. 6, E8, TS6, TS7 und E26), „Die Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“ (vgl. E1, E6 und E10–E13), „Variationen über ein bekanntes Thema“ (E15, E18, E20 und TS13/Bl. 5), „Der Abgrund ruft“, „Die Ballade vom braven Hauptmann“ (E18, TS11 und TS12) und „Im Reiche des Liliputaners“ (vgl. K1/E28, E29, K2/E6 und E10–E15). Zuletzt notiert Horváth auf der rechten oberen Seite des Blattes wohl als Alternative zum Titel des ersten Gesangs den Kapiteltitel E20: „Variationen über ein unbekanntes Thema“, wobei er „un“ dreifach unterstreicht (vgl. E15). Der Autor markiert diesen Eintrag nachträglich mit rotem Buntstift, wahrscheinlich um ihm weitere Gültigkeit zu attestieren.

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H18 = ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, roter Buntstift, Paginierung 32 TS8 = fragm. Fassung (oben; Korrekturschicht) TS9 = fragm. Fassung (unten; Korrekturschicht)

Das vorliegende Blatt dürfte Teil einer größeren Fassung des Werkprojekts gewesen sein, die aber nicht überliefert ist. Möglicherweise handelt es sich dabei auch um ein Zusatzblatt, das Horváth zu einer bestehenden Seite mit der Pagina 32 ausgearbeitet hat, um bereits existenten Text zu ergänzen oder zu ersetzen (vgl. TS5/Bl. 5 und TS10/Bl. 4, die gleichfalls eine Pag. 32 aufweisen). In TS8 schreibt er eine Fassung zum Thema der medialen Aufarbeitung des „Fronterlebnis“ (vgl. VA1/TS5). Aus der folgenden Fassung TS10 wird klar, dass es sich dabei um Notizen zum Kapitel „Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“, dem späteren Kapitel „Der Hauptmann“, handelt (vgl. den Kommentar zu TS10). Horváth findet in der vorliegenden Fassung TS8 schon eine Form des Ausdrucks, die bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt. Es handelt sich um die charakteristische Satzeröffnung: „Einst, wenn […]“ (vgl. TS9 und TS10), die noch das spätere Kapitel „Der Hauptmann“ strukturieren wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 45, 47 und 50). Thematisch spricht er hier von der „Einsicht“, dass „auch der geldlose Volksgenosse“ „ein aufbauendes Element bei der Vernichtung des schwächeren Nachbarn“ ist: „Auch der geldlose Volksgenosse kann ein guter Verbrecher sein.“ Überdies notiert Horváth zunächst die Passage: „Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den feuerigen Schwertern und den erloschenen Augen“, die sich auch in TS3/Bl. 15, TS9, TS21/Bl. 9, TS24/Bl. 1 und K3/TS17/A1/Bl. 4 findet (vgl. auch K3/TS18/Horváth 1938b, S. 199), streicht sie aber wieder. In TS9 arbeitet Horváth eine Reflexion des Ich-Erzählers über das anonyme Heldentum aus, dem er als Kriegsverwundeter angehört. Er gibt darin der Meinung Ausdruck, dass die „Dichter unseres Volkes [einst] über uns dichten werden“. Auch hier findet sich wieder die charakteristische Satzeröffnung von TS8. Der Erzähler gibt zu bedenken, dass oft nicht einmal „die nächsten Angehörigen“ vom Gefallensein eines Soldaten erfuhren, denn „[g]eheim waren die Verlustlisten“ (vgl. TS10). Zuletzt nimmt er die Passage über die neue Zeit und die Engel von TS8 wieder auf. Damit endet die Ausarbeitung.

T3 = ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 1–4 4 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 29–32 TS10 = fragm. Fassung des Kapitels „Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“ (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 593–595.

Die Paginierung des vorliegenden Typoskripts ist ein Hinweis darauf, dass es sich um einen Teil einer längeren ausgearbeiteten Fassung des Romanprojekts handelt, die indes nicht vollständig überliefert ist. Möglicherweise handelt es sich bei TS10 um eine Fortsetzung oder Ersetzung von TS5, die gleichfalls mit der Pagina 32 endet. Das Kapitel „Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“ bildet im Strukturplan E19 das vierte Kapitel und zwar genau mit dem Wortlaut, den die Fassung TS10 trägt. Kapitel ähnlichen Titels sind seit VA1/E25 im Werkprojekt vertreten (vgl. auch K1/E16/Bl. 8,

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Konzeption 2

E21–E24, E27–E29, K2/E1, E6/Bl. 13 und E10–E13). Der Kapiteltitel wird jedoch in der Folge und erstmals in E22 durch „Der Hauptmann“ (vgl. K3/TS3) ersetzt. In TS10 verwendet Horváth wie schon in TS8 und TS9 die charakteristische Satzeröffnung: „Einst, wenn […]“ (Bl. 1–3), die noch das spätere Kapitel „Der Hauptmann“ strukturieren wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 45, 47 und 50), dort allerdings etwas dezenter als in der vorliegenden Fassung, wo dieses stilistische Mittel sehr häufig eingesetzt wird. Thema von TS10 ist der Krieg, der auf eine bisher noch nicht vorgekommene Art und Weise verherrlicht wird: „Arm sind alle Worte, um den Reichtum der Rüstung zu schildern, in der unsere Sonne erglänzt.“ (Bl. 1) Der Satz: „Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedliebend sie gewesen ist.“ (Bl. 1) findet sich in fast identischer Form noch in K3/TS18/Horváth 1938b, S. 47, was für eine späte Reihung von TS10 spricht, da jedoch der Kapiteltitel in der Folge nicht mehr fällt, ist anzunehmen, dass die Fassung noch zu Konzeption 2 zu rechnen ist. Wenig später behauptet der Soldat, sie würden keinen „Krieg“ „führen“, sondern nur „säubern“ (vgl. K1/E19, E20 und K2/E1): „Wir befreien alle fremden Völker -- / Wir befreien sie von sich selbst.“ (Bl. 1) Die Passage: „Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen.“ (Bl. 2) geht unverändert in die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit ein (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 50). Die Fortsetzung: „Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen und sie werden den Nagel auf den Kopf treffen, wenn sie loben und preisen, dass wir bescheidene Helden waren“ deutet darauf hin, dass die vorliegende Fassung nach TS9 entstanden ist, wo das Adjektiv „bescheidene“ die letzte Korrekturschicht darstellt. Wahrscheinlich handelt es sich bei TS10 um die Fassung des dritten Kapitels, die Horváth am 1. Jänner 1938 an den Verlag Allert de Lange geschickt hatte und die er noch zu überarbeiten versprach, weil ihm nicht gefiel, dass hier plötzlich „nicht vom Soldaten, sondern vom Autor aus gesprochen“ werde. Außerdem kündigt er an, dass er diesem Kapitel in der neuen Fassung den Titel „Der Hauptmann“ geben wolle (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 2). Das neue dritte Kapitel dürfte dann mit den Fassungen K3/TS3 und TS4 gegeben sein, in denen Horváth tatsächlich großteils die auktoriale Perspektive durch eine personale ersetzt. Diese Fassungen dürften spätestens im Februar 1938 fertig gewesen sein (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 2f.). T4 = ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, eingerissen, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, Paginierung 32 TS11 = fragm. Fassung des Kapitels „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen (Die Ballade vom braven Hauptmann)“ (Korrekturschicht)

Die Paginierung auf dem vorliegenden Blatt lässt darauf schließen, dass es sich bei TS11 um eine Fortsetzung einer längeren Fassung des Werkprojekts handelt. Möglicherweise war das vorliegende Blatt als Fortsetzung von TS10 geplant, die aber bereits eine Pagina 32 aufweist (vgl. die Pag. 33 von TS12 und TS13). In der Grundschicht trägt TS11 den Titel „Der dritte Stern“, was als Kapiteltitel in keinem der überlieferten Strukturpläne belegt ist. Wohl aber findet sich die Geschichte der drei Sterne in einigen Entwürfen und Textstufen von Konzeption 1 und 2 (vgl. K1/E14/Bl. 12, TS9/Bl. 1 und K2/E2). Es ist deshalb gut möglich, dass die Grundschicht von TS11 be-

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reits in Konzeption 1 zu verorten wäre. Die Korrekturschicht ist aber mit einiger Sicherheit erst in Konzeption 2 zu platzieren, denn ein Kapitel „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“ ist erst mit E22 gegeben, die Thematik selbst wird aber bereits in E14 erwähnt. Zuletzt findet sich der Kapiteltitel in E27, die Problematik wird aber auch in E25, E32/Bl. 4 und TS21/Bl. 10 erwähnt. Da der in der Korrekturschicht wohl gleichzeitig mit dem Titel „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“ hinzugefügte Untertitel „Die Ballade vom braven Hauptmann“ lautet, ist überdies eine Entstehung der Korrekturschicht nach E18 und E19 wahrscheinlich, wo dieser Kapiteltitel erstmals fällt. Inhaltlich gesehen handelt es sich um eine Vorwegnahme von Themen, die auch in TS12 und TS13 behandelt werden. Die Übereinstimmung geht hier teilweise bis hinein in die Wortwahl und Satzbildung. So findet sich etwa der Satz „Bravo, Flieger!“ von TS11 identisch in TS12 wieder. Die Thematik des „Säuberns“ übernimmt TS11 aus TS10. Wie in TS12 ist hier bereits vom kleinen Land die Rede, das man sich geholt hat: „Wir liegen in der Hauptstadt. Ein kleiner Ort. Die schönsten Baudenkmäler sind erhalten, nur leicht beschädigt, aber sonst steht kein Haus mehr.“ Auf der Rückseite des Blattes befindet sich ein Durchschlag einer Textstufe, die zu Konzeption 3 zu rechnen ist und also später entstanden ist (vgl. K3/TS2). H19 = ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, eingerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, roter Buntstift, Paginierung 33 TS12 = fragm. Fassung des Kapitels „Die Ballade vom braven Hauptmann“ (Korrekturschicht; links) E21 = Werktitel (oben rechts)

Das vorliegende Blatt ist Teil des Konvoluts an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“. Die Paginierung lässt darauf schließen, dass Horváth damit eine bereits bestehende längere Fassung des Werkprojekts fortsetzt oder ergänzt (vgl. TS8–TS11). Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Fortsetzung des mit TS10 gegebenen Kapitels „Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“, die mit der Pagina 32 endet. Wahrscheinlich hat Horváth das Kapitel „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“ von TS11 letztlich doch fallengelassen und ersetzt es durch das vorliegende Kapitel „Die Ballade vom braven Hauptmann“ von TS12. Dieses bildet im Strukturplan E19 das siebente von acht Kapiteln, das dort allerdings nicht direkt an das „Hymnen“-Kapitel anschließt, sondern erst in Folge auf das Kapitel „Variationen über ein bekanntes Thema“ (vgl. TS13). Die Eröffnungspassage von TS12 wird praktisch unverändert in TS13 übernommen, was darauf schließen lässt, dass sich Horváth schließlich doch an die von E19 vorgesehene Reihenfolge hielt (vgl. auch E18). TS12 stellt so gewissermaßen die handschriftliche Vorstufe zur maschinenschriftlichen Reinschrift von TS13 dar, wobei Letztere einen anderen Kapiteltitel bekommt. Thema von TS12 sind die brennenden „Dörfer“ und die „Flieger“, die „ganze Arbeit geleistet“ haben (vgl. TS11), und auf die jetzt die Infanterie folgt: „Immer weiter rücken wir vor – / Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die Grenze dieses Landes überschritten – morgen sinds drei Wochen her.“ (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 48) In E21 variiert Horváth noch einmal die Werk- und Kapiteltitel von E18. Da das Blatt durch Einriss beschädigt ist, ist der erste Werktitel nur teilweise entzifferbar: „Die Hymne an die {…}enarbeit der einzelnen Waffengattungen“. Dieser erste Titel wird

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aber gestrichen und ersetzt durch: „Ein Heldenleben in sieben Gesängen. Variationen über ein bekanntes Thema. Sieben prosaische Sonetten. Lyrisches Intermezzo“ (vgl. E18 und TS13). T5 = ÖLA 3/W 164 – BS 26 e [4], Bl. 5–7 3 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, Paginierung 33–35 TS13 = fragm. Fassung des Kapitels „Variationen über ein bekanntes Thema“ (Grundschicht) Druck in: GW IV, S. 595–597.

Die Paginierung auf den vorliegenden Blättern lässt darauf schließen, dass es sich dabei um die Fortsetzung einer längeren ausgearbeiteten Fassung handelt. Ein Anschluss ist zu TS10 herstellbar, die mit der Pagina 32 endet und den Titel „Die Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“ trägt, der sich im Strukturplan E19 unmittelbar vor dem Kapitel „Variationen über ein bekanntes Thema“ befindet. TS13 stellt streckenweise eine Reinschrift von TS12 dar, was die genetische Folge dieser beiden Textträger einwandfrei bestimmen lässt, wobei vor allem die Eröffnungspassage (die obere Hälfte des Blattes) von TS12 praktisch unverändert in TS13 eingeht. Thema der Letzteren ist der Überfall auf das „klein[e] Land“ (Bl. 6), der auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit geschildert wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46–48) und bereits in frühen Entwürfen des Werkprojekts vorgesehen war (vgl. VA2/E5 und E9). Über dieses Land heißt es in TS13: „Die Flieger nahmen uns bis heut alles ab und ausserdem soll dieses erbarmungswürdige Staatswesen, hört man, überhaupt keine allgemeine Wehrpflicht kennen. / Ein lebensunfähiges Land. / Es soll eine Regierung haben, die es allen ihren Untertanen recht machen möchte. / Die typische Regierung der Korruption. / Es soll Untertanen haben, die ihr höchstes Ideal darin sehen, gut zu essen, gut zu trinken, Familien zu gründen, in faulem Frieden zu arbeiten -- / Das typisch dekadente Volk.“ (Bl. 6f.; vgl. TS12) Teile von TS13 gehen in das spätere Kapitel „Der Hauptmann“ von Konzeption 3 und der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit ein (vgl. K3/TS4 und TS18/Horváth 1938b, S. 45–54). H20 = ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E22 = Strukturplan in 11 Kapiteln mit Notizen, Repliken, einer Konfigurationsliste und einer Dialogskizze (oben) E23 = Notizen zum Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ (unten)

In E22 skizziert Horváth einen Strukturplan in elf Kapiteln, den er mit zahlreichen Notizen und Repliken versieht. Damit entwirft der Autor einen Strukturplan, der die Zahl der Kapitel umfasst, die auch die Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit aufweist (vgl. auch VA2/E9, K2/E14 und E39). Die Kapitelfolge lautet: „Ein Soldat der Diktatur“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Im Hause des Gehänkten“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Eisblumen“, „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“, „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“, „Der Schneemann“, „Im Nebel der Zukunft“ und „Die Soldatenbraut“. Erstmals verschiebt Horváth damit die „Soldatenbraut“ an den Schluss der Werkstruktur (vgl. E1, E6 und E9–E13). Zusammen mit dem Kapitel „Das verwunschene Schloss“ bildet es die für den späteren Roman Ein Kind unserer Zeit charakteristische Klammer. Erstmals ist in dem

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Strukturplan auch ein Kapitel mit dem Titel „Der Hauptmann“ (vgl. E18, E19, TS11 und TS12) vorgesehen, und zwar bereits an der Position, die es in der Endfassung haben wird. Es ersetzt das früher an dieser Stelle meist genannte Kapitel „(Die Hymne vom) Krieg ohne Kriegserklärung“. Das darauf folgende Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ stellt eine Neuerung von E22 dar und setzt Themen und Motive von E14 und E15 fort. Ein entsprechendes Kapitel wird in der Endfassung an fünfter Position stehen. Die von Horváth dazu notierte Konfigurationsliste sieht die „Frau des Hauptmanns“, „Ihre Tochter“ und den „Bruder des Hauptmanns“ vor, stellt gegenüber E14 und E15 eine Erweiterung dar, die aber in der Folge wieder zurückgenommen wird (vgl. E27). Kapitel fünf „Im Reiche des Liliputaners“ war im Strukturplan E14 an erster Stelle vorgesehen, aber in früheren Strukturplänen bereits in der Mitte angesiedelt (vgl. K1/E28, E29 und K2/E10–E13). In der Endfassung rückt es an die neunte Position (vgl. E19). Eine zu diesem Kapitel vorgesehene Replik des Liliputaners lautet: „Hätte das Vaterland kein Militär, würden Sie es nicht lieben. Es ist alles eine Erwerbssache!“ (vgl. TS2/Bl. 6) Erstmals wird hier auch die später im Roman so bedeutsame militärische „Disziplin“ thematisiert. Auch ein „Mord am Liliputaner“ ist hier bereits vorgesehen. Er wird in Konzeption 3 in den Mord am Buchhalter transformiert (vgl. K3/E6, TS15/A1/Bl. 2 und 4, TS15/A3/Bl. 13 und TS18/Horváth 1938b, S. 191). Außerdem notiert Horváth zu diesem Kapitel die Frage des Ich-Erzählers: „Soll ich den Urlaub überschreiten?“ (vgl. E8) Und darunter die in Form eines Strukturplans formulierten Antworten: „1.) Nein, ich überschreite ihn nicht – / 2.) Wieder an der Front. / 3.) Wir haben gesiegt.“ Kapitel sechs „Eisblumen“ findet sich bereits in E11, E13 und E14. Kapitel sieben „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“ nimmt auf E14 Bezug, wo die „Linie“ von den „ungeborenen Volksgenossen“ spricht (vgl. auch TS11, E25, E27, E32/Bl. 4 und TS21/Bl. 10). Kapitel acht „Die Visionen der Zerstörung des Abendlandes im Bett“ greift einen Kapiteltitel wieder auf, der in K1 und K2 mehrfach vorkommt (vgl. K1/E9, E16/Bl. 8, E18, E21, E27, K2/E4, E5/Bl. 6 und E8). Horváth notiert hierzu: „Die Ermordung der Präsidenten“, was ein neues Motiv darstellt. Zum Kapitel „Der Schneemann“ vermerkt er: „Ich möchte sterben. Ich hab auch kein Geld. Ich hab mein Leben verpatzt. Ich hätte den Führer umbringen sollen, und nicht den Liliputaner.“ (vgl. das Schlusskapitel im Roman Ein Kind unserer Zeit) Zum zehnten Kapitel „Im Nebel der Zukunft“ notiert Horváth: „Ich verfolge einen, der desertiert. Er sagt: ‚Die gehören alle weg!’“ (vgl. K1/E16/Bl. 9, E27, K2/E13, E25, E26 und E32/Bl. 4) In E23 macht sich Horváth Notizen zu dem in E22 neu eingeführten vierten Kapitel „Im Hause des Gehänkten“. Er beschreibt darin den Abend des Ich-Erzählers bei der Frau des Hauptmanns. Er bleibt über Nacht, denn er hat „die letzte Bahn versäumt“ und schläft „in des Hauptmanns Bett“. Für den nächsten Abend ist geplant, dass er die Tochter der Frau vom „Eislaufplatz“ nach Hause begleitet. Die Frau wirft ihm in der Folge vor, dass er der Tochter was angetan habe, was die Tochter aber bestreitet. An einer Stelle notiert Horváth: „Ich brauch eine Frau“ und dann „Hur – Don Juan“. Damit stellt er explizit wieder den Bezug zum Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg von 1936 her, allerdings hinsichtlich der Liebesaffären Don Juans (vgl. das Bild „Zimmer des zweiten losen Mädchens“ in WA 9/K5/TS10/A11/BS 19, Bl. 19–23). Was aber noch bemerkenswerter erscheint, ist die Tatsache, dass die ganze „Eislaufplatz“-Szene und ihre Folgen schon dort vorgebildet sind (vgl. WA 9/K5/TS10/A11/ BS 19 a, Bl. 25–27, Bl. 34–37 und BS 19 b, Bl. 6–8). Vom „Brief des Hauptmanns“ (vgl. E15) heißt es, dass er in einem „Schreibtischchen“ „eingesperrt“ ist.

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Konzeption 2

H21 = ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E24 = Notizen

In E24 macht sich Horváth Notizen zum Hauptmann und zur Frau Hauptmann, die spätestens seit dem Strukturplan E22 eine große Rolle in dem Werkprojekt spielen. Für den Hauptmann ist dort ein eigenes Kapitel (Kapitel drei) vorgesehen (vgl. auch K3/TS4), die Frau des Hauptmanns wird in E22 erstmals erwähnt (vgl. auch E15) und soll in dem Kapitel vier, „Im Hause des Gehänkten“, gemeinsam mit ihrer Tochter und dem Bruder des Hauptmanns vorkommen. Dieses vierte Kapitel von E22 sowie einige Notizen von E23 lassen annehmen, dass die Handlungsfolge zu diesem Zeitpunkt schon feststeht: Der Hauptmann stirbt auf dem Feld, der Soldat besucht dessen Frau, um ihr den Abschiedsbrief des Hauptmanns (vgl. E15 und E23) zu überbringen und übernachtet dann bei ihr (vgl. E23). In E24 nun notiert Horváth, dass für den Soldaten alles „in Ordnung“ war, solange der Hauptmann lebte. Erst seit seinem Tod erscheint ihm alles „verworren“, „alle [s]eine Ideen“. Zum Verhältnis des Soldaten zur Frau des Hauptmanns spezifiziert Horváth, dass es ein „Ödipuskomplex“ ist, „zur Frau des Vaters = zur Mutter“. Tatsächlich erscheint ja der Hauptmann im Roman als „idealer Vater“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11), im starken Gegensatz zum leiblichen Vater des Ich-Erzählers, den dieser als „verlogene[n] Mensch[en]“ (ebd., S. 16) bezeichnet. H22 = ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E25 = fragm. Strukturplan in 8 bzw. 4 Kapiteln mit Notizen, Repliken und Dialogskizzen

Das vorliegende Blatt, das dem Konvolut an überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Räder“ angehört (vgl. den Kommentar zu E14), dürfte wahrscheinlich die Fortsetzung eines Blattes sein, das die ersten drei Kapitel des Werkprojekts Ein Soldat der Diktatur enthalten hat. Es wäre aber auch möglich, dass Horváth die Niederschrift dieser drei Kapitel, die für ihn vielleicht schon feststehen (vgl. E22, wo sie mit drei Sternen versehen sind, was etwas Derartiges bedeuten könnte), bewusst unterlassen hat und sich stattdessen der Kapitelfolge der noch unklaren Kapitel vier bis sieben widmet. Zunächst notiert er allerdings acht Kapitel, die mit vier bis elf nummeriert sind, beginnend mit Kapitel vier: „Im Hause des Gehänkten“, „Eisblumen“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Wieder an der Front / Im Nebel der Zukunft“, „Wir haben gesiegt“, „Im Gefängnis“, „Wieder beim Liliputaner“ und „Der Schneemann“. Dann nimmt er jedoch zahlreiche Korrekturen, Streichungen und Verschiebungen vor, sodass folgende Kapitelfolge entsteht: „Im Hause des Gehänkten“, „Eisblumen“, „Im Reiche des Liliputaners“ und „Der Schneemann“. Damit kehrt Horváth in E25 zu einer einfacheren Kapitelfolge zurück, wie sie in ähnlicher Form schon in E12 vorgebildet ist, nur dass dort das Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ noch nicht vorhanden ist, stattdessen aber eines, das „Die Ballade von der Soldatenbraut“ heißt. Da die Soldatenbraut für Horváth offensichtlich eine ganz zentrale Rolle spielte, ist davon auszugehen, dass der Strukturplan E25 keinesfalls als vollständig zu erachten ist. Motivisch ist aber Folgendes daran bemerkenswert: Zum fünften Kapitel „Eisblumen“ notiert Horváth eine Szene mit einer „Hur“ (vgl. E14) „auf einer verschneiten Bank“.

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Chronologisches Verzeichnis

Dabei denkt er aber an das „Mädchen“. Das Schnee-Motiv (vgl. VA1/TS11) soll hier also schon relativ früh in das Werkprojekt eingeführt werden. Zum Kapitel „Wieder an der Front“, das jedoch in der Überarbeitung gestrichen wird, notiert Horváth eine „Jagd nach dem Deserteur“ (vgl. VA1/E20, VA2/E9, K1/E9, E16/Bl. 9, E21, K2/E22 und E26), der behauptet: „Das Recht muss siegen!“ Ein neues Motiv, das vom Autor vermerkt wird, lautet: „Weihnachten mit meinem Vater“ (vgl. E26) und hierzu die Replik des Vaters: „Hast Du denn garkeine Beziehungen? Die Frau des Hauptmanns, zum Beispiel!“, was vorausweist auf die Problematik der „Protektion“, die bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine wichtige Rolle spielt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 123f.) Zum nachträglich gestrichenen Kapitel „Wir haben gesiegt“ notiert Horváth: „Das ‚Recht‘ hat nicht gesiegt.“ Und: „Mein erster Weg ist der Weg zum Liliputaner.“ Und er vermerkt neuerlich den „Mord am Liliputaner“ (vgl. E22). Zum Schlusskapitel „Der Schneemann“ notiert er: „Die Kindergräber“ und „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“ (vgl. E14, TS11, E22, E27, E32/Bl. 4 und TS21/Bl. 10). T6 = ÖLA 3/W 166 – BS 26 f [2], Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 38–40 TS14 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck von Bl. 1 und 2 in: KW 14, S. 181–183.

Materiell gesehen könnte T6 (TS14) als Fortsetzung von T5 (TS13) angesehen werden. Allerdings sind beide Fassungen nur fragmentarisch ausgearbeitet, weshalb keine wirkliche Folge herstellbar ist. Auch endet TS13 mit der Pagina 33, während TS14 mit der Pagina 38 einsetzt. Hier würden also in jedem Fall vier Blatt fehlen, die möglicherweise den Beginn des mit TS14 vorliegenden fragmentarischen Kapitels beinhaltet haben. Wahrscheinlich handelt es sich bei TS14 um eine Ausarbeitung des Kapitels „Im Reiche des Liliputaners“ oder „Im Hause des Gehänkten“, die in einigen Strukturplänen auf das Kapitel „Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“ folgen (vgl. etwa E10 und E13). Da in der Folge auf das zunächst ausgearbeitete Kapitel auch Kapiteltitel wie „Die Visionen der Zerstoerung des Abendlandes im Bett“ (Bl. 3; vgl. E22) und „Eisblumen“ (ebd.; vgl. E11, E13, E14, E22, E25 und E26) genannt werden, ist von einem genetischen Naheverhältnis zu den erwähnten Strukturplänen unbedingt auszugehen, vor allem wahrscheinlich zu E22 und E25. Thematisch beginnt die Fassung TS14 mit dem Soldaten, der den Brief in der Hand hält und beschließt, ihn der Frau Hauptmann selbst zu überbringen, denn: „Das schickt sich so.“ (Bl. 1) Vorher will er aber noch am „verwunschenem Schloss“ vorbei, um das Fräulein zu besuchen. Aber seine „Linie“ (ebd.) ist nicht mehr da. Und: „Kein Mensch weiss, wo sie ist.“ (ebd.) Der Soldat geht deshalb ins „Büro“, wo er auf den Buchhalter und den Liliputaner trifft (vgl. E26). Dort erfährt er, dass seine Linie sich in einen Soldaten verliebt hat, dem sie „in einer Tur“ (Bl. 2) geschrieben hat, aber er hat ihr nicht geantwortet (vgl. anders E14). Schließlich gibt ihm der Buchhalter die Adresse. Als sich der Soldat nach dem verwunschenen Schloss erkundigt, erfährt er, dass es „sich nicht rentiert“ hat und „veraltet“ war, weshalb man „was anders hingebaut hat“ (Bl. 2). Das Fräulein aber habe einen „Posten“ gefunden bei der „Achterbahn“ (ebd.). Eine als Variante hinzugefügte Notiz lautet: „Ich schreibe Briefe an das Fräulein (Sie heisst Anna) / Aber ich bekomme keine Antwort.“ (ebd.) Zuletzt beschließt der Soldat, dass er am nächsten Tag zur Frau Hauptmann gehen will (vgl. ebd.), was annehmen lässt, dass

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Konzeption 2

das Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ nachfolgt oder dass die vorliegende Fassung Teil dieses Kapitels ist. Auf dem letzten Blatt notiert Horváth die Fortsetzung dieses Kapitels, die bei der Frau Hauptmann und ihrer Tochter spielt (vgl. E22 und E23). Die Frau Hauptmann weiß demnach schon vom Tod ihres Mannes. Die dreizehnjährige Tochter hat die „Linie“ und „erinnert“ den Soldaten an seine „Linie“ (Bl. 3). Auch der Brief des Hauptmanns wird hier wieder erwähnt. Als der Soldat ihn erbricht (vgl. E23 und E25), muss er feststellen, dass er lauter „Schmähungen“ (Bl. 3) des Militärs enthält. Weiters kommt es zur „Liebe mit der Frau“ (ebd.; vgl. E23 und E24) und der Soldat mietet das Zimmer, das die Frau Hauptmann vermietet. Abschließend notiert Horváth zwei Kapitel, die das ausgearbeitete Kapitel fortsetzen sollen: „Die Visionen der Zerstoerung des Abendlandes im Bett“ und „Eisblumen“. H23 = ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 2 E26 = Strukturplan mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“ (vgl. den Kommentar zu E14). In E26 skizziert Horváth einen Strukturplan in vielen Kapiteln, die jedoch nicht durchnummeriert sind, weshalb ihre Zahl nicht leicht bestimmbar ist. Wahrscheinlich handelt es sich um neun Kapitel, die mit zahlreichen (auch kapiteltitelähnlichen) Notizen und Repliken versehen sind, von denen einige auch als eigene Kapitel gedacht sein könnten. Die Kapitelfolge lautet mit einiger Sicherheit: „Im Reiche des Liliputaners I / Wenn die Liebe erwacht“, „Wieder an der Front“, „Der Deserteur“, „Im Nebel der Zukunft“, „In der Kirche“, „Im Reiche des Liliputaners II“, „Die Frau Hauptmann“, „Im Reiche des Liliputaners III“ und „Der Schneemann“. Der Strukturplan weist einige Ähnlichkeiten mit E25 auf und kann als dessen Fortsetzung bzw. Weiterentwicklung verstanden werden. Auffallend sind die drei Liliputaner-Kapitel, die eine Neuerung von E26 darstellen und wohl die frühere Trennung zwischen einem „verwunschenen Schloss“-Kapitel und einem Liliputaner-Kapitel ersetzen sollten. Zum ersten Kapitel notiert Horváth eine längere Erzählsequenz: „Es ist eine tiefe Trauer in mir. Es ist mir, als hätt ich meinen Vater ermordet – als wär ich mitschuld an seinem Tode. Immer denk ich an den Brief. / Ich brauch eine Frau. / Die Hur sieht der Frau Hauptmann ähnlich. / Sie verlangt von mir die Taler des Bettlers. / Das verwunschene Schloss. / Der Liliputaner – Buchhalter. / Und es erwachte die Liebe in mir – / ‚Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. / Mit Recht?‘ / Vielleicht!’“ (vgl. E5/Bl. 6, E8, TS6, TS7 und E19) Zum zweiten Kapitel vermerkt Horváth: „Ohne Zweifel ein Fall religiösen Wahnsinns; beim Begräbnis des Hauptmanns“ und „Er erläutert den Brief des Hauptmanns“. Damit nimmt Horváth neuerlich das Brief-Motiv auf (vgl. E15, E22 und E23), das bis zur Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 54, 77, 80–85 und 89). Der Kapiteltitel „Der Deserteur“ verweist zurück auf VA1/E20, VA2/E9, K1/E9, E16/Bl. 9, E21, K2/E22 und E25). Zum Kapitel „Im Nebel der Zukunft“ (vgl. E10–E14, E16, E22 und E25) notiert der Autor die Replik: „,Die gehören weg!‘“, die eine Wiederaufnahme von Motiven von E13 und E25 darstellt, wonach die Soldaten und Generäle inklusive ihrer Weltanschauung nach dem Krieg alle „weg“ „gehören“. Hier findet sich auch schon eine Replik, die bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt: „Liebe

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Deine Feinde, aber hasse den Irrtum“, sagt dort die dicke (Kranken-)Schwester im Lazarett zum Ich-Erzähler (vgl. K1/E24 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 65). Auch der „gebrochen[e] Arm“ wird hier schon erwähnt (vgl. E6/Bl. 13, wo Horváth noch den „Arm“ zu „Bein“ korrigiert, und E12, wo es heißt: „Es droht der Verlust des Armes.“). Auch eine Affäre mit der Frau des Hauptmanns wird hier bereits angedeutet (vgl. auch E22 und E23). Sie findet im Roman im späteren Kapitel „Im Hause des Gehenkten“ ihre Umsetzung. Auch ein Kapitel „In der Kirche“ (vgl. VA2/E1) ist hier vorgesehen. „Vor dem Kruzifix“ soll der Ich-Erzähler bekennen: „Den hab ich mal betrogen.“ Erstmals wird hier auch eine längere Dialogskizze mit einem „Bettler“ entworfen, in der es um den „gute[n]“ und „böse[n] Willen“ geht. Das „Bettler“Motiv findet sich in dem Werkprojekt seit VA1, wo es noch stärker auf den Ich-Erzähler bezogen war, der als „Landstreicher“ mit anderen Landstreichern unterwegs ist und sogar in einem „Bettlerlager“ landen soll (vgl. VA1/E3, E5, E13–E17, TS11, TS12, E21, TS13, E23 und E25). Das Kapitel „Im Reiche des Liliputaners II“ soll zu „Weihnacht“ „[b]eim Vater“ (vgl. E25) spielen, der behauptet: „Du hast ja nichts gelernt, das ist das Unglück –“ Auch dieses Motiv bleibt bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten, nur dass der Ich-Erzähler dort nicht auf Urlaub zum Vater kommt, sondern weil er als Krüppel aus der Armee entlassen wurde und arbeitslos ist (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 122f.). Das Folgekapitel lautet „Die Frau Hauptmann“, alternativ dazu notiert Horváth „Eisblumen“ (vgl. E11, E13, E14, E22, E25 und TS14/Bl. 3). Dieses Kapitel ersetzt vorübergehend das zuvor meist „Im Hause des Gehänkten“ genannte Kapitel (vgl. E22, E23 und E25), in dem der Ich-Erzähler zur Witwe des Hauptmanns kommt, um ihr den Brief ihres Mannes zu übergeben bzw. um ihn zu lesen (vgl. E15/Bl. 1, E23 und E25). In E26 soll der Ich-Erzähler in diesem Kapitel auch auf des „Hauptmanns Tochter“ (vgl. E22 und E23) und seinen „Chauffeur“ treffen. Auch ein Erlebnis mit einer „Hur auf der Bank im Schnee“ ist hier wieder angedeutet (vgl. E14 und E25). Es folgen die Kapitel „Im Reiche des Liliputaners III“ und „Der Schneemann“. Zu Letzterem notiert Horváth eine Wiederbegegnung mit dem Bettler, dem folgende Replik zugeschrieben wird: „Ja, es war eine lange Kur, aber ich hab es endlich fertig gebracht, dass in Dir der gute Wille erwacht.“ Dem Bettler kommt damit in dieser Bearbeitungsphase eine wesentliche Rolle im Läuterungsprozess des Soldaten zu. H24 = ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E27 = Strukturplan in zwei Kapiteln mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“ (vgl. den Kommentar zu E14). In E27 skizziert Horváth einen Strukturplan in zwei Kapiteln (vgl. E22, E26, E39 und K3/TS18), den er mit Notizen und Repliken versieht, die wohl den Strukturplan mit weiteren Kapiteln ergänzen. Die Kapitelfolge ist wohl so gemeint: „Im Hause des Gehänkten“ (vgl. E22, E23 und E25), „Wieder im Feld“ (vgl. K1/E6, E9, E14/Bl. 12, E16/Bl. 9 und E24), „Weihnacht (mit dem Vater)“ (vgl. E25 und E26), „Die Witwe des Hauptmanns“ (vgl. E22–E26), „Das verwunschene Schloss“ (seit K1/E18 belegt), „Durch die Witwe krieg ich Protektion: ich werde Aufseher“, „Im Reiche des Liliputaners“ (seit K1/E28 belegt), „Im Gefängnis, wo sie drinnen sitzt“ (vgl. E16), „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksge-

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Konzeption 2

nossen“ (vgl. E14, TS11, E22, E25, E32/Bl. 4, E35 und TS21/Bl. 10), „An ihrem Grabe“ (vgl. E6/Bl. 15, E14, E16 und E17) und „Wieder als Aufseher“. Damit entwickelt Horváth neuerlich eine zyklische Struktur, in der die Berufsgeschichte gewissermaßen die Liebesgeschichte umrahmt. In einer Reihe von Strukturplänen von K2 ist die Gesamtstruktur anders angelegt, nämlich mit einem (Fast-)Schlusskapitel „Der Schneemann“, das den verwaisten Soldaten zeigt (vgl. E6/Bl. 15, E10–E14, E22, E25 und E26). E27 verläuft demgegenüber anders: Hier soll der Soldat zunächst „Im Hause des Gehänkten“ einkehren, das hier erstmals an die erste Stelle gerückt ist, dort allerdings keine Tochter antreffen, wie er das in früheren Strukturplänen getan hatte (vgl. E22, E23 und E26): „ohne Tochter“ notiert Horváth zu diesem Kapitel und deutet damit an, dass die Tochter in diesem Kapitel noch nicht auftreten soll (vgl. das Kap. „Im Hause des Gehenkten“ in K3/TS18/Horváth 1938b, S. 72–100, das gleichfalls „ohne Tochter“ auskommt). Zum zweiten Kapitel „Wieder im Feld“ notiert der Autor die Szenenanweisung: „Es spielt auf einem Rummelplatz. Die Schauspielerin sitzt an der Kasse. Ein Soldat kommt.“ Damit schreibt Horváth neuerlich der Braut des Soldaten jenen Beruf zu, den sie in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit haben wird (vgl. E2 und TS2/Bl. 1). Dort ist sie aber keine Schauspielerin mehr, sondern ein einfaches Mädchen, die Kassierin vom „verwunschenen Schloss“. Auch ein „Operettentheater“ soll hier vorkommen, in dem die Soldaten dem „Suff“ erliegen und „Weiber“ freien (vgl. K1/E20 und E21). Außerdem notiert Horváth dazu: „in der Kälte, im Schnee“, womit er neuerlich auf das Kälte- und Schnee-Motiv rekurriert (vgl. VA1/TS11, VA2/E1, K1/E18–E24, E27–E29, K2/E6/Bl. 15, E10–E14, E22, E23, E25 und E26). „Es droht der Verlust des Armes“ hatte Horváth in E12 notiert (vgl. auch E26). In E27 wird die Armverletzung seltsam variiert. Der Arm soll hier ein zweites Mal „kaputt“ gehen, und zwar entweder indem der Soldat mit einem „Bettler“ (vgl. E26) zusammenstößt und sich dabei den Arm bricht oder aber indem ihm die Schauspielerin von der Kasse, die er verfolgt, den Arm bricht. Zum zweiten Kapitel, das zu „Weihnacht“ „mit dem Vater“ (vgl. E25 und E26) spielen soll, notiert Horváth „die Protektion“, eine Idee, die bis zur Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit erhalten bleibt, wo der Vater gegenüber dem Soldaten meint, dass er ein bisschen „Protektion“ gebrauchen könnte, weil er doch keine Ausbildung habe (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 123f.). Das nächste Kapitel trägt den Titel „Die Witwe des Hauptmanns“, hier soll der Soldat ihre Tochter kennenlernen, worauf er das Interesse an der Witwe verliert. Darunter notiert Horváth: „Durch die Witwe krieg ich Protektion: ich werde Aufseher“, was wahrscheinlich ein eigenes Kapitel ist. Auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit denkt der Soldat gleich an die Witwe des Hauptmanns, als ihm der Vater von der „Protektion“ erzählt, aber auch sie kann ihm letztlich nicht helfen (vgl. ebd. und S. 157). In der Folge vermerkt der Autor eine Reihe von Kapiteltiteln, die er mit dem Zusatz „Dazwischen“ versieht, der sich aber wahrscheinlich nur auf den ersten Titel „Das verwunschene Schloss“ bezieht. Die in der Folge notierten Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“, „Im Gefängnis, wo sie drinnen sitzt“, „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“, „An ihrem Grabe“ und „Wieder als Aufseher“ sollen wohl an das Kapitel „Durch die Witwe krieg ich Protektion“ anschließen. Der „Aufseher“-Job ist eine Neuerung von E27 und wird in der Folge weiterverwendet (vgl. E31, E32/Bl. 4, E33–E36, E38, E39, TS21/Bl. 10 und TS22/Bl. 1f.); in E6/Bl. 13 sollte der Soldat noch, wie vor ihm der „Don Juan“ (vgl. WA 9/K2/TS1/Bl. 5 und K5/TS10/A11/BS 19 a, Bl. 18, 19), „Vertreter“ werden.

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Chronologisches Verzeichnis

H25 = ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Bleistift, roter Buntstift E28 = Notiz (oben) E29 = Strukturplan in 2 Teilen (mittig) E30 = Notiz (unten)

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die charakteristisch für die späten Entwürfe von Konzeption 2 sind (vgl. den Kommentar zu E14). In E28 notiert sich Horváth mit schwarzblauer Tinte: „Der Hauptmann ist tot. Und manchmal kann ich mir das Vaterland ohne dem Hauptmann garnicht so richtig vorstellen. –“ (vgl. E24) Darunter trägt er mit Bleistift den Strukturplan E29 ein, der folgende zwei Teile umfassen soll: „Ein Soldat der Diktatur / Das verwunschene Schloss“ und „Die Kreuzigung des Hauptmanns“. Letzteren versieht Horváth mit dem Zusatz „Die Ermordung des Urvaters“ (vgl. E24), was ein Hinweis darauf ist, dass der Soldat schon zu diesem Zeitpunkt im Hauptmann den „ideale[n] Vater“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 11) sieht. Eine weitere Notiz lautet: „Der Begriff der Freiheit“ und „die Finanzkontrolle“, was aber ohne Erläuterungen bleibt und deshalb nur schwer interpretierbar ist. In der Folge notiert er: „Ich gab meinen Arm hin und komme unter die Bonzen. / Die Kunst. / Das durchgefallene Stück.“ (vgl. zum „durchgefallene[n] Stück“ VA1/E3 und zum „Bonze[n]“ K1/E16–E24) In E30 schließlich vermerkt Horváth wieder mit schwarzblauer Tinte: „Woher soll ichs wissen, was recht ist? / Es hats mir ja niemand gesagt.“ Damit führt der Autor die moralphilosophischen Fragen von Konzeption 2 (vgl. E5–E8, TS4, E11, E14, E15, E22 und E26) weiter, die noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine große Rolle spielen werden. E28 und E30 wurden von Horváth nachträglich mit rotem Buntstift markiert, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass er sie in der Folge weiterzuverwenden dachte. Die unterschiedlichen Schreibmaterialien könnten vermuten lassen, dass die drei Entwürfe in größerem zeitlichen Abstand zueinander entstanden sind. Da jedoch keine textinternen Hinweise auf unterschiedliche Bearbeitungsstufen gefunden wurden, werden sie in unmittelbarer Folge aufeinander gereiht.

H26 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E31 = fragm. Strukturplan in 3 Kapiteln mit Notizen, Repliken und Dialogskizzen

Das vorliegende Blatt ist Teil des Konvoluts an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die ab Mitte von Konzeption 2 zu finden sind (vgl. den Kommentar zu E14). In E31 notiert Horváth die Kapitel fünf bis sieben eines Strukturplans in sieben Kapiteln. Möglicherweise gab es zu dem Blatt noch ein Vorgängerblatt, das aber nicht mehr aufgefunden werden konnte. Vielleicht hat er auch nur die Kapitel fünf bis sieben ausgearbeitet, da die vorhergehenden schon feststanden. Die Kapitelfolge lautet: „Im Hause des Gehänkten“, „Der Gedanke“ und „Der Schneemann“. Bis auf Kapitel sechs, das eine Neuerung von E31 darstellt, sind dies bekannte Kapiteltitel, die im Fall von „Der Schneemann“ sogar auf K1 zurückgehen (vgl. K1/E18–E24 und E27–E29). Horváth versieht diese Kapiteltitel mit einer Reihe von No-

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Konzeption 2

tizen. Zum Kapitel „Der Gedanke“ vermerkt er: „Der Aufseher, der verlorene Sohn, im Reiche des Liliputaners“. Damit erwähnt er einen weiteren späteren Kapiteltitel, nämlich „Der verlorene Sohn“ (vgl. E32, E33, E35, E36 und Kap. 7 von Ein Kind unserer Zeit). Außerdem nimmt er den „Aufseher“ von E27 wieder auf. Ganz rechts auf dem Blatt listet Horváth noch einmal eine Kapitelfolge auf, die er durch einen Pfeil mit E31 verbindet und also als dazugehörig kennzeichnet: „Der Aufseher“, „Der verlorene Sohn“, „Ich gebe dem Bettler 5 Taler, obwohl ich nichts mehr hab“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Gedanke“ und „Der Bettler“. Somit erweitert er den Strukturplan um fünf Kapitel. Eine Notiz zu Kapitel sechs lautet: „Wir haben restlos gesiegt: die Siegesfeiern“. Außerdem notiert Horváth einen kurzen Dialog mit dem „Buchhalter“, der in E26 erstmals erwähnt wurde, in dem es um das „Vaterland“ geht, von dem es heißt, dass das „alles ein Schwindel“ ist. Überdies hat er das Fräulein an der Kasse „entlassen, weil sie schwerkrank war“ (vgl. E17). Eine weitere Notiz lautet: „Heut bin ich aus dem Spital entlassen. Mein Arm wird nimmer gut.“ (vgl. E27 und E29) Damit entwickelt Horváth erstmals deutlich die Vorstellung von der Verkrüppelung des Soldaten, wie sie sich auch noch in der Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit findet (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 108f.). Am ausführlichsten fallen die Notizen zur Figur des „Bettlers“ aus, der hier erstmals weitreichend in die Handlung einbezogen wird (vgl. E26 und E27). In der skizzierten Handlung, die vor allem aus Repliken erschließbar ist, geht es zunächst um die Braut des Soldaten. Der Bettler rät ihm: „Sie müssen sie suchen! Suchen! Wer sucht, der findet!“ Eine Notiz zum Bettler lautet: „Ich tu, als wär ich blind, aber ich seh genau, wer mir was gibt.“ (vgl. TS22/Bl. 3, K3/E2 und TS18/Horváth 1938b, S. 70). Eine Szene soll „In der Wirtschaft“ spielen und den Bettler zeigen, der „besoffen“ ist (vgl. TS22). Dann setzt Horváth den Bettler mit dem „liebe[n] Gott“ gleich und notiert: „Der betrunkene Gott schwätzt.“ Der Begriff „Gott“ taucht in der Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit wiederholt auf, meist in Form von inneren Monologen des Ich-Erzählers, der an seiner Existenz und Güte (am „lieben Gott“) zweifelt (vgl. etwa K3/TS18/Horváth 1938b, S. 72). Auf der rechten Seite notiert Horváth einen Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und dem Bettler, in dem es um die „fünf Taler“ geht, die der Soldat dem Bettler gibt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 67 und 70). Der Bettler warnt den Soldaten, dass das „Gelübde“, das er gemacht habe, nicht eintreffen wird. Zum Kapitel „Der Schneemann“ notiert Horváth „Der Irrtum, der Einzelne“ (vgl. K1/E4, K2/E6/Bl. 15, E7 und E11). Wahrscheinlich nimmt er damit auch wieder Bezug auf die in K1/E24 erstmals formulierte Aussage: „Liebe Deine Feinde, aber hasse den Irrtum“ (vgl. auch E6/Bl. 15), die bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bliebt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 65). In einigen folgenden Entwürfen nennt Horváth den Begriff „Der Einzelne“ auch als Kapiteltitel (vgl. E33, E34 und E36). Mit dem Begriff markiert Horváth ein Leitmotiv seines Romanprojekts, nämlich die Frage, ob der Einzelne noch eine Rolle spiele (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 24, 64, 72, 88, 128, 153, 174, 186, 188f., 191 und 195; vgl. auch WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 79). Zum siebenten Kapitel „Der Schneemann“ vermerkt Horváth einen „Ball“, auf dem es zwischen einem Fremden und dem Ich-Erzähler zu einem Dialog kommen soll: „Einer: (springt auf – Wortwechsel) Sie sind ein Rindvieh, dass Sie Ihren Arm fürs Vaterland gaben – ein Rindvieh! / Ich: (schlag ihn nieder; bring ihn um)“ (vgl. E29). Auch einen „Streit wegen eines Mädchens“ vermerkt der Autor hier. Zuletzt notiert er eine Art Apotheose, die wohl den Schluss des Kapitels wie des Romans bilden sollte. Hier heißt es: „Und mit dem Schnee kommt der Gedanke – / Er fällt in weichen Flocken und deckt alles zu. /

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Chronologisches Verzeichnis

Es wird alles weiss. / Eine grosse Hand nimmt mich in die Hand und hebt mich auf. Sie hält mich an die Sonne und der Schnee schmilzt und da sagt die Hand: ‚Siehe, eine Seele‘ –“. Damit nimmt Horváth die Schnee- und Kälte-Motivik wieder auf, die seit VA1/TS11 das Romanprojekt begleitet und bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine ganz zentrale Rolle spielen wird (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 37, 41, 60, 66, 82, 90, 101, 131, 134, 142, 155, 160, 168, 184, 194 und 200). Außerdem skizziert er damit ein positives Romanende, das in weiterer Folge wiederkehrt (vgl. TS24/Bl. 2), schließlich aber vom düsteren Erfrieren auf der Parkbank abgelöst wird. H27 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 3, 4 2 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1, 2 E32 = fragm. Strukturplan in 6 Kapiteln mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (339 mm), die charakteristisch für das Werkprojekt ab der Mitte von Konzeption 2 sind (vgl. den Kommentar zu E14). In E32 arbeitet Horváth Erzählsequenzen zu fünf Kapiteln seines Romanprojekts aus. Die Kapitelfolge, die mit Kapitel fünf beginnt, lautet: „Im Hause des Gehänkten“, „Der verlorene Sohn“, „Eisblumen“, „Die Anklage vor der Polizei“, „Weihnacht“ und „Wieder als Aufseher“. Dazwischen notiert Horváth ein paar weitere Kapiteltitel, die hier jedoch vermutlich keine eigenen Kapitel bilden sollen: „Der Gedanke“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel“. Insgesamt setzt der Strukturplan die Linie der Strukturpläne E25–E27 und E31 fort. Neu ist das Kapitel „Der verlorene Sohn“ (vgl. E31), das bis zur Endfassung erhalten bleibt. Das Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ geht auf E22 zurück, „Eisblumen“ auf E11. Das Kapitel „Die Anklage vor der Polizei“ ist neu. Ein Kapitel „Weihnacht“ findet sich bereits in E26 und E27. Das Kapitel „Wieder als Aufseher“ geht gleichfalls auf E27 zurück. Bemerkenswert im Vergleich zu E31 ist, dass das Schneemann-Kapitel nicht den Abschluss bilden soll, sondern wie in früheren Strukturplänen (vgl. etwa E10 und E11) nur ein kurz vor dem Schluss gereihtes Kapitel darstellt, das dann aber durch eine Rückkehr in die Berufstätigkeit aufgehoben wird. Die „Nebel“ der Zukunft stellen wie dort den Abschluss des Romans dar. Das Kapitel „Der verlorene Sohn“ schildert die Rückkehr des Sohns zu seinem Vater. Horváth leitet es mit dem Satz ein: „Mein Arm wird nicht besser und der Brief des Hauptmanns kommt mir nicht aus dem Sinn. –“ (Bl. 3; vgl. E23 und E25–E27) Der Vater ist „sehr glücklich“ über die Rückkehr seines Sohns und spricht ihm von „Protektion“ (ebd.; vgl. E27). Der Ich-Erzähler denkt gleich an die „Witwe“, was der Vater mit „glänzend!“ kommentiert. Das Kapitel „Eisblumen“ schildert die Begegnung des Ich-Erzählers mit der „Witwe des Hauptmanns“ und ihrer Tochter, die darüber klagt, dass ihre Schlittschuhe nichts „taugen“ (ebd.; vgl. E23). Die Witwe protegiert den Ich-Erzähler, er bekommt eine Stelle und bedankt sich, indem er der Tochter neue Schlittschuhe schenken will. Sie lehnt sie aber ab. Er wird verhaftet. Vor der „Polizei“ „widerruft“ jedoch die Tochter, sodass der Ich-Erzähler wieder „frei“ kommt (vgl. den Kommentar zu E23). So landet er „[w]ieder im Feld“ und wird „Aufsicht im Bergwerk“ (ebd.; vgl. E27 und E34). Im Kapitel „Weihnacht“ kehrt er, wie schon in E27, zu seinem Vater zurück. Die Braut ist zunächst im „Gefängnis“, dann stirbt sie (Bl. 4; vgl. E25). An ihrem Grab („Der Schneemann“) kommt es zu „Tod und Verklärung der ungeborenen Kinder“ (Bl. 4; vgl. E14, TS11, E22, E25, E27 und TS21/Bl. 10). Die Szene endet mit der im Roman wiederaufgenommenen

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Konzeption 2

Passage: „Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Stille die Engel mit den erloschenen Augen und den feurigen Schwertern.“ (Bl. 4; vgl. TS3/Bl. 15, TS8 (Grundschicht), TS9, TS21/Bl. 9, TS24/Bl. 1, K3/TS17/A1/Bl. 4 und TS18/Horváth 1938b, S. 199) Im Kapitel „Wieder als Aufseher“ trifft der Ich-Erzähler auf den „dreifache[n] Mörder“, den „Bettler“ (Bl. 4). Er „flüchtet in die Berge“, wo er in einer „Hütte“ wieder auf den Bettler trifft. Zuletzt notiert Horváth: „Im Nebel“ (ebd., vgl. E6/Bl. 15, E10–E12, E14, E16, E22, E25 und E26). T7 = ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 65–67 TS15 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Gedanke“ (nicht gedruckt)

Bei TS15 handelt es sich um eine Vorstufe des späteren siebenten Kapitels „Der verlorene Sohn“. In den Strukturplänen E31 und E32 findet sich ein Kapitel „Der Gedanke“ bzw. „Der verlorene Sohn“ an sechster Stelle. H28 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E33 = Strukturplan in 13 Kapiteln mit Notizen und Repliken

Das vorliegende Blatt entstammt dem Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die etwa ab der Mitte von Konzeption 2 zu reihen sind (vgl. den Kommentar zu E14). Der Strukturplan E33 führt im Wesentlichen die Linie von E32 fort. Außerdem nimmt E33 Kapiteltitel wieder auf, die bereits in den vorhergehenden Strukturplänen genannt werden. Die Kapitelfolge lautet in E33: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Bettler“, „Im Hause des Gehänkten“, „Der Student“, „Der verlorene Sohn“, „Der Aufseher“, „Der Gedanke“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Irrtum“, „Der Einzelne“ und „Der Schneemann“. Damit weist der vorliegende Strukturplan bereits große Ähnlichkeit mit der Struktur in elf Kapiteln auf, wie sie die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit kennzeichnet (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b). Die ersten fünf Kapitel sind mit dieser identisch. Auch die Kapiteltitel „Der verlorene Sohn“, „Im Reiche des Liliputaners“ und „Der Schneemann“ finden sich dort. Ein Kapitel „Der Student“ bzw. eine Studentenfigur fand sich zuletzt in VA1/E5, E8, E9, TS5, TS6 und E20, in der Folge hatte Horváth die Idee eines studierenden Ich-Erzählers wieder fallengelassen. In E33 nimmt er diese Idee wieder auf, doch sein Student weiß nicht, welches Fach er studieren soll: „Rechtswissenschaft? / Medizin? / Theologie? / Philosophie?“ Letztlich ist es mit dem Studium aber nichts, denn dazu braucht man „Geld“, das der Ich-Erzähler aber nicht hat: „Zu allem braucht man Geld“ und „Die Erkenntnis des Geldes“, notiert Horváth deshalb. Zum Kapitel „Der verlorene Sohn“ (vgl. E32/Bl. 3) vermerkt er: „Nachdem ich meine sozialen Illusionen verloren habe, fühle ich mich furchtbar einsam in der Welt“ und: „Das Beugen unter das Kompromiss ich werde menschlicher; auch in der Beurteilung meines Vaters: der neue verlorene Sohn unserer Zeit“, wobei Horváth „neue“ dreifach unterstreicht. Auch die Beziehung zur Mutter findet in diesem Strukturplan Erwähnung. Der Ich-Erzähler hat diese sehr früh verloren und deshalb einen „Mutterkomplex“ (vgl. E24 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 40f.).

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Chronologisches Verzeichnis

H29 = ÖLA 3/W 177 – BS 26 j [3], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 3 TS16 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Die vorliegende Textstufe dürfte in Zusammenhang stehen mit den Entwürfen E32 und E33, weshalb sie an dieser Stelle gereiht wird. Die eingetragene Pagina 3 lässt keinen Anschluss zu einem anderswo ausgearbeiteten Kapitelbeginn zu. Es handelt sich bei TS16 um eine fragmentarische Ausarbeitung des Kapitels „Der Bettler“, das im Strukturplan E33 erstmals den Rang eines eigenen Kapitels erhält und das vierte Kapitel darstellt. In TS16 schildert Horváth zunächst die Atmosphäre der Kälte, die in dem „staatliche[n] Betrieb“ herrscht, in dem der Ich-Erzähler arbeitet. Um welchen Betrieb es sich dabei handelt und in welcher Funktion er dort arbeitet, bleibt unklar. Die Schilderung der Kälte schließt an das bereits mehrfach erwähnte Schnee- und KälteMotiv an (vgl. VA1/TS11 und den Kommentar zu K2/E31). Sie findet ihren Höhepunkt in dem Satz: „Mein Herz ist verschneit und es weht ein kalter Nordwind. / Die Eiszapfen hängen von meiner Seele und sie kann sich nirgends wärmen. – –“ Weiters erzählt die Textstufe vom Auftauchen eines Mannes in dem Betrieb: „Er hatte eine blaue Brille an und einen weissen Stock, also war er blind.“ (vgl. TS22/Bl. 1 und K3/E2) Der Ich-Erzähler hält ihn auf mit den Worten: „Hören Sie, […] betteln ist absolut, überall verboten und es ist eine besondere Unverschämtheit, dass Sie sogar in einem staatlichen Betrieb zu betteln wagen!“ Zuletzt erweitert Horváth die Textstufe um einige Notizen, deren Zugehörigkeit nicht ganz zu klären ist und die eher auf einen früheren Bearbeitungszustand schließen lassen. Hier heißt es: „Der Briefmarkenklub“, eine singuläre Notiz im Werkprojekt, weiters: „Der Alte, der spricht: Mann und Weib erschaffen, keine Kameradschaft.“ Und schließlich vermerkt Horváth einen inneren Monolog, in dem der Ich-Erzähler über ein „Mädel“ reflektiert und darüber, was sie ihm wert ist. Er kommt dabei zu dem Schluss: „Sie isst im Caféhaus. / ‚Das ist sie mir nicht wert –‘ / ‚Was sind mir die Beine wert? Zwei Zigaretten. Und der Rücken? Einen Café. Und das Gesicht? Nichts. – Aber zusammen niemals ein Schnitzel. Frechheit!‘“

T7 = ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 65–67 TS17 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Student“ (Korrekturschicht) Druck (teilweise, gemeinsam mit K3/TS7) in: Horváth 1981, S. 256–258.

Die Paginierung lässt annehmen, dass es sich bei TS17 um einen Teil einer längeren ausgearbeiteten Fassung des Werkprojekts handelt. Eine solche durchgehende Fassung ist aber nicht überliefert. TS17 stellt eine Vorstufe des späteren siebenten Kapitels „Der verlorene Sohn“ dar. Im Strukturplan E33 findet sich ein Kapitel „Der Student“. Es bildet dort das sechste Kapitel. Ein Kapitel „Der verlorene Sohn“ findet sich indes schon in E32 an der sechsten Stelle und in E33 an der siebenten Stelle. Wahrscheinlich ist das vorliegende Kapitel in der Nähe der Strukturpläne E33 und E35 entstanden, die beide ein Kapitel „Der Student“ enthalten. Während sich Horváth in E33 noch fragt: „Was soll ich studieren? / Rechtswissenschaft? / Medizin? / Theologie? / Philosophie?“, heißt es in E35 jedoch schon: „Sie will nichtsmehr von ihm wissen, weil er kein Student ist.“

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Konzeption 2

TS17 beginnt mit den Worten: „Mein Arm wird nicht besser.“ (Bl. 1; vgl. E32/Bl. 3 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 108) Auch das Gespräch mit dem Arzt findet sich hier schon (vgl. Bl. 1 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 108). Der Soldat spielt mit seinen Kameraden Karten und denkt an die Witwe des Hauptmanns. Im Gegensatz zu späteren Fassungen kennt er ihren Vornamen: „Sie heisst Lony, das ist Ilona.“ (Bl. 1) Er sehnt sich nach ihr zurück und „möchte immer bei ihr liegen“ (ebd.). Schließlich imaginiert er eine Szene, in der er vor sie hintritt und zu ihr sagt: „[I]ch bin kein Student. Aber ich liebe Sie, Dich, Lony --“ (Bl. 2; vgl. E35). Auch eine solche Fantasie findet sich in späteren Fassungen nicht mehr. Es deutet also einiges darauf hin, dass es sich bei TS17 um eine frühe Fassung des Kapitels handelt. In der Passage: „[Z]war hat sie mal in der Nacht plötzlich aufgeschreckt und gesagt, es geht wer“ (Bl. 2) ist das spätere sechste Kapitel „Der Hund“ vorweggenommen (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 103). Schließlich schreibt der Protagonist der Witwe einen Brief, aber er bekommt keine Antwort (Bl. 3; vgl. E15/Bl. 1 und TS14/Bl. 2). Die Fassung bleibt fragmentarisch und franst gegen Ende in einzelne Notizen aus, in denen Horváth das Kapitel weiterdenkt, ohne es jedoch abzuschließen. H30 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E34 = Notiz zum Kapitel „Der Einzelne“

Auf der Rückseite des vorliegenden Blattes, das dem Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“ angehört (vgl. den Kommentar zu E14), notiert sich Horváth die Namen „Rössler“ und „Ackalay“ sowie den dreifach unterstrichenen Hinweis „Bücher“. Dabei dürfte es sich ähnlich wie auf BS 26 a [1], Bl. 11 (= K1/E4) um eine Notiz handeln, in der der Autor festhält, wem er (Rezensions-)Exemplare seines soeben erschienenen Romans Jugend ohne Gott (Auslieferungstermin: 26. Oktober 1937) schicken sollte. Für die Datierung des Blattes und von K2 ist dies insofern hilfreich, als diese jedenfalls nach dem 26. Oktober 1937 zu verorten ist, wahrscheinlich aber erst gegen Ende des Jahres 1937, also wohl in den Monaten November/Dezember 1937. Der Titel der Notiz E34 „Der Einzelne“ bildet im Strukturplan E33 den Titel des zwölften von dreizehn Kapiteln. Auch im vorliegenden Entwurf trägt der Titel die Kapitelnummer zwölf. Von einem genetischen Naheverhältnis dieser beiden Entwürfe ist also unbedingt auszugehen. Horváth hat sich überdies bereits in früheren Entwürfen Notizen zum Thema „Der Einzelne“ gemacht (vgl. K1/E4, K2/E7 und E11), das bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine wichtige Rolle im Werkprojekt spielt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 24, 64, 72, 88, 128, 153, 174, 186, 188f., 191 und 195). Im vorliegenden Entwurf E34 notiert er: „Wo ich den Liliputaner umbringe, sehe ich Bergwerke, in denen ich der Aufseher bin. / Ich bestrafe die Arbeiter. / Die Gefangenen. / Und ich seh den Liliputaner. / Er hat die Anleihe der Bergwerke. / Und er riss es nieder, das verwunschene Schloss – / Ich bringe ihn um.“ Der Ich-Erzähler als „Aufseher“ findet sich erstmals in E27. Eine „Aufsicht im Bergwerk“ wurde auch in E32/Bl. 3 erwähnt. „Der Aufseher“ findet sich weiters in den folgenden Entwürfen und Textstufen: E35, E36, TS18, E39, TS21/Bl. 10 und TS22/Bl. 1f. Dass der Liliputaner das „verwunschene Schloss“ niedergerissen hat, geht auf K1/E21 zurück, wo diese Idee erstmals formuliert wird. Dass der Ich-Erzähler den Liliputaner umbringt, geht auf E22 zurück und bleibt bis zur Endfassung von Ein

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Chronologisches Verzeichnis

Kind unserer Zeit erhalten, wo ihm allerdings der Buchhalter zum Opfer fällt (vgl. K3/E6, TS15/A1/Bl. 2 und 4, TS15/A3/Bl. 13 sowie TS18/Horváth 1938b, S. 191). H31 = ÖLA 3/W 175 – BS 26 j [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, eingeschnitten, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Eintragung mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E35 = Strukturplan in 12 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat der Diktatur“ mit Notizen, Repliken und Dialogskizzen

Das vorliegende Blatt gehört dem Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“ an, die kennzeichnend sind für das Ende von Konzeption 2 (vgl. den Kommentar zu E14). Der Strukturplan E35 nimmt im Wesentlichen die Kapitelfolge von E33 wieder auf, nur dass er ein Kapitel weniger aufweist, wobei nicht ganz klar ist, ob Horváth das letzte Kapitel „Der Schneemann“ überhaupt nummeriert, da an dieser Stelle ein Stück des Blattes abgeschnitten wurde. Die Kapitelfolge, die wahrscheinlich zwölf Kapitel umfasst, lautet: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Bettler“, „Im Hause des Gehänkten“, „Der Student“, „Der verlorene Sohn“, „Der Aufseher“, „Der Gedanke“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Irrtum“ und „Der Schneemann“. Vergleicht man diese Kapitelfolge mit E33, so fällt auf, dass das dortige Kapitel zwölf „Der Einzelne“ in E35 fehlt (vgl. E34). Horváth nimmt aber den „Einzelne[n]“ in das Kapitel elf „Der Irrtum“ auf, wie eine nachträgliche Notiz deutlich macht. Der Strukturplan E35 ist mit zahlreichen Notizen versehen, die die Romanhandlung wesentlich vorantreiben. Das erste Kapitel hätte zunächst „Ein Soldat der Diktatur“ heißen sollen, wie der Werktitel zu diesem Zeitpunkt noch lautet, wird dann aber von Horváth doch wieder durch den schon seit K1 verbürgten Titel „Der Vater aller Dinge“ ersetzt (vgl. K1/E19–E24 und E27–E29). Die folgenden vier Kapitel „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Bettler“ und „Im Hause des Gehänkten“ scheinen zu diesem Zeitpunkt auch schon festzustehen. Zu Kapitel sechs „Der Student“ macht sich Horváth eine Reihe von Notizen. Ähnlich wie in E33 ist auch hier noch nicht ganz klar, ob der Ich-Erzähler wirklich Student sein soll, denn der Autor notiert hier zu seiner „Liebe“: „Sie will nichtsmehr von ihm wissen, weil er kein Student ist“. Zu Kapitel sieben vermerkt Horváth: „Er muss das Militär verlassen. / Er kommt dadurch zum Vater.“ (vgl. E25–E27) Kapitel acht hätte zunächst „Der Gedanke“ geheißen, dann korrigiert Horváth durch „Eisblumen“ (vgl. E11, E13, E14, E22, E25, TS14/Bl. 3, E26 und E32/Bl. 3) und dann durch „Der Aufseher“ (vgl. E27, E32/Bl. 4 und E33). Wieder wird hier die „Witwe“ erwähnt, die ihn „protegieren“ soll (vgl. E27 und E32/Bl. 3). Durch sie bekommt er eine Stelle als „Aufseher“ (vgl. ebd.). Doch er will diese Stelle nicht: „Er will keine Gefangenen beaufsichtigen.“ Zu Kapitel neun „Der Gedanke“ notiert Horváth: „Er sucht den Bettler.“ Und: „Mein Vater ist glücklich“. Jedenfalls soll der Ich-Erzähler hier wieder seine „Liebe“ aufsuchen. Zu Kapitel zehn „Im Reiche des Liliputaners“ vermerkt Horváth den „Abschied vom Vater“. Für Kapitel elf „Der Irrtum“ (vgl. E33) sind mehrere Teilkapitel vorgesehen: „Das Gefängnis. (Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen)“ (vgl. E14, TS11, E22, E25, E27, E32/Bl. 4 und TS21/Bl. 10) und „Die Ermordung des Liliputaners“ (vgl. E22, E25 und E32/Bl. 4). Hierzu notiert Horváth eine Dialogskizze zwischen dem Ich-Erzähler und dem Liliputaner. Letzterer behauptet: „Auf den einzelnen kommt es nicht an –“, worauf der Ich-Erzähler mit den Worten repli-

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Konzeption 2

ziert: „Es kommt nur auf den einzelnen an – alles andere ist Betrug!“ (vgl. E7, E11, E33 und E34) Zum Schlusskapitel „Der Schneemann“ vermerkt der Autor eine Reihe von Notizen: Zunächst ein „Wiedersehen mit dem Gedanken“ von Kapitel neun: „Wir sind Gottes Ebenbild.“ Auch über seine „Liebe“ soll der Ich-Erzähler hier nachdenken: „Und das verwunschene Schloss, das war meine Liebe“ (vgl. TS23), heißt es hier und: „die Sehnsucht nach dem Frieden“ sowie: „Und das Fräulein an der Kasse, das lud mich dazu ein. / Sie wollte mich nicht sehen. / Denn sie ist mein Tod. / Und die Linien, das sind unsere Seelen.“ (vgl. E14, E15/Bl. 1 und E31) Damit entwickelt Horváth die Idee der „Linie“ weiter und verbindet sie mit der Suche nach der Seele, die sich schon in E31 und in K1/E21 findet. Hier fällt auch erstmals der bis in die Endfassung erhalten bleibende Satz über die Kassierin vom „verwunschene[n] Schloss, das es nichtmehr gibt“: „Vielleicht ist sie nur eine Sitzschönheit.“ (vgl. TS5/Bl. 1, TS21/Bl. 10 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 38) Weiters notiert der Autor die Replik eines „Mädel[s]“, „das dem Schneemann den Arm abschlägt“ (vgl. E14) mit den Worten: „Morgen ist er eh hin!“ (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 201, wo es nur heißt: „Er gab seinen Arm für einen Dreck“, vgl. E29; vgl. auch WA 9/K5/TS10/A11/BS 19 b, Bl. 15, wo sich eine ähnliche Szene und teilweise derselbe Wortlaut findet wie in E35) Zuletzt denkt sich der Ich-Erzähler, dass „andere Geschlechter kommen [müssen]“. Dies dürfte in Zusammenhang stehen mit den vielen Passagen, in denen es geheißen hatte: „Die gehören weg!“ (vgl. E13, E22, E25, E26 und E32/Bl. 4), aber auch mit dem Satz: „Am Anfang einer jeden neuen Zeit […]“ (vgl. TS3/Bl. 15, TS8 (Grundschicht), TS9, E32/Bl. 4, TS21/Bl. 9, TS24/Bl. 1, K2/TS17/A1/Bl. 4 und TS18/Horváth 1938b, S. 199). Horváth notiert hierzu weiters: „im Nebel der Zukunft“ und nimmt damit wieder eine motivische Idee auf, die sich bereits in früheren Entwürfen findet (vgl. E6/Bl. 15, E10–E14, E16, E22, E25, E26 und E32/Bl. 4). H32 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, gestrichene Paginierung 45 E36 = Strukturplan in 11 bzw. 9 Kapiteln mit Werktitel „Im Hause des Gehänkten“ mit Notizen und Repliken (links) TS18 = gestrichene fragm. Fassung des Kapitels „Der Bettler“ (rechts; Korrekturschicht)

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die charakteristisch sind für die späten Entwürfe und Textstufen von Konzeption 2 (vgl. den Kommentar zu E14). In E36 notiert Horváth in zwei Arbeitsschritten einen Strukturplan in elf bzw. neun Kapiteln, den er erstmals mit dem Werktitel „Im Hause des Gehänkten“ versieht, der bisher nur ein Kapiteltitel war (vgl. E22, E23, E25, E27, E31, E32/Bl. 3, E33 und E35). Zunächst lautet die Kapitelfolge: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Irrtum“, „Im Hause des Gehänkten“, „Der Aufseher = Der verlorene Sohn“, „Der Gedanke“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Irrtum“, „Der Einzelne“ und „Der Schneemann“. Damit weicht der Strukturplan kaum von E33 und E35 ab, ist aber um ein bzw. zwei Kapitel verkürzt. In einem Korrekturvorgang reduziert Horváth zwei weitere Kapitel, indem er vorhandene Kapitel zusammenfasst: Die ersten fünf Kapitel bleiben gleich, die Kapitel „Der Aufseher“ und „Der Gedanke“ (vgl. TS19) werden zum Kapitel „Der Gedanke“ zusammengefasst, die Kapitel „Der Einzelne“ (vgl. E34) und „Der Schneemann“ zu „Der Schneemann“ (vgl. TS24). Wie schon in E35 notiert der Autor zum Kapitel „Der

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Chronologisches Verzeichnis

Aufseher“: „Es freut mich nichtmehr die Aufseherstelle“ und: „ich werde den Brief nicht los“. Zum Schlusskapitel „Der Schneemann“ vermerkt er eine ausführliche Kapitelbeschreibung, die die in E35 notierte Szene, die sich in Don Juan kommt aus dem Krieg findet (vgl. WA 9/K5/TS10/A11/BS 19 b, Bl. 14, 15), abändert und eine neue, humanere Szene entwirft: „Und das kleine Kind wird sagen: ‚Schau, ein Soldat!‘ / Und das Kind wird hören, es war ein Soldat ohne Arm. / Da sass er auf dem Grab einer Liebe – die ihn garnicht liebte und das Kind wird gross und den Soldaten nie vergessen. Und man wird ihm sagen: ‚Vaterland‘ – und das Kind wird sagen: ‚Unsinn!‘ / Und es wird Grossmutter werden und dann werd ich zum Märchen. Dann wird es das Märchen vom Soldaten erzählen. / Und die Kindlein, sie werden es gerne hören. Und draussen werden sie wieder marschieren, die Soldaten. Ob wir dann auch noch marschieren? Hoffentlich nicht.“ (vgl. K1/TS9/Bl. 2) Die Märchen-Thematik legt einen Bezug zur Fassung TS19 mit dem Titel „Der Gedanke. Ein Märchen“ nahe. In TS18 arbeitet Horváth eine Erzählsequenz zum Kapitel „Der Bettler“ aus, das im Strukturplan E36 das vierte Kapitel darstellt, zu dem Horváth in der Korrekturschicht den Titel „Der Irrtum“ notiert. Alternativ zum Kapiteltitel „Der Bettler“ vermerkt Horváth in TS18 zunächst die beiden Titel „Der Aufseher“ und „Der Gedanke“. Er schildert in dieser Fassung eine zweite Begegnung zwischen der Witwe des Hauptmanns und dem Ich-Erzähler. Sein Vater habe ihn zu ihr geschickt, um Protektion von ihr zu bekommen (vgl. E27 und E32/Bl. 3). Sie fürchtet aber, dass er ihre Liebesbeziehung fortsetzen will und sagt ihm deshalb: „Vergessen wir es, mein Freund.“ Und der Ich-Erzähler denkt: „Und ich vergass es gern. / Es war ja auch nichts dabei.“ Nachträglich notiert Horváth dazu: „Diese Liebe ist nichts; und ich denke, es muss doch auch eine andere Liebe geben –“. Horváth streicht nachträglich diese Fassung, Teile davon gehen jedoch in die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit ein, und zwar in das Kapitel „Der verlorene Sohn“ (vgl. E36 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 106f. und 124). T8 = ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte TS19 = fragm. Fassung mit Titel „Der Gedanke. Ein Märchen“ (Korrekturschicht) Druck in: Horváth 1975, S. 25f.

Die Zugehörigkeit des vorliegenden Typoskripts zum Werkprojekt Ein Kind unserer Zeit ist nicht eindeutig belegbar. Da sich auf der Rückseite der beiden Blätter Original und Durchschlag des ersten Kapitels „Der Vater aller Dinge“, und zwar in einer Reinschrift (K3/TS1) befinden, ist jedoch davon auszugehen, dass die auf den Rectoseiten befindliche Textstufe ebenfalls diesem Werkprojekt zuzuordnen ist, wenn auch einem früheren Bearbeitungszustand. Ein Kapitel mit dem Titel „Der Gedanke“ ist seit E31 belegt. Zuletzt bildete es im Strukturplan E36 das siebente von elf Kapiteln (vgl. auch TS18 und E39). Es ist wahrscheinlich, dass Horváth in dieses Kapitel zumindest einen Teil der Fassung TS19 aufnehmen wollte, möglicherweise auch nur die Grundidee, dass der Ich-Erzähler einen Gedanken hatte und diesen vergaß und nicht mehr wiederfand: „Gestern begegnete ich einem Gedanken. […] / Und dann war der Gedanke an mir vorbei. Ich lief ihm nach und fand ihn nirgends -- er war weg.“ (Bl. 1) Schließlich stellt sich heraus, dass der Gedanke „das nichts“ (Bl. 2) war und er ihn deshalb vergessen hat: „Denn ein Nichts kann man nicht behalten.“ (ebd.) In der

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Konzeption 2

Endfassung von Ein Kind unserer Zeit gibt es den „komischen Satz“, den der IchErzähler vergisst, an den er sich aber schließlich wieder erinnert. Es ist der Satz: „Am Anfang einer jeden Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feurigen Schwertern.“ (K3/TS18/Horváth 1938b, S. 199; vgl. auch TS3/Bl. 15, TS8 (Grundschicht), TS9, E32/Bl. 4, TS21/Bl. 10, TS24/Bl. 1 und K3/TS17/A1/Bl. 4) T9 = ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 4 H33 = ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 67 TS20 = fragm. Fassung (oben; Korrekturschicht) E37 = Konfigurationsplan mit Notizen (unten links) E38 = Repliken (unten rechts)

Bei der vorliegenden Fassung TS20 dürfte es sich um eine frühe Fassung des Kapitels „Der verlorene Sohn“ handeln, das seit dem Strukturplan E32/Bl. 3 belegt ist. In E33 bildet dieses Kapitel das siebente und folgt auf das Kapitel „Der Student“ (vgl. TS17). Ob dieses Kapitel als Fortsetzung von TS17 gedacht war oder aber dieses ersetzen sollte, wie die Pagina vermuten lässt, ist nicht eindeutig zu klären. Die Fassung beginnt mit der Beobachtung des Vaters des Soldaten durch das Fenster des Lokals, in dem er arbeitet (vgl. E32/Bl. 3). Schließlich betritt der Soldat das Lokal und setzt sich an einen der Tische. Als ihn sein Vater sieht, „bekam [er] eine grosse Freude“. Unter der maschinenschriftlichen Textstufe TS20 notiert Horváth handschriftlich einige Bemerkungen in Form eines Konfigurationsplans mit Notizen, die wahrscheinlich den weiteren Verlauf des Kapitels andeuten. Auf einen Dialog zwischen Vater und Sohn soll der Gang zur Witwe folgen, die ihre „Protektion“ „verspricht“ (vgl. E27, E32/Bl. 3 und TS18). Der Soldat trifft hierauf auf den Bettler und gibt ihm „5 Taler, damits diesmal was wird mit dem Aufseher.“ (vgl. E27, E31, E32/Bl. 3f., E33, E35 und E36) Weiters notiert er eine Szene zwischen dem Soldaten, dem Liliputaner und dem Buchhalter (vgl. TS14, E26 und E31). Eine weitere Szene soll den Soldaten allein zeigen. Hierzu notiert Horváth: „der Gedanke“, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass hier das Kapitel „Der Gedanke“ folgen soll (vgl. TS15 und TS19). Noch einmal soll der Ich-Erzähler den Bettler treffen, diesmal ist er „betrunken“ (vgl. E31 und TS22). Zuletzt notiert Horváth E38, wo sich einige Repliken finden. Zunächst vermerkt er die keiner Figur zugeteilte, aber wohl dem Ich-Erzähler zukommende Replik: „Ich bin kein Aufseher!“ (vgl. E35 und E36) Darunter notiert er die Idee zu einem „Ball“ (vgl. E31), auf dem der Ich-Erzähler rufen soll: „Die gehören weg!“ (vgl. E13, E22, E25, E26 und E32/Bl. 4) H34 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 9, 10 2 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, eingeschnitten, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte E39 = Strukturplan in 11 Kapiteln mit Werktitel „Ein Soldat der Diktatur. Roman“ (Bl. 9 oben) TS21 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Schneemann“ (Bl. 9 unten und Bl. 10; Korrekturschicht)

Die Bl. 9 und 10 der Mappe BS 26 l [1] gehören zum Konvolut an überlangen Blättern mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die charakteristisch sind für die zweite Hälfte von Konzeption 2 (vgl. den Kommentar zu E14). Durch eine ungleichmäßige Reißung der

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Chronologisches Verzeichnis

beiden Halbbögen ist ihre Zusammengehörigkeit zudem leicht erkennbar. Bl. 10 setzt also Bl. 9 fort, genauer gesagt wird TS21, die auf Bl. 9 unten beginnt, auf Bl. 10 fortgesetzt. Der Strukturplan E39 ist mit dem Werktitel „Ein Soldat der Diktatur“ versehen, der zu diesem Zeitpunkt immer noch seine Gültigkeit hat (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 2f.). Bei E39 handelt es sich gewissermaßen um eine Reinschrift von E36. Die Kapitelfolge der elf Kapitel lautet: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Irrtum“, „Im Hause des Gehänkten“, „Der Aufseher“, „Der Gedanke“, „Der Bettler“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Der Schneemann“ und „Im Nebel der Zukunft“. Mit Ausnahme der Kapitel acht und elf finden sich alle Kapitel in E36. Horváth weist dem „Bettler“ wieder ein eigenes Kapitel zu und lässt den Strukturplan ähnlich wie in früheren Entwürfen nicht mit dem „Schneemann“ enden, sondern mit einem visionären Kapitel, das den Titel „Im Nebel der Zukunft“ tragen sollte (vgl. E10–E12, E14, E16, E22, E25, E26, E32/Bl. 4 und E35). In TS21 arbeitet Horváth einzelne Textpassagen zum Kapitel „Der Schneemann“ aus, die jedoch keine wirkliche erzählerische Folge bilden. Großteils nimmt er dabei Notizen von E33 und E35 wieder auf, die er in eine Art Reinschrift bringt. Zunächst notiert er eine Grabszene, in der der Ich-Erzähler auf „Gräbern“ steht. Sie endet mit dem Satz: „Am Anfang jeder neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feuerigen Schwertern.“ (vgl. TS3/Bl. 15, TS8 (Grundschicht), TS9, E32/Bl. 4, TS24/Bl. 1, K3/TS17/A1/Bl. 4 und TS18/Horváth 1938b, S. 199) Auch „Ameisen“, die über seine „Seele“ „kriechen“, werden hier genannt und eine „Ameise, die Orangensaft trinkt“ (vgl. E33). „In den Zeitungen stehen die Siege“, heißt es weiter (vgl. TS10/Bl. 2). Darunter notiert Horváth: „Den Bettler suche ich, aber der liebe Gott bleibt still.“ (vgl. E27 und E31) Und wie zuletzt ähnlich zum Kapitel „Der Schneemann“ von E35: „Wir sind Gottes Ebenbild = Der Tod = (der Gedanke)“. In der Folge nimmt er auch wieder die „Sitzschönheit“ von E35 auf, sowie „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“ (vgl. E14, TS11, E22, E25, E27, E32/Bl. 4 und E35) In der folgenden Notiz vermerkt Horváth die „Schneemann“-Szene von E35, wie sie sich in ähnlicher Form in Don Juan kommt aus dem Krieg findet (vgl. WA 9/K5/TS10/A11/Bl. 14, 15). Weiters notiert Horváth auch die Passagen über das „verwunschene Schloss“ und das „Fräulein an der Kasse“ von E35. Zuletzt rekapituliert er die Notizen über die Bergwerke, seine Arbeit als Aufseher und den Liliputaner, der „Aktien“ von dem Bergwerk haben soll (vgl. E34). Allerdings nimmt er hier eine entscheidende Änderung gegenüber E35 vor: Der Liliputaner sollte zwar umgebracht werden (E22, E25, E32/Bl. 4 und E35), wird es aber nicht, denn „er ist ein Krüppel“: „Und hätts einen Sinn?“, fragt der Ich-Erzähler abschließend. T10 = ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 1–5 (vgl. H35) 5 Blatt unliniertes Papier (298 × 212 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 77–81 TS22 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Bettler“ (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 584–589.

Das Kapitel „Der Bettler“ bildet im Strukturplan E39 das achte von elf Kapiteln. Die Paginierung auf dem vorliegenden Typoskript lässt ebenfalls annehmen, dass es sich um ein später zu situierendes Kapitel handelt. Die vorliegende Fassung entwirft ein später gänzlich ausgeschiedenes Szenario. Der Soldat setzt sich in TS22 in dem Lokal, in dem sein Vater arbeitet, an seinen Stammtisch. Doch dort sitzt schon ein Gast. Es

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Konzeption 2

ist der Bettler, der seit Konzeption 2 im Werkprojekt vorhanden ist (vgl. etwa E26, E27, E31, E32/Bl. 3, E33, TS16, E35, TS18, TS21/Bl. 9, E37 und E39). Der Bettler trägt „eine blaue Brille“, und neben ihm steht ein „weisser Stock“ (Bl. 1). Aus dem Text wird klar, dass der Soldat den Bettler schon einmal getroffen hatte, aber er hat ihm damals kein Geld gegeben, und jetzt denkt er: „vielleicht wär mein Arm jetzt ganz, wenn ich ihm die fünf Taler gegeben hätt, vielleicht müsst ich jetzt nicht hier mit einem Bettler zusammen essen am gleichen Tisch und die Protektion erbitten und Aufseher werden --“ (ebd.). Wieder wird also in der vorliegenden Textstufe die „Protektion“ (vgl. E27) thematisiert und die Stelle als „Aufseher“ (vgl. ebd.). In der Folge streitet der Sohn mit seinem Vater, weil dieser laut sagt, dass er „eine starke Protektion“ habe, nämlich „die Witwe seines gefallenen Hauptmanns“ (Bl. 3). Schließlich stellt sich heraus, dass der Bettler gar nicht „blind“ ist (Bl. 3; vgl. K3/E2). Er bettelt auch nur, weil das sein „Beruf“ (Bl. 4, Variante) ist, in Wirklichkeit ist er „reich“ (ebd.). Schließlich rät er dem Soldaten, sein „Mädel“ zu suchen, denn: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Bl. 5; vgl. E31). Und so beschließt der Soldat: „Natürlich werd ich sie suchen, und zwar gleich morgen früh. Ich werd mich in der Autorennhalle, dort, wo das verwunschene Schloss mal stand, erkundigen, wo sie wohl sein mag --“ (Bl. 5; vgl. TS14/Bl. 1 und K3/TS15/A2/Bl. 15). H35 = ÖLA 3/W 173 – BS 26 i [2], Bl. 1 (vgl. T10) 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 212 mm), dünn, schwarzblaue Tinte, Paginierung 77 E40 = Dialogskizze zum Kapitel „Der Schneemann“

Auf dem ersten Blatt der Textstufe TS22 mit dem Titel „Der Bettler“ trägt Horváth nachträglich einen Entwurf zum Kapitel „Der Schneemann“ ein, der in direktem Bezug zum „Bettler“-Kapitel steht. Der Bettler soll nämlich im „Schneemann“-Kapitel wieder auftauchen. Horváth notiert hier den kurzen Dialog: „‚Hier ist nicht gut sitzen‘ – / ‚Ja.‘ / ‚Auf Wiedersehen‘ –“ Möglicherweise sollte dieser Dialog im Gasthaus spielen (vgl. TS22) oder aber auf dem „Kinderspielplatz“ (vgl. TS24/Bl. 1), wo das Schlusskapitel später angesiedelt ist. T11 = ÖLA 3/W 176 – BS 26 j [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 212 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 89 TS23 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Materiell gesehen weist das vorliegende Blatt dieselben Eigenschaften (Blattgröße und -qualität) auf wie TS22. Von einem genetischen Naheverhältnis dieser Blätter ist deshalb unbedingt auszugehen. Außerdem setzt die Pagina 89 in gewisser Weise die Paginae von TS22 (77–81) fort. Die dazwischen liegenden Blätter müssen als verloren erachtet werden. Eine handschriftliche Anmerkung, die Replik des Vaters: „Komm schlafen! Wir werden sehen was der Tag bringt“, lässt vermuten, dass es sich bei der vorliegenden Fassung um ein Gespräch zwischen Vater und Sohn handelt. Ein solches findet sich etwa im Kapitel „Der verlorene Sohn“ der Endfassung K3/TS18. Allerdings dürfte es sich bei der vorliegenden Fassung eher um das Kapitel „Der Gedanke“ handeln, denn Horváth nimmt hier Passagen auf, die er in TS19 bereits ausgearbeitet hatte. Hier heißt es: „Und jetzt kommt auch der schöne Gedanke wieder und sagt, Du hast mich gesucht, ich bin das nichts, der Frieden, der Tod, das Nichts -- / Ich bin

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Chronologisches Verzeichnis

garkein Gedanke, ich habe Dich nur berührt, ich bin der Tod, das Nichts“. (vgl. TS19/Bl. 2) Außerdem denkt der Ich-Erzähler hier an seine Liebe: „Das verwunschene Schloss, das war meine Liebe, meine Sehnsucht nach der Liebe, und das Fräulein an der Kasse, das lud mich dazu ein. Aber sie wollte mich nicht sehen und ich sah sie auch nur so. Und unsere Linien, das waren unsere Seelen --“ (vgl. E19, E35 und TS21/Bl. 10). Ähnliche Passagen finden sich in der Endfassung des Romans nicht mehr. Es ist also davon auszugehen, dass es sich bei TS23 um einen früheren Bearbeitungszustand handelt. Das Kapitel „Der Gedanke“ bildet im Strukturplan E39 das siebente Kapitel und geht dort dem Kapitel „Der Bettler“ (TS22) voraus, allerdings finden sich auch andere Strukturpläne, in denen es erst nach diesem folgt (vgl. E33, E35 und E36), was aufgrund der Paginae anzunehmen ist. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es sich bei dem vorliegenden Blatt um eine fragmentarische Fassung eines anderen Kapitels handelt, etwa der Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ oder „Der Schneemann“ (vgl. TS24). T12 = ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (298 × 212 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 90, 91 TS24 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Schneemann“ (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 591–593.

Die vorliegenden Blätter gleichen materiell den Blättern von TS22 und TS23. Von einem genetischen Naheverhältnis dieser Blätter ist also unbedingt auszugehen. Wahrscheinlich waren sie Teil einer bis zum Schluss ausgearbeiteten ersten Fassung des Romans, die Horváth dann aber wieder verworfen hat, um in Konzeption 3 noch einmal einen deutlich anders gearteten Roman zu entwickeln. Das Schlusskapitel soll laut einer nachträglich in TS24 vermerkten Notiz auf einem „Kinderspielplatz“ angesiedelt sein: „Aber der Sand ist verschneit“ (Bl. 1). Der erste Satz des maschinenschriftlich ausgearbeiteten Teiles lautet: „Ich gehe auf den Friedhof und suche ihr Grab.“ (Bl. 1; vgl. E6/Bl. 15, E14, E16, E17, E27 und E32/Bl. 4) Damit greift Horváth wieder auf die schon im Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg (1936) umgesetzte Idee zurück, dass die Braut des Soldaten sterben soll und er schließlich an ihrem Grab im Schnee stirbt (vgl. WA 9/K5/TS10/A11/BS 19 b, Bl. 21, 22). Die Braut trägt hier den Namen: „Anna Lechner“ wie die „Gastwirtstochter“ Anna im Schauspiel Der jüngste Tag (1937) (vgl. WA 10/K4/TS5/SB Georg Marton, S. 60). Horváth steht hier also noch sichtlich unter dem Einfluss zweier kurz zuvor entstandener Werke, von denen er sich auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit nicht völlig abgrenzen wird. In TS24 nimmt Horváth auch den Satz wieder auf, der in Konzeption 2 entwickelt wurde, hier mehrfach auftaucht und bis zur Endfassung des Romans erhalten bleibt: „[A]m Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den feuerigen Schwertern.“ (Bl. 1; TS3/Bl. 15, TS8 (Grundschicht), TS9, E32/Bl. 4, TS21/Bl. 9, K3/TS17/A1/Bl. 4 und TS18/Horváth 1938b, S. 199) Er rekurriert hier auch wieder auf die Bedeutung des „Einzelne[n]“ und notiert schließlich den Satz, den er allerdings wieder streicht: „Jeder, der sagt, dass der Einzelne keine Rolle spielt, der gehört weg.“ (Bl. 2; vgl. K1/E4, K2/E7, E11, E33 und E34) Die Fassung enthält auch ein Lob der Liebe, wenn es da heißt: „Wir sind jeder allein -- und einsam. / Und nur in der Liebe können wir das finden -- / Nicht im Männerbund, ausgerichtet, Mann für Mann.“ (ebd.) Schließlich fällt der Nebel ein, und der Ich-Erzähler nennt

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Konzeption 3

ihn den „Nebel der Zukunft“ (ebd.; vgl. E6/Bl. 15, E10–E12, E14, E16, E22, E25, E26, E32/Bl. 4, E35 und E39). Auch die „Ameisen“ werden hier wieder erwähnt: „Sie bauen, sie bauen.“ (Bl. 2; vgl. E33, TS21/Bl. 9 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 199) Die Fassung endet mit der Elevationsszene, die Horváth schon in einem früheren Entwurf entwickelt hatte: „Eine grosse Hand nimmt mich in die Hand und hebt mich auf. Sie hält“ (Bl. 2; vgl. E31). Damit bricht die nur fragmentarisch überlieferte Fassung ab. Wahrscheinlich fehlt hier nur noch ein Blatt, das den Schluss enthalten hatte.

Konzeption 3: Ein Kind unserer Zeit Der Titel des Werkprojekts Ein Kind unserer Zeit findet sich zwar auf keinem Blatt von Konzeption 3, aufgrund des erhaltenen Briefwechsels mit dem Verlag Allert de Lange ist jedoch genau nachvollziehbar, wann dieser Titel entstanden ist und dass er auf eine Anregung des Lektors des de Lange-Verlags, Walter Landauer, zurückging (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 3–5). Theoretisch besteht der Titel seit Vorarbeit 2, wo Horváth in VA2/TS1 formuliert: „Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.“ Weitere Hinweise auf den späteren Titel finden sich in VA2/TS2, TS3/Bl. 3 und TS5/Bl. 1 und in Konzeption 1, die ja den Titel „Ein Soldat seiner Zeit“ trägt (vgl. etwa K1/E3 und E5). In der Eröffnungspassage von K1/TS1 schreibt Horváth: „Es war einmal ein Soldat, ein Kind unserer Zeit.“ (vgl. auch K1/TS2/Bl. 2) Zunächst hatte er zu „seiner“ angesetzt, dies dann aber durch „unserer“ ersetzt. Zuletzt finden sich Hinweise auf die Titelformulierung in K3/TS17/A2, wo der Autor die Schlussszene mit dem Kind entwickelt, die auf K2/E36 und TS21/Bl. 10 zurückgeht, dem der „Schneemann“ entgegenhält: „Bedenk es doch: er wusst sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit“ (K3/TS17/A2; vgl. auch K3/TS18/Horváth 1938b, S. 201f.). Konzeption 3, die der tatsächlichen textlichen Ausarbeitung dient, umfasst vor allem Textstufen, die einzelnen Kapiteln zugeordnet werden können, weshalb die genetische Reihung hier kapitelweise und innerhalb der Kapitel chronologisch verfährt.

1. Kapitel: „Der Vater aller Dinge“ T1 = ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 1v 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, hs. Eintragung mit Bleistift von fremder Hand („R“ für Reinschrift), Paginierung 1

T2 = ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 2v 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, hs. Eintragung mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) („R“ für Reinschrift), Paginierung 1 TS1 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Vater aller Dinge“ (Korrekturschicht: schwarzblaue Tinte)

Bei dem für T1 und T2 verwendeten Material handelt es sich um dünnes Durchschlagspapier, das Horváth gerne für Typoskripte verwendete und wie es sich im Konvolut zu Ein Kind unserer Zeit bereits an früherer Stelle findet (vgl. VA2/TS1–TS3, TS5,

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Chronologisches Verzeichnis

K1/TS4–TS9, K2/TS1 etc.). Bei beiden vorliegenden Typoskripten handelt es sich um Durchschläge eines Originals, das als verloren erachtet werden muss. Möglicherweise gehörte es zum Einreichmanuskript, das Horváth dem Allert de Lange Verlag zur Verfügung stellte, denn die von TS1 repräsentierte fragmentarische Fassung ist mit dem entsprechenden Eröffnungsabschnitt der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit identisch (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 5f.). Ein handschriftlicher Vermerk von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) mit Bleistift neben den Paginae der beiden Blätter „R“ bestätigt die Vermutung, dass es sich bei ihnen um eine Reinschrift des Beginns des ersten Kapitels handelt. Da das mit TS1 gegebene erste Kapitel des Romans Ein Kind unserer Zeit bereits den Titel „Der Vater aller Dinge“ trägt, ist davon auszugehen, dass die vorliegenden Blätter erst in der zweiten Februarhälfte oder Anfang März 1938 entstanden sind, denn noch am 10. Februar 1938 schickte Horváth dem Lektor des Allert de Lange Verlags, Walter Landauer, ein Manuskript, in dem das erste Kapitel offensichtlich einen anderen Titel trug (wahrscheinlich: „Ein Soldat“), den er von seinem Lektor zu „Der Vater aller Dinge“ geändert haben wollte (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 3). Auf den Rectoseiten der beiden Blätter befindet sich eine Textstufe mit dem Titel „Der Gedanke. Ein Märchen“, die gleichfalls zum Werkprojekt Ein Kind unserer Zeit zu rechnen und genetisch früher zu platzieren ist (K2/TS19; vgl. auch K2/E31, E33, E35, E36 und E39 sowie das Kapitel „Das denkende Tier“ in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit). TS1 umfasst den Eröffnungsabschnitt des Romans und beginnt mit den Worten: „Ich bin Soldat. / Und ich bin gerne Soldat.“ (vgl. K1/TS3 und TS5/Bl. 4) Dem folgt die „Reif“-Passage, die gleichfalls schon in den erwähnten Textstufen von Konzeption 1 vorgeformt ist. Die Fassung bricht mit der Personifizierung der „Zukunft“ ab, die dem Soldaten bei seiner „Tauglich“-Sprechung bei der Musterung „auf die Schulter klopft“, die eine Neuerung von TS1 darstellt und in keiner der überlieferten Vorstufen des ersten Kapitels vorkommt (vgl. K3/TS18/Horváth 1938b, S. 6).

2. Kapitel: „Das verwunschene Schloss“ T3 = ÖLA 3/W 161 – BS 26 e [1], Bl. 3v 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, eingerissen, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand, Paginierung 25 TS2 = fragm. Fassung (Grundschicht)

Auf der Rectoseite des vorliegenden Blattes befindet sich eine Fassung des Kapitels „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen (Die Ballade vom braven Hauptmann)“ (K2/TS11). Horváth benutzt das Blatt dann zu einem späteren Zeitpunkt als Durchschlagspapier für das Kapitel „Das verwunschene Schloss“, das seit dem Strukturplan K1/E18 das zweite Kapitel des Werkprojekts darstellt. Die Berliner Bearbeiter des Nachlasses von Horváth haben eine Kopie der Versoseite in die Mappe BS 26 c [2] gelegt und damit eine Zugehörigkeit dieses Blattes zur Fassung von K2/TS5 angedeutet, die eine Ausarbeitung des zweiten („Das verwunschene Schloss“) und dritten Kapitels („Am Rande der Zeit“ oder „Die Ballade von der Soldatenbraut“) darstellt. Materiell gesehen ließe sich das argumentieren; da Horváth für Typoskripte aber praktisch immer das gleiche Material verwendet, wiegt dieses Argument nicht sehr schwer. Außerdem weist ein auf BS 26 c [2], Bl. 4 später eingetragener Strukturplan

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Konzeption 3

in sieben Kapiteln, der mit ziemlicher Sicherheit zu Konzeption 2 zu rechnen ist (K2/E10), der Fassung von K2/TS5 eine frühere Position in der Werkgenese zu. Auch inhaltliche Elemente dieser Fassung deuten auf eine solche frühere Stellung, etwa die Tatsache, dass der Ich-Erzähler dort noch in intensiven Kontakt und ausführliche Kommunikation mit dem Fräulein an der Kasse tritt, indem er ihr einen Nagel rauszieht, was sie mit den Worten: „[E]inen Mann kann man immer brauchen!“ (K2/TS5/ Bl. 1) quittiert. Die vorliegende Fassung TS2 indes weicht nur in wenigen Punkten von der Endfassung des zweiten Kapitels ab. So wird etwa der Eröffnungssatz: „Da bin ich aber ordentlich reingetreten!“ in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit durch „Jetzt wär ich aber fast gestürzt!“ (TS18/Horváth 1938b, S. 42) ersetzt. Auch im Zwischenteil finden sich einige Unterschiede zwischen TS2 und dem entsprechenden Abschnitt in der Endfassung. Stärker noch als etwa in K2/TS5 wird jedoch in der vorliegenden Fassung TS2 die „Linie“ personifiziert bzw. der Begriff „Linie“ metonymisch für das Fräulein verwendet, wie dies etwa auch im folgenden Kapitel „Der Hauptmann“ (TS3 und TS4) geschieht.

3. Kapitel: „Der Hauptmann“ T4 = ÖLA 3/W 163 – BS 26 e [3], Bl. 1–6 6 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 27–31, 35 auf BS 26 e [3], Bl. 1–6, hs. Paginierung 32 und 36 auf BS 26 e [3], Bl. 5 und 6 TS3 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Hauptmann“ (Korrekturschicht)

T5 = ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 1–11 11 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 27–31 auf BS 26 e [2], Bl. 1–4, masch. Paginierung 31–35 auf Bl. 5–11, hs. Paginierung 32–37 auf BS 26 e [2], Bl. 5–11 TS4 = Fassung des Kapitels „Der Hauptmann“ (Korrekturschicht) Druck (Grundschicht) in: Horváth 1975, S. 69–76.

Bei T4 und T5 handelt es sich um zwei Durchschläge eines nicht überlieferten Originals des Kapitels „Der Hauptmann“, das seit dem Strukturplan K2/E22 das dritte Kapitel des Werkprojekts bildet. Diese Durchschläge hat Horváth in der Folge handschriftlich überarbeitet, wodurch es zu Wortkorrekturen und größeren Streichungen und Ersetzungen kam. Auch die Paginae hat der Autor teilweise handschriftlich korrigiert. Die handschriftlichen Korrekturen gehen im Falle des Typoskripts der Mappe BS 26 e [2] weiter und liegen näher an der Fassung des Kapitels in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, weshalb dieses Typoskript später gereiht wurde. Im Wesentlichen entscheidet sich Horváth in TS4 dafür, das Präsens der Aufbruchspassage, das sich in der Grundschicht und in TS3 noch findet, in ein Präteritum zu verwandeln. TS3 ist nur fragmentarisch überliefert, entspricht aber in weiten Teilen der Grundschicht von TS4. Der Einleitungssatz von TS4 weist die charakteristische „Einst, wenn […]“-Struktur auf, die Horváth bereits in K2/TS8 und TS9 entwickelt und in K2/TS10 verstärkt zum Einsatz gebracht hatte. In der vorliegenden Fassung TS4 indes setzt er sie bereits so sparsam ein wie in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, wo sie im Kapitel „Der Hauptmann“ wie in TS4 ganze drei Mal vorkommt (vgl. TS4/Bl. 1f. und 6

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Chronologisches Verzeichnis

sowie TS18/Horváth 1938b, S. 45, 47 und 50). Weitere Vorstufen zu der mit TS4 gegebenen Fassung bilden K2/TS11–TS13 mit so unterschiedlichen Titeln wie „Tod und Verklärung der ungeborenen Volksgenossen“, „Die Ballade vom braven Hauptmann“ und „Variationen ueber ein bekanntes Thema“. Aus Horváths Briefwechsel wird klar, dass die vorliegenden beiden Textstufen des Kapitels „Der Hauptmann“ wohl erst im Jänner oder Februar 1938 entstanden sind, nachdem der Autor bereits die ersten drei Kapitel des Romans dem Verlag übergeben hatte, denn die im Brief erwähnte Änderung des Erzähl-„Standpunkt[s]“ – von auktorial zu personal –, die der Autor plante, ist in TS3 und TS4 schon umgesetzt (vgl. den Kommentar zu K2/TS10). Insgesamt handelt es sich bei der Fassung TS4 um eine unmittelbare Vorstufe der Endfassung dieses Kapitels. Viele der handschriftlichen Korrekturen, die Horváth vornimmt, gehen in dieser Form in die Endfassung ein. Dennoch gibt es einige Unterschiede. Inhaltlich gesehen, sind folgende Punkte interessant: Der überstürzte Aufbruch in das „Land“, das sich die Soldaten „holen“ (Bl. 2) wollen, führt dazu, dass der Soldat das Fräulein vom verwunschenen Schloss am Sonntag nicht besuchen kann. Wenn er ihre Adresse hätte, würde er ihr schreiben (vgl. Bl. 2). Aber er hat sie nicht (vgl. K2/TS7). Auch die Passage vom „Vaterland“, das „ruft“ und „auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht“ „nimmt“ (Bl. 2), findet sich in K2/TS7 vorgebildet. Dass der Einmarsch in den „kleine[n] Staat“ „ohne jeder Kriegserklärung“ (Bl. 3) erfolgt, geht auf Vorarbeit 2 zurück, die noch unter dem Titel „Krieg ohne Kriegserklärung“ stand und diese Thematik bereits entwickelte (vgl. etwa VA2/E5). In der „Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“ (K2/TS10) fand sie ihre bisher deutlichste Umsetzung. Die brennenden „Dörfer“ und das Lob auf die „Flieger“ gehen auf K2/TS12 und TS13 zurück. Die Passage: „Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit.“ (Bl. 6) findet sich bereits in K2/TS9. Auch die „bescheidene[n] Helden“ (ebd.) gehen auf diese Textstufe zurück. Dass der Hauptmann im Gefecht stirbt, wurde erstmals in K2/E15 angedeutet, wo vom „Brief des Hauptmanns“ und der „Stimme aus dem Grabe“ die Rede ist. Dass der Brief in der Hand des Soldaten landet und er ihn schließlich an die Witwe übergibt, geht ebenfalls auf diesen Entwurf zurück.

4. Kapitel: „Der Bettler“ T6 = ÖLA 3/W 165 – BS 26 f [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Bleistift und rotem Buntstift, Paginierung 38 TS5 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Bettler“ (Korrekturschicht; links oben und unten)

H1 = ÖLA 3/W 165 – BS 26 f [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, schwarzblaue Tinte, Bleistift und roter Buntstift TS6 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Gedanke“ (Korrekturschicht; rechts oben)

Das Kapitel „Der Bettler“ bildet im Strukturplan K2/E39 das achte Kapitel, aber in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit das vierte (vgl. K2/E33), das es wohl auch in der vorliegenden Fassung von TS5 darstellt, denn es folgt, rein inhaltlich, eindeutig auf das Kapitel „Der Hauptmann“ (TS4). Auch die Pagina 38 stellt eine direkte Fortsetzung von TS4 dar. Das vorliegende Blatt wurde nachträglich mit handschriftlichen Er-

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Konzeption 3

gänzungen und Notizen versehen, von denen ein Teil unter dem Titel „Der Bettler“ wahrscheinlich zu TS5 zu rechnen ist, ein anderer Teil jedoch unter dem Titel „Der Gedanke“ eine eigenständige Fassung darstellt (TS6; vgl. K2/TS19). Da die Fassung von TS6 wohl erst nach jener von TS5 entstanden ist, ist sie ihr nachzureihen, was eine andere Kapitelfolge als in K2/E39 bedeuten würde, wo das Kapitel „Der Gedanke“ dem Kapitel „Der Bettler“ vorausgeht. TS5 schildert die Situation des Ich-Erzählers nach seiner Verwundung im Krieg: „Es war nicht das Herz, es war nur der Arm, aber leider der Knochen. / Er war zersplittert.“ Die überlieferte Ausarbeitung des Kapitels weist großteils schon die Form auf, wie sie sie in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit haben wird (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 55f.). In TS6 arbeitet Horváth eine narrative Passage aus, in der der Soldat den Brief des Hauptmanns öffnet und darin „Schmähungen“ (K2/TS14/Bl. 3) der Soldaten liest: „Achso, er hält uns für Verbrecher –“ (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 85–88). Zuletzt vermerkt er darin: „Und ich gehe zum verwunschenem Schloss. / (Liliputaner) / Mein Arm ist ja wieder gut, ich muss hinaus in 8 Tagen. Ich kann sie nicht suchen. / Ich treffe einen Gedanken. / Was war das nur für ein Gedanke? / Ist die Liebe in mich eingezogen?“ (vgl. K2/TS19) 5. Kapitel: „Im Hause des Gehänkten“ H2 = ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 208 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, zerknittert, durchlöchert, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 46 TS7 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck (gemeinsam mit Teilen von K2/TS17) in: Horváth 1981, S. 256–258.

Das vorliegende Blatt ist Teil des Konvoluts an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die sich vor allem auf die späten Entwürfe von Konzeption 2 verteilen (vgl. den Kommentar zu K2/E14). Außerdem weist das Blatt eine ähnliche Zerknitterung und Durchlöcherung auf wie BS 26 g [1], Bl. 4, BS 26 a [4], Bl. 22 und BS 26 l [2], Bl. 4, 5 (vgl. TS8, TS12, TS17/A1 und A2). Die Paginierung 46, das Schreibmaterial und der Schreibduktus legen überdies eine Nähe zu BS 26 l [1], Bl. 8 (K2/E36) nahe, das eine gestrichene Pagina 45 aufweist; auf diesem Blatt hat Horváth einen Strukturplan skizziert, zu dem TS7 eine narrative Ausarbeitung darstellen könnte. Möglicherweise war das vorliegende Blatt jedoch, darauf könnte die Pagina gleichfalls hindeuten, Teil einer längeren handschriftlichen Fassung des Romans, die aber nicht überliefert ist. Bei TS7 handelt es sich um eine Fassung des Kapitels „Im Hause des Gehänkten“, das seit K2/E22 belegt ist und im Strukturplan K2/E39 das fünfte Kapitel bildet. TS7 schildert die Fahrt des Soldaten zur Witwe des Hauptmanns in einen „Vorort“. Diese Fahrt findet sich noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 75). Die vorliegende Fassung TS7 entspricht schon in weiten Teilen der Passage in der Endfassung, etwa die Betrachtung der Landschaft außerhalb des Zugs und die Reflexionen über den „Herbst“, weshalb davon auszugehen ist, dass sie relativ spät in der Werkgenese zu verorten ist.

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Chronologisches Verzeichnis

H3 = ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 208 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, zerknittert, durchlöchert, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, roter Buntstift, Paginierung 48 TS8 = fragm. Fassung des Kapitels „Im Hause des Gehänkten“ (Korrekturschicht) Druck (teilweise) in: KW 14, S. 189.

Wie das vorhergehende Blatt BS 26 g [1], Bl. 2 ist auch das vorliegende Bl. 4 Teil des Konvoluts an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“ (vgl. den Kommentar zu K2/E14). Außerdem weist es eine ähnliche Zerknitterung und Durchlöcherung auf wie das vorhergehende Blatt und wie drei folgende (vgl. TS12, TS17/A1 und A2). Wahrscheinlich handelt es sich bei TS8 um die Fortsetzung oder Ersetzung eines bereits bestehenden Blattes mit der Pagina 48. Einige der in TS8 ausgearbeiteten Passagen gehen in die Fassung des fünften Kapitels der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit ein, so etwa die Reflexion des Ich-Erzählers über die Tatsache, dass er mit der Witwe seines Hauptmanns ins Bett geht, und über „seltsame Zusammenhänge und unsichtbare Gesetze“, die das Leben bestimmen (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 73 und 95f.). Auch die Verführungsszene weist schon große Ähnlichkeiten mit der entsprechenden Passage in TS18 auf (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 78f.). Weiters werden in TS8 bereits die „Beine der Frauen“ und das „Buch […] über die Sprache der Beine“ erwähnt (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 73f.). H4 = ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 208 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, Paginierung 49a TS9 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Das vorliegende Blatt gehört zum Konvolut an überlangen Blättern (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die sich auf die späte Konzeption 2 und Konzeption 3 verteilen (vgl. den Kommentar zu K2/E14). TS8 trägt eine Pagina 48, TS9 eine Pagina 49a. Solche „a“-Paginae verwendet Horváth, wenn er zu bestehenden Blättern einen Zusatz schreibt. Da es sich im vorliegenden Fall um eine handschriftliche Ausarbeitung handelt, ist wahrscheinlich, dass sie als Ergänzung zu einer Handschrift verfasst wurde. Möglicherweise war auf TS8 noch ein Blatt mit der Pagina 49 gefolgt, zu dem H4 eine Erweiterung darstellt. Dann würde es sich um einen Ansatz von TS8 handeln. Da solches Material nicht überliefert ist, wird Bl. 5 als eigene Textstufe TS9 gewertet. In ihr geht es um die Liebesszene zwischen dem Soldaten und der Witwe des Hauptmanns (vgl. TS8). Dabei heißt es: „Sie liebte noch, wie es der Tote wollte, wie es dem Toten kam.“ T7 = ÖLA 3/W 162 – BS 26 e [2], Bl. 8, 9, ÖLA 3/W 167 – BS 26 g [1], Bl. 3, 6–14, ÖLA 3/W 168 – BS 26 g [2], Bl. 1–3, ÖLA 3/W 169 – BS 26 g [3], Bl. 1–12, ÖLA 3/W 170 – BS 26 g [4], Bl. 1–3 30 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 49 und hs. Paginierung 45 auf BS 26 g [1], Bl. 6, masch. Paginierung 50 auf BS 26 g [1], Bl. 7, masch. Paginierung 45 auf BS 26 g [1], Bl. 8, masch. Paginierung 45 auf BS 26 g [1], Bl. 9, 12, masch. Paginierung 46 auf BS 26 g [1], Bl. 10, 11 und 13, masch. Paginierung 52 auf BS 26 g [1], Bl. 14, masch. Paginierung 56 auf BS 26 g [2], Bl. 1, hs. Paginierung 57 auf BS 26 g [2], Bl. 2, masch. Paginierung 48 auf BS 26 g [1], Bl. 3, masch. Paginierung 58 auf BS 26 g [2], Bl. 3, masch. Paginierung 50–55, 59–64 auf BS 26 g [3], Bl. 1–12, masch. Paginierung 55 auf BS 26 g [4], Bl. 2 und BS 26 g [4], Bl. 1, masch. Paginierung 56 auf BS 26 g [4], Bl. 3

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Konzeption 3

TS10/A1 = fragm. Fassung des Kapitels „Im Hause des Gehänkten“ konstituiert durch BS 26 g [1], Bl. 6, 7 (Korrekturschicht) TS10/A2 = fragm. Fassung des Kapitels „Im Hause des Gehänkten“ konstituiert durch BS 26 g [1], Bl. 8 (Korrekturschicht) TS10/A3 = fragm. Fassung des Kapitels „Im Hause des Gehänkten“ konstituiert durch BS 26 g [1], Bl. 9, 10 (Korrekturschicht) 10/ TS A4 = fragm. Fassung des Kapitels „Im Hause des Gehänkten“ konstituiert durch BS 26 g [1], Bl. 9, 11 (Korrekturschicht) TS10/A5 = fragm. Fassung des Kapitels „Im Hause des Gehänkten“ konstituiert durch BS 26 g [1], Bl. 12, 13 (Korrekturschicht) TS10/A6 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Irrtum“ konstituiert durch BS 26 g [1], Bl. 14 (Korrekturschicht) TS10/A7 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 g [2], Bl. 1, 2 (Korrekturschicht) TS10/A8 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 g [1], Bl. 3 (Grundschicht) TS10/A9 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 g [2], Bl. 3 (Korrekturschicht) TS10/A10 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 g [3], Bl. 1–9, BS 26 e [2], Bl. 8, 9, BS 26 g [1], Bl. 14, BS 26 g [3], Bl. 10–12 (Korrekturschicht) TS10/A11 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 g [4], Bl. 2 (Grundschicht) TS10/A12 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 g [4], Bl. 1, 3 (Korrekturschicht) Druck der Blätter BS 26 g [3], Bl. 8–12 (Grundschicht) von TS10/A10 in: KW 14, S. 184–188.

In zwölf Ansätzen arbeitet Horváth auf den vorliegenden Blättern das Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ aus, das im Strukturplan K2/E39 das fünfte Kapitel darstellt, das es auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit bildet. Dabei befindet sich unter den überlieferten Typoskripten keine Reinschrift des Kapitels. Auch stellt der letzte Ansatz keine in irgendeiner Form vollständige Fassung dar. Am ehesten findet sich eine solche in TS10/A10, von der aber der Beginn fehlt. Dieser ist möglicherweise durch einen früheren Ansatz (etwa TS10/A5) gegeben. In TS10/A1 findet sich bereits der charakteristische Beginn, der auch noch die Endfassung dieses Kapitels kennzeichnet. Hier heißt es: „Gott weiss alles, sagte meine Schwester. Er lässt keinen aus den Augen, Tag und Nacht -- / Wenn das wahr ist, möcht ich nicht der liebe Gott sein.“ (BS 26 g [1], Bl. 6; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 72) Einen Teil der Ausarbeitung streicht Horváth nachträglich. Stehen bleibt indes die Passage: „Mit einem Wort: man kennt sich nicht aus und wer will es wissen, was noch alles kommt? Ich nicht. / Wer hätte es, zum Beispiel, geahnt, dass ich mit der Witwe meines Hauptmanns ins Bett gehen werde!“ (ebd.; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 72f.) Auch die Reflexion über die Beine der Frauen und die Bemerkung über das „Buch […] über die Sprache“ der Beine findet sich in der vorliegenden Textstufe (BS 26 g [1], Bl. 7; vgl. TS8 und TS18/Horváth 1938b, S. 73f.) Auf Bl. 6 korrigiert Horváth handschriftlich die Pagina 49 zu 45, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass er im vorhergehenden Kapitel vier Blätter entfernt hat. Die Pagina 45 bildet in den folgenden Ansätzen (A2–A5) den Beginn des Kapitels. In TS10/A2 korrigiert Horváth in der Passage: „wer will es wissen, was noch alles kommt?“ „will“ zu „kann“, was sich so noch in der Endfassung des Kapitels „Im Hause des Gehenkten“ findet (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 72). Diese Änderung spricht für eine Reihung nach A1. Außerdem findet sich in A2 schon der Satz: „Überhaupt wird der liebe Gott immer überflüssiger“, der ebenfalls in die Endfassung des Romans eingeht (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 72). Die Fassung bricht jedoch unmittelbar danach ab. In TS10/A3 arbeitet Horváth eine Fassung aus, die fast ohne Korrekturen bleibt. Hier findet sich gegenüber den vorhergehenden Ansätzen die Pas-

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sage über den „liebe[n] Gott“: „Immer nur jeden einzelnen beobachten, wo der einzelne längst keine Rolle mehr spielt -- ein undankbarer Beruf.“ (BS 26 g [1], Bl. 9), die genau in dieser Form in die Endfassung des Kapitels eingeht (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 72). Außerdem sind die handschriftlichen Korrekturen von A2 schon maschinenschriftlich umgesetzt, etwa das „kann“ und die Passage, die davon handelt, dass der liebe Gott „immer überflüssiger“ wird (BS 26 g [1], Bl. 9). Der Ansatz bricht nach der Reflexion über die „Beine der Frauen“ (BS 26 g [1], Bl. 10) ab. In TS10/A4 ersetzt nun Horváth BS 26 g [1], Bl. 10 von A3 durch BS 26 g [1], Bl. 11, das etwas weiter in der Ausarbeitung geht. Hier setzt Horváth nach der Reflexion über die „Beine der Frauen“ fort und schreibt die Passage über die „Gattin“ des „Staabsfeldwebel[s]“ und die „Dame mit dem Hermelin“ (BS 26 g [1], Bl. 11) von A1 ins Reine. Zuletzt schreibt er: „Die Villa steht in einem neuem Vorort, ganz am Rande der Stadt.“ (ebd.) Damit kehrt Horváth die Reihenfolge der Reflexionen (zuerst der „liebe Gott“, dann die Frau Hauptmann und der „Vorort“) im Vergleich zu TS7 um. Die in TS10/A4 umgesetzte Reihung, die etwa schon TS8 führt, geht in die Endfassung des Kapitels ein. In TS10/A5 übernimmt Horváth die Passagen über Gott und den Einzelnen unverändert aus A3/Bl. 9. Die Passage über die Tatsache, dass der Soldat mit der Witwe des Hauptmanns ins Bett geht, ändert er aber handschriftlich zu: „Wer hätt sichs, zum Beispiel, zu ahnen getraut, dass ich einst in diesem Leben mit der Witwe meines Hauptmanns in nähere Beziehungen treten werde? / In sogenannte nähere Beziehungen – und wenn auch nur für eine Nacht. / Wer hätte dieses geahnt?“ (BS 26 g [1], Bl. 12) Damit steht dieser Ansatz noch näher an der Endfassung des Kapitels, wo sich eine weitestgehend identische Passage findet (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 73). In der Passage: „Es war mir selbst so unvorstellbar, dass ich hinterher anfing darüber nachzudenken, was es in unserer Welt für einfache Gesetze gibt“ (BS 26 g [1], Bl. 13) korrigiert Horváth schließlich „in“ zu „auf“, was jener Variante entspricht, die auch die Endfassung führt (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 73). Bei TS10/A6 dürfte es sich ebenfalls um eine Fassung des fünften Kapitels „Im Hause des Gehänkten“ handeln. Allerdings versieht Horváth die Fassung nachträglich mit dem Titel „Der Irrtum“, der im Strukturplan K2/E39 das vierte Kapitel darstellt. In TS10/A10 notiert Horváth jedoch an einer Stelle ebenfalls den Vermerk: „Der Irrtum“. Wahrscheinlich sollte die Passage von TS10/A6, die Horváth markiert, dort in das Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ eingefügt werden. In TS10/A7 setzt Horváth das Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ fort. Hier geht es um die Aufforderung der Witwe des Hauptmanns, dass der Soldat als „Mitwisser“ der Selbstmordabsichten des Hauptmanns „schweigen“ soll (BS 26 g [2], Bl. 1). Auf dem unteren Drittel von BS 26 g [2], Bl. 1 und auf BS 26 g [2], Bl. 2 arbeitet Horváth die Fortsetzung des Kapitels handschriftlich aus. Hier schildert der Autor erstmals das Abendessen des Soldaten und der Witwe des Hauptmanns. Hier finden sich schon einige Sätze, die in die Endfassung des Kapitels eingehen, etwa die Passage: „Was wirds denn zum Essen geben? / Wahrscheinlich kalt.“ (BS 26 g [2], Bl. 1; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 90) Dabei schweift der Soldat jedoch in seinen Reflexionen von der Witwe des Hauptmanns zu seinem Vater und seiner Mutter und kommt zu dem Schluss: „Ja, die Liebe geht durch den Magen.“ (BS 26 g [2], Bl. 2; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 92) Zuletzt reflektiert er über die Art und Weise, wie der Hauptmann „gegangen“ (ebd.) ist, und versucht ihn nachzuahmen. In TS10/A8 arbeitet Horváth noch einmal eine Passage zum Beginn des Kapitels aus, die die Pagina 48 trägt. Hier findet sich die Reflexion über das Ins-Bett-Gehen

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Konzeption 3

mit der Witwe des Hauptmanns und über die Tatsache, dass sie „schwarze seidene Strümpfe“ (BS 26 g [1], Bl. 3) trägt (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 78). In der Folge reflektiert der Soldat über das Verheiratet-Sein und kommt zu dem Schluss: „Ich glaub, ich taug nicht recht dazu.“ (BS 26 g [1], Bl. 3) Auch vom Hauptmann denkt er Ähnliches. Die Passage findet sich in ganz ähnlicher Form in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 77f.). Horváth streicht aber einen Großteil des Blattes nachträglich, vermutlich weil er die gestrichenen Teile anderswo verwenden wollte. Und in der Tat finden sich in der Endfassung des Kapitels die erwähnten Passagen in umgekehrter Reihenfolge. Bei TS10/A9 handelt es sich neuerlich um eine Ausarbeitung der Abendessens-Szene zwischen dem Soldaten und der Witwe des Hauptmanns. Allerdings gibt es hier nicht „kalt“, sondern „zwei Schnitzel mit Salat“ (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 92). Die Korrekturen, die Horváth in dem Typoskript vornimmt, entsprechen schon der Fassung des Kapitels in der Endfassung. So streicht er etwa in den Reflexionen des Soldaten das „Bahnhofsstellwerk“ und ersetzt es durch das „Glockenspiel“, das er zu hören glaubt, worauf ihn die Witwe darauf hinweist, dass es sich um das „Stellwerk“ handelt (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 94). TS10/A10 ist die ausführlichste und elaborierteste Fassung, die von dem Kapitel „Im Hause des Gehänkten“ überliefert ist. Allerdings ist sie wie die anderen Ansätze fragmentarisch. Sie setzt an der Stelle ein, wo der Soldat darüber reflektiert, ob er gegenüber dem Hauptmann ein schlechtes Gewissen zu haben braucht, und reicht bis zu der Passage, wo der Soldat und die Witwe den „letzte[n] Zug“ hören, weshalb er bei ihr übernachten muss (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 80–99). Einige der Korrekturen, die Horváth in TS10/A10 einträgt, gehen in die Endfassung des Kapitels ein. So fügt er etwa in der Passage: „Warum beschimpfst Du mich in Deinem Briefe? Was tat ich Dir denn? Warum nennst Du mich einen ehrlosen Verbrecher?“ den Satz: „Wollt ich Dich denn nicht retten?“ ein (BS 26 g [3], Bl. 1; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 80). Auch der handschriftlich hinzugefügte Satz: „Ich kenn mich nichtmehr aus und mir fallt das Wort ein: hysterisch.“ (BS 26 g [3], Bl. 2) findet sich in ganz ähnlicher Form in der Endfassung des Romans (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 81). Die Passage über den Arm, der „daran glauben“ musste, fügt Horváth handschriftlich hinzu (vgl. BS 26 g [3], Bl. 4). Sie geht in den unmittelbar darauf folgenden Ansatz TS10/A11 ein, der eine teilweise, nur ein Blatt betreffende Reinschrift von A10 darstellt. Ein handschriftlicher Vermerk auf BS 26 g [3], Bl. 6: „S. 59“ verweist auf die Fortsetzung des Ansatzes auf einem Blatt mit der Pagina 59. Dieses ist mit BS 26 g [3], Bl. 7 gegeben. Auf BS 26 g [3], Bl. 9 streicht Horváth das letzte Drittel des Blattes und fügt hinzu: „Der Irrtum.“, was ein Hinweis darauf sein dürfte, dass hier die Passage über den Irrtum von TS10/A6 einzufügen ist. Eine Notiz auf BS 26 g [3], Bl. 10 lautet: „Die Signale. Das Stellwerk“ und deutet wahrscheinlich an, dass hier die Passage über das Stellwerk von TS10/A9 einzufügen ist. Bei TS10/A11 handelt es sich, wie bereits erwähnt, um eine Reinschrift eines Teils von A10, die deshalb nach dieser zu reihen ist. Genau genommen handelt es sich um die Passage über den Arm, der „daran glauben“ (BS 26 g [4], Bl. 2) musste (vgl. TS10/A10/BS 26 g [3], Bl. 4 und 5). TS10/A12 führt diese Reinschreibung fort und setzt an derselben Stelle ein. Allerdings umfasst dieser Ansatz ein weiteres Blatt und reicht bis zum „Bücherschrank“ des Hauptmanns. Das Blatt BS 26 g [4], Bl. 3 ergänzt Horváth gegen Ende um einige handschriftliche Notizen, die in die Endfassung des Kapitels eingehen (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 89).

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Chronologisches Verzeichnis

7. Kapitel: „Der verlorene Sohn“ Zum späteren sechsten Kapitel „Der Hund“ der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit findet sich kein überliefertes Material. Es folgt hier also sofort das siebente Kapitel. T8 = ÖLA 3/W 171 – BS 26 h, Bl. 5–9 Insgesamt 5 Blatt unliniertes Papier, davon 2 Blatt unliniertes Papier (297 × 207 mm), dünn, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 2 Blatt unliniertes Papier (297 × 207 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 212 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 76 auf BS 26 h, Bl. 5, masch. Paginierung 77 auf BS 26 h, Bl. 6, 7 und 8, masch. Paginierung 70 und hs. Paginierung 77 auf BS 26 h, Bl. 9 TS11/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 h, Bl. 5, 6 (Korrekturschicht) TS11/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 h, Bl. 5, 7 (Korrekturschicht) TS11/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 h, Bl. 8 (Korrekturschicht) TS11/A4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 h, Bl. 9 (Korrekturschicht)

In TS11/A1–A4 arbeitet Horváth in vier Ansätzen eine Fassung des Kapitels „Der verlorene Sohn“ aus, das im Strukturplan K2/E35 und in der Endfassung TS18 das siebente Kapitel darstellt. Im Strukturplan K2/E39 fehlt dieser Kapiteltitel indes. Möglicherweise trug das Kapitel zu diesem Zeitpunkt noch einen anderen Titel, etwa „Der Student“ oder „Der Gedanke“ (vgl. K2/TS17–TS19). Da das Titelblatt der vier Fassungen fehlt, kann über den Titel nur spekuliert werden. Die Paginae sind ein Hinweis darauf, dass es sich um Typoskripte handelt, die eine bereits existente längere Fassung des Werkprojekts ergänzen oder fortsetzen sollten. Die drei Typoskripte weisen wenige Bearbeitungsspuren auf. Bl. 6 ist eine unkorrigierte Fassung, alle anderen Blätter tragen handschriftliche Korrekturen. In TS11/A1 wird ein Dialog zwischen Vater und Sohn ausgearbeitet, in dem es um die wirtschaftliche Lage und die berufliche Zukunft des Sohnes geht: „Es ist zwar richtig, dass Du nichts gelernt hast, keinen richtigen zivilen Beruf und das ist allerdings arg, aber hunderttausend anderen gehts ebenso, Du bist nicht der einzige, merk Dir das! Du bist eben leider ein Kriegskind und heut bist Du zum Lehrling schon zu alt […]“ (TS11/A1/Bl. 6). In TS11/A1/Bl. 6 findet sich auch eine personifizierte Frage, die sich an den Tisch des Sohnes setzt und ihn nicht mehr auslässt: „Was heisst das eigentlich: die Allgemeinheit?“ Die Szene erinnert an die Textstufe mit dem Titel „Der Gedanke“ (K2/TS19), die Horváth wahrscheinlich in sein Werkprojekt integrieren wollte (vgl. den Hinweis in TS11/A4). Zuletzt erwägt der Vater des Ich-Erzählers sogar, dass man ja auch „[a]uswandern“ könnte, um bessere soziale Bedingungen zu finden. In TS11/A2 wird Bl. 6 durch Bl. 7 ersetzt, wobei Bl. 6 einen Durchschlag von Bl. 7 darstellt, Bl. 7 aber handschriftlich überarbeitet wurde und deshalb später zu reihen ist. Hier arbeitet Horváth die Möglichkeit der „Protektion“ (Bl. 7; vgl. K2/E27) in den langen Monolog des Vaters ein. Diese Thematik findet sich noch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 123f.). In TS11/A3 nimmt Horváth diese Thematik wieder auf und fixiert einige der handschriftlichen Korrekturen von A2 maschinenschriftlich, etwa den Satz: „Aber Du müsstest halt eine kleine Protektion haben“ (Bl. 8, Grundschicht), der in ähnlicher Form in A2 handschriftlich hinzugefügt wurde. Während der Soldat in A2 auf die Frage, ob er denn niemanden kenne, der ihn protegieren könnte, noch schlicht mit „Nein.“ (Bl. 7) antwortet, re-

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Konzeption 3

pliziert er in A3 mit: „Nein, das heisst: ich kenne jemand, aber das ist kein Offizier, sondern eine Frau, die Witwe meines Hauptmanns“. Worauf der Vater antwortet: „Wunderbar! Die wird Dir helfen, die muss Dir helfen! Pass auf, Kind: alles im Leben erreicht man nur durch die Weiber“ (Bl. 8; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 123f.). Nachträglich streicht Horváth zwei Drittel des Blattes, das er möglicherweise durch Bl. 9 (A4) ersetzte. TS11/A4, der sich auch materiell stark von den vorhergehenden Ansätzen unterscheidet (vgl. TS12), dürfte nach A3 entstanden sein. Die maschinenschriftliche Pagina 70, die das Blatt trägt, könnte indes als Hinweis dafür betrachtet werden, dass es älteres Material darstellt. Horváth nimmt in A4 jedoch einige Passagen von A3 wieder auf. Die handschriftliche Korrektur des Satzes: „Die kennst Du?“ zu „Du kennst sie?“ übernimmt er aus A3 in A4, wo sie die maschinenschriftliche Grundschicht darstellt. Dies kann als Hinweis auf die genetische Folge der beiden Typoskripte gewertet werden. Auch in A4 ist die „Protektion“ zentrales Thema. Zuletzt vermerkt der Autor hier die Wiedersehensszene zwischen dem Soldaten und der Witwe. Sie erscheint ihm „zwanzig Jahr älter als vor drei Wochen“ und er fragt sich, wie sie ihm „jemals hatte gefallen können“. Damit bricht die Fassung ab. Nachträglich streicht Horváth auch hier zwei Drittel des Blattes. Allerdings geht ein Großteil dieser Fassung und ein Teil von A3 in die Endfassung des Kapitels „Der verlorene Sohn“ von Ein Kind unserer Zeit ein (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 123f.). Eine wohl nachträglich hinzugefügte Notiz lautet: „Es kommt ein Aufseher und sagt: weg mit Deinen Befürchtungen!“ Der Aufseher findet sich seit K2/E27 im Werkprojekt und spielt auch in der folgenden Textstufe eine Rolle, allerdings wie in früheren Strukturplänen als ziviler Beruf des Soldaten nach seinem Militärdienst.

8. Kapitel: „Der Bettler“/„Das denkende Tier“ H5 = ÖLA 3/W 182 – BS 26 l [3], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (133 × 75 mm), linker Rand perforiert, schwarzblaue Tinte E1 = gestrichene Notiz zur Figur des „Buchhalters“ (oben) E2 = Notizen und Dialogskizze zur Figur des „Bettlers“ (mittig und unten)

Die Bl. 1 und 2 der Mappe BS 26 l [3] wurden wohl aus einem kleinen Notizbuch oder Kalender herausgerissen (vgl. E8–E10). Es ist davon auszugehen, dass sie in geringem Abstand zueinander beschrieben wurden. In E1 notiert sich Horváth zum Buchhalter, der seit K2/E26 im Werkprojekt vorhanden ist, dass er „Pulswärmer“ (vgl. TS15/A4/Bl. 5, Grundschicht, und TS15/A5/Bl. 10) tragen sollte, auch dies ein Reflex auf die Kälteund Schnee-Motivik des Romans (vgl. den Kommentar zu K2/E31). Der Autor streicht jedoch diesen Eintrag gleich wieder und trägt darunter eine Erzählsequenz und eine Dialogskizze E2 zur Figur des Bettlers ein: „Ein Bettler sitzt – / Ich will ihm die fünf Taler geben, damit alles gut ausgeht. / ‚Nein‘, sagt der Bettler, ‚die nimm ich nicht –‘ / ‚Nehmen Sie sie!‘ / ‚Nein! Sie sind sicher gestohlen –‘ / Er geht und dreht sich um und macht ein Zeichen auf seiner Stirne, ich soll nicht denken, er wär verrückt, ich sei vielleicht verrückt!‘“ Am Rande vermerkt Horváth: „Er sieht; er ist nicht blind“ und „Der Hund ist ja garnicht blind –“ (vgl. K2/TS16 und TS22/Bl. 3). Die Frage der Blindheit wird bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine wichtige Rolle spielen (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 70).

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H6 = ÖLA 3/W 172 – BS 26 i [1], Bl. 1–3, ÖLA 3/W 151 – BS 26 a [4], Bl. 22 Insgesamt 4 Blatt, davon 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 208 mm), Halbbogen, gerissen und 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, zerknittert, durchlöchert, schwarzblaue Tinte, Paginierung 79–82 TS12 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Gedanke“ konstituiert durch BS 26 i [1], Bl. 1–3, BS 26 a [4], Bl. 22 (Korrekturschicht) E3 = fragm. Strukturplan in 4 Kapiteln (Bl. 22, rechts oben) E4 = gestrichener fragm. Strukturplan in 4 Kapiteln (Bl. 22, rechts oben) E5 = fragm. Strukturplan in 3 Kapiteln (Bl. 22, rechts oben) Druck der Bl. 1–3 von TS12 in: GW IV, S. 589–591.

BS 26 a [4], Bl. 22 unterscheidet sich durch seine Blattgröße von den anderen Blättern der Mappe BS 26 a [4], die alle eine Überlänge von 343 mm und das Wasserzeichen „Drei Sterne“ haben, während Bl. 22 das normale A4-Format (297 × 210 mm) und kein Wasserzeichen aufweist (vgl. die Kommentare zu VA1/TS8 und K1/E7). Dies legt nahe, dass dieses Blatt andernorts zu platzieren ist, nämlich in der Nähe von Blättern ähnlichen Formats. In der Mappe BS 26 i [1] fanden sich Blätter des gleichen Formats, die aufgrund der Paginae mit diesem Blatt zusammen eine durchgängige Textstufe ergeben. Genau genommen stellen die Blätter der Mappe BS 26 i [1] den Beginn des Kapitels „Der Gedanke“ dar, der durch BS 26 a [4], Bl. 22 fortgesetzt wird. Außerdem weist Letzteres eine ähnliche Zerknitterung und Durchlöcherung auf wie die wenig früher gereihten Blätter BS 26 g [1], Bl. 2 und 4 (vgl. den Kommentar zu TS7, TS8, TS17/A1 und A2). Es spricht also einiges für eine Reihung dieser Blätter an dieser Position in K3. Wahrscheinlich stellt TS12 die Fortsetzung einer längeren handschriftlich ausgearbeiteten Fassung dar. Eine solche durchgehende Fassung ist jedoch nicht überliefert; es ist hier mit einem weitreichenden Überlieferungsverlust zu rechnen. Da TS12 handschriftlich ausgearbeitet wurde, ist davon auszugehen, dass es sich um einen ersten oder aber frühen Versuch der Fortsetzung bereits bestehenden Textes handelt (vgl. auch TS7–TS9). Möglicherweise besteht ein genetisches und textuelles Naheverhältnis zu TS11/A1–A4. Da diese Fassungen jeweils mit der Pagina 77 enden, aber eine Reihe von Korrekturen aufweisen, ist davon auszugehen, dass die Reinschrift, die Horváth daraus erstellte, mit der Pagina 78 endete, die dann wohl durch TS12 oder ein darauf basierendes Typoskript fortgesetzt wurde. Aus der Fassung TS12 wird deutlich, dass der Kapiteltitel „Der Gedanke“ für Horváth sehr lange Teil des Werkprojekts war und offensichtlich erst sehr spät durch „Das denkende Tier“ ersetzt wurde. Im Strukturplan K2/E39 bildet das Kapitel „Der Gedanke“ das siebente Kapitel, in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit stellt das Kapitel „Das denkende Tier“ das achte Kapitel dar. TS12 beginnt mit der Beschreibung der Wohnung des Vaters, bei dem der Soldat seit kurzer Zeit lebt: „Sein Zimmer ist wirklich arm. / Ein Schrank, ein Tisch, ein Bett, zwei Stühle und ein schiefes Sofa – das ist alles. Das Sofa ist übrigens obendrein zu kurz für mich.“ (BS 26 i [1], Bl. 1, Grundschicht) Auf die Beschreibung der Wohnung folgt die Erwähnung der Nachbarin, einer „arbeitslose[n] Verkäuferin“ (ebd.), die ewig die gleichen „drei Platten“ (ebd.) spielt. Auch das „Buch über Tibet“, das der Soldat liest, wird hier schon genannt (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 125f.). Die Reflexion über die „Zeitungen“ und die „Arbeitslosen“ geht ebenfalls in TS18 ein. Sie werden fortgesetzt durch Betrachtungen über das „Denken“ selbst (BS 26 i [1], Bl. 3), über den „Krieg“ (ebd.),

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über seinen Vater (ebd.) und über das „Volk“ (BS 26 a [4], Bl. 22). Die Passage über den „Aufseher“ (BS 26 i [1], Bl. 22) verweist auf frühere Bearbeitungsphasen (vgl. K2/E27, E32/Bl. 4, E33–E36, TS16, TS18 und TS21/Bl. 10). Der „Aufseher“ meint hier: „Ich werde mir eine grosse Peitsche kaufen, denn es sind alles Tiere –“, worauf die „Schwest[er]“ repliziert: „Liebe Deine Feinde –“ (BS 26 i [1], Bl. 22, Grundschicht; vgl. K2/E6/Bl. 15 und TS18/Horváth 1938b, S. 65). Auch die Frage, ob der Ich-Erzähler von der Hauptmannswitwe „Protektion“ bekommt, damit er „Aufseher“ werden kann „[i]n irgendeinem staatlichen Betrieb“ (vgl. K2/TS16 sowie K3/TS11/A3 und A4), wird hier wieder diskutiert und durch eine Vision ergänzt, die ebenfalls an frühere Entwürfe und Textstufen erinnert: „Dort werd ich dann mit einer langen Peitsche herumlaufen und wer aufmuckt, der soll mich spüren.“ (BS 26 a [4], Bl. 22) Eine Vision der Kälte, die ihn umgibt, beendet die Textstufe (vgl. K2/TS16). Hier finden sich Sätze wie: „Wie kalt das Licht wird, wenn man denkt!“ und „Mein Herz beginnt zu frieren“ (BS 26 a [4], Bl. 22), die die Kälte-Motivik früherer Entwürfe und Textstufen (vgl. den Kommentar zu K2/E31) wiederaufnehmen, die auch in der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit eine ganz zentrale Rolle spielen wird (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 37, 41, 60, 66, 82, 90, 101, 131, 134, 142, 155, 160, 168, 184, 194 und 200). Die „Schwester“ findet in TS12 neuerlich Erwähnung. Hier heißt es: „Schad, dass meine dicke Schwester jetzt nicht da ist, der würd ich so manches erzählen –“ (BS 26 a [4], Bl. 22; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 133). Damit bricht die Textstufe ab. Ein Großteil des in TS12 ausgearbeiteten Textes geht praktisch unverändert in die Endfassung des Kapitels „Das denkende Tier“ ein und stellt dort die direkte Fortsetzung der aus TS11/A3 und TS11/A4 erstellten Endfassung des Kapitels „Der verlorene Sohn“ dar (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 125–133). Allerdings ist dort nicht mehr vom „Aufseher“Posten die Rede, sondern vom „Hilfsdiener“, eine Permutation, die in TS12/BS 26 a [4], Bl. 22 bereits vorgenommen wird (vgl. auch TS11/A4 und TS18/Horváth 1938b, S. 132). Die Fassung bleibt indes fragmentarisch und die auf der unteren Hälfte von BS 26 a [4], Bl. 22 ausgearbeiteten Passagen gehen nur teils in die Endfassung ein bzw. werden dort durch andere Reflexionen erweitert, die in TS12 noch nicht vorhanden sind. Nach der Abfassung von TS12 hat Horváth auf BS 26 a [4], Bl. 22 noch drei Entwürfe eingetragen. In E3–E5 skizziert er drei fragmentarische Strukturpläne für das Ende seines Romanprojekts. Hier findet sich zunächst die Kapitelfolge „Der Gedanke“, „Im Reich des Lil[iputaners]“, „Das Paradies“ (vgl. E6) und „Der Schneemann“. In einem ersten Korrekturvorgang erstellt Horváth folgende Kapitelfolge: „Der Gedanke“, „Der Bettler“, „Im Reich des Lil[iputaners]“ und „Der Schneemann“, streicht diesen Entwurf aber wieder und notiert schließlich: „Im Reich des Lil[iputaners]“, „Ein einzelner Mensch“ und „Das Paradies (Mann und Frau)“. Wie man sieht, ist selbst zu diesem Zeitpunkt die Folge der Kapitel im hinteren Abschnitt des Romans noch nicht festgelegt. In den drei Entwürfen zu einer Struktur des Romanendes wechseln sich freudige und düstere Finali ab, was ein Charakteristikum von K2 ist, in der Horváth immer wieder düstere Visionen der Kälte und des Todes entwirft (vgl. etwa K2/E6/ Bl. 15, E17, E25, E35 und E36), die er aber wiederholt durch ein positives (utopisches) Romanende ersetzt (vgl. etwa K2/E14, E31 und TS24/Bl. 2).

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9. Kapitel: „Im Reiche des Liliputaners“ T9 = ÖLA 3/W 176 – BS 26 j [2], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 212 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 84, hs. Paginierung 94 und 95 TS13 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Rein materiell gesehen weist das vorliegende Blatt ähnliche Eigenschaften (Papiergröße und -qualität) auf wie die Blätter von TS11/A4 und TS12. Es dürfte also etwa zeitgleich mit diesen Blättern entstanden sein. Die Pagina auf dem vorliegenden Blatt korrigiert Horváth von 84 zu 95, dann zu 94. Auch sie weist das Blatt als weitere Fortsetzung der erwähnten Textstufen aus. TS13 stellt eine fragmentarische Fassung des Kapitels „Im Reiche des Liliputaners“ dar, das seit K1/E28 fixer Bestandteil des Werkprojekts ist. Die Fassung beinhaltet das Gespräch zwischen dem Soldaten und dem Liliputaner, der ihn dann an den Buchhalter verweist, um die Adresse des Fräuleins herauszubekommen. Die Fassung stellt eine Vorstufe der Endfassung dieses Kapitels dar (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 148f.). Horváth versieht nachträglich einen Teil der Fassung mit einer Markierung und dem Hinweis: „Buchhalter – Ich“ und „Anna, die Soldatenbraut“ (vgl. den Kommentar zu TS14), was darauf hindeutet, dass er diesen Teil für das finale Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und dem Buchhalter im Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ verwenden wollte, was er dann auch tun wird (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 187–189).

10. Kapitel: „Anna, die Soldatenbraut“ H7 = ÖLA 3/W 180 – BS 26 l [1], Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), schwarzblaue Tinte E6 = fragm. Strukturplan in 4 Kapiteln mit Notizen und Repliken

Bl. 5 der Mappe BS 26 l [1] unterscheidet sich durch die Blattgröße von den anderen in dieser Mappe enthaltenen Blättern, die alle eine Überlänge von 339 mm aufweisen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass dieses Blatt zu einem anderen Konvolut von Blättern gehört und anderswo in der genetischen Reihe zu platzieren wäre. Doch die darauf eingetragenen Kapiteltitel deuten in ihrer Beschaffenheit auf eine Platzierung in K3 hin, da sie sich deutlich von den Strukturplänen von K2 unterscheiden und merklich in Richtung der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit weisen. Die Kapitelnummerierung, die Horváth nachträglich streicht, beginnt mit zehn und endet mit dreizehn. Die Kapitelfolge lautet, wenn man nach den Nummern geht: „Anna, die Soldatenbraut“, „Die Linie“, „Das Paradies. = Der Knopf“ und „Der Schneemann“. Ein Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ wird in K2 nur in E4 erwähnt, ansonsten heißt es in dieser Konzeption meist „Die Ballade von der Soldatenbraut“ (vgl. K2/E1, E6 und E10–E13) und wird in der Kapitelfolge oft wesentlich früher platziert. Horváth notiert hierzu: „Es gibt Millionen Annas .....“ und „Jeder meiner Kameraden hatte eine Witwe und doch ein anderes Schicksal“ sowie: „Ich geh zu der Soldatenbraut“, was vorausweist auf das Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ in TS18/Horváth 1938b, S. 153–191. Das Kapitel „Die Linie“ ist neu und verweist zurück auf K2/E1 und TS5/Bl. 1. Allerdings geht Horváth in seinen Notizen zu diesem Kapitel

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über den Entwurf und die Textstufe hinaus. Er vermerkt hier zunächst: „Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor.“ (vgl. TS15/A1/Bl. 2 und TS18/Horváth 1938b, S. 153) Dann führt er die Idee mit der „Linie“ weiter aus, indem er notiert: „Sie zeichnete ihre Linien und wollte mich nicht sehen. / Und es war nur eine Linie, dass ich sie sah. / Und ich wurde immer wieder an sie erinnert – wann denn nur? / Immer wieder, wenn ich heimlich dachte, jetzt geschieht etwas abscheuliches – / Aber wenn ich das Böse nicht sehen wollte.“ (vgl. K2/TS2/Bl. 2) Das Kapitel „Das Paradies“ wird in E9 wiederaufgenommen. Hierzu notiert der Autor: „Es schlug Mitternacht, da ich die Stadt Paris betrat“. Damit nimmt Horváth das Gasthaus „Zur Stadt Paris“ von K1/TS8/Bl. 1 wieder auf, überträgt es aber wohl schon zu diesem Zeitpunkt auf den Vater des Ich-Erzählers, der dort als Kellner arbeitet, was bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit erhalten bleiben wird (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 114, 154 und 191). Zum Schlusskapitel „Der Schneemann“ (vgl. E7 und E8) trägt Horváth eine ganze Erzählsequenz ein: „Die Zeitung kommt. Es steht nichts drinnen. Ich irre den Tag umher in Angst. Endlich das Abendblatt. ‚Ein Unglücksfall. Der Buchhalter und Mitbesitzer so und so stürzte in den Kanal und ertrank. Es scheint ein bedauerlicher Unglücksfall vorzuliegen, er hinterlässt eine trauernde Witwe und drei unversorgte Kinder.‘ / Trauernde Witwe? / Unversorgte Kinder? / Ich bin sehr müde geworden durch das Umherirren.“ Damit entwickelt Horváth den Handlungsstrang mit dem Buchhalter (vgl. K2/E26 und E31) wesentlich weiter und zwar bereits in der Richtung, wie er sich auch in der Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit findet (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 190f. und 193). Nicht zuletzt diese Notizen stützen die Annahme, dass es sich bei E6 um einen relativ spät in der Werkgenese zu verortenden Entwurf handelt. T10 = ÖLA 3/W 176 – BS 26 j [2], Bl. 2 (vgl. T9) 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 212 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 84, hs. Paginierung 94 und 95 TS14 = fragm. Fassung (Korrekturschicht; nicht gedruckt)

Die vorliegende Fassung wollte Horváth zunächst für das Kapitel „Im Reiche des Liliputaners“ verwenden. Nachträglich beschloss er jedoch, einen Teil davon ins Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ zu verschieben (vgl. den Kommentar zu TS13 und die Anmerkungen in der Transkription von TS13). T11 = ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 2–4 3 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, teils eingerissen, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Paginierung 97, 99, 100 TS15/A1 = fragm. Fassung des Kapitels „Anna, die Soldatenbraut“ (Korrekturschicht)

Die vorliegenden Blätter bilden eine fragmentarische Fassung des Kapitels „Anna, die Soldatenbraut“, das seit K1/E10 im Werkprojekt belegt ist. Zwischenzeitlich wurde es auch „Die Ballade von der Soldatenbraut“ genannt (so erstmals in K1/E28). Im Strukturplan K2/E39, der als einigermaßen verbindlich angesehen werden kann, ist ein solches Kapitel nicht vorgesehen. Die Begegnung mit der Braut passiert dort im zweiten Kapitel „Das verwunschene Schloss“, eine Suche nach der Braut ist dort nicht explizit vorgesehen, dürfte aber in einem der Schlusskapitel vonstattengehen (vgl. K2/E36, wo der Soldat im Schlusskapitel „Der Schneemann“ am Grab seiner „Liebe – die ihn

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garnicht liebte“ sitzt). In der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit bildet das Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ das zehnte und vorletzte Kapitel. TS15/A1 beginnt mit dem Eröffnungssatz, der das Kapitel auch in TS18 auszeichnet: „Gott hat mit jedem einzelnem was vor, sagte meine dicke Schwester und ich glaube allmählich, sie hatte recht.“ (Bl. 2; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 153) Die Fassung zeigt den Soldaten, der über seine Tat von „vor einer Stund“ reflektiert, als er den „Buchhalter“ erschlagen hat. Und er denkt über sein „Vaterland“: „[D]as Vaterland ist ein falscher Gott, ein elender Götze, das vertilgt gehört von der Welt. Und es wird nicht das Vaterland vor Gott treten, sondern immer der einzelne. Und was man im Dienste des Vaterlandes verbrach, diese Verbrechen bleiben Verbrechen.“ (Bl. 2) Horváth markiert diese Passage nachträglich mit schwarzblauer Tinte und notiert dazu: „Seite 116“. Zu der Passage: „Es schneit immer stärker und ich werde Gott fragen, warum es so kalt sein muss --“ notiert Horváth indes „Der Schneemann“, was darauf hindeutet, dass er diese Stelle in das Schlusskapitel zu verschieben gedachte. Die Passage findet sich in dieser Form indes im späteren Kapitel „Der Schneemann“ nicht. Dort heißt es allerdings: „Es schneit, es schneit – wie in einem Märchenbuch.“ (TS18/Horváth 1938b, S. 200) und: „Ich werde den lieben Gott fragen, warum es Kriege geben muss.“ (ebd.) Nachfolgend auf Bl. 2, das die Pagina 97 trägt, fehlt das Blatt mit der Pagina 98. Die Fassung setzt nämlich mit Bl. 3 mit der Pagina 99 fort. Hier sieht man den Soldaten, der bereits im Gasthaus „Zur Stadt Paris“ sitzt und von seinem Vater mit Essen versorgt wird. „Ausnahmsweise“ bekommt er auch ein „Glas Bier“ (Bl. 3). In der Endfassung wird es ein „Glas Wein“ sein (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 156). Der Vater händigt ihm in der Folge den „Brief“ der „Hauptmannswitwe“ aus und erklärt ihm: „[M]it der Hilfsdienerstelle ist es nichts, nichts zu machen“ (Bl. 3; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 157) Der Ich-Erzähler reagiert auf diese Nachricht gelassen, doch sein Vater hält sie für eine „Katastrophe“ (ebd.). Der Ich-Erzähler sieht das aber anders: „Der Hilfsdiener – das ist vorbei! Das kommt mir ja direkt schon komisch vor. / In einem Zimmer zu wohnen mit der Aussicht nach einem vornehmen Park, wo der Efeu sich um die alten Bäume rankt – wie lächerlich!“ (Bl. 4; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 158) Die Fassung endet mit einer Reflexion des Ich-Erzählers über das Fräulein und über die Frage, ob sie wirklich Briefe an ihn geschrieben habe. H8 = ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 2 (vgl. T11) 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, schwarzblaue Tinte, Paginierung 97 E7 = gestrichener fragm. Strukturplan in 4 Kapiteln mit Notizen

Horváth versieht Bl. 2 von TS15/A1 nachträglich mit einem Entwurf E7, auf dem er einen Strukturplan für das Romanende skizziert, der folgende Kapitelfolge aufweist: „Anna, die Soldatenbraut“, „Der Hilfsdiener“, „Die Linie“ und „Der Schneemann“ (vgl. E3–E6). Das Kapitel „Der Hilfsdiener“ versieht er mit folgender Notiz: „Es wird mir immer klarer: es muss etwas geschehn. Ich werde mal hingehn und werde mich erkundigen, warum sie entlassen worden war? / Man kann doch das alles nicht so hinnehmen.“ Demnach sollte die Handlung anders verlaufen, als in der mit TS15/A1 gegebenen Fassung. Der Ich-Erzähler sollte wohl zunächst zu der vom Buchhalter erhaltenen Adresse gehen, um sich nach dem Fräulein und ihrem Verbleib zu erkundigen. Dann sollte er, anders als in TS15/A1, wahrscheinlich doch „Hilfsdiener“ werden oder es zumindest versuchen, sodann zur „Linie“ kommen oder über sie reflektieren, und zuletzt als „Schneemann“ enden.

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Konzeption 3

H9 = ÖLA 3/W 178 – BS 26 j [4], Bl. 1 T12 = ÖLA 3/W 179 – BS 26 k, Bl. 5–16 Insgesamt 13 Blatt, davon 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 208 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, 3 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 3 Blatt unliniertes Papier (298 × 207 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 2 Blatt unliniertes Papier (298 × 206 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 207 mm), dünn, vergilbt, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), dünn, Durchschlag (violett), vergilbt, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 206 mm), dünn, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, 1 Blatt unliniertes Papier (298 × 206 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 100 und hs. Paginierung 101 auf BS 26 k, Bl. 13, masch. Paginierung 108 auf BS 26 k, Bl. 14, masch. Paginierung 109 auf BS 26 k, Bl. 15 und 16, hs. Paginierung 109 auf BS 26 j [4], Bl. 1, masch. Paginierung 112–114 auf BS 26 k, Bl. 5–7, masch. Paginierung 113–115 auf BS 26 k, Bl. 8–10, masch. Paginierung 115 auf BS 26 k, Bl. 11 und masch. Paginierung 117 auf BS 26 k, Bl. 12 TS15/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 k, Bl. 13–15 (Korrekturschicht) TS15/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 k, Bl. 13, 14, BS 26 j [4], Bl. 1 und BS 26 k, Bl. 16 (Korrekturschicht) TS15/A4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 k, Bl. 5–7 (Korrekturschicht) TS15/A5 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 k, Bl. 8–10 (Korrekturschicht) TS15/A6 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 26 k, Bl. 11, 12 (Korrekturschicht)

In TS15/A2 und A3 arbeitet Horváth in zwei Ansätzen eine Fortsetzung des Kapitels „Anna, die Soldatenbraut“ aus, das mit TS15/A1 gegeben ist. Die Pagina 100 auf Bl. 13 lässt vermuten, dass damit das Blatt mit der Pagina 100 von TS15/A1 (BS 26 k, Bl. 4) ersetzt wird. Allerdings ist kein direkter Anschluss an BS 26 k, Bl. 3 möglich. Vielmehr steht zu vermuten, dass Horváth den Kapitelbeginn neu ausarbeitete und verkürzte, sodass TS15/A2 an einen kürzeren Kapitelbeginn anschließt, der mit der Pagina 99 endete, aber nicht überliefert ist. Horváth nimmt in TS15/A2 einen Teil des Textes von BS 26 k, Bl. 4 wieder auf und schreibt ihn teils um. Der Ansatz setzt mit der charakteristischen Stelle „,Franz!‘ ruft der eine Chauffeur. ‚Zahlen!‘“ ein, die sich in TS15/A1 noch nicht findet, wohl aber in der Endfassung (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 157). Darauf folgt die Reflexion des Ich-Erzählers über die nicht erhaltene „Hilfsdiener“-Stelle, die Horváth großteils aus TS15/A1 übernimmt, aber in die Form bringt, die sich noch in der Endfassung findet (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 158). Dabei verwendet er handschriftliche Korrekturen von TS15/A1, die in A2 schon die maschinenschriftliche Grundschicht bilden, etwa im Satz: „Auf die Götter reden sich alle hinaus, aber an den lieben Gott denkt keiner“ (Bl. 13), wo Horváth in TS15/A1 in der Grundschicht noch „auf den lieben Gott“ geschrieben hatte, was er in der Korrekturschicht zu „an“ verbesserte. Die Fassung TS15/A2 ist wie TS15/A1 nicht durchgängig überliefert. Nach Bl. 13 mit der Pagina 100 fehlen sieben Blatt, sodass die Fassung erst mit Bl. 14 mit der Pagina 108 wieder einsetzt. Dass dieses Blatt indes zur selben Bearbeitungsstufe wie Bl. 13 gehört, zeigt sich an einer identischen Vergilbung, die darauf hinweist, dass die beiden Blätter gemeinsam gelagert wurden. Bei Bl. 14 handelt es sich außerdem um einen Durchschlag, der keine Korrekturen aufweist. Hier wird die Szene geschildert, in der der Ich-Erzähler bei der Dame ist, bei der das Fräulein zuletzt gewohnt hat, und ihr erklärt, dass er der „Bruder“ des Fräuleins ist. Ein Großteil des Textes von Bl. 14 geht in die Endfassung ein (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 170f.). Auf Bl. 14 folgt dann in TS15/A2 Bl. 15, das einen

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Chronologisches Verzeichnis

textidentischen Durchschlag von Bl. 16 darstellt, jedoch handschriftlich überarbeitet wurde und zu TS15/A3 zu zählen ist. Hier findet sich zunächst eine Erinnerung des Soldaten an Zeilen, die der Hauptmann in seinem Brief geschrieben hatte, in denen er die Soldaten als „elende Räuber“ bezeichnet (Bl. 15; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 172). Zuletzt erfährt der Ich-Erzähler, dass das Fräulein entlassen wurde, weil sie „etwas kleines -- ein Kind“ erwartete und dass „vielleicht alles anders gekommen“ wäre, wenn er früher aufgetaucht wäre (Bl. 15; vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 173). In TS15/A3 ersetzt Horváth nun einen Teil von Bl. 14 und zwar beginnend mit der Passage: „Ja, wohin?“, die er auf BS 26 j [4], Bl. 1, das den Titel „Aenderungen“ trägt, neu ausarbeitet. Diese handschriftliche Fassung reicht bis zu der Stelle „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern feige .... (usw.)“, die Horváth am Schluss von BS 26 j [4], Bl. 1 notiert, womit er andeutet, dass die Fassung mit dieser Passage fortgesetzt werden soll. Ein Hinweis auf eine Pagina 109, die sowohl Bl. 15 als auch Bl. 16 tragen, lässt vermuten, dass der Ansatz mit einem der beiden Blätter, wohl aber mit Bl. 16 fortgeführt wird. Dieses Blatt ist Teil des Originaltyposkripts, auf dem Horváth einige handschriftliche Korrekturen eingetragen hat, die gegenüber Bl. 15 als nachträglich zu betrachten sind. Die Blätter 5–7 der Mappe BS 26 k dürften TS15/A3 fortsetzen. Allerdings bilden sie keinen direkten Anschluss. Bl. 16 trägt die Pagina 109, Bl. 5 (A4) nimmt mit der Pagina 112 wieder auf. Da die Blätter materiell von Bl. 16 abweichen (Papiergröße), ist nicht davon auszugehen, dass sie zum selben Ansatz zu zählen sind und werden deshalb als eigener Ansatz TS15/A4 gerechnet. Hier führt Horváth das Kapitel „Anna, die Soldatenbraut“ weiter. Er arbeitet darin die Szene aus, in der der Soldat nach seinem Besuch bei der alten Dame, bei der sein Fräulein gelebt hatte, noch einmal durch den Rummelplatz schlendert und dabei in einem Bierpalast den Buchhalter erblickt. Die Fassung setzt in der Grundschicht wie folgt ein: „Denn drinnen steht der Buchhalter. / Er holt sich gerade ein belegtes Brot, irgendeinen Hering. Er ist sehr kurzsichtig und der Hering fällt ihm vom Brot. Er hat Pulswärmer an, damit er nicht friert.“ (Bl. 5; vgl. E1) Horváth streicht jedoch diese Passage in der Korrektur. Auch die Blätter 6 und 7 weisen zahlreiche handschriftliche Korrekturen auf, die aber großteils nicht in die folgenden Ansätze übernommen werden, weshalb davon auszugehen ist, dass es sich bei den vorliegenden Blättern um eine frühe Ausarbeitung handelt. Materiell ähneln die Blätter BS 26 k, Bl. 8–10 den Blättern BS 26 k, Bl. 15 und 16, weshalb eine entstehungsgeschichtliche Nähe anzunehmen ist. Wahrscheinlich wurden die Bl. 8–10 nach A4 ausgearbeitet. Schon von A4 war kein direkter Anschluss an TS15/A3/Bl. 16 gegeben, das die Pagina 109 trägt; A5 setzt nun mit BS 26 k, Bl. 8 mit der Pagina 113 ein. Anders als im Fall von A4 fehlen hier also nicht nur drei, sondern vier Blätter zwischen A3 und A5. In TS15/A5 arbeitet Horváth die Reflexion des IchErzählers über die Verteilungsungerechtigkeit und die falschen Führer des Volkes aus, die unmittelbar auf die Szene bei der alten Dame folgt, bei der das Fräulein zuletzt gewohnt hatte. Die Fassung weist einige Ähnlichkeiten mit der Endfassung auf, ist aber doch noch einer früheren Bearbeitungsphase zugehörig (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 178f.). Dies zeigt sich insbesondere an der Fülle von Korrekturen, die vor allem die Blätter 9 und 10 aufweisen. Einige der Korrekturen gehen direkt in die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit ein, so etwa der Satz: „Ich geh an der Autohalle vorbei, da fahren die letzten Gäste“, wo Horváth „fahren“ durch „rodeln“ ersetzt und am Schluss „im Kreis“ hinzufügt (Bl. 9, vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 180). Auch das

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Konzeption 3

folgende: „Blödes Gesindel!“, das er durch „Viel Vergnügen“ korrigiert, dann aber wieder rückkorrigiert, geht in die Endfassung ein (Bl. 9; vgl. ebd.). Die Passage der Grundschicht: „Es wär schön, wenn man sich wiedermal einen Rausch leisten könnt, um sich selber rosiger zu sehen --“ (Bl. 10) kehrt in TS15/A6 in folgender Form wieder: „Es wär schön, wenn man sich wiedermal einen richtigen Rausch leisten könnt, um wieder eine Zukunft zu sehen --“ (Bl. 11) und steht damit der Variante, die die Endfassung führt (dort „spüren“ statt „sehen“, vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 181), schon sehr nah. Nicht zuletzt an dieser Passage lässt sich die genetische Folge der beiden Ansätze A5 und A6 klären. Zwischen BS 26 k, Bl. 11 und Bl. 12 fehlt ein Blatt, das wohl die Pagina 114 getragen hat, weshalb sich zwischen den beiden Blättern kein direkter Anschluss herstellen lässt. Bl. 11 endet mit den Gedanken des Soldaten: „Aber warte nur, ich bring Dich schon heraus! --“ und Bl. 12 setzt fort mit der Replik des Buchhalters: „Was wollen Sie?“ (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 183 und 185) Insgesamt handelt es sich bei TS15/A6 um eine weitere Fassung der Begegnung zwischen dem Soldaten und dem Buchhalter, die, was den Ausreifungsgrad betrifft, der Endfassung des Kapitels „Anna, die Soldatenbraut“ am nächsten steht. Am Ende von Bl. 12 notiert Horváth ein paar handschriftliche Repliken, die zeigen, dass die Ausarbeitung an dieser Stelle wohl endete und eine Fortsetzung oder Ersetzung erst im nächsten Ansatz erfolgte, der aber nicht überliefert ist.

11. Kapitel: „Der Schneemann“ H10 = ÖLA 3/W 182 – BS 26 l [3], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (133 × 75 mm), linker Rand perforiert, schwarzblaue Tinte, Bleistift E8 = gestrichene Replik zum Kapitel „Schneemann“ (oben) E9 = Notiz (mittig) E10 = Notiz zum Kapitel „Das Paradies“ (mittig) E11 = teilweise gestrichene Notizen und Repliken zum Kapitel „Der Schneemann“ (oben, mittig und unten)

Das vorliegende Blatt entstammt wie BS 26 l [3], Bl. 1 (E1 und E2) wohl einem kleinen Notizbuch oder Kalender, den Horváth unterwegs für handschriftliche Aufzeichnungen verwendete. In E8 notiert er mit Bleistift unter dem Titel „Schneemann“ die Replik: „Ja, der Hauptmann hatte recht“, die er dann jedoch mit schwarzblauer Tinte streicht, um möglicherweise mit zeitlicher Distanz E9–E11 einzutragen, die mit schwarzblauer Tinte notiert wurden. Diese Entwürfe enthalten Notizen und Repliken zu den Kapiteln „Das Paradies“ (vgl. E3, E5 und E6) und „Der Schneemann“ (vgl. E6 und E7). Es ist anzunehmen, dass Horváth zunächst den nach E8 frei gebliebenen unteren Teil des Blattes beschrieb, und dann erst E8 strich und die dazwischen und darüber eingetragenen Notizen vermerkte. Als zweiten Entwurf notiert der Autor in E9 neuerlich einen Satz, der bis auf Vorarbeit 2 zurückgeht und die Endfassung des Romans leitmotivisch durchziehen wird: „‚Es ist kalt‘, das bleibt meine erste Erinnerung. –“ (vgl. VA2/E1, TS5/Bl. 2, K3/TS17/A1/Bl. 5 und TS18/Horváth 1938b, S. 41, 60 und 200) Unter dem Titel „Das Paradies“, der in E6 den zwölften von dreizehn Kapiteln darstellt und unmittelbar vor dem „Schneemann“-Kapitel gereiht ist, vermerkt der Autor in E10: „Die Enttäuschung“, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass

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Chronologisches Verzeichnis

hier bereits jene Enttäuschung angedacht ist, die der Ich-Erzähler in den letzten beiden Kapiteln von Ein Kind unserer Zeit zum Ausdruck bringt, Enttäuschung vor allem über das Vaterland und das Militär, die ihm einen falschen Schein von Bedeutung vorgegaukelt haben, über die Methoden der Unternehmer, aber auch über sich selbst (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 186–207). In E11 schließlich notiert der Autor unter dem Kapiteltitel „Der Schneemann“ zunächst: „Es kommt die grosse Liebe über mich, trotzdem sie einen anderen liebt. – / Mich eckelt vor meinem Vaterlande. / Der Hauptmann hatte recht.“ Und nimmt damit die gestrichene Replik über den Hauptmann von E8 wieder auf. Danach trägt er eine Replik eines „Gefängnis{herr}[n]“ ein, die folgendermaßen lautet: „Auf den einzelnen kommts nicht an. Auf den einzelnen soll man keine Rücksicht nehmen.“ (vgl. K2/E7, E11, E33 und E34; vgl. auch WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 79) Zuletzt vermerkt Horváth die Replik eines „kl[einen] Mädel[s]“, die gleichfalls zum Schlusskapitel „Der Schneemann“, d.h. zu E11, zu rechnen ist: „Vielleicht wusst er sich nicht anders zu helfen. Er war eben ein Kind seiner Zeit –“ (vgl. K2/E35, E36, TS21/Bl. 10 und K3/TS17/A2). Damit notiert der Autor zum ersten Mal den Satz, der am Schluss seines Romans zu stehen kommen wird (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 202) und wohl den Ausschlag für den definitiven Titel Ein Kind unserer Zeit gegeben hat (vgl. dazu das Vorwort in diesem Band, S. 3–5). Eine gestrichene Notiz zu einer „S. 39“, die wohl Teil eines Typoskripts war, lautet: „Was einer privat sündigt … (usw.)“ (vgl. auch TS15/A1/Bl. 2), womit wohl die geplante Wiederaufnahme eines bereits verwendeten Motivs angedeutet wird. Eine weitere Notiz, die ebenfalls gestrichen wurde, lautet: „Sendung der Völker“ und dürfte auf eine Thematik verweisen, die im Schlusskapitel verwendet werden sollte. T12 = ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 207 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 117 und hs. Paginierung 122 TS16 = fragm. Fassung des Kapitels „Der Schneemann“ (Korrekturschicht)

In TS16 arbeitet Horváth eine Fassung des Kapitels „Der Schneemann“ aus, das im Strukturplan K2/E39 das vorletzte Kapitel, in K3/E6 hingegen das letzte Kapitel darstellt. Die maschinenschriftliche Pagina 117, die handschriftlich zu 122 korrigiert wurde, lässt einen Anschluss an TS15/A6 möglich erscheinen, der mit Pagina 117 endet, aber unvollständig bleibt. Die Fassung zeigt den Vater und den Soldaten beim Verlassen des Restaurants. Dabei bemerkt der Vater, dass dem Sohn ein Knopf am Mantel fehlt (vgl. E6). Schließlich trennen sich die beiden, weil der Sohn noch sein „Mädel“ sehen will. Horváth streicht nachträglich den gesamten maschinenschriftlich ausgearbeiteten Teil und ersetzt ihn durch einige handschriftliche Notizen. Demnach sollte der „Brief des Hauptmanns“ hier wieder vorkommen (vgl. K2/E15). Eine Replik lautet: „Ich war Soldat. Und ich war gerne Soldat.“ (vgl. K1/TS3, TS5/Bl. 1 und K3/TS1) Weiters heißt es hier: „Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat.“ Und der Soldat möchte dem Fräulein einen Brief schreiben (vgl. TS18/Horváth 1938b, S. 194). Horváth skizziert in den Notizen eine umfassende Erneuerung dieses Kapitels, von dem aber keine ausgearbeitete Fassung vorliegt, die zu Konzeption 3 zu rechnen wäre.

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Konzeption 3

H11 = ÖLA 3/W 181 – BS 26 l [2], Bl. 4, 5 2 Blatt unliniertes Papier (339 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, zerknittert, durchlöchert, Wasserzeichen „Drei Räder“, schwarzblaue Tinte, gestrichene Paginierung 125 und Paginierung 126 auf BS 26 l [2], Bl. 4, gestrichene Paginierung 126 und Paginierung 127 sowie 129 auf BS 26 l [2], Bl. 5 TS17/A1 = fragm. Fassung (Bl. 4 und Bl. 5 oben; Korrekturschicht) TS17/A2 = fragm. Fassung (Bl. 5, unten; Korrekturschicht)

Die vorliegenden Blätter gehören zum Konvolut der überlangen Blätter (339 mm) mit Wasserzeichen „Drei Räder“, die charakteristisch sind für die späten Entwürfe und Textstufen ab etwa der Mitte von Konzeption 2 (vgl. den Kommentar zu K2/E14). Die darauf eingetragenen Paginierungen 126 (korr. aus 125), 127 und 129 lassen darauf schließen, dass es sich bei Bl. 4 und 5 um Ersetzungen oder Ergänzungen zu einer längeren ausgearbeiteten Fassung des Werkprojekts handelt. In TS17/A1 skizziert Horváth eine Fassung des Schlusskapitels, das im Strukturplan K2/E39 noch den Titel „Im Nebel der Zukunft“ trug, in E6 aber wie schon in früheren Strukturplänen (vgl. K2/E13, E25, E26, E31, E33, E35 und E36) den definitiven Titel „Der Schneemann“ führt. Die „Nebel der Zukunft“ werden in der Fassung allerdings erwähnt, wenn es heißt: „Eine grosse Hand nimmt mich in die Hand und hebt mich auf. Sie hält mich an die Sonne, die ich nicht sehen kann, denn die Welt ist noch voll Nebel – / Das sind die Nebel der Zukunft, geht es mir durch den Sinn. / Und der Schnee schmilzt und da sagt die Hand: ‚Siehe, eine Seele‘ –“ (vgl. K2/E31 und TS24/Bl. 2). Auch die Ameisen erwähnt Horváth in der Fassung wieder (vgl. K2/E33, TS21/Bl. 9 und TS24/Bl. 2). Außerdem nimmt er neuerlich den „komischen Satz“ über die „Engel mit den feuerigen Schwertern“ auf, der bis zur Endfassung von Ein Kind unserer Zeit im Schlusskapitel erhalten bleibt, das dort allerdings „Der Schneemann“ lautet (vgl. K2/TS8, Grundschicht, TS9, E32/Bl. 4, TS21/Bl. 9 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 199). Auf Bl. 5, das materiell eng mit Bl. 4 zusammenhängt, notiert Horváth unter der Pagina 127 neuerlich Ergänzungen oder Ersetzungen zum Schlusskapitel „Der Schneemann“, die wahrscheinlich A1 direkt fortsetzen. Darauf weisen nicht zuletzt die konformen Änderungen der Paginae von 125 auf 126 bzw. von 126 auf 127 hin. Hier fällt wieder der bereits mehrfach vorgekommene Satz: „,Es ist kalt‘, das ist meine erste Erinnerung – – –“ (vgl. VA2/TS5/Bl. 2 und K3/E10) und: „Und das Zimmer ist dunkel, ich sitze auf dem Boden“ (vgl. VA2/TS5/Bl. 2). Zuletzt notiert Horváth zu diesem Ansatz: „Ich bin voll Schnee und rühre mich nicht. / Damit ich kein bisschen Schnee verlier.“ Insgesamt trägt TS17/A1 nach wie vor deutliche Züge der in Konzeption 2 ausgearbeiteten visionären Aspekte des Schlusskapitels, die teilweise bis zur Endfassung erhalten bleiben. Auf allzu pathetische Anspielungen auf die Seele verzichtet Horváth jedoch dort. Aufgrund der hohen Paginae ist es unwahrscheinlich, dass die beiden vorliegenden Blätter bereits zu Konzeption 2 zu rechnen wären, da dort das fragmentarische Schlusskapitel die Paginae 90 und 91 aufweist (vgl. K2/TS24). In TS17/A2 setzt Horváth unter der Pagina 129 gewissermaßen diese Szene fort, wobei aufgrund der unterschiedlichen Paginae A2 nicht wirklich als zu A1 gehörig betrachtet werden kann. Der Autor erwähnt hier den „Schneemann“, der „auf der Bank“ sitzt, und notiert zu ihm: „[E]r ist ein Soldat.“ (vgl. TS16) Und er vermerkt hier auch die Schlusspassage der Endfassung von Ein Kind unserer Zeit, in der das Mädchen den eingeschneiten Soldaten auf der Bank sieht und dieser in einer Art innerem Dialog darüber reflektiert, dass er „seinen Arm für einen Dreck“ gab: „Und wenn Du gross sein wirst und es wird vielleicht andere Tage geben und Deine Kinder werden

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Chronologisches Verzeichnis

Dir sagen: dieser Soldat war ja ein gemeiner Mörder, dann schimpfe nicht auf mich. / Bedenk es doch: er wusst sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit.“ (vgl. K2/E35, E36, TS21/Bl. 10, K3/E11 und TS18/Horváth 1938b, S. 201f.) D1 = Ein Kind unserer Zeit. Roman (Exemplar in ÖLA 3/90) Erstdruck, Verlag Allert de Lange, Amsterdam 1938, mit einem Vorwort von Franz Werfel vom 29. Juni 1938 und dem Nekrolog „Abschied von Ödön von Horváth, gesprochen an seinem Grab, 7. Juni 1938, von Carl Zuckmayer“ TS18 = Endfassung in 11 Kapiteln mit Werktitel „Ein Kind unserer Zeit. Roman“ (Grundschicht)

Ein Vertrag vom 30. November 1937 zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Allert de Lange sah vor, dass der Autor das Manuskript seines nächsten Romans, und damit ist mit ziemlicher Sicherheit Ein Kind unserer Zeit gemeint, am 1. August 1938 abliefern sollte. Aus dem Briefwechsel Horváths mit dem Lektor des Verlags, Walter Landauer, der großteils überliefert ist und ein Konvolut von seltener Geschlossenheit innerhalb der Briefwechsel von Horváth darstellt, aus diesem Briefwechsel also geht jedoch hervor, dass Horváth sein Manuskript bereits am 10. Februar 1938 an den Verlag schickte (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 3). Zwischen Autor und Lektor spielt sich in der Folge ein Feilschen um den Erscheinungstermin ab, der sich ebenfalls im Briefwechsel nachlesen lässt und in dem sich der Lektor schließlich zu dem Zugeständnis hinreißen lässt, den neuen Roman doch schon im Frühjahr erscheinen zu lassen, obwohl Jugend ohne Gott erst Ende Oktober 1937 erschienen war. Dabei kommt es auch zu einer Diskussion über den Romantitel, der zunächst „Ein Soldat der Diktatur“ gelautet hatte, was Landauer aber nicht gefiel, weshalb er den Vorschlag: „Ich war ein Kind unserer Zeit“ macht (vgl. den Brief vom 24. Februar 1938 im Vorwort zu diesem Band, S. 3). In der Zwischenzeit überarbeitete Horváth den Text offensichtlich noch einmal und übernahm zumindest teilweise den Titelvorschlag Landauers, denn am 11. März 1938 meldet der Lektor: „Ihr Roman mit dem Titel ‚Ein Kind unserer Zeit‘ ist angekommen. Ich habe ihn an die Druckerei geschickt. Er wird also noch in diesem Frühjahr erscheinen.“ (Brief Walter Landauers an Ödön von Horváth vom 11. März 1938, vgl. das Vorwort zu diesem Band, S. 5) Zu diesem Zeitpunkt trägt der Roman also schon den definitiven Titel. Die Korrekturen der Druckfahnen ziehen sich dann bis Mitte April 1938. Durch Horváths plötzlichen Tod am 1. Juni wurde wohl der bereits gedruckte Roman – oder zumindest ein Teil der ersten Auflage – nicht ausgeliefert, sondern noch vor der Auslieferung um ein „Vorwort“ von Franz Werfel und die Grabrede Carl Zuckmayers vom 7. Juni 1938 erweitert; so zumindest in den Exemplaren an der Österreichischen Nationalbibliothek, wo die entsprechenden Teile eindeutig nachträglich eingeklebt wurden. Es ist also wahrscheinlich, dass der Roman Ein Kind unserer Zeit posthum frühestens im Juni, wahrscheinlich aber erst im Juli oder August 1938 ausgeliefert wurde. Die später eingeklebten Rahmentexte von Werfel und Zuckmayer werden in der hier erstellten linearisierten Fassung TS18 nicht realisiert, da es sich um keinen HorváthText handelt und sie auch in der von ihm autorisierten Druckfassung nicht enthalten waren. Die Endfassung von Ein Kind unserer Zeit umfasst elf Kapitel, wie Horváth in dem Brief vom 27. Jänner 1938 schreibt (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 2). Die Kapitelfolge lautet: „Der Vater aller Dinge“, „Das verwunschene Schloss“, „Der Hauptmann“, „Der Bettler“, „Im Hause des Gehenkten“, „Der Hund“, „Der verlorene Sohn“,

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Konzeption 3

„Das denkende Tier“, „Im Reiche des Liliputaners“, „Anna, die Soldatenbraut“ und „Der Schneemann“. Damit greift Horváth auf eine Kapitelzahl zurück, die er erstmals in Vorarbeit 2 (vgl. VA2/E9) entwickelt und in den Konzeptionen 1 und 2 wiederholt zum Einsatz bringt (vgl. etwa K1/E12, E19, E20, K2/E22, E36 und E39). Das erste Kapitel trug noch bei der definitiven Einreichung im Verlag wahrscheinlich den Titel „Ein Soldat“, den der Autor aber vom Lektor zu „Der Vater aller Dinge“ geändert haben wollte, weil der Romantitel zu diesem Zeitpunkt noch „Ein Soldat der Diktatur“ lautete und dadurch eine unschöne Doppelung zwischen Romantitel und erstem Kapitel zustande gekommen wäre (vgl. den Brief vom 10. Februar 1938 im Vorwort zu diesem Band, S. 3). Das erste und das letzte Kapitel „Der Schneemann“ bilden eine Klammer um die Romanhandlung; zwischen ihnen spielt sich die zentrale Transformation des Soldaten ab, der im ersten Kapitel exponiert wird und zunächst als blinder Gehorsamer erscheint, aber am Ende des Romans zum eigenen Denken und zur zentralen Einsicht findet: „Es darf nicht sein, dass der einzelne keine Rolle spielt, und wärs auch nur ein letztes Fräulein. / Und jeder, der das Gegenteil behauptet, der gehört ausradiert – mit Haut und Haar! / Was hinterher kommt, das steckt noch im Nebel der Zukunft.“ (TS18/Horváth 1938b, S. 195; vgl. K2/E7, E11, E33, E34, K3/K11 und WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 79) Die Idee, das Ende des Romans bei Schneetreiben spielen zu lassen, verweist auf das 1936 fertiggestellte Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg (WA 9), dessen dritter Akt ebenfalls den Titel „Der Schneemann“ trägt, an dessen Ende Don Juan, dem Soldaten gleich, eingeschneit wird und im Schnee stirbt. Die motivische Idee von Schnee und Kälte findet sich im genetischen Konvolut von Ein Kind unserer Zeit bereits in einer Textstufe von Vorarbeit 1 (vgl. VA1/TS11) und wird in der Folge immer weiter ausgebaut (vgl. etwa VA2/E1, TS5/Bl. 2, K1/TS2/Bl. 2, E18–E24, E27–E29, K2/E6/Bl. 15, E10–E14, E25, E26, TS16 und K3/TS12), ab der Mitte von Konzeption 1 erscheint „Der Schneemann“ als eigener Kapiteltitel bereits am Ende der Romanstruktur (vgl. K1/E18–E24, E27–E29; weiters K2/E10–E14, E22, E25, E26, E31, E35, E36, E39, K3/E3, E4 und E6–E8). Die beiden Kapitel, in denen von der Soldatenbraut die Rede ist, bilden die zweite Klammer zwischen Anfang und Ende: „Das verwunschene Schloss“ und „Anna, die Soldatenbraut“ (Kapitel 2 und Kapitel 10). Aus dem frauenfeindlichen und militärhörigen Soldaten wird in Kapitel 2 erstmals so etwas wie ein Liebender. Doch seinem Liebeserlebnis, das freilich ein sehr Diskretes und Distanziertes ist, das möglicherweise sogar auf einer einseitigen Bewunderung für die „Linie“ (TS18/Horváth 1938b, S. 36) basiert, wird sofort ein Riegel vorgeschoben, denn er muss schon am Freitag vor dem Wochenende, an dem er das Fräulein wieder besuchen wollte, in den Krieg „ohne jede Kriegserklärung“ ziehen (TS18/Horváth 1938b, S. 48; vgl. K2/TS7 und den Werktitel von VA2 und den Kapiteltitel „Krieg ohne Kriegserklärung“ in zahlreichen Entwürfen von K1 und K2 sowie K2/TS10 und K3/TS18/Horváth 1938b, S. 46f.). Die Figur der Soldatenbraut geht auf Entwürfe der Vorarbeiten 1 und 2 zurück, wo von einer „Kellnerin“ die Rede ist (vgl. VA1/E6, TS6, E15–E17, VA2/E5 und E6 sowie Horváths Entwürfe zum „Roman einer Kellnerin“ in WA 14). Der Kapiteltitel „Anna, die Soldatenbraut“ erscheint erstmals in K1/E10. Im Laufe von Konzeption 1 und zu Beginn von Konzeption 2 wird dieses Kapitel auch vorübergehend „Die Ballade von der Soldatenbraut“ genannt (vgl. K1/E28, E29, K2/E1, E6 und E10–E13), immer weiter nach hinten verschoben und bildet dann mit dem Kapitel „Das verwunschene Schloss“, das sehr früh existiert und seinen festen Platz an der zweiten Stelle erhält (erstmals in K1/E18), die erwähnte Klammer.

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Chronologisches Verzeichnis

Dem Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg vergleichbar, begibt sich der Soldat nach dem Krieg und seiner Entlassung aus dem Militärdienst auf die Suche nach seiner Braut. Dabei muss er ins „Reic[h] des Liliputaners“ (Kapitel 9), das auf ein Kapitel mit dem Titel „Der Bonze“ von Konzeption 1 zurückgeht (vgl. etwa K1/E16–E24) und erst ab K1/E28 den Titel „Im Reiche des Liliputaners“ führt. Schon früh soll es hierin um die Widersprüche zwischen Geschäftsdenken und Individualität gehen, die in der Endfassung mittels der Figur des Buchhalters, der auf Entwürfe von Konzeption 2 zurückgeht, deutlich ausgearbeitet werden (vgl. etwa K2/E31). Während in Konzeption 2 noch vom „Mord am Liliputaner“ (K2/E22 und E25) die Rede ist, überträgt Horváth die Tötung schließlich auf den Buchhalter (erstmals in K3/E6, deutlich in K3/TS15/A1/Bl. 4). Kapitel drei trägt den Titel „Der Hauptmann“. An ihm hat Horváth wohl sehr intensiv und bis zuletzt gefeilt (vgl. den Brief an Landauer vom 1. Jänner 1938). Es trägt phasenweise den Titel „Die Ballade vom braven Hauptmann“ (erstmals in K2/E18; vgl. weiters K2/TS11 und TS12). Die titelgebende Figur von Kapitel 4, „Der Bettler“, spielt noch in Konzeption 2 eine prominente Rolle (vgl. insbesondere K2/TS22). In der Endfassung wird seine Bedeutung auf die Funktion eines Leitmotivs reduziert, er selbst gewinnt aber als Figur kaum mehr Kontur. Das Kapitel „Im Hause des Gehenkten“, das von Horváth durchgängig als „Gehänkten“ geschrieben wird, geht auf Entwürfe von Konzeption 2 zurück (vgl. insbesondere K2/E15, E22 und E23) und taucht erstmals unter diesem Namen in K2/E22 auf. Zunächst hatte Horváth hier eine Liebesgeschichte zwischen der Tochter des Hauptmanns und dem Soldaten angedacht, die Tochter aber allmählich aus dem Werkprojekt gestrichen (vgl. K2/E27) und stattdessen eine Liaison zwischen dem Soldaten und der Witwe des Hauptmanns entwickelt (erstmals in K2/E23). Schon früh entwirft Horváth die Idee des Briefs, den der Soldat der Witwe zu überbringen hat, wodurch erst der Kontakt hergestellt wird (erstmals in K2/E15/Bl. 1, weiters in K2/E23). Das Kapitel „Der verlorene Sohn“, das die Rückkehr des Soldaten zu seinem Vater beinhaltet, wird im Wesentlichen in Konzeption 2 entwickelt. Hier finden sich bereits Kapitel, die von der „Weihnacht“ „[b]eim Vater“ oder „mit dem Vater“ sprechen (K2/E26 und E27), in K2/E32/Bl. 3 fällt erstmals der definitive Titel „Der verlorene Sohn“. Das achte Kapitel „Das denkende Tier“ geht wohl auf ein Kapitel mit dem Titel „Der Gedanke“ zurück, das Horváth ebenfalls in Konzeption 2 entwickelt (vgl. K2/E31–E33, E35, E36, TS19 und E39). Das Denken des Soldaten nimmt eine ganz zentrale Stelle in dem Werkprojekt ein, wie nicht nur Horváths Zusammenfassung des Romans für den Klappentext zeigt (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 5), sondern auch die Bedeutung, die dem „komischen Satz“ (TS18/Horváth 1938b, S. 199) zukommt, der auf K2/TS8 und TS9 zurückgeht, und in K2/TS21/Bl. 9 erstmals in der Form zitiert wird, in der er auch in das Schlusskapitel „Der Schneemann“ der Endfassung eingeht: „Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feurigen Schwertern.“ (TS18/Horváth 1938b, S. 199; vgl. auch K2/TS24/ Bl. 2) Der abschließende innere Monolog des Soldaten auf der Parkbank im Schnee, der nur scheinbar an das Kind gerichtet ist, das ihn sieht, geht auf K2/E35, E36 und TS21/Bl. 10 zurück und ist in K3/TS17/A2 vorgebildet (vgl. auch K3/E11). Er bildet den Abschluss des Romans Ein Kind unserer Zeit: „Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat. / Und Du, Du wirst grösser werden und wirst den Soldaten nicht vergessen. / Oder? / Vergiss ihn nicht, vergiss ihn nicht! / Denn er gab seinen Arm für einen Dreck. / Und wenn Du ganz gross sein wirst, dann wirds vielleicht andere Tage geben und Deine Kinder werden Dir sagen: dieser Soldat war ja ein gemeiner Mörder –

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Endfassung, emendiert

dann schimpf nicht auch auf mich. / Bedenk es doch: er wusst sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit.“ (TS18/Horváth 1938b, S. 201f.)

Ein Kind unserer Zeit (Endfassung, emendiert) Die emendierte Endfassung des Romans Ein Kind unserer Zeit folgt dem Erstdruck im Verlag Allert de Lange (Amsterdam 1938), der auch der Endfassung K3/TS18 zugrunde liegt, und wurde nach den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit (Duden 1929) normalisiert. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien am Ende dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 657f.).

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Chronologisches Verzeichnis

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Anhang

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Editionsprinzipien

Editionsprinzipien Die Wiener Ausgabe (WA) sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist eine historischkritische Edition. Sie umfasst alle abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Werke sowie alle verfügbaren Briefe und Lebensdokumente des Autors. Den Ausgangspunkt bilden die umfangreichen werkgenetischen Materialien aus dem Nachlassbestand des Autors im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (teilweise als Leihgabe der Wienbibliothek im Rathaus). Die einzelnen Bände der WA sind in Vorwort, Text- und Kommentarteil gegliedert. In ihrem Zusammenspiel machen diese Teile den Entstehungsprozess der Werke transparent und bieten die Möglichkeit eines schrittweisen Nachvollzugs bis in die Letztfassungen der Texte. Das Vorwort skizziert die Entstehungsgeschichte unter Miteinbeziehung der zeitgenössischen Rezeption. Der Textteil reiht die genetischen Materialien chronologisch, wobei die Edition in Auswahl und Textkonstitution auf Lesbarkeit zielt. Dem Lesetext ist ein kritisch-genetischer Apparat beigegeben. Dieser macht die Änderungsprozesse des Autors deutlich, auf denen die konstituierten Fassungen basieren, ferner verzeichnet er alle Eingriffe der Herausgeber. Die Endfassung des Werkes wird zusätzlich in emendierter Form dargestellt. Im Kommentarteil findet sich ein chronologisches Verzeichnis, das alle vorhandenen Textträger formal und inhaltlich beschreibt und Argumente für die Reihung der darauf befindlichen Entwürfe (E) und Textstufen (TS) sowie für die Konstitution der innerhalb der Textstufen vorliegenden Fassungen liefert. Simulationsgrafiken dienen zur Darstellung komplexer genetischer Vorgänge.

1 Textteil 1.1 Genetisches Material Das genetische Material wird in zwei unterschiedlichen Formen zur Darstellung gebracht: Entwürfe erscheinen in diplomatischer Transkription, Fassungen innerhalb von Textstufen werden linear konstituiert.

1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) Von genetischen Materialien, deren Topografie sich nicht in eine lineare Folge auflösen lässt, wird eine diplomatische Transkription geboten. Hierbei handelt es sich um sogenannte Entwürfe (E), in denen Horváth auf meist nur einem Blatt in Form von Strukturplänen u.ä. das grobe Konzept von Werken und Werkteilen oder knappe Textskizzen entwirft. Die diplomatische Transkription versteht sich als eine Orientierungshilfe zur Entzifferung des nebenstehend faksimilierten Originals und gibt dessen Erscheinungsbild nicht in allen Details, sondern nur insofern wieder, als dies der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre dient. Den verwendeten Schriftgrößen kommt dabei keine distinktive Funktion zu; sie dienen dazu, die räumlichen Verhältnisse des Originals annähernd wiederzugeben. Folgende Umsetzungen finden statt:

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Editionsprinzipien

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Überschriebene Zeichen oder Wörter werden links neben den ersetzenden wiedergegeben, wobei der ursprüngliche Ausdruck gestrichen und der neue Ausdruck mittels zweier vertikaler Linien eingeklammert wird: tä|e|xt; text|text|. Unlesbare Wörter erscheinen als { }, gegebenenfalls mehrfach gesetzt; unsicher entzifferte Zeichen und Wörter als: te{x}t, {text}. Gestrichener Text in Zeilen erscheint als: text. Vertikale oder kreuzförmige Streichungen werden als solche dargestellt. Mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie gekennzeichneter Text wird als solcher wiedergegeben. Unterstreichungen erscheinen als: text, text. Deutlich von einem Wort abgesetzte Punkte werden entsprechend dargestellt: text . Eingerahmte oder in eckige Klammern gestellte Ziffern, Wörter und Textpassagen erscheinen als: [text], gegebenenfalls auch über mehrere Zeilen gestellt. Der vom Autor zur Strukturierung verwendete Stern (manchmal eingekreist und bis hin zu dicken schwarzen Punkten intensiviert) erscheint als: . Das vom Autor zur Strukturierung verwendete große X erscheint als: . Von Horváth zur Markierung verwendete An- und Durchstreichungen werden individuell angepasst wiedergegeben. Verweispfeile und Linien werden schematisch dargestellt, sofern sie Wörter und Textblöcke miteinander verbinden. Dienen solche Zeichen der Abgrenzung von Textteilen, werden sie nicht wiedergegeben. Liegen auf einem Blatt mehrere Entwürfe nebeneinander, werden diese ab dem zweiten Entwurf zur besseren Unterscheidung grau hinterlegt. Aktuell nicht relevanter Text (Entwürfe zu anderen Werken und Werkvorhaben) erscheint in grau 50 %: text. Die im Zuge der Berliner Bearbeitung von Horváths Nachlass partiell vorgenommene Transkription schwer lesbarer Wörter bzw. allfällige Kommentare direkt in den Originalen erscheinen kursiv und in grau 50 %: text.

1.1.2 Lineare Textkonstitutionen (Fassungen) Textausarbeitungen des Autors, die eine lineare Lektüre zulassen, werden (ohne Faksimileabdruck) konstituiert. Hierbei handelt es sich um Fassungen oft im Rahmen umfänglicher Textstufen (TS). Folgende Prinzipien kommen zur Anwendung: x

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Schichtwahl: Im Lesetext wird entweder die Grundschicht oder die in der jeweiligen Arbeitsphase gültige Korrekturschicht einer Textstufe ediert. Die Grundschicht wird im Allgemeinen dann gewählt, wenn es um die Präsentation frühester Schreibansätze geht; in eher seltenen Fällen liegen Typoskripte auch ohne handschriftliche Korrekturschichten vor. Ein genauer Ausweis der Schichtwahl (im Fall des Vorliegens komplexer Schichtungen differenziert nach unterschiedlichen Schreibwerkzeugen und Farben – z.B. schwarze Tinte, roter Buntstift) erfolgt im chronologischen Verzeichnis. Punktuelle Streichungen und Einfügungen, die aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, weil das Material im Laufe des Produktionsprozesses dorthin weitergewandert ist, werden im Lesetext nicht berücksichtigt. Besondere Auf-

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Editionsprinzipien

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fälligkeiten werden gegebenenfalls im chronologischen Verzeichnis beschrieben. Textausarbeitungen, die linear in eine Fassung nicht sinnvoll integriert werden können, aber offensichtlich aus der gegenwärtigen Bearbeitungsphase stammen, erscheinen im Lesetext eingerückt und grau hinterlegt. Deutlich gesetzte Leerzeilen werden in entsprechender Anzahl wiedergegeben.

Emendiert (und im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesen) werden offensichtliche Schreib- und Tippfehler des Autors sowie inkonsequente Ersetzungen oder offensichtlich falsche Setzungen von Figuren- oder Ortsnamen. Folgende Normierungen finden statt: Regie- und Szenenanweisungen erscheinen kursiv, Figurennamen in Kapitälchen (innerhalb von Regie- oder Szenenanweisungen nur dann, wenn sie vom Autor grafisch hervorgehoben wurden, ansonsten bleiben sie ohne Auszeichnung). Von Horváth hs. fallweise anstelle von (runden Klammern) gesetzte [eckige Klammern] werden als runde Klammern wiedergegeben. Autortext erscheint in Times New Roman 12 pt. Herausgebertext innerhalb des Autortextes wird unter Backslashes in Helvetica 9 pt. gesetzt; im Einzelnen umfassen diese Eintragungen den Abbruch von Textbearbeitungen ohne Anschluss an den folgenden Text bzw. am Ende von Texten durch den Eintrag: \Abbruch der Bearbeitung\ sowie den Verlust von Text (z.B. durch Abriss oder Blattverlust): \Textverlust\. Unsicher entzifferte Buchstaben bzw. unsicher entzifferte Wörter erscheinen als: te{x}t, {text}; unlesbare Wörter (gegebenenfalls mehrfach gesetzt) als: { }. Blattwechsel wird durch 얍 angezeigt, die Angabe des neuen Textträgers mit Signatur erfolgt in der Randspalte. Die Ansatzmarke: text kennzeichnet im Lesetext Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungsvorgängen des Autors oder Eingriffen der Herausgeber hervorgegangen sind; nachgewiesen wird beides im kritisch-genetischen Apparat. B

N

1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat Werden Fassungen in der Grundschicht ediert, verzeichnet der kritisch-genetische Apparat die Veränderungsprozesse nur in dieser Schicht (Sofortkorrekturen). Werden Fassungen in der Korrekturschicht ediert, verzeichnet er alle Änderungsprozesse im Übergang von der Grundschicht zur Korrekturschicht; Sofortkorrekturen in der Grundschicht werden hier nicht mehr verzeichnet, sondern als Ausgangspunkt gesetzt. Ferner weist der kritisch-genetische Apparat alle Eingriffe der Herausgeber nach (diese werden von Herausgeberkommentaren eingeleitet, wie z.B. korrigiert aus:, gestrichen:, gemeint ist:). Autortext erscheint in Times New Roman 10 pt., Herausgebertext in Helvetica 7 pt.

1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) Was die Gestalt der Endfassungen betrifft, werfen die bisherigen Leseausgaben Horváths zahlreiche Fragen auf. Um den Benutzern der Wiener Ausgabe einen einheitlich normierten Lesetext zu bieten, erscheinen die Endfassungen der Texte zusätzlich in emendierter Form. Die Basis der Emendation bieten die zeitgenössischen

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Rechtschreibregeln (Duden 1929). Gegenüber den (nicht immer konsequent gepflogenen) Eigentümlichkeiten von Horváths Schreibung ergeben sich Abweichungen vor allem in folgenden Punkten: x

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Zusammengeschriebene Wörter und Wortgruppen wie „garnicht“, „garkein“, „nichtmehr“ werden getrennt. Doppel-s anstelle von ß wird berichtigt (mit Ausnahme des Doppel-s im Format Figurennamen, z.B. G ROSSMUTTER ). Die Interjektionen, bei Horváth oft: „A“ und „O“, werden auf „Ah“ und „Oh“ vereinheitlicht. Falschschreibung von Fremdwörtern wird korrigiert, sofern es sich nicht um stilistische Setzungen handelt. Werden bereits zu Horváths Lebzeiten gemäß zeitgenössischer Rechtschreibkonvention veraltete Fremdwortschreibungen verwendet (z.B. „Affaire“, „Couvert“), so wird die Schreibung Horváths beibehalten. Fehlende Accents werden nachgetragen, ebenso fehlende Punkte, auch in „usw.“ etc. Gedankenstriche, die in Typoskripten als -- realisiert sind, erscheinen als –. Die groß geschriebene Anrede „Du“, „Ihr“ etc. wird klein gesetzt, die Höflichkeitsform erscheint groß. Ebenfalls groß bleiben persönliche Anreden in Zitaten innerhalb von Figurenreden (z.B. in von Figuren vorgelesenen Briefen, Schildern etc.). Kleinschreibung am Beginn ganzer Sätze nach Doppelpunkten und Gedankenstrichen wird korrigiert. Kommasetzung, im Einzelnen: – Überzählige Kommata in als- und wie-Vergleichen werden getilgt. – Fehlende Kommata in vollständigen Hauptsätzen, die durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, werden ergänzt; ebenso in Relativsätzen und erweiterten Infinitiv- und Partizipialgruppen. – Nach Interjektionen wie „Ja“, „Nein“, „Na“, „Ah“, „Oh“, „Geh“ wird nur dann ein Komma gesetzt, wenn die Interjektionen betont sind und hervorgehoben werden sollen. Wenn sie in den Folgetext integriert sind, werden sie nicht durch Kommata getrennt, z.B. „Na und?“ Grammatikalische Fehler werden nur so weit korrigiert, als es sich dabei nicht um stilistische Setzungen handelt; alle dialektal geprägten Formen bleiben erhalten. Figurennamen erscheinen in Kapitälchen (auch in Regie- und Szenenanweisungen). Normierungen in Regieanweisungen: Bilden Regieanweisungen ganze Sätze (auch in Verbindung mit vorangegangenen Figurennamen), so wird abschließend ein Punkt gesetzt.

2 Kommentarteil 2.1 Chronologisches Verzeichnis Das chronologische Verzeichnis beschreibt alle zu einem Werk vorhandenen Textträger und sichert die Reihung der darauf befindlichen werkgenetischen Einheiten argumentativ ab. Textträger und Text werden getrennt sigliert: Die Materialsigle bezeichnet

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Editionsprinzipien

den Textträger und unterscheidet Handschrift (H), Typoskript (T) und Druck (D). Die Textsigle bezeichnet die auf dem Textträger befindliche werkgenetische Einheit und differenziert Entwürfe (E) und Textstufen (TS) mit teilweise mehreren Ansätzen (A). Die Beschreibung des Textträgers umfasst folgende Elemente: Signatur: Wiener Signatur (ÖLA bzw. IN) des Nachlassbestands und Berliner Signatur (BS), gegebenenfalls auch andere Angaben zu Bezeichnung und Herkunft des Textträgers Materielle Beschreibung: Umfang, Papierart samt Angaben über spezielle Erscheinung, Größe in Millimeter, Angabe über Teilung, Faltung, Reißung o.ä., Wasserzeichen, Schreibmaterial, Paginierung vom Autor samt Seitenzahlen und Blattnachweisen, Eintragungen fremder Hand Der Beschreibung des Textträgers folgt eine Auflistung und formale Beschreibung der auf dem jeweiligen Textträger befindlichen Entwürfe, Textstufen und Ansätze. Umfasst ein Textträger mehrere werkgenetische Einheiten und ist eine dieser Einheiten im Entstehungsprozess später einzuordnen, wird sie erst dort verzeichnet und kommentiert. Die Beschreibung des Textträgers wird an der späteren Stelle wiederholt. Auch das Weiterwandern von Textträgern (durch Übernahme von Blättern in spätere Fassungen) wird vermerkt. Sofern die Entwürfe und Fassungen veröffentlicht sind, wird deren Erstdruck in einer abschließenden Zeile verzeichnet. Das konkrete Erscheinungsbild der Texte in den Erstdrucken weicht jedoch von den in der Wiener Ausgabe gebotenen Neueditionen oftmals gravierend ab. Der nachfolgende werkgenetische Einzelkommentar beschreibt die Entwürfe, Textstufen und Ansätze auch inhaltlich. Argumente für deren Reihung (manchmal in Form von gesetzten Wahrscheinlichkeiten) werden genannt und Beziehungen zu anderen Einheiten im werkgenetischen Material hergestellt; gegebenenfalls wird auch auf den Zusammenhang mit anderen Werken des Autors verwiesen. Folgende werkgenetische Begriffe finden Verwendung: Konzeption Als Konzeption (K) gilt eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei Teile/sieben Bilder/etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt. Vorarbeit Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten (VA) zugeordnet. Im Falle des Vorliegens mehrerer Vorarbeiten werden diese nach genetischen Zusammenhängen gruppiert und/oder in eine Folge gebracht.

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Editionsprinzipien

Entwurf In einem Entwurf (E) legt Horváth die Gesamtstruktur eines Werkes oder eines einzelnen Strukturelements (Bild, Kapitel, Szene, …) fest. Entwürfe sind fast ohne Ausnahme handschriftlich ausgeführt und zumeist auf ein einziges Blatt beschränkt. Zur näheren Beschreibung stehen (spezifisch für den Dramentext) folgende Begriffe zur Verfügung: x

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Strukturplan: Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z.B. Gliederung in Akte oder Teile, Szenen, Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren). Konfigurationsplan: Skizzierung einzelner Szenen (= Auftritte). Skizze: punktuell bzw. schematisch ausgearbeitete Textsequenz. Der Begriff wird auch für grafische Entwürfe (z.B. zum Bühnenbild) verwendet. Darüber hinaus können Entwürfe auch lose Notizen zu Motiven, Figuren, Schauplätzen, Dialogpassagen oder Handlungselementen enthalten.

Textstufe Eine Textstufe (TS) bezeichnet eine klar abgrenzbare Arbeitseinheit im Produktionsprozess, die intentional vom Anfang bis zum Ende einer isolierten Werkeinheit (Bilderfolge, Bild, Akt, Kapitel, Unterkapitel, …) reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes dient. Materiell umfasst der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder Übernahme aus einer frühen Arbeitsphase zur Zusammenstellung aktueller Fassungen verwendet hat. Ansatz Ein neuer Ansatz (A) liegt dann vor, wenn der Autor innerhalb einer Textstufe eine materielle Ersetzung von Textträgern oder Teilen davon (Blattbeschneidungen, Austausch von Blättern) vornimmt. Innerhalb einer Textstufe bilden die einander folgenden Ansätze eine genetische Reihe; textlich repräsentiert sich in ihnen in der jeweils gültigen Textschicht die jeweils aktuelle Fassung des Textes. Der letzte Ansatz einer Textstufe, d.h. der letztmalige Austausch von Textträgern, bildet die materielle Grundlage der letzten Fassung innerhalb der jeweiligen Textstufe. Die Abfolge der Ansätze innerhalb einer Textstufe wird in komplizierten Fällen in Simulationsgrafiken dargestellt. Fassung Der Begriff der Textstufe ist ein dynamischer; er bezeichnet die Gesamtheit des in einer Arbeitsphase vorliegenden genetischen Materials, das in Grund- und Korrekturschicht und in verschiedene Ansätze differenziert sein kann. Der Begriff der Fassung bezeichnet im Gegensatz dazu die konkrete Realisation eines singulären Textzustands (z.B. K1/TS7/A5 – Korrekturschicht). Die Fassungen, die im Textteil konstituiert werden, stellen eine Auswahl innerhalb einer Vielzahl von Möglichkeiten dar. Der Produktionsprozess wird von ihnen an möglichst aussagekräftig gesetzten Punkten unterbrochen und ein jeweils aktuelles Textstadium linear fixiert.

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Editionsprinzipien

Endfassung Der Begriff Endfassung bezeichnet eine Fassung, in der sich aus Autorensicht eine endgültige Textgestalt repräsentiert. Durch spätere Wiederaufnahme der Arbeit können innerhalb einer Werkgenese mehrere Endfassungen (meist auch als Abschluss einzelner Konzeptionen) vorliegen. Stammbuch Mit dem Begriff Stammbuch bezeichneten Horváths Theaterverlage in kleiner Auflage hergestellte Drucke, die nicht für den allgemeinen Verkauf, sondern für den Gebrauch an Theatern bestimmt waren. Oft tragen solche Stammbücher den Aufdruck: „Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt“ sowie den meist handschriftlich notierten Vermerk „ST“ (für „Stammbuch“). Mit diesen Anmerkungen wurde der für die jeweilige Aufführung autorisierte Text gekennzeichnet. Vorarbeiten und Konzeptionen, Entwürfe, Textstufen und Ansätze werden im chronologischen Verzeichnis über Siglen gereiht, die Reihung von TS und E erfolgt innerhalb der jeweiligen Kategorie, sodass sich als genetische Abfolge z.B. ergeben kann: K2/E1, K2/TS1, K2/TS2/A1, K2/TS2/A2, K2/E2, K2/E3, K2/TS3 usw.

2.2 Simulationsgrafiken In den Simulationsgrafiken wird die Abfolge von Ansätzen innerhalb einer Textstufe dargestellt und zwar in der Art, dass die Textträger mit syntagmatisch zusammengehörendem Text untereinanderstehen und die ersetzenden Textträger rechts von den ersetzten positioniert werden. Ausgangspunkt der Darstellung ist der früheste Ansatz der jeweiligen Textstufe. Die Textträger werden an allen rekonstruierbaren Positionen abgebildet und damit die materiellen Vorgänge der Textentstehung und -ersetzung simuliert. Die ungefähre Form des Textträgers ist in der Grafik durch einen Rahmen wiedergegeben. Die Paginierung Horváths – so vorhanden – und die Berliner Blattnummer sind eingetragen. An seiner ersten Position wird der Textträger mit durchgezogenen Rahmenlinien dargestellt, an allen späteren mit strichlierten, wobei der Textträger so lange eingeblendet bleibt, wie er Gültigkeit hat. Die doppelt-strichpunktierten Linien kennzeichnen Schnitte, die punktierten Linien „Klebenähte“, die nach dem Ankleben von neuem Text auf den Originalen erkennbar sind. Zur Illustration der Funktionsweise dient die nachstehend abgebildete Simulationsgrafik zu einer Textstufe der Hofrat-Konzeption aus Geschichten aus dem Wiener Wald. Diese Grafik, die ausschließlich Material der Mappe BS 37 c darstellt, zeigt einen relativ gleichmäßig verlaufenden Produktionsprozess: Horváth beginnt (links oben eingetragen) auf Bl. 14 mit der Ausarbeitung des Bildes, bricht jedoch mitten auf Bl. 15a ab, setzt auf Bl. 15b mit dem Text neu an und kommt bis Bl. 17. Er korrigiert den Text dieser Blätter handschriftlich und macht sich am Fuß von Bl. 17 Notizen zum weiteren Textverlauf. Auf Bl. 18 und 19 schreibt er den Text von Bl. 17 ins Reine und setzt ihn dann auf Bl. 19 neu fort, bricht jedoch wieder ab, noch bevor er das Blatt vollgeschrieben hat. Bl. 19 wird dann durch Bl. 20 ersetzt, Bl. 20 gemeinsam mit Bl. 21 durch Bl. 22–24. In dieser Art schreibt sich Horváth in immer neuen Ansätzen bis ans Ende des Bildes durch. Bei Bl. 32 wendet der Autor ein Verfahren

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Editionsprinzipien

an, das ihm kürzere Rückschritte ermöglicht: Er schneidet Bl. 32a von Bl. 32 ab und klebt ein Stück mit neuem Text an. Die anschließenden Blätter 33 bis 37 sind in einem Zug geschrieben.

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Editionsprinzipien

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Editionsprinzipien

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Siglen und Abkürzungen

Siglen und Abkürzungen Schriftarten (allgemein) Times New Roman

Autortext

Helvetica

Herausgebertext, im Autortext in Backslashes

Diplomatische Transkriptionen (Entwürfe) text, text

getilgtes Zeichen, getilgter Text. Tilgungen über mehrere Zeilen (meist durch Kreuz) werden grafisch entsprechend dargestellt

tä|e|xt

überschriebenes und ersetztes Zeichen

text |text|

überschriebener und ersetzter Text

text, text

unterstrichener Text

text

unterwellter Text; mit Fragezeichen überschriebener Text wird grafisch entsprechend dargestellt

[text]

eingerahmter oder in eckige Klammern gestellter Text oder Ziffer; falls über mehrere Zeilen reichend, grafisch entsprechend dargestellt Strukturierungszeichen: Stern, Punkt Strukturierungszeichen: großes

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggf. mehrfach gesetzt

Times New Roman, 50 % grau

Eintragung von fremder Hand, Berliner Bearbeitung

Times New Roman, 50 % grau

aktuell nicht relevanter Text grau hinterlegte Fläche zur Abgrenzung verschiedener Ent-

\E1\

würfe

Lineare Konstitutionen (Fassungen) textN, B N

Ansatzmarke; kennzeichnet Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungen des Autors hervorgegangen sind, sowie Eingriffe der Herausgeber



Blattwechsel; Angabe des Textträgers in der Randspalte

B

eingerückt, grau hinterlegt; Textzusätze des Autors in der aktuellen Fassung, die sich in den Lesetext linear nicht integrieren lassen

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggf. mehrfach gesetzt

\Abbruch der Bearbeitung\ \Textverlust\ \Textverlust durch Blatteinriss\

Herausgebertext im Autortext

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Siglen und Abkürzungen

Kritisch-genetischer Apparat text\e/

nachträglich eingefügtes Zeichen

\text/

nachträglich eingefügter Text

text[e]

getilgtes Zeichen

[text]

getilgter Text

t[ä]|e|xt

getilgtes Zeichen in Verbindung mit Ersetzung

[text] |text|

getilgter Text in Verbindung mit Ersetzung

[text]|text|

überschriebener Text

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggf. mehrfach gesetzt

[text]

rückgängig gemachte Tilgung

text

mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie versehener Text

!text"!text"

durch Verweisungszeichen des Autors umgestellter und gegenseitig ausgetauschter Text

text f text [text]f x

Text von bis Textverschiebung

x

neuer Textanschluss

text2 text1

geänderte Wort- oder Satzfolge

(1), (2) …

Variantenfolge

gestrichen: gemeint ist: verweist auf K2/TS3: Eintragung von fremder Hand:

irrrorrrp

korrigiert aus:

Herausgeberkommentare in Helvetica 9 pt.

Signaturen ÖLA

(vormals: Österreichisches) Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

BS

Berliner Signatur

ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 5

Signatur Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

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Siglen und Abkürzungen

Abkürzungen K H T TS A E Bl. Pag. hs. masch. fragm. r v o. BS

Konzeption Handschrift Typoskript Textstufe Ansatz Entwurf Blatt Pagina (vom Autor eingefügt) handschriftlich maschinenschriftlich fragmentarisch recto (Vorderseite) verso (Rückseite) ohne Berliner Signatur

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Siglen und Abkürzungen

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Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis GW

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Literaturverzeichnis

WA 15

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2013. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 15)

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Inhalt (detailliert)

Inhalt (detailliert) Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorarbeit 1: Die stille Revolution . . . . . . . . . . . Strukturplan, Figurenliste (VA1/E1–E2) . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS1) . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS2) . . . . . . . . Strukturpläne (VA1/E3–E4) . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung des I. Kapitels (VA1/TS3) Fragmentarische Fassung 1. Kapitels (VA1/TS4) . . Strukturpläne (VA1/E5–E7) . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS5) . . . . . . . . Notizen und Replik (VA1/E8–E9). . . . . . . . . . Fassung (VA1/TS6). . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS7) . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS8) . . . . . . . . Werktitel, Strukturplan, Notiz (VA1/E10–E12) . . . Fassung (VA1/TS9). . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturpläne (VA1/E13–E15). . . . . . . . . . . . Strukturplan in zwölf Kapiteln (VA1/E16) . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS10) . . . . . . . Strukturplan, Werktitel (VA1/E17–E20). . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS11) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS12) . . . . . . . Strukturplan, Notizen (VA1/E21–E22) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS13) . . . . . . . Strukturpläne (VA1/E23–E24). . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS14) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS15) . . . . . . . Strukturplan, Notizen (VA1/E25–E26) . . . . . . .

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23 24 26 27 28 30 31 32 35 36 38 42 44 46 48 50 52 55 56 58 59 62 64 66 68 69 72

Vorarbeit 2: Krieg ohne Kriegserklärung . . Strukturplan in acht Kapiteln (VA2/E1) . Figurenliste (VA2/E2) . . . . . . . . . . Notizen und Repliken (VA2/E3) . . . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS1) . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS2) . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS3) . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS4) . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS5) . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS6) . . . Werktitel, Strukturplan (VA2/E4–E5) . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS7) . . . Strukturpläne (VA2/E6–E8) . . . . . . . Strukturplan in elf Kapiteln (VA2/E9) . .

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Konzeption 1: Ein Soldat seiner Zeit . . . Notizen, Werktitel (K1/E1–E3) . . . . . Notizen und Repliken (K1/E4). . . . . Strukturplan in acht Kapiteln (K1/E5)

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Inhalt (detailliert)

Strukturplan in vier Teilen (K1/E6) . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS1) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS2) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS3) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS5) . . . . . . . Notizen, Strukturpläne (K1/E7–E9) . . . . . . . Strukturplan in sieben Teilen (K1/E10) . . . . . Strukturplan in sechs Teilen (K1/E11) . . . . . Strukturpläne (K1/E12–E13). . . . . . . . . . . Strukturpläne (K1/E14–E15). . . . . . . . . . . Strukturpläne (K1/E16–E17). . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS8) . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K1/E18) . . . Strukturpläne (K1/E19–E20). . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS9) . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K1/E21) . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS10) . . . . . . Strukturpläne in sieben Kapiteln (K1/E22–E23) . Strukturplan in sieben Kapiteln (K1/E24) . . . Strukturplan, Replik (K1/E25–E26) . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K1/E27) . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K1/E28) . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K1/E29) . . .

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Konzeption 2: Ein Soldat der Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in vier Kapiteln (K2/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen, Strukturplan in neun Bildern (K2/E2–E3) . . . . . . . . . . . Notizen, Strukturplan in vier Kapiteln (K2/E4–E5) . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K2/E6) . . . . . . . . . . . . . . . . Notiz (K2/E7). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in zwei Kapiteln (K2/E8) . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Kapiteln (K2/E9) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K2/E10) . . . . . . . . . . . . . . . Strukturpläne in sieben Kapiteln (K2/E11–E12) . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K2/E13) . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in elf Kapiteln (K2/E14) . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen und Dialogskizze, Strukturplan in fünf Kapiteln (K2/E15–E16). Strukturplan (K2/E17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturpläne, Kapiteltitel (K2/E18–E20) . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werktitel (K2/E21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in elf Kapiteln, Notizen (K2/E22–E23) . . . . . . . . . .

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Inhalt (detailliert)

Notizen (K2/E24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in vier Kapiteln (K2/E25) . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS14) . . . . . . . . . . Strukturplan (K2/E26) . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in zwei Kapiteln (K2/E27) . . . . . . . . Notizen, Strukturplan in zwei Teilen (K2/E28–E30) . . Strukturplan in drei Kapiteln (K2/E31) . . . . . . . . Strukturplan in sechs Kapiteln (K2/E32) . . . . . . . Strukturplan in dreizehn Kapiteln (K2/E33) . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS16) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS17) . . . . . . . . . . Notiz zum Kapitel „Der Einzelne“ (K2/E34) . . . . . . Strukturplan in zwölf Kapiteln (K2/E35) . . . . . . . Strukturplan (K2/E36) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS18) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS19) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS20) . . . . . . . . . . Konfigurationsplan, Repliken (K2/E37–E38) . . . . . . Strukturplan in elf Kapiteln (K2/E39) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS21) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS22) . . . . . . . . . . Dialogskizze zum Kapitel „Der Schneemann“ (K2/E40) Fragmentarische Fassung (K2/TS23) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS24) . . . . . . . . . . Konzeption 3: Ein Kind unserer Zeit . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS1) . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS2) . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS3) . . . Fassung (K3/TS4) . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS5) . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS6) . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS7) . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS8) . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS9) . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A1) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A2) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A3) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A4) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A5) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A6) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A7) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A8) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A9) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A10) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A11) . Fragmentarische Fassung (K3/TS10/A12) . Fragmentarische Fassung (K3/TS11/A1) . Fragmentarische Fassung (K3/TS11/A2) . Fragmentarische Fassung (K3/TS11/A3) . Fragmentarische Fassung (K3/TS11/A4) . Notizen (K3/E1–E2) . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS12) . . . Strukturpläne (K3/E3–E5) . . . . . . . .

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238 240 242 246 248 250 252 254 258 260 261 264 266 268 270 271 273 274 276 278 280 286 288 289

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291 292 293 294 298 304 305 306 308 310 311 314 315 316 317 318 319 322 323 324 336 337 339 341 343 344 346 348 352

Inhalt (detailliert)

Fragmentarische Fassung (K3/TS13) . . . . . . . . . Strukturplan in vier Kapiteln (K3/E6) . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS15/A1). . . . . . . . Strukturplan in vier Kapiteln (K3/E7) . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS15/A2). . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS15/A3). . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS15/A4). . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS15/A5). . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS15/A6). . . . . . . . Replik, Notizen (K3/E8–E11) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS16) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS17/A1). . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS17/A2). . . . . . . . Ein Kind unserer Zeit. Roman – Endfassung (K3/TS18)

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354 356 358 362 364 367 370 374 377 380 382 383 386 387

Ein Kind unserer Zeit. Roman (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

455

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

523

Chronologisches Verzeichnis Vorarbeit 1 . . . . . . . . Vorarbeit 2 . . . . . . . . Konzeption 1 . . . . . . Konzeption 2 . . . . . . Konzeption 3 . . . . . . Endfassung, emendiert. .

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655 655 655 655 656 657 657 658 658 661

Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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525 525 544 557 587 627 651

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Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Textteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Genetisches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) 1.1.2 Lineare Textkonstitution (Fassungen) . . . . . . . . . 1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat . . . . . . . . . . . . . 1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) . . . . . . 2 Kommentarteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Simulationsgrafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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