Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 15 Jugend ohne Gott 9783110337785, 9783110337723

Horváth established his reputation as an anti-fascist writer and achieved international fame with his novel Jugend ohne

185 111 33MB

German Pages 356 Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
Lesetext
Vorarbeit 1: Der Lenz ist da!
Vorarbeit 2: Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit
Konzeption: Jugend ohne Gott
Jugend ohne Gott. Roman (Endfassung, emendiert)
Kommentar
Chronologisches Verzeichnis
Anhang
Editionsprinzipien
Siglen und Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Inhalt (detailliert)
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Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 15 Jugend ohne Gott
 9783110337785, 9783110337723

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Ödön von Horváth Wiener Ausgabe

I

Ödön von Horváth

Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Historisch-kritische Edition Am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek herausgegeben von Klaus Kastberger

Band 15

De Gruyter II

Ödön von Horváth

Jugend ohne Gott

Herausgegeben von Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar

De Gruyter

Die Forschungsarbeiten an der Wiener Ausgabe werden unterstützt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF; P 23563-G20) und von der Kulturabteilung der Stadt Wien. Dank an die Österreichische Nationalbibliothek (Wien) für die Überlassung von Reprorechten an den Faksimiles.

ISBN 978-3-11-033772-3 e-ISBN 978-3-11-033778-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG ÜGedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorarbeit 1: Der Lenz ist da! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorarbeit 2: Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit . . . . . . . . Konzeption: Jugend ohne Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jugend ohne Gott. Roman (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Chronologisches Verzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editionsprinzipien . . . . Siglen und Abkürzungen Literaturverzeichnis . . . Inhalt (detailliert). . . .

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Inhalt

VI

Vorwort

Vorwort Jugend ohne Gott. Roman Auslieferung des Romans: 26. Oktober 1937. Dauer der Schreibarbeiten: Die Vorarbeit Der Lenz ist da! dürfte zwischen 1934 und 1936 entstanden sein, die Vorarbeit Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit im Herbst 1936; die eigentliche Arbeit am Roman Jugend ohne Gott ist vermutlich auf Juni bis August 1937 zu datieren. Umfang des genetischen Materials: 75 Blatt an Entwürfen und Textstufen, wovon 73 Blatt auf die beiden Vorarbeiten entfallen und nur zwei Blatt auf die eigentliche Werkgenese von Jugend ohne Gott. Erstdruck: Jugend ohne Gott. Roman. Amsterdam: Verlag Allert de Lange 1938.

Datierung und Druck Am 1. April 1937 schreibt Ödön von Horváth aus Prag, wo er den letzten Proben zur Uraufführung von Figaro läßt sich scheiden (1936) beiwohnt,1 an Franz Theodor Csokor: „In München war es zuhause sehr schön, aber auf der Strasse unwahrscheinlich grässlich. Dort ist selbst die Luft verblödet.“2 Die Dummheit ist spätestens seit den Geschichten aus dem Wiener Wald Horváths Generalthema, wo sie ja schon im Motto prominent vertreten ist.3 Auch in Jugend ohne Gott variiert er dieses Thema, etwa wenn der Lehrer am Ende des Kapitels „Die Endstation“ über den Schüler T denkt: „Was hört er? Die Flügel der Verblödung?“4 – ein Ausdruck, der sich schon im genetischen Material und in der Endfassung des Romans Der ewige Spießer (1930) findet.5 Gegen die „Blödheit“ der Zeit anzuschreiben, das hatte sich Horváth gemeinsam mit Csokor zur Devise des Schreibens gemacht.6 Und von diesem Vorsatz ist auch sein vorletzter Roman getragen. 1 2

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Vgl. das Vorwort in WA 8, S. 15. Brief Ödön von Horváths an Franz Theodor Csokor vom 1. April 1937 aus Prag, zitiert nach dem handschriftlichen Original in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, I.N. 186.097. Vgl. Horváth 2009b, S. 6. Horváth 1938a, S. 191. Vgl. WA 14/K2/TS6/BS 4 d [2], Bl. 21, TS8/BS 5 b, Bl. 101, K4/TS3/A1/BS 7 a, Bl. 65 und TS4/BS 8, Bl. 150; weiters: in den emendierten Endfassungen, WA 14/S. 750 und 838. Vgl. den Brief Ödön von Horváths an Franz Theodor Csokor vom 14. Dezember 1937 aus Henndorf. Dort schreibt Horváth: „Mein lieber Csok, liebster Freund, gratuliere Dir zu Deiner neuen Würde im Schutzverband! Und vor allem gratuliere ich Dir zu Deiner herrlichen Rede, die Du gehalten hast, und von der ich leider nur einen Auszug im ‚Morgen‘ gelesen habe! Aber auch diese wenigen Zeilen sind prachtvoll formuliert, wirklich: von einem echtem grossem Dichter unserer

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Vorwort

Die Monate April bis Juni 1937 dürfte Horváth überwiegend in Wien verbracht haben, wo er in der Dominikanerbastei 6/11 im ersten Wiener Gemeindebezirk wohnt.7 Er beendet in diesen Monaten die Arbeit an dem Lustspiel Ein Dorf ohne Männer, das am 24. September desselben Jahres in Prag uraufgeführt wird,8 und an den Komödien Ein Sklavenball und Pompeji.9 Gegen Mitte Juni dürfte er nach Henndorf am Wallersee bei Salzburg gefahren sein, denn am 20. Juni 1937 schreibt er von dort an Alma Mahler-Werfel, bei der er wenige Tage zuvor noch in Wien zu einem Gartenfest geladen war:10 Meine liebste Alma, noch in Wien wollte ich mit Dir sprechen, aber ich kam nicht dazu, es waren immer soviel fremde Leut um uns herum – nun muss ich es Dir von hier schreiben, ich wohne und arbeite hier im Hause Zucks [i.e. Carl Zuckmayers; Anm.]. Ich hatte das unbedingte Gefühl, es Dir sagen zu müssen, was Du für mich und damit in erster Linie für meine Arbeit bedeutest! Jetzt wirst Du bald aus dem Hause ausziehen und ich muss es Dir immer wieder sagen, wie glücklich ich jede Minute bei Dir war – Du ahnst es vielleicht, doch wir wissen es beide noch nicht, was Deine liebevolle Freundschaft mir gab. Es ist viel zu viel, als dass ich danken dürfte. Ich kann es nur immer und immer wieder sagen und will immer und immer daran denken! Stets Dein Ödön Horváth11

Solch euphorische Zeilen aus der Feder des Autors von Jugend ohne Gott sind äußerst selten, weshalb sie hier zur Gänze zitiert werden. Horváth wohnt schon Mitte Juni 1937 bei seinem Freund, dem Schriftsteller Carl Zuckmayer, der in Henndorf in der so genannten „Wiesmühl“ residierte, einer Landvilla mit großem Garten und Gartenhäuschen, in dem immer wieder Schriftstellerkollegen und Künstlerfreunde Zuckmayers untergebracht waren.12 Wenig später, am 2. Juli 1937, meldet sich Horváth im Mayr-Wirtshaus, auch Kaspar-Moser-Bräu oder kurz: Gasthof Bräu genannt, in Henndorf.13 Dort wohnt er im so genannten „Spukzimmer“, in dem ein Großteil des Romans Jugend ohne Gott und erste Vorarbeiten des Folgeromans Ein Kind unserer Zeit geschrieben wurden.14 Seine damalige Lebensgefährtin Wera Liessem und sein Freund Franz Theodor Csokor berichten übereinstimmend, Horváth habe bereits im August 1937 mit dem Folgeroman begonnen. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass Jugend ohne Gott spätestens zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder

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Zeit mit dem menschlichen Mut, der seelischen Sauberkeit gegen den Wahn, die Schlagworte der Blödheit, dieser Zeit! Ich umarme Dich! Dein Ödön“, zitiert nach dem handschriftlichen Original in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, I.N. 186.098. Vgl. Traugott Krischke: Horváth-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 128–130. Vgl. das Vorwort in WA 10, S. 259. Vgl. den Brief Ödön von Horváths an Alma Mahler-Werfel vom 24. Juli 1937, handschriftliches Original, Ms. Coll. 575 (vgl. Anm. 11). Vgl. Krischke 1988 (Anm. 7), S. 131. Brief Ödön von Horváths an Alma Mahler-Werfel vom 20. Juni 1937, zitiert nach dem handschriftlichen Original in der Sammlung Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel in den Rare Books and Manuscript Collections der Van Pelt Library an der University of Pennsylvania, Ms. Coll. 575. Die Korrespondenz zwischen Horváth und den Werfels umfasst insgesamt drei Briefe an Alma und einen an Franz. Die Antwortbriefe der Werfels sind bis dato verschollen. Vgl. Traugott Krischke/Hans F. Prokop: Ödön von Horváth: Leben und Werk in Daten und Bildern. Frankfurt am Main: Insel 1977, S. 174. Vgl. ebd., S. 175. Vgl. ebd.

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Vorwort

zumindest sehr weit gediehen war.15 Man kann die Entstehungszeit des Romans Jugend ohne Gott folglich auf Juni bis August 1937 datieren, wobei Freunde berichten, dass Horváth, der „Nachtarbeiter“16, das Buch in „fieberhafte[r]“17 Schnelligkeit niederschrieb. Wera Liessem spricht in einem Brief an den Herausgeber Traugott Krischke auch von einem „Disput“18 zwischen ihr und Ödön im Sommer 1937, in den auch Zuckmayer verwickelt wurde und in dem es darum ging, ob Horváth nun schon mit dem neuen Roman beginnen oder doch am Manuskript von Jugend ohne Gott noch einmal feilen sollte. Offensichtlich hatten die beiden den Autor schließlich doch zu Letzterem überreden können.19 Im Nachlass Traugott Krischke ist die Abschrift eines Vertrags Horváths mit dem Verlag Allert de Lange (Amsterdam) vom 13. Juli 1937 über „die deutsche Ausgabe seines nächsten Romans“20 überliefert, für den als Ablieferungstermin der 1. Dezember 1937 genannt wird. Allerdings sind der Status dieser Abschrift und auch die von Krischke oder einem anderen Abschreiber handschriftlich hinzugefügten Datierungen höchst zweifelhaft. Bis dato liegt leider kein Originalvertrag über den Roman Jugend ohne Gott vor. Möglicherweise handelt es sich jedoch bei dieser Abschrift um eine des Originalvertrags. Vom 9. bis 13. September 1937 hält sich Horváth in Amsterdam auf.21 Vermutlich trifft er dabei auch mit seinem neuen Verleger Gerard de Lange, dem Sohn und Nachfolger Allert de Langes, oder mit dessen Lektor und Verlagsleiter der deutschen Abteilung, Walter Landauer, zusammen. Der Roman Jugend ohne Gott wurde schließlich im September oder Oktober 1937 gedruckt und am 26. Oktober 1937 ausgeliefert.22 Bereits am 16. Oktober 1937 war ein Vorabdruck in der Pariser Exil-Zeitschrift Das Neue Tage-Buch erschienen.23 Am 2. November 1937 erschien ein Auszug aus dem Kapitel „Der Tormann“ im Prager Tagblatt.24 Noch 1938 wurden die Übersetzungsrechte für den Roman ins Französische, Schwedische, Niederländische, Polnische, Tschechische und Dänische verkauft.25 Bereits 1939 erschienen die ersten Übersetzungen ins Englische unter dem Titel The age of the fish (New York: Dial Press, Übersetzung: R. Wills Thomas) und ins Französische unter dem Titel Jeunesse sans Dieu (Paris: Plon, Übersetzung: Armand Pierhal). Der Bergland Verlag (Wien), mit dem Ödön von Horváths Bruder Lajos spätestens seit 1947 als Illustrator zusammenarbeitete,26 brachte 1948 die erste deutschsprachige Nachkriegsausgabe des Romans heraus.

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Vgl. KW 13, S. 156f. Franz Theodor Csokor in: Krischke/Prokop 1977 (Anm. 12), S. 175. KW 13, S. 156, wobei Krischke keinen Beleg für diese Aussage anführt. Ebd., S. 157. Vgl. ebd. Zitiert nach einer Kopie im Nachlass Traugott Krischke ÖLA 84/Schachtel 58. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 7), S. 133. Vgl. Horváth 2009a, S. 183. Oedön von Horváth: Der junge Lehrer. In: Das Neue Tage-Buch, Paris/Amsterdam, 5. Jg, H. 42, 16. 10. 1937, S. 1003f. Ödön von Horváth: Ein Knabe stirbt. In: Prager Tagblatt, 2. 11. 1937. Vgl. Horváth 2009a, S. 183, sowie KW 13, S. 159 und 181. 1947 erschien dort etwa eine Kinderbuchfassung von Jonathan Swifts Gullivers Reisen („nach alten Ausgaben neu erzählt von Franz Taucher“), 1948 die Erzählung Herakles in den Alpen von Friedrich Brach, beide mit Illustrationen von Lajos von Horváth.

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Vorwort

Das genetische Konvolut und seine Chronologie Das genetische Material zum Roman Jugend ohne Gott umfasst 75 Blatt an Entwürfen und Textstufen. Der Großteil dieser Blätter gehört zu den beiden Vorarbeiten Der Lenz ist da! und Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit und nicht zur eigentlichen Werkgenese des Romans Jugend ohne Gott, aus der nur zwei Blatt überliefert sind. Der Arbeitsprozess am Roman Jugend ohne Gott lässt sich so in zwei Vorarbeiten und eine Konzeption unterteilen: Vorarbeit 1: Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit – in sieben Bildern Vorarbeit 2: Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit – Roman Konzeption: Jugend ohne Gott – Roman

Vorarbeit 1: Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit – in sieben Bildern Die Vorarbeit 1 dürfte zwischen 1934 und 1936 entstanden sein. Horváth erinnert mit dem Titel dieser Vorarbeit an das bekannte Lied des Komponisten und Sängers Eugen Hildach (1849–1924), das den Titel „Lenz“ trägt. Bei dem Lied handelt es sich um die Vertonung eines Gedichts von Felix Dahn (1834–1912), dessen erster Vers folgendermaßen lautet: „Die Finken schlagen, der Lenz ist da!“27 In dem 1936/37 entstandenen Schauspiel Horváths Der jüngste Tag wird das Lied laut Szenenanweisung unter dem (falschen) Titel „Der Lenz ist da“ bei der Willkommensfeier für den Stationsvorstand Hudetz nach seinem Freispruch bei der Gerichtsverhandlung von einer „Sängerin“ gesungen.28 Mit dem Untertitel des Dramenprojekts, Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit, spielt Horváth indes auf Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen (1891; UA 1906) an. Ähnlich wie er dies in den Werkgenesen von Don Juan kommt aus dem Krieg (1936), Figaro läßt sich scheiden (1936) und Ein Kind unserer Zeit (1938) tun wird, wählt er auch im Fall des Dramenprojekts Der Lenz ist da! einen (Unter-)Titel mit der Ergänzung „in unserer Zeit“ oder, in manchen Entwürfen, auch nur „unserer Zeit“. Wie in den genannten Stücken und im letzten Roman geht es ihm also schon in Der Lenz ist da! um eine zeitspezifische Adaptierung eines bekannten Stoffes oder Motivs.29 Horváth schließt mit der Wahl des Untertitels bewusst an eine Tradition an, in diesem Fall an diejenige des Jugenddramas mit letalem Ausgang. Er hat vor, jugendliche Sexualität und Brutalität auf die Bühne zu bringen, wie Wedekind dies getan hatte. Dass dieses Thema seine Brisanz und zugleich seine Zugkraft beim Publikum hatte, war spätestens seit den Romanen Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) von Robert Musil und Der Schüler Gerber (1930) von Friedrich Torberg klar. Beide Romane sind group novels, eine Gattung, die seit Vicki Baums Roman Menschen im Hotel (1929) bestens eingeführt war, der wie später Horváths Der ewige Spießer (1930) im Berliner Ullstein Verlag erschienen ist. Wedekinds Drama Frühlings Erwachen und auch Horváths Dramenprojekt Der Lenz ist da! sind in analoger Weise group plays. 27

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Felix Dahn: Frühlingslieder. In: Ders.: Gedichte. Illustriert von Ferdinand Leeke und Hans Grobet. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1912, S. 18–20, hier S. 18. Vgl. WA 10/K4/TS5/SB Georg Marton, S. 36. Vgl. WA 8, WA 9, WA 16 und in diesem Band VA1/E1, E2, E5, TS1/Bl. 1, E17, E18, E21, E24, TS2, E29, E32, E34 und E35.

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Vorwort

Schon der wahrscheinlich früheste Entwurf VA1/E1 zum Werkprojekt Der Lenz ist da! widmet sich genau dieser Gruppenstruktur, handelt es sich doch bei ihm um eine Figurenliste, die bereits den definitiven Titel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ trägt. In ihr entwirft Horváth vier Figurengruppen: die Jungen, die Mädchen, die Professoren und die Eltern. Dieses Personal bleibt im Wesentlichen bis zur fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 bzw. bis zur Romanendfassung von Jugend ohne Gott erhalten. Zu diesem Zeitpunkt fehlt einzig noch die Gruppe der jungen Diebe, die im weiteren Verlauf des Werkprojekts und auch im Roman eine so entscheidende Rolle spielen wird. Darüber hinaus notiert der Autor in dem Entwurf bereits zentrale Themen und Motive nicht nur des Dramenfragments, sondern auch des späteren Romans: Geist, Sport, Liebe, Krieg und „das neue Bürgertum“. Der erste Strukturplan innerhalb der Werkgenese VA1/E2 nennt elf Bilder: „Ferienlager“, „Fussballplatz“, „Der Kirchgang“, „Vor der Schule“, „Vor der Fabrik“, „Vor der Werkstatt“, „Die Professoren“, „Die Eltern“, „Die Staatsbehörde“, „Die Sportbehörde“ und „Die Liebe zum Mädchen“. Auch hier sind bereits wesentliche Ingredienzien des Dramenfragments und des Romans enthalten, allerdings in einer – zumindest im Vergleich zum Roman – noch gänzlich anderen Reihung. Das „Ferienlager“ steht hier ganz am Anfang, die „Schule“ in der Mitte, erst am Schluss kommen die „Staatsbehörde“ und die „Sportbehörde“ ins Spiel und es entwickelt sich eine „Liebe zum Mädchen“. In VA1/E4 arbeitet Horváth das nunmehr 1. Bild „Vor einem Fussballplatz“ und das 2. Bild „Bei den Mädeln“ dialogisch aus. Er exponiert damit die beiden entscheidenden Jugendgruppen, wie sie bis zum Roman erhalten bleiben. Im Gespräch der Buben geht es um die Frage, ob beim Fußballspiel das schöne Spiel oder die Tore wichtiger sind (vgl. VA1/E4/BS 11 a [1], Bl. 2v). Es ist dies eine Frage, die in den Entwürfen der Vorarbeit 1 bis zur fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 wiederholt wiederkehrt (vgl. VA1/E12, E14/BS 11 a [1], Bl. 14, TS1/BS 11 b, Bl. 2 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 22). Das 2. Bild „Bei den Mädeln“ zeigt unterschiedliche weibliche Positionen zum Thema „Liebe“, die zwischen Sentimentalität und Sachlichkeit pendeln, wobei die jungen Mädchen eindeutig zur zweiten Position tendieren, während der Zimmerherr und seine Geliebte, die von den Mädchen belauscht werden, noch der ersten Position verhaftet sind. Auch dies ist eine Thematik, die sich bis zur fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 15–17 und 20f.) und bis zum Roman Jugend ohne Gott beobachten lässt, wo es gerade die Kontrastierung dieser beiden Positionen ist, die an den unterschiedlichen Mädchen- und Jungentypen demonstriert wird (vgl. insbesondere die Kapitel „Die marschierende Venus“, „Der verschollene Flieger“, „Adam und Eva“ und „Der Mann im Mond“). Schon in den frühen Entwürfen kristallisiert sich eine Jungen-Figur heraus, die ebenfalls bis zum Roman erhalten bleibt: „Der Junge ist der Geist“, heißt es dazu in VA1/E1. In VA1/E4/BS 11 a [1], Bl. 2v ist es der Zweite der vier „Buben“, der gegen die Tore und für den Geist des Spiels optiert. In den frühen Entwürfen wird er meist mit dem sprechenden Namen „Geist“ bezeichnet (vgl. VA1/E1 und E6). Ihm wird der „Rohe“ entgegengesetzt (vgl. VA1/E1, E6 und E7). Ab VA1/E9 verwendet Horváth jedoch Namen für seine Figuren. Der Geist wird jetzt Peter genannt. Er ist ein Vorläufer des Tagebuch schreibenden Z im Roman Jugend ohne Gott. Daneben gibt es folgende „Schüler“: Rudolf, Max, Alfred und Robert. Auch die drei jungen Diebe vom Land („Buben“) werden hier eingeführt: Kobenzl (zu ihm notiert Horváth: „der Rohe“), Schorsch und Nicolo. Als „Schülerinnen“ führt er Marianne, Elisabeth, Ernestine und Lili an. Außerdem zwei „Mädeln“: Kitty und Maria, wobei er zur Ersten

5

Vorwort

notiert: „Type der Haustochter“ (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 94). Kitty und Maria verschmelzen im späteren Roman zu Eva. Die meisten dieser Namen bleiben bis zur fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 erhalten. Allerdings korrigiert Horváth die Namen der jungen Diebe in VA1/E14 zu Capone, Dillinger und Nussknacker und in VA1/TS1 zu Capone, Dillinger und Hannes, wie sie auch noch in der fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 heißen. Der Name Maria wandert dort unter die „Mädchen“. Ihr, die eine Sachliche ist, wird eine Else gegenübergestellt, die eine „unheilbare Romantikerin“ (VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 16) ist. Die Namen der „Schüler“ bleiben bis VA1/TS4 erhalten. Im Verlauf von Vorarbeit 1 kristallisiert sich für Horváth eine deutliche Strukturidee heraus: eine Struktur in sieben Bildern, wie er sie für viele Werkprojekte30 verwendet hat und in Vorarbeit 1 erstmals in E6 entwirft. Weiters findet sie sich in VA1/E10, E15, E17, E18, TS2, E29–E32, E34, E35 und in der fragmentarischen Endfassung TS4/A4, wo allerdings nur fünf der vermutlich sieben Bilder ausgearbeitet sind. Zwischendurch experimentiert der Autor aber auch mit einer Struktur in vier Akten. Sie findet sich in dem zentralen Strukturplan VA1/E14, der sich über mehrere Blätter zieht und in dem die einzelnen Akte überdies in Bilder unterteilt sind. Dieser Strukturplan bildet die unmittelbare Grundlage des Prosa-„Exposés“ VA1/TS1 (von Horváth auch „Skizze“ genannt), in dem der Autor eine sieben Blätter umfassende narrative Ausarbeitung der in VA1/E14 angelegten Struktur, Themen und Motive leistet. Dieses Prosa-Exposé diente ihm wohl zu einer ersten kontinuierlichen gedanklichen Ausarbeitung der geplanten Handlung und ist kein Hinweis darauf, dass er zu diesem Zeitpunkt etwa schon an eine Prosabearbeitung des Stoffes gedacht hätte. Allerdings verändert er die Abfolge der Bilder und Szenen bis zur fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 doch deutlich. Der 1. Akt des Prosa-Exposés spielt auf einer „Waldlichtung. In der Osterzeit“: „Eine Abteilung junger Mädchen im Alter von 14–17 Jahren marschiert militärische Lieder singend unter Anführung einer Turnlehrerin durch den Wald.“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 1) Die Mädchen werden von zwei verwahrlosten Jungen mit „Spitznamen“ Capone und Dillinger beobachtet, die als „richtige Proletarierkinder“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 1) bezeichnet werden. Zu ihnen stößt ihr Kamerad Hannes, der über das „Ferienlager“ berichtet, das „eine Abteilung Jungen aus der Stadt“ „auf dem Höhenzug“ errichtet hat: „sie kampieren in Zelten.“ (ebd.) Horváth bringt in der Folge einige Jungen aus dem Zeltlager mit den jungen Dieben in Kontakt, darunter Peter. Von ihm heißt es: [Er] hebt sich charakterlich und vor allem intellektuell deutlich von den Anderen ab. Er ist der Repräsentant des Geistes, des kritischen Intellekts. Er meint, beim Fussball käme es nicht auf die Tore an, sondern darauf, dass schön gespielt werden müsste. (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 2)

In den Konflikt um dieses Thema zwischen den jungen Dieben und den Jungen aus dem Zeltlager mischt sich ein Lehrer, der „neunzehnjährige Schmidt, eine Sportnatur“ (ebd.). Er hat eine „unbewusste Aversion“ gegen Peter und entscheidet deshalb „gegen Peter, gegen den Geist“ (ebd.). Dieser bleibt in der Folge bei den jungen Dieben zurück, wo er die nun auftauchende Kitty, „die Anführerin der Bande“ (ebd.), kennen und lieben lernt: „Es bildet sich leise ein Beziehung zwischen Kitty 30

Vgl. etwa die erste Endfassung des Volksstücks Kasimir und Karoline (WA 4) und die Endfassung des Schauspiels Der jüngste Tag (WA 10), wo eine solche Struktur schon in frühen Strukturplänen erkennbar wird.

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Vorwort

und Peter.“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 3) Die Szene weist voraus auf die Beziehung zwischen Z und Eva in Jugend ohne Gott (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 89–91). Hannes, Kittys Freund, ist eifersüchtig und stellt sie zur Rede, worauf Kitty ihm versichert, sie „tu[e]“ Peter nur deshalb „schön“, weil sie entdeckt habe, dass er „eine goldene Uhr“ (ebd.; vgl. auch VA1/E14/BS 11 a [1], Bl. 15) habe. Den Akt beschließt deshalb eine „melancholisch[e] Liebesszene zwischen Kitty und Hannes“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 3). Der 2. Akt spielt „Am Waldrand“, wo die Mädchen aus dem Ferienlager „turnen“ und „Gymnastik“ „treiben“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 3). Die Jungen aus dem Zeltlager „marschieren mit Gesang vorbei unter Führung von Schmidt“ (ebd.). Es kommt zur Begrüßung zwischen den beiden Jugendgruppen und den Lehrern. Die Lehrerin erklärt Schmidt, dass sie das „Kriegsspiel ‚verschollenen Flieger suchen‘“ (ebd.) spielen. Das ist die exakte Vorwegnahme des Kapitels „Die marschierende Venus“ im Roman Jugend ohne Gott (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 48–52). Der „verschollene Flieger“ findet sich in der Vorarbeit 1 ab E14/BS 11 a [1], Bl. 16 und in den folgenden Entwürfen E15, E18, E19 und E21. Ob er in die fragmentarische Endfassung VA1/TS4/A4 Eingang hätte finden sollen, kann aufgrund der Fragmentarität derselben nicht mehr geklärt werden. Im späteren Roman Jugend ohne Gott trägt ein gesamtes Kapitel den Titel „Der verschollene Flieger“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 55–58). Es zeigt wie schon das Prosa-Exposé ein paar Mädchen auf der Suche nach dem „verschollenen Flieger“, einem „grellbemalte[n] Holz“, das einen „abgestürzten Flieger“ „markiert“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 3). Das Kapitel gehört zu den berührendsten des Romans, wird doch in ihm klar, dass weder die Mädchen noch die Lehrerin letztlich die „Amazonen“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 51) sind, als welche sie von der Lehrerin zunächst ausgegeben werden. Entgegen der sonst vom Roman gepflogenen Anonymität individualisieren sich in dem Kapitel zwei der Mädchen, von denen eine sogar einen Namen bekommt: Annie. Das Leid ihrer Freundin ist symptomatisch für eine Mädchenwelt, die unter den von „verrückt[en]“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 57) Männern gemachten Gesetzen zugrunde geht. In der Folge notiert Horváth im ProsaExposé: „Es kommen nun einzelne Liebespaare: Mädchen und Jungen. Schmidt und die dreissigjährige Lehrerin. Frühlingserwachen in unserer Zeit“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 4). Zuletzt erzählt Peter Kitty von dem Wunsch, „eine Schülerzeitschrift [zu] gründen und den menschlichen Geist dazu [zu] gebrauchen, um den Armen zu helfen“ (ebd.). Dies erinnert an die Ideen und Statuten des Klubs der vier Schüler im Roman Jugend ohne Gott, der für „Wahrheit und Gerechtigkeit“ (K/TS2/ Horváth 1938a, S. 174) kämpft und den Lehrer bei seiner Suche nach dem eigentlichen Täter unterstützt. Der Akt endet folgendermaßen: „Es kommt zu einer grossen Liebesszene, Kitty wird seine [Peters; Anm.] erste Frau und stiehlt ihm dabei die goldene Uhr.“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 4) Aus dieser Szene dürften der Diebstahl des „photographischen Apparat[s]“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 73) und die Liebesszene zwischen Z und Eva (ebd., S. 89–91) in Jugend ohne Gott hervorgegangen sein. Der 3. Akt spielt im „Zeltlager der Jungen“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 5). Peter wird hier mit Hausarrest und Kartoffelschälen bestraft, weil er nächtliche „Extraturen“ unternommen hat, die die „Disziplin des Lagers“ (ebd.) nicht zulasse. Dies weist voraus auf das nächtliche Treffen zwischen Z und Eva in Jugend ohne Gott (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 102f.). Eine Gruppe von Professoren besucht das Lager. Sie streiten sich über Erziehungsfragen. Einer der Professoren hegt Sympathien für Peter. Ein

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Vorwort

Gendarm taucht auf und bringt Peters goldene Uhr zurück, die man bei Kittys Vater, „einem alten Säufer“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 5), gefunden habe. Dabei kommt Peters nächtliches „Rendez-vous“ (ebd., Bl. 6) mit Kitty zutage. Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit Schmidt flieht Peter: „Es steht fest, dass er relegiert wird.“ (ebd.; vgl. auch VA1/E6/BS 11 a [1], Bl. 7) Der 4. Akt schließlich spielt „[v]or der Höhle der verwahrlosten Kinder“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 6). Peter taucht auf und ist schon fast dazu bereit, „auf die Bahn des Verbrechens“ (ebd.) zu wechseln. Dann erscheint jedoch ein Gendarm, der beinahe die Höhle entdeckt und die Bande in Angst und Schrecken versetzt. Schließlich kommt der dritte Professor zu den Kindern und erklärt Peter, „dass er sich für ihn einsetzen werde, es gefalle ihm sein Geist, den die Welt mal brauchen wird und der sich ja nur durch Enttäuschungen entwickeln [könne]“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 7). Er verspricht, ihm „Privatunterricht“ zu geben, damit er die „Abschlussprüfung“ (ebd.) bestehen könne. Der Gendarm taucht neuerlich auf und „verhaftet die Kinder, allen voran Kitty“ (ebd.), die Peter verteidigt und beschwört, dass er nie zuvor da gewesen sei. Das Prosa-Exposé wirft damit entscheidende Themen und Motive auf, die auch in der fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 und im späteren Roman Jugend ohne Gott wiederkehren. Es sind dies vor allem der Gegensatz zwischen den Jugendgruppen aus der Stadt und den verwahrlosten Kindern vom Land, erste Liebeserfahrungen, Erziehungsfragen, Jugendkriminalität, der Gegensatz zwischen Arm und Reich und der Wunsch des Intellektuellen, sich für die Armen einzusetzen, der aber schon im Prosa-Exposé wie im späteren Roman durch die „Schlechtigkeit der Armen“ (VA1/E33) enttäuscht wird. Horváth kehrt im weiteren Verlauf von Vorarbeit 1 zu einer Struktur in sieben Bildern zurück, wie sie sich bereits im unmittelbar auf das Prosa-Exposé VA1/TS1 folgenden Strukturplan VA1/E15 zeigt, der folgende Bilder umfasst: „Wald. In der Nähe der Höhle“, „Schloss“, „Einsamer Bauernhof“, „Zeltlager“, „Wald in der Nacht“, „Zeltlager“ und „Höhle“. In VA1/E19 verändert er diese Abfolge noch einmal. Horváth entwirft hier einen Strukturplan, der folgende acht Bilder umfasst: „Wald“, „Wald“, „Schloss“, „Fussball“, „Einsamer Bauernhof“, „Wald. (Verschollenen Flieger suchen)“, „Zeltlager“ und „Höhle“. In nuce ist darin schon die fragmentarische Endfassung VA1/TS4/A4 erkennbar, die zwar nur bis zum 5. Bild ausgearbeitet ist, aber bis zu diesem Punkt folgende Bilderfolge aufweist: „Wald“, „Waldlichtung“, „Vor dem Schloss“, „Wiese“ (Fußball) und „Einsamer Bauernhof“. Da Horváth in den Entwürfen zwischen VA1/E19 und VA1/E35 wieder großteils zu einer Struktur in sieben Bildern zurückkehrt, ist anzunehmen, dass er eine solche auch für VA1/TS4/A4 plante. In VA1/E35, dem der fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 unmittelbar vorausgehenden Strukturplan, skizziert er folgende Bilderfolge: „Einsamer kleiner Bauernhof“, „Höhenzug. Zeltlager der Jungen“, „Vor dem Schloss“, „Wald“, „Höhle“, „Zeltlager“ und „Höhle“. Die Endfassung des Werkprojekts Der Lenz ist da! VA1/TS4/A4, ein Typoskript, das 26 Blatt umfasst, ist nicht in Form einer Reinschrift überliefert, sondern in Form eines durch Verschiebungen und handschriftliche Überarbeitungen gekennzeichneten Typoskripts, dessen Genese sich in vier Ansätze aufteilen lässt. Im Gegensatz zum Prosa-Exposé VA1/TS1 handelt es sich bei der fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 um eine dramatische Ausarbeitung des Stoffes. Das Typoskript enthält kein Titelblatt, welches Horváth meist erst nach Abschluss der Arbeit an einer End-

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Vorwort

fassung erstellte.31 Aus diesem Grund lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welche Anzahl von Bildern die Endfassung aufweisen sollte. Die Fassung bricht im 5. Bild ab. Die Bilderfolge von VA1/TS4/A4 wurde oben schon genannt und entspricht am ehesten dem Strukturplan VA1/E19. Zunächst hatte Horváth mit dem Gedanken gespielt, eine Einteilung in Akten (VA1/TS4/A1) vorzunehmen, wie er sie zuletzt im Strukturplan VA1/E14 und im darauf basierenden Prosa-Exposé VA1/TS1 umsetzte. In VA1/TS4/A1 wollte er mit dem Akt „Waldlichtung“ (vgl. VA1/E14/BS 11 a [1], Bl. 13 und TS1/BS 11 b, Bl. 1) einsetzen, in VA1/TS4/A2, der schon eine Einteilung in Bildern vorsieht, mit dem Bild „Einsamer Bauernhof“ wie in VA1/E35. Im 1. Bild „Wald“ von VA1/TS4/A4 sind die fünf Jugendlichen aus dem Zeltlager Peter, Robert, Max, Alfred und Rudolf auf der Suche nach dem Weg ins Dorf. Im 2. Bild werden die Rucksack tragenden, marschierenden Mädchen von den beiden jungen Dieben Capone und Dillinger beobachtet (vgl. VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4–6). Gemeinsam mit dem später dazu kommenden Hannes beraten sie, wie sie ihre Höhle gegen die Entdeckung durch die Jungen im Zeltlager schützen können (vgl. ebd., Bl. 7). Schließlich tauchen die fünf Jungen aus dem 1. Bild auf und fragen nach dem Weg ins Dorf (vgl. ebd., Bl. 9). Sie kommen mit den drei jungen Dieben ins Gespräch und erfahren von der Stilllegung der Fabrik (vgl. ebd.) und der Heimarbeit (vgl. ebd., Bl. 11). Das 3. Bild spielt vor dem Schloss, wo die Mädchen auf Ferienlager sind. Aus einem Gespräch zwischen der Lehrerin und einem Gendarmen wird klar, dass im Schloss „zum zweitenmal in der Nacht gestohlen“ (ebd., Bl. 13) wurde. Aus einem Dialog zwischen zwei Schülerinnen, Maria und Else, erfährt der Leser, dass Else eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat (vgl. ebd., Bl. 16). Außerdem nutzt Horváth diese beiden Figuren, um Romantik und Sachlichkeit einander gegenüberzustellen (vgl. ebd., Bl. 15f.). Auch die Lehrerin, die zunächst gegenüber dem Gendarmen für ein neues, sachlich-militärisches Frauenbild (vgl. ebd., Bl. 14) plädiert hatte, erweist sich im weiteren Verlauf dieses Bildes als sehr menschlich (vgl. ebd., Bl. 17). Schließlich tauchen die fünf Jungen aus dem 1. Bild auf und beobachten die Mädchen durch die Fenster. Auch hier stehen einander wieder sehr unterschiedliche Positionen gegenüber. Peter erscheint als der Romantiker, während die anderen Jungen eher modern-sachlich geprägt sind und in der Frau kein „Geheimnis“ (ebd., Bl. 19) mehr sehen. Alfred bringt ihre Sichtweise auf den Punkt, wenn er mit Bezug auf den Geschlechtsakt sagt: „Ich kann Dir verraten -- es ist nichts besonderes dabei. Wirklich, eine überschätzte Sache. Wenn ich eine Zigarette rauch, das ist für mich mehr.“ (ebd., Bl. 19) Als die Jungen eine Prügelei zwischen den Mädchen beobachten, bei der alle gegen eine kämpfen, kommen sie zu dem Schluss: „Weiber sind keine Lords.“ (ebd.) Zuletzt kommen Else und Peter miteinander ins Gespräch, in dem Else versichert: „Ein junger Mensch ist nichts, ich brauch einen älteren --“ (ebd., Bl. 21) Das 4. Bild spielt auf einer „Wiese“, wo „Fussball gespielt“ (ebd., Bl. 22) wird. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen den Jungen Robert, Alfred, Max, Rudolf und Peter, weil Letzterer der Meinung ist: „Es kommt ja garnicht aufs Tor an --“ und: „Es kommt darauf an, ob mit Geist gespielt wird -- mir ist eine Mannschaft lieber, die keine Tore macht, aber schön spielt --“ (ebd.; vgl. VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 2) Der Lehrer Schmidt kommt dazu und versichert, dass es nur auf die Tore ankomme, „einzig und allein“ (VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 22). Damit bricht dieses Bild ab, das von 31

Vgl. etwa die aus Horváths Hand in Form von Typoskripten überlieferten Endfassungen von Don Juan kommt aus dem Krieg und Eine Unbekannte aus der Seine (WA 9 und WA 6).

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Vorwort

Horváth nur fragmentarisch ausgearbeitet wurde. Dasselbe gilt für das 5. Bild, das zunächst das 1. Bild hätte bilden sollen. Es trägt den Bildtitel „Einsamer Bauernhof“ (ebd., Bl. 23), der seit VA1/E15 als eigenes Bild belegt ist. Hier besprechen Capone, Dillinger, Hannes und Kitty den Überfall auf den Bauernhof. Kitty erklärt Hannes, der den Überfall ausführen soll: „[D]ort hängt der Schinken, dort ist die Küche -- und der Speck -- pack alles zusammen“ (ebd., Bl. 24). Doch die vier verwahrlosten Kinder werden von einem Gendarmen überrascht, der sie an dem Überfall hindert – zumindest vorerst – und mit ihnen über die „Unterstützung“ (ebd., Bl. 25) spricht, um die Kittys Vater eingereicht hat. Zuletzt erfährt der Leser, dass Kittys Mutter schwer krank ist. Damit bricht das Typoskript ab. Es ist wahrscheinlich, dass Horváth dem Drama eine Struktur in sieben (höchstens: acht) Bildern geben wollte. Warum er das Typoskript nicht bis zum Ende ausgearbeitet hat, darüber kann nur spekuliert werden. Wahrscheinlich war er mit dem Ergebnis nicht zufrieden und suchte nach einer neuen Formidee, die er mit den erst zwei Jahre später entstandenen Entwürfen zu einem Roman mit dem Titel Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit gefunden zu haben schien, wobei die Verbindung der beiden Werkprojekte Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit und Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit erst im Roman Jugend ohne Gott vorgenommen wird, während sie im Entwurfsstadium noch getrennte Werkprojekte darstellen.

Vorarbeit 2: Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit – Roman Bei dem überlieferten Material zum Romanprojekt Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit handelt es sich um eine maschinenschriftlich und eine handschriftlich verfasste Textstufe, wobei von Letzterer vier Ansätze vorliegen, deren Ausreifungsgrad jedoch nicht allzu hoch ist und von denen einige stark überarbeitet sind. Vier der fünf Fassungen skizzieren eine narrative Struktur, die um eine zentrale Lehrerfigur gruppiert ist. Der Lehrer erscheint dort als Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive erzählt wird. Einzig VA2/TS1 weist eine andere Erzählerfigur auf. Hier wird ein Dialog zwischen einem Schriftsteller und einem Engel skizziert, der dem Schriftsteller vorschlägt, einen Roman „über die Ideale der Menschheit in unserer Zeit“ (VA2/TS1) zu schreiben. Der Schriftsteller kann sich jedoch „nichts richtiges“ (ebd.) darunter vorstellen, weshalb er mit dem Engel einen Ausflug in den Prater macht, den Vergnügungspark von Wien, um darüber nachdenken zu können. In der Folge arbeitet Horváth in vier Ansätzen eine Textstufe zum ersten Kapitel dieses Romans aus, der in VA2/TS2/A1 erstmals und zugleich zum einzigen Mal innerhalb des überlieferten Materials den Werktitel „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit. Roman“ trägt. Aus der Perspektive von VA2/TS2/A1–A4 erscheint VA2/TS1 als Rahmen oder Vorgeschichte zu den in der Folge skizzierten Ansätzen einer Textstufe, in der das erste Kapitel des Romans ausgearbeitet wird. In VA2/TS2/A1 notiert Horváth zunächst ein I. Kapitel oder einen I. Teil mit dem Titel „Ein Lehrer in heutiger Zeit“. Darunter vermerkt er: „Die Zeitung. Das Radio. Ein Besuch aus dem Ausland, der sympathisiert mit den dortigen Zuständen. Er wird wieder kirchlich. / Der Brief an die neue Regierung. / ‚Von einem unbekannten Dichter.‘“ Dementsprechend ist dann als Variante ein I. Kapitel mit dem Titel „Ein unbekannter Dichter“ vermerkt. Hier exponiert der Autor den Lehrer, seine Lebensumstände und seine

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Schreibintention. Es ist Nacht und der Lehrer sitzt an seinem Schreibtisch. Er schreibt ein „Tagebuch“, weil er niemanden hat, mit dem er reden kann. Er ist mit einer um sechs Jahre jüngeren Frau verheiratet. Auch ein Datum notiert er: „Heut ist der 27. November 1935.“ Dass dieses Datum das wirkliche Datum der Niederschrift dieses Blattes ist, muss jedoch bezweifelt werden. Wahrscheinlich ist es etwa ein Jahr später entstanden. Als eine Art „Vorwort“32 zu dem späteren Roman Jugend ohne Gott wurden dann wiederholt die folgenden Zeilen gelesen: Ich überreiche dies Buch der Öffentlichkeit unserer Zeit. Ich weiss, es wird viel verboten werden, denn es handelt von den Idealen der Menschheit. Ein Lehrer, der Lesen und Schreiben lehrt, von dem handelt es. Es ist ein Buch gegen die geistigen Analphabeten, gegen die, die wohl lesen und schreiben können, aber nicht wissen, was sie schreiben, und nicht verstehen, was sie lesen. Und ich habe ein Buch für die Jugend geschrieben, die heute bereits wieder ganz anders aussieht, als die fetten Philister, die sich Jugend dünken. Aus den Schlacken und Dreck verkommener Generationen steigt eine neue Jugend empor. Der sei mein Buch geweiht! Sie möge lernen aus unseren Fehlern und Zweifeln! Und wenn nur einer dies Buch liest, bin ich glücklich! (VA2/TS2/A1)

In den folgenden Ansätzen dieser Textstufe VA2/TS2/A2–A4 arbeitet Horváth Variationen zu diesem ersten Ansatz aus. In VA2/TS2/A2 notiert er die Kapitelnummer „1.“ und beginnt dann wie schon in VA2/TS2/A1 mit dem Hinweis auf die Tageszeit: „Es ist tiefe Nacht“. Der Ich-Erzähler erscheint hier in einem Zwiegespräch mit der Nacht, der er verrät: „Ich werde in zirka zwei Monaten 36 Jahre alt.“ (VA2/TS2/A2/BS 40 a, Bl. 2) Auch darin hat man keinen direkten Datierungshinweis zu sehen. Entspräche dieses Alter dem realen Alter des Autors Ödön von Horváth, müsste der Ansatz aus dem Oktober 1937 stammen, was aber unwahrscheinlich ist, da dies bereits der Auslieferungstermin des Romans Jugend ohne Gott ist. Ähnlich wie in TS2/A1, wo Novemberwetter zwischen Regen und Schnee herrscht, reflektiert der Erzähler über die Witterung und die Jahreszeit: „Ich sehe zum Fenster hinaus, es ist trüb. Ich muss das Licht herinnen anzünden, obwohl es Mittag ist. So gehts schon seit langer Zeit, der Nebel will nicht weichen, er hat sich eingehängt. / Wann kommt die Sonne?“ (ebd., Bl. 3) In VA2/TS2/A3 notiert Horváth erstmals zur Kapitelnummer „I.“ den Kapiteltitel „In tiefer Nacht“. Wieder schildert er die Schreibszene des Ich-Erzählers und die Witterungsumstände. Die Textstufe wurde von Horváth hochgradig überarbeitet. Sie weist zahlreiche Streichungen und Ersetzungen auf. In einer nachträglich hinzugefügten Passage heißt es als Begründung dafür, dass der Ich-Erzähler in der Nacht schreibt: „Denn während des Tages habe ich keine Zeit für mich. Ich bin ein Lehrer, ein einfacher Lehrer.“ (VA2/TS2/A3) Der folgende Ansatz VA2/TS2/A4 weist den höchsten Ausreifungsgrad auf. Auch hier finden sich wieder der Kapiteltitel „In tiefer Nacht“ und eine Schilderung der Schreibszene. Vom Lehrer heißt es: [I]ch bin ein staatlich angestellter Lehrer und unterrichte bereits seit sieben Jahren an der hiesigen Schule. Unser Ort ist ein kleines Städtchen mit ungefähr 5000 Einwohnern. Ich unterrichte am Gymnasium, es kommen vom weiten Umkreis die Kinder her. Ich unterrichte Geschichte und Geographie. (VA2/TS2/A4/BS 40 a, Bl. 4)

Damit nimmt Horváth bereits die Unterrichtsfächer des Lehrers in Jugend ohne Gott vorweg (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 7). In der Grundschicht hatte es noch geheißen: „deutsche Sprache, Geschichte und Geographie“. Horváth streicht aber die „deutsche Sprache“, die im späteren Roman indirekt jedoch eine ganz wesentliche 32

Horváth 2009a, S. 182.

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Rolle spielen wird, ist der Lehrer doch, da keine inhaltliche Kritik an den Aufsätzen seiner Schüler erlaubt ist, dazu gezwungen, seine Korrekturarbeit auf „Sprachgefühl, Orthographie und Formalitäten“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 14) zu beschränken. Darüber hinaus schildert Horváth in VA2/TS2/A4 die Wohnsituation des Ich-Erzählers. Er ist Mieter beim „Fleischhauer Lorenz Sedlmeier“ (VA2/TS2/A4/BS 40 a, Bl. 4), hat also einen „Hausherr[n]“ (ebd.), im Gegensatz zum Lehrer in Jugend ohne Gott, der bei einer „Hausfrau“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 5) in Miete lebt. Und noch einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden gibt es: Während der Lehrer in Jugend ohne Gott ledig ist, ist der Lehrer in VA2/TS2/A4 „verheiratet, und zwar seit etwas über fünf Jahren“ (VA2/TS2/A4/BS 40 a, Bl. 5).

Konzeption: Jugend ohne Gott – Roman Zum engeren Arbeitsprozess am Roman Jugend ohne Gott sind nur zwei Blatt überliefert. Es handelt sich einerseits um das Blatt ÖLA 3/W 333 – BS 40 b, Bl. 1. Auf diesem Blatt notiert Horváth in E1 Notizen unter dem Titel „Roman“ und den beiden Titelentwürfen „Durch Korruption zum Katholizismus“ und „Marxismus und Glaube“. Da das Blatt auf dem oberen Teil sowie auf der Versoseite je einen Entwurf zur Komödie Ein Sklavenball enthält, an der Horváth im Frühsommer 1937 arbeitete, kann es etwa auf Juni 1937 datiert werden. Wie in den Textstufen von Vorarbeit 2, dem die vorliegenden Notizen nahestehen, entwirft der Autor hier eine Schreibszene, die einen über seine „geistig[e] Not und Angst“ reflektierenden Ich-Erzähler zeigt. In einer Randnotiz bezeichnet er die „Regierenden“ als „Verbrecher“, was auf die Diskussion über die Verteilungsungerechtigkeit zwischen dem Lehrer und dem Pfarrer im späteren Romankapitel „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“ verweist. In dem rund um E1 notierten Entwurf E2 vermerkt der Autor einen Strukturplan in drei Teilen, der wesentliche Themen und Figuren des späteren Romans vorwegnimmt, so das „Tagebuch“ und den „ländliche[n] Priester“. Die „katholische Schwester“, über die der Ich-Erzähler reflektiert, findet in der Endfassung von Jugend ohne Gott keine Verwendung mehr, dürfte aber in den Folgeroman Ein Kind unserer Zeit (1938) eingegangen sein. Das zweite Blatt, das mit Sicherheit zum genetischen Konvolut von Jugend ohne Gott zu rechnen ist, ist das Blatt mit der Signatur ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 4v. Auf diesem Blatt vermerkt Horváth handschriftlich eine Textstufe TS1 zu den Kapiteln „Die Endstation“ oder „Das Reh“, die er jedoch nachträglich wieder streicht. Möglicherweise war das Blatt Teil einer größeren ausgearbeiteten Textstufe zu einem der erwähnten Kapitel. Allerdings fehlt dafür der Beleg in Form einer eingetragenen Paginierung. Es dürfte jedenfalls aus der mittleren Arbeitsphase stammen, da in der erwähnten Textstufe bereits der T und seine Mutter vorkommen; allerdings auch der Vater des T, der in der Endfassung nicht mehr persönlich auftaucht und von dem es dort heißen wird, dass ihn der T „kaum“ sieht, weil er „immer unterwegs“ ist und einen „Konzern“ „leitet“ (TS2/Horváth 1938a, S. 189). Ein Typoskript der Endfassung oder eine Druckvorlage für den Verlag sucht man im Nachlass Ödön von Horváth (ÖLA 3) am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek vergeblich. Im Splitternachlass Ödön von Horváth (ÖLA 27), der aus dem Thomas Sessler Verlag an die Österreichische Nationalbibliothek übernommen wurde, befindet sich zwar ein Typoskript, das eine Endfassung des Romans enthält.

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Vorwort

Bei diesem Typoskript (ÖLA 27/W 37) handelt es sich jedoch mit einiger Sicherheit um eine spätere Abschrift des Romans und nicht um ein originales Typoskript Horváths aus den dreißiger Jahren. Als Textgrundlage für die hier erstellte Endfassung von Jugend ohne Gott diente deshalb die Erstausgabe des Romans im Verlag Allert de Lange (Amsterdam) aus dem Oktober 1937, von der sich ein Widmungsexemplar des Autors an seine Eltern in seinem Nachlass findet. Im Roman führt Horváth die beiden Vorarbeiten zusammen: die Jugendgruppen und ihre Welt aus Der Lenz ist da! auf der einen Seite und den Lehrer auf der anderen Seite, der sich auf die „Suche nach den Idealen der Menschheit“ (TS2/Horváth 1938a, S. 62) begibt, wie ein Kapiteltitel von Jugend ohne Gott lautet. Der Roman besteht aus 44 Kapiteln, die nicht nummeriert sind und Titel tragen. Diese Titel bringen zuweilen „eine zusätzliche Kommentarebene“ in den Roman ein, großteils nehmen sie aber nur bereits eingeführte Motive aus seinem dichten „Motivgeflech[t]“33 wieder auf. Die Handlung zerfällt im Roman in eine Rahmenhandlung in der Stadt und in eine Binnenhandlung im Ferienlager. Sie setzt am „25. März“ (TS2/Horváth 1938a, S. 5), wahrscheinlich des Jahres 1936, ein, dem „Tag des Heiligen Dismas, des gekreuzigten Schächers zur Rechten Christi, der sich reuig zu Christus bekehrt“.34 Damit wird das Thema der „Bekehrung und Vergebung“ schon zu Beginn des Romans eingeführt.35 Die im Roman geschilderten Jugendgruppen (Jungen aus der Stadt, Mädchen aus der Stadt und verwahrloste Kinder auf dem Land) sind allesamt schon in dem Werkprojekt Der Lenz ist da! angelegt und zwar im Wesentlichen seit VA1/E9, in dem Horváth eine Figurenliste erstellt, in der er Schüler, Schülerinnen, Buben, Mädeln, Eltern und Professoren anführt. Während die Figuren in den Entwürfen der Vorarbeit 1 durchgängig Namen haben, entscheidet sich der Autor im Roman großteils für Anonymität bzw. für Monogramme. Der Lehrer erhält zwar den Spitznamen „der Neger“ (TS2/Horváth 1938a, S. 173), bleibt aber letztlich genauso anonym wie die Lehrerin, der Pfarrer, der Tormann, die Hausfrau, die Alte, der Feldwebel etc. Eine solche Anonymität in der Figurenbenennung ist meistens ein Hinweis darauf, dass es Typen sind, die geschildert werden, oder aber ein „namenlose[s] Kollektiv“36. Dies könnte auch für Jugend ohne Gott geltend gemacht werden. Grundsätzlich gilt: Alle, die im Roman ein stärkeres Profil bekommen und aus der Anonymität der Masse herausragen, werden mit Namen bedacht. Allerdings müsste dann der T ebenfalls einen Namen bekommen. Er bleibt aber offensichtlich für Horváth ein Typ und deshalb nur mit Anfangsbuchstaben benannt, so wie er in der Klassenliste gereiht ist. Im Kürzel T wird dabei bereits der „Täter“ erkenntlich. Die Anonymität des Lehrers ist wohl vorrangig seiner Rolle als Ich-Erzähler geschuldet. Das bereits im Dramenfragment Der Lenz ist da! und auch im Roman geschilderte Zeltlager dürfte auf ein reales Erlebnis Horváths aus dem Frühling 1934 zurückgehen, in dem er sich wohl wiederholt in Murnau aufhielt.37 Damals fand in Aidling bei Mur-

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Ebd., S. 186. Ebd. Ebd. Wolfgang Müller-Funk: Faschismus und freier Wille. Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ zwischen Zeitbilanz und Theodizee. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 157–179, hier S. 162. Vgl. Horváth 1998b, S. 159.

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Vorwort

nau das „1. Hochlandlager der Hitlerjugend“ statt: „Das Murnauer Tagblatt berichtete über Monate hinweg fast täglich darüber.“38 Das Lager stand unter dem Motto: „Wir sind zum Sterben für Deutschland geboren.“39 Analog dazu fand 1937 in Bad Tölz, 30 km von Murnau entfernt, das erste „Mädellager Hochland“ statt.40 Es lieferte Horváth reiches Anschauungsmaterial für die Kapitel „Die marschierende Venus“ und „Der verschollene Flieger“ (TS2/Horváth 1938a, S. 48–52 und 55–58). Die FußballThematik, die die Vorarbeit 1 noch so stark geprägt hatte, rückt im Roman an den Rand, genau genommen in die Vorgeschichte in der Stadt, die den ersten Toten bringt, den jungen W, der nach einem Stadionbesuch bei Regen an einer Lungenentzündung stirbt. Horváth entwirft mit der Fußballbegeisterung und dem damit verbundenen Massenerlebnis ein positives Gegenbild zur militaristischen Lageridee und dem dort gepflogenen atavistischen Gemeinschaftskult. Die Kriminalhandlung des Romans ist gleichfalls schon in der Vorarbeit Der Lenz ist da! angelegt. Hier finden sich bereits die verwahrlosten Kinder, die nächtens Diebstähle begehen und in der Vorarbeit 1 noch Capone, Dillinger, Hannes und Kitty heißen (vgl. VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 1). Im Prosa-Exposé will Kitty Peter seine „goldene Uhr“ stehlen (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 3; vgl. auch VA1/E14/BS 11 a [1], Bl. 15 und E15). In der Endfassung wird dann der „photographisch[e] Apparat“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 73) des L gestohlen. Der Überfall auf den Bauernhof im Kapitel „Unkraut“ ist in VA1/TS2, VA1/TS3 und VA1/TS4/A4/BS 11 b, Bl. 23–25 vorgebildet. Die Kriminalhandlung, die mit dem Diebstahl des „photographischen Apparat[s]“ beginnt, mit dem Erbrechen des Kästchens des Z durch den Lehrer ihre Fortsetzung erlebt und in der Ermordung des N ihren Höhepunkt erreicht, bestimmt einen Großteil des Romans.41 Der daran anschließende Gerichtsprozess rückt den Roman in die Nähe trivialer Romantypen wie dem Gerichtssaalroman und Filmgenres wie dem Gerichtssaaldrama. Unmittelbar verbunden mit der Kriminalhandlung ist die Liebeshandlung des Romans. Hier schließt Horváth am deutlichsten an Wedekinds Frühlings Erwachen an. Die Liebeshandlung zwischen (Adam) Z und Eva, der jungen Diebin, nimmt vor allem durch die Namensgebung allegorische Züge an. Der alleinstehende Lehrer wird bei der nächtlichen Liebesszene zwischen den beiden zum Voyeur (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 100–106). Er bleibt für den restlichen Verlauf des Romans nicht emotionslos gegenüber Eva, die seit dem „Mann im Mond“-Kapitel eine starke sexuelle Anziehung auf ihn ausübt. Erst ganz zuletzt erlebt sie in seinen Augen eine Entzauberung durch die Worte des „Gespenst[es]“ (ebd., S. 203) N, der ihre Augen als „richtige Diebsaugen“ (ebd., S. 207) bezeichnet. Der Selbstmord des T hat seine Vorläufer in Wedekinds Frühlings Erwachen, aber auch im Roman Der Schüler Gerber (1930) von Friedrich Torberg. Horváth überschreitet diese beiden jedoch, indem bei ihm das Schülersterben schon am Beginn des Romans einsetzt, mit dem Tod des jungen W durch eine Lungenentzündung, mit der Ermordung des N fortgesetzt wird und durch den Selbstmord des T seinen Abschluss erlebt.

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Ebd., S. 159f. Ebd., S. 160. Vgl. ebd. Vgl. Wolf Kaiser: „Jugend ohne Gott“ – ein antifaschistischer Roman? In: Krischke 1984 (Anm. 36), S. 48–68, hier S. 52.

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Entscheidend für den Roman ist letztlich jedoch nicht diese „äußere Handlung“, sondern die „innere Handlung“42, die Entwicklung des Lehrers, seine Bekehrung zur Wahrheit und damit zu Gott. Dass diese „Bekehrungsgeschichte“43 nicht ohne „regressive Moment[e]“ vonstattengeht, darauf hat Wolf Kaiser hingewiesen.44 Ihr Ergebnis ist aber nicht „Frömmigkeit“ im religiösen Sinne, sondern „Mut und Opferbereitschaft“45 im sozialen Sinne. Die soziale Dimension des Romans, die schon in den frühen Entwürfen und Textstufen zur Vorarbeit Der Lenz ist da! eine ganz zentrale Rolle gespielt hatte (vgl. VA1/E1, E7, E13, E14, TS1 etc.), nimmt vor allem im Gespräch des Lehrers mit dem Pfarrer breiten Raum ein. Dabei ist es vor allem der Lehrer, der mit den armen, Puppen bemalenden Kindern in den Fenstern der „grauen Häuser“ (TS2/Horváth 1938a, S. 59) des Dorfes Mitleid empfindet. Doch auch innerhalb seiner Schüler gibt es Reiche und Arme sowie die Vertreter des Kleinbürgertums, die „reichen Plebejer“ (ebd., S. 14), wie ein Kapiteltitel lautet. In ihnen wie in ihrem Anführer, dem „Oberplebeje[r]“ (ebd., S. 161), paart sich finanzielle und damit politische Macht mit reaktionärer Gesinnung, wie Horváth vor allem am Vater des N, dem Herrn Bäckermeister N, einem Paradebeispiel des Spießers, nachvollziehbar macht (vgl. ebd., S. 15–18). Während die Dorfjugend zur Kriminalität kommt, weil sie keine anderen Erwerbsmöglichkeiten hat, landet die Stadtjugend aus Langeweile oder aus falsch verstandener Solidarität im kriminellen Milieu, oder aber aus einem übertriebenen (wissenschaftlichen) Beobachtungsdrang, der im Falle des T auch vor der Tötung des beobachteten Subjekts nicht zurückschreckt. Die zentrale Anklage, die Horváth gegenüber der Elterngeneration erhebt, ist die der Vernachlässigung. Kaum einer der Schüler, der nicht darüber klagt, dass seine Eltern keine Zeit für ihn haben (vgl. ebd., S. 141, 186 und 189). So ist diese Jugend ohne Gott sich selbst überlassen, bekommt keine moralischen Werte vermittelt und ist durch jegliche Form von Scharlatanerie leicht verführbar.46 Allerdings entwirft Horváth mit den vier Schülern des Klubs um den B – zu denen noch „ein Bäckerlehrling“ und „ein Laufbursch“ (ebd., S. 169) dazukommen – ein Gegenbild zum Kollektiv der gleichgeschalteten Schüler. Sie „kommen wöchentlich zusammen und lesen alles, was verboten ist“ (ebd.), aber nicht nur „um Bücher zu lesen, sondern auch, um danach zu leben“ (ebd., S. 174). Der B nimmt auch nicht an der Parade anlässlich des Geburtstags des „Oberplebejers“ (ebd., S. 161) teil, sondern hat sich schlicht und einfach „krankgemeldet“ (ebd., S. 168). So probt zumindest ein Teil der Jugend, eine „neue Jugend“, den Aufstand: „Der sei mein Buch geweiht“, hatte es in VA2/TS2/A1 geheißen.

Rezeption (Überblick) Der Roman Jugend ohne Gott wurde am 26. Oktober 1937 durch den Verlag Allert de Lange (Amsterdam) ausgeliefert. Horváth hatte damit erstmals einen Vertrag mit einem der großen Exil-Verlage, der ihm ein neues Publikum, dasjenige des Exils, er-

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Ebd., S. 52f. Horváth 2009a, S. 185. Vgl. Kaiser 1984 (Anm. 41), S. 53f. Ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 54f.

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Vorwort

öffnete.47 Noch am Tag der Auslieferung schreibt der Autor an seinen Freund Franz Theodor Csokor: Mein lieber Freund, hast du meine Karte erhalten? Und das Buch? – („Jugend ohne Gott“; Anm. des Empfängers) Heute wirds versandt, aber vor Anfang oder Mitte November soll keine Besprechung erscheinen, schrieb mir der Landauer [Walter Landauer; Anm.], wahrscheinlich liegt dann das Buch in der Schweiz auf. Ich freue mich sehr, dass Du es in der „Nationalzeitung“ besprechen wirst – ich habe das Buch jetzt nochmals so für mich gelesen, und ich kann mir nicht helfen: mir gfallts auch! – Es ist mir dabei noch etwas aufgefallen, nämlich: dass ich, ohne Absicht, auch zum erstenmal den sozusagen faschistischen Menschen (in der Person des Lehrers) geschildert habe, an den die Zweifel nagen – oder besser gesagt: den Menschen im faschistischen Staate. Sei herzlichst umarmt von Deinem Oedön48

Auch wenn der Brief nicht mehr im Original vorliegt, soll er zitiert werden, handelt es sich doch bei ihm um eine der bemerkenswertesten Selbstaussagen Horváths zu seinem Roman Jugend ohne Gott. In der Forschung hat der Brief für einige Diskussion gesorgt, nicht zuletzt wegen der Begriffsunsicherheit, die der Autor am Ende des Briefs an den Tag legt.49 Csokor dürfte jedenfalls das Buch erhalten haben und besprach es schon wenige Wochen später in der Basler National-Zeitung vom 28. November 1937. Sein Urteil ist, naturgemäß, euphorisch: „Diese Zeit wird wenig hinterlassen von Werken, die sich ihr entrangen zu dauernder Bewährung! Unter diese zählt aber Ödön von Horváths Roman.“50 Als einer der Ersten hatte Thomas Mann den Roman gelesen. Im Tagebuch notiert er bereits am 6. November 1937 dazu: „Nachts Ö. von Horwaths ‚Jugend ohne Gott‘, reizvoll.“51 Wenig später schrieb er an seinen Kollegen, den Horváth-Freund Carl Zuckmayer, dass er „den Roman für das beste Buch der letzten Jahre hält“52. Und in einem Brief an seinen Verleger Gottfried Bermann-Fischer vom 14. November 1937 vermerkt er sogar: „Schade, daß Horváth Ihnen nicht seine ‚Jugend ohne Gott‘ gegeben hat; das war das zweite Buch, das mir in letzter Zeit lebhaften Eindruck gemacht hat[.]“53 Hermann Hesse schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er Anfang 1938 an Alfred Kubin schreibt: „Ein kleines Buch empfehle ich Ihnen, eine Erzählung ‚Jugend ohne Gott‘ von Horváth. Vielleicht erwischen Sie sie irgendwo; sie hat Fehler, ist dennoch großartig, und schneidet quer durch den moralischen Weltzustand von heute.“54 47

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Dass indes die Lage der Exilautoren und ihrer Verlage keine leichte war, selbst die der großen Verlage wie Querido oder Allert de Lange, zeigt Alexander Stephan in seinem Aufsatz über die „Exil-Verlage“ in: Krischke 1984 (Anm. 36), S. 27–47. Brief Ödön von Horváths an Franz Theodor Csokor vom 26. Oktober 1937 aus Henndorf, zitiert nach einer maschinenschriftlichen Abschrift des Empfängers in der Abteilung für Handschriften und Alte Bücher der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Signatur Ms. 5371/208. Fehlende Zeichenabstände wurden korrigiert. Vgl. Müller-Funk 1984 (Anm. 36), S. 160f. und Kaiser 1984 (Anm. 41), S. 62f. Franz Theodor Csokor: Ein Buch von Morgen. In: National-Zeitung, Basel, 28. 11. 1937. Die gesamte Rezension findet sich abgedruckt in Horváth 2010, S. 73–76. Thomas Mann: Tagebücher 1937–1939. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main: S. Fischer 1980, S. 127. Brief Ödön von Horváths an Franz Theodor Csokor vom 24. November 1937 aus Henndorf, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Sammlung Horváth, Lokatur H br (p) 3. Thomas Mann: Briefe 1937–1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt am Main: S. Fischer 1963, S. 33. Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hg. v. Ursula und Volker Michels. Dritter Band 1936–1948. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 76.

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Vorwort

Doch nicht nur die Schriftsteller des Exils nahmen Horváths Roman wahr. Auch Rezensionen in wichtigen Zeitungen der Exilländer ließen nicht lange auf sich warten.55 Max Brod rezensierte den Roman am 11. Dezember 1937 im Prager Tagblatt unter dem Titel „Das Leben unter Tyrannen“ gemeinsam mit Hermann Kestens Roman Philipp der Zweite, der gleichfalls das Leben in einem autoritären Staat beschreibt und wie Horváths Roman beim Exilverlag Allert de Lange erschienen war, als dessen Lektor Kesten arbeitete. Brod schreibt über Jugend ohne Gott: Wie es den Untertanen in einem solchen Staat zumute ist, den Tyrannis regiert, das schildert (im gleichen Verlag) Oedon von Horvaths Roman „Jugend ohne Gott“. […] Der Konflikt [eines] Lehrers mit seiner gleichgeschalteten Schülerschaft (in einem Sommerlager, das mit großer Sachkenntnis beschrieben wird) und der Konflikt mit seinem Gewissen gibt den Inhalt der stürmisch bewegten Erlebnisse, in denen eine kleine Räuberbande, geführt von einem hübschen, völlig verwahrlosten Mädchen, führend ist. Die Kluft zwischen einer Generation von Erwachsenen, die noch an Ideale der Menschheit glaubt, und den Jungen, die nur auf Macht, Kampf, Disziplin und Haßinstinkte gedrillt werden, könnte nicht erschütternder Gestalt gewinnen als in Horvaths mit dem Ingrimm bitterster Ironie geschriebenen Werk.56

Mit einem sicheren Gespür für den Ton der Dichtung sind diese wenigen Worte verfasst, die Brod zu Horváths Roman im bescheidenen Rahmen einer Sammelrezension äußern kann. Ausführlicher fiel indes eine Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung aus, die nur einen Tag später erschien, also am 12. Dezember 1937. Dort verweist der Kritiker, der mit dem Kürzel „D-d.“ zeichnet, auf das zentrale literarische Vorbild des Romans: Man glaubt im ersten Teil der Erzählung den Moralisten Wedekind57 mit einer Verspätung von dreißig Jahren wieder zu hören – bis das Schicksal kommt. Da wacht Horvath auf, wird wieder Zeitgenosse, ragt über sein kritisches Ich hinaus, und sucht im Wirrsal der Verfehlungen ein Prinzip, das er aus purer Verzweiflung am Menschen „Gott“ nennen möchte – obschon es sich nur um sein „Gewissen“ handelt.58

Die Treffsicherheit der zeitgenössischen Rezeption erstaunt. Das Fazit dieser Rezension lautet, dass der Roman „trotz mancher Künstlichkeit“ den Leser „mit Menschlichkeit“ „erfüll[e]“59, ein Urteil, das den Autor der Komödie Figaro läßt sich scheiden (1936) sicher gefreut hat, in der genau dieser Begriff der „Menschlichkeit“ – wie generell in Horváths Spätwerk – eine ganz zentrale Rolle spielt.60 Eine äußerst kritische Rezension des Romans erschien indes in der von Thomas Mann und Konrad Falke herausgegebenen „Zweimonatschrift für freie deutsche Kultur“ Maß und Wert im März/April 1938. Der 1928 mit seinem Roman Das Linsengericht unter anderem von Hermann Hesse gelobte Schweizer Autor Rudolf Jakob Humm kritisierte dort die hohe Geschwindigkeit des „veloziferische[n]“61 Romans

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Vgl. Kaiser 1984 (Anm. 41), S. 48f. Max Brod: Das Leben unter Tyrannen. In: Prager Tagblatt, 11. 12. 1937. Der Jugend ohne Gott betreffende Teil der Rezension findet sich abgedruckt in Horváth 2010, S. 78. Vgl. zu Wedekind den Abschnitt über die Vorarbeit 1 Der Lenz ist da! in diesem Vorwort. D-d.: „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horvath. In: Neue Zürcher Zeitung, 12. 12. 1937. Ebd. Vgl. das Vorwort in WA 8, S. 17f. Rudolf Jakob Humm: Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. In: Maß und Wert, 1. Jg., Heft 4, März/April 1938, S. 648–650, hier S. 650. Die Rezension findet sich teilweise abgedruckt in Horváth 2010, S. 81–83.

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Vorwort

Jugend ohne Gott, der für ihn den Gattungstitel Roman gar nicht verdient. Die Geschichte, die in Thematik und Stil an Bernard von Brentanos Roman Prozess ohne Richter (1937) erinnere, bleibe trotz der von Horváth beherrschten „Kunst der Abstraktion“62 „schematisch, so unterhaltend sie ist“63. Humm beendet seine Kritik mit der sarkastischen Bemerkung, dass er „nicht begreife, wieso man sich des Fascismus als eines unterhaltenden Vorwands bedienen kann“64. Die Schärfe dieser Kritik blieb indes ein Einzelfall. Quer zu der überwiegend positiven Rezeption in den meisten antifaschistischen Ländern verlief natürlich die Aufnahme des Romans auf reichsdeutschem Gebiet, wo er, nach längerem Hin und Her zwischen der Gestapo, dem Propagandaministerium und der Reichsschrifttumskammer, schließlich mit Beschluss vom 7. März 1938 „wegen seiner pazifistischen Tendenz“ verboten und auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“65 gesetzt wurde. Die im Deutschen Reich noch auftauchenden Exemplare sollten beschlagnahmt werden. Diese Maßnahme konnte jedoch den Siegeszug des Romans in den antifaschistischen Ländern nicht aufhalten, der sich nicht zuletzt in der Fülle der Übersetzungen in verschiedene europäische Sprachen äußerte.66 Der Roman etablierte sich bald nach dem Krieg, angeregt durch die Neuauflage 1948 im Wiener Bergland Verlag, als antifaschistisches Paradestück auch und vor allem innerhalb des Schulkanons, wo er bis heute „als eines der wichtigsten Bücher im Kanon der antifaschistischen Literatur“67 eine prominente Rolle spielt.68 Noch an seinem letzten Lebenstag, dem 1. Juni 1938, traf sich Horváth im Pariser Café Marignan mit dem deutschen Filmregisseur Robert Siodmak (1900–1973), der inzwischen in Paris lebte und eine Verfilmung von Jugend ohne Gott plante.69 Hor62 63 64 65

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Ebd., S. 648. Ebd., S. 649. Ebd., S. 650. Das Schreiben der Geheimen Staatspolizei an den Präsidenten der Reichsschrifttumskammer mit der Bitte der Prüfung des Romans „wegen seiner pazifistischen Tendenz“ auf Aufnahme in die „Liste“ datiert auf den 10. Januar 1938, zitiert nach dem maschinenschriftlichen Original in der Akte Horváth im Deutschen Bundesarchiv, R 9361 V/ 6585. Das Gesuch wurde dann an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda weitergeleitet. Dessen positiver Bescheid datiert auf den 7. März 1938. Vgl. auch Krischke 1984 (Anm. 36), S. 248–255, wo der Schriftverkehr der Geheimen Staatspolizei mit der Reichsschrifttumskammer sowie ein Auszug aus der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ vom 31. Dezember 1938 abgedruckt sind, auf der sowohl Jugend ohne Gott als auch Ein Kind unserer Zeit enthalten ist. Vgl. weiters KW 13, S. 159, Horváth 1998b, S. 168, Horváth 2009a, S. 183 und Horváth 2010, S. 52. Noch 1938 erschienen die ersten tschechischen, polnischen und niederländischen Übersetzungen des Romans und wurden die Übersetzungsrechte für das Schwedische und das Dänische verkauft; vgl. Anm. 25. Horváth 2009a, S. 175. Klaus Kastberger und Evelyne Polt-Heinzl weisen in ihrem Nachwort zur Reclam-Ausgabe des Romans darauf hin, dass Horváth keineswegs von Beginn des nationalsozialistischen Regimes an ein glühender Antifaschist war (vgl. ebd., S. 175f.). Dies belegt vor allem die Fülle an Interpretations- und Didaktisierungsliteratur, die es zu dem Roman gibt, aber auch die große Zahl an Leseausgaben, die seit der Gemeinfreiheit des Autors im Jahr 2009 erschienen sind. Vgl. Horváth 2009a, S. 185 und anders: Juliane Eckhart: „Jugend ohne Gott“ im Literaturunterricht. In: Krischke 1984 (Anm. 36), S. 198–221, hier S. 198f. Vgl. Horváth 2010, S. 54f. Hier werden auch die intensiven Kontakte Horváths zu Hollywood dargestellt. Horváth erwog in seinen letzten Lebensmonaten eine Auswanderung in die USA, die sich auch im Titel seines letzten Romanprojekts Adieu, Europa! widerspiegelt (vgl. ebd., S. 52).

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váths Tod auf den Champs-Elysées verunmöglichte weitere Gespräche und konkrete Planungen. Der Roman wurde schließlich 1969 unter dem Titel Nur der Freiheit gehört unser Leben von Eberhard Itzenplitz für das Fernsehen verfilmt, mit Heinz Bennent in der Rolle des Lehrers. 1970 lief der Spielfilm Wie ich ein Neger wurde von Roland Gall mit Gerd Baltus als Lehrer an. 1991 wurde der Roman unter dem Originaltitel von Michael Knof neuerlich für das Fernsehen verfilmt, mit Ulrich Mühe in der Rolle des Lehrers. Zuletzt drehte die französische Regisseurin Catherine Corsini 1996 eine Adaption des Romans unter dem Titel Jeunesse sans Dieu. In der literaturwissenschaftlichen Rezeption ist der Roman trotz seiner Popularität beim breiten Lesepublikum nicht unumstritten. Bereits Ulf Birbaumer hat auf die Nähe von Jugend ohne Gott zum Dramenfragment Der Lenz ist da! hingewiesen und kommt dabei zu dem doch einigermaßen überraschenden Ergebnis, dass „die Form des Dramas, die knappen, konzisen Dialoge dem Hauptthema, dem Leben (vor allem der Jugend) im faschistischen Staat […] und der kritischen Grundhaltung des Autors adäquater zu sein [scheinen]“.70 Die Dramenform zwinge Horváth, „von seiner eigenen Person zurückzutreten, sein mögliches Denken und Handeln auf mehrere Bühnenfiguren aufzuteilen, Kritik aus größerer Distanz zu üben, ohne dabei an Schärfe zu verlieren“71. Ähnliches hatte schon Rudolf Jakob Humm in seiner Besprechung von 1938 vermutet: Es ist möglich, dass sie [die Geschichte; Anm.] lebendig würde, wenn sie als Drama aufgebaut worden wäre. Dann würde also der Schauspieler durch seine Kunst der Vermenschlichung der Zuträger einer Erschütterung werden, die wir so nicht erleben.72

Alan Bance weist jedoch darauf hin, dass der Roman ohnehin wie ein Drama funktioniere, da der Ich-Erzähler („narrator-hero“) als moralischer Handlungsträger („moral agent“) agiere, der bewusste Entscheidungen zwischen seinen Handlungsschritten treffe, während die Figuren in den Volksstücken meist nur passiv auf die Zwänge des Kollektivs und die Fügungen des Schicksals reagieren würden.73 Außerdem trage die Einbettung der Gerichtshandlung in den Kontext des Romans wesentlich zu dessen Dramatisierung bei.74 Insgesamt reibt sich die Literaturwissenschaft aber weniger an ästhetischen Fragen, sondern vor allem an der Moral des Textes. Der Roman Jugend ohne Gott wird generell als deutlichster Ausdruck einer im Spätwerk wahrnehmbaren Moralisierung und religiösen Wende des Autors gesehen, in der vor allem der Schuld-Begriff eine ganz zentrale Rolle spiele.75 Wolfgang Müller-Funk sieht jedoch „in der Hinwendung 70

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Ulf Birbaumer: Trotz alledem: die Liebe höret nimmer auf. Motivparallelen in Horváths „Der Lenz ist da!“ und „Jugend ohne Gott“. In: Krischke 1984 (Anm. 36), S. 116–128, hier S. 116. Ebd. Humm 1938 (Anm. 61), S. 649. Vgl. Alan Bance: The overcoming of the collective: „Jugend ohne Gott“ as drama. In: Sprachkunst, XIX. Jg./1988, 2. Halbband, S. 137–147, hier S. 137. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. Jürgen Schröder: Das Spätwerk Ödön von Horváths. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 125–155, hier S. 125 und 150 und Peter Baumann: Ödön von Horváth: „Jugend ohne Gott“ – Autor mit Gott? Bern [u.a.]: Peter Lang 2003, S. 243–314 sowie meine Ausführungen zum Schauspiel Der jüngste Tag im Vorwort in WA 10, S. 11f.

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zu religiösen Problemen“ keine „wie auch immer geartete ‚Regression‘“ des Autors, sondern „viel eher den Versuch einer Vertiefung ethisch-moralischer Probleme, die bereits in seinen frühen Stücken – oft latent – angelegt war“76. Die häufige Verwendung von Bibelzitaten, wie sie sich bei Horváth auch schon in den Volksstücken findet, stellt den Roman in einen deutlichen Bezug zum biblischen Intertext. Dies wird noch gesteigert durch eine biblisch geprägte und fallweise neu adaptierte Bildlichkeit, am deutlichsten im Bild von der Sintflut (bei Horváth „Sündflut“, K/TS2/Horváth 1938a, S. 13 und 111), wie es schon im zweiten Kapitel „Es regnet“ (ebd., S. 11–14) zum ersten Mal zum Einsatz kommt, oder im quasi-mythischen Liebespaar ,Adam’ Z und Eva (ebd., S. 85).77 Peter Baumann glaubt die Überwindung einer im Frühwerk meist fatalistisch gesteuerten Entwicklung vor allem durch den Wahrheitsbegriff erkennen zu können, der für ihn wesentlich religiös geprägt ist.78 Auf die Kette der Wahrheitszeugung („infectious truth“79) im Roman, die vom Lehrer ausgeht, der damit ganz entscheidend zur Wahrheitsfindung beiträgt und zum moralischen Vorreiter avanciert, hat Bance hingewiesen. Er sieht auch einen wesentlichen ästhetischen und ideologischen Fortschritt darin, dass der Lehrer nicht mehr vom Bildungsjargon verformt ist, sondern in einer Art von Bilingualismus zwischen seiner authentischen Sprechweise und dem Jargon des faschistischen Systems und der von ihm sprachlich deformierten Kleinbürger und Jugendlichen wechseln kann. Damit ist er aber nicht länger „object“ sozialer Prozesse wie die Figuren in Horváths frühen Stücken, sondern deren „subject“80. Diese Entwicklung werde auf struktureller Ebene durch die Linearität der Handlungsführung gespiegelt, die im Gegensatz stünde zum Episodischen und zur Zirkularität in den Volksstücken.81 So führe der Weg des Romans zur Selbsterkenntnis des Lehrers und zu einer Form von Spiritualität, die die Schranken seiner (kleinbürgerlichen) Herkunft überwinde.82 Dass sich der Lehrer auf diesem Weg der inneren Wandlung wiederholt mit dem Bösen arrangiert, dass er sich mit dem Bösen in sich selbst konfrontieren muss, ist eine der stärksten Aporien des Buches.83 Psychoanalytisch geprägte Untersuchungen bemerken diesbezüglich, dass „Henker“ und „Verbrecher“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 204), Lehrer und T, im Lauf des Romans fast zu „Doppelgänger“84-Figuren verschwimmen, oder, anders gesagt: dass T wie eine „Ich-Abspaltung“85 der Lehrer-Figur erscheint, die sich in ihm mit den „bösen, zu bestrafenden Ich-Anteile[n]“86 auseinandersetzen muss. Den stärksten Disput gibt es freilich um den Begriff „Gott“, den Horváth verwendet und über dessen Bedeutung die literaturwissenschaftliche Forschung höchst uneins ist. Während die einen Horváth eine genuine religiöse Bekehrung unterstel-

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Müller-Funk 1984 (Anm. 36), S. 159. Vgl. Horváth 2009a, S. 187. Vgl. Baumann 2003 (Anm. 75), S. 243. Bance 1988 (Anm. 73), S. 137. Vgl. ebd., S. 140. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 140f. und Müller-Funk 1984 (Anm. 36), S. 164f. Vgl. Müller-Funk 1984 (Anm. 36), insbesondere S. 160–167. Ebd., S. 171 und Schröder 1981 (Anm. 75), S. 136. Horváth 2009a, S. 192. Schröder 1981 (Anm. 75), S. 136.

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len,87 versuchen die anderen den Begriff „Gott“ bei Horváth als eine Art Schibboleth aufzulösen, das keine theologischen Implikationen im eigentlichen Sinne habe, sondern lediglich dem Bedürfnis nach einer ungewöhnlichen, „gewaltigen“88 Benennung moralischer Kategorien wie dem menschlichen Gewissen89, der Gerechtigkeit und der Wahrheit diene.90 Eine Nähe von Horváths Gotteskonzept zu Heideggers Existentialphilosophie ortet Bossinade, sieht sie doch im Wort „Gott“ ein „literarisches Kürzel für jene Möglichkeit, die Heidegger als ‚eigentliches Selbstsein‘ umschrieb.“91 Dass Jugend ohne Gott ein antifaschistischer Roman sei, hatte schon Humm in seiner Rezension von 1938 bezweifelt und ihn damit mit einem schweren Verdikt belastet. Auch Wolf Kaiser versieht dieses Etikett im Titel92 seines Aufsatzes zunächst bewusst mit Fragezeichen, kommt dann aber zu dem Schluss, dass Horváths Roman sehr wohl zwei wesentliche Themen antifaschistischer Literatur gestalte: die ideologische und moralische Deformierung der Jugend im Faschismus (andeutungsweise auch ein Widerstandspotential) und die Überwindung opportunistischer Anpassung an den Faschismus.93

Außerdem verweist er auf Klaus Manns Nachruf auf Horváth – erschienen im Neuen Tage-Buch –, der mit dem Hinweis auf die „Anständigkeit“ und „Moral“ des Autors sowie auf sein „Schauder[n]“ „vor dem Bösen“ im Dritten Reich eine veritable „Replik“ auf Humms Rezension in Maß und Wert darstelle.94 Müller-Funk sieht in der im Buch dargestellten Diktatur sowohl direkte Anspielungen auf die NS-Diktatur als auch ein „fiktives Modell“95 für jegliche Form autoritärer Herrschaft. Und er bescheinigt Horváths „Gesellschafts- und Zeitkritik“, dass sie „mehr von einem ethischen denn von einem objektivistisch-geschichtsphilosphischen Standpunkt aus erfolg[e]“96, eine Haltung, die er schon in seinem frühen Stück Sladek oder Die schwarze Armee (1928) zu erkennen glaubt. Insgesamt attestiert er jedoch den beiden Romanen des Exils, Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit, einen „gewaltigen literarischen Fortschritt“97 gegenüber den Volksstücken. Sie seien „Beleg für die Überwindung einer literarischen Schaffenskrise“ des Autors, „die zeitlich ungefähr von 1933–1936 anzusetzen wäre“98. Diese Weiterentwicklung zeige sich auf mehreren Ebenen:

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Vgl. Baumann 2003 (Anm. 75) und Stefan Heil: Die Rede von Gott im Werk Ödön von Horváths. Ostfildern: Schwabenverlag 1999. Bance 1988 (Anm. 73), S. 141. Diesen Ausdruck übernimmt Bance von Elias Canetti. Vgl. weiter oben die Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung (Anm. 58). Vgl. Bance 1988 (Anm. 73), S. 141–143. Als Gegensatz zum durchaus laizistischen Gottesbegriff des Lehrers führt Bance in überzeugender Weise den theologisch vollkommen verbildeten Pfarrer an, der überdies vor dem „status quo“ kapituliert habe. Vgl. auch Müller-Funk 1984 (Anm. 36), S. 170. Johanna Bossinade: „Verloren, was ich niemals besessen hab“. Ödön von Horváths Exilromane. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 74–97, hier S. 87. Vgl. Anm. 41. Kaiser 1984 (Anm. 41), S. 62. Vgl. ebd., S. 63. Müller-Funk 1984 (Anm. 36), S. 160. Ebd., S. 163. Ebd., S. 159. Ebd.

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in der literarischen Verdichtung durch eine ebenso konsequente wie originelle Bildhaftigkeit, in der Miteinbeziehung des poetischen Subjektes in den Prozeß ästhetischer Wahrnehmung, in der Mehrschichtigkeit der Sinnebenen und gleichzeitig in der Verallgemeinerbarkeit der Aussage, die freilich mit einer Distanzierung und Verfremdung der empirisch-„realen“, historischen Welt einhergeht.99

Mit dem Roman Jugend ohne Gott hat Horváth zweifellos eine Position gegenüber dem Dritten Reich gefunden, die ihn moralisch und politisch rehabilitierte, ist doch in seiner auch autobiographisch zu lesenden Lehrerfigur – wie zumindest in einem Teil der Schüler – zunächst Unterwerfung unter die beschränkenden Gesetze und Vorschriften der „reichen Plebejer“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 14) merkbar, die schließlich in Opposition und Aufbegehren gegen sie übergeht.100 Dass indes die Lehrerfigur in ihrer Integrität nicht über jeden Zweifel erhaben ist, und deshalb nur bedingt als antifaschistische Modellfigur taugt, darauf haben Klaus Kastberger und Evelyne Polt-Heinzl hingewiesen.101 Dies dürfte wohl auch damit zu tun zu haben, dass Horváth mit Jugend ohne Gott in gewisser Weise auch seine eigene Entwicklung zwischen 1933 und 1937 nachgezeichnet hat, wie sein Spätwerk generell verstärkt autobiographische Züge trägt.102

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Ebd. Vgl. Horváth 2009a, S. 192f. Vgl. ebd., S. 189–191. Vgl. das Vorwort in WA 8, S. 19f.

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Vorarbeit 1: Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit – in sieben Bildern

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Strukturplan in vier Bildern

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Strukturplan in vier Bildern

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Strukturplan in vier Bildern (Fortsetzung)

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Strukturplan in vier Bildern (Fortsetzung)

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Strukturplan in vier Bildern (Fortsetzung)

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Strukturpläne in drei und sieben Bildern

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Strukturpläne in drei und sieben Bildern

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Strukturpläne in sieben Bildern (Fortsetzung) und zwei Akten ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 7

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Strukturpläne in sieben Bildern (Fortsetzung) und zwei Akten

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Figurenliste, Strukturplan, Notiz

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Figurenliste, Strukturplan, Notiz

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Strukturplan in drei Bildern

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Strukturplan in drei Akten

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Strukturplan in vier Akten

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Strukturplan in vier Akten

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Fassung

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얍 B EXPOSÉN B(Skizze)N

ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 1

DER LENZ IST DA! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit in vier Akten von Ödön von Horváth . B

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Erster Akt Waldlichtung. In der Osterzeit. Eine Abteilung junger Mädchen im Alter von 14-17 Jahren marschiert militärische Lieder singend unter Anführung einer Turnlehrerin durch den Wald. Kaum sind sie vorbei, treten zwei Jungen, der eine 14, der andere 15 Jahre alt, hinter einem Gebüsch, wo sie sich versteckt hatten, hervor, sehen den marschierenden Mädchen nach und unterhalten sich über sie. Wir erfahren, dass es Mädchen sind, die über Ostern auf einem Ferienlager im nahen leerstehendem Schloss einquartiert sind. Die beiden Jungen stammen aus dem nahen Dorf, einem kleinem Industrieort mit stillgelegter Fabrik und Heimarbeiterindustrie. In dem Dorf herrscht grosse Not, die beiden Jungen sind richtige Proletarierkinder. Sie legten sich die Spitznamen Capone und Dillinger zu. Nun kommt ein Kamerad von ihnen, der heisst Hannes, ist 16 Jahre alt. Voll Sorge berichtet er, dass unweit auf dem Höhenzug eine Abteilung Jungen aus der Stadt ein Ferienlager errichtet hat, sie kampieren in Zelten. Die Drei sind besorgt, denn sie fürchten nun, durch diese zahlreichen Besucher entdeckt zu werden. Sie sind nämlich auf die schiefe Ebene geraten, verbrecherische Kinder, die zahlreiche kleinere Diebstähle begehen 얍 und die Beute in einer Höhle im Walde verstecken. Sie fürchten nun, dass ihre Höhle entdeckt werden könnte. Während sie nun noch Befürchtungen austauschen, erscheinen einige Jungen aus dem Ferienlager und erkundigen sich nach dem Weg in das Dorf. Hier erfahren wir nun, wie das Dorf aussieht, die soziale Lage der Bewohner, und es kommt bereits der Gegensatz zwischen den Jungen aus der Stadt, die sich eigentlich nur für Sport interessieren, und den verwahrlosten Kindern etwas zum Vorschein . Sie treffen sich nur im Gespräch über die Mädel im Schloss und der Erörterung von Fussballregeln. Einer der Jungen, Peter, 15 Jahre alt, hebt sich charakterlich und vor allem intellektuell deutlich von den Anderen ab. Er ist der Repräsentant des Geistes, des kritischen Intellekts. Er meint, beim Fussball käme es nicht auf die Tore an, sondern darauf, dass schön gespielt werden müsste. Er gerät auch mit allen in Konflikt. Während des Streites kommt einer der Führer des Zeltlagers, der neunzehnjährige Schmidt, eine Sportnatur. Er ist bei den Jungen sehr beliebt, nur gegen Peter hat er eine unbewusste Aversion. In dem Fussballstreit, zuguterletzt zwischen Schönheit und Erfolg, entscheidet er gegen Peter, gegen den Geist. Die Jungen verhöhnen Peter und ab in das nahe Dorf. Peter bleibt mit den drei Verwahrlosten zurück, die ihn ebenfalls auslachen, nur Hannes fühlt eine unbewusste Sympathie für Peter. Nun erscheint Kitty. Kitty ist ein 15jähriges Mädchen aus dem Dorf, und ist die Anführerin der Bande. Sie gibt leise Direktiven Capone und Dillinger und Hannes, die sich rasch entfernen. Sie hatte nämlich etwas ausgekundschaftet, bei einem Bauern, wo gerade niemand B

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1 1 4 4 27 28 35

EXPOSÉN ] (Skizze)N ] BvierN ] BÖdön f HorváthN ] BGegensatz zwischenN ] BVorscheinN ] BerN ] B B

EXPOS[E]|É| \(Skizze)/ [{fünf}] |vier| [O]|Ö|dön von Horv[a]|á|th korrigiert aus: Gegensatz zwischen korrigiert aus: vorschein eingefügt

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ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 2

Fassung

VA1/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

zuhaus ist, dort sollen die drei 얍 etwas stehlen. Die Drei ab. Kitty bleibt mit Peter zurück, von dem sie durch Capone hörte, dass er auf dem Standpunkt steht, es käme nicht auf die Tore an. Es bildet sich leise eine Beziehung zwischen Kitty und Peter. Hannes kommt unerwartet zurück, Peter ab in das Zeltlager. Kitty ist wütend, dass Hannes ihren Auftrag nicht ausführt und merkt dann erst hohnlachend, dass er auf Peter eifersüchtig ist. Sie beruhigt ihn: sie hätte entdeckt, dass Peter eine goldene Uhr habe und sie würde ihm nur deshalb schön tun, und hätte mit ihm nur deshalb für spät abend ein Rendez-vous ausgemacht um ihm die Uhr stehlen zu können. Der Akt schliesst mit einer melancholischen Liebesszene zwischen Kitty und Hannes.

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ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 3

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ZWEITER AKT

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Am Waldrand. Die Mädchen aus dem Ferienlager turnen und treiben Gymnastik unter Leitung der Lehrerin. Die Jungen aus dem Zeltlager marschieren mit Gesang vorbei unter Führung von Schmidt. Schmidt begrüsst die Lehrerin, eine dreissigjährige Sporterscheinung. Dann zieht er weiter. Die Mädchen blicken den Jungen nach, die Lehrerin ruft sie zur Ordnung und es wird nun das Kriegsspiel „verschollenen Flieger suchen“ gespielt. Das Spiel besteht darin, dass die Mädchen auf einem grösserem Gelände ausschwärmen und einen abgestürzten Flieger suchen -- der Flieger wird durch ein grellbemaltes Holz markiert. Die Mädchen und die Lehrerin ab. Die Jungen kommen mit Schmidt 얍 wieder vorbei, sie singen ein Lied von „unsere Feinde schlagen“. Peter singt es nicht mit. Auseinandersetzung Peter und Schmidt. Peter bleibt über den Begriff „Feinde“ moralischer und geistiger Sieger, er fühlt die Sympathien der Jungen auf seiner Seite, aber nun wächst auch der Hass des Schmidt. Die Jungen und Schmidt marschieren ab in das Zeltlager. Es dämmert nun und wird abend. Die verwahrlosten Kinder kommen, sie haben bei dem Bauern eingebrochen und bringen nun ihre armselige Beute nach der Höhle. Sie treffen eine Gruppe Mädchen, die den verschollenen Flieger suchen. Die Mädchen fragen, ob die Kinder nicht ein grellbemaltes Stück Holz gesehen hätten. Sie werden ausgelacht, usw. Gegenüberstellung. Alle ab. Es wird Nacht. Es kommen nun einzelne Liebespaare: Mädchen und Jungen. Schmidt und die dreissigjährige Lehrerin. Frühlingserwachen in unserer Zeit. Auch Peter und Kitty kommen. Er hält ihr Vorträge, er möchte eine Schülerzeitschrift gründen und den menschlichen Geist dazu gebrauchen, um den Armen zu helfen. Es kommt zu einer grossen Liebesszene, Kitty wird seine erste Frau und stiehlt ihm dabei die goldene Uhr. Kitty bleibt allein zurück, denn er muss wieder in das Zeltlager, aus dem er sich heimlich fortgeschlichen hatte. Hannes erscheint und will Kitty die Uhr abnehmen, sie gibt sie ihm nicht, er verhaut sie. B

7–8 13 40

und f ausgemachtN ] ZWEITER AKTN ] BKittyN ]

N

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\und f ausgemacht/

B

korrigiert aus: ZWEITER AKT korrigiert aus: Kittay

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ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 4

Fassung

VA1/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 B DRITTER AKTN Im BZeltlagerN der Jungen. Frühmorgens. Trompetensignal. Angetreten zum BApellN. Schmidt inspiziert die Jungen und fragt ironisch Peter, wo er in der Nacht gewesen 5 sei, ob er sich lyrisch im Mondschein gebadet hätte, usw. Und er verwarnt ihn barsch, die Disziplin des Lagers lasse keine BExtraturenN mehr zu, unter keinen Umständen. Zur Strafe müsse er im Lager BzurückbleibenN und BKartoffelN schälen. Auch die Jungen verhöhnen ihn wieder. Schmidt ab mit den Jungen. 10 Peter allein, schält BKartoffelN, liest dabei ein Buch. Drei Professoren kommen, um das Lager zu inspizieren. Einer gehört der Vorkriegsgeneration an, der zweite war im Krieg, der dritte war nichtmehr im Krieg, erinnert sich aber noch genau an ihn. Sie unterhalten sich über BErziehungsfragen vonN den verschiedenen Zeiten her, vernörgelt, resigniert und optimistisch. Sie reden auch mit 15 Peter und erfahren, dass er strafeshalber Kartoffel schälen muss. Ein Gewitter bricht los und Schmidt und die Jungen kommen schnell zurück. Aber das Gewitter geht rasch vorbei, nimmt eine andere Richtung, es war eigentlich nur B wetterleuchtenN. Schmidt erstattet den Professoren Bericht, auch über BPeter,N wobei es sich bereits herausstellt, dass der dritte BProfessorN als Einziger Sympathien zu Pe20 ter hegt. Während die Jungen nun militärisch abkochen, erscheint ein Gendarm und bringt die goldene Uhr Peters. Man hätte sie bei dem Vater der Kitty, einem alten Säufer, gefunden. 얍 Er hätte es gestanden, dass Kitty die Uhr gestohlen hat. Bei der Auseinandersetzung mit Peter, stellt sich nun sein nächtliches Rendez-vous heraus. Peter bricht 25 nun innerlich zusammen, denn er muss nun sehen, dass die Schicht, der er idealerweise durch seinen Geist helfen wollte, es nicht wert ist, dass man ihr hilft. Schmidt will ihn nun strafexerzieren lassen, dabei fällt aber Peter verzweifelt über Schmidt her -- und plötzlich sind die anderen Jungen auch auf seiner Partei, die Professoren schlichten mit Müh und Not den Streit, Schmidt ist verletzt und Peter flieht. Es steht 30 fest, dass er relegiert wird.

1 2 3 6 7 7 10 13 18 18 19

DRITTER AKTN ] ZeltlagerN ] BApellN ] BExtraturenN ] BzurückbleibenN ] BKartoffelN ] BKartoffelN ] BErziehungsfragen vonN ] BwetterleuchtenN ] BPeter,N ] BProfessorN ] B B

korrigiert aus: DRITTER AKT korrigiert aus: ZEltlager gemeint ist: Appell gemeint ist: Extratouren korrigiert aus: zurüclbleiben korrigiert aus: Kartofel korrigiert aus: Kartofel korrigiert aus: Erziehungsfragen von gemeint ist: Wetterleuchten

Peter[.]|,| Pr[p]|o|fessor

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ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 5

ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 6

Fassung

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VA1/TS1 (Korrekturschicht)

VIERTER AKT

Lesetext

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Vor der Höhle der verwahrlosten Kinder. Kitty berichtet, dass man ihren Vater verhaftet hätte wegen der goldenen Uhr, die er ihr brutal abgenommen hat. Hannes gegen Kitty: sie hätte die Uhr ihm geben sollen. Kitty verschafft sich wieder Autorität, es wird ein Posten ausgestellt. Peter kommt zur Höhle und will Kitty zur Rede stellen. Aber in einer grossen Auseinandersetzung bringt ihn Kitty soweit, dass er schon fast entschlossen ist, zu den Kindern überzugehen, auf die Bahn des Verbrechens. Er hat ja, dünkt ihm, nichtsmehr zu verlieren, da er relegiert wurde. Der Posten kommt und meldet, der Gendarm nähere sich der Höhle. Fieberhaft wird alles, der Eingang und die Spuren, unter Leitung Peters unkenntlich gemacht. Der Gendarm geht 얍 an der Höhle vorbei, nicht ohne misstrauisch stehengeblieben zu sein. Peter kommt wieder hervor und findet sich plötzlich dem dritten Professor gegenüber. Grosse Szene. Der Dritte erklärt ihm, dass er sich für ihn einsetzen werde, es gefalle ihm sein Geist, den die Welt mal brauchen wird und der sich ja nur durch Enttäuschungen entwickeln könnte. Er will ihm Privatunterricht geben und er wird schon die Abschlussprüfung bestehen, auch wenn er heute relegiert worden ist. Peter ist im innersten ergriffen. Der Gendarm kommt wieder, entdeckt die Höhle, und verhaftet die Kinder, allen voran Kitty. Capone und Dillinger beschuldigen Peter, mitgeholfen zu haben, die Höhle unkenntlich zu machen. Sie sagen das, aus Wut, nachdem sie sehen müssen, wie höflich sich der Gendarm Peter gegenüber benimmt und ihm erklärt, dass er nun die Diebe der goldenen Uhr ausfindig gemacht hätte. Kitty nimmt aber Peter energisch in Schutz, sie behauptet, ihre Bande lüge, Peter sei niemals da gewesen. Gendarm ab mit den Kindern, der dritte Professor ab mit Peter. ENDE.

1

B

VIERTER AKTN ]

korrigiert aus: VIERTER AKT

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ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 7

Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 21

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Strukturplan in sieben Bildern

VA1/E15

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Lesetext

Strukturplan, Konfigurationsplan in fünf Szenen

74

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 22

Strukturplan, Konfigurationsplan in fünf Szenen

75

VA1/E16–E17

Lesetext

Strukturpläne, Figurenliste

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 23

76

Strukturpläne, Figurenliste

VA1/E18–E20

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Lesetext

Strukturpläne

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 31

78

Strukturpläne

VA1/E21–E23

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Lesetext

Strukturpläne, Figurenliste, Notiz

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 24

80

Strukturpläne, Figurenliste, Notiz

VA1/E24–E27

81

Lesetext

82

Fragmentarische Fassung des 1. Bildes

VA1/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit. Sieben Bilder. 5 B

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 25

1. Bild. Bauernhaus. C APONE , D ILLINGER, H ANNES . B

N N

C APONE Es ist keiner drinn. Der Bauer ist aufs Feld. Und der Hund ist mit. Nur die Alte ist drinn. Aber die zählt nicht mit. D ILLINGER Warten wir noch, ob sich was rührt. (Stille) C APONE Gleich links, wennst reinkommst, dort hängt der Schinken. Ein so ein Trumm – vorgestern hat er die Sau geschlachtet. Die Kitty hat zugeschaut. D ILLINGER Also packen wirs an – (er geht zur Türe und öffnet sie leise; sie gibt nicht nach) C APONE Zu? D ILLINGER Ja. – (er zieht einen Hacken aus seiner Tasche und versucht zu öffnen) Damit krieg ich alles auf – (er öffnet und ab hinein) H ANNES ( kommt) Fertig? C APONE Gleich. Er ist grad drinn – H ANNES Heiliger Himmel! Der Gendarm! G ENDARM (kommt – er hält plötzlich; zu C APONE ) B

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\Abbruch der Bearbeitung\

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C APONE f H ANNES .N ]

H ANNES N ] keinerN ] BNur f mit.N ] BhängtN ] Bder Schinken.N ] Bvorgestern f zugeschaut.N ] B

hat zugeschaut.N ] ] BHackenN ] BöffnetN ] Bkommt)N ] BH ANNES N ] B N

[U RALTE B ÄUERIN hockt in der Sonne. [Zwei] |C APONE und D ILLINGER kommen.|] [|C APONE , D ILLINGER , H ANNES ,|] |CAPONE f HANNES.| [K I ] |H ANNES | [niemand] |keiner| \Nur f mit./ häng[en]|t| [die Würscht.] |der Schinken.| [die Kitty hats gesehen, er hat gestern geschlachtet.] |vorgestern f zugeschaut.| [hats gesehen.] |hat zugeschaut.| [Zu] gemeint ist: Haken [geh] |öffnet| kommt[)] [|mit|] |)| [D ILLINGER ] |H ANNES |

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N N

Strukturplan in zwei Bildern

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 26

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Strukturplan in zwei Bildern

VA1/E28

85

Lesetext

Strukturpläne

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 27

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Strukturpläne

VA1/E29–E31

87

Lesetext

Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 28

88

Strukturplan in sieben Bildern

VA1/E32

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Lesetext

Strukturplan in sieben Bildern (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 29

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Strukturplan in sieben Bildern (Fortsetzung)

VA1/E32

91

Lesetext

Notizen, Konfigurationspläne

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 30

92

Notizen, Konfigurationspläne

VA1/E33–E34

93

Lesetext

94

Fragmentarische Fassung des 1. Bildes

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VA1/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 1. Bild. Bei einem Bauern. C APONE Er ist noch zuhaus. D ILLINGER Es brennt noch Licht. (Stille) C APONE Jetzt geht er weg. D ILLINGER Und der Hund? C APONE Der bellt nicht. Ich kenn ihn gut. Er heisst Nero und gibt Pfote. D ILLINGER Wo ist der Schrank? C APONE Das dritte Fenster ist offen – D ILLINGER Kusch! G ENDARM (kommt) D ILLINGER Grüss Gott, Herr Kommissar! G ENDARM Grüss Gott! (er lächelt plötzlich) Übrigens: BsagN BDeinemN Vater einen schönen Gruss, die Unterstützung gilt für ihn nicht. C APONE Gut. D ILLINGER Aber für meine Mutter gilt sie doch! Mein Vater ist doch im Krieg gefallen und mein Onkel auch – G ENDARM Ja, für Dich gilt sie – (ab) (Stille) C APONE Möchst Du im Krieg fallen? D ILLINGER Warum nicht? (Stille) C APONE Dem Heimerl Josef sein Vater ist auch gefallen und der kommt in der Nacht als Geist – D ILLINGER Unsinn! C APONE Es ist besser, wenn der Vater gefallen ist, da kriegst eine Rente – aber wir kriegen nichts. Jeder kann sich glücklich preisen, dessen Vater im Krieg gefallen ist – B M ÄDCHEN N B(mit Gesang: guter Kamerad)N \Abbruch der Bearbeitung\

14 14 30 30

sagN ] DeinemN ] BM ÄDCHEN N ] B(mit f Kamerad)N ] B B

[sagts] |sag| [Euerem] |Deinem| korrigiert aus: M ÄDCH [Ich hat] |(mit f Kamerad)|

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ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 30

Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 32

96

Strukturplan in sieben Bildern

VA1/E35

97

Lesetext

Strukturplan in sieben Bildern (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 33

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Strukturplan in sieben Bildern (Fortsetzung)

VA1/E35

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Lesetext

Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 ERSTES BILD

5

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 1

Wald. Hügeliges Land. Wald. Der Lenz ist da und die Sonne scheint. Fünf uniformierte Jungen kommen. Sie sind fünfzehn Jahr alt und heissen P ETER, R OBERT , M AX , A LFRED und R UDOLF . R OBERT Jetzt haben wir uns glücklich verirrt. A LFRED (mit einer Landkarte) Nach der Karte sind wir hier. Aber nach der Karte haben wir uns nicht verirrt -M AX Geh hör auf mit Deiner Karte! A LFRED Nach der Karte sind wir hier -- hier macht der Weg die Krümmung, hier ist der Wald und dort die grosse Lichtung, da drüben der Höhenzug -- dort ist unser Zeltlager. R UDOLF (sieht in seine Karte) Nach meiner Karte sind wir ganz wo anders. Ich habs gleich gesagt, dass wir verkehrt gehen -- aber Ihr müsst es ja besser wissen! A LFRED Und ich bleib dabei: wenn wir jetzt da weiter gehen, kommen wir zum Schloss da müssen wir den Kamin sehen von der stillgelegten Fabrik und dann in den Ort -- es geht nach links! R UDOLF Es geht nach rechts! A LFRED Nach links! R UDOLF Nach rechts, nach rechts, teperter Uhu! P ETER (sieht nach links empor) Schauts mal da hinauf! 얍 Die riesige Höhle! R OBERT (blickt empor) Kalkstein. M AX Sandstein! R OBERT Aber das sieht doch der Blinde, dass das Kalk ist! Die ganze Gegend ist Kalk -- unsere ganze heimatliche Erde hier ist Kalk! M AX Sand. R OBERT Schön. Mit Dir streit ich mich nichtmehr. Du sagst ja auch, dass ein jeder Langstreckenläufer ein Sprinter wär -M AX Bei geeignetem Training! R OBERT Quatsch! M AX Es kommt nur aufs Training an, wenn die inneren Organe fehlerlos funktionieren -- hast Du zum Beispiel die Röntgenaufnahme vom Nurmi seinem Herz gesehen? R UDOLF Also in welcher Richtung gehen wir? Entscheidet Ihrs?! Nach rechts oder links? M AX und R OBERT (zucken die Schultern) A LFRED Ihr habts ja wenig Verantwortungsfreude -M AX (zu A LFRED und R UDOLF ) Wer hat uns denn geführt? Ihr uns oder wir Euch? Wer hat denn da abschneiden wollen? Quer durch den Wald? Ihr oder wir? Du oder ich? B

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NN

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13–14 18 18 22 36 38

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dort f Zeltlager.N ] da f FabrikN ] BFabrikN ] BteperterN ] BrechtsN ] BM AX f R OBERT N ] B B

\dort f Zeltlager./ \da f Fabrik/ korrigiert aus: Fabrik. gemeint ist: depperter korrigiert aus: recht korrigiert aus: M AX und R OBERT

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N

ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 2

Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

P ETER Diese Höhle da droben möcht ich gern mal sehen -R UDOLF Ich möcht jetzt keine Höhle sehen, sondern ich möcht jetzt endlich weiter! In einer Stund müssen wir ja wieder im Lager sein, sonst gibts Krach! P ETER Und ich möcht am liebsten in die Höhle hinauf -- vielleicht könnt man da was entdecken. 얍 R OBERT Es gibt in unserer Heimat nichts unerforschtes mehr -- da musst schon weit wegfahren. M AX Auf den Nordpol. A LFRED Es gibt zwar auch noch in Afrika unerforschte Gebiete -R UDOLF Lächerlich! Ganz Afrika ist durchforscht -A LFRED So? Und die neuen Tiere, die immer noch entdeckt werden? R UDOLF Das sind doch lauter ganz kleine -A LFRED Und das Okapi? R UDOLF Das Okapi? Jetzt hörts mal den an! Der kommt mit dem Okapi daher! Weisst Du, wann das entdeckt worden ist? 1912! Noch vor dem Krieg! In grauer Urzeit! Ist schon garnichtmal mehr wahr! Da waren wir alle noch nicht auf der Welt! -Komm, Peter! Steh da nicht herum und träum von Deine Höhlen! Los, weiter! M AX (boshaft) Nach rechts oder links? R OBERT Losen wir! (er nimmt ein Steinchen) Rechts oder links?! Peter, sag Dus! P ETER Links. R OBERT Erraten! Kommts! B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 3

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얍 B ZWEITES BILD.N

ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 4

Waldlichtung. Der Lenz ist da und die Sonne scheint auf das frische Grün. Eine Gruppe junger M AEDCHEN im Alter von 14-16 Jahren marschiert unter der Leitung einer zirka dreissigjährigen T URNLEHRERIN von rechts nach links vorbei. Sie haben alle dasselbe an, ziehen in soldatischer Ordnung dahin, mit Rucksack, Feldflaschen und genagelte Schuh. B N

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M AEDCHEN (singen) Ich hatt einen Kameraden Einen bessern findts Du nit Die Trommel schlug zum Streite Er ging an meiner Seite Im gleichen Schritt und Tritt Im gleichen Schritt und Tritt.

1 19 21 25 28 31–32

sehen --N ] links!?N ] BErraten!N ] BZWEITES BILD.N ] B N] BRucksack f Schuh.N ] B B

korrigiert aus: sehen korrigiert aus: links! ? korrigiert aus: Erraten. !

[ERSTER] |ZWEITE[R]|S|| [AKT] |BILD| [Die Sonne scheint.] Rucksack\,/ [und] Feldflaschen[,] [und singen.] |und genagelte Schuh.|

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Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Eine Kugel kam geflogen Gilt sie mir oder gilt sie Dir? Ihn hat es weggerissen Er lag zu meinen Füssen Als wärs ein Stück von mir Als wärs ein Stück von mir. (ab nach links -- und hinter einem Gebüsch kommen vorsichtig zwei Jungen hervor; sie 얍 sind ärmlich gekleidet und machen einen verwahrlosten Eindruck. Der Eine nennt sich C APONE und ist dreizehn Jahre alt, der Andere D ILLINGER und ist schon fünfzehn. Nun sehen sie voll tiefer Verachtung den M AEDCHEN nach) C APONE Ein Stück von mir – Da ziehens dahin. Zwanzig Stück von mir – D ILLINGER Heut früh habens gymnastische Uebungen getrieben -- gleich hinterm Schloss. Am Bauch sinds auf der Wiesen gelegen und sind geschwommen und haben gerudert, als wär das Gras ein Wasser -C APONE Das Meer, das Meer! D ILLINGER So einer sollt ich mal allein begegnen, da setzet es was ab. Der hauet ich eine hin, dass sie den Mond singen hört. C APONE Ich tät ihr einen Tritt geben, dass sie bis nach Amerika fliegt -- sowas gehört gleich skalpiert! D ILLINGER Sowas wohnt im Schloss. (Stille) C APONE Neulich war ich im Schloss. Du, das ist von drinnen noch grösser, wie von draussen -- und drei riesige Sääle, die habens als Schlafzimmer eingerichtet für ihr Ferienlager -- und ich der Küch habens Töpf, wie Fässer, und grad wie ich da war, habens ein halbes Kalb gefressen und den halben Keller habens voll Kartoffel -D ILLINGER Wie lang bleiben denn die? C APONE Noch vierzehn Tag. Im ganzen drei Wochen. Ges-얍tern hat sie unser Herr Bürgermeister begrüsst, ich habs gehört, er hat gesagt, das ist sehr schön gerecht, dass auch die weibliche Grossstadtjugend ihre Ferien auf dem Lande verbringt, in Gemeinschaftslagern, so mit dem Gemeinschaftserlebnis -C APONE Was ist das? D ILLINGER Das ist, wenn alle zurselben Zeit dasselbe erleben -- z.B. wenn ich Dir jetzt eine hinhau, dann erlebst es Du und erlebs ich – und der Bürgermeister hat gesagt, da kommt dann unter solchen Voraussetzungen ein tüchtiges Geschlecht heraus, und sie sollen sich nur erholen. Dann habens eine grosse Parade gemacht vor ihm und sind vorbeimarschiert -- und der Steiner Josef hat schwer gegrinst und hat gesagt, die trainieren auf Mutter -C APONE Auf Mutter? B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 5

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1 2 11 11 16 19 23 29 30 32 32–33 36

geflogenN ] giltN ] BEin f mir –N ] BZwanzig f mir –N ] BeinerN ] B N] BSchlafzimmerN ] BweiblicheN ] BGemeinschaftserlebnisN ] BerlebenN ] Bz.B. f ich –N ] BvorbeimarschiertN ] B B

N

korrigiert aus: gefolgen korrigiert aus: gikt

\Ein f mir –/ \Zwanzig f mir –/ korrigiert aus: eine [Da wohnens im Schloss] korrigiert aus: Schla zimmer korrigiert aus: webliche korrigiert aus: Gemeinschaftserlbnis korrigiert aus: erlben \z.B. f ich –/ korrigiert aus: vorbeimarschier t

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B

ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 6

Fragmentarische Endfassung

B

5

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

D ILLINGER Ja. C APONE Wieso? D ILLINGER Geh frag nicht so blöd, blöder Aff! (H ANNES kommt , er ist 16 Jahre alt) D ILLINGER Servus, Hannes! H ANNES Servus. (er sieht sich um) Ich komm grad vom Schloss. Da schau her, was ich gestohlen hab, während die Mädchen weg waren – es waren nur zwei da, die haben im Hof geturnt. (er zeigt seine Beute) Das tragen wir jetzt in die Höhle – die Hemdhose hab ich aus Witz mitgenommen – Wir müssen scharf aufpassen. Die Stunde der Entscheidung naht eventuell. C APONE (ängstlich) Habens wen erwischt? H ANNES Einen Fusskas ! Einen Schmarrn! Aber wisst Ihr schon, wer alles hier in unserer Umgebung seine Ferien verbringt? D ILLINGER Die Gäns im Schloss! H ANNES Das wär noch das Aergste nicht! Nichts ! Aber 얍 vor drei Stund ist eine Abteilung Jungen gekommen, ich hab sie kommen sehen, mit drei Autobussen und die kampieren dort auf dem Höhenzug -H ANNES Höhenzug? H ANNES Ja. Ein Zeltlager habens aufgeschlagen, wie die Indianer -- das passt mir garnicht, könnts Euch denken! Wenn jetzt alles so belebt wird -- die werden da sicher herumspionieren und wenn sie die Höhle entdecken -C APONE (fällt ihm ins Wort) Dann gibts Mord und Totschlag! H ANNES (grinst) Blöder Aff, blöder -(Nun marschieren wieder die M AEDCHEN vorbei mit ihrer T URNLEHRERIN , von links nach rechts) M AEDCHEN (singen) Wenn wir marschieren, ziehen wir zum grünen Tor hinaus Schwarzbraunes Mädel, Du bleibst zuhaus! Ja, drum Mädel Mädel, wink wink wink Unter einer grünen Lialink Sitzt ein kleiner Fink Fink Fink Singt er immer Mädel wink N B

N

B

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B

B N

B

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Und die Vöglein im Walde Die sangen so wunder-wunderschön In der Heimat, in der Heimat Da gibts ein Wiedersehen, ein Wiedersehen! In der Heimat, in der Heimat Da gibts ein Wiedersehen! 4 4 4 6–9 7 8 11 12 15 24–104,10 24

(H ANNES N ] kommtN ] Balt)N ] BIch f mitgenommen –N ] B N] BtragenN ] BwenN ] BFusskasN ] BNichtsN ] B(Nun f denn?N ] BT URNLEHRERIN N ] B B

\(/H ANNES [(]kommt alt[)]|)| \Ich f mitgenommen –/ [Kitt] [T]|t|ragen wen[{}] gemeint ist: Fußkäse korrigiert aus: nichts [(Nun f denn?] korrigiert aus: T URMLEHRERIN

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N

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Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

(ab nach rechts) 얍 H ANNES (zu C APONE und D ILLINGER, die sich versteckt haben hinter einem Gebüsch und nun wieder hervorkriechen) Warum versteckt Ihr Euch denn? Habt Ihr vor den Gänsen Angst? D ILLINGER Angst? Ich tät die alle skalpieren -- ich allein! C APONE Wir sollen uns doch hier in der Nähe nicht zeigen -H ANNES Wer sagt das? C APONE Die Kitty. (Stille) H ANNES So? Wo steckt sie denn? 얍 (Nun kommen P ETER , R OBERT, R UDOLF, M AX und A LFRED ) M AX Da stehen ja welche! He, Ihr! Wo gehts denn da in den Ort? D IE D REI (schrecken etwas zusammen) R OBERT Wos in den Ort geht, wollen wir wissen. H ANNES (zeigt) Da hinunter -A LFRED Also hab ich doch recht gehabt! R OBERT Nein, der Peter! P ETER (lächelt) Ich habs nur erraten -R UDOLF Wie weit ist denn das noch? C APONE Zehn Minuten. D ILLINGER Zehn Minuten? Du laufst das vielleicht, aber mit dem Maul! Es ist eine halbe Stund, eine gute halbe Stund! A LFRED Wenn wir da weitergehen kommen wir doch zur Fabrik -H ANNES Fabrik? A LFRED Nach der Karte -H ANNES Ah, die Ruine. Die gibts schon längst nichtmehr. Die ist stillgelegt und verfallen. Schon seit ich mich erinnern kann -P ETER Aber ich hab doch gelesen, dass Euer Ort eine Fabrikstadt ist und dass alles von der Fabrik lebt. H ANNES (gehässig) Wo hast denn das gelesen? P ETER In einem Verzeichnis. H ANNES (wie vorhin) Soso. (Stille) P ETER Von was lebt Ihr denn jetzt? 얍 H ANNES Was geht das Dich an? A LFRED Aber der fragt doch nur, weil er sich interessiert! Er interessiert sich für die Oeffentlichkeit -- er ist ein grosser Philosoph! H ANNES (misstrauisch) Wer seid Ihr denn? A LFRED Wir sind aus der Stadt und haben dort unser Ferienlager. Ein Zeltlager -gleich hinter dem Höhenzug -P ETER Wos die grosse Höhle gibt -C APONE Die Höhle? M AX Geh hör doch auf mit Deiner Höhle! Immer diese Höhle! B

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2–3 28 29

Gebüsch undN ] dassN ] Blebt.N ] B B

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korrigiert aus: Gebüsch) und korrigiert aus: das korrigiert aus: lebt

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Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

H ANNES (nach einer Pause) Die Höhle -- also diese Höhle, das ist garkeine Höhle -die sieht nur so aus. Es ist nur ein Riss in der Erde und der Stein ist schwarz -das täuscht. P ETER Ich werds mir mal anschauen. H ANNES Das ist nicht ratsam. Es wimmelt dort vor Schlangennestern -- lauter giftige Kreuzottern -R OBERT Jetzt fängts mich an zu interessieren -- auf die Höhle pfeif ich Dir, aber die Schlangen möcht ich sehen -P ETER Ich nicht. R OBERT Bist feig? P ETER Nein. Aber warum soll ich zu giftige Schlangen gehen? M AX Um sie zu erschlagen. P ETER So? Ich erschlag nicht gern -- auch wenns giftig sind. Ausserdem gibts nicht soviel giftige Schlangen und man soll überhaupt keine töten, denn sie 얍 sind sehr nützlich. R UDOLF Jetzt fängt er wieder zu philosophieren an. Ich erschlag jede Schlange, weil mirs vor ihnen graust -- ob nützlich oder nicht nützlich! Ist alles wurscht! Aber jetzt müssen wir endlich weiter -- (zu H ANNES ) Also da runter gehts in den Ort? An Euerer Ruine von einer Fabrik vorbei? C APONE Ja. Zuerst kommt das Schloss, wo das Ferienlager von die Gäns drinn ist -das lasst ihr rechts liegen und dann kommt links die Fabrik und dann seht ihr schon den Ort -M AX Was für Gäns? Was für Ferienlager? D ILLINGER (grinst) Mädchen. Auch aus der Stadt. Ihr habts es gut -- Ferien -R OBERT Ist nur halb so schlimm. Wir arbeiten ja auch, warum sollen wir uns nicht erholen? D ILLINGER Richtig! Ihr müsst Euch erholen -- vom vielen Lernen! (er lacht) Lernen ist keine Arbeit! R UDOLF Und was arbeitets denn Ihr, wenn Euere Fabrik stillgelegt ist, verfallen ist, he? Von der Unterstützung lebt Ihr, was? H ANNES Ich scheiss Dir was auf Deine Unterstützung! Bei uns gibts nur Heimarbeiter -- wir stellen Spielzeuge her, so kleine Puppen -- meine Mutter näht die Röck, mein Vater schnitzt sie, meine Schwester malt sie an -- lauter Prinzessinnen und Prinzen, aber wir gehen in Fetzen -- manchmal hätt ich schon Lust und tät die ganzen Puppen zerhauen! C APONE Ich auch! 얍 P ETER Heimarbeit wird natürlich miserabel bezahlt. Das ist ein hartes Brot. H ANNES Was geht das Dich an? Was kümmert das Dich? M AX (grinst) Aber er fragt ja nur! Er fragt und fragt. Er ist ein grosser Philosoph und interessiert sich für die Oeffentlichkeit -B

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2 16 21 30 33 39 40

derN ] philosophierenN ] BrechtsN ] BUnterstützungN ] BPrinzessinnenN ] Bfragt.N ] Bdie Oeffentlichkeit --N ] B B

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Lesetext

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korrigiert aus: das korrigiert aus: pgilosophieren korrigiert aus: recht korrigiert aus: Unsterstützung korrigiert aus: Prinzessinen korrigiert aus: fragt korrigiert aus: die Oeffentlichkeit --

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Fragmentarische Endfassung

5

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

H ANNES (fixiert P ETER ) Tu nur nicht so, als hättest Mitleid mit uns -- Du gehst in die Schul und hast Ferien! R UDOLF Das ist ein grosser Irrtum! H ANNES Lernen ist keine Arbeit! Ich möcht auch lernen, meinst nicht? M AX Bei uns kann ein jeder lernen. H ANNES Einen Schmarrn! Alles drum und dran, das geht nicht! Wennst nichts zum fressen hast, nützt Dir die Schulgeldbefreiung auch nichts! Da musst schon ein Genie sein! P ETER Da hat er recht. H ANNES Na sixt es! Drum arbeit ich lieber garnix! Wenn ich Puppenkleider näh, krieg ich im Tag fünfzig Groschen, soviel, wie die Unterstützung -P ETER Das ist alles noch ungeregelt. H ANNES Ich arbeit garnix! A LFRED Wenn ein jeder so denken tät! P ETER Dann wärs auch nichts. B

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Lesetext

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XXXXXXX

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얍 B DRITTES BILDN

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Vor dem Schloss, in dem das Ferienlager der Mädchen ist, sie haben ihr Ferienlager. Eine Tafel. „Ferienlager der Mädchengruppe 158“. Die L EHRERIN steht vor dem Schloss und unterhält sich mit dem G ENDARMEN . Ein Mädchen, M ARIA , hält Wache. 25

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L EHRERIN Ich sage Ihnen, Herr Kommissar, es ist eine hochnotpeinliche Sache. G ENDARM Das kann ich Ihnen nachfühlen. L EHRERIN Ich erwarte jeden Tag den Schulrat und die Aufsichtsbehörde, die unsere Ferienlager kontrollieren soll -- und wie steh ich da? Was soll ich tun? G ENDARM Ich muss natürlich pflichtgemäss die Anzeige erstatten und die Untersuchung einleiten -L EHRERIN Ich fürchte ja nur den Skandal und möchte nicht dass irgendetwas passiert -- wissen Sie, vielleicht hat sich nur eine der Mädeln einen dummen Scherz erlaubt -G ENDARM Na erlaubens mal! Das ist kein dummer Scherz mehr! Sie sagen mir, es ist hier jetzt schon zum zweitenmal in der Nacht gestohlen worden -- und die kleinen Ketten und alles, kaum ein Mädel, dem noch nicht was gestohlen worden ist! Und 얍 letzte Nacht ist sogar in den Keller eingebrochen worden, also das ist kein Spass -- sie haben Lebensmittel gestohlen und eine Flasche Spiritus -- -- das lässt sich nicht so im Handumdrehen erledigen -L EHRERIN Vielleicht sollt man mal in den nächsten Nächten Wachtposten aufstellen -- aber grad morgen Nacht haben wir eine Nachtübung -B

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7 10 17 19 32 39

SchulgeldbefreiungN ] sixtN ] BXXXXXXXN ] BDRITTES BILDN ] BnichtN ] B-- dasN ] B B

korrigiert aus: Schuldgeldbefreiung gemeint ist: siehst

\XXXXXXX/ korrigiert aus: DRITTES BILD korrigiert aus: nich korrigiert aus: -- das

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 14

Fragmentarische Endfassung

5

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

G ENDARM Was haben Sie? Nachtübung? Mit den Mädeln? L EHRERIN Ja. Ob Junge oder Mädchen, der Unterschied verschwindet immer mehr. G ENDARM Respekt. L EHRERIN Die Mädchen werden heutzutag auch für das allgemeine Wohl erzogen. Flitter und Tand statt gibts Zucht und Disziplin . Abhärtung und Sport. Glaubt nur ja nicht, dass in einen Krieg nur Ihr Männer ziehen werdet -- wir Frauen ziehen mit. G ENDARM Ich bin garnicht so scharf auf den nächsten Krieg, ich hab noch von dem letzten genug. Aber: um auf unsere Diebstähle zurückzukommen -- es ist klar, wissens, leider wird in unserer Gegend viel gestohlen. Es muss eine richtig organisierte Bande sein -- lauter kleine Diebstähle, aber wir kommen nicht dahinter. Jetzt hab ich schon alles überwachen lassen, aber es geht und geht nicht -- jede verdächtige Person. Wir haben viel Arbeitslose und da gehts halt immer so -- aber man müsst mal radikal einschreiten -얍 L EHRERIN Ohne Pardon! Das sind ja grauenhafte Zustände, wie in Russland -G ENDARM (lächelt) Jaja, so ähnlich -- also dann: verhörens mal alle Ihre Mädchen genau und ich werde einen detaillierten Bericht erstatten an die Kreisstadt -- Habediehre, Fräulein ! (ab) L EHRERIN Guten Tag, Herr Kommissar! (zu M ARIA ) Erinner mich daran, dass ich den Bericht absende -- wer ist in der Küche? M ARIA Die Schmidt und die Seiffert. L EHRERIN Und die Else? M ARIA Sie hat Hausarrest. Sie möcht gern hinausgehen -L EHRERIN Also das gibts nicht. Der Arrest muss eingehalten werden, es war eine grobe Subordination , unwürdig unser -- was hat die zu lesen? Lyrische Gedichte? Sie soll lieber sehen, dass sie im Sport was taugt -- sie hat keine solche Liebesbriefe zu schreiben. M ARIA Ein Liebesbrief ist natürlich etwas dummes. L EHRERIN Wenn sie einen liebt, dann bitte sachlich! Aber über das sind wir hinaus! (ab) M ARIA (allein) E LSE (schleicht leise herbei) Maria, -M ARIA Else! Du bist nicht im Arrest? E LSE Nein. Rasch, bitte, gib den Brief weg -- schick ihn ab! M ARIA Nein. E LSE Aber ja, sonst gibts noch ein grosses Unglück -M ARIA Wieso? E LSE Wenn er den Brief nicht bekommt -- Du es wird eine ganze Ehe zerstört, eine ganze Familie -B

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Lesetext

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N B

DisziplinN ] einenN ] BwerdeN ] BFräuleinN ] B N] BSubordinationN ] BLiebesbriefeN ] BLiebesbriefN ] BUnglück --N ] BerN ] BdenN ] B B

N

korrigiert aus: Sisziplin korrigiert aus: einem korrigiert aus: wer de korrigiert aus: Fraälein gestrichen: we korrigiert aus: Subordanition korrigiert aus: Lienesbriefe korrigiert aus: Liebesnrief korrigiert aus: Unglückeingefügt korrigiert aus: der

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Fragmentarische Endfassung

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VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 M ARIA Das geht nicht. Es geht nicht. E LSE Es passiert was! M ARIA Wer ist er denn? E LSE Ein Mann. M ARIA Doktor Teufel ---- ein Doktor? E LSE Ja. M ARIA Wie alt ist er denn? L EHRERIN (kommt zurück und lauscht) E LSE Er ist verheiratet -M ARIA Verheiratet? Und er betrügt seine Frau? E LSE Sie hat ihn nicht lieb. M ARIA Aber Du ihn? E LSE Ja. Er ist ein älterer Herr, er könnt mein Vater sein -- die Jungen taugen nichts -M ARIA Ich gib den Brief nicht auf. Recht geschiehts ihm. Soll Ber kaputtN gehen, seine Frau betrügen -- lächerlich! Moralbegriffe -E LSE Hast denn Du kein Herz? B M ARIA N Nicht für einen, der gefehlt hat -E LSE Maria! Ich bring mich um, wenn Du den Brief nicht -M ARIA Du bist eine unheilbare Romantikerin! E LSE Du Schwein! L EHRERIN Else! E LSE (erschrickt) L EHRERIN (die alles gehört hat) Was hast Du da? Gib den Brief her -E LSE Nein! L EHRERIN Gib ihn her! (sie reisst ihn ihr weg und besieht die Adresse) Hm. Komm mal her -- Komm! E LSE (nähert sich ihr) 얍 L EHRERIN Du gehst jetzt in die Küche -- und ich werde den Brief aufgeben. E LSE (blickt sie starr an) L EHRERIN Ja. ( BsieN lächelt; streng) Marsch! E LSE (gibt ihr plötzlich einen Kuss und ab) M ARIA Was? Sie hat einen Kuss Ihnen gegeben, diese Gans? L EHRERIN So? Hab ich garnicht bemerkt. -- Maria. Ich möcht Dir nur etwas sagen: man muss auch mit Menschen ein Einsehen haben, die gefehlt Bhaben --N M ARIA Wie können Sie sowas sagen! L EHRERIN Es ist so. Es ist sogar unsere Pflicht. M ARIA Aber das gibts doch nicht! Wir müssen hart sein! L EHRERIN Ja, das müssen wir. (sie steckt den Brief ein) Ich BbinN gleich wieder da -(will ab) M ARIA (boshaft) Sie wollen den Brief aufgeben? L EHRERIN Wie kommst Du darauf? M ARIA Weil das unstatthaft wär. (Stille) 14 17 30 34 38

er kaputtN ] M ARIA N ] BsieN ] Bhaben --N ] BbinN ] B B

korrigiert aus: erkaput korrigiert aus: K ARIA korrigiert aus: soe korrigiert aus: haben -

bi[j]|n|

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 17

Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

L EHRERIN Du hast recht. Ich geb ihn nicht auf, ich hab nur was zu erledigen -(ab) M ARIA (sieht ihr spöttisch nach) M AEDCHEN (kommen -- marschieren mit Gesang zum Schloss ein) M ARIA ( salutiert und schliesst sich an) P ETER, R OBERT , R UDOLF , M AX und A LFRED (kommen) 얍 R OBERT Hier ist das Schloss, das lassen wir rechts liegen -A LFRED Links! R OBERT Rechts, Himmelherrgott! M AX (ergreift plötzlich seinen Arm) Da schau hinein -- schau, Mädchen! R UDOLF Wo? M AX Da drinnen. Sie ziehen sich aus. ALLE (schauen hinein) R UDOLF (lacht) Schau, die Dicke! A LFRED Was ist denn das da? P ETER (erblickt die Tafel) Ferienheim der Mädchengruppe 158 . M AX Sowas! Jetzt sind die auch in unserer Gegend -- gelungen! R OBERT Geh, glotzt doch nicht so! Habts denn noch kein nacktes Mädel gesehen? R UDOLF Zur genüge. M AX Jeden Tag im Bad. A LFRED Aber im Bad ist es etwas anderes, als beim ausziehen -R OBERT Grosser Unterschied! R UDOLF (grinst) Garkeiner! Da schämet ich mich ja grad, wenn mich so ein Mädel aufregen könnt -P ETER Es hat einmal Dichter gegeben, die die weibliche Schönheit besungen haben -M AX Geh lass mich aus mit die Dichter! Findst Du denn die da drinn schön? Schau die Dicke, was die für einen Bauch hat! Und die Xfüss -- na servus! 얍 R UDOLF Das sind überhaupt alles ganz alltägliche Geschichten! P ETER Ich find aber, dass das ganze schon ein grosses Geheimnis ist -R OBERT Geh, geh, geh! Es ist alles ganz klar! Alles sonnenklar! Die Geschlechter ziehen sich an und fertig! Das ist alles, wie ein Butterbrot und sonst nix, eine normale körperliche Funktion -P ETER Das vielleicht schon. M AX „Vielleicht“? Du redst gar, als wärst noch nie mit einem Mädchen gewesen -P ETER Ich? R OBERT Schau, wie er rot wird! R UDOLF Der Herr Philosoph! A LFRED Hör her, Peter! Ich kann Dir verraten -- es ist nichts besonderes dabei. Wirklich, eine überschätzte Sache. Wenn ich eine Zigarette rauch, das ist für mich mehr. M AX Pst! Achtung, die raufen da drinnen! R UDOLF Wo? (er lacht) Feste, feste! B

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gebN ] ] Bsalutiert f an)N ] Baus.N ] B158N ] BkeinN ] BweiblicheN ]

ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 18

B

korrigiert aus: jgeb

B N

[{}] salutiert[)]|und f an)| korrigiert aus: aus . korrigiert aus: 185 korrigiert aus: kei n korrigiert aus: webliche

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 19

Fragmentarische Endfassung

5

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

R OBERT Was ist denn?! A LFRED Sie verprügeln eine -- na servus, das platscht! R OBERT Die blutet schon direkt -P ETER Eine solche Feigheit -- alle gegen eine! R OBERT Also nur nicht sentimental! A LFRED Weiber sind keine Lords. R UDOLF Jetzt haben sie sie rausgeschmissen. Himmel , es wird ja schon finster -kommt! 얍 P ETER Wie kann man da lachen! Wirklich, Ihr seid auch keine Lords! M AX Also nur nicht frech werden! P ETER Sei ruhig! R OBERT Mir wirst nichts sagen, sonst verhau ich Dich! R UDOLF Von mir kannst auch was erleben! P ETER Ihr wollt mich alle verprügeln? R OBERT Warum nicht? -M AX Kommts, lassts ihm! (ab mit R OBERT , R UDOLF und A LFRED ) P ETER (bleibt allein zurück) E LSE (kommt weinend und verprügelt heraus -- sieht sich um und will rasch ab) P ETER Halt! E LSE (zuckt zusammen und hält) P ETER Was ist denn los? E LSE Nichts. (Stille) P ETER Das war eine grosse Gemeinheit, alle gegen eine. E LSE Quatsch! Das ist doch immer so -P ETER Leider. (Stille) E LSE Woher wissens denn das überhaupt? P ETER Man sieht hier durch die Fenster. E LSE So? (sie blickt durch) Sie schauen da zu, wenn wir uns umziehen? P ETER Nein. (Stille) E LSE Die heutige Jugend -P ETER Ich bin etwas anders. Ich hab nur per Zufall hineingeschaut. 얍 E LSE Ich will nichts mit der Jugend zu tun haben. Ein junger Mensch ist nichts, ich brauch einen älteren -P ETER (ab) B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 21

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얍 VIERTES BILD

ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 22

Wiese. Es wird auf ein Tor Fussball gespielt. 45

7 18 24

rausgeschmissen. HimmelN ] verprügeltN ] Beine.N ] B B

korrigiert aus: rausgeschmissen . Himmel korrigiert aus: verprpgelt korrigiert aus: eine

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Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

R OBERT Goal! M AX Kunststück! Unhaltbar wars! R OBERT Nur keine Ausreden! R UDOLF Weiter! P ETER (hat den Ball) A LFRED Du spiel Dich nicht so lang -- gib schon her! Da hast es! M AX (hat den Ball weggekickt) P ETER Es kommt ja garnicht aufs Tor an -R UDOLF Sondern? P ETER Es kommt darauf an, ob mit Geist gespielt wird -- mir ist eine Mannschaft lieber, die keine Tore macht, aber schön spielt -R OBERT Hörts Euch den Blödsinn an!

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S CHMIDT (kommt) Was gibts schon wieder? Natürlich kommts nur auf die Tore an, einzig und allein.

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얍 B FÜNFTESN BILD

ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 23

Einsamer Bauernhof. Landstrasse. Nachmittag. Frühling. Der Wind weht, graue Frühlingswolken ziehen vorbei. Zwei Jungen und ein Mädchen stehen vor dem Haus und betrachten es. Sie sind ärmlich gekleidet und machen einen verwahrlosten Eindruck -- doch das Mädchen sieht etwas gleich. Sie ist fünfzehn Jahre alt und heisst K ITTY. Der eine Junge heisst H ANNES und ist fünfzehn Jahre alt, der andere nennt sich C APONE und ist dreizehn. Sie reden leise und betrachten lauernd den Bauernhof. B

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C APONE Es ist keiner drinn. H ANNES Der Bauer ist auf dem Feld. C APONE Und der Hund? K ITTY Der ist hin. H ANNES Seit wann denn? (lächelt) K ITTY Ich habs erledigt. Ein Zuckerl hab ich ihm gegeben -- er hat sich hingelegt und hat sich im Kreis gedreht und hat gezuckt und hat alle vier von sich gstreckt. (Stille) K ITTY Er liegt hinterm Haus. (Stille) H ANNES Also los: packen wirs an. (er will ans Haus, da rührt sich was drinnen; er hält und zuckt zusammen) Was war denn das? Habts Ihrs gehört? N

B N B

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B N B

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FÜNFTESN ] graueN ] BZwei f dreizehn.N ] B

C APONE N ] C APONE N ] B N] BK ITTY N ] B N] BH ANNES N ] BK ITTY N ] Berledigt. EinN ] B

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[ERSTES] [|VIERTES|] |FÜNFTES| korrigiert aus: garue (1) C APONE , (2) Z WEI J UNGEN , der eine ist dreizehn Jahre alt der (3) Zwei f dreizehn. korrigiert aus: Ca PONE [K ITTY ] |C APONE | [C APONE ] xK ITTY [K ITTY ]f x \H ANNES / [H ANNES ] |K ITTY | korrigiert aus: erledigt. Ein

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Fragmentarische Endfassung

5

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

C APONE Es geht jemand drinn -얍 D IE D REI (lauschen) K ITTY (lächelt plötzlich) Wie blöd wir sind! Das wird die Alte sein -- aber die zählt nicht mit. Die ist ja schon dreiviertel blind -H ANNES Hoffentlich. K ITTY Geh sei nicht feig -H ANNES Ich bin nicht feig. K ITTY So geh doch schon! Gleich links, wennst reinkommst, dort hängt der Schinken, dort ist die Küche -- und der Speck -- pack alles zusammen -- gestern hat er die Sau geschlacht, ich hab zugschaut -- (sie stockt, denn nun erscheint die A LTE in der Türe) D IE A LTE (sieht sich um und schnuppert) (Stille) C APONE (sehr leise) Sie schaut uns an. K ITTY Pst! (Stille) K ITTY Bleibts nur ruhig. Sie kann uns ja nicht sehen! (Stille) D IE A LTE (plötzlich) Ist jemand da? (Stille) D IE A LTE Ist niemand da? (Stille; dann weht der Wind) D IE A LTE (schauert etwas zusammen und geht dann nach rechts ab mit dem Hühnerfutter, sie ruft die Hühner) Tütütü -- tütütü -- (ab hinter das Haus) K ITTY (zu Hannes) Jetzt geh! Sie hat die Tür offen lassen -H ANNES (geht zur Tür und ab ins Haus) 얍 C APONE Heiliger Strohsack! Der Gendarm! K ITTY Wo? C APONE Da -- (er will ab) K ITTY (hält ihn zurück) Halt! C APONE Au! K ITTY Du bleibst, dann fällts nicht auf! C APONE Aber zwicken musst mich doch nicht -G ENDARM (kommt auf seinem Dienstgang; zu K ITTY ) Hör mal, was ich sagen wollte: Dein Vater hat gestern ein Gesuch eingereicht, wegen der Unterstützung. Sag ihm, er soll morgen früh aufs Bürgermeisteramt kommen -- es ist gut dass ich Dich treff, dann erspar ich mir einen Weg -B

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Lesetext

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K ITTY Ich werds ihm sagen. G ENDARM Wie gehts denn der Mutter? K ITTY Schlecht. G ENDARM Hm. K ITTY Der Arzt meint, sie machts nimmer lang. G ENDARM Hja, und das Wetter dazu -- dieses unbeständige -K ITTY Der Vater sagt immer, im Frühjahr, das ist eine gefährliche Zeit -- das Frühjahr holt die alten Leut, und die kranken -9 12

B B

zusammen --N ] schnuppert)N ]

ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 24

korrigiert aus: zusammen schnuppert[,]|)| [geht dann mit]

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 25

Fragmentarische Endfassung

VA1/TS4/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

G ENDARM Hm. Hör mal, Du bist doch schon ein grosses Mädel: schau, dass der Vater nicht soviel sauft, sonst garantier ich für nichts. Er versauft seine ganze Unterstützung -- und es wird bald soweit sein, dass ihn die Gemeinde nichtmehr unterstützt -- -- also Grüss Dich Gott! (ab) 얍 K ITTY Grüss Gott, Herr Gendarm . C APONE Blöder Kerl -K ITTY Ja. Ich bin doch froh, dass mein Vater sauft. Wenn er nicht sauft, sieh ich ihn mehr. Und die Mutter solltens lieber ins Krankenhaus schaffen, als wie zuhaus -wer soll sie denn pflegen? Die stirbt uns noch weg -- -- unter der Hand -B

N

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B

N

B

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\Abbruch der Bearbeitung\

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UnterstützungN ] GendarmN ] BsiehN ] B B

korrigiert aus: Unsterstützung korrigiert aus: Genadram gemeint ist: seh

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ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 26

114

Vorarbeit 2: Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit – Roman

116

Fragmentarische Fassung

5

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VA2/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Gestern kam ein Engel zu mir. Er klopfte an und ich sagte „Herein!“ Ich habe ihn gleich erkannt. „Du willst einen Roman schreiben, hör ich“, sagte der Engel, „und ich hätt eine Idee, einen Stoff, der Dich vielleicht interessieren wird!“ „Natürlich wird mich das interessieren“, sagte ich, „was ist das für ein Stoff? B HistorischN oder heutzutag?“ (Denn offen gesagt, all das, was ich mir da so für einen Roman ausgedacht hab, das gefällt mir eigentlich nicht so recht) „Eigentlich ist es mehr eine BReisebeschreibung.N“ „Heutzutag“, sagte der Engel, „es wär ein BRomanN über die Ideale der Menschheit in unserer BZeit.“N Ich sah den Engel gross an. Die Ideale der Menschheit haben mir noch nie so B richtig zugesagt. UnterN Idealen der Menschheit Bunserer ZeitN konnte ich mir momentan nichts richtiges vorstellen. Der Engel erriet meine Gedanken, es war ja auch nicht Bschwer,N Bdenn unter dem Eindruck seiner Worte sah ich nicht gerade intelligent drein.N„Vorerst“, meinte er, „ist es ja nur ein Einfall, aber es fehlt natürlich noch alles, Handlung, etcetera. Aber ich will Dir gern behilflich sein. Denken wir uns gemeinsam eine Handlung aus. Komm, gehen wir ein bisserl ins Freie, es ist heut der erste schöne Tag, bei Euch hats B jaN jetzt wochenlang Bgeregnet.“N B Gehen wir in den Prater.N B Im Prater stand der Engel vor der Grottenbahn. Er war ein bisserl traurig. „Es muss Dir hier besser gefallen“, sagte er, „ich war ja nie ein Kind. BIchN hab zwar den Vorteil, dass ich nie ein Erwachsener werde.“ Es waren wenig Menschen da. E NGEL Das freut mich, dass wenig Menschen da sind, denn ich hab sie nicht Bgern.N I CH Du musst sie doch lieben? E NGEL Lieben schon, aber gern hab ich sie nicht.N \Abbruch der Bearbeitung\

6 8 9 10 12 12 14 14–15 19 19 20

B

HistorischN ] Reisebeschreibung.N ] BRomanN ] BZeit.“N ] Brichtig f UnterN ] Bunserer ZeitN ] Bschwer,N ] Bdenn f drein.N ] BjaN ] Bgeregnet.“N ] BGehen f Prater.N ]

21–28

B

Im f nicht.N ]

23 26

B

IchN ] gern.N ]

B

B

korrigiert aus: historisch korrigiert aus: Reisebeschreibung

[Stoff] |Roman| korrigiert aus: Zeit“. korrigiert aus: richtig zugesagt. Unter

[\in/] |unserer Zeit| schwer[.]|,| \denn f drein./ korrigiert aus: uja korrigiert aus: geregnet“. [Wo gehen wir denn hin? In den Prater.] |Gehen f Prater.| (1) Da werden jetzt die Buden aufgemacht und wir setzen uns in die Sonne. \Ich hab das gern, denn eigentlich bin ich ja ein Kind./ So ging ich mit dem Engel in den Prater. „Der Gedanke ist mir gekommen“, sagte der Engel, „wie ich jetzt von Berlin hierher nach Wien geflogen bin. Es war ein angenehmer Flug. Die Erde lag so prächtig da. (2) \Im f nicht./ [Das] |Ich| korrigiert aus: gern.“

117

ÖLA 3/W 323 – BS 25 [2], Bl. 1

Fragmentarische Fassung des I. Kapitels

ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 1

118

Fragmentarische Fassung des I. Kapitels



B

5

B

VA2/TS2/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit. Roman.

ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 1

I. Ein unbekannter Dichter. Es ist Nacht und ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Zeilen. Im anderen Zimmer schläft meine Frau. Sie hat nun sicher schon das Licht abgedreht und träumt. Sie hat das „Illustrierte“ gelesen. Meine Frau ist 6 Jahre jünger . Sie kann sich an den Krieg nichtmehr erinnern. Sie ist ein braves Wesen und hält zu mir. Aber sie kennt mich nicht. Ihre Welt dreht sich anderswo. Doch ich will nicht undankbar sein gegen ihre Liebe. Sie versorgt das Haus und das ist viel. B

N

B

N

B

N

B

10

N

N

4–12

B

I. f viel.N ]

5–120,10

B

Es f glücklich!N ]

5 6–7

B

istN ] Sie f träumt.N ]

8 9

B

B

B

jünger.N ] dreht sichN ]

(1) I. Ein Lehrer in heutiger Zeit.

Die Zeitung. Das Radio. Ein Besuch aus dem Ausland, der sympathisiert mit den dortigen Zuständen. Er wird wieder kirchlich. Der Brief an die neue Regierung. „Von einem unbekannten Dichter.“ (2) I. f viel. (1) Es f glücklich! (2) Es ist Nacht und ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Zeilen. \Immer, wenn es Nacht ist, denn am Tag hab ich keine Zeit. Ich wollte schon oft ein Tagebuch beginnen, aber ich fand mich nicht wichtig genug. Dass ich es jetzt beginne, ist die Folge der Erkenntnis, [dass ich es nur abschreiben muss.] |dass ich niemanden habe, mit dem ich reden kann.| [Es] |Heut| ist der 27. November 1935. Draussen fällt der Regen [und Sc] |– oder ist[\s/] |es schon| Schnee?| Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, der Sturm heult um mein Haus./ (3) Es ist Nacht und ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Zeilen. \Vor mir ist eine Türe \und/ dahinter ein Zimmer. Dort schläft meine Frau. Sie heisst Anna, wird aber Annerl gerufen. Sie ist blond und lieb, sechs Jahre jünger, wie ich. Ein braves Wesen\,/ [und hält zu] |das zu mir hält.| Sie versorgt das Haus und kocht sehr gut. Ich liebe sie. Oder lieb ich sie nicht? Doch[,]|-| doch, ich liebe sie. Ich könnt ohne ihr nicht leben. Wirklich? Hand aufs Herz! Doch-doch, ich könnt auch ohne ihr leben, aber ich würde sie sehr vermissen \Doch bald vergessen./, ich würd die Gewohnheit vermissen. Denn sie war {mir nie} die Frau – die Frau, die es vielleicht garnicht gibt. Und es ist alles wahr, so wahr mir Gott helfe! Ich glaube nämlich an Gott. Ich glaube, dass es etwas gibt, das uns lenkt. Ich glaube, dass es einen Herrn des Zufalls gibt. Auch das Böse hat seine Schattenseiten. [Und Sch] |Denn Schatten| sind [manchmal] |immer| gut./ (4) Es ist Nacht und [ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Zeilen.] [I]|i|m f glücklich! [sind] |ist| (1) Sie f träumt. (2) \Ich weiss es nicht, ob sie schon schläft, ich weiss nur, [S]|s|ie liegt im Bett. [Sie liegt im Bett] [r]|R|echts, \denn/ links lieg ich. [Dort liegt nun mein Nachthemd und wartet.]/ jünger\./ [als ich.] [ist {du}] |dreht sich|

119

Fragmentarische Fassung des I. Kapitels

VA2/TS2/A1 (Korrekturschicht)

Ich überreiche dies Buch der Öffentlichkeit unserer Zeit. Ich weiss, es wird viel verboten werden, denn es handelt von den Idealen der Menschheit. Ein Lehrer, der Lesen und Schreiben lehrt, von dem handelt es. Es ist ein Buch gegen die geistigen Analphabeten, gegen die, die wohl lesen und schreiben können, aber nicht wissen, was sie schreiben, und nicht verstehen, was sie lesen. Und ich habe ein Buch für die Jugend geschrieben, die heute bereits wieder ganz anders aussieht, als die fetten Philister, die sich Jugend dünken. Aus den Schlacken und Dreck verkommener Generationen steigt eine neue Jugend empor. Der sei mein Buch geweiht! Sie möge lernen aus unseren Fehlern und Zweifeln! Und wenn nur einer dies Buch liebt, bin ich glücklich! B

N

B

B

5

10

Lesetext

N

B

N

B

NN

\Abbruch der Bearbeitung\

2 3 3 4 5–10

handeltN ] von f es.N ] BgeistigenN ] BgegenN ] BUnd f glücklich!N ] B B

[schildert] |handelt| [hat es geschrieb] |von f es.| \geistigen/ [gegen] |gegen| \Und f glücklich!/

120

N

Fassung des 1. Kapitels

VA2/TS2/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 1.

5

ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 2

Es ist tiefe Nacht. Ich sitze in meinem Haus und meine Gedanken werden von der Nacht bewacht. Sie sollen den Tag nicht sehen, denn die Sonne ist hell und froh. Ich soll nur finster sein dürfen und traurig – warum? Liebe Nacht, Du täuschest Dich, noch bin ich jung! B

N

B

B

N

B N

N

B N

10

Für wie alt hältst Du mich denn? Ich werde in zirka zwei Monaten 36 Jahre alt. Ist das alt – oder bin ich noch jung? Manchmal werd ich unsicher, und zwar wenn ich mit Menschen spreche , die mir über den Kopf gewachsen sind, die sich weder an den Weltkrieg noch an das nachher erinnern können. Trotzdem bin ich jung, auch wenn ich mich noch an den Weltkrieg erinnern kann. Liebe Nacht, du kommst alle zwölf Stunden wieder, später im Sommer, früher im 얍 Winter – Du bleibst immer kürzer oder immer länger – aber Deine Finsternis soll mir nichts vormachen, soll mich nicht einlullen in den Schlaf des Nichts, des Ehkeinen-Sinn-habens – ich liebe Dich, Du Nacht – aber alles hat seine Grenzen, seine berechtigten Grenzen. Und ich werde mich freimachen von Deiner Umarmung, ich steh auf aus Deinem Bett und zieh mich an. Wo ist die Sonne? Ich sehe zum Fenster hinaus, es ist trüb. Ich muss das Licht herinnen anzünden, obwohl es Mittag ist. So gehts schon seit langer Zeit, der Nebel will nicht weichen, er hat sich eingehängt. Wann kommt die Sonne? B

N

B

N

B

B

N

N B

N

15

B

N

B

N

B

N

B

20

25

5 6 6 6 8 10 11 11 12 12–13 15–16 16 16 17

sollen denN ] Ich f warum?N ] Bdürfen undN ] B N] B N] B B

zirka f MonatenN ] mitN ] BsprecheN ] BWeltkriegN ] Bnoch f können.N ] Bspäter f Winter N ] BimmerN ] BimmerN ] BSchlafN ] B B

N

[dürfen am] |sollen den| [Aber sie hören nicht au] |Ich f warum?| dürfen[,] |und| [und alt] [Liebe Nacht, Du bist zwar eine schöne Frau, aber Du wirkst nur am Tag, wenn man Dich nicht sehen kann –] [{ku}] |zirka f Monaten| [die] |mit| \spreche/ korrigiert aus: \Welt/Krieg [eri] |noch f können.| im2 Sommer3 später1, im5 Winter6 früher4 \immer/ \immer/ [Scha] |Schlaf|

121

ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 3

Fragmentarische Fassung des I. Kapitels

VA2/TS2/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 I. In tiefer Nacht.

ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 6

B N

5

Ich sitze in meinem Haus und meine Gedanken werden von der Nacht bewacht. Denn während des Tages habe ich keine Zeit für mich. Ich bin ein Lehrer, ein einfacher Lehrer. B

B

N

N

\Abbruch der Bearbeitung\

3 5–6

B N

[Es ist Nacht. Ich liebe die Nacht.]

B

] Denn f Lehrer.N ]

(1) [Sie sollen den Tag nicht sehen, denn die Sonne ist hell

und froh[.] |, und|] |Sollen sie den Tag nicht sehen? Oh nein, sie sollen schon, aber ich habe während des Tages keine Zeit.| Ich \liebe die Nacht, aber ich/ [sehne mich nach dem Licht] |liebe auch den Tag.| [Doch g] [|Aber|] [|Doch|] [es regnet d] [|Der Himmel ist voller \schwarzer/ Wolken, es|] [|Jetzt|] |Heut| regnet \es/ schon [seit [zwei] [|gestern|] [|lang.|] |seit vorgestern.| [Wir haben schon lang keine] |Oder schneit es bereits?| [Wer weiss! Kalt genug wär es ja und es weht ein scharfer Wind.] |Vielleicht| [[Doch noch] |Es| ist [es] |ja \auch/ noch| Sommer. Zwar werden die Tage immer kürzer, aber [der] |das| [Schnee] |Eis| liegt noch weit. Erst muss es noch Herbst werden \mit den stillen Tagen, Tagen,/, bevor [es] |der| Winter [wird] |kommt|. Bevor alles weiss wird. Und dann [kommt der] |wirds wieder| Frühling. Hoffen wir es. Hoffen wir, dass es noch einen Frühling geben wird.] |Ich trete ans Fenster. Nein, [es regnet] |das ist noch kein Schnee.| [Aber] |Aber| es weht [ein] [|der|] |ein| kalter Wind. \Der Barometer vor meinem Fenster steht auf plus zwei. Bald wird es frieren, bald wird alles weiss./ Zwar [sind die] |ist der| Tage noch lang, aber die N[ä]|a|cht[e] w[e]|i|r[den]|d| [schon] immer länger.|

5

B

Zeit f mich.N ]

Ich setze mich wieder an meine[m]|n| [Schreibt] |Tisch| und schreibe weiter. Wo war ich stehengeblieben? Ja, richtig: dort, wo der selige Sedlmeier zu mir gesagt hat: „Lieber Freund, also wenn Du mal recht blöd bist, dann denk an mich!“ (2) [Sollen sie den Tag nicht sehen? Oh nein, sie sollen schon, aber ich habe während des Tages keine Zeit.] |Sollen sie den Tag nicht sehen? [Ist der Tag schöner als die Nacht?] Ich weiss es nicht.| (3) \Denn f Lehrer./ Zeit[. Ich bin] |für mich.|

122

Fragmentarische Fassung des I. Kapitels

VA2/TS2/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 I. In tiefer Nacht.

ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 4

B N

5

Ich sitze in meinem Hause und meine Gedanken werden von der Nacht bewacht. Denn der Tag ist vorbei. Ich sage: in „meinem“ Haus, aber das Haus gehört nicht mir . Es gehört dem Fleischhauer Lorenz Sedlmeier , der es an mich vermietet hat samt dem Garten. Es hat drei Zimmer. Der Fleischhauer hat es mal auf einem seiner Grundstücke für seine einzige Tochter bauen lassen, die aber dann gegen seinen Willen einen Eisenbahner geheiratet hat. Wenn man heut den Fleisch. fragt, warum er es gebaut hat, sagt er, er wüsste das selber nicht, er sei ein Tepp und dgl. Mit mir hat er Glück. Ich bin nur der Mieter. Ich bin ein guter Mieter, denn ich habe eine festbesoldete Anstellung, ich bin ein staatlich angestellter Lehrer und unterrichte bereits seit sieben Jahren an der hiesigen Schule. Unser Ort ist ein kleines Städtchen mit ungefähr 5000 Einwohnern. Ich unterrichte am Gymnasium, es Geschichte und kommen von weitem Umkreis die Kinder her. Ich unterrichte Geographie. Der Fleischhauer Lorenz Sedlmeier , mein Hausherr, ist ein braver Mensch. Er ist grosszügig. Einmal bin ich ihm die Miete schuldig geblieben, drei Monate lang, und er sagte nur: „Von Ihnen krieg ichs sicher, wenn Sies nicht zahlen wollen, wend ich mich an Ihre Behörde, Sie könnens mir ruhig schuldig bleiben!“ B

N

B

N

B

N

B

N B N B

B

N

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N BB

B

NN B

N

N

N

B

B

N

B

B

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N

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B

B

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3

5 6 6–7 7 7 7 8 8 8 8–11 9 9 9 9 9–10 10 11 11 12 12 12 13 13–124,5 14 13 16 18

B N

]

HauseN ] Denn f vorbei.N ] Bsage: f mirN ] BLorenz SedlmeierN ] B N] BhatN ] Bsamt f Garten.N ] B N] BEs f Zimmer.N ] BDer f dgl.N ] BseineN ] BeinzigeN ] BeinzigeN ] BTochterN ] Bgegen f WillenN ] BEisenbahnerN ] Bnicht,N ] BerN ] BMit f Glück.N ] BIch f Mieter.N ] BIchN ] BAnstellung,N ] Bich f Jahren.N ] BUnser OrtN ] BIchN ] B N] BLorenz SedlmeierN ] B B

N

B

B

15

B

N B

B

10

N

N

N

B N

N

[Endlich hab ich Zeit. Nun sitz ich an meinem Tisch in der Ecke und schreibe es nieder, was mir am Herzen liegt. [E] [|Der Tisch steht im Wohnzimmer|] |Endlich hab ich mich aufgerafft, als das niederzuschreiben,|] Haus\e/ \Denn f vorbei./ sage\: in/ „mein\em/“ Haus, aber [es] [|es|] |das Haus| gehört !mir" !nicht". [P. Martin] |Lorenz Sedlmeier| [\nur/] korrigiert aus: hat. \samt f Garten./ [\Vorne sind Blumen, hinten Obstbäume, Gemüse und Blumen./] \Es [ist klei] |hat| [{nur}] drei Zimmer[, eine Küche] |.|/ \Der f dgl./ korrigiert aus: seinen \einzige/ korrigiert aus: einzigen [So]|Tochter| \gegen f Willen/ [Beamten aus einer anderen Stadt] |Eisenbahner| nicht[.]|,| [E]|e|r \Mit f Glück./ \Ich f Mieter./ [Es] |Ich| [Anstellung] |Anstellung,| \ich f Jahren./ [Ich] |Unser Ort| [Wenn] |Ich| [deutsche Sprache,] korrigiert aus: P. Martin

123

Fragmentarische Fassung des I. Kapitels

VA2/TS2/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Ich blieb sie ihm schuldig, aber er wandte sich nicht an die Behörde denn damals war 얍 meine Frau schon krank, und die ist ihm sympathischer wie ich, weil sie immer seine Blutwurst lobt. Ich sage: meine Frau, ich bin nämlich verheiratet, und zwar seit etwas über fünf Jahren. B

B

N

N B

N

B

5

N

N

\Abbruch der Bearbeitung\

1 2 2–3 4

aber f BehördeN ] krank,N ] Bund f lobt.N ] BichN ] B B

\aber f Behörde/ krank[.]|,| [Ich [war] |bin| nämlich verheiratet.] |und die [liebte er,] [|war|] |ist| ihm f lobt.| [d]|ich|

124

ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 5

Konzeption: Jugend ohne Gott – Roman

125

Notizen, Strukturplan in drei Teilen

ÖLA 3/W 333 – BS 40 b Bl. 1

126

Notizen, Strukturplan in drei Teilen

K/E1–E2

127

Lesetext

Fragmentarische Fassung

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 4v

128

Fragmentarische Fassung

K/TS1 (Grundschicht)

얍 Er eilt auf die Mutter zu – Ach, der Vater des T! Er eilt auf die Mutter zu: B„WasN ist los?!“ \Abbruch der Bearbeitung\

3

B

„WasN ]

[„Wa] |„Was|

129

Lesetext

ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 4v

Endfassung

K/TS2 (Grundschicht)



Ö DÖN

VON

J UGEND

5

Lesetext

H ORVÁTH

OHNE

Horváth 1938a, S. 3

G OTT

R OMAN

10

15

20

25

30

35



D IE N EGER 25. März. Auf meinem Tische stehen Blumen. Lieblich. Ein Geschenk meiner braven Hausfrau, denn heute ist mein Geburtstag. Aber ich brauche den Tisch und rücke die Blumen beiseite und auch den Brief meiner alten Eltern. Meine Mutter schrieb: „Zu Deinem vierunddreissigsten Geburtstage wünsche ich Dir, mein liebes Kind, das Allerbeste. Gott der Allmächtige gebe Dir Gesundheit, Glück und Zufriedenheit!“ Und mein Vater schrieb: „Zu Deinem vierunddreissigsten Geburtstage, mein lieber Sohn, wünsche ich Dir alles Gute. Gott der Allmächtige gebe Dir Glück, Zufriedenheit und Gesundheit!“ Glück kann man immer brauchen, denke 얍 ich mir, und gesund bist Du auch, gottlob! Ich klopfe auf Holz. Aber zufrieden? Nein, zufrieden bin ich eigentlich nicht. Doch das ist ja schliesslich niemand. Ich setze mich an den Tisch, entkorke eine rote Tinte, mach mir dabei die Finger tintig und ärgere mich darüber. Man sollt endlich mal eine Tinte erfinden, mit der man sich unmöglich tintig machen kann! Nein, zufrieden bin ich wahrlich nicht. Denk nicht so dumm, herrsch ich mich an. Du hast doch eine sichere Stellung mit Pensionsberechtigung und das ist in der heutigen Zeit, wo niemand weiss, ob sich morgen die Erde noch drehen wird, allerhand! Wie viele würden sich sämtliche Finger ablecken, wenn sie an Deiner Stelle wären?! Wie gering ist doch der Prozentsatz der Lehramtskandidaten, die wirklich Lehrer werden können! Danke Gott, dass Du zum Unterrichtskörper eines Städtischen Gymnasiums gehörst und dass Du also ohne wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden darfst! Du kannst doch auch hundert Jahre alt werden, vielleicht wirst Du sogar mal der älteste Einwohner des Vaterlandes! Dann kommst Du an Deinem Geburtstag in 얍 die Illustrierte und drunter wird stehen: „Er ist noch bei regem Geiste.“ Und das alles mit Pension! Bedenk und versündig Dich nicht! Ich versündige mich nicht und beginne zu arbeiten. Sechsundzwanzig blaue Hefte liegen neben mir, sechsundzwanzig Buben, so um das vierzehnte Jahr herum, hatten gestern in der Geographiestunde einen Aufsatz zu schreiben, ich unterrichte nämlich Geschichte und Geographie. Draussen scheint noch die Sonne, fein muss es sein im Park! Doch Beruf ist Pflicht, ich korrigiere die Hefte und schreibe in mein Büchlein hinein, wer etwas taugt oder nicht. B

40

45

38

B

Geiste.“N ]

N

korrigiert aus: Geiste“.

130

Horváth 1938a, S. 5

Horváth 1938a, S. 6

Horváth 1938a, S. 7

Endfassung

5

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Das von der Aufsichtsbehörde vorgeschriebene Thema der Aufsätze lautet: „Warum müssen wir Kolonien haben?“ Ja, warum? Nun, lasset uns hören! Der erste Schüler beginnt mit einem B: er heisst Bauer, mit dem Vornamen Franz. In dieser Klasse gibts keinen, der mit A beginnt, dafür haben wir aber gleich fünf mit B. Eine Seltenheit, so viele B’s bei insgesamt sechsundzwanzig Schülern! Aber zwei B’s sind Zwillinge, daher das Ungewöhnliche. Auto-얍matisch überfliege ich die Namensliste in meinem Büchlein und stelle fest, dass B nur von S fast erreicht wird – stimmt, vier beginnen mit S, drei mit M, je zwei mit E, G, L und R, je einer mit F, H, N, T, W, Z, während keiner mit A, C, D, I, O, P, Q, U, V, X, Y beginnt. Nun, Franz Bauer, warum brauchen wir Kolonien? „Wir brauchen die Kolonien“, schreibt er, „weil wir zahlreiche Rohstoffe benötigen, denn ohne Rohstoffe könnten wir unsere hochstehende Industrie nicht ihrem innersten Wesen und Werte nach beschäftigen, was zur unleidlichen Folge hätte, dass der heimische Arbeitsmann wieder arbeitslos werden würde.“ Sehr richtig, lieber Bauer! „Es dreht sich zwar nicht um die Arbeiter“ – sondern, Bauer? – „es dreht sich vielmehr um das Volksganze, denn auch der Arbeiter gehört letzten Endes zum Volk.“ Das ist ohne Zweifel letzten Endes eine grossartige Entdeckung, geht es mir durch den Sinn und plötzlich fällt es mir wieder auf, wie häufig in unserer Zeit uralte Weisheiten als erstmalig formulierte Schlagworte serviert werden. Oder war das immer schon so? Ich weiss es nicht. 얍 Jetzt weiss ich nur, dass ich wiedermal sechsundzwanzig Aufsätze durchlesen muss, Aufsätze, die mit schiefen Voraussetzungen falsche Schlussfolgerungen ziehen. Wie schön wärs, wenn sich „schief“ und „falsch“ aufheben würden, aber sie tuns nicht. Sie wandeln Arm in Arm daher und singen hohle Phrasen. Ich werde mich hüten als städtischer Beamter, an diesem lieblichen Gesange auch nur die leiseste Kritik zu üben! Wenns auch weh tut, was vermag der Einzelne gegen Alle? Er kann sich nur heimlich ärgern. Und ich will mich nicht mehr ärgern! Korrigier rasch, Du willst noch ins Kino! Was schreibt denn da der N? „Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul“ – Zu dumm! Also das streich ich durch! Und ich will schon mit roter Tinte an den Rand schreiben: „Sinnlose Verallgemeinerung!“ – da stocke ich. Aufgepasst, habe ich denn diesen Satz über die Neger in letzter Zeit nicht schon mal gehört? Wo denn nur? Richtig: er tönte aus dem Lautsprecher im Restaurant und verdarb mir fast den Appetit. Ich lasse den Satz also stehen, denn was einer 얍 im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen. Und während ich weiterlese, höre ich immer das Radio: es lispelt, es heult, es bellt, es girrt, es droht – und die Zeitungen drucken es nach und die Kindlein, sie schreiben es ab. Nun hab ich den Buchstaben T verlassen und schon kommt Z. Wo bleibt W? Habe ich das Heft verlegt? Nein, der W war ja gestern krank – er hatte sich am Sonntag im Stadion eine Lungenentzündung geholt, stimmt, der Vater hats mir ja schriftlich korrekt mitgeteilt. Armer W! Warum gehst Du auch ins Stadion, wenns eisig in Strömen regnet?

131

Horváth 1938a, S. 8

Horváth 1938a, S. 9

Horváth 1938a, S. 10

Endfassung

5

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K/TS2 (Grundschicht)

Diese Frage könntest Du eigentlich auch an Dich selbst stellen, fällt es mir ein, denn Du warst ja am Sonntag ebenfalls im Stadion und harrtest treu bis zum Schlusspfiff aus, obwohl der Fussball, den die beiden Mannschaften boten, keineswegs hochklassig war. Ja, das Spiel war sogar ausgesprochen langweilig – also: warum bliebst Du? Und mit Dir dreissigtausend zahlende Zuschauer? Warum? Wenn der Rechtsaussen den linken Half überspielt und zentert, wenn der Mittelstürmer 얍 den Ball in den leeren Raum vorlegt und der Tormann sich wirft, wenn der Halblinke seine Verteidigung entlastet und ein Flügelspiel forciert, wenn der Verteidiger auf der Torlinie rettet, wenn einer unfair rempelt oder eine ritterliche Geste verübt, wenn der Schiedsrichter gut ist oder schwach, parteiisch oder parteilos, dann existiert für den Zuschauer nichts auf der Welt, ausser dem Fussball, ob die Sonne scheint, obs regnet oder schneit. Dann hat er alles vergessen. Was „alles“? Ich muss lächeln: die Neger, wahrscheinlich – – ES

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Lesetext

Horváth 1938a, S. 11

REGNET

Als ich am nächsten Morgen in das Gymnasium kam und die Treppe zum Lehrerzimmer emporstieg, hörte ich auf dem zweiten Stock einen wüsten Lärm. Ich eilte empor und sah, dass fünf Jungen, und zwar E, G, R, H, T, einen verprügelten, nämlich den F. „Was fällt Euch denn ein?“ schrie ich sie an. „Wenn Ihr schon glaubt, noch raufen zu müssen, wie die Volksschüler, dann rauft doch 얍 gefälligst einer gegen einen, aber fünf gegen einen, also das ist eine Feigheit!“ Sie sahen mich verständnislos an, auch der F, über den die fünf hergefallen waren. Sein Kragen war zerrissen. „Was hat er Euch denn getan?“ fragte ich weiter, doch die Helden wollten nicht recht heraus mit der Sprache und auch der Verprügelte nicht. Erst allmählich brachte ich es heraus, dass der F den fünfen nichts angetan hatte, sondern im Gegenteil: die fünf hatten ihm seine Buttersemmel gestohlen, nicht, um sie zu essen, sondern nur, damit er keine hat. Sie haben die Semmel durch das Fenster auf den Hof geschmissen. Ich schaue hinab. Dort liegt sie auf dem grauen Stein. Es regnet noch immer und die Semmel leuchtet hell herauf. Und ich denke: vielleicht haben die fünf keine Semmeln und es ärgerte sie, dass der F eine hatte. Doch nein, sie hatten alle ihre Semmeln und der G sogar zwei. Und ich frage nochmals: „Warum habt Ihr das also getan?“ Sie wissen es selber nicht. Sie stehen vor mir und grinsen verlegen. Ja, der Mensch dürfte wohl böse sein und das steht auch schon in der 얍 Bibel. Als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wieder wichen, sagte Gott: „Ich will hinfort nichtmehr die Erde strafen um der Menschen Willen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Hat Gott sein Versprechen gehalten? Ich weiss es noch nicht. Aber ich frage nun nicht mehr, warum sie die Semmel auf den Hof geworfen haben. Ich erkundige mich nur, ob sie es noch nie gehört hätten, dass sich seit Urzeiten her, seit tausend und tausend Jahren, seit dem Beginn der menschlichen Gesittung, immer stärker und stärker ein ungeschriebenes Gesetz herausgebildet hat, ein schönes, männ-

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Horváth 1938a, S. 12

Horváth 1938a, S. 13

Endfassung

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K/TS2 (Grundschicht)

liches Gesetz: Wenn Ihr schon rauft, dann raufe nur einer gegen einen! Bleibet immer ritterlich! Und ich wende mich wieder an die fünf und frage: „Schämt Ihr Euch denn nicht?“ Sie schämen sich nicht. Ich rede eine andere Sprache. Sie sehen mich gross an, nur der Verprügelte lächelt. Er lacht mich aus. „Schliesst das Fenster“, sage ich, „sonst regnets noch herein!“ Sie schliessen es. Was wird das für eine Generation? Eine harte oder nur eine rohe? Ich sage kein Wort mehr und gehe ins Lehrerzimmer. Auf der Treppe bleibe ich 얍 stehen und lausche: ob sie wohl wieder raufen? Nein, es ist still. Sie wundern sich. D IE

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Lesetext

REICHEN

P LEBEJER

Von 10–11 hatte ich Geographie. In dieser Stunde musste ich die gestern korrigierte Schulaufgabe betreffs der kolonialen Frage drannehmen. Wie bereits erwähnt, hatte man gegen den Inhalt der Aufsätze vorschriftsgemäss nichts einzuwenden. Ich sprach also, während ich nun die Hefte an die Schüler verteilte, lediglich über Sprachgefühl, Orthographie und Formalitäten. So sagte ich dem einen B, er möge nicht immer über den linken Rand hinausschreiben, dem R, die Absätze müssten grösser sein, dem Z, man schreibt Kolonien mit e und nicht Kolonihn mit h. Nur als ich dem N sein Heft zurückgab, konnte ich mich nicht zurückhalten: „Du schreibst“, sagte ich, „dass wir Weissen kulturell und zivilisatorisch über den Negern stehen, und das dürfte auch stimmen. Aber Du darfst 얍 doch nicht schreiben, dass es auf die Neger nicht ankommt, ob sie nämlich leben könnten oder nicht. Auch die Neger sind doch Menschen.“ Er sah mich einen Augenblick starr an und dann glitt ein unangenehmer Zug über sein Gesicht. Oder hatte ich mich getäuscht? Er nahm sein Heft mit der guten Note, verbeugte sich korrekt und nahm wieder Platz in seiner Bank. Bald sollte ich es erfahren, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Bereits am nächsten Tage erschien der Vater des N in meiner Sprechstunde, die ich wöchentlich einmal abhalten musste, um mit den Eltern in Kontakt zu kommen. Sie erkundigten sich über die Fortschritte ihrer Kinder und holten sich Auskunft über allerhand, meist recht belanglose, Erziehungsprobleme. Es waren brave Bürger, Beamte, Offiziere, Kaufleute. Arbeiter war keiner darunter. Bei manchem Vater hatte ich das Gefühl, dass er über den Inhalt der diversen Schulaufsätze seines Sprösslings ähnlich denkt wie ich. Aber wir sahen uns nur an, lächelten und sprachen über das Wetter. Die meisten Väter waren älter als ich, einer war sogar ein rich-얍tiger Greis. Der Jüngste ist knapp vor zwei Wochen achtundzwanzig geworden. Er hatte mit siebzehn Jahren die Tochter eines Industriellen verführt, ein eleganter Mensch. Wenn er zu mir kommt, fährt er immer in seinem Sportwagen vor. Die Frau bleibt unten sitzen und ich kann sie von droben sehen. Ihren Hut, ihre Arme, ihre Beine. Sonst nichts. Aber sie gefällt mir. Du könntest auch schon einen Sohn haben, denke ich dann, aber ich kann mich beherrschen, ein Kind in die Welt zu setzen. Nur damits in irgendeinem Krieg erschossen wird! Nun stand der Vater des N vor mir. Er hatte einen selbstsicheren Gang und sah mir aufrecht in die Augen. „Ich bin der Vater des Otto N.“ „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr N“, antwortete ich, verbeugte mich, wie es sich gehört, bot ihm Platz an, doch er setzte sich nicht. „Herr Lehrer“, begann er, „mein Hiersein hat den

133

Horváth 1938a, S. 14

Horváth 1938a, S. 15

Horváth 1938a, S. 16

Endfassung

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Grund in einer überaus ernsten Angelegenheit, die wohl noch schwerwiegende Folgen haben dürfte. Mein Sohn Otto teilte mir gestern nachmittag in heller Empörung mit, dass Sie, Herr Lehrer, eine schier unerhörte Bemerkung fallen gelassen hätten –“ „Ich?!“ 얍 „Jawohl, Sie!“ „Wann?“ „Anlässlich der gestrigen Geographiestunde. Die Schüler schrieben einen Aufsatz über Kolonialprobleme und da sagten Sie zu meinem Otto: Auch die Neger sind Menschen. Sie wissen wohl, was ich meine?“ „Nein.“ Ich wusste es wirklich nicht. Er sah mich prüfend an. Gott, muss der dumm sein, dachte ich. „Mein Hiersein“, begann er wieder langsam und betont, „hat seinen Grund in der Tatsache, dass ich seit frühester Jugend nach Gerechtigkeit strebe. Ich frage Sie also: ist jene ominöse Äusserung über die Neger Ihrerseits in dieser Form und in diesem Zusammenhange tatsächlich gefallen oder nicht?“ „Ja“, sagte ich und musste lächeln: „Ihr Hiersein wäre also nicht umsonst –“ „Bedauere bitte“, unterbrach er mich schroff, „ich bin zu Scherzen nicht aufgelegt! Sie sind sich wohl noch nicht im Klaren darüber, was eine derartige Äusserung über die Neger bedeutet?! Das ist Sabotage am Vaterland! 얍 Oh, mir machen Sie nichts vor! Ich weiss es nur zu gut, auf welch heimlichen Wegen und mit welch perfiden Schlichen das Gift Ihrer Humanitätsduselei unschuldige Kinderseelen zu unterhöhlen trachtet!“ Nun wurd’s mir aber zu bunt! „Erlauben Sie“, brauste ich auf, „das steht doch bereits in der Bibel, dass alle Menschen Menschen sind!“ „Als die Bibel geschrieben wurde, gabs noch keine Kolonien in unserem Sinne“, dozierte felsenfest der Bäckermeister. „Eine Bibel muss man in übertragenem Sinn verstehen, bildlich oder garnicht! Herr, glauben Sie denn, dass Adam und Eva leibhaftig gelebt haben oder nur bildlich?! Na also! Sie werden sich nicht auf den lieben Gott hinausreden, dafür werde ich sorgen!“ „Sie werden für garnichts sorgen“, sagte ich und komplimentierte ihn hinaus. Es war ein Hinauswurf. „Bei Philippi sehen wir uns wieder!“ rief er mir noch zu und verschwand. Zwei Tage später stand ich bei Philippi. Der Direktor hatte mich rufen lassen. „Hören Sie“, sagte er, „es kam hier ein Schreiben von der Aufsichtsbehörde. Ein gewisser Bäcker-얍meister N hat sich über Sie beschwert, Sie sollen da so Äusserungen fallen gelassen haben – Nun, ich kenne das und weiss, wie solche Beschwerden zustande kommen, mir müssen Sie nichts erklären! Doch, lieber Kollege, ist es meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass sich derlei nicht wiederholt. Sie vergessen das geheime Rundschreiben 5679 u/33! Wir müssen von der Jugend alles fernhalten, was nur in irgendeiner Weise ihre zukünftigen militärischen Fähigkeiten beeinträchtigen könnte – das heisst: wir müssen sie moralisch zum Krieg erziehen. Punkt!“

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Ich sah den Direktor an, er lächelte und erriet meine Gedanken. Dann erhob er sich und ging hin und her. Er ist ein schöner alter Mann, dachte ich. „Sie wundern sich“, sagte er plötzlich, „dass ich die Kriegsposaune blase, und Sie wundern sich mit Recht! Sie denken jetzt, siehe welch ein Mensch! Vor wenigen Jahren noch unterschrieb er flammende Friedensbotschaften, und heute? Heut rüstet er zur Schlacht!“ „Ich weiss es, dass Sie es nur gezwungen tun“, suchte ich ihn zu beruhigen. Er horchte auf, blieb vor mir stehen und 얍 sah mich aufmerksam an. „Junger Mann“, sagte er ernst, „merken Sie sich eines: es gibt keinen Zwang. Ich könnte ja dem Zeitgeist widersprechen und mich von einem Herrn Bäckermeister einsperren lassen, ich könnte ja hier gehen, aber ich will nicht gehen, jawohl, ich will nicht! Denn ich möchte die Altersgrenze erreichen, um die volle Pension beziehen zu können.“ Das ist ja recht fein, dachte ich. „Sie halten mich für einen Zyniker“, fuhr er fort und sah mich nun schon ganz väterlich an. „Oh, nein! Wir alle, die wir zu höheren Ufern der Menschheit strebten, haben eines vergessen: die Zeit! Die Zeit, in der wir leben. Lieber Kollege, wer soviel gesehen hat wie ich, der erfasst allmählich das Wesen der Dinge.“ Du hast leicht reden, dachte ich wieder, Du hast ja noch die schöne Vorkriegszeit miterlebt. Aber ich? Ich hab erst im letzten Kriegsjahr zum erstenmal geliebt und frage nicht, was. „Wir leben in einer plebejischen Welt“, nickte er mir traurig zu. „Denken Sie nur an das alte Rom, 287 vor Christi Geburt. Der Kampf zwischen den Patriziern und Plebejern 얍 war noch nicht entschieden, aber die Plebejer hatten bereits wichtigste Staatsposten besetzt.“ „Erlauben Sie, Herr Direktor“, wagte ich einzuwenden, „soviel ich weiss, regieren bei uns doch keine armen Plebejer, sondern es regiert einzig und allein das Geld.“ Er sah mich wieder gross an und lächelte versteckt: „Das stimmt. Aber ich werde Ihnen jetzt gleich ein Ungenügend in Geschichte geben, Herr Geschichtsprofessor! Sie vergessen ja ganz, dass es auch reiche Plebejer gab. Erinnern Sie sich?“ Ich erinnerte mich. Natürlich! Die reichen Plebejer verliessen das Volk und bildeten mit den bereits etwas dekadenten Patriziern den neuen Amtsadel, die sogenannten Optimates. „Vergessen Sies nur nicht wieder!“ „Nein.“

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Als ich zur nächsten Stunde die Klasse, in der ich mir erlaubte, etwas über die Neger zu sagen, betrete, fühle ich sogleich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Haben die Herren meinen Stuhl 얍 mit Tinte beschmiert? Nein. Warum schauen sie mich nur so schadenfroh an? Da hebt einer die Hand. Was gibts? Er kommt zu mir, verbeugt sich leicht, überreicht mir einen Brief und setzt sich wieder. Was soll das? Ich erbreche den Brief, überfliege ihn, möchte hochfahren, beherrsche mich je-

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doch und tue, als würd ich ihn genau lesen. Ja, alle haben ihn unterschrieben, alle fünfundzwanzig, der W ist noch immer krank. „Wir wünschen nicht mehr“, steht in dem Brief, „von Ihnen unterrichtet zu werden, denn nach dem Vorgefallenen haben wir Endesunterzeichneten kein Vertrauen mehr zu Ihnen und bitten um eine andere Lehrkraft.“ Ich blicke die Endesunterzeichneten an, einen nach dem anderen. Sie schweigen und sehen mich nicht an. Ich unterdrücke meine Erregung und frage, wie so nebenbei: „Wer hat das geschrieben?“ Keiner meldet sich. „So seid doch nicht so feig!“ Sie rühren sich nicht. „Schön“, sage ich und erhebe mich, „es interessiert mich auch nicht mehr, wer das ge-얍schrieben hat, Ihr habt Euch ja alle unterzeichnet – Gut, auch ich habe nicht die geringste Lust, eine Klasse zu unterrichten, die zu mir kein Vertrauen hat. Doch glaubt mir, ich wollte nach bestem Gewissen“ – ich stocke, denn ich bemerke plötzlich, dass einer unter der Bank schreibt. „Was schreibst Du dort?“ Er will es verstecken. „Gibs her!“ Ich nehm es ihm weg und er lächelt höhnisch. Es ist ein Blatt Papier, auf dem er jedes meiner Worte mitstenographierte. „Ach, Ihr wollt mich bespitzeln?“ Sie grinsen. Grinst nur, ich verachte Euch. Hier hab ich, bei Gott, nichts mehr verloren. Soll sich ein Anderer mit Euch raufen! Ich gehe zum Direktor, teile ihm das Vorgefallene mit und bitte um eine andere Klasse. Er lächelt: „Meinen Sie, die anderen sind besser?“ Dann begleitet er mich in die Klasse zurück. Er tobt, er schreit, er beschimpft sie – ein herrlicher Schauspieler! Eine Frechheit wärs, brüllt er, eine Niedertracht, und die Lümmel hätten kein Recht, einen anderen 얍 Lehrer zu fordern, was ihnen einfiele, ob sie denn verrückt geworden seien, usw.! Dann lässt er mich wieder allein zurück. Da sitzen sie nun vor mir. Sie hassen mich. Sie möchten mich ruinieren, meine Existenz und alles, nur weil sie es nicht vertragen können, dass ein Neger auch ein Mensch ist. Ihr seid keine Menschen, nein! Aber wartet nur, Freunde! Ich werde mir wegen Euch keine Disziplinarstrafe zuziehen, geschweige denn mein Brot verlieren – nichts zum fressen soll ich haben, was? Keine Kleider, keine Schuhe? Kein Dach? Würd Euch so passen! Nein, ich werde Euch von nun ab nurmehr erzählen, dass es keine Menschen gibt, ausser Euch, ich will es Euch solange erzählen, bis Euch die Neger rösten! Ihr wollt es ja nicht anders!

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An diesem Abend wollt ich nicht schlafen gehen. Immer sah ich das Stenogramm vor mir – ja, sie wollen mich vernichten. Wenn sie Indianer wären, würden sie mich an den Marterpfahl binden und skalpieren, und zwar mit dem besten Gewissen. Sie sind überzeugt, sie hätten recht. 얍

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Es ist eine schreckliche Bande! Oder versteh ich sie nicht? Bin ich denn mit meinen vierunddreissig Jahren bereits zu alt? Ist die Kluft zwischen uns tiefer als sonst zwischen Generationen? Heut glaube ich, sie ist unüberbrückbar. Dass diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, wär zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. Aber das Schlimmste ist, dass sie es überhaupt nicht kennen lernen wollen! Alles Denken ist ihnen verhasst. Sie pfeifen auf den Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten. Wie gerne würden sie krepieren auf irgendeinem Feld! Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät. Doch halt! Ist es nicht eine grosse Tugend, diese Bereitschaft zum höchsten Opfer? Gewiss, wenn es um eine gerechte Sache geht – Um was geht es hier? „Recht ist, was der eigenen Sippschaft frommt“, sagt das Radio. Was uns nicht 얍 gut tut, ist Unrecht. Also ist alles erlaubt, Mord, Raub, Brandstiftung, Meineid – ja, es ist nicht nur erlaubt, sondern es gibt überhaupt keine Untaten, wenn sie im Interesse der Sippschaft begangen werden! Was ist das? Der Standpunkt des Verbrechers. Als die reichen Plebejer im alten Rom fürchteten, dass das Volk seine Forderung, die Steuern zu erleichtern, durchdrücken könnte, zogen sie sich in den Turm der Diktatur zurück. Und sie verurteilten den Patrizier Manlius Capitolinus, der mit seinem Vermögen plebejische Schuldner aus der Schuldhaft befreien wollte, als Hochverräter zum Tode und stürzten ihn vom Tarpejischen Felsen hinab. Seit es eine menschliche Gesellschaft gibt, kann sie aus Selbsterhaltungsgründen auf das Verbrechen nicht verzichten. Aber die Verbrechen wurden verschwiegen, vertuscht, man hat sich ihrer geschämt. Heute ist man stolz auf sie. Es ist eine Pest. Wir sind alle verseucht, Freund und Feind. Unsere Seelen sind voller schwarzer Beulen, 얍 bald werden sie sterben. Dann leben wir weiter und sind doch tot. Auch meine Seele ist schon schwach. Wenn ich in der Zeitung lese, dass einer von denen umgekommen ist, denke ich: „Zu wenig! Zu wenig!“ Habe ich nicht auch heute gedacht: „Geht alle drauf“? Nein, jetzt will ich nicht weiterdenken! Jetzt wasche ich meine Hände und geh ins Café. Dort sitzt immer wer, mit dem man Schach spielen kann! Nur hinaus jetzt aus meinem Zimmer! Luft! – Die Blumen, die ich von meiner Hausfrau zum Geburtstag bekam, sind verwelkt. Sie kommen auf den Mist. Morgen ist Sonntag. In dem Café sitzt keiner, den ich kenne. Niemand. Was tun? Ich geh ins Kino. In der Wochenschau seh ich die reichen Plebejer. Sie enthüllen ihre eigenen Denkmäler, machen die ersten Spatenstiche und nehmen die Paraden ihrer Leibgarden ab. Dann folgt ein Mäuslein, das die grössten Kat-얍zen besiegt, und dann eine

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spannende Kriminalgeschichte, in der viel geschossen wird, damit das gute Prinzip triumphieren möge. Als ich das Kino verlasse, ist es Nacht. Aber ich geh nicht nach Haus. Ich fürchte mich vor meinem Zimmer. Drüben ist eine Bar, dort werd ich was trinken, wenn sie billig ist. Sie ist nicht teuer. Ich trete ein. Ein Fräulein will mir Gesellschaft leisten. „So ganz allein?“ fragt sie. „Ja“, lächle ich, „leider –“ „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ „Nein.“ Sie zieht sich gekränkt zurück. Ich wollt Ihnen nicht weh tun, Fräulein. Seien Sie mir nicht böse, aber ich bin allein. D AS Z EITALTER

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Als ich den sechsten Schnaps getrunken hatte, dachte ich, man müsste eine Waffe erfinden, mit der man jede Waffe um ihren Effekt bringen könnte, gewissermassen also: das Gegenteil 얍 einer Waffe – ach, wenn ich nur ein Erfinder wäre, was würd ich nicht alles erfinden! Wie glücklich wär die Welt! Aber ich bin kein Erfinder, und was würde die Welt nicht alles versäumen, wenn ich ihr Licht nicht erblickt hätte? Was würde die Sonne dazu sagen? Und wer würde denn dann in meinem Zimmer wohnen? Frag nicht so dumm, Du bist betrunken! Du bist eben da. Was willst Du denn noch, wo Du es garnicht wissen kannst, ob es Dein Zimmer überhaupt geben würde, wenn Du nicht geboren worden wärst? Vielleicht wär dann Dein Bett noch ein Baum! Na also! Schäm Dich, alter Esel, fragst mit metaphysischen Allüren, wie ein Schulbub von anno dazumal, der seine Aufklärung in puncto Liebe noch nicht verdaut hat! Forsche nicht im Verborgenen, trink lieber Deinen siebten Schnaps! Ich trinke, ich trinke – Meine Damen und Herren, ich liebe den Frieden nicht! Ich wünsche uns allen den Tod! Aber keinen einfachen, sondern einen komplizierten – man müsste die Folter wieder einführen, jawohl: die Folter! Man kann nicht genug Schuldgeständnisse erpressen, denn der Mensch ist schlecht! Nach dem achten Schnaps nickte ich dem Pianisten freundlich zu, obwohl mir 얍 seine Musik bis zum sechsten Schnaps arg missfiel. Ich bemerkte es garnicht, dass ein Herr vor mir stand, der mich bereits zweimal angesprochen hatte. Erst beim drittenmal erblickte ich ihn. Ich erkannte ihn sogleich. Er war unser Julius Caesar. Ursprünglich ein geachteter Kollege, ein Altphilologe vom Mädchenlyzeum, geriet er in eine böse Sache. Er liess sich mit einer minderjährigen Schülerin ein und wurde eingesperrt. Man sah ihn lange nicht, dann hörte ich, er würde mit allerhand Schund hausieren, von Tür zu Tür. Er trug eine auffallend grosse Krawattennadel, einen Miniaturtotenkopf, in welchem eine einzige Glühbirne stak, die mit einer Batterie in seiner Tasche verbunden war. Drückte er auf einen Knopf, leuchteten die Augenhöhlen seines Totenkopfes rot auf. Das waren seine Scherze. Eine gestrandete Existenz.

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Ich weiss es nicht mehr, wieso es kam, dass er plötzlich neben mir sass und dass wir in eine hitzige Debatte verstrickt waren. Ja, ich 얍 war sehr betrunken und erinnere mich nur an einzelne Gesprächsfetzen – Julius Caesar sagt: „Was Sie da herumreden, verehrter Kollega, ist lauter unausgegorenes Zeug! Höchste Zeit, dass Sie sich mal mit einem Menschen unterhalten, der nichts mehr zu erhoffen hat und der daher mit freiem Blick den Wandel der Generationen unbestechlich begreift! Also Sie, Kollega, und ich, das sind nach Adam Riese zwei Generationen, und die Lausbuben in Ihrer Klasse sind auch eine Generation, zusammen sind wir also nach Adam Riese drei Generationen. Ich bin sechzig, Sie zirka dreissig und jene Lauser zirka vierzehn. Passt auf! Entscheidend für die Gesamthaltung eines ganzen Lebens sind die Erlebnisse der Pubertät, insbesondere beim männlichen Geschlecht.“ „Langweilens mich nicht“, sagte ich. „Auch wenn ich Sie langweil, hörens mir zu, sonst werd ich wild! Also das oberste und einzigste Generalproblem der Pubertät meiner Generation war das Weib, das heisst: das Weib, das wir nicht bekamen. Denn damals war das noch nicht so. Infolgedessen war unser markantestes Erlebnis jener Tage die 얍 Selbstbefriedigung, samt allen ihren altmodischen Folgeerscheinungen, nämlich mit der, wie sichs leider erst später herausstellen sollte, völlig sinnlosen Angst vor gesundheitsschädigenden Konsequenzen etcetera. Mit anderen Worten: wir stolperten über das Weib und schlitterten in den Weltkrieg hinein. Anlässlich nun Ihrer Pubertät, Kollega, war der Krieg gerade im schönsten Gange. Es gab keine Männer und die Weiber wurden williger. Ihr kamt garnicht dazu, Euch auf Euch selbst zu besinnen, die unterernährte Damenwelt stürzte sich auf Euer Frühlingserwachen. Für Euere Generation war das Weib keine Heilige mehr, drum wird es Eueresgleichen auch nie restlos befriedigen, denn im tiefsten Winkel Euerer Seelen sehnt Ihr Euch nach dem Reinen, Hehren, Unnahbaren – mit anderen Worten: nach der Selbstbefriedigung. In diesem Falle stolperten die Weiber über Euch Jünglinge und schlitterten in die Vermännlichung hinein.“ „Kollega, Sie sind ein Erotomane.“ „Wieso?“ „Weil Sie die ganze Schöpfung aus einem geschlechtlichen Winkel heraus betrachten. Das ist zwar ein Kennzeichen Ihrer Generation, be-얍sonders in Ihrem Alter – aber bleiben Sie doch nicht immer im Bett liegen! Stehen Sie auf, ziehen Sie den Vorhang zur Seite, lassen Sie Licht herein und blicken Sie mit mir hinaus!“ „Und was sehen wir draussen?“ „Nichts schönes, jedoch trotzdem!“ „Mir scheint, Sie sind ein verkappter Romantiker! Ich bitt Sie, unterbrechens mich nicht mehr! Setz Dich! Wir kommen jetzt zur dritten Generation, nämlich zu den heute Vierzehnjährigen: für die ist das Weib überhaupt kein Problem mehr, denn es gibt keine wahrhaften Frauen mehr, es gibt nur lernende, rudernde, gymnastiktreibende, marschierende Ungeheuer! Ist es Ihnen aufgefallen, dass die Weiber immer reizloser werden?“ „Sie sind ein einseitiger Mensch!“ „Wer möchte sich für eine rucksacktragende Venus begeistern? Ich nicht! Jaja, das Unglück der heutigen Jugend ist, dass sie keine korrekte Pubertät mehr hat – erotisch, politisch, moralisch etcetera, alles wurde vermanscht, verpantscht, alles in einen Topf! Und ausserdem wurden zuviele Niederlagen als Siege gefeiert, zu oft

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wurden die innigsten Gefühle der Jugend in Anspruch genommen für 얍 irgendeinen Popanz, während sie es auf einer anderen Seite wieder zu bequem hat: sie müssen ja nur das abschreiben, was das Radio zusammenblödelt, und schon bekommen sie die besten Noten. Aber es gibt auch noch Einzelne, Gottseidank!“ „Was für Einzelne?“ Er sah sich ängstlich um, neigte sich dicht zu mir und sagte sehr leise: „Ich kenne eine Dame, deren Sohn geht ins Realgymnasium. Robert heisst er und ist fünfzehn Jahre alt. Neulich hat er so ein bestimmtes Buch gelesen, heimlich – nein, kein erotisches, sondern ein nihilistisches. Es hiess: ‚Über die Würde des menschlichen Lebens‘ und ist streng verboten.“ Wir sahen uns an. Wir tranken. „Sie glauben also, dass Einzelne von denen heimlich lesen?“ „Ich weiss es. Bei jener Dame ist manchmal ein direktes Kränzchen, sie ist oft schon ganz ausser sich. Die Buben lesen alles. Aber sie lesen nur, um spötteln zu können. Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn. Es kommen kalte Zeiten, das Zeitalter der Fische.“ „Der Fische?“ „Ich bin zwar nur ein Amateurastrolog, aber die Erde dreht sich in das Zeichen 얍 der Fische hinein. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich, wie das Antlitz eines Fisches.“ – – Das ist alles, was ich von der langen Debatte mit Julius Caesar behielt. Ich weiss nur noch, dass er, während ich sprach, öfters seinen Totenkopf illuminierte, um mich zu irritieren. Aber ich liess mich nicht, obwohl ich sinnlos betrunken war. – Dann erwache ich in einem fremden Zimmer. Ich lieg in einem anderen Bett. Es ist finster und ich höre wen ruhig atmen. Es ist eine Frau – aha. Sie schläft. Bist Du blond, schwarz, braun, rot? Ich erinnere mich nicht. Wie siehst Du denn aus? Soll ich die Lampe andrehen? Nein. Schlaf nur zu. Vorsichtig stehe ich auf und trete ans Fenster. Es ist noch Nacht. Ich sehe nichts. Keine Strasse, kein Haus. Alles nur Nebel. Und der Schein einer fernen Laterne fällt auf den Nebel, und der Nebel sieht aus wie Wasser. Als wäre mein Fenster unter dem Meer. Ich schau nicht mehr hinaus. Sonst schwimmen die Fische ans Fenster und schauen herein.

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D ER T ORMANN Als ich morgens nach Hause kam, erwartete mich bereits meine Hausfrau. Sie war sehr aufgeregt. „Es ist ein Herr da“, sagte sie, „er wartet auf Sie schon seit zwanzig Minuten, ich hab ihn in den Salon gesetzt. Wo waren Sie denn?“ „Bei Bekannten. Sie wohnen auswärts und ich habe den letzten Zug verpasst, drum blieb ich gleich draussen über Nacht.“ Ich betrat den Salon. Dort stand ein kleiner, bescheidener Mann neben dem Piano. Er blätterte im Musikalbum, ich erkannte ihn nicht sogleich. Er hatte entzündete Augen. Übernächtig, ging es mir durch den Sinn. Oder hat er geweint? „Ich bin der Vater des W“, sagte er, „Herr Lehrer, Sie müssen mir helfen, es ist etwas entsetzliches passiert! Mein Sohn wird sterben!“

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„Was?!“ „Ja, er hat sich doch so furchtbar erkältet, heut vor acht Tagen beim Fussball im Stadion, und der Arzt meint, nur ein Wunder könnte ihn retten, aber es gibt keine Wunder, Herr Lehrer. Die Mutter weiss es noch garnicht, 얍 ich wagte es ihr noch nicht mitzuteilen – mein Sohn ist nur noch manchmal bei Besinnung, Herr Lehrer, sonst hat er immer nur seine Fieberphantasien, aber wenn er bei Besinnung ist, verlangt er immer so sehr, jemanden zu sehen –“ „Mich?“ „Nein, nicht Sie, Herr Lehrer, er möchte den Tormann sehen, den Fussballer, der am letzten Sonntag so gut gespielt haben soll, der ist sein ganzes Ideal! Und ich dachte, Sie wüssten es vielleicht, wo ich diesen Tormann auftreiben könnt, vielleicht wenn man ihn bittet, dass er kommt.“ „Ich weiss, wo er wohnt“, sagte ich, „und ich werde mit ihm sprechen. Gehen Sie nur nach Hause, ich bring den Tormann mit!“ Er ging. Ich zog mich rasch um und ging auch. Zum Tormann. Er wohnt in meiner Nähe. Ich kenne sein Sportgeschäft, das seine Schwester führt. Da es Sonntag war, war es geschlossen. Aber der Tormann wohnt im selben Haus, im dritten Stock. Er frühstückte gerade. Das Zimmer war 얍 voller Trophäen. Er war sofort bereit, mitzukommen. Er liess sogar sein Frühstück stehen und lief vor mir die Treppen hinab. Er nahm uns ein Taxi und liess mich nicht zahlen. In der Haustür empfing uns der Vater. Er schien noch kleiner geworden zu sein. „Er ist nicht bei sich“, sagte er leise, „und der Arzt ist da, aber kommen Sie nur herein, meine Herren! Ich danke Ihnen vielmals, Herr Tormann!“ Das Zimmer war halbdunkel, und in der Ecke stand ein breites Bett. Dort lag er. Sein Kopf war hochrot und es fiel mir ein, dass er der Kleinste der Klasse war. Seine Mutter war auch klein. Der grosse Tormann blieb verlegen stehen. Also hier lag einer seiner ehrlichsten Bewunderer. Einer von den vielen Tausend, die ihm zujubeln, die am meisten schreien, die seine Biographie kennen, die ihn um Autogramme bitten, die so gerne hinter seinem Tor sitzen und die er durch die Ordner immer wieder vertreiben lässt. Er setzte sich still neben das Bett und sah ihn an. Die Mutter beugte sich über das Bett. „Heinrich“, sagte sie, „der Tormann ist da.“ Der Junge öffnete die Augen und erblickte den Tormann. „Fein“, lächelte er. 얍 „Ich bin gekommen“, sagte der Tormann, „denn Du wolltest mich sehen.“ „Wann spielt Ihr gegen England?“ fragte der Junge. „Das wissen die Götter“, meinte der Tormann, „sie streiten sich im Verband herum, und die oberste Sportbehörde funkt dazwischen! Wir haben Terminschwierigkeiten – ich glaub, wir werden eher noch gegen Schottland spielen.“ „Gegen die Schotten gehts leichter –“ „Oho! Die Schotten schiessen ungeheuer rasch und aus jeder Lage.“ „Erzähl, erzähl!“ Und der Tormann erzählte. Er sprach von berühmtgewordenen Siegen und unverdienten Niederlagen, von strengen Schiedsrichtern und korrupten Linienrichtern. Er stand auf, nahm zwei Stühle, markierte mit ihnen das Tor und demonstrierte, wie er einst zwei Elfer hintereinander abgewehrt hatte. Er zeigte seine Narbe auf der Stirne,

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die er sich in Lissabon bei einer tollkühnen Parade geholt hatte. Und er sprach von fernen Ländern, in denen er sein Heiligtum hütete, von Afrika, wo die Beduinen mit dem 얍 Gewehr im Publikum sitzen, und von der schönen Insel Malta, wo das Spielfeld leider aus Stein besteht – Und während der Tormann erzählte, schlief der kleine W ein. Mit einem seligen Lächeln, still und friedlich. – – – Das Begräbnis fand an einem Mittwoch statt, nachmittags um halbzwei. Die Märzsonne schien, Ostern war nicht mehr weit. Wir standen um das offene Grab. Der Sarg lag schon drunten. Der Direktor war anwesend mit fast allen Kollegen, nur der Physiker fehlte, ein Sonderling. Der Pfarrer hielt die Grabrede, die Eltern und einige Verwandte verharrten regungslos. Und im Halbkreis uns gegenüber standen die Mitschüler des Verstorbenen, die ganze Klasse, alle fünfundzwanzig. Neben dem Grab lagen die Blumen. Ein schöner Kranz trug auf einer gelb-grünen Schleife die Worte: „Letzte Grüsse Dein Tormann.“ Und während der Pfarrer von der Blume sprach, die blüht und bricht, entdeckte ich den N. Er stand hinter dem L, H und F. Ich beobachtete ihn. Nichts rührte sich in seinem Gesicht. 얍 Jetzt sah er mich an. Er ist Dein Todfeind, fühlte ich. Er hält Dich für einen Verderber. Wehe, wenn er älter wird! Dann wird er alles zerstören, selbst die Ruinen Deiner Erinnerung. Er wünscht Dir, Du lägest jetzt da drunten. Und er wird auch Dein Grab vernichten, damit es niemand erfährt, dass Du gelebt hast. Du darfst es Dir nicht anmerken lassen, dass Du weisst, was er denkt, ging es mir plötzlich durch den Sinn. Behalt sie für Dich, Deine bescheidenen Ideale, es werden auch nach einem N noch welche kommen, andere Generationen – glaub nur ja nicht, Freund N, dass Du meine Ideale überleben wirst! Mich vielleicht. Und wie ich so dachte, spürte ich, dass mich ausser dem N noch einer anstarrt. Es war der T. Er lächelte leise, überlegen und spöttisch. Hat er meine Gedanken erraten? Er lächelt noch immer, seltsam starr. Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz. Ein Fisch? 얍

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Vor drei Jahren erliess die Aufsichtsbehörde eine Verordnung, durch welche sie die üblichen Osterferien in gewisser Hinsicht aufhob. Es erging nämlich die Weisung an alle Mittelschulen, anschliessend an das Osterfest die Zeltlager zu beziehen. Unter „Zeltlager“ verstand man eine vormilitärische Ausbildung. Die Schüler mussten klassenweise auf zehn Tage in die sogenannte freie Natur hinaus und dort, wie die Soldaten, in Zelten kampieren, unter Aufsicht des Klassenvorstands. Sie wurden von Unteroffizieren im Ruhestand ausgebildet, mussten exerzieren, marschieren und vom vierzehnten Lebensjahre ab auch schiessen. Natürlich waren die Schüler begeistert dabei, und wir Lehrer freuten uns auch, denn auch wir spielen gerne Indianer.

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Am Osterdienstag konnten also die Bewohner eines abgelegenen Dorfes einen mächtigen Autobus anrollen sehen. Der Chauffeur hupte, als käme die Feuerwehr, Gänse und Hühner flohen entsetzt, die Hunde bellten und alles lief zusammen. „Die Buben sind da! Die Buben aus der Stadt!“ Wir sind um acht Uhr früh 얍 vor unserem Gymnasium abgefahren, und jetzt war es halbdrei, als wir vor dem Gemeindeamte hielten. Der Bürgermeister begrüsst uns, der Gendarmerieinspektor salutiert. Der Lehrer des Dorfes ist natürlich am Platz, und dort eilt auch schon der Pfarrer herbei, er hat sich verspätet, ein runder freundlicher Herr. Der Bürgermeister zeigt mir auf der Landkarte, wo sich unser Zeltlager befindet. Eine gute Stunde weit, wenn man gemütlich geht. „Der Feldwebel ist bereits dort“, sagt der Inspektor, „zwei Pioniere haben auf einem Pionierwagen die Zeltbahnen hinaufgeschafft, schon in aller Herrgottsfrüh!“ Während die Jungen aussteigen und ihr Gepäck zusammenklauben, betrachte ich noch die Landkarte: das Dorf liegt 761 Meter hoch über dem fernen Meere, wir sind schon sehr in der Nähe der grossen Berge, lauter Zweitausender. Aber hinter denen stehen erst die ganz hohen und dunklen mit dem ewigen Schnee. „Was ist das?“ frage ich den Bürgermeister und deute auf einen Gebäudekomplex auf der Karte, am westlichen Rande des Dorfes. „Das ist unsere Fabrik“, sagt der Bürgermeister, 얍 „das grösste Sägewerk im Bezirk, aber leider wurde es voriges Jahr stillgelegt. Aus Rentabilitätsgründen“ – fügt er noch hinzu und lächelt. „Jetzt haben wir viele Arbeitslose, es ist eine Not.“ Der Lehrer mischt sich ins Gespräch und setzt es mir auseinander, dass das Sägewerk einem Konzern gehört, und ich merke, dass er mit den Aktionären und Aufsichtsräten nicht sympathisiert. Ich auch nicht. Das Dorf sei arm, erklärt er mir weiter, die Hälfte lebe von Heimarbeit mit einem empörenden Schundlohn, ein Drittel der Kinder sei unterernährt – „Jaja“, lächelt der Gendarmerieinspektor, „und das alles in der schönen Natur!“ Bevor wir zum Zeltlager aufbrechen, zieht mich noch der Pfarrer beiseite und spricht: „Hörens mal, verehrter Herr Lehrer, ich möchte Sie nur auf eine Kleinigkeit aufmerksam machen: anderthalb Stunden von Ihrem Lagerplatz befindet sich ein Schloss, der Staat hats erworben, und jetzt sind dort Mädchen einquartiert, auch so ungefähr im Alter Ihrer Buben da. Und die Mädchen laufen auch den ganzen Tag und die halbe Nacht umher, passens ein bisschen auf, dass mir keine Klagen kommen“ – er lächelt. „Ich werde aufpassen.“ 얍 „Nichts für ungut“, meint er, „aber wenn man fünfunddreissig Jahre im Beichtstuhl verbracht hat, wird man skeptisch bei anderthalb Stund Entfernung.“ Er lacht. „Kommens mal zu mir, Herr Lehrer, ich hab einen prima neuen Wein bekommen!“ – Um drei Uhr marschieren wir ab. Zuerst durch eine Schlucht, dann rechts einen Hang empor. In Serpentinen. Wir sehen ins Tal zurück. Es riecht nach Harz, der Wald ist lang. Endlich wird es lichter: vor uns liegt die Wiese, unser Platz. Wir kamen den Bergen immer näher. Der Feldwebel und die beiden Pioniere sitzen auf Zeltbahnen und spielen Karten. Als sie uns kommen sehen, stehen sie rasch auf, und der Feldwebel stellt sich mir militärisch vor. Ein ungefähr fünfzigjähriger Mann in der Reserve. Er trägt eine einfache Brille, sicher kein unrechter Mensch. B

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korrigiert aus: kommen“–er

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Nun gehts an die Arbeit. Der Feldwebel und die Pioniere zeigen den Jungen, wie man Zelte baut, auch ich baue mit. In der Mitte des Lagers lassen wir ein Viereck frei, dort hissen wir unsere Fahne. Nach drei Stunden 얍 steht die Stadt. Die Pioniere salutieren und steigen ins Dorf hinab. Neben der Fahnenstange liegt eine grosse Kiste: dort sind die Gewehre drin. Die Schiessscheiben werden aufgestellt: hölzerne Soldaten in einer fremden Uniform. Der Abend kommt, wir zünden Feuer an und kochen ab. Es schmeckt uns gut und wir singen Soldatenlieder. Der Feldwebel trinkt einen Schnaps und wird heiser. Jetzt weht der Bergwind. „Der kommt von den Gletschern“, sagen die Jungen und husten. Ich denke an den toten W. Ja, Du warst der Kleinste der Klasse – und der Freundlichste. Ich glaube, Du wärest der einzige gewesen, der nichts gegen die Neger geschrieben hätt. Drum musstest Du auch weg. Wo bist Du jetzt? Hat Dich ein Engel geholt, wie im Märchen? Flog er mit Dir dorthin, wo all die seligen Fussballer spielen? Wo auch der Tormann ein Engel ist und vor allem der Schiedsrichter, der abpfeift, wenn einer dem Ball nachfliegt? Denn das ist im Himmel das Abseits. Sitzt Du gut? Natürlich! Dort droben sitzt jeder auf der 얍 Tribüne, erste Reihe, Mitte, während die bösen Ordner, die Dich immer hinter dem Tor vertrieben, jetzt hinter lauter Riesen stehen und nicht aufs Spielfeld schauen können. – – Es wird Nacht. Wir gehen schlafen. „Morgen beginnt der Ernst!“ meint der Feldwebel. Er schläft mit mir im selben Zelt. Er schnarcht. Ich entzünde nochmal meine Taschenlampe, um nach der Uhr zu sehen, und entdecke dabei auf der Zeltwand neben mir einen braunroten Fleck. Was ist das? Und ich denke, morgen beginnt der Ernst. Ja, der Ernst. In einer Kiste neben der Fahnenstange liegt der Krieg. Ja, der Krieg. Wir stehen im Feld. Und ich denke an die beiden Pioniere, an den Feldwebel in der Reserve, der noch kommandieren muss, und an die hölzernen Soldaten, an denen man das Schiessen lernt; der Direktor fällt mir ein, der N und sein Vater, der Herr Bäckermeister bei Philippi; und ich denke an das Sägewerk, das nicht mehr sägt, und an die Aktionäre, die trotzdem mehr verdienen, an den Gendarmen, der lächelt, an den Pfarrer, 얍 der trinkt, an die Neger, die nicht leben müssen, und an die Heimarbeiter, die nicht leben können, an die Aufsichtsbehörde und an die unterernährten Kinder. Und an die Fische. Wir stehen alle im Feld. Doch wo ist die Front? Der Nachtwind weht, der Feldwebel schnarcht. Was ist das für ein braunroter Fleck? Blut? D IE

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MARSCHIERENDE

V ENUS

Die Sonne kommt, wir stehen auf. Wir waschen uns im Bach und kochen Tee. Nach dem Frühstück lässt der Feldwebel die Jungen der Grösse nach in zwei Reihen hintereinander antreten. Sie zählen ab, er teilt sie ein, in Züge und Gruppen. „Heut wird noch nicht geschossen“, sagt er, „heut wird erst ein bisschen exerziert!“

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Er kontrolliert scharf, ob die Reihen schnurgerad stehen. Das eine Auge kneift er zu: „Etwas vor, etwas zurück – besonders der Dritte dort hinten, der steht ja einen Kilometer zu weit 얍 vorn!“ Der Dritte ist der Z. Wie schwer sich der einreihen lässt, wunder ich mich, und plötzlich hör ich die Stimme des N. Er fährt den Z an: „Hierher, Idiot!“ „Nanana!“ meint der Feldwebel. „Nur nicht grob werden! Das war mal, dass man die Soldaten beschimpft hat, aber heut gibts keine Beleidigungen mehr, merk Dir das, ja?!“ Der N schweigt. Er wird rot und trifft mich mit einem flüchtigen Blick. Jetzt könnt er Dich aber gleich erwürgen, fühle ich, denn er ist der Blamierte. Es freut mich, aber ich lächle nicht. „Regiment marsch!“ kommandiert der Feldwebel, und dann zieht es davon, das Regiment. Vorne die Grossen, hinten die Kleinen. Bald sind sie im Wald verschwunden. Zwei blieben mit mir im Lager zurück, ein M und ein B. Sie schälen Kartoffeln und kochen die Suppe. Sie schälen mit stummer Begeisterung. „Herr Lehrer!“ ruft plötzlich der M. „Schauens mal, was dort anmarschiert kommt!“ Ich schaue hin: in militärischer Ordnung marschieren etwa zwanzig Mädchen auf uns zu, sie tragen schwere Rucksäcke, und als sie 얍 näher kommen, hören wir, dass sie singen. Sie singen Soldatenlieder mit zirpendem Sopran. Der B lacht laut. Jetzt erblicken sie unser Zeltlager und halten. Die Führerin spricht auf die Mädchen ein und geht dann allein auf uns zu. Es sind zirka zweihundert Meter. Ich geh ihr entgegen. Wir werden bekannt, sie ist Lehrerin in einer grösseren Provinzstadt, und die Mädchen gehen in ihre Klasse. Jetzt wohnen sie in einem Schloss, es sind also dieselben, vor denen mich der Herr Pfarrer warnte. Ich begleite meine Kollegin zurück, die Mädchen starren mich an, wie Kühe auf der Weide. Nein, der Herr Pfarrer braucht sich keine Sorgen zu machen, denn, alles was recht ist, einladend sehen diese Geschöpfe nicht aus! Verschwitzt, verschmutzt und ungepflegt bieten sie dem Betrachter keinen erfreulichen Anblick. Die Lehrerin scheint meine Gedanken zu erraten, sie ist also wenigstens noch in puncto Gedankenlesen ein Weib, und setzt mir folgendes auseinander: „Wir berücksichtigen weder Flitter noch Tand, wir legen mehr Wert auf das 얍 Leistungsprinzip als auf das Darbietungsprinzip.“ Ich will mich mit ihr nicht über den Unwert der verschiedenen Prinzipien auseinandersetzen, sage nur: „Aha!“ und denke mir, neben diesen armen Tieren ist ja selbst der N noch ein Mensch. „Wir sind eben Amazonen“, fährt die Lehrerin fort. Aber die Amazonen sind nur eine Sage, doch Ihr seid leider Realität. Lauter missleitete Töchter der Eva! Julius Caesar fällt mir ein. Er kann sich für keine rucksacktragende Venus begeistern. Ich auch nicht. – Bevor sie weitermarschieren, erzählt mir die Lehrerin noch, die Mädchen würden heut vormittag den verschollenen Flieger suchen. Wieso, ist einer abgestürzt? Nein, das „Verschollenen-Flieger-suchen“ sei nur ein neues wehrsportliches Spiel für die weibliche Jugend. Ein grosser weisser Karton wird irgendwo im Unterholz versteckt, die Mädchen schwärmen in Schwarmlinie durch das Unterholz und suchen und su-

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chen den Karton. „Es ist für den Fall eines Krieges gedacht“, fügt sie noch erläuternd hinzu, „damit wir gleich eingesetzt werden können, wenn einer abgestürzt ist. Im Hinter-얍land natürlich, denn Weiber kommen ja leider nicht an die Front.“ Leider! Dann ziehen sie weiter, in militärischer Ordnung. Ich seh ihnen nach: vom vielen Marschieren wurden die kurzen Beine immer kürzer. Und dicker. Marschiert nur zu, Mütter der Zukunft!

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Der Himmel ist zart, die Erde blass. Die Welt ist ein Aquarell mit dem Titel: „April“. Ich geh um das Lager herum und folge dann einem Feldweg. Was liegt dort hinter dem Hügel? Der Weg macht eine grosse Krümmung, er weicht dem Unterholz aus. Die Luft ist still, wie die ewige Ruh. Nichts brummt, nichts summt. Die meisten Käfer schlafen noch. Hinter dem Hügel liegt in einer Mulde ein einsamer Bauernhof. Kein Mensch ist zu sehen. Auch der Hund scheint fortgegangen zu sein. Ich will schon hinabsteigen, da halte ich unwillkürlich, denn plötzlich erblicke ich hinter 얍 der Hecke an der schmalen Strasse, die am Hof vorbeiführt, drei Gestalten. Es sind Kinder, die sich verstecken, zwei Buben und ein Mädchen. Die Buben dürften dreizehn Jahr alt sein, das Mädchen vielleicht zwei Jahre älter. Sie sind barfuss. Was treiben sie dort, warum verstecken sie sich? Ich warte. Jetzt erhebt sich der eine Bub und geht auf den Hof zu, plötzlich schrickt er zusammen und verkriecht sich rasch wieder hinter der Hecke. Ich höre einen Wagen rasseln. Ein Holzfuhrwerk mit schweren Pferden fährt langsam vorbei. Als es nicht mehr zu sehen ist, geht der Bub wieder auf den Hof zu, er tritt an die Haustür und klopft. Er muss mit einem Hammer geklopft haben, denke ich, denn es dröhnte so laut. Er lauscht und die beiden anderen auch. Das Mädel hat sich emporgereckt und schaut über die Hecke. Sie ist gross und schlank, geht es mir durch den Sinn. Jetzt klopft der Bub wieder, noch lauter. Da öffnet sich die Haustür und eine alte Bäuerin erscheint, sie geht gebückt auf einen Stock. Sie sieht sich um, als würde sie schnuppern. Der Bub gibt keinen Ton von sich. Plötzlich ruft die Alte: „Wer ist denn da?!“ Warum ruft sie, wenn der Bub vor ihr steht? 얍 Jetzt schreit sie wieder: „Wer ist denn da?!“ Sie geht mit dem Stock tastend an dem Buben vorbei, sie scheint ihn nicht zu sehen – ist sie denn blind? Das Mädel deutet auf die offene Haustür, es sieht aus, als wärs ein Befehl, und der Bub schleicht auf Zehenspitzen ins Haus hinein. Die Alte steht und lauscht. Ja, sie ist blind. Jetzt klirrts im Haus, als wär ein Teller zerbrochen. Die Blinde zuckt furchtbar zusammen und brüllt: „Hilfe! Hilfe!“ – da stürzt das Mädel auf sie los und hält ihr den Mund zu, der Bub erscheint in der Haustür mit einem Laib Brot und einer Vase, das Mädel schlägt der Alten den Stock aus der Hand – ich rase hinab. Die Blinde wankt, stolpert und stürzt, die drei Kinder sind verschwunden. Ich bemühe mich um die Alte, sie wimmert. Ein Bauer eilt herbei, er hat das Geschrei gehört und hilft mir. Wir bringen sie in das Haus, und ich erzähle dem Bauer, was ich beobachtet habe. Er ist nicht sonderlich überrascht: „Jaja, sie haben die Mutter herausgelockt, damit sie durch die offene Tür hinein können, es ist immer dieselbe Bagage, man fasst sie nur nicht. Sie stehlen wie die Raben, eine ganze Räuberbande!“

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„Kinder?!“ „Ja“, nickt der Bauer, „auch drüben im Schloss, wo die Mädeln liegen, haben sie schon gestohlen. Erst unlängst die halbe Wäsch. Passens nur auf, dass sie Ihnen im Lager keinen Besuch abstatten!“ „Nein-nein! Wir passen schon auf!“ „Denen trau ich alles zu. Es ist Unkraut und gehört vertilgt!“ D ER

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Ich gehe ins Lager zurück. Die Blinde hat sich beruhigt und war mir dankbar. Wofür? Ist es denn nicht selbstverständlich, dass ich sie nicht auf dem Boden liegen liess? Eine verrohte Gesellschaft, diese Kinder! Ich halte plötzlich, denn es wird mir ganz seltsam zu Mute. Ich entrüste mich ja garnicht über diesen Roheitsakt, geschweige denn über das gestohlene Brot, ich verurteile nur. Warum bin ich nur nicht empört? Weil es arme Kinder sind, die nichts zum Fressen haben? Nein, das ist es nicht. Der Weg macht eine grosse Krümmung, und 얍 ich schneide ihn ab. Das darf ich mir ruhig leisten, denn ich habe einen guten Orientierungssinn und werde das Zeltlager finden. Ich gehe durch das Unterholz. Hier steht das Unkraut und gedeiht. Immer muss ich an das Mädel denken, wie es sich reckt und über die Hecke schaut. Ist sie der Räuberhauptmann? Ihre Augen möchte ich sehen. Nein, ich bin kein Heiliger! Das Dickicht wird immer schlimmer. Was liegt denn dort? Ein weisser Karton. Darauf steht mit roten Buchstaben: „Flugzeug“. Ach, der verschollene Flieger! Sie haben ihn noch nicht gefunden. Also hier bist Du abgestürzt? War es ein Luftkampf oder ein Abwehrgeschütz? Bist Du ein Bomber gewesen? Jetzt liegst Du da, zerschmettert, verbrannt, verkohlt. Karton, Karton! Oder lebst Du noch? Bist schwer verwundet und sie finden Dich nicht? Bist ein Feindlicher oder ein Eigener? Wofür stirbst Du jetzt, verschollener Flieger? Karton, Karton! Und da höre ich eine Stimme: „Niemand kann das ändern“ – es ist die Stimme einer Frau. Traurig und warm. Sie klingt aus dem Dickicht. 얍 Vorsichtig biege ich die Äste zurück. Dort sitzen zwei Mädchen vom Schloss. Mit den Beinen, kurz und dick. Die eine hält einen Kamm in der Hand, die andere weint. „Was geht er mich denn an, der verschollene Flieger?“ schluchzt sie. „Was soll ich denn da im Wald herumlaufen? Schau, wie meine Beine geschwollen sind, ich möcht nicht mehr marschieren! Von mir aus soll er draufgehen, der verschollene Flieger, ich möcht auch leben! Nein, ich will fort, Annie, fort! Nur nicht mehr im Schloss schlafen, das ist ja ein Zuchthaus! Ich möcht mich waschen und kämmen und bürsten!“ „Sei ruhig“, tröstet sie Annie und kämmt ihr liebevoll das fette Haar aus dem verweinten Gesicht. „Was sollen wir armen Mädchen tun? Auch die Lehrerin hat neulich heimlich geweint. Mama sagt immer, die Männer sind verrückt geworden und machen die Gesetze.“ Ich horche auf. Die Männer?

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Jetzt küsst Annie ihre Freundin auf die Stirne, und ich schäme mich. Wie schnell war ich heut mit dem Spott dabei! Ja, vielleicht hat Annies Mama recht. Die 얍 Männer sind verrückt geworden, und die nicht verrückt geworden sind, denen fehlt der Mut, die tobenden Irrsinnigen in die Zwangsjacken zu stecken. Ja, sie hat recht. Auch ich bin feig. G EH

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HEIM !

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Ich betrete das Lager. Die Kartoffeln sind geschält, die Suppe dampft. Das Regiment ist wieder zu Haus. Die Jungen sind munter, nur der Feldwebel klagt über Kopfschmerzen. Er hat sich etwas überanstrengt, doch will ers nicht zugeben. Plötzlich fragt er: „Für wie alt halten Sie mich, Herr Lehrer?“ „Zirka fünfzig.“ „Dreiundsechzig“, lächelt er geschmeichelt, „ich war sogar im Weltkrieg schon Landsturm.“ Ich fürchte, er beginnt, Kriegserlebnisse zu erzählen, aber ich fürchte mich umsonst. „Reden wir lieber nicht vom Krieg“, sagt er, „ich hab drei erwachsene Söhne.“ Er betrachtet sinnend die Berge und schluckt das Aspirin. Ein Mensch. Ich erzähl ihm von der Räuberbande. Er springt auf und lässt die Jungen sofort antreten. 얍 Er hält eine Ansprache an sein Regiment: in der Nacht würden Wachen aufgestellt werden, je vier Jungen für je zwei Stunden. Osten, Westen, Süden, Norden, denn das Lager müsste verteidigt werden, Gut mit Blut, bis zum letzten Mann! Die Jungen schreien begeistert „Hurrah!“ „Komisch“, meint der Feldwebel, „jetzt hab ich keine Kopfschmerzen mehr“ – – Nach dem Mittagessen steig ich ins Dorf hinab. Ich muss mit dem Bürgermeister verschiedene Fragen ordnen: einige Formalitäten und die Nahrungsmittelzufuhr, denn ohne zu essen kann man nicht exerzieren. Beim Bürgermeister treffe ich den Pfarrer, und er lässt nicht locker, ich muss zu ihm mit seinen neuen prima Wein probieren. Ich trinke gern, und der Pfarrer ist ein gemütlicher Herr. Wir gehen durchs Dorf, und die Bauern grüssen den Pfarrer. Er führt mich den kürzesten Weg zum Pfarrhaus. Jetzt biegen wir in eine Seitenstrasse. Hier hören die Bauern auf. „Hier wohnen die Heimarbeiter“, sagt der Pfarrer und blickt zum Himmel empor. Die grauen Häuser stehen dicht beieinander. An den offenen Fenstern sitzen lauter Kinder 얍 mit weissen alten Gesichtern und bemalen bunte Puppen. Hinter ihnen ist es schwarz. „Sie sparen das Licht“, sagt der Pfarrer und fügt noch hinzu: „Sie grüssen mich nicht, sie sind verhetzt.“ Er beginnt plötzlich schneller zu gehen. Ich gehe gerne mit. Die Kinder sehen mich gross an, seltsam starr. Nein, das sind keine Fische, das ist kein Hohn, das ist Hass. Und hinter dem Hass sitzt die Trauer in den finsteren Zimmern. Sie sparen das Licht, denn sie haben kein Licht. Das Pfarrhaus liegt neben der Kirche. Die Kirche ist ein strenger Bau, das Pfarrhaus liegt gemächlich da. Um die Kirche herum liegt der Friedhof, um das Pfarrhaus herum ein Garten. Im Kirchturm läuten die Glocken, aus dem Rauchfang des Pfarrers steigt blauer Dunst. Im Garten des Todes blühen die weissen Blumen, im Garten des B

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Pfarrers wächst das Gemüse. Dort stehen Kreuze, hier steht ein Gartenzwerg. Und ein ruhendes Reh. Und ein Pilz. Im Pfarrhaus drinnen ist Sauberkeit. Kein Stäubchen fliegt durch die Luft. Im Friedhof daneben wird alles zu Staub. Der Pfarrer führt mich in sein schönstes 얍 Zimmer. „Nehmen Sie Platz, ich hole den Wein!“ Er geht in den Keller, ich bleibe allein. Ich setze mich nicht. An der Wand hängt ein Bild. Ich kenne es. Es hängt auch bei meinen Eltern. Sie sind sehr fromm. Es war im Krieg, da habe ich Gott verlassen. Es war zuviel verlangt von einem Kerl in den Flegeljahren, dass er begreift, dass Gott einen Weltkrieg zulässt. Ich betrachte noch immer das Bild. Gott hängt am Kreuz. Er ist gestorben. Maria weint und Johannes tröstet sie. Den schwarzen Himmel durchzuckt ein Blitz. Und rechts im Vordergrunde steht ein Krieger, in Helm und Panzer, der römische Hauptmann. Und wie ich das Bild so betrachte, bekomme ich Sehnsucht nach meinem Vaterhaus. Ich möchte wieder klein sein. Aus dem Fenster schauen, wenn es stürmt. Wenn die Wolken niedrig hängen, wenn es donnert, wenn es hagelt. Wenn der Tag dunkel wird. Und es fällt mir meine erste Liebe ein. Ich möcht sie nicht wiedersehen. 얍 Geh heim! Und es fällt mir die Bank ein, auf der ich sass und überlegte: was willst Du werden? Lehrer oder Arzt? Lieber als Arzt wollte ich Lehrer werden. Lieber als Kranke heilen, wollte ich Gesunden etwas mitgeben, einen winzigen Stein für den Bau einer schöneren Zukunft. Die Wolken ziehen, jetzt kommt der Schnee. Geh heim! Heim, wo Du geboren wurdest. Was suchst Du noch auf der Welt? Mein Beruf freut mich nicht mehr. Geh heim!

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Der Wein des Pfarrers schmeckt nach Sonne. Aber der Kuchen nach Weihrauch. Wir sitzen in der Ecke. Er hat mir sein Haus gezeigt. Seine Köchin ist fett. Sicher kocht sie gut. „Ich esse nicht viel“, sagt plötzlich der Pfarrer. Hat er meine Gedanken erraten? 얍 „Ich trinke aber umsomehr“, sagt er und lacht. Ich kann nicht recht lachen. Der Wein schmeckt und schmeckt doch nicht. Ich rede und stocke, immer wieder befangen. Warum nur? „Ich weiss, was Sie beschäftigt“, meint der Pfarrer, „Sie denken an die Kinder, die in den Fenstern sitzen und die Puppen bemalen und mich nicht grüssen.“

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Ja, an die Kinder denke ich auch. „Es überrascht Sie, wie mir scheint, dass ich Ihre Gedanken errate, aber das fällt mir nicht schwer, denn der Herr Lehrer hier im Dorfe sieht nämlich auch überall nur jene Kinder. Wir debattieren, wo wir uns treffen. Mit mir kann man nämlich ruhig reden, ich gehöre nicht zu jenen Priestern, die nicht hinhören oder böse werden, ich halte es mit dem heiligen Ignatius, der sagt: Ich gehe mit jedem Menschen durch seine Tür hinein, um ihn bei meiner Tür hinauszuführen.“ Ich lächle ein wenig und schweige. Er trinkt sein Glas aus. Ich schau ihn abwartend an. Noch kenne ich mich nicht aus. „Die Ursache der Not“, fährt er fort, „besteht nicht darin, dass mir der Wein 얍 schmeckt, sondern darin, dass das Sägewerk nicht mehr sägt. Unser Lehrer hier ist der Meinung, dass wir durch die überhastete Entwicklung der Technik andere Produktionsverhältnisse brauchen und eine ganz neuartige Kontrolle des Besitzes. Er hat recht. Warum schauen Sie mich so überrascht an?“ „Darf man offen reden?“ „Nur!“ „Ich denke, dass die Kirche immer auf der Seite der Reichen steht.“ „Das stimmt. Weil sie muss.“ „Muss?“ „Kennen Sie einen Staat, in dem nicht die Reichen regieren? ‚Reichsein‘ ist doch nicht nur identisch mit ‚Geld-haben‘ – und wenn es keine Sägewerksaktionäre mehr geben wird, dann werden eben andere Reiche regieren, man braucht keine Aktien, um reich zu sein. Es wird immer Werte geben, von denen einige Leute mehr haben werden als alle übrigen zusammen. Mehr Sterne am Kragen, mehr Streifen am Ärmel, mehr Orden auf der Brust, sichtbar oder unsichtbar, denn arm und reich 얍 wird es immer geben, genau wie dumm und gescheit. Und der Kirche, Herr Lehrer, ist leider nicht die Macht gegeben, zu bestimmen, wie ein Staat regiert werden soll. Es ist aber ihre Pflicht, immer auf seiten des Staates zu stehen, der leider immer nur von den Reichen regiert werden wird.“ „Ihre Pflicht?“ „Da der Mensch von Natur aus ein geselliges Wesen ist, ist er auf eine Verbindung in Familie, Gemeinde und Staat angewiesen. Der Staat ist eine rein menschliche Einrichtung, der nur den einen Zweck haben soll, die irdische Glückseligkeit nach Möglichkeit herzustellen. Er ist naturnotwendig, also gottgewollt, der Gehorsam ihm gegenüber Gewissenspflicht.“ „Sie wollen doch nicht behaupten, dass zum Beispiel der heutige Staat nach Möglichkeit irdische Glückseligkeiten herstellt?“ „Das behaupte ich keineswegs, denn die ganze menschliche Gesellschaft ist aufgebaut auf Eigenliebe, Heuchelei und roher Gewalt. Wie sagt Pascal? ‚Wir begehren die Wahrheit und finden in uns nur Ungewissheit. Wir suchen das Glück und finden nur Elend und Tod.‘ Sie wundern sich, dass ein einfacher Bauern-얍pfarrer Pascal zitiert – nun, Sie müssen sich nicht wundern, denn ich bin kein einfacher Bauernpfarrer, ich wurde nur für einige Zeit hierherversetzt. Wie man so zu sagen pflegt, gewissermassen strafversetzt“ – er lächelt: „Jaja, nur selten wird einer heilig, der niemals unheilig, nur selten einer weise, der nie dumm gewesen ist! Und ohne die kleinen Dummheiten des Lebens wären wir ja alle nicht auf der Welt.“ Er lacht leise, aber ich lache nicht mit.

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Er leert wieder sein Glas. Ich frage plötzlich: „Wenn also die staatliche Ordnung gottgewollt –“ „Falsch!“ unterbricht er mich. „Nicht die staatliche Ordnung, sondern der Staat ist naturnotwendig, also gottgewollt.“ „Das ist doch dasselbe!“ „Nein, das ist nicht dasselbe. Gott schuf die Natur, also ist gottgewollt, was naturnotwendig ist. Aber die Konsequenzen der Erschaffung der Natur, das heisst in diesem Falle: die Ordnung des Staates, ist ein Produkt des freien menschlichen Willens. Also ist nur der Staat gottgewollt, nicht aber die staatliche Ordnung.“ „Und wenn ein Staat zerfällt?“ „Ein Staat zerfällt nie, es löst sich höchstens seine gesellschaftliche Struktur auf, 얍 um einer anderen Platz zu machen. Der Staat selbst bleibt immer bestehen, auch wenn das Volk, das ihn bildet, stirbt. Denn dann kommt ein anderes.“ „Also ist der Zusammenbruch einer staatlichen Ordnung nicht naturnotwendig?“ Er lächelt: „Manchmal ist solch ein Zusammenbruch sogar gottgewollt.“ „Warum nimmt also die Kirche, wenn die gesellschaftliche Struktur eines Staates zusammenbricht, immer die Partei der Reichen? Also in unserer Zeit: warum stellt sich die Kirche immer auf die Seite der Sägewerksaktionäre und nicht auf die Seite der Kinder in den Fenstern?“ „Weil die Reichen immer siegen.“ Ich kann mich nicht beherrschen: „Eine feine Moral!“ Er bleibt ganz ruhig: „Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral.“ Er leert wieder sein Glas. „Ja, die Reichen werden immer siegen, weil sie die brutaleren, niederträchtigeren, gewissenloseren sind. Es steht doch schon in der Schrift, dass eher ein Kamel durch das 얍 Nadelöhr geht, denn dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ „Und die Kirche? Wird die durch das Nadelöhr kommen?“ „Nein“, sagt er und lächelt wieder, „das wäre allerdings nicht gut möglich. Denn die Kirche ist ja das Nadelöhr.“ Dieser Pfaffe ist verteufelt gescheit, denke ich mir, aber er hat nicht recht. Er hat nicht recht! Und ich sage: „Die Kirche dient also den Reichen und denkt nicht daran, für die Armen zu kämpfen –“ „Sie kämpft auch für die Armen“, fällt er mir ins Wort, „aber an einer anderen Front.“ „An einer himmlischen, was?“ „Auch dort kann man fallen.“ „Wer?“ „Jesus Christus.“ „Aber das war doch der Gott! Und was kam dann?“ Er schenkt mir ein und blickt nachdenklich vor sich hin. „Es ist gut“, meint er leise, „dass es der Kirche heutzutag in vielen Ländern nicht gut geht. Gut für die Kirche.“ „Möglich“, antworte ich kurz und merke, dass ich aufgeregt bin. „Doch kommen wir wieder 얍 auf jene Kinder in den Fenstern zurück! Sie sagten, als wir durch die Gasse gingen: ‚Sie grüssen mich nicht, sie sind verhetzt.‘ Sie sind doch ein gescheiter Mensch, Sie müssen es doch wissen, dass jene Kinder nicht verhetzt sind, sondern dass sie nichts zum Fressen haben!“ Er sieht mich gross an.

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„Ich meinte, sie seien verhetzt“, sagt er langsam, „weil sie nicht mehr an Gott glauben.“ „Wie können Sie das von ihnen verlangen!“ „Gott geht durch alle Gassen.“ „Wie kann Gott durch jene Gasse gehen, die Kinder sehen und ihnen nicht helfen?!“ Er schweigt. Er trinkt bedächtig seinen Wein aus. Dann sieht er mich wieder gross an: „Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.“ Ich starre ihn an. Hatte ich richtig gehört? Das Schrecklichste?! Er erhebt sich, tritt an das Fenster und schaut auf den Friedhof hinaus. „Er straft“, höre ich seine Stimme. Was ist das für ein erbärmlicher Gott, denke ich mir, der die armen Kinder straft! Jetzt geht der Pfarrer auf und ab. „Man darf Gott nicht vergessen“, sagt er, „auch wenn wir es nicht wissen, wofür er uns 얍 straft. Wenn wir nur niemals einen freien Willen gehabt hätten!“ „Ach Sie meinen die Erbsünde!“ „Ja.“ „Ich glaube nicht daran.“ Er hält vor mir. „Dann glauben Sie auch nicht an Gott.“ „Richtig. Ich glaube nicht an Gott.“ – – „Hören Sie“, breche ich plötzlich das Schweigen, denn nun muss ich reden, „ich unterrichte Geschichte und weiss es doch, dass es auch vor Christi Geburt eine Welt gegeben hat, die antike Welt, Hellas, eine Welt ohne Erbsünde –“ „Ich glaube, Ihr irrt Euch“, fällt er mir ins Wort und tritt an sein Bücherregal. Er blättert in einem Buch. „Da Sie Geschichte unterrichten, muss ich Ihnen wohl nicht erzählen, wer der erste griechische Philosoph war, ich meine: der älteste.“ „Thales von Milet.“ „Ja. Aber seine Gestalt ist noch halb in der Sage, wir wissen nichts Bestimmtes von ihm. Das erste schriftlich erhaltene Dokument der griechischen Philosophie, das wir kennen, stammt von Anaximander, ebenfalls aus der 얍 Stadt Milet – geboren 610, gestorben 547 vor Christi Geburt. Es ist nur ein Satz.“ Er geht ans Fenster, denn es beginnt bereits zu dämmern, und liest: „Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Busse und Strafe zahlen für die Schuld ihres Daseins nach der Ordnung der Zeit.“ D ER

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RÖMISCHE

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H AUPTMANN

Vier Tage sind wir nun im Lager. Gestern erklärte der Feldwebel den Jungen den Mechanismus des Gewehres, wie man es pflegt und putzt. Heut putzen sie den ganzen Tag, morgen werden sie schiessen. Die hölzernen Soldaten warten bereits darauf, getroffen zu werden. Die Jungen fühlen sich überaus wohl, der Feldwebel weniger. Er ist in diesen vier Tagen zehn Jahre älter geworden. In weiteren vier wird er älter aussehen, als er ist. Ausserdem hat er sich den Fuss übertreten und wahrscheinlich eine Sehne verzerrt, denn er hinkt. Doch er verbeisst seine Schmerzen. Nur mir 얍 erzählte er gestern vor dem Einschlafen, er würde schon ganz gerne wieder Kegelschieben, Kartenspielen, in einem

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richtigen Bett liegen, eine stramme Kellnerin hinten hineinzwicken, kurz: zu Hause sein. Dann schlief er ein und schnarchte. Er träumte, er wäre ein General und hätt eine Schlacht gewonnen. Der Kaiser hätt alle seine Orden ausgezogen und selbe ihm an die Brust geheftet. Und an den Rükken. Und die Kaiserin hätt ihm die Füss geküsst. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte er mich in aller Früh. „Wahrscheinlich ein Wunschtraum“, sagte ich. Er sagte, er hätte es sich noch nie in seinem Leben gewünscht, dass ihm eine Kaiserin die Füss küsst. „Ich werds mal meiner Frau schreiben“, meinte er nachdenklich, „die hat ein Traumbuch. Sie soll mal nachschauen, was General, Kaiser, Orden, Schlacht, Brust und Rücken bedeuten.“ Während er vor unserem Zelte schrieb, erschien aufgeregt ein Junge, und zwar der L. „Was gibts?“ „Ich bin bestohlen worden!“ „Bestohlen?!“ „Man hat mir meinen Apparat gestohlen, 얍 Herr Lehrer, meinen photographischen Apparat!“ Er war ganz ausser sich. Der Feldwebel sah mich an. Was tun? lag in seinem Blick. „Antreten lassen“, sagte ich, denn mir fiel auch nichts besseres ein. Der Feldwebel nickte befriedigt, humpelte auf den freien Platz, wo die Fahne wehte, und brüllte, wie ein alter Hirsch: „Regiment antreten!“ Ich wandte mich an den L: „Hast Du einen Verdacht?“ „Nein.“ Das Regiment war angetreten. Ich verhörte sie, keiner konnte etwas sagen. Ich ging mit dem Feldwebel in das Zelt, wo der L schlief. Sein Schlafsack lag gleich neben dem Eingang links. Wir fanden nichts. „Ich halte es für ausgeschlossen“, sagte ich zum Feldwebel, „dass einer der Jungen der Dieb ist, denn sonst wären ja auch mal im Schuljahr Diebstähle vorgekommen. Ich glaube eher, dass die aufgestellten Wachen nicht richtig ihre Pflicht erfüllten, so dass die Räuberbande sich hereinschleichen konnte.“ Der Feldwebel gab mir recht, und wir beschlos-얍sen, in der folgenden Nacht die Wachen zu kontrollieren. Aber wie? Ungefähr hundert Meter vom Lager entfernt stand ein Heuschober. Dort wollten wir übernachten und von dort aus die Wachen kontrollieren. Der Feldwebel von neun bis eins und ich von eins bis sechs. Nach dem Nachtmahl schlichen wir uns heimlich aus dem Lager. Keiner der Jungen bemerkte uns. Ich machte es mir im Heu bequem. – Um ein Uhr nachts weckt mich der Feldwebel. „Bis jetzt ist alles in Ordnung“, meldet er mir. Ich klettere aus dem Heu und postiere mich im Schatten der Hütte. Im Schatten? Ja, denn es ist eine Vollmondnacht. Eine herrliche Nacht. Ich sehe das Lager und erkenne die Wachen. Jetzt werden sie abgelöst. Sie stehen oder gehen ein paar Schritte hin und her. Osten, Westen, Norden, Süden – auf jeder Seite einer. Sie bewachen ihre photographischen Apparate.

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K/TS2 (Grundschicht)

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Und wie ich so sitze, fällt mir das Bild ein, 얍 das beim Pfarrer hängt und auch bei meinen Eltern. Die Stunden gehen. Ich unterrichte Geschichte und Geographie. Ich muss die Gestalt der Erde erklären und ihre Geschichte deuten. Die Erde ist noch rund, aber die Geschichten sind viereckig geworden. Jetzt sitz ich da und darf nicht rauchen, denn ich überwache die Wache. Es ist wahr: mein Beruf freut mich nicht mehr. Warum fiel mir nur jenes Bild wieder ein? Wegen des Gekreuzigten? Nein. Wegen seiner Mutter – nein. Plötzlich wirds mir klar: wegen des Kriegers in Helm und Panzer, wegen des römischen Hauptmanns. Was ist denn nur mit dem? Er leitete die Hinrichtung eines Juden. Und als der Jude starb, sagte er: „Wahrlich, so stirbt kein Mensch!“ Er hat also Gott erkannt. Aber was tat er? Was zog er für Konsequenzen? Er blieb ruhig unter dem Kreuze stehen. Ein Blitz durchzuckte die Nacht, der Vorhang 얍 im Tempel riss, die Erde bebte – er blieb stehen. Er erkannte den neuen Gott, als der am Kreuze starb, und wusste nun, dass seine Welt zum Tode verurteilt war. Und? Ist er etwa in einem Krieg gefallen? Hat er es gewusst, dass er für nichts fällt? Freute ihn noch sein Beruf? Oder ist er etwa alt geworden? Wurde er pensioniert? Lebte er in Rom oder irgendwo an der Grenze, wo es billiger war? Vielleicht hatte er dort ein Häuschen. Mit einem Gartenzwerg. Und am Morgen erzählte ihm seine Köchin, dass gestern jenseits der Grenze wieder neue Barbaren aufgetaucht sind. Die Lucia vom Herrn Major hat sie mit eigenen Augen gesehen. Neue Barbaren, neue Völker. Sie rüsten, sie rüsten. Sie warten. Und der römische Hauptmann wusste es, die Barbaren werden alles zertrümmern . Aber es rührte ihn nicht. Für ihn war bereits alles zertrümmert. Er lebte still als Pensionist, er hatte es durchschaut. Das grosse römische Reich.

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D ER D RECK Der Mond hängt nun direkt über den Zelten. Es muss zirka zwei Uhr sein. Und ich denke, jetzt sind die Cafés noch voll. Was macht jetzt wohl Julius Caesar? Er wird seinen Totenkopf illuminieren, bis ihn der Teufel holt! Komisch: ich glaube an den Teufel, aber nicht an den lieben Gott. Wirklich nicht?

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zertrümmernN ]

korrigiert aus: zer trümmern

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Ich weiss es nicht. Doch, ich weiss es! Ich will nicht an ihn glauben! Nein, ich will nicht! Es ist mein freier Wille. Und die einzige Freiheit, die mir verblieb: glauben oder nicht glauben zu dürfen. Aber offiziell natürlich so zu tun, als ob. Je nachdem: einmal ja, einmal nein. Was sagte der Pfaffe? „Der Beruf des Priesters besteht darin, den Menschen auf den Tod vorzubereiten, denn wenn der Mensch keine Angst vor dem Sterben mehr hat, wird ihm das Leben leichter.“ Satt wird er nicht davon! „Aus diesem Leben des Elends und der Widersprüche“, sagte der Pfaffe, „rettet uns 얍 einzig und allein die göttliche Gnade und der Glaube an die Offenbarung.“ Ausreden! „Wir werden gestraft und wissen nicht wofür.“ Frag die Regierenden! Und was sagte der Pfaffe noch? „Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.“ Stimmt! – – Lieblich waren die Gedanken, die mein Herz durchzogen. Sie kamen aus dem Kopf, kostümierten sich mit Gefühl, tanzten und berührten sich kaum. Ein vornehmer Ball. Exklusive Kreise. Gesellschaft! Im Mondlicht drehten sich die Paare. Die Feigheit mit der Tugend, die Lüge mit der Gerechtigkeit, die Erbärmlichkeit mit der Kraft, die Tücke mit dem Mut. Nur die Vernunft tanzte nicht mit. Sie hatte sich besoffen, hatte nun einen Moralischen und schluchzte in einer Tour: „Ich bin blöd, ich bin blöd“ – Sie spie alles voll. Aber man tanzte darüber hinweg. Ich lausche der Ballmusik. Sie spielt einen Gassenhauer, betitelt: „Der Einzelne ist Dreck.“ 얍 Sortiert nach Sprache, Rasse und Nation stehen die Haufen nebeneinander und fixieren sich, wer grösser ist. Sie stinken, dass sich jeder Einzelne die Nase zuhalten muss. Lauter Dreck! Alles Dreck! Düngt damit! Dünget die Erde, damit etwas wächst! Nicht Blumen, sondern Brot! Aber betet Euch nicht an! Nicht den Dreck, den Ihr gefressen habt! Z

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Fast vergass ich meine Pflicht: vor einem Heuschober zu sitzen, nicht rauchen zu dürfen und die Wache zu kontrollieren. Ich blicke hinab: dort wachen sie. Ost und West, Nord und Süd.

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K/TS2 (Grundschicht)

Alles in Ordnung. Doch halt! Dort geht doch was vor sich – Was denn? Im Norden. Dort spricht doch der Posten mit jemand. Wer ist denn der Posten? 얍 Es ist der Z. Mit wem spricht er denn? Oder ists nur der Schatten einer Tanne? Nein, das ist kein Schatten, das ist eine Gestalt. Jetzt scheint der Mond auf sie: es ist ein Junge. Ein fremder Junge. Was ist dort los? Der Fremde scheint ihm etwas zu geben, dann ist er verschwunden. Der Z rührt sich kurze Zeit nicht, ganz regungslos steht er da. Lauscht er? Er sieht sich vorsichtig um und zieht dann einen Brief aus der Tasche. Ach, er hat einen Brief bekommen! Er erbricht ihn rasch und liest ihn im Mondenschein. Er steckt ihn gleich wieder ein. Wer schreibt dem Z? – – Der Morgen kommt, und der Feldwebel erkundigt sich, ob ich etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte. Ich sage, ich hätte garnichts wahrgenommen und die Wachen hätten ihre Pflicht erfüllt. Ich schweige von dem Brief, denn ich weiss es ja noch nicht, ob dieser Brief mit 얍 dem gestohlenen Photoapparat irgendwie zusammenhängt. Das muss sich noch klären, und bis es nicht bewiesen wurde, will ich den Z in keinen Verdacht bringen. Wenn man nur den Brief lesen könnte! Als wir das Lager betreten, empfangen uns die Jungen erstaunt. Wann wir denn das Lager verlassen hätten? „Mitten in der Nacht“, lügt der Feldwebel, „und zwar ganz aufrecht, aber von Eueren Wachen hat uns keiner gehen sehen, Ihr müsst schärfer aufpassen, denn bei einer solchen miserablen Bewachung tragens uns ja noch das ganze Lager weg, die Gewehre, die Fahne und alles, wofür wir da sind!“ Dann lässt er sein Regiment antreten und fragt, ob einer etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte. Keiner meldet sich. Ich beobachte den Z. Er steht regungslos da. Was steht nur in dem Brief? Jetzt hat er ihn in der Tasche, aber ich werde ihn lesen, ich muss ihn lesen. Soll ich ihn direkt fragen? Das hätte keinen 얍 Sinn. Er würde es glatt ableugnen, würde den Brief dann zerreissen, verbrennen und ich könnt ihn nimmer lesen. Vielleicht hat er ihn sogar schon vernichtet. Und wer war der fremde Junge? Ein Junge, der um zwei Uhr nachts erscheint, eine Stunde weit weg vom Dorf? Oder wohnt er auf dem Bauernhof bei der blinden Alten? Aber auch dann: immer klarer wird es mir, dass jener zur Räuberbande gehören muss. Zum Unkraut. Ist denn der Z auch Unkraut? Ein Verbrecher? Ich muss den Brief lesen, muss, muss! B

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korrigiert aus: Gestalt

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Der Brief wird allmählich zur fixen Idee. Bumm! Heute schiessen sie zum erstenmal. Bumm! Bumm! – – Am Nachmittag kommt der R zu mir. „Herr Lehrer“, sagte er, „ich bitte sehr, ich möchte in einem anderen Zelte schlafen. Die beiden, mit denen ich zusammen bin, raufen sich in einem fort, man kann kaum schlafen!“ „Wer sind denn die beiden?“ „Der N und der Z.“ „Der Z?“ „Ja. Aber anfangen tut immer der N!“ „Schick mir mal die beiden her!“ Er geht, und der N kommt. 얍 „Warum raufst Du immer mit dem Z?“ „Weil er mich nicht schlafen lässt. Immer weckt er mich auf. Er zündet oft mitten in der Nacht die Kerze an.“ „Warum?“ „Weil er seinen Blödsinn schreibt.“ „Er schreibt?“ „Ja.“ „Was schreibt er denn? Briefe?“ „Nein. Er schreibt sein Tagebuch.“ „Tagebuch?“ „Ja. Er ist blöd.“ „Deshalb muss man noch nicht blöd sein.“ Es trifft mich ein vernichtender Blick. „Das Tagebuchschreiben ist der typische Ausdruck der typischen Überschätzung des eigenen Ichs“, sagt er. „Kann schon stimmen“, antworte ich vorsichtig, denn ich kann mich momentan nicht erinnern, ob das Radio diesen Blödsinn nicht schon mal verkündet hat. „Der Z hat sich extra ein Kästchen mitgenommen, dort sperrt er sein Tagebuch ein.“ „Schick mir mal den Z her!“ 얍 Der N geht, der Z kommt. „Warum raufst Du immer mit dem N?“ „Weil er ein Plebejer ist.“ Ich stutze und muss an die reichen Plebejer denken. „Ja“, sagt der Z, „er kann es nämlich nicht vertragen, dass man über sich nachdenkt. Da wird er wild. Ich führe nämlich ein Tagebuch und das liegt in einem Kästchen, neulich hat er es zertrümmern wollen, drum versteck ichs jetzt immer. Am Tag im Schlafsack, in der Nacht halt ichs in der Hand.“ Ich sehe ihn an. Und frage ihn langsam: „Und wo ist das Tagebuch, wenn Du auf Wache stehst?“ Nichts rührt sich in seinem Gesicht. „Wieder im Schlafsack“, antwortet er. B N

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Leerzeile gestrichen

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K/TS2 (Grundschicht)

„Und in dieses Buch schreibst Du alles hinein, was Du so erlebst?“ „Ja.“ „Was Du hörst, siehst? Alles?“ Er wird rot. „Ja“, sagt er leise. Soll ich ihn jetzt fragen, wer ihm den Brief schrieb und was in dem Briefe steht? Nein. 얍 Denn es steht bei mir bereits fest, dass ich das Tagebuch lesen werde. Er geht, und ich schau ihm nach. Er denkt über sich nach, hat er gesagt. Ich werde seine Gedanken lesen. Das Tagebuch des Z. A DAM

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E VA

Kurz nach vier marschierte das Regiment wieder ab. Sogar das „Küchenpersonal“ musste diesmal mit, denn der Feldwebel wollte es allen erklären, wie man sich in die Erde gräbt und wo die Erde am geeignetsten für Schützengräben und Unterstände ist. Seit er humpelt, erklärt er lieber. Es blieb also niemand im Lager, nur ich. Sobald das Regiment im Walde verschwand, betrat ich das Zelt, in welchem der Z mit N und R schlief. Im Zelte lagen drei Schlafsäcke. Auf dem linken lag ein Brief. Nein, der war es nicht. „Herrn Otto N“ stand auf dem Kuvert, „Absender: Frau Elisabeth N“ – ach, die Bäckermeistersgattin! Ich konnte nicht widerstehen, was schrieb wohl Mama ihrem Kindchen? Sie schrieb: „Mein lieber Otto, danke Dir 얍 für Deine Postkarte. Es freut mich und Vater sehr, dass Du Dich wohl fühlst. Nur so weiter, pass nur auf Deine Strümpfe auf, damit sie nicht wieder verwechselt werden! Also in zwei Tagen werdet Ihr schon schiessen? Mein Gott, wie die Zeiten vergehen! Vater lässt Dir sagen, Du sollst bei Deinem ersten Schusse an ihn denken, denn er war der beste Schütze seiner Kompanie. Denk Dir nur, Mandi ist gestern gestorben. Vorgestern hüpfte er noch so froh und munter in seinem Käfiglein herum und tirilierte uns zur Freud. Und heut war er hin. Ich weiss nicht, es grassiert eine Kanarikrankheit. Die Beinchen hat der Ärmste von sich gestreckt, ich hab ihn im Herdfeuer verbrannt. Gestern hatten wir einen herrlichen Rehrücken mit Preisselbeeren. Wir dachten an Dich. Hast Du auch gut zum futtern? Vater lässt Dich herzlichst grüssen, Du sollst ihm nur immer weiter Bericht erstatten, ob der Lehrer nicht wieder solche Äusserungen fallen lässt, wie über die Neger. Lass nur nicht locker! Vater bricht ihm das Genick! Es grüsst und küsst Dich, mein lieber Otto, Deine liebe Mutti.“ Im Schlafsack nebenan war nichts versteckt. 얍 Hier schlief also der R. Dann muss das Kästchen im dritten liegen. Dort lag es auch. Es war ein Kästchen aus blauem Blech und hatte ein einfaches Schloss. Es war versperrt. Ich versuchte das Schloss mit einem Draht zu öffnen. Es liess sich leicht. In dem Kästchen lagen Briefe, Postkarten und ein grüngebundenes Buch – „Mein Tagebuch“, stand da in goldenen Lettern. Ich öffnete es. „Weihnachten von Deiner Mutter.“ Wer war die Mutter des Z? Mir scheint, eine Beamtenwitwe oder so. Dann kamen die ersten Eintragungen, etwas von einem Christbaum – ich blätterte weiter, wir sind schon nach Ostern. Zuerst hat er jeden Tag geschrieben, dann nur

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K/TS2 (Grundschicht)

jeden zweiten, dritten, dann nur jeden fünften, sechsten – und hier, hier liegt der Brief! Er ist es! Ein zerknülltes Kuvert, ohne Aufschrift, ohne Marke! Rasch! Was steht nur drin?! „Kann heute nicht kommen, komme morgen um zwei – Eva.“ Das war alles. Wer ist Eva? Ich weiss nur, wer Adam ist. Adam ist der Z. 얍 Und ich lese das Tagebuch: „Mittwoch. Gestern sind wir ins Lager gekommen. Wir sind alle sehr froh. Jetzt ist es abend, bin gestern nicht zum schreiben dazugekommen, weil wir alle sehr müde waren vom Zeltbau. Wir haben auch eine Fahne. Der Feldwebel ist ein alter Tepp, er merkts nicht, wenn wir ihn auslachen. Wir laufen schneller, wie er. Den Lehrer sehen wir gottseidank fast nie. Er kümmert sich auch nicht um uns. Immer geht er mit einem faden Gesicht herum. Der N ist auch ein Tepp. Jetzt schreit er schon das zweitemal, ich soll die Kerze auslöschen, aber ich tus nicht, weil ich sonst überhaupt zu keinem Tagebuch mehr komme und ich möcht doch eine Erinnerung fürs Leben. Heute Nachmittag haben wir einen grossen Marsch getan, bis an die Berge. Auf dem Wege dorthin sind wir bei Felsen vorübergekommen, in denen es viele Höhlen gibt. Auf einmal kommandiert der Feldwebel, wir sollen durch das Dickicht in Schwarmlinie gegen einen markierten Feind vor gehen, der sich auf einen Höhenzug mit schweren Maschinengewehren verschanzt hat. Wir schwärmten 얍 aus, sehr weit voneinander, aber das Dickicht wurde immer dicker und plötzlich sah ich keinen mehr rechts und keinen mehr links. Ich hatte mich verirrt und war abgeschnitten. Auf einmal stand ich wieder vor einem Felsen mit einer Höhle, ich glaube, ich bin im Kreis herumgegangen. Plötzlich stand ein Mädchen vor mir. Sie war braunblond und hatte eine rosa Bluse und es wunderte mich, woher und wieso sie überhaupt daherkommt. Sie fragte mich, wer ich wäre. Ich sagte es ihr. Zwei Buben waren noch dabei, beide barfuss und zerrissen. Der eine trug einen Laib Brot in der Hand, der andere eine Vase. Sie sahen mich feindlich an. Das Mädchen sagte ihnen, sie mögen nachhause gehen, sie möcht mir nur den Weg zeigen heraus aus dem Dickicht. Ich war darüber sehr froh und sie begleitete mich. Ich fragte sie, wo sie wohne, und sie sagte, hinter dem Felsen. Aber auf der militärischen Karte, die ich hatte, stand dort kein Haus und überhaupt nirgends in dieser Gegend. Die Karte ist falsch, sagte sie. So kamen wir an den Rand des Dickichts und ich konnte in weiter Ferne das Zeltlager sehen. Und da blieb sie stehen und sagte zu mir, sie müsse jetzt umkehren und sie würde mir 얍 einen Kuss geben, wenn ich es niemand auf der Welt sagen würde, dass ich sie hier traf. Warum? fragte ich. Weil sie es nicht haben möchte, sagte sie. Ich sagte, geht in Ordnung, und sie gab mir einen Kuss auf die Wange. Das gilt nicht, sagte ich, ein Kuss gilt nur auf den Mund. Sie gab mir einen Kuss auf den Mund. Dabei steckte sie mir die Zunge hinein. Ich sagte, sie ist eine Sau und was sie denn mit der Zunge mache? Da lachte sie und gab mir wieder so einen Kuss. Ich stiess sie von mir. Da hob sie einen Stein auf und warf ihn nach mir. Wenn der meinen Kopf getroffen hätte, wär ich jetzt hin. Ich sagte es ihr. Sie sagte, das würde ihr nichts ausmachen. Dann würdest Du gehänkt, B

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Kuvert, ohneN ] Aufschrift, ohneN ] BMund.N ] B B

korrigiert aus: Kuvert,ohne korrigiert aus: Aufschrift,ohne korrigiert aus: Mund,

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sagte ich. Sie sagte das würde sie sowieso. Plötzlich wurde es mir unheimlich. Sie sagte, ich solle ganz in ihre Nähe kommen. Ich wollte nicht feig sein und kam. Da packte sie mich plötzlich und stiess mir noch einmal ihre Zunge in den Mund. Da wurde ich wütend, packte einen Ast und schlug auf sie ein. Ich traf sie auf dem Rükken und den Schultern, aber nicht auf dem Kopf. Sie gab keinen Ton von sich und brach zusammen. Da lag sie. Ich erschrak sehr, denn ich dachte, 얍 sie wäre vielleicht tot. Ich trat zu ihr hin und berührte sie mit dem Ast. Sie rührte sich nicht. Wenn sie tot ist, hab ich mir gedacht, lass ich sie da liegen und tue, als wär nichts passiert. Ich wollte schon weg, aber da bemerkte ich, dass sie simulierte. Sie blinzelte mir nämlich nach. Ich ging rasch wieder hin. Ja, sie war nicht tot. Ich hab nämlich schon viele Tote gesehen, die sehen ganz anders aus. Schon mit sieben Jahren hab ich einen toten Polizisten und vier tote Arbeiter gesehen, es war nämlich ein Streik. Na wart, dachte ich, Du willst mich da nur erschrecken, aber Du springst schon auf – ich erfasste vorsichtig unten ihren Rock und riss ihn plötzlich hoch. Sie hatte keine Hosen an. Sie rührte sich aber noch immer nicht und mir wurde es ganz anders. Aber plötzlich sprang sie auf und riss mich wild zu sich herab. Ich kenne das schon. Wir liebten uns. Gleich daneben war ein riesiger Ameisenhaufen. Und dann versprach ich es ihr, dass ich es niemand sagen werde, dass ich sie getroffen hab. Sie ist weggelaufen und ich hab ganz vergessen zu fragen, wie sie heisst. Donnerstag. Wir haben Wachen aufgestellt wegen der 얍 Räuberbanden. Der N schreit schon wieder, ich soll die Kerze auslöschen. Wenn er noch einmal schreit, dann hau ich ihm eine herunter. – Jetzt hab ich ihm eine heruntergehaut. Er hat nicht zurückgehaut. Der blöde R hat geschrien, als hätt er es bekommen, der Feigling! Ich ärger mich nur, dass ich mit dem Mädel nichts ausgemacht hab. Ich hätte sie gerne wiedergesehen und mit ihr gesprochen. Ich fühlte sie heute Vormittag unter mir, wie der Feldwebel ‚Auf!‘ und ‚Nieder!‘ kommandiert hat. Ich muss immer an sie denken. Nur ihre Zunge mag ich nicht. Aber sie sagte, das sei Gewöhnung. Wie beim Autofahren das rasche Fahren. Was ist doch das Liebesgefühl für ein Gefühl! Ich glaube, so ähnlich muss es sein, wenn man fliegt. Aber fliegen ist sicher noch schöner. Ich weiss es nicht, ich möcht, dass sie jetzt neben mir liegt. Wenn sie nur da wär, ich bin so allein. Von mir aus soll sie mir auch die Zunge in den Mund stecken. Freitag. Übermorgen werden wir schiessen, endlich! Heute Nachmittag hab ich mit dem N gerauft, ich bring ihn noch um. Der R hat dabei was abbekommen, was stellt sich der Idiot in den 얍 Weg! Aber das geht mich alles nichts mehr an, ich denke nur immer an sie und heute noch stärker. Denn heute Nacht ist sie gekommen. Plötzlich, wie ich auf der Wache gestanden bin. Zuerst bin ich erschrocken, dann hab ich mich riesig gefreut und hab mich geschämt, dass ich erschrocken bin. Sie hats nichts bemerkt, Gott sei Dank! Sie hat so wunderbar gerochen, nach einem Parfum. Ich fragte sie, woher sie es herhabe? Sie sagte, aus der Droguerie im Dorf. Das muss teuer gewesen sein, sagte ich. Oh nein, sagte sie, es kostete nichts. Dann umarmte sie mich wieder und wir waren zusammen. Dabei fragte sie mich, was tun wir jetzt? Ich sagte, wir lieben uns. Ob wir uns noch oft lieben werden, fragte sie. Ja, sagte ich, noch sehr oft. Ob sie nicht ein verdorbenes Mädchen wäre? Nein, wie könne sie sowas sagen! Weil sie mit mir in der Nacht herumliegt. Kein Mädchen ist heilig, sagte ich. Plötzlich sah ich eine Träne auf ihrer Wange, der Mond schien ihr ins Gesicht. Warum weinst Du? Und sie sagte, weil alles so finster ist. Was denn? Und sie fragte mich, ob ich sie auch lie-

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ben würde, wenn sie eine verlorene Seele wär? Was ist das? Und sie sagte mir, sie hätte keine 얍 Eltern und wär mit zwölf Jahren eine Haustochter geworden, aber der Herr wär ihr immer nachgestiegen, sie hätte sich gewehrt und da hätte sie mal ein Geld gestohlen, um weglaufen zu können, weil sie die Frau immer geohrfeigt hätt wegen des Herrn, und da wär sie in eine Besserungsanstalt gekommen, aber von dort wär sie ausgebrochen und jetzt wohne sie in einer Höhle und würde alles stehlen, was ihr begegnet. Vier Jungen aus dem Dorf, die nicht mehr Puppen malen wollen, wären auch dabei, sie wär aber die älteste und die Anführerin. Aber ich dürfe es niemand sagen, dass sie so eine sei, denn dann käme sie wieder in die Besserungsanstalt. Und sie tat mir furchtbar leid und ich fühlte plötzlich, dass ich eine Seele habe. Und ich sagte es ihr und sie sagte mir, ja, jetzt fühle sie es auch, dass sie eine Seele habe. Ich dürfe sie aber nicht missverstehen, wenn jetzt, während sie bei mir ist, im Lager etwas gestohlen wird. Ich sagte, ich würde sie nie missverstehen, nur mir dürfe sie nichts stehlen, denn wir gehörten zusammen. Dann mussten wir uns trennen, denn nun wurde ich bald abgelöst. Morgen treffen wir uns wieder. Ich weiss jetzt, wie sie heisst. Eva. Samstag. 얍 Heute war grosse Aufregung, denn dem G wurde sein Photo gestohlen. Schadet nichts! Sein Vater hat drei Fabriken und die arme Eva muss in einer Höhle wohnen. Was wird sie machen, wenn Winter ist? Der N schreit schon wieder wegen dem Licht. Ich werd ihn noch erschlagen. Ich kann die Nacht kaum erwarten bis sie kommt! Ich möcht mit ihr in einem Zelt leben, aber ohne Lager, ganz allein! Nur mit ihr! Das Lager freut mich nicht mehr. Es ist alles nichts. Oh Eva, ich werde immer für Dich da sein! Du kommst in keine Besserungsanstalt mehr, in keine mehr, das schwör ich Dir zu! Ich werde Dich immer beschützen! Der N schreit, er wird mein Kästchen zertrümmern, morgen, er soll es nur wagen! Denn hier sind meine innersten Geheimnisse drinnen, die niemand was angehen. Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!“

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V ERURTEILT „Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!“ Ich lese den Satz zweimal und muss lächeln. Kinderei! Und ich will an das denken, was ich las, aber ich komme nicht dazu. Vom Waldrand her tönt die Trompete, ich muss mich beeilen, das Regiment naht. Rasch tu ich das Tagebuch wieder ins Kästchen und will es versperren. Ich drehe den Draht hin und her. Umsonst! Es lässt sich nicht mehr schliessen, ich habe das Schloss verdorben – was tun? Sie werden gleich da sein, die Jungen. Ich verstecke das offene Kästchen im Schlafsack und verlasse das Zelt. Es blieb mir nichts anderes übrig. Jetzt kommt das Regiment daher. In der vierten Reihe marschiert der Z. Du hast also ein Mädel und das nennt sich Eva. Und Du weisst es, dass Deine Liebe stiehlt. Aber Du schwörst trotzdem, sie immer zu beschützen. Ich muss wieder lächeln. Kinderei, elende Kinderei! Jetzt hält das Regiment und tritt ab.

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Jetzt kenne ich Deine „innersten Geheimnisse“, denke ich, aber plötzlich kann ich nicht mehr lächeln. Denn ich sehe den Staatsanwalt. Er blättert in seinen Akten. Die Anklage lautet auf Diebstahl und Begünstigung. Nicht nur Eva, auch Adam hat sich zu verantworten. Man müsste den Z sofort verhaften. Ich will es dem Feldwebel sagen und die Gendarmerie verständigen. Oder soll ich zuerst allein mit dem Z reden? Nun steht er drüben bei den Kochtöpfen und erkundigt sich, was er zum essen bekommen wird. Er wird von der Schule fliegen, und das Mädel kommt zurück in die Besserungsanstalt. Beide werden eingesperrt. Adieu Zukunft, lieber Z! Es sind schon grössere Herren über die Liebe gestolpert, über die Liebe, die auch naturnotwendig ist, und also ebenfalls gottgewollt. Und ich höre wieder den Pfaffen: „Das Schrecklichste auf der Welt ist Gott.“ Und ich höre einen wüsten Lärm, Geschrei und Gepolter. Alles stürzt zu einem Zelt. Es ist das Zelt mit dem Kästchen. Der Z und der N raufen, man kann sie kaum trennen. Der N ist rot, er blutet aus dem Mund. Der Z ist weiss. 얍 „Der N hat sein Kästchen erbrochen!“ ruft mir der Feldwebel zu. „Nein!“ schreit der N. „Ich habs nicht getan, ich nicht!“ „Wer denn sonst?!“ schreit der Z. „Sagen Sies selber, Herr Lehrer, wer könnt es denn sonst schon getan haben?!“ „Lüge, Lüge!“ „Er hat es erbrochen und sonst niemand! Er hats mir ja schon angedroht, dass er es mir zertrümmern wird!“ „Aber ich habs nicht getan!“ „Ruhe!“ brüllt plötzlich der Feldwebel. Es wird still. Der Z lässt den N nicht aus den Augen. Jeder, der sein Kästchen anrührt, stirbt, geht es mir plötzlich durch den Sinn. Unwillkürlich blick ich empor. Aber der Himmel ist sanft. Ich fühle, der Z könnte den N umbringen. Auch der N scheint es zu spüren. Er wendet sich kleinlaut an mich. „Herr Lehrer, ich möcht in einem anderen Zelte schlafen.“ „Gut.“ 얍 „Ich habs wirklich nicht gelesen, sein Tagebuch. Helfen Sie mir, Herr Lehrer!“ „Ich werde Dir helfen.“ Jetzt sieht mich der Z an. Du kannst nicht helfen, liegt in seinem Blick. Ich weiss, ich habe den N verurteilt. Aber ich wollt es doch nur wissen, ob der Z mit den Räubern ging, und ich wollt ihn doch nicht leichtfertig in einen Verdacht bringen, drum hab ich das Kästchen erbrochen. Warum sag ichs nur nicht, dass ich es bin, der das Tagebuch las? Nein, nicht jetzt! Nicht hier vor allen! Aber ich werde es sagen. Sicher! Nur nicht vor allen, ich schäme mich!

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Allein werd ichs ihm sagen. Von Mann zu Mann! Und ich will auch mit dem Mädel reden, heut nacht, wenn er sie trifft. Ich werde ihr sagen, sie soll sich nur ja nimmer blicken lassen, und diesem dummen Z werde ich ordentlich seinen Kopf waschen – dabei solls dann bleiben! Schluss! Wie ein Raubvogel zieht die Schuld ihre Kreise. Sie packt uns rasch. Aber ich werde den N freisprechen. Er hat ja auch nichts getan. Und ich werde den Z begnadigen. Und auch das Mädel. Ich lasse mich nicht un얍 schuldig verurteilen! Ja, Gott ist schrecklich, aber ich will ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Mit meinem freien Willen. Einen dicken Strich. Ich werde uns alle retten. Und wie ich so überlege, fühle ich, dass mich wer anstarrt. Es ist der T. Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz. Der Fisch! durchzuckt es mich. Er sieht mich noch immer an, genau wie damals beim Begräbnis des kleinen W. Er lächelt leise, überlegen, spöttisch. Seltsam starr. Weiss er, dass ich es bin, der das Kästchen erbrach? D ER M ANN

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M OND

Der Tag wurd mir lang. Endlich sank die Sonne. Der Abend kam und ich wartete auf die Nacht. Die Nacht kam und ich schlich mich 얍 aus dem Lager. Der Feldwebel schnarchte bereits, es hat mich keiner gesehen. Zwar hing noch der Vollmond über dem Lager, aber aus dem Westen zogen die Wolken in finsteren Fetzen vorbei. Immer wieder wurde es stockdunkel und immer länger währte es, bis das silberne Licht wieder kam. Dort, wo der Wald fast die Zelte berührt, dort wird er wachen, der Z. Dort sass ich nun hinter einem Baum. Ich sah ihn genau, den Posten. Es war der G. Er ging etwas auf und ab. Droben rasten die Wolken, unten schien alles zu schlafen. Droben tobte ein Orkan, unten rührte sich nichts. Nur ab und zu knackte ein Ast. Dann hielt der G und starrte in den Wald. Ich sah ihm in die Augen, aber er konnte mich nicht sehen. Hat er Angst? Im Wald ist immer was los, besonders in der Nacht. Die Zeit verging. Jetzt kommt der Z. Er grüsst den G und der geht. Der Z bleibt allein. Er sieht sich vorsichtig um und blickt dann zum Mond empor. 얍 Es gibt einen Mann im Mond, fällt es mir plötzlich ein, der sitzt auf der Sichel, raucht seine Pfeife und kümmert sich um nichts. Nur manchmal spuckt er auf uns herab.

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K/TS2 (Grundschicht)

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Vielleicht hat er recht. Er wird schon wissen, was er tut. – – Um zirka halbdrei erschien endlich das Mädel, und zwar derart lautlos, dass ich sie erst bemerkte, als sie bereits bei ihm stand. Wo kam sie her? Sie war einfach da. Jetzt umarmt sie ihn und er umarmt sie. Sie küssen sich. Das Mädel steht mit dem Rücken zu mir und ich kann ihn nicht sehen. Sie muss grösser sein als er – Jetzt werde ich hingehen und mit den Beiden sprechen. Ich erhebe mich vorsichtig, damit sie mich nicht hören. Denn sonst läuft mir das Mädel weg. Und ich will doch auch mit ihr reden. Sie küssen sich noch immer. Es ist Unkraut und gehört vertilgt, geht es mir plötzlich durch den Sinn. 얍 Ich sehe eine blinde Alte, die stolpert und stürzt. Und immer muss ich an das Mädel denken, wie sie sich reckt und über die Hecke schaut. Sie muss einen schönen Rücken haben. Ihre Augen möchte ich sehen – Da kommt eine Wolke und alles wird finster. Sie ist nicht gross, die Wolke, denn sie hat einen silbernen Rand. Wie der Mond wieder scheint, gehe ich hin. Jetzt scheint er wieder, der Mond. Das Mädel ist nackt. Er kniet vor ihr. Sie ist sehr weiss. Ich warte. Sie gefällt mir immer mehr. Geh hin! Sag, dass Du das Kästchen erbrochen hast! Du und nicht der N! Geh hin, geh! Ich gehe nicht hin. Jetzt sitzt er auf einem Baumstamm und sie sitzt auf seinen Knieen. Sie hat herrliche Beine. Geh hin! 얍 Ja, sofort – Und es kommen neue Wolken, schwärzere, grössere. Sie haben keine silbernen Ränder und decken die Erde zu. Der Himmel ist weg, ich sehe nichts mehr. Ich lausche, aber es gehen nur Schritte durch den Wald. Ich halte den Atem an. Wer geht? Oder ist es nur der Sturm von droben? Ich kann mich selber nicht mehr sehen. Wo seid Ihr, Adam und Eva? Im Schweisse Eueres Angesichtes solltet Ihr Euer Brot verdienen, aber es fällt Euch nicht ein. Eva stiehlt einen photographischen Apparat und Adam drückt beide Augen zu, statt zu wachen – –

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K/TS2 (Grundschicht)

Ich werd es ihm morgen sagen, diesem Z, morgen in aller Frühe, dass ich es war, der sein Kästchen erbrach. Morgen lass ich mich durch nichts mehr hindern! Und wenn mir der liebe Gott tausend nackte Mädchen schickt! – Immer stärker wird die Nacht. Sie hält mich fest, finster und still. Jetzt will ich zurück. 얍 Vorsichtig taste ich vor – Mit der vorgestreckten Hand berühre ich einen Baum. Ich weiche ihm aus. Ich taste weiter – da, ich zucke entsetzt zurück! Was war das?! Mein Herz steht still. Ich möchte rufen, laut, laut – aber ich beherrsche mich. Was war das?! Nein, das war kein Baum! Mit der vorgestreckten Hand fasste ich in ein Gesicht. Ich zittere. Wer steht da vor mir? Ich wage nicht mehr, weiterzugehen. Wer ist das?! Oder habe ich mich getäuscht? Nein, ich hab es zu deutlich gefühlt: die Nase, die Lippen – Ich setze mich auf die Erde. Ist das Gesicht noch dort drüben? Warte, bis das Licht kommt! Rühre Dich nicht! – Über den Wolken raucht der Mann im Mond. 얍 Es regnet leise. Spuck mich nur an, Mann im Mond! D ER

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VORLETZTE

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Endlich wird es grau, der Morgen ist da. Es ist niemand vor mir, kein Gesicht und nichts. Ich schleiche mich wieder ins Lager zurück. Der Feldwebel liegt auf dem Rücken mit offenem Mund. Der Regen klopft an die Wand. Erst jetzt bin ich müde. Schlafen, schlafen – Als ich erwache, ist das Regiment bereits fort. Ich werde es dem Z sagen, dass ich es war und nicht der N, sowie er zurückkommt. Es ist der vorletzte Tag. Morgen brechen wir unsere Zelte ab und fahren in die Stadt zurück. Es regnet in Strömen, nur manchmal hört es auf. In den Tälern liegen dicke Nebel. Wir sollten die Berge nimmer sehen. B

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korrigiert aus: im

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K/TS2 (Grundschicht)

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Mittags kommt das Regiment zurück, aber nicht komplett. Der N fehlt. 얍 Er dürfte sich verlaufen haben, meint der Feldwebel, und er würde uns schon wieder finden. Ich muss an die Höhlen denken, die im Tagebuch des Z stehen, und werde unsicher. Ist es Angst? Jetzt muss ichs ihm aber sogleich sagen, es wird allmählich Zeit! Der Z sitzt in seinem Zelte und schreibt. Er ist allein. Als er mich kommen sieht, klappt er rasch sein Tagebuch zu und blickt mich misstrauisch an. „Ach, wir schreiben wieder unser Tagebuch“, sage ich und versuche zu lächeln. Er schweigt und blickt mich nur an. Da sehe ich, dass seine Hände zerkratzt sind. Er bemerkt, dass ich die Kratzer beobachte, zuckt etwas zusammen und steckt die Hände in die Taschen. „Friert’s Dich?“ frage ich und lasse ihn nicht aus den Augen. Er schweigt noch immer, nickt nur ja und ein spöttisches Lächeln huscht über sein Gesicht. „Hör mal“, beginne ich langsam, „Du meinst, dass der N Dein Kästchen erbrochen hat –“ „Ich meine es nicht nur“, fällt er mir plötzlich 얍 fest ins Wort, „sondern er hats auch getan.“ „Woher willst Du denn das wissen?“ „Er selbst hat es mir gesagt.“ Ich starre ihn an. Er selbst hat es gesagt? Aber das ist doch unmöglich, er hat es doch gar nicht getan! Der Z blickt mich forschend an, doch nur einen Augenblick lang. Dann fährt er fort: „Er hats mir heut vormittag gestanden, dass er das Kästchen geöffnet hat. Mit einem Draht, aber dann konnt er es nicht wieder schliessen, denn er hat das Schloss ruiniert.“ „Und?“ „Und er hat mich um Verzeihung gebeten und ich habe ihm verziehen.“ „Verziehen?“ „Ja.“ Er blickt gleichgültig vor sich hin. Ich kenne mich nicht mehr aus und es fällt mir ein: „Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!“ Unsinn, Unsinn! „Weisst Du, wo der N jetzt steckt?“ frage ich plötzlich. Er bleibt ganz ruhig. „Woher soll ich das wissen? Sicher hat er sich verirrt. Ich hab mich auch schon mal 얍 verirrt“ – er erhebt sich und es macht den Eindruck, als würde er nicht mehr weiterreden wollen. Da bemerke ich, dass sein Rock zerrissen ist. Soll ich es ihm sagen, dass er lügt? Dass der N es ihm niemals gestanden haben konnte, denn ich, ich habe doch sein Tagebuch gelesen – Aber warum lügt der Z? Nein, ich darf gar nicht daran denken! Warum sagte ich es ihm nur nicht sofort, gleich gestern, als er den N verprügelte! Weil ich mich schämte, vor meinen Herren Schülern zu gestehen, dass ich

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K/TS2 (Grundschicht)

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heimlich mit einem Draht ein Kästchen erbrochen hab, obwohl dies in bester Absicht geschehen ist – verständlich, verständlich! Aber warum verschlief ich nur heute früh?! Richtig, ich sass ja in der Nacht im Wald und machte das Maul nicht auf! Und jetzt, jetzt dürfte es wenig nützen, wenn ich es aufmachen würde. Es ist zu spät. Richtig, auch ich bin schuld. Auch ich bin der Stein, über den er stolperte, die Grube, in die er fiel, der Felsen, von dem er hinunterstürzte – Warum hat mich heut früh nur niemand geweckt?! Ich wollte mich nicht unschuldig verurteilen lassen und schlief, statt mich zu ver얍 teidigen. Mit meinem freien Willen wollte ich einen dicken Strich durch eine Rechnung machen, aber die Rechnung war bereits längst bezahlt. Ich wollte uns alle retten, aber wir waren bereits ertrunken. In dem ewigen Meer der Schuld. Doch wer ist denn schuld, dass das Schloss verdarb? Dass es sich nicht mehr zusperren liess? Egal ob offen oder zu, ich hätte es sagen müssen! Die Pfade der Schuld berühren sich, kreuzen, verwickeln sich. Ein Labyrinth. Ein Irrgarten – mit Zerrspiegeln. Jahrmarkt, Jahrmarkt! Hereinspaziert, meine Herrschaften! Zahlt Busse und Strafe für die Schuld Eueres Daseins! Nur keine Angst, es ist zu spät! – – Am Nachmittag zogen wir alle aus, um den N zu finden. Wir durchsuchten das ganze Gebiet, riefen „N!“ und wieder „N!“, aber es kam keine Antwort. Ich erwartete auch keine. Es dämmerte bereits, als wir zurückkehrten. 얍 Durchnässt, durchfroren. Die Suche verlief ergebnislos. „Wenn das so weiterregnet“, fluchte der Feldwebel, „gibts noch die schönste Sündflut!“ Und es fiel mir wieder ein: als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wichen, sprach der Herr: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde bestrafen um der Menschen willen.“ Und wieder frage ich mich: hat der Herr sein Versprechen gehalten? Es regnet immer stärker. „Wir müssens der Gendarmerie melden“, sagt der Feldwebel, „dass der N abgängig ist.“ „Morgen.“ „Ich versteh Sie nicht, Herr Lehrer, dass Sie so ruhig sind.“ „Ich denke, er wird sich verirrt haben, man verirrt sich ja leicht, und vielleicht übernachtet er auf irgendeinem Bauernhof.“ „In der Gegend dort gibts keine Höfe, nur Höhlen.“ Ich horche auf. Das Wort versetzt mir wieder einen Schlag. „Wollen es hoffen“, fährt der Feldwebel fort, „dass er in einer Höhle sitzt und dass er sich nichts gebrochen hat.“ Ja, wollen wir hoffen. – 얍 Plötzlich frage ich den Feldwebel: „Warum haben Sie mich heut früh nicht geweckt?“

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K/TS2 (Grundschicht)

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„Nicht geweckt?“ Er lacht. „Ich hab Sie in einer Tour geweckt, aber Sie sind ja da gelegen, als hätt Sie der Teufel geholt!“ Richtig, Gott ist das Schrecklichste auf der Welt. B

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Am letzten Tage unseres Lagerlebens kam Gott. Ich erwartete ihn bereits. Der Feldwebel und die Jungen zerlegten gerade die Zelte, als er kam. Sein Erscheinen war furchtbar. Dem Feldwebel wurde es übel und er musste sich setzen. Die Jungen standen entsetzt herum, halb gelähmt. Erst allmählich bewegten sie sich wieder, und zwar immer aufgeregter. Nur der Z bewegte sich kaum. Er starrte zu Boden und ging auf und ab. Doch nur ein paar Meter. Immer hin und her. Dann schrie alles durcheinander, so schien es mir. Nur der Z blieb stumm. 얍 Was war geschehen? Zwei Waldarbeiter waren im Lager erschienen, zwei Holzfäller mit Rucksack, Säge und Axt. Sie berichteten, dass sie einen Jungen gefunden hätten. Sie hatten seinen Schulausweis bei sich. Es war der N. Er lag in der Nähe der Höhlen, in einem Graben, unweit einer Lichtung. Mit einer klaffenden Kopfwunde. Ein Stein musste ihn getroffen haben oder ein Schlag mit irgendeinem stumpfen Gegenstande. Auf alle Fälle war er hin. Tot und tot. Man hat ihn erschlagen, sagten die Waldarbeiter. Ich stieg mit den Waldarbeitern ins Dorf hinab. Zur Gendarmerie. Wir liefen fast. Gott blieb zurück. Die Gendarmen telephonierten mit dem Staatsanwalt in der nächsten Stadt und ich telegraphierte meinem Direktor. Die Mordkommission erschien und begab sich an den Ort der Tat. Dort lag der N im Graben. Er lag auf dem Bauche. Jetzt wurde er photographiert. Die Herren suchten die nähere Umgebung ab. Peinlich genau. Sie suchten das 얍 Mordinstrument und irgendwelche Spuren. Sie fanden, dass der N nicht in jenem Graben erschlagen wurde, sondern ungefähr zwanzig Meter entfernt davon. Man sah deutlich die Spur, wie er in den Graben geschleift worden war, damit ihn niemand finde. Und sie fanden auch das Mordinstrument. Einen blutbefleckten spitzigen Stein. Auch einen Bleistift fanden sie, und einen Kompass. Der Arzt konstatierte, dass der Stein mit grosser Wucht aus nächster Nähe den Kopf des N getroffen haben musste. Und zwar meuchlings, von rückwärts. Befand sich der N auf der Flucht? Der Untat musste nämlich ein heftiger Kampf vorangegangen sein, denn sein Rock war zerrissen. Und seine Hände zerkratzt. – 2

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Als die Mordkommission das Lager betrat, erblickte ich sogleich den Z. Er sass etwas abseits. Auch sein Rock ist zerrissen, ging es mir durch den Sinn, und auch seine Hände sind zerkratzt. Aber ich werde mich hüten, davon zu reden! Mein Rock hat zwar keinen Riss und meine 얍 Hände sind ohne Kratzer, aber trotzdem bin auch ich daran schuld! – Die Herren verhörten uns. Wir wussten alle nichts über den Hergang des Verbrechens. Auch ich nicht. Und auch der Z nicht. Als der Staatsanwalt mich fragte: „Haben Sie keinen Verdacht?“ – da sah ich wieder Gott. Er trat aus dem Zelte, wo der Z schlief, und hatte das Tagebuch in der Hand. Jetzt sprach er mit dem R und liess den Z nicht aus den Augen. Der kleine R schien Gott nicht zu sehen, nur zu hören. Immer grösser wurden seine Augen, als blickte er plötzlich in neues Land. Da höre ich wieder den Staatsanwalt: „So reden Sie doch! Haben Sie keinen Verdacht?“ „Nein.“ „Herr Staatsanwalt“, schreit plötzlich der R und drängt sich vor, „der Z und der N haben sich immer gerauft! Der N hat nämlich das Tagebuch des Z gelesen und deshalb war ihm der Z todfeind – er führt nämlich ein Tagebuch, es liegt in einem Kästchen aus blauem Blech!“ Alle blicken auf den Z. Der steht mit gesenktem Haupt. Man kann 얍 sein Gesicht nicht sehen. Ist es weiss oder rot? Langsam tritt er vor. Er hält vor dem Staatsanwalt. Es wird sehr still. „Ja“, sagt er leise, „ich habs getan.“ Er weint. Ich werfe einen Blick auf Gott. Er lächelt. Warum? Und wie ich mich so frage, sehe ich ihn nicht mehr. Er ist wieder fort.

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Morgen beginnt der Prozess. Ich sitze auf der Terrasse eines Cafés und lese die Zeitungen. Der Abend ist kühl, denn es ist Herbst geworden. Schon seit vielen Tagen berichten die Zeitungen über die kommende Sensation. Einzelne unter der Überschrift Mordprozess Z, andere unter Mordprozess N. Sie bringen Betrachtungen, Skizzen, graben alte Kriminalfälle mit Jugendlichen im Mittelpunkt aus, sprechen über die 얍 Jugend überhaupt und an sich, prophezeien und kommen vom hundertsten ins tausendste, finden aber dennoch immer irgendwie zurück zum Ermordeten N und seinem Mörder Z. Heute früh erschien ein Mitarbeiter bei mir und interviewte mich. Im Abendblatt muss es schon drinnen sein. Ich suche das Blatt. Er hat mich sogar photographiert. Ja, da ist mein Bild! Hm, ich hätt mich kaum wiedererkannt. Eigentlich ganz nett. Und unter dem Bilde steht: „Was sagt der Lehrer?“ Nun, was sage ich?

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„Einer unserer Mitarbeiter besuchte heute vormittag im städtischen Gymnasium jenen Lehrer, der seinerzeit im Frühjahr die oberste Aufsicht über jenes Zeltlager inne hatte, allwo sich die verhängnisvolle Tragödie unter Jugendlichen abrollen sollte. Der Lehrer sagte, er stehe vor einem Rätsel, und zwar nach wie vor. Der Z sei immer ein aufgeweckter Schüler gewesen und ihm, dem Lehrer, wären niemals irgendwelche charakterlichen Anomalitäten, geschweige denn Defekte oder verbrecherische Instinkte aufgefallen. Unser Mitarbeiter legte dem Lehrer die folgenschwere Frage vor, ob diese Untat ihre Wurzel etwa in einer gewissen 얍 Verrohung der Jugend hätte, was jedoch der Lehrer strikt bestritt. Die heutige Jugend, meinte er, sei keineswegs verroht, sie sei vielmehr, dank der allgemeinen Gesundung, äusserst pflichtbewusst, aufopferungsfreudig und absolut national. Dieser Mord sei ein tiefbedauerlicher Einzelfall, ein Rückfall in schlimmste liberalistische Zeiten. Jetzt läutet die Schulglocke, die Pause ist aus, und der Lehrer empfiehlt sich. Er schreitet in die Klasse, um junge aufgeschlossene Seelen zu wertvollen Volksgenossen auszubilden. Gottlob ist der Fall Z nur ein Ausnahmefall, der ausnahmsweise Durchbruch eines verbrecherischen Individualismus!“ Hinter meinem Interview folgt eines mit dem Feldwebel. Auch sein Bild ist in der Zeitung, aber so hat er mal ausgesehen, vor dreissig Jahren. Ein eitler Knopf. Nun, was sagt der Feldwebel? „Unser Mitarbeiter besuchte auch den seinerzeitigen militärischen Ausbildungsleiter. Der militärische Ausbildungsleiter, kurz MA genannt, empfing unseren Mitarbeiter mit ausgesuchter Höflichkeit, doch in der strammen Haltung des alten, immer noch frischen Haudegens. Seiner Ansicht nach entspringt die 얍 Tat einem Mangel an Disziplin. Eingehend äusserte er sich über den Zustand des Leichnams des Ermordeten, anlässlich dessen Auffindung. Er hatte den ganzen Weltkrieg mitgemacht, jedoch niemals eine derart grauenhafte Wunde gesehen. ‚Als alter Soldat bin ich für den Frieden‘, schloss sein aufschlussreiches Gespräch.“ „Unser Mitarbeiter besuchte auch die Präsidentin des Verbandes gegen die Kinderverwahrlosung, die Frau Rauchfangkehrermeister K. Die Präsidentin bedauert den Fall aus tiefstem Inneren heraus. Sie kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen, visionäre Träume quälen die verdienstvolle Frau. Ihrer Meinung nach wäre es höchste Zeit, dass die massgebenden Faktoren endlich bessere Besserungsanstalten bauten, angesichts der sozialen Not.“ Ich blättere weiter. Ach, wer ist denn das? Richtig, das ist ja der Bäckermeister N, der Vater des Toten! Und auch seine Gattin ist abgebildet, Frau Elisabeth N, geborene S. „Ihre Frage“, sagt der Bäckermeister zum Mitarbeiter, „will ich gerne beantworten. Das unbestechliche Gericht wird es herauszufinden haben, ob unser ärmster Otto nicht doch nur 얍 das Opfer eines sträflichen Leichtsinns der Aufsichtsstelle geworden ist, ich denke jetzt ausschliesslich an den Lehrer und keineswegs an den MA. Justitia fundamentum regnorum. Überhaupt müsste eine richtige Durchsiebung des Lehrpersonals erfolgen, es wimmelt noch vor lauter getarnten Staatsfeinden. Bei Philippi sehen wir uns wieder!“ Und die Frau Bäckermeister meint: „Ottochen war meine Sonne. Jetzt hab ich halt nurmehr meinen Gatten. Aber Ottochen und ich, wir stehen immer in einem geistigen Kontakt. Ich bin in einem spiritistischen Zirkel.“ B

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Ich lese weiter. In einer anderen Zeitung steht: „Die Mutter des Mörders wohnt in einer Dreizimmerwohnung. Sie ist die Witwe des Universitätsprofessors Z, der vor zirka zehn Jahren starb. Professor Z war ein angesehener Physiologe. Seine Studien über die Reaktion der Nerven anlässlich von Amputationen erregten nicht nur in Fachkreisen Aufsehen. Vor zirka zwanzig Jahren bildete er einige Zeit hindurch das Hauptangriffsziel des Vereins gegen Vivisektion. Frau Professor Z verweigert uns leider jede Aussage. Sie sagt nur: ‚Meine Herren, können Sie es 얍 sich denn nicht denken, was ich durchzumachen habe?‘ Sie ist eine mittelgrosse Dame. Sie trug Trauer.“ Und in einer anderen Zeitung entdecke ich den Verteidiger des Angeklagten. Er hat auch mit mir schon dreimal gesprochen und scheint Feuer und Flamme für den Fall zu sein. Ein junger Anwalt, der weiss, was für ihn auf dem Spiele steht. Alle Mitarbeiter blicken auf ihn. Es ist ein langes Interview. „In diesem sensationellen Mordprozess, meine Herren“, beginnt der Verteidiger sein Interview, „befindet sich die Verteidigung in einer prekären Situation. Sie hat nämlich ihre Klinge nicht nur gegen die Staatsanwaltschaft, sondern auch gegen den Angeklagten, den sie ja verteidigen muss, zu führen.“ „Wieso?“ „Der Angeklagte, meine Herren, bekennt sich eines Verbrechens wider die Person schuldig. Es ist Totschlag und nicht Mord, wie ich ganz besonders zu vermerken bitte. Aber trotz des Geständnisses des jugendlichen Angeklagten bin ich felsenfest davon überzeugt, dass er nicht der Täter ist. Meiner Überzeugung nach deckt er jemanden.“ „Sie wollen doch nicht behaupten, Herr Doktor, dass jemand anderer die Tat be얍 ging?“ „Doch meine Herren, das will ich sogar sehr behaupten! Abgesehen davon, dass mir dies auch ein undefinierbares Gefühl sagt, gewissermassen der Jagdinstinkt des Kriminalisten, habe ich auch bestimmte Gründe für meine Behauptung. Er war es nicht! Überlegen Sie sich doch mal die Motive der Tat! Er erschlägt seinen Mitschüler, weil dieser sein Tagebuch las. Aber was stand denn in dem Tagebuch? Doch hauptsächlich die Affäre mit jenem verkommenen Mädchen. Er schützt das Mädchen und verkündet unüberlegt: ‚Jeder, der mein Tagebuch anrührt, stirbt!‘ – gewiss gewiss! Es spricht alles gegen ihn und doch auch wieder nicht alles. Abgesehen davon, dass die ganze Art und Weise seines Geständnisses einer ritterlichen Haltung nicht ganz entbehrt, ist es denn nicht auffallend, dass er über den eigentlichen Totschlag nicht spricht? Kein Wörtchen über den Hergang der Tat! Warum erzählt er sie uns nicht? Er sagt, er erinnere sich nicht mehr. Falsch! Er könnte sich nämlich gar nicht erinnern, denn er weiss es ja nicht, wie, wo und wann sein bedauernswerter Mit-얍schüler erschlagen wurde. Er weiss nur, es geschah mit einem Stein. Man zeigt ihm Steine, er kann sich nicht mehr erinnern. Meine Herren, er deckt die Tat eines anderen!“ „Aber der zerrissene Rock und die Kratzer an den Händen?“ „Gewiss, er hat den N auf einem Felsen getroffen und hat mit ihm gerauft, das erzählt er uns ja auch mit allen Einzelheiten. Aber dass er ihm dann nachgeschlichen ist und hinterrücks mit einem Stein – nein-nein! Den N erschlug ein anderer, oder vielmehr: eine andere!“

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„Sie meinen jenes Mädchen?“ „Jawohl, die meine ich! Sie beherrschte ihn, sie beherrscht ihn noch immer. Er ist ihr hörig. Meine Herren, wir werden auch die Psychiater vernehmen!“ „Ist das Mädchen als Zeugin geladen?“ „Natürlich! Sie wurde kurz nach dem Morde in einer Höhle verhaftet und ist bereits längst abgeurteilt, samt ihrer Bande. Wir werden Eva sehen und hören, vielleicht schon morgen.“ „Wie lange wird der Prozess dauern?“ „Ich rechne mit zwei bis drei Tagen. Es sind zwar nicht viele Zeugen geladen, aber, 얍 wie gesagt, ich werde mit dem Angeklagten scharf kämpfen müssen. Hart auf hart! Ich fechte es durch! Er wird wegen Diebstahlsbegünstigung verurteilt werden – das ist alles!“ Ja, das ist alles. Von Gott spricht keiner.

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Vor dem Justizpalast standen dreihundert Menschen. Sie wollten alle hinein, doch das Tor war zu, denn die Einlasskarten waren bereits seit Wochen vergeben. Meist durch Protektion, aber nun wurde streng kontrolliert. In den Korridoren kam man kaum durch. Alle wollten den Z sehen. Besonders die Damenwelt. Vernachlässigt und elegant, waren sie geil auf Katastrophen, von denen sie kein Kind bekommen konnten. Sie lagen mit dem Unglück anderer Leute im Bett und befriedigten sich mit einem künstlichen Mitleid. Die Pressetribüne war überfüllt. 얍 Als Zeugen waren u.a. geladen: die Eltern des N, die Mutter des Z, der Feldwebel, der R, der mit Z und N das Zelt geteilt hatte, die beiden Waldarbeiter, die die Leiche des Ermordeten gefunden hatten, der Untersuchungsrichter, die Gendarmen, usw. usw. Und natürlich auch ich. Und natürlich auch Eva. Aber die war noch nicht im Saal. Sie sollte erst vorgeführt werden. Der Staatsanwalt und der Verteidiger blättern in den Akten. Jetzt sitzt Eva in einer Einzelzelle und wartet, dass sie drankommt. Der Angeklagte erscheint. Ein Wachmann begleitet ihn. Er sieht aus, wie immer. Nur bleicher ist er geworden und mit den Augen zwinkert er. Es stört ihn das Licht. Sein Scheitel ist noch in Ordnung. Er setzt sich auf die Angeklagtenbank, als wärs eine Schulbank. Alle sehen ihn an. Er blickt kurz hin und erblickt seine Mutter. Er starrt sie an – was rührt sich in ihm? 얍 Scheinbar nichts. Seine Mutter schaut ihn kaum an. Oder scheint es nur so? Denn sie ist dicht verschleiert – schwarz und schwarz, kein Gesicht.

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Der Feldwebel begrüsst mich und erkundigt sich, ob ich sein Interview gelesen hätte. Ich sage „ja“, und der Bäckermeister N horcht auf meine Stimme hin gehässig auf. Er könnt mich wahrscheinlich erschlagen. Mit einer altbackenen Semmel. S CHLEIER

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Der Präsident des Jugendgerichtshofes betritt den Saal, und alles erhebt sich. Er setzt sich und eröffnet die Verhandlung. Ein freundlicher Grosspapa. Die Anklageschrift wird verlesen. Z wird nicht des Totschlags, sondern des Mordes angeklagt, und zwar des meuchlerischen. Der Grosspapa nickt, als würde er sagen: „Oh, diese Kinder!“ Dann wendet er sich dem Angeklagten zu. Z erhebt sich. Er gibt seine Personalien an und ist nicht befangen. 얍 Nun soll er in freier Rede sein Leben erzählen. Er wirft einen scheuen Blick auf seine Mutter und wird befangen. Es wär so gewesen, wie bei allen Kindern, fängt er dann leise an. Seine Eltern wären nicht besonders streng gewesen, wie eben alle Eltern. Sein Vater sei schon sehr bald gestorben. Er ist das einzige Kind. Die Mutter führt ihr Taschentuch an die Augen, aber oberhalb des Schleiers. Ihr Sohn erzählt, was er werden wollte – ja, er wollte mal ein grosser Erfinder werden. Aber er wollte nur Kleinigkeiten erfinden, wie zum Beispiel: einen neuartigen Reissverschluss. „Sehr vernünftig“, nickt der Präsident. „Aber wenn Du nichts erfunden hättest?“ „Dann wäre ich Flieger geworden. Postflieger. Am liebsten nach Übersee.“ Zu den Negern? muss ich unwillkürlich denken. Und wie der Z so von seiner ehemaligen Zukunft spricht, rückt die Zeit immer näher und näher – bald wird er da sein, der Tag, an dem der liebe Gott kam. Der Z schildert das Lagerleben, das Schiessen, Marschieren, das Hissen der 얍 Flagge, den Feldwebel und mich. Und er sagt einen sonderbaren Satz: „Die Ansichten des Herrn Lehrers waren mir oft zu jung.“ Der Präsident staunt. „Wieso?“ „Weil der Herr Lehrer immer nur sagte, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.“ Der Präsident sieht den Z gross an. Fühlt er, dass nun ein Gebiet betreten wurde, wo das Radio regiert? Wo die Sehnsucht nach der Moral zum alten Eisen geworfen wird, während man vor der Brutalität der Wirklichkeit im Staube liegt? Ja, er scheint es zu fühlen, denn er sucht nach einer günstigen Gelegenheit, um die Erde verlassen zu können. Plötzlich fragt er den Z: „Glaubst Du an Gott?“ „Ja“, sagt der Z, ohne zu überlegen. „Und kennst Du das fünfte Gebot?“ „Ja.“

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Horváth 1938a, S. 127

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Bereust Du Deine Tat?“ Es wird sehr still im Saal. „Ja“, meint der Z, „ich bereue sie sehr.“ Sie klang aber unecht, die Reue. Der Präsident schneuzte sich. 얍 Das Verhör wandte sich dem Mordtag zu. Die Einzelheiten, die bereits jeder kannte, wurden abermals durchgekaut. „Wir sind sehr früh fortmarschiert“, erzählt der Z zum hundertstenmal, „und sind dann bald in einer Schwarmlinie durch das Dickicht gegen einen Höhenzug vorgerückt, der von dem markierten Feinde gehalten wurde. In der Nähe der Höhlen traf ich zufällig den N. Es war auf einem Felsen. Ich hatte eine riesige Wut auf den N, weil er mein Kästchen erbrochen hat. Er hat es zwar geleugnet –“ „Halt!“ unterbricht ihn der Präsident. „Der Herr Lehrer hat es hier in den Akten vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gegeben, dass Du ihm gesagt hättest, der N hätte es Dir gestanden, dass er das Kästchen erbrochen hat.“ „Das hab ich nur so gesagt.“ „Warum?“ „Damit kein Verdacht auf mich fällt, wenn es herauskommt.“ „Aha. Weiter!“ „Wir gerieten also ins Raufen, ich und der N, und er warf mich fast den Felsen hinab – 얍 da wurd es mir rot vor den Augen, ich sprang wieder empor und warf ihm den Stein hinauf.“ „Auf dem Felsen?“ „Nein.“ „Sondern wo?“ „Das hab ich vergessen.“ Er lächelt. Es ist nichts aus ihm herauszubekommen. Er erinnert sich nicht mehr. „Und wo setzt sie wieder ein, Deine Erinnerung?“ „Ich ging ins Lager zurück und schrieb es in mein Tagebuch hinein, dass ich mit dem N gerauft habe.“ „Ja, das ist die letzte Eintragung, aber Du hast den letzten Satz nicht zu Ende geschrieben.“ „Weil mich der Herr Lehrer gestört hat.“ „Was wollte er von Dir?“ „Ich weiss es nicht.“ „Nun, er wird es uns schon erzählen.“ Auf dem Gerichtstisch liegt das Tagebuch, ein Bleistift und ein Kompass. Und ein Stein. Der Präsident fragt den Z, ob er den Stein wiedererkenne? Der Z nickt ja. „Und wem gehört der Bleistift, der Kompass?“ 얍 „Die gehören nicht mir.“ „Sie gehören dem unglücklichen N“, sagt der Präsident und blickt wieder in die Akten. „Doch nein! Nur der Bleistift gehört dem N! Warum sagst Du es denn nicht, dass der Kompass Dir gehört?“ Der Z wird rot.

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Ich hab es vergessen“, entschuldigt er sich leise. Da erhebt sich der Verteidiger: „Herr Präsident, vielleicht gehört der Kompass wirklich nicht ihm.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Damit will ich sagen, dass dieser fatale Kompass, der dem N nicht gehört, vielleicht auch dem Z nicht gehört, sondern vielleicht einer dritten Person. Bitte mal den Angeklagten zu fragen, ob wirklich niemand dritter dabei war, als die Tat geschah.“ Er setzt sich wieder, und der Z wirft einen kurzen feindseligen Blick auf ihn. „Es war keinerlei dritte Person dabei“, sagt er fest. Da springt der Verteidiger auf: „Wieso erinnert er sich so fest daran, dass keine dritte 얍 Person dabei war, wenn er sich überhaupt nicht erinnern kann, wann, wie und wo die Tat verübt wurde?!“ Aber nun mischt sich auch der Staatsanwalt ins Gespräch. „Der Herr Verteidiger will anscheinend darauf hinaus“, meint er ironisch, „dass nicht der Angeklagte, sondern der grosse Unbekannte den Mord vollführte. Jawohl, der grosse Unbekannte –“ „Ich weiss nicht“, unterbricht ihn der Verteidiger, „ob man ein verkommenes Mädchen, das eine Räuberbande organisierte, so ohne weiteres als eine grosse Unbekannte bezeichnen darf –“ „Das Mädel war es nicht“, fällt ihm der Staatsanwalt ins Wort, „sie wurde weissgott eingehend genug verhört, wir werden ja auch den Herrn Untersuchungsrichter als Zeugen hören – abgesehen davon, dass ja der Angeklagte die Tat glatt zugibt, er hat sie sogar sogleich zugegeben, was auch in gewisser Hinsicht für ihn spricht. Die Absicht der Verteidigung, die Dinge so hinzustellen, als hätte das Mädchen gemordet und als würde der Z sie nur decken, führt zu Hirngespinsten!“ „Abwarten!“ lächelt der Verteidiger und wendet sich an den Z: „Steht es nicht 얍 schon in Deinem Tagebuch, sie nahm einen Stein und warf ihn nach mir – und wenn der mich getroffen hätte, dann wär ich jetzt hin?“ Der Z sieht ihn ruhig an. Dann macht er eine wegwerfende Geste. „Ich hab übertrieben, es war nur ein kleiner Stein.“ Und plötzlich gibt er sich einen Ruck. „Verteidigen Sie mich nicht mehr, Herr Doktor, ich möchte bestraft werden für das, was ich tat!“ „Und Deine Mutter?!“ schreit ihn sein Verteidiger an. „Denkst Du denn gar nicht an Deine Mutter, was die leidet?! Du weisst ja nicht, was Du tust!“ Der Z steht da und senkt den Kopf. Dann blickt er auf seine Mutter. Fast forschend. Alle schauen sie an, aber sie können nichts sehen vor lauter Schleier. 얍

IN

DER

W OHNUNG

Vor Einvernahme der Zeugen schaltet der Präsident eine Pause ein. Es ist Mittag. Der Saal leert sich allmählich, der Angeklagte wird abgeführt. Staatsanwalt und Verteidiger blicken sich siegesgewiss an. Ich gehe in den Anlagen vor dem Justizpalast spazieren. Es ist ein trüber Tag, nass und kalt. Die Blätter fallen – ja, es ist wieder Herbst geworden. Ich biege um eine Ecke und halte fast.

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Aber ich gehe gleich weiter. Auf der Bank sitzt die Mutter des Z. Sie rührt sich nicht. Sie ist eine mittelgrosse Dame, fällt es mir ein. Unwillkürlich grüsse ich. Sie dankt jedoch nicht. Wahrscheinlich hat sie mich gar nicht gesehen. Wahrscheinlich ist sie ganz anderswo – – Die Zeit, in der ich an keinen Gott glaubte, ist vorbei. Heute glaube ich an ihn. Aber ich mag ihn nicht. Ich sehe ihn noch vor mir, 얍 wie er im Zeltlager mit dem kleinen R spricht und den Z nicht aus den Augen lässt. Er muss stechende, tückische Augen haben – kalt, sehr kalt. Nein, er ist nicht gut. Warum lässt er die Mutter des Z so sitzen? Was hat sie denn getan? Kann sie für das, was ihr Sohn verbrach? Warum verurteilt er die Mutter, wenn er den Sohn verdammt? Nein, er ist nicht gerecht. Ich will mir eine Zigarette anzünden. Zu dumm, ich hab sie zu Hause vergessen! Ich verlasse die Anlagen und suche ein Zigarettengeschäft. In einer Seitenstrasse finde ich eines. Es ist ein kleines Geschäft und gehört einem uralten Ehepaar. Es dauert lang, bis der Alte die Schachtel öffnet und die Alte zehn Zigaretten zählt. Sie stehen sich gegenseitig im Wege, sind aber freundlich zueinander. Die Alte gibt mir zu wenig heraus und ich mache sie lächelnd darauf aufmerksam. Sie erschrickt sehr. „Gottbehüt!“ meint sie, und ich denke, wenn Dich Gott behütet, dann bist Du ja wohl geborgen. Sie hat kein Kleingeld und geht hinüber zum Metzger wechseln. Ich bleib mit dem Alten zurück und zünde mir eine Zigarette an. 얍 Er fragt, ob ich einer vom Gericht wär, denn bei ihm kauften hauptsächlich Herren vom Gericht. Und schon fängt er auch mit dem Mordprozess an. Der Fall sei nämlich riesig interessant, denn da könnte man deutlich Gottes Hand darin beobachten. Ich horche auf. Gottes Hand? „Ja“, sagt er, „denn in diesem Falle scheinen alle Beteiligten schuld zu sein. Auch die Zeugen, der Feldwebel, der Lehrer – und auch die Eltern.“ „Die Eltern?“ „Ja. Denn nicht nur die Jugend, auch die Eltern kümmern sich nicht mehr um Gott. Sie tun, als wär er gar nicht da.“ Ich blicke auf die Strasse hinaus. Die Alte verlässt die Metzgerei und geht nach rechts zum Bäcker. Aha, der Metzger konnte auch nicht wechseln. Es ist niemand auf der Strasse zu sehen, und plötzlich werde ich einen absonderlichen Gedanken nicht mehr los: es hat etwas zu bedeuten, denke ich, dass der Metzger nicht wechseln 얍 kann. Es hat etwas zu bedeuten, dass ich hier warten muss. Ich sehe die hohen grauen Häuser und sage: „Wenn man nur wüsste, wo Gott wohnt.“ „Er wohnt überall, wo er nicht vergessen wurde“, höre ich die Stimme des Alten. „Er wohnt auch hier bei uns, denn wir streiten uns nie.“ Ich halte den Atem an.

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Was war das? War das noch die Stimme des Alten? Nein, das war nicht seine – das war eine andere Stimme. Wer sprach da zu mir? Ich dreh mich nicht um. Und wieder höre ich die Stimme: „Wenn Du als Zeuge aussagst und meinen Namen nennst, dann verschweige es nicht, dass Du das Kästchen erbrochen hast.“ Das Kästchen? Nein! Da werd ich doch nur bestraft, weil ich den Dieb nicht verhaften liess! „Das sollst Du auch!“ Aber ich verliere auch meine Stellung, mein Brot – „Du musst es verlieren, damit kein neues Unrecht entsteht.“ 얍 Und meine Eltern?! Ich unterstütze sie ja! „Soll ich Dir Deine Kindheit zeigen?“ Meine Kindheit? Die Mutter keift, der Vater schimpft. Sie streiten sich immer. Nein, hier wohnst Du nicht. Hier gehst Du nur vorbei und Dein Kommen bringt keine Freude – Ich möchte weinen. „Sage es“, höre ich die Stimme, „sage es, dass Du das Kästchen erbrochen hast. Tu mir den Gefallen und kränke mich nicht wieder.“

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D ER K OMPASS 25

Der Prozess schreitet fort. Die Zeugen sind dran. Die Waldarbeiter, die Gendarmen, der Untersuchungsrichter, der Feldwebel, sie habens schon hinter sich. Auch der Bäckermeister N und seine Gattin Elisabeth sagten schon, was sie wussten. Sie wussten alle nichts. Der Bäckermeister brachte es nicht übers Herz, meine Ansicht über die Neger unerwähnt 얍 zu lassen. Er richtete heftige Vorwürfe gegen meine verdächtige Gesinnung, und der Präsident sah ihn missbilligend an, wagte es aber nicht, ihn zu unterbrechen. Jetzt wird die Mutter des Z aufgerufen. Sie erhebt sich und tritt vor. Der Präsident setzt es ihr auseinander, dass sie sich ihrer Zeugenaussage entschlagen könnte, doch sie fällt ihm ins Wort, sie wolle aussagen. Sie spricht, nimmt jedoch den Schleier nicht ab. Sie hat ein unangenehmes Organ. Der Z sei ein stilles, jedoch jähzorniges Kind, erzählt sie, und diesen Jähzorn hätte er von seinem Vater geerbt. Krank wäre er nie gewesen, nur so die gewöhnlichen harmlosen Kinderkrankheiten hätte er durchgemacht. Geistige Erkrankungen wären in der Familie auch nicht vorgekommen, weder väterlicher- noch mütterlicherseits. Plötzlich unterbricht sie sich selber und fragt: „Herr Präsident, darf ich an meinen Sohn eine Frage richten?“ B

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N

B

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B B

DieN ] ErN ]

N

korrigiert aus: Der korrigiert aus: Es

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K/TS2 (Grundschicht)

„Bitte!“ Sie tritt an den Gerichtstisch, nimmt den Kompass in die Hand und wendet sich ihrem Sohne zu. „Seit wann hast Du denn einen Kompass?“ fragt sie und es klingt wie Hohn. „Du 얍 hast doch nie einen gehabt, wir haben uns ja noch gestritten vor Deiner Abreise ins Lager, weil Du sagtest, alle haben einen, nur ich nicht und ich werde mich verirren ohne Kompass – woher hast Du ihn also?“ Der Z starrt sie an. Sie wendet sich triumphierend an den Präsidenten: „Es ist nicht sein Kompass und den Mord hat der begangen, der diesen Kompass verloren hat!“ Der Saal murmelt und der Präsident fragt den Z: „Hörst Du, was Deine Mutter sagt?“ Der Z starrt sie noch immer an. „Ja“, sagt er langsam. „Meine Mutter lügt.“ Der Verteidiger schnellt empor: „Ich beantrage, ein Fakultätsgutachten über den Geisteszustand des Angeklagten einzuholen!“ Der Präsident meint, das Gericht würde sich später mit diesem Antrag befassen. Die Mutter fixiert den Z: „Ich lüge, sagst Du?“ „Ja.“ „Ich lüge nicht!“ brüllt sie plötzlich los. „Nein, ich habe noch nie in meinem Leben gelogen, aber Du hast immer gelogen, immer! 얍 Ich sage die Wahrheit und nur die Wahrheit, aber Du willst doch nur dieses dreckige Weibsbild beschützen, dieses verkommene Luder!“ „Das ist kein Luder!“ „Halt den Mund!“ kreischt die Mutter und wird immer hysterischer. „Du denkst eh immer nur an lauter solche elende Fetzen, aber nie denkst Du an Deine arme Mutter!“ „Das Mädel ist mehr wert wie Du!“ „Ruhe!“ schreit der Präsident empört und verurteilt den Z wegen Zeugenbeleidigung zu zwei Tagen Haft. „Unerhört“, fährt er ihn an, „wie Du Deine eigene Mutter behandelst! Das lässt aber tief blicken!“ Jetzt verliert der Z seine Ruhe. Der Jähzorn, den er von seinem Vater geerbt hat, bricht aus. „Das ist doch keine Mutter!“ schreit er. „Nie kümmert sie sich um mich, immer nur um ihre Dienstboten! Seit ich lebe, höre ich ihre ekelhafte Stimme, wie sie in der Küche die Mädeln beschimpft!“ „Er hat immer zu den Mädeln gehalten, Herr Präsident! Genau wie mein Mann!“ Sie lacht kurz. „Lach nicht Mutter!“ herrscht sie der Sohn an. „Erinnerst Du Dich an die The얍 kla?!“ „An was für eine Thekla?!“ „Sie war fünfzehn Jahre alt und Du hast sie seckiert , wo Du nur konntest! Bis elf Uhr nachts musste sie bügeln und morgens um halbfünf schon aufstehen und zu fressen hat sie auch nichts bekommen! Und dann ist sie weg – erinnerst Du Dich?“ „Ja, sie hat gestohlen!“ B

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seckiertN ]

gemeint ist: sekkiert

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Um fort zu können! Ich war damals sechs Jahre alt und weiss es noch genau, wie der Vater nach Haus gekommen ist und gesagt hat, das arme Mädel ist erwischt worden, sie kommt in die Besserungsanstalt! Und daran warst Du schuld, nur Du!“ „Ich?!“ „Vater hat es auch gesagt!“ „Vater, Vater! Der hat vieles gesagt!“ „Vater hat nie gelogen! Ihr habt Euch damals entsetzlich gestritten und Vater schlief nicht zu Haus, erinnerst Du Dich? Und so ein Mädel wie die Thekla, so eines ist auch die Eva – genau so! Nein, Mutter, ich mag Dich nicht mehr!“ Es wurde sehr still im Saal. Dann sagt der Präsident: „Ich danke, Frau Professor!“ 얍

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D AS K ÄSTCHEN 15

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Nun bin ich dran. Es ist bereits dreiviertelfünf. Ich werde als Zeuge vereidigt. Ich schwöre bei Gott, nach bestem Gewissen die Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen. Jawohl, nichts zu verschweigen. Während ich schwöre, wird der Saal unruhig. Was gibts? Ich dreh mich kurz um und erblicke Eva. Sie setzt sich gerade auf die Zeugenbank, begleitet von einer Gefängnisbeamtin. Ihre Augen wollt ich mal sehen, geht es mir durch den Sinn. Ich werde sie mir anschauen, sowie ich alles gesagt haben werde. Jetzt komme ich nicht dazu. Ich muss ihr den Rücken zeigen, denn vor mir steht das Kruzifix. Sein Sohn. Ich schiele nach dem Z. Er lächelt. Ob sie jetzt wohl auch lächelt – hinter meinem Rücken? 얍 Ich beantworte die Fragen des Präsidenten. Er streift auch wieder die Neger – ja, wir verstehen uns. Ich stelle dem N ein gutes Zeugnis aus und ebenso dem Z. Beim Mord war ich nicht dabei. Der Präsident will mich schon entlassen, da falle ich ihm ins Wort: „Nur noch eine Kleinigkeit, Herr Präsident!“ „Bitte!“ „Jenes Kästchen, in welchem das Tagebuch des Z lag, erbrach nicht der N.“ „Nicht der N? Sondern?“ „Sondern ich. Ich war es, der das Kästchen mit einem Draht öffnete.“ Die Wirkung dieser Worte war gross. Der Präsident liess den Bleistift fallen, der Verteidiger schnellte empor, der Z glotzte mich an mit offenem Munde, seine Mutter schrie auf, der Bäckermeister wurde bleich, wie Teig, und griff sich ans Herz. Und Eva? Ich weiss es nicht. B

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Herz.N ]

korrigiert aus: Herz.“

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Ich fühle nur eine allgemeine ängstliche Unruhe hinter mir. Es murrt, es tuschelt. Der Staatsanwalt erhebt sich hypnotisiert und deutet langsam mit dem Finger 얍 nach mir. „Sie?!“ fragt er gedehnt. „Ja“, sage ich und wundere mich über meine Ruhe. Ich fühle mich wunderbar leicht. Und erzähle nun alles. Warum ich das Kästchen erbrach und weshalb ich es dem Z nicht sogleich gestand. Weil ich mich nämlich schämte, aber es war auch eine Feigheit dabei. Ich erzähle alles. Weshalb ich das Tagebuch las und warum ich keine gesetzlichen Konsequenzen zog, denn ich wollte einen Strich durch eine Rechnung ziehen. Einen dicken Strich. Durch eine andere Rechnung. Ja, ich war dumm! Ich bemerke, dass der Staatsanwalt zu notieren beginnt, aber das stört mich nicht. Alles, alles! Erzähl nur zu! Auch Adam und Eva. Und die finsteren Wolken und den Mann im Mond! Als ich fertig bin, steht der Staatsanwalt auf. „Ich mache den Herrn Zeugen darauf aufmerksam, dass er sich über die Konsequenzen 얍 seiner interessanten Aussage keinerlei Illusionen hingeben soll. Die Staatsanwaltschaft behält es sich vor, Anklage wegen Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung zu erheben.“ „Bitte“, verbeuge ich mich leicht, „ich habe geschworen, nichts zu verschweigen.“ Da brüllt der Bäckermeister: „Er hat meinen Sohn am Gewissen, nur er!“ Er bekommt einen Herzanfall und muss hinausgeführt werden. Seine Gattin hebt drohend den Arm: „Fürchten Sie sich“, ruft sie mir zu, „fürchten Sie sich vor Gott!“ Nein, ich fürchte mich nicht mehr vor Gott. Ich spüre den allgemeinen Abscheu um mich herum. Nur zwei Augen verabscheuen mich nicht. Sie ruhen auf mir. Still, wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat. Eva, bist Du schon der Herbst? V ERTRIEBEN

AUS DEM

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P ARADIES

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Eva wird nicht vereidigt. „Kennst Du das?“ fragt sie der Präsident und hebt den Kompass hoch. „Ja“, sagt sie, „das zeigt die Richtungen an.“ 얍 „Weisst Du, wem der gehört?“ „Mir nicht, aber ich kann es mir denken.“ „Schwindel nur nicht!“ „Ich schwindle nicht. Ich möcht jetzt genau so die Wahrheit sagen wie der Herr Lehrer.“ Wie ich? Der Staatsanwalt lächelt ironisch. Der Verteidiger lässt sie nicht aus den Augen. „Also los!“ meint der Präsident. Und Eva beginnt:

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Als ich den Z in der Nähe unserer Höhle traf, kam der N daher.“ „Du warst also dabei?“ „Ja.“ „Und warum sagst Du das erst jetzt? Warum hast Du denn die ganze Untersuchung über gelogen, dass Du nicht dabei warst, wie der Z den N erschlug?!“ „Weil der Z nicht den N erschlug.“ „Nicht der Z?! Sondern?!“ Ungeheuer ist die Spannung. Alles im Saal beugt sich vor. Sie beugen sich über das Mädchen, aber das Mädchen wird nicht kleiner. Der Z ist sehr blass. Und Eva erzählt: „Der Z und der N rauften 얍 fürchterlich, der N war stärker und warf den Z über den Felsen hinab. Ich dachte, jetzt ist er hin und ich wurde sehr wild und ich dachte auch, er kennt ja das Tagebuch und weiss alles von mir – ich nahm einen Stein, diesen Stein da, und lief ihm nach. Ich wollte ihm den Stein auf den Kopf schlagen, ja, ich wollte, aber plötzlich sprang ein fremder Junge aus dem Dickicht, entriss mir den Stein und eilte dem N nach. Ich sah, wie er ihn einholte und mit ihm redete. Es war bei einer Lichtung. Den Stein hielt er noch immer in der Hand. Ich versteckte mich, denn ich hatte Angst, dass die beiden zurückkommen. Aber sie kamen nicht, sie gingen eine andere Richtung, der N zwei Schritt voraus. Auf einmal hebt der Fremde den Stein und schlägt ihn von hinten dem N auf den Kopf. Der N fiel hin und rührte sich nicht. Der Fremde beugte sich über ihn und betrachtete ihn, dann schleifte er ihn fort. In einen Graben. Er wusste es nicht, dass ich alles beobachtete. Ich lief dann zum Felsen zurück und traf dort den Z. Er tat sich nichts durch den Sturz, nur sein Rock war zerrissen und seine Hände waren zerkratzt.“ – – Der Verteidiger findet als erster seine Sprache 얍 wieder: „Ich stelle den Antrag, die Anklage gegen Z fallen zu lassen –“ „Moment, Herr Doktor“, unterbricht ihn der Präsident und wendet sich an den Z, der das Mädel immer noch entgeistert anstarrt. „Ist das wahr, was sie sagte?“ „Ja“, nickt leise der Z. „Hast Du es denn auch gesehen, dass ein fremder Junge den N erschlug?“ „Nein, das habe ich nicht gesehen.“ „Na also!“ atmet der Staatsanwalt erleichtert auf und lehnt sich befriedigt zurück. „Er sah nur, dass ich den Stein erhob und dem N nachlief“, sagt Eva. „Also warst Du es, die ihn erschlug“, konstatiert der Verteidiger. Aber das Mädchen bleibt ruhig. „Ich war es nicht.“ Sie lächelt sogar. „Wir kommen noch darauf zurück“, meint der Präsident. „Ich möchte jetzt nur hören, warum Ihr das bis heute verschwiegen habt, wenn Ihr unschuldig seid. Nun?“ Die Beiden schweigen. Dann beginnt wieder das Mädchen: „Der Z hat es auf sich genommen, weil er 얍 gedacht hat, dass ich den N erschlagen hätt. Er hat es mir nicht glauben wollen, dass es ein anderer tat.“ „Und wir sollen es Dir glauben?“ Jetzt lächelt sie wieder. „Ich weiss es nicht, es ist aber so –“

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Und Du hättest ruhig zugeschaut, dass er unschuldig verurteilt wird?“ „Ruhig nicht, ich hab ja genug geweint, aber ich hatte so Angst vor der Besserungsanstalt – und dann, dann hab ichs doch jetzt gesagt, dass er es nicht gewesen ist.“ „Warum erst jetzt?“ „Weil halt der Herr Lehrer auch die Wahrheit gesagt hat.“ „Sonderbar!“ grinst der Staatsanwalt. „Und wenn der Herr Lehrer nicht die Wahrheit gesagt hätte?“ erkundigt sich der Präsident. „Dann hätte auch ich geschwiegen.“ „Ich denke“, meint der Verteidiger sarkastisch, „Du liebst den Z. Die wahre Liebe ist das allerdings nicht.“ Man lächelt. Eva blickt den Verteidiger gross an. „Nein“, sagt sie leise, „ich liebe ihn nicht.“ Der Z schnellt empor. „Ich hab ihn auch nie geliebt“, sagt sie etwas lauter und senkt den Kopf. 얍 Der Z setzt sich langsam wieder und betrachtet seine rechte Hand. Er wollte sie beschützen, aber sie liebt ihn nicht. Er wollte sich für sie verurteilen lassen, aber sie liebte ihn nie. Es war nur so – An was denkt jetzt der Z? Denkt er an seine ehemalige Zukunft? An den Erfinder, den Postflieger? Es war alles nur so – Bald wird er Eva hassen.

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„Nun“, fährt der Präsident fort, Eva zu verhören, „Du hast also den N mit diesem Steine hier verfolgt?“ „Ja.“ „Und Du wolltest ihn erschlagen?“ „Aber ich tat es nicht!“ „Sondern?“ „Ich habs ja schon gesagt, es kam ein fremder 얍 Junge, der stiess mich zu Boden und lief mit dem Stein dem N nach.“ „Wie sah denn dieser fremde Junge aus?“ „Es ging alles so rasch, ich weiss es nicht –“ „Ach, der grosse Unbekannte!“ spöttelt der Staatsanwalt. „Würdest Du ihn wiedererkennen?“ lässt der Präsident nicht locker. „Vielleicht. Ich erinner mich nur, er hatte helle, runde Augen. Wie ein Fisch.“ Das Wort versetzt mir einen ungeheueren Hieb. Ich springe auf und schreie: „Ein Fisch?!“ „Was ist Ihnen?“ fragt der Präsident und wundert sich. Alles staunt. Ja, was ist mir denn nur? Ich denke an einen illuminierten Totenkopf.

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Es kommen kalte Zeiten, höre ich Julius Caesar, das Zeitalter der Fische. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich, wie das Antlitz eines Fisches. Zwei helle, runde Augen sehen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz. Es ist der T. Er steht an dem offenen Grabe. Er steht auch im Zeltlager und lächelt leise, überlegen spöttisch. 얍 Hat er es schon gewusst, dass ich das Kästchen erbrochen hab? Hat auch er das Tagebuch gekannt? Hat er spioniert? Ist er dem Z nachgeschlichen und dem N? Er lächelt seltsam starr. Ich rühre mich nicht. Und wieder fragt der Präsident: „Was ist Ihnen?“ Soll ich es sagen, dass ich an den T denke? Unsinn! Warum sollte denn der T den N erschlagen haben? Es fehlt doch jedes Motiv – Und ich sage: „Verzeihung, Herr Präsident, aber ich bin etwas nervös.“ „Begreiflich!“ grinst der Staatsanwalt. Ich verlasse den Saal. Ich weiss, sie werden den Z freisprechen und das Mädel verurteilen. Aber ich weiss auch, es wird sich alles ordnen. Morgen oder übermorgen wird die Untersuchung gegen mich eingeleitet werden. Wegen 얍 Irreführung der Behörde und Diebstahlsbegünstigung. Man wird mich vom Lehramt suspendieren. Ich verliere mein Brot. Aber es schmerzt mich nicht. Was werd ich fressen? Komisch, ich hab keine Sorgen. Die Bar fällt mir ein, in der ich Julius Caesar traf. Sie ist nicht teuer. Aber ich besaufe mich nicht. Ich geh heim und leg mich nieder. Ich hab keine Angst mehr vor meinem Zimmer. Wohnt er jetzt auch bei mir? ER

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Lesetext

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BEISST NICHT AN

Richtig, im Morgenblatt steht es bereits! Der Z wurde nur wegen Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung unter Zubilligung mildernder Umstände zu einer kleinen Freiheitsstrafe verurteilt, aber gegen das Mädchen erhob der Staatsanwalt die Anklage wegen Verbrechens des meuchlerischen Mordes. Der neue Prozess dürfte in drei Monaten stattfinden. 얍 Das verkommene Geschöpf hat zwar hartnäckig ihre Unschuld beteuert, schreibt der Gerichtssaalberichterstatter, aber es war wohl niemand zugegen, der ihrem Geschrei irgendwelchen Glauben geschenkt hat. Wer einmal lügt, lügt bekanntlich auch zweimal! Selbst der Angeklagte Z reichte ihr am Ende der Verhandlung nicht mehr

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die Hand, als sie sich von der Gefängnisbeamtin losriss, zu ihm hinstürzte und ihn um Verzeihung bat, dass sie ihn nie geliebt hätte! Aha, er hasst sie bereits! Jetzt ist sie ganz allein. Ob sie noch immer schreit? Schrei nicht, ich glaube Dir – Warte nur, ich werde den Fisch fangen. Aber wie? Ich muss mit ihm sprechen, und zwar so bald wie möglich! Mit der Morgenpost erhielt ich bereits ein Schreiben von der Aufsichtsbehörde: ich darf das Gymnasium nicht mehr betreten, solange die Untersuchung gegen mich läuft. Ich weiss, ich werde es nie mehr betreten, 얍 denn man wird mich glatt verurteilen. Und zwar ohne Zubilligung mildernder Umstände. Aber das geht mich jetzt nichts an! Denn ich muss einen Fisch fangen, damit ich sie nicht mehr schreien höre. Meine Hausfrau bringt das Frühstück und benimmt sich scheu. Sie hat meine Zeugenaussage in der Zeitung gelesen und der Wald rauscht. Die Mitarbeiter schreiben: „Der Lehrer als Diebshelfer“ – und einer schreibt sogar, ich wäre ein geistiger Mörder. Keiner nimmt meine Partei. Gute Zeiten für den Herrn Bäckermeister N, falls ihn heut nacht nicht der Teufel geholt hat! – Mittags stehe ich in der Nähe des Gymnasiums, das ich nicht mehr betreten darf, und warte auf Schulschluss. Endlich verlassen die Schüler das Haus. Auch einige Kollegen. Sie können mich nicht sehen. Und jetzt kommt der T. Er ist allein und biegt nach rechts ab. Ich gehe ihm langsam entgegen. Er erblickt mich und stutzt einen Augenblick. Dann grüsst er und lächelt. „Gut, dass ich Dich treffe“, spreche ich ihn 얍 an, „denn ich hätte Verschiedenes mit Dir zu besprechen.“ „Bitte“, verbeugt er sich höflich. „Doch hier auf der Strasse ist zuviel Lärm, komm, gehen wir in eine Konditorei, ich lade Dich ein auf ein Eis!“ „Oh danke!“ Wir sitzen in der Konditorei. Der Fisch bestellt sich Erdbeer und Zitrone. Er löffelt das Eis. Selbst wenn er frisst, lächelt er, stelle ich fest. Und plötzlich überfalle ich ihn mit dem Satz: „Ich muss mit Dir über den Mordprozess sprechen.“ Er löffelt ruhig weiter. „Schmeckts?“ „Ja.“ B

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Wir schweigen. „Sag mal“, beginne ich wieder, „glaubst Du, dass das Mädel den N erschlagen hat?“ „Ja.“ „Du glaubst es also nicht, dass es ein fremder Junge tat?“ „Nein. Das hat sie nur erfunden, um sich herauszulügen.“ 얍 Wir schweigen wieder. Plötzlich löffelt er nicht mehr weiter und sieht mich misstrauisch an: „Was wollen Sie eigentlich von mir, Herr Lehrer?“ „Ich dachte“, sage ich langsam und blicke in seine runden Augen, „dass Du es vielleicht ahnen wirst, wer jener fremde Junge war.“ „Wieso?“ Ich wage es und lüge: „Weil ich es weiss, dass Du immer spionierst.“ „Ja“, sagt er ruhig, „ich habe verschiedenes beobachtet.“ Jetzt lächelt er wieder. Wusste er es, dass ich das Kästchen erbrochen hab? Und ich frage: „Hast Du das Tagebuch gelesen?“ Er fixiert mich: „Nein. Aber ich habe Sie, Herr Lehrer, beobachtet, wie Sie sich fortgeschlichen haben und dem Z und dem Mädel zugeschaut haben –“ Es wird mir kalt. Er beobachtet mich. „Sie haben mir damals ins Gesicht gelangt, 얍 denn ich stand hinter Ihnen. Sie sind furchtbar erschrocken, aber ich hab keine Angst, Herr Lehrer.“ Er löffelt wieder ruhig sein Eis. Und es fällt mir plötzlich auf, dass er sich an meiner Verwirrung gar nicht weidet. Er wirft nur manchmal einen lauernden Blick auf mich, als würde er etwas registrieren. Komisch, ich muss an einen Jäger denken. An einen Jäger, der kühl zielt und erst dann schiesst, wenn er sicher trifft. Der keine Lust dabei empfindet. Aber warum jagt er denn dann? Warum, warum? „Hast Du Dich eigentlich mit dem N vertragen?“ „Ja, wir standen sehr gut.“ Wie gerne möchte ich ihn nun fragen: und warum hast Du ihn denn dann erschlagen? Warum, warum?! „Sie fragen mich, Herr Lehrer“, sagt er plötzlich, „als hätte ich den N erschlagen. Als wär ich der fremde Junge, wo Sie doch wissen, dass niemand weiss, wie der aussah, wenn es ihn überhaupt gegeben hat. Selbst das Mädel weiss ja nur, dass er Fischaugen gehabt hat –“ Und Du? denke ich. 얍 „– und ich hab doch keine Fischaugen, sondern ich hab helle Rehaugen, meine Mama sagts auch und überhaupt alle. Warum lächeln Sie, Herr Lehrer? Viel eher, wie ich, haben Sie Fischaugen –“ „Ich?!“ „Wissen Sie denn nicht, Herr Lehrer, was Sie in der Schule für einen Spitznamen haben? Haben Sie ihn nie gehört? Sie heissen der Fisch.“ Er nickt mir lächelnd zu. „Ja, Herr Lehrer, weil Sie nämlich immer so ein unbewegliches Gesicht haben. Man weiss nie, was Sie denken und ob Sie sich überhaupt um einen kümmern. Wir

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sagen immer, der Herr Lehrer beobachtet nur, da könnt zum Beispiel jemand auf der Strasse überfahren worden sein, er würde nur beobachten, wie der Überfahrene da liegt, nur damit ers genau weiss, und er tät nichts dabei empfinden, auch wenn der draufging –“ Er stockt plötzlich, als hätte er sich verplappert, und wirft einen erschrockenen Blick auf mich, aber nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Warum? Aha, Du hast den Haken schon im Maul gehabt, hast es Dir aber wieder überlegt. 얍 Du wolltest schon anbeissen, da merktest Du die Schnur. Jetzt schwimmst Du in Dein Meer zurück. Du hängst noch nicht, aber Du hast Dich verraten. Warte nur, ich fange Dich! Er erhebt sich: „Ich muss jetzt heim, das Essen wartet, und wenn ich zu spät komm, krieg ich einen Krach.“ Er bedankt sich für das Eis und geht. Ich sehe ihm nach und höre das Mädchen schreien.

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Als ich am nächsten Tage erwachte, wusste ich, dass ich viel geträumt hatte. Ich wusste nur nicht mehr, was. Es war ein Feiertag. Man feierte den Geburtstag des Oberplebejers. Die Stadt hing voller Fahnen und Transparente. Durch die Strassen marschieren die Mädchen, die den verschollenen Flieger suchen, die Jungen, 얍 die alle Neger sterben lassen, und die Eltern, die die Lügen glauben, die auf den Transparenten stehen. Und die sie nicht glauben, marschieren ebenfalls mit. Divisionen der Charakterlosen unter dem Kommando von Idioten. Im gleichen Schritt und Tritt. Sie singen von einem Vögelchen, das auf einem Heldengrabe zwitschert, von einem Soldaten, der im Gas erstickt, von den schwarzbraunen Mädchen, die den zuhausegebliebenen Dreck fressen, und von einem Feinde, den es eigentlich gar nicht gibt. So preisen die Schwachsinnigen und Lügner den Tag, an dem der Oberplebejer geboren ward. Und wie ich so denke, konstatierte ich mit einer gewissen Befriedigung, dass auch aus meinem Fenster ein Fähnchen flattert. Ich hab es bereits gestern abend hinausgehängt. Wer mit Verbrechern und Narren zu tun hat, muss verbrecherisch und närrisch handeln, sonst hört er auf. Mit Haut und Haar. Er muss sein Heim beflaggen, auch wenn er kein Heim mehr hat. Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, 얍 sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit, und die Lüge kommt. Die Lüge, die Mutter aller Sünden. Fahnen heraus! Lieber Brot, als tot! – So dachte ich, als es mir plötzlich einfiel: was denkst Du da? Hast Du es denn vergessen, dass Du vom Lehramt suspendiert bist? Du hast doch keinen Meineid geschworen und hast es gesagt, dass Du das Kästchen erbrochen hast. Häng nur Deine

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Fahne hinaus, huldige dem Oberplebejer, krieche im Staub vor dem Dreck und lüge, was Du kannst – es bleibt dabei! Du hast Dein Brot verloren! Vergiss es nicht, dass Du mit einem höheren Herrn gesprochen hast! Du lebst noch im selben Haus, aber in einem höheren Stock. Auf einer anderen Ebene, in einer anderen Wohnung. Merkst Du es denn nicht, dass Dein Zimmer kleiner geworden ist? Auch die Möbel, der Schrank, der Spiegel – Du kannst Dich noch sehen im Spiegel, er ist immer noch gross genug – gewiss, gewiss! 얍 Du bist auch nur ein Mensch, der möchte, dass seine Krawatte richtig sitzt. Doch sieh mal zum Fenster hinaus! Wie entfernt ist alles geworden! Wie winzig sind plötzlich die grossen Gebieter und wie arm die reichen Plebejer! Wie lächerlich! Wie verwaschen die Fahnen! Kannst Du die Transparente noch lesen? Nein. Hörst Du noch das Radio? Kaum. Das Mädchen müsste gar nicht so schreien, damit sie es übertönt. Sie schreit auch nicht mehr. Sie weint nur leise. Aber sie übertönt alles. E INER

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VON FÜNF

Ich putz mir gerade die Zähne, als meine Hausfrau erscheint. „Es ist ein Schüler draussen, der Sie sprechen möcht.“ „Einen Moment!“ Die Hausfrau geht, und ich ziehe meinen Morgenrock an. Ein Schüler? Was will er? 얍 Ich muss an den T denken. Den Morgenrock hab ich zu Weihnachten bekommen. Von meinen Eltern. Sie sagten schon immer: „Du kannst doch nicht ohne Morgenrock leben!“ Er ist grün und lila. Meine Eltern haben keinen Farbensinn. Es klopft. „Herein!“ Der Schüler tritt ein und verbeugt sich. Ich erkenne ihn nicht sogleich – richtig, das ist der eine B! Ich hatte fünf B’s in der Klasse, aber dieser B fiel mir am wenigsten auf. Was will er? Wie kommt es, dass er draussen nicht mitmarschiert? „Herr Lehrer“, beginnt er, „ich hab es mir lange überlegt, ob es vielleicht wichtig ist – ich glaube, ich muss es sagen.“ „Was?“ „Es hat mir keine Ruh gelassen, die Sache mit dem Kompass.“ „Kompass?“ „Ja, ich hab es nämlich in der Zeitung gelesen, dass bei dem toten N ein Kompass 얍 gefunden worden ist, von dem niemand weiss, wem er gehört –“ „Na und?“

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„Ich weiss, wer den Kompass verloren hat.“ „Wer?!“ „Der T.“ Der T?! durchzuckt es mich. Schwimmst Du wieder heran? Taucht Dein Kopf aus den finsteren Wassern auf – siehst Du das Netz? Er schwimmt, er schwimmt – – „Woher weisst Du es, dass der Kompass dem T gehört?“ frage ich den B und befleissige mich, gleichgültig zu scheinen. „Weil er ihn überall gesucht hat, wir schliefen nämlich im selben Zelt.“ „Du willst doch nicht sagen, dass der T mit dem Mord irgendwas zu tun hat?“ Er schweigt und blickt in die Ecke. Ja, er will es sagen. „Du traust das dem T zu?“ Er sieht mich gross an, fast erstaunt. „Ich traue jedem alles zu“, sagt er. „Aber doch nicht einen Mord!“ „Warum nicht?“ Er lächelt – nein, nicht spöttisch. Eher traurig. 얍 „Aber warum hätte denn der T den N ermorden sollen, warum? Es fehlt doch jedes Motiv!“ „Der T sagte immer, der N sei sehr dumm.“ „Aber das wär doch noch kein Grund!“ „Das noch nicht. Aber wissen Sie, Herr Lehrer, der T ist entsetzlich wissbegierig, immer möcht er alles genau wissen, wie es wirklich ist, und er hat mir mal gesagt, er möcht es gern sehen, wie einer stirbt.“ „Was?!“ „Ja, er möcht es sehen, wie das vor sich geht – er hat auch immer davon phantasiert, dass er mal zuschauen möcht, wenn ein Kind auf die Welt kommt.“ Ich trete ans Fenster, ich kann momentan nichts reden. Draussen marschieren sie noch immer, die Eltern und die Kinder. Und es fällt mir plötzlich wieder auf, wieso dieser B hier bei mir ist. „Warum marschierst Du eigentlich nicht mit?“ frage ich ihn. „Das ist doch Deine Pflicht!“ 얍 Er grinst. „Ich hab mich krankgemeldet.“ Unsere Blicke treffen sich. Verstehen wir uns? „Ich verrate Dich nicht“, sage ich. „Das weiss ich“, sagt er. Was weisst Du? denke ich. „Ich mag nicht mehr marschieren und das Herumkommandiertwerden kann ich auch nicht mehr ausstehen, da schreit Dich ein jeder an, nur weil er zwei Jahr älter ist! Und dann die faden Ansprachen, immer dasselbe, lauter Blödsinn!“ Ich muss lächeln. „Hoffentlich bist Du der einzige in der Klasse, der so denkt!“ „Oh nein! Wir sind schon zu viert!“ Zu viert? Schon? B

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Und seit wann? „Erinnern Sie sich, Herr Lehrer, wie Sie damals die Sache über die Neger gesagt haben, noch im Frühjahr vor unserem Zeltlager? Damals haben wir doch alle unterschrieben, dass wir Sie nicht mehr haben wollen – aber ich tats nur unter Druck, denn Sie haben natürlich sehr recht gehabt mit den Negern. Und dann allmählich fand ich noch drei, die auch so dachten.“ „Wer sind denn die drei?“ 얍 „Das darf ich nicht sagen. Das verbieten mir unsere Satzungen.“ „Satzungen?“ „Ja, wir haben nämlich einen Klub gegründet. Jetzt sind noch zwei dazugekommen, aber das sind keine Schüler. Der eine ist ein Bäckerlehrling und der andere ein Laufbursch.“ „Einen Klub?“ „Wir kommen wöchentlich zusammen und lesen alles, was verboten ist.“ „Aha!“ Wie sagte Julius Caesar? Sie lesen heimlich alles, aber nur, um es verspotten zu können. Ihr Ideal ist der Hohn, es kommen kalte Zeiten. Und ich frage den B: „Und dann sitzt Ihr beieinander in Euerem Klub und spöttelt über alles, was?“ „Oho! Spötteln ist bei uns streng verboten nach Paragraph drei! Es gibt schon solche, die immer nur alles verhöhnen, zum Beispiel der T, aber wir sind nicht so, wir kommen zusammen und besprechen dann alles, was wir gelesen haben.“ „Und?“ 얍 „Und dann reden wir halt, wie es sein sollte auf der Welt.“ Ich horche auf. Wie es sein sollte? Ich sehe den B an und es fällt mir der Z ein. Er sagt zum Präsidenten: „Der Herr Lehrer sagt immer nur, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.“ Und ich sehe den T. Was sagte Eva in der Verhandlung? „Der N fiel hin. Der fremde Junge beugte sich über den N und betrachtete ihn. Dann schleifte er ihn in den Graben.“ Und was sagte vorhin der B? „Der T möchte immer nur wissen, wie es wirklich ist.“ Warum? Nur um alles verhöhnen zu können? Ja, es kommen kalte Zeiten. – „Ihnen, Herr Lehrer“, höre ich wieder die Stimme des B, „kann man ja ruhig alles sagen. Drum komme ich jetzt auch mit meinem Verdacht zu Ihnen, um es mit Ihnen zu beraten, was man tun soll.“ „Warum gerade mit mir?“ „Wir haben es gestern im Klub alle gesagt, als wir Ihre Zeugenaussage mit dem 얍 Kästchen in der Zeitung gelesen haben, dass Sie der einzige Erwachsene sind, den wir kennen, der die Wahrheit liebt.“ B

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D ER K LUB

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GREIFT EIN .

Heute gehe ich mit dem B zum zuständigen Untersuchungsrichter. Gestern war nämlich sein Büro wegen des Staatsfeiertages geschlossen. Ich erzähle dem Untersuchungsrichter, dass es der B möglicherweise wüsste, wem jener verlorene Kompass gehört – doch er unterbricht mich höflich, die Sache mit dem Kompass hätte sich bereits geklärt. Es wäre einwandfrei festgestellt worden, dass der Kompass dem Bürgermeister des Dorfes, in dessen Nähe wir unser Zeltlager hatten, gestohlen worden war. Wahrscheinlich hätte ihn das Mädchen verloren, und wenn nicht sie, dann eben einer von ihrer Bande, vielleicht auch schon bei einer früheren Gelegenheit, als er mal an dem damals noch zukünftigen Tatort zufällig vorbeigegangen wäre, denn der Tatort wäre ja in der Nähe der 얍 Räuberhöhle gelegen. Der Kompass spiele keine Rolle mehr. Wir verabschieden uns also wieder, und der B schneidet ein enttäuschtes Gesicht. Er spielt keine Rolle mehr? denke ich. Hm, ohne diesen Kompass wäre doch dieser B niemals zu mir gekommen. Es fällt mir auf, dass ich anders denke als früher. Ich erwarte überall Zusammenhänge. Alles spielt eine Rolle. Ich fühle ein unbegreifliches Gesetz. – Auf der Treppe begegnen wir dem Verteidiger. Er begrüsst mich lebhaft. „Ich wollte Ihnen bereits schriftlich danken“, sagt er, „denn nur durch Ihre schonungslose und unerschrockene Aussage wurde es mir möglich gemacht, diese Tragödie zu klären!“ Er erwähnt noch kurz, dass der Z von seiner Verliebtheit bereits radikal kuriert sei, und dass das Mädchen hysterische Krämpfe bekommen hätte und nun im Gefängnisspital liege. „Armer Wurm!“ fügt er noch rasch hinzu und eilt davon, um neue Tragödien zu klären. Ich sehe ihm nach. „Das Mädel tut mir leid“, höre ich plötzlich die Stimme des B. 얍 „Mir auch.“ Wir steigen die Treppen hinab. „Man müsste ihr helfen“, sagt der B. „Ja“, sage ich und denke an ihre Augen. Und an die stillen Seen in den Wäldern meiner Heimat. Sie liegt im Spital. Und auch jetzt ziehen die Wolken über sie hin, die Wolken mit den silbernen Rändern. Nickte sie mir nicht zu, bevor sie die Wahrheit sprach? Und was sagte der T? Sie ist die Mörderin, sie will sich nur herauslügen – Ich hasse den T. Plötzlich halte ich. „Ist es wahr“, frage ich den B, „dass ich bei Euch den Spitznamen hab: der Fisch?“ „Aber nein! Das sagt nur der T – Sie haben einen ganz anderen!“ „Welchen?“ „Sie heissen: der Neger.“

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Er lacht und ich lach mit. Wir steigen weiter hinab. Auf einmal wird er wieder ernst. 얍 „Herr Lehrer“, sagt er, „glauben Sie nicht auch, dass es der T war, auch wenn ihm der verlorene Kompass nicht gehört?“ Ich halte wieder. Was soll ich sagen? Soll ich sagen: möglich, vielleicht, unter Umständen –? Und ich sage: „Ja. Ich glaube auch, dass er es war.“ Die Augen des B leuchten. „Er war es auch“, ruft er begeistert, „und wir werden ihn fangen!“ „Hoffentlich!“ „Ich werde im Klub einen Beschluss durchdrücken, dass der Klub dem Mädel helfen soll! Nach Paragraph sieben sind wir ja nicht nur dazu da, um Bücher zu lesen, sondern auch, um danach zu leben.“ Und ich frage ihn: „Was ist denn Euer Leitsatz?“ „Für Wahrheit und Gerechtigkeit!“ Er ist ganz ausser sich vor Tatendrang. Der Klub wird den T beobachten, auf Schritt und Tritt, Tag und Nacht, und wird mir jeden Tag Bericht erstatten. „Schön“, sage ich und muss lächeln. 얍 Auch in meiner Kindheit spielten wir Indianer. Aber jetzt ist der Urwald anders. Jetzt ist er wirklich da.

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Z WEI B RIEFE

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Am nächsten Morgen bekomme ich einen entsetzten Brief von meinen Eltern. Sie sind ganz ausser sich, dass ich meinen Beruf verlor. Ob ich denn nicht an sie gedacht hätte, als ich ganz überflüssig die Sache mit dem Kästchen erzählte, und warum ich sie denn überhaupt erzählt hätte?! Ja, ich habe an Euch gedacht. Auch an Euch. Beruhigt Euch nur, wir werden schon nicht verhungern! „Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen“, schreibt meine Mutter, „und haben über Dich nachgedacht.“ So? „Mit was haben wir das verdient?“ fragt mein Vater. Er ist ein pensionierter Werkmeister und ich muss jetzt an Gott denken. 얍 Ich glaube, er wohnt noch immer nicht bei ihnen, obwohl sie jeden Sonntag in die Kirche gehen. Ich setze mich und schreibe meinen Eltern. „Liebe Eltern! Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen“ – Ich stocke. Warum? Sie wussten es, dass ich nicht an ihn glaubte, und jetzt werden sie denken: schau, jetzt schreibt er von Gott, weil es ihm schlecht geht! Aber das soll niemand denken! Nein, ich schäme mich –

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Ich zerreisse den Brief. Ja, ich bin noch stolz! Und den ganzen Tag über will ich meinen Eltern schreiben. Aber ich tu es nicht. Immer wieder fange ich an, aber ich bringe es nicht über das Herz, das Wort Gott niederzuschreiben. Der Abend kommt, und ich bekomme plötzlich wieder Angst vor meiner Wohnung. Sie ist so leer. Ich gehe fort. 얍 Ins Kino? Nein. Ich gehe in die Bar, die nicht teuer ist. Dort treffe ich Julius Caesar, es ist sein Stammlokal. Er freut sich ehrlich, mich zu sehen. „Es war anständig von Ihnen, das mit dem Kästchen zu sagen, hochanständig! Ich hätts nicht gesagt! Respekt, Respekt!“ Wir trinken und sprechen über den Prozess. Ich erzähle vom Fisch – Er hört mir aufmerksam zu. „Natürlich ist der Fisch derjenige“, meint er. Und dann lächelt er: „Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, ihn zu fangen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, denn auch ich habe meine Verbindungen –“ Ja, die hat er allerdings. Immer wieder wird unser Gespräch gestört. Ich sehe, dass Julius Caesar ehrfürchtig gegrüsst wird, viele kommen zu ihm und holen sich Rat, denn er ist ein wissender und weiser Mann. Es ist alles Unkraut. Ave Caesar, morituri te salutant! Und in mir erwacht plötzlich die Sehnsucht nach der Verkommenheit. Wie gerne 얍 möchte ich auch einen Totenkopf als Krawattennadel haben, den man illuminieren kann! „Passen Sie auf Ihren Brief auf!“ ruft mir Caesar zu. „Er fällt Ihnen aus der Tasche!“ Ach so, der Brief! Caesar erklärt gerade einem Fräulein die neuen Paragraphen des Gesetzes für öffentliche Sittlichkeit. Ich denke an Eva. Wie wird sie aussehen, wenn sie so alt sein wird wie dieses Fräulein? Wer kann ihr helfen? Ich setze mich an einen anderen Tisch und schreibe meinen Eltern. „Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen!“ Und ich zerreisse den Brief nicht wieder. Oder schrieb ich ihn nur, weil ich getrunken habe? Egal! B

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Am nächsten Tag überreicht mir meine Haus-얍frau ein Kuvert, ein Laufbursche hätte es abgegeben. Es ist ein blaues Kuvert, ich erbreche es und muss lächeln. Die Überschrift lautet: „Erster Bericht des Klubs.“ Und dann steht da: „Nichts Besonderes vermerkt.“ Jaja, der brave Klub! Er kämpft für Wahrheit und Gerechtigkeit, kann aber nichts besonderes vermerken! Auch ich vermerke nichts. Was soll man nur tun, damit sie nicht verurteilt wird? Immer denke ich an sie – Liebe ich denn das Mädel? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich ihr helfen möchte – Ich hatte viele Weiber, denn ich bin kein Heiliger und die Weiber sind auch keine Heiligen. Aber nun liebe ich anders. Bin ich denn nicht mehr jung? Ist es das Alter? Unsinn! Es ist doch noch Sommer. Und ich bekomme jeden Tag ein blaues 얍 Kuvert: zweiter, dritter, vierter Bericht des Klubs. Es wird nichts besonderes vermerkt. Und die Tage vergehen – Die Äpfel sind schon reif und nachts kommen die Nebel. Das Vieh kehrt heim, das Feld ist kahl – Ja, es ist noch Sommer, aber man wartet schon auf den Schnee. Ich möchte ihr helfen, damit sie nicht friert. Ich möchte ihr einen Mantel kaufen, Schuhe und Wäsche. Sie braucht es nicht vor mir auszuziehen – Ich möchte nur wissen, ob der Schnee kommen kann. Noch ist alles grün. Aber sie muss nicht bei mir sein. Wenns ihr nur gut geht.

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Heute vormittag bekam ich Besuch. Ich habe ihn nicht sogleich wiedererkannt, es war der Pfarrer, mit dem ich mich mal über die Ideale der Menschheit unterhalten hatte. Er trat ein und trug Zivil, dunkelgraue Hosen und einen blauen Rock. Ich stutzte. 얍 Ist er weggelaufen? „Sie wundern sich“, lächelt er, „dass ich Zivil trage, aber das trage ich meistens, denn ich stehe zu einer besonderen Verfügung – kurz und gut: meine Strafzeit ist vorbei, doch reden wir mal von Ihnen! Ich habe Ihre tapfere Aussage in den Zeitungen

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gelesen und wäre schon früher erschienen, aber ich musste mir erst Ihre Adresse beschaffen. Übrigens: Sie haben sich stark verändert, ich weiss nicht wieso, aber irgendwas ist anders geworden. Richtig, Sie sehen viel heiterer aus!“ „Heiterer?“ „Ja. Sie dürfen auch froh sein, dass Sie das mit dem Kästchen gesagt haben, auch wenn Sie jetzt die halbe Welt verleumdet. Ich habe oft an Sie gedacht, obwohl oder weil Sie mir damals sagten, Sie glaubten nicht an Gott. Inzwischen werden Sie ja wohl angefangen haben, etwas anders über Gott zu denken –“ Was will er? denke ich und betrachte ihn misstrauisch. „Ich hätte Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen, aber zunächst beantworten Sie mir, bitte, zwei 얍 Fragen. Also erstens: Sie sind sich wohl im klaren darüber, dass Sie, selbst wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Sie niederschlagen sollte, nie wieder an irgendeiner Schule dieses Landes unterrichten werden?“ „Ja, darüber war ich mir schon im klaren, bevor ich die Aussage machte.“ „Das freut mich! Und nun zweitens: wovon wollen Sie jetzt leben? Ich nehme an, dass Sie keine Sägewerksaktien besitzen, da Sie sich ja damals so heftig für die Heimarbeiter einsetzten, für die Kinder in den Fenstern – erinnern Sie sich?“ Ach, die Kinder in den Fenstern! Die hatte ich ja ganz vergessen! Und das Sägewerk, das nicht mehr sägt – Wie weit liegt das alles zurück! Wie in einem anderen Leben – – Und ich sage: „Ich habe nichts. Und ich muss auch meine Eltern unterstützen.“ Er sieht mich gross an und sagt dann nach einer kleinen Pause: „Ich hätte eine Stellung für Sie.“ „Was?! Eine Stellung?!“ „Ja, aber in einem anderen Land.“ „Wo?“ „In Afrika.“ 얍 „Bei den Negern?“ Es fällt mir ein, dass ich „der Neger“ heisse, und ich muss lachen. Er bleibt ernst. „Warum finden Sie das so komisch? Neger sind auch nur Menschen!“ Wem erzählen Sie das? möchte ich ihn fragen, aber ich sage nichts dergleichen, sondern höre es mir an, was er mir vorschlägt: ich könnte Lehrer werden, und zwar in einer Missionsschule. „Ich soll in einen Orden eintreten?“ „Das ist nicht notwendig.“ Ich überlege. Heute glaube ich an Gott, aber ich glaube nicht daran, dass die Weissen die Neger beglücken, denn sie bringen ihnen Gott als schmutziges Geschäft. Und ich sage es ihm. Er bleibt ganz ruhig. „Das hängt lediglich von Ihnen ab, ob Sie Ihre Sendung missbrauchen, um schmutzige Geschäfte machen zu können.“ Ich horche auf. Sendung? B

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„Jeder Mensch hat eine Sendung“, sagt er. Richtig! Ich muss einen Fisch fangen. 얍 Und ich sage dem Pfarrer, ich werde nach Afrika fahren, aber nur dann, wenn ich das Mädchen befreit haben werde. Er hört mir aufmerksam zu. Dann sagt er: „Wenn Sie glauben zu wissen, dass der fremde Junge es tat, dann müssen Sie es seiner Mutter sagen. Die Mutter muss alles hören. Gehen Sie gleich zu ihr hin“ – –

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Ich fahre zur Mutter des T. Der Pedell im Gymnasium gab mir die Adresse. Er verhielt sich sehr reserviert, denn ich hätte ja das Haus nicht betreten dürfen. Ich werde es nie mehr betreten, ich fahre nach Afrika. Jetzt sitze ich in der Strassenbahn. Ich muss bis zur Endstation. Die schönen Häuser hören allmählich auf und dann kommen die hässlichen. Wir fahren durch arme Strassen und erreichen das vornehme Villenviertel. „Endstation!“ ruft der Schaffner. „Alles aussteigen!“ 얍 Ich bin der einzige Fahrgast. Die Luft ist hier bedeutend besser als dort, wo ich wohne. Wo ist Nummer dreiundzwanzig? Die Gärten sind gepflegt. Hier gibts keine Gartenzwerge. Kein ruhendes Reh und keinen Pilz. Endlich hab ich dreiundzwanzig. Das Tor ist hoch und das Haus ist nicht zu sehen, denn der Park ist gross. Ich läute und warte. Der Pförtner erscheint, ein alter Mann. Er öffnet das Gitter nicht. „Sie wünschen?“ „Ich möchte Frau T sprechen.“ „In welcher Angelegenheit?“ „Ich bin der Lehrer ihres Sohnes.“ „Sofort!“ Er öffnet das Gitter. Wir gehen durch den Park. Hinter einer schwarzen Tanne erblicke ich das Haus. Fast ein Palast. Ein Diener erwartet uns bereits und der Pfört-얍ner übergibt mich dem Diener: „Der Herr möchte die gnädige Frau sprechen, er ist der Lehrer des jungen Herrn.“ Der Diener verbeugt sich leicht. „Das dürfte leider seine Schwierigkeiten haben“, meint er höflich, „denn gnädige Frau haben soeben Besuch.“ „Ich muss sie aber dringend sprechen in einer sehr wichtigen Angelegenheit!“ „Könnten Sie sich nicht für morgen anmelden?“ „Nein. Es dreht sich um ihren Sohn.“ Er lächelt und macht eine winzige wegwerfende Geste.

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„Auch für ihren Sohn haben gnädige Frau häufig keine Zeit. Auch der junge Herr muss sich meist anmelden lassen.“ „Hören Sie“, sage ich und schaue ihn böse an, „melden Sie mich sofort oder Sie tragen die Verantwortung!“ Er starrt mich einen Augenblick entgeistert an, dann verbeugt er sich wieder leicht: „Gut , versuchen wir es mal. Darf ich bitten! Verzeihung, dass ich vorausgehe!“ Ich betrete das Haus. Wir gehen durch einen herrlichen Raum und 얍 dann eine Treppe empor in den ersten Stock. Eine Dame kommt die Treppen herab, der Diener grüsst und sie lächelt ihn an. Und auch mich. Die kenne ich doch? Wer ist denn das? Wir steigen weiter empor. „Das war die Filmschauspielerin X“, flüstert mir der Diener zu. Achja, richtig! Die hab ich erst unlängst gesehen. Als Fabrikarbeiterin, die den Fabrikdirektor heiratet. Sie ist die Freundin des Oberplebejers. Dichtung und Wahrheit! „Sie ist eine göttliche Künstlerin“, stellt der Diener fest, und nun erreichen wir den ersten Stock. Eine Tür ist offen und ich höre Frauen lachen. Sie müssen im dritten Zimmer sitzen, denke ich. Sie trinken Tee. Der Diener führt mich links in einen kleinen Salon und bittet, Platz zu nehmen, er würde alles versuchen, bei der ersten passenden Gelegenheit. Dann schliesst er die Türe, ich bleibe allein und warte. Es ist noch früh am Nachmittag, aber die Tage werden kürzer. 얍 An den Wänden hängen alte Stiche. Jupiter und Jo. Amor und Psyche. Marie Antoinette. Es ist ein rosa Salon mit viel Gold. Ich sitze auf einem Stuhl und sehe die Stühle um den Tisch herum stehen. Wie alt seid Ihr ? Bald zweihundert Jahre – Wer sass schon alles auf Euch ? Leute, die sagten: morgen sind wir bei Marie Antoinette zum Tee. Und Leute, die sagten: morgen gehen wir zur Hinrichtung der Marie Antoinette. Wo ist jetzt Eva? Hoffentlich noch im Spital, dort hat sie wenigstens ein Bett. Hoffentlich ist sie noch krank. Ich trete ans Fenster und schaue hinaus. Die schwarze Tanne wird immer schwärzer, denn es dämmert bereits. Ich warte. Endlich öffnet sich langsam die Türe. Ich drehe mich um, denn nun kommt die Mutter des T. Wie sieht sie aus? B

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K/TS2 (Grundschicht)

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leicht: „GutN ] IhrN ] BEuchN ] B B

N

korrigiert aus: leicht:„ Gut korrigiert aus: ihr korrigiert aus: euch

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Ich bin überrascht. Es steht nicht die Mutter vor mir, sondern der T. 얍 Er selbst. Er grüsst höflich und sagt: „Meine Mutter liess mich rufen, als sie hörte, dass Sie da sind, Herr Lehrer. Sie hat leider keine Zeit.“ „So? Und wann hat sie denn Zeit?“ Er zuckt müde die Achsel: „Das weiss ich nicht. Sie hat eigentlich nie Zeit.“ Ich betrachte den Fisch. Seine Mutter hat keine Zeit. Was hat sie denn zu tun? Sie denkt nur an sich. Und ich muss an den Pfarrer denken und an die Ideale der Menschheit. Ist es wahr, dass die Reichen immer siegen? Wird der Wein nicht zu Wasser? Und ich sage zum T: „Wenn Deine Mutter immer zu tun hat, dann kann ich vielleicht mal Deinen Vater sprechen?“ „Vater? Aber der ist doch nie zu Haus! Er ist immer unterwegs, ich seh ihn kaum. Er leitet ja einen Konzern.“ Einen Konzern? Ich sehe ein Sägewerk, das nicht mehr sägt. Die Kinder sitzen in den Fenstern und bemalen die Puppen. Sie sparen das Licht, 얍 denn sie haben kein Licht. Und Gott geht durch alle Gassen. Er sieht die Kinder und das Sägewerk. Und er kommt. Er steht draussen vor dem hohen Tore. Der alte Pförtner lässt ihn nicht ein. „Sie wünschen?“ „Ich möchte die Eltern T sprechen.“ „In welcher Angelegenheit?“ „Sie wissen es schon.“ Ja, sie wissen es schon, aber sie erwarten ihn nicht. – „Was wollen Sie eigentlich von meinen Eltern?“ höre ich plötzlich die Stimme des T. Ich blicke ihn an. Jetzt wird er lächeln, denke ich. Aber er lächelt nicht mehr. Er schaut nur. Ahnt er, dass er gefangen wird? Seine Augen haben plötzlich Glanz. Die Schimmer des Entsetzens. Und ich sage: „Ich wollte mit Deinen Eltern über Dich sprechen, aber leider haben sie keine Zeit.“ „Über mich?“ 얍 Er grinst. Ganz leer. Da steht der Wissbegierige, wie ein Idiot. Jetzt scheint er zu lauschen. Was fliegt um ihn?

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Was hört er? Die Flügel der Verblödung? Ich eile davon. D ER K ÖDER

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Zu Hause liegt wieder ein blaues Kuvert. Aha, der Klub! Sie werden wieder nichts vermerkt haben – Ich öffne und lese: „Achter Bericht des Klubs. Gestern nachmittag war der T im Kristall-Kino. Als er das Kino verliess, sprach er mit einer eleganten Dame, die er drinnen getroffen haben musste. Er ging dann mit der Dame in die Y-Strasse Nummer 67. Nach einer halben Stunde erschien er mit ihr wieder im Haustor und verabschiedete sich von ihr. Er ging nachhaus. Die Dame sah ihm nach, schnitt eine Grimasse und spuckte ostentativ aus. Es ist möglich, dass es keine 얍 Dame war. Sie war gross und blond, hatte einen dunkelgrünen Mantel und einen roten Hut. Sonst wurde nichts vermerkt.“ Ich muss grinsen. Ach, der T wird galant – aber das interessiert mich nicht. Warum schnitt sie eine Grimasse? Natürlich war sie keine Dame, doch warum spuckte sie ostentativ aus? Ich geh mal hin und frage sie. Denn ich will jetzt jede Spur verfolgen, jede winzigste, unsinnigste – Wenn er nicht anbeisst, wird man ihn wohl mit einem Netz fangen müssen, mit einem Netz aus feinsten Maschen, durch die er nicht schlüpfen kann. Ich gehe in die Y-Strasse 67 und frage die Hausmeisterin nach einer blonden Dame – Sie unterbricht mich sofort: „Das Fräulein Nelly wohnt Tür siebzehn.“ In dem Hause wohnen kleine Leute, brave Bürger. Und ein Fräulein Nelly. Ich läute an Tür siebzehn. Eine Blondine öffnet und sagt: „Servus! Komm nur herein!“ Ich kenne sie nicht. Im Vorzimmer hängt der dunkelgrüne Mantel, auf dem Tischchen liegt der rote 얍 Hut. Sie ist es. Jetzt wird sie böse werden, dass ich nur wegen einer Auskunft komme. Ich verspreche ihr also ihr Honorar, wenn sie mir antwortet. Sie wird nicht böse, sondern misstrauisch. Nein, ich bin kein Polizist, versuche ich zu beruhigen, ich möchte ja nur wissen, warum sie gestern hinter dem Jungen her ausgespuckt hat? „Zuerst das Geld“, antwortet sie. Ich gebe es ihr. Sie macht sichs auf dem Sofa bequem und bietet mir eine Zigarette an. Wir rauchen. „Ich rede nicht gern darüber“, sagt sie. Sie schweigt noch immer. Plötzlich legt sie los: „Warum ich ausgespuckt hab, ist bald erklärt: es war eben einfach zu ekelhaft! Widerlich!“ Sie schüttelt sich. B

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B B

Y-StrasseN ] werden,N ]

N

korrigiert aus: Y-strasse korrigiert aus: werden.

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K/TS2 (Grundschicht)

„Wieso?“ „Stellen Sie sich vor, er hat dabei gelacht!“ „Gelacht?“ „Es ist mir ganz kalt heruntergelaufen und dann bin ich so wild geworden, dass ich ihm 얍 eine Ohrfeige gegeben hab! Da ist er gleich vor den Spiegel gerannt und hat gesagt: es ist nicht rot! Immer hat er nur beobachtet, beobachtet! Wenns nach mir ging, würd ich ja diesen Kerl nie mehr anrühren, aber leider werde ich nochmal das Vergnügen haben müssen –“ „Nochmal? Wer zwingt Sie denn dazu?“ „Zwingen lass ich mich nie, nicht die Nelly! Aber ich erweise damit jemand einen freiwilligen Gefallen, wenn ich mich mit dem Ekel noch einmal einlass – ich muss sogar so tun, als wär ich in ihn verliebt!“ „Sie erweisen damit jemandem einen Gefallen?“ „Ja, weil ich eben diesem jemand auch sehr zu Dank verpflichtet bin.“ „Wer ist das?“ „Nein, das darf ich nicht sagen! Das sagt die Nelly nicht! Ein fremder Herr.“ „Aber was will denn dieser fremde Herr?“ Sie sieht mich gross an und sagt dann langsam: „Er will einen Fisch fangen.“ Ich schnelle empor und schreie: „Was?! Einen Fisch?!“ Sie erschrickt sehr. „Was ist Ihnen?“ fragt sie und drückt rasch 얍 ihre Zigarette aus. „Nein-nein, jetzt spricht die Nelly kein Wort mehr! Mir scheint, Sie sind ein Verrückter! Gehen wir, gehen wir! Pa, adieu!“ Ich gehe und torkle fast, ganz wirr im Kopf. Wer fängt den Fisch? Was ist los? Wer ist dieser fremde Herr? B

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I M N ETZ

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Lesetext

Als ich nach Hause komme, empfängt mich meine Hausfrau besorgt. „Es ist ein fremder Herr hier“, sagt sie, „er wartet auf Sie schon seit einer halben Stunde und ich hab Angst, etwas an ihm stimmt nämlich nicht. Er sitzt im Salon.“ Ein fremder Herr? Ich betrete den Salon. Es ist Abend geworden und er sitzt im Dunklen. Ich mache Licht. Ach, Julius Caesar! „Endlich!“ sagt er und illuminiert seinen Totenkopf. „Jetzt spitzen Sie aber Ihre Ohren, Kollega!“ „Was gibts denn?“ 얍 „Ich habe den Fisch.“ „Was?!“ „Ja. Er schwimmt schon um den Köder herum, immer näher – heut nacht beisst er an! Kommen Sie, wir müssen rasch hin, der Apparat ist schon dort, höchste Zeit!“ 13

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Gefallen?“N ]

korrigiert aus: Gefallen?

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Was für ein Apparat?“ „Werd Ihnen alles erklären!“ Wir gehen rasch fort. „Wohin?“ „In die Lilie!“ „In wohin?“ „Wie sag ichs meinem Kinde? Die Lilie ist ein ordinäres Animierlokal!“ Er geht sehr rasch und es beginnt zu regnen. „Regen ist gut“, sagt er, „bei Regen beissen sie eher an.“ Er lacht. „Hören Sie“, schreie ich ihn an, „was haben Sie vor?!“ „Ich erzähl alles, sowie wir sitzen! Kommen Sie, wir werden nass!“ „Aber wie kommen Sie dazu, den Fisch zu fangen und mir nichts zu sagen?!“ „Ich wollte Sie überraschen, lassen Sie mir die Freud!“ 얍 Plötzlich bleibt er stehen, obwohl es jetzt stark regnet und er grosse Eile hat. Er sieht mich sonderbar an und sagt dann langsam: „Sie fragen“, und mir ists, als betonte er jedes Wort, „Sie fragen mich, warum ich den Fisch fange? Sie haben mir doch davon erzählt, vor ein paar Tagen – erinnern Sie sich? Sie haben sich dann an einen anderen Tisch gesetzt und es fiel mir plötzlich auf, wie traurig Sie sind wegen dem Mädel, und da war es mir so, dass ich Ihnen helfen muss. Erinnern Sie sich, wie Sie dort an dem Tisch gesessen sind – ich glaube, Sie schrieben einen Brief.“ Einen Brief?! Ja, richtig! Den Brief an meine Eltern! Als ich es endlich über mich brachte: „Gott wird schon helfen“ – Ich wanke. „Was ist Ihnen? Sie sind ja ganz blass?“ höre ich Caesars Stimme. „Nichts, nichts!“ „Höchste Zeit, dass Sie einen Schnaps bekommen!“ Vielleicht! 얍 Es regnet und das Wasser wird immer mehr. Mich schaudert. Einen winzigen Augenblick lang sah ich das Netz. D ER N Die Lilie ist kaum zu finden, so finster ist die ganze Umgebung. Drinnen ist es nicht viel heller. Aber wärmer und es regnet wenigstens nicht herein. „Die Damen sind schon da“, empfängt uns die Besitzerin und deutet auf die dritte Loge. „Bravo!“ sagt Caesar und wendet sich zu mir: „Die Damen sind nämlich mein Köder. Die Regenwürmer, gewissermassen.“ In der dritten Loge sitzt das Fräulein Nelly mit einer dicken Kellnerin. Nelly erkennt mich sogleich, schweigt jedoch aus Gewohnheit. Sie lächelt nur sauer. Caesar hält perplex. „Wo ist der Fisch?“ fragt er hastig.

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Lesetext

„Er ist nicht erschienen“, sagt die Dicke. Es klingt so traurig monoton. „Er hat mich sitzen lassen“, meint Nelly und lächelt süss. „Zwei Stunden hat sie vor dem Kino gewartet“, nickt die Dicke resigniert. „Zweieinhalb“, korrigiert Nelly und lächelt plötzlich nicht mehr. „Ich bin froh, dass das Ekel nicht gekommen ist.“ „Na sowas“, meint Caesar und stellt mich den Damen vor: „Ein ehemaliger Kollege.“ Die Dicke mustert mich, und das Fräulein Nelly blickt in die Luft. Sie richtet ihren Büstenhalter. Wir setzen uns. Der Schnaps brennt und wärmt. Wir sind die einzigen Gäste. Die Besitzerin setzt sich die Brille auf und liest die Zeitung. Sie beugt sich über die Bar und es sieht aus, als würde sie sich die Ohren zuhalten. Sie weiss von nichts und möchte auch von nichts wissen. Wieso sind die beiden Damen Regenwürmer? „Was geht hier eigentlich vor sich?“ frage ich Caesar. Er beugt sich ganz nahe zu mir: „Ich wollte Sie ursprünglich eigentlich vorher gar 얍 nicht einweihen, verehrter Kollega, denn es ist und bleibt eine ordinäre Geschichte und Sie sollten nichts damit zu tun haben, aber dann dachte ich, es könnt vielleicht doch nichts schaden, wenn wir noch einen Zeugen hätten. Wir drei, die beiden Damen und ich, wollten nämlich die Tat rekonstruieren.“ „Rekonstruieren?!“ „Gewissermassen.“ „Aber wieso denn?!“ „Wir wollten, dass der Fisch den Mord wiederholt.“ „Wiederholt?!“ „Ja. Und zwar nach einem altbewährten genialen Plan. Ich wollte nämlich die ganze Affäre in einem Bett rekonstruieren.“ „In einem Bett?!“ „Passen Sie auf, Kollega“, nickt er mir zu und illuminiert seinen Totenkopf, „das Fräulein Nelly sollte den Fisch vor dem Kino erwarten, denn er meint nämlich, dass sie ihn liebt.“ Er lacht. Aber das Fräulein Nelly lacht nicht mit. Sie schneidet nur eine Grimasse und spuckt aus. 얍 „Spuck hier nicht herum!“ grinst die Dicke. „Das freie Ausspucken ist behördlich verboten!“ „Die Behörde darf mich“, beginnt Nelly. „Also nur keine Politik!“ fällt ihr Caesar ins Wort und wendet sich wieder mir zu: „Hier in dieser Loge sollte unser lieber Fisch besoffen gemacht werden, bis er nicht mehr hätt schwimmen können, sodass man ihn sogar mit der Hand hätt fangen können – dann wären die beiden Damen mit ihm dort hinten durch die Tapetentür aufs Zimmer gegangen. Und hierauf hätte sich folgerichtig und logischerweise folgendes entwickelt: Der Fisch wär eingeschlafen. Die Nelly hätte sich auf den Boden gelegt und dies rundliche Kind hätte sie mit einem Leintuch zugedeckt, ganz und gar, als wär sie eine Leiche.

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Dann hätt sich meine liebe Rundliche auf den schlafenden Fisch gestürzt und hätt gellend geschrieen: ‚Was hast Du getan?! Menschenskind, was hast Du getan?!‘ Und ich wär ins Zimmer getreten und hätt gesagt: ‚Polizei!‘ und hätts ihm auf den Kopf zugesagt, dass er in seinem Rausch die Nelly 얍 erschlagen hat, genau so wie seinerzeit den Anderen – wir hätten eine grosse Szene aufgeführt und ich hätt ihm auch ein paar Ohrfeigen gegeben – ich wette, Kollega, er hätt sich verraten! Und wenns auch nur ein Wörtchen gewesen wär, ich hätt ihn aufs Land gezogen, ich schon!“ Ich muss lächeln. Er sieht mich an, fast unwillig. „Sie haben recht“, sagt er, „der Mensch denkt und Gott lenkt – wenn wir uns ärgern, dass einer nicht anbeisst, dann zappelt er vielleicht schon im Netz.“ Es durchzuckt mich. Im Netz?! „Lächeln Sie nur“, höre ich Caesar, „Sie reden ja immer nur von dem unschuldigen Mädel, aber ich denk auch an den toten Jungen!“ Ich horche auf. An den toten Jungen? Achso, der N – den hab ich ja ganz vergessen. – Ich dachte an alle, alle – sogar an seine Eltern denke ich manchmal, wenn auch nicht gerade liebevoll – aber nie an ihn, nie, er fiel mir gar nicht mehr ein. Ja, dieser N! 얍 Der erschlagen worden war. Mit einem Stein. Den es nicht mehr gibt.

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D AS G ESPENST Ich verlasse die Lilie. Ich geh rasch heim, und die Gedanken an den N, den es nicht mehr gibt, lassen mich nicht los. Sie begleiten mich in mein Zimmer, in mein Bett. Ich muss schlafen! Ich will schlafen! Aber ich schlafe nicht ein – Immer wieder höre ich den N: „Sie haben es ja ganz vergessen, Herr Lehrer, dass Sie mitschuldig sind an meiner Ermordung. Wer hat denn das Kästchen erbrochen – ich oder Sie? Hatte ich Sie denn damals nicht gebeten: Helfen Sie mir, Herr Lehrer, ich habs nämlich nicht getan – aber Sie wollten einen Strich durch eine Rechnung ziehen, einen dicken Strich – ich weiss, ich weiss, es ist vorbei!“ Ja, es ist vorbei. Die Stunden gehen, die Wunden stehen. Immer rascher werden die Minuten – Sie laufen an mir vorbei. 얍 Bald schlägt die Uhr. „Herr Lehrer“, höre ich wieder den N, „erinnern Sie sich an eine Geschichtsstunde im vorigen Winter. Wir waren im Mittelalter und da erzählten Sie, dass der Henker, bevor er zur Hinrichtung schritt, den Verbrecher immer um Verzeihung bat, dass er ihm nun ein grosses Leid antun müsse, denn eine Schuld kann nur durch Schuld getilgt werden.“ Nur durch Schuld?

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K/TS2 (Grundschicht)

Und ich denke: bin ich ein Henker? Muss ich den T um Verzeihung bitten? Und ich werd die Gedanken nicht mehr los – Ich erhebe mich – „Wohin?“ „Am liebsten weg, gleich weit weg –“ „Halt!“ Er steht vor mir, der N. Ich komm durch ihn nicht durch. Ich mag ihn nicht mehr hören! Er hat keine Augen, aber er lässt mich nicht aus den Augen. Ich mache Licht und betrachte den Lampenschirm. Er ist voll Staub. Immer muss ich an den T denken. 얍 Er schwimmt um den Köder – oder? Plötzlich fragt der N: „Warum denken Sie nur an sich?“ „An mich?“ „Sie denken immer nur an den Fisch. Aber der Fisch, Herr Lehrer, und Sie, das ist jetzt ein und dasselbe.“ „Dasselbe?!“ „Sie wollen ihn doch fangen – nicht?“ „Ja, gewiss – aber wieso sind ich und er ein und dasselbe?“ „Sie vergessen den Henker, Herr Lehrer – den Henker, der den Mörder um Verzeihung bittet. In jener geheimnisvollen Stunde, da eine Schuld durch eine andere Schuld getilgt wird, verschmilzt der Henker mit dem Mörder zu einem Wesen, der Mörder geht gewissermassen im Henker auf – begreifen Sie mich, Herr Lehrer?“ Ja, ich fange allmählich an zu begreifen – Nein, jetzt will ich nichts mehr wissen! Hab ich Angst? „Sie sind noch imstand und lassen ihn wieder schwimmen“, höre ich den N. „Sie beginnen ja sogar schon, ihn zu bedauern –“ Richtig, seine Mutter hat für mich keine Zeit – 얍 „Sie sollen aber auch an meine Mutter denken, Herr Lehrer, und vor allem an mich! Auch wenn Sie nun den Fisch nicht meinetwegen, sondern nur wegen des Mädels fangen, wegen eines Mädels, an das Sie gar nicht mehr denken –“ Ich horche auf. Er hat recht, ich denke nicht an sie – Schon seit vielen Stunden. Wie sieht sie denn nur aus? Es wird immer kälter. Ich kenne sie ja kaum – Gewiss, gewiss, ich sah sie schon mal ganz, aber das war im Mond und die Wolken deckten die Erde zu – doch was hat sie nur für Haare? Braun oder blond? Komisch, ich weiss es nicht. Ich friere. B

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denken –“N ]

korrigiert aus: denken –

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Alles schwimmt davon – Und bei Gericht? Ich weiss nur noch: wie sie mir zunickte, bevor sie die Wahrheit sagte, aber da fühlte ich, ich muss für sie da sein. Der N horcht auf. „Sie nickte Ihnen zu?“ „Ja.“ 얍 Und ich muss an ihre Augen denken. „Aber Herr Lehrer, sie hat doch keine solchen Augen! Sie hat ja kleine, verschmitzte, unruhige, immer schaut sie hin und her, richtige Diebsaugen!“ „Diebsaugen?“ „Ja.“ Und plötzlich wird er sonderbar feierlich. „Die Augen, Herr Lehrer, die Sie anschauten, waren nicht die Augen des Mädels. Das waren andere Augen.“ „Andere?“ „Ja.“

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Mitten in der Nacht höre ich die Hausglocke. Wer läutet da? Oder habe ich mich getäuscht? Nein, jetzt läutet es wieder! Ich springe aus dem Bett, zieh mir den Morgenrock an und eile aus dem Zimmer. Dort steht bereits meine Hausfrau, verschlafen und wirr. „Wer kommt denn da?“ fragt sie besorgt. 얍 „Wer ist da?“ rufe ich durch die Türe. „Kriminalpolizei!“ „Jesus Maria!“ schreit die Hausfrau und wird sehr entsetzt. „Was habens denn angestellt, Herr Lehrer?“ „Ich? Nichts!“ Die Polizei tritt ein – zwei Kommissare. Sie fragen nach mir. Jawohl, ich bin es. „Wir wollen nur eine Auskunft. Ziehen Sie sich gleich an, Sie müssen mit!“ „Wohin?“ „Später!“ Ich ziehe mich überstürzt an – was ist geschehen?! Dann sitz ich im Auto. Die Kommissare schweigen noch immer. Wohin fahren wir? Die schönen Häuser hören allmählich auf und dann kommen die hässlichen. Es geht durch die armen Strassen und wir erreichen das vornehme Villenviertel. Ich bekomme Angst. „Meine Herren“, sage ich, „was ist denn geschehen in Gottes Namen?!“ „Später!“ 얍 Hier ist die Endstation, wir fahren weiter. B

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ziehN ]

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korrigiert aus: zich

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Ja, jetzt weiss ich, wohin die Reise geht – Das hohe Tor ist offen, wir fahren hindurch, es meldet uns niemand an. In der Halle sind viele Menschen. Ich erkenne den alten Pförtner und den Diener, der mich in den rosa Salon führte. An einem Tische sitzt ein hoher polizeilicher Funktionär. Und ein Protokollführer. Alle blicken mich forschend und feindselig an. Was hab ich denn verbrochen? „Treten Sie näher“, empfängt mich der Funktionär. Ich trete näher. Was will man von mir? „Wir müssen einige Fragen an Sie richten. Sie wollten doch gestern nachmittag die gnädige Frau sprechen –“ er deutet nach rechts. Ich blicke hin. Dort sitzt eine Dame. In einem grossen Abendkleid. Elegant und gepflegt – ach, die Mutter des T! Sie starrt mich hasserfüllt an. Warum? „So antworten Sie doch!“ höre ich den Funktionär. 얍 „Ja“, sage ich, „ich wollte die gnädige Frau sprechen, aber sie hatte leider keine Zeit für mich.“ „Und was wollten Sie ihr erzählen?“ Ich stocke – aber es hat keinen Sinn! Nein, ich will nicht mehr lügen! Ich sah ja das Netz – „Ich wollte der gnädigen Frau nur sagen“, beginne ich langsam, „dass ich einen bestimmten Verdacht auf ihren Sohn habe –“ Ich komme nicht weiter, die Mutter schnellt empor. „Lüge!“ kreischt sie. „Alles Lüge! Nur er hat die Schuld, nur er! Er hat meinen Sohn in den Tod getrieben! Er, nur er!“ Ich wanke. In den Tod?! „Was ist denn los?!“ schreie ich. „Ruhe!“ herrscht mich der Funktionär an. Und nun erfahre ich, dass der Fisch ins Netz geschwommen ist. Er wurde bereits ans Land gezogen und zappelt nicht mehr. Es ist aus. Als die Mutter vor einer Stunde heimkam, fand sie einen Zettel auf ihrem Toilettentisch. 얍 „Der Lehrer trieb mich in den Tod“, stand auf dem Zettel. Die Mutter lief in das Zimmer des T hinauf – der T war verschwunden. Sie alarmierte das Haus. Man durchstöberte alles und fand nichts. Man durchsuchte den Park, rief „T!“ und immer wieder „T!“ – keine Antwort. Endlich wurde er entdeckt. In der Nähe eines Grabens. Dort hatte er sich erhängt. Die Mutter sieht mich an. Sie weint nicht. Sie kann nicht weinen, geht es mir durch den Sinn. Der Funktionär zeigt mir den Zettel. Ein abgerissenes Stück Papier.

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Ohne Unterschrift. Vielleicht schrieb er noch mehr, fällt es mir plötzlich ein. Ich schau die Mutter an. „Ist das alles?“ frage ich den Funktionär. Die Mutter schaut weg. „Ja, das ist alles“, sagt der Funktionär. „Erklären Sie sich!“ Die Mutter ist eine schöne Frau. Ihr Ausschnitt ist hinten tiefer als vorn. Sie hat es sicher 얍 nie erfahren, was es heisst, nichts zum fressen zu haben – Ihre Schuhe sind elegant, ihre Strümpfe sind so zart, als hätte sie keine an, aber ihre Beine sind dick. Ihr Taschentuch ist klein. Nach was riecht es? Sicher hat sie ein teures Parfüm – Aber es kommt nicht darauf an, mit was sich einer parfümiert. Wenn der Vater keinen Konzern hätte, würde die Mutter nur nach sich selbst duften. Jetzt sieht sie mich an, fast höhnisch. Zwei helle, runde Augen – Wie sagte doch seinerzeit der T in der Konditorei? „Aber Herr Lehrer, ich hab doch keine Fischaugen, ich hab ja Rehaugen – meine Mutter sagts auch immer.“ Sagte er nicht, sie hätte die gleichen Augen? Ich weiss es nicht mehr. Ich fixiere die Mutter. Warte nur, Du Reh! Bald wird es schneien und Du wirst Dich den Menschen nähern. Aber dann werde ich Dich zurücktreiben! Zurück in den Wald, wo der Schnee meterhoch liegt. Wo Du stecken bleibst vor lauter Frost – 얍 Wo Du verhungerst im Eis. Schau mich nur an, jetzt rede ich! B

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ANDEREN

A UGEN

Und ich rede von dem fremden Jungen, der den N erschlagen hat, und erzähle, dass der T zuschauen wollte, wie ein Mensch kommt und geht. Geburt und Tod, und alles, was dazwischen liegt, wollt er genau wissen. Er wollte alle Geheimnisse ergründen, aber nur, um darüber stehen zu können – darüber mit seinem Hohn. Er kannte keine Schauer, denn seine Angst war nur Feigheit. Und seine Liebe zur Wirklichkeit war nur der Hass auf die Wahrheit. Und während ich so rede, fühle ich mich plötzlich wunderbar leicht, weil es keinen T mehr gibt. Einen weniger! Freue ich mich denn? Ja! Ja, ich freue mich! Denn trotz aller eigenen Schuld an dem Bösen ist es herrlich und wunderschön, wenn ein Böser vernichtet wird! Und ich erzähle alles. 얍 28

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korrigiert aus: du

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Lesetext

„Meine Herren“, sagte ich, „es gibt ein Sägewerk, das nicht mehr sägt, und es gibt Kinder, die in den Fenstern sitzen und die Puppen bemalen.“ „Was hat das mit uns zu tun?“ fragt mich der Funktionär. Die Mutter schaut zum Fenster hinaus. Draussen ist Nacht. Sie scheint zu lauschen – Was hört sie? Schritte? Das Tor ist ja offen – „Es hat keinen Sinn, einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen“, sage ich und plötzlich höre ich meine Worte. Jetzt starrt mich die Mutter wieder an. Und ich höre mich: „Es ist möglich, dass ich Ihren Sohn in den Tod getrieben habe –“ Ich stocke – Warum lächelte die Mutter? Sie lächelt noch immer – Ist sie verrückt? Sie beginnt zu lachen – immer lauter! Sie kriegt einen Anfall. Sie schreit und wimmert – Ich höre nur das Wort „Gott“. 얍 Dann kreischt sie: „Es hat keinen Sinn!“ Man versucht, sie zu beruhigen. Sie schlägt um sich. Der Diener hält sie fest. „Es sägt, es sägt!“ jammert sie – Was? Das Sägewerk? Sieht sie die Kinder in den Fenstern? Ist jener Herr erschienen, der auch auf Ihre Zeit, gnädige Frau, keine Rücksicht nimmt, denn er geht durch alle Gassen, ob gross oder klein – Sie schlägt noch immer um sich. Da verliert sie ein Stückchen Papier – als hätte ihr wer auf die Hand geschlagen. Der Funktionär hebt es auf. Es ist ein zerknülltes Papier. Der abgerissene Teil jenes Zettels, auf dem stand: „Der Lehrer trieb mich in den Tod.“ Und hier schrieb der T, warum er in den Tod getrieben wurde: „Denn der Lehrer weiss es, dass ich den N erschlagen habe. Mit dem Stein –“ Es wurde sehr still im Saal. Die Mutter schien zusammengebrochen. Sie sass und rührte sich nicht. 얍 Plötzlich lächelt sie wieder und nickt mir zu. Was war das? Nein, das war doch nicht sie – B

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Tod.“N ]

korrigiert aus: Tod“.

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Horváth 1938a, S. 216

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K/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Das waren nicht ihre Augen – Still, wie die dunkeln Seen in den Wäldern meiner Heimat. Und traurig, wie eine Kindheit ohne Licht. So schaut Gott zu uns herein, muss ich plötzlich denken. Einst dachte ich, er hätte tückische, stechende Augen – Nein, nein! Denn Gott ist die Wahrheit. „Sage es, dass Du das Kästchen erbrochen hast“, höre ich wieder die Stimme. „Tu mir den Gefallen und kränke mich nicht –“ Jetzt tritt die Mutter langsam vor den Funktionär und beginnt zu reden, leise, doch fest: „Ich wollte mir die Schande ersparen“, sagt sie, „aber wie der Lehrer zuvor die Kinder in den Fenstern erwähnte, dachte ich schon: ja, es hat keinen Sinn.“

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Ü BER

DEN

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Morgen fahre ich nach Afrika. Auf meinem Tische stehen Blumen. Sie sind von meiner braven Hausfrau zum Abschied. Meine Eltern haben mir geschrieben, sie sind froh, dass ich eine Stellung habe, und traurig, dass ich so weit weg muss über das grosse Meer. Und dann ist noch ein Brief da. Ein blaues Kuvert. „Schöne Grüsse an die Neger. Der Klub.“ Gestern hab ich Eva besucht. Sie ist glücklich, dass der Fisch gefangen wurde. Der Pfarrer hat es mir versprochen, dass er sich um sie kümmern wird, wenn sie das Gefängnis verlässt. Ja, sie hat Diebsaugen. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen mich niedergeschlagen, und der Z ist schon frei. Ich packe meine Koffer. Julius Caesar hat mir seinen Totenkopf geschenkt. Dass ich ihn nur nicht verliere! Pack alles ein, vergiss nichts! Lass nur nichts da! Der Neger fährt zu den Negern.

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Sinn.“N ]

korrigiert aus: Sinn“.

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K/TS2 (Grundschicht)

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I NHALT

Die Neger ................................................................................. Es regnet ................................................................................... Die reichen Plebejer...................................................................... Das Brot ................................................................................... Die Pest .................................................................................... Das Zeitalter der Fische.................................................................. Der Tormann .............................................................................. Der totale Krieg........................................................................... Die marschierende Venus................................................................ Unkraut .................................................................................... Der verschollene Flieger................................................................. Geh heim!.................................................................................. Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit..................................... Der römische Hauptmann ............................................................... Der Dreck.................................................................................. Z und N .................................................................................... Adam und Eva ............................................................................ Verurteilt ................................................................................... Der Mann im Mond ...................................................................... Der vorletzte Tag ......................................................................... Der letzte Tag ............................................................................. 얍 Die Mitarbeiter............................................................................ Mordprozess Z oder N .................................................................. Schleier .................................................................................... In der Wohnung ........................................................................... Der Kompass ............................................................................. Das Kästchen.............................................................................. Vertrieben aus dem Paradies ........................................................... Der Fisch................................................................................... Er beisst nicht an.......................................................................... Fahnen ..................................................................................... Einer von fünf............................................................................. Der Klub greift ein ....................................................................... Zwei Briefe ................................................................................ Herbst ...................................................................................... Besuch ..................................................................................... Die Endstation ............................................................................ Der Köder.................................................................................. Im Netz..................................................................................... Der N ....................................................................................... Das Gespenst ............................................................................. Das Reh .................................................................................... Die anderen Augen ....................................................................... Über den Wassern ........................................................................

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Jugend ohne Gott (Endfassung, emendiert)

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25. März. Auf meinem Tische stehen Blumen. Lieblich. Ein Geschenk meiner braven Hausfrau, denn heute ist mein Geburtstag. Aber ich brauche den Tisch und rücke die Blumen beiseite und auch den Brief meiner alten Eltern. Meine Mutter schrieb: „Zu Deinem vierunddreißigsten Geburtstage wünsche ich Dir, mein liebes Kind, das Allerbeste. Gott der Allmächtige gebe Dir Gesundheit, Glück und Zufriedenheit!“ Und mein Vater schrieb: „Zu Deinem vierunddreißigsten Geburtstage, mein lieber Sohn, wünsche ich Dir alles Gute. Gott der Allmächtige gebe Dir Glück, Zufriedenheit und Gesundheit!“ Glück kann man immer brauchen, denke ich mir, und gesund bist du auch, gottlob! Ich klopfe auf Holz. Aber zufrieden? Nein, zufrieden bin ich eigentlich nicht. Doch das ist ja schließlich niemand. Ich setze mich an den Tisch, entkorke eine rote Tinte, mach mir dabei die Finger tintig und ärgere mich darüber. Man sollt endlich mal eine Tinte erfinden, mit der man sich unmöglich tintig machen kann! Nein, zufrieden bin ich wahrlich nicht. Denk nicht so dumm, herrsch ich mich an. Du hast doch eine sichere Stellung mit Pensionsberechtigung, und das ist in der heutigen Zeit, wo niemand weiß, ob sich morgen die Erde noch drehen wird, allerhand! Wie viele würden sich sämtliche Finger ablecken, wenn sie an deiner Stelle wären?! Wie gering ist doch der Prozentsatz der Lehramtskandidaten, die wirklich Lehrer werden können! Danke Gott, daß du zum Unterrichtskörper eines Städtischen Gymnasiums gehörst, und daß du also ohne wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden darfst! Du kannst doch auch hundert Jahre alt werden, vielleicht wirst du sogar mal der älteste Einwohner des Vaterlandes! Dann kommst du an deinem Geburtstag in die Illustrierte, und drunter wird stehen: „Er ist noch bei regem Geiste.“ Und das alles mit Pension! Bedenk und versündig dich nicht! Ich versündige mich nicht und beginne zu arbeiten. Sechsundzwanzig blaue Hefte liegen neben mir, sechsundzwanzig Buben, so um das vierzehnte Jahr herum, hatten gestern in der Geographiestunde einen Aufsatz zu schreiben, ich unterrichte nämlich Geschichte und Geographie. Draußen scheint noch die Sonne, fein muß es sein im Park! Doch Beruf ist Pflicht, ich korrigiere die Hefte und schreibe in mein Büchlein hinein, wer etwas taugt oder nicht. Das von der Aufsichtsbehörde vorgeschriebene Thema der Aufsätze lautet: „Warum müssen wir Kolonien haben?“ Ja, warum? Nun, lasset uns hören! Der erste Schüler beginnt mit einem B: Er heißt Bauer, mit dem Vornamen Franz. In dieser Klasse gibts keinen, der mit A beginnt, dafür haben wir aber gleich fünf mit B. Eine Seltenheit, so viele B’s bei insgesamt sechsundzwanzig Schülern! Aber zwei B’s sind Zwillinge, daher das Ungewöhnliche. Automatisch überfliege ich die

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Namensliste in meinem Büchlein und stelle fest, daß B nur von S fast erreicht wird – stimmt, vier beginnen mit S, drei mit M, je zwei mit E, G, L und R, je einer mit F, H, N, T, W, Z, während keiner mit A, C, D, I, O, P, Q, U, V, X, Y beginnt. Nun, Franz Bauer, warum brauchen wir Kolonien? „Wir brauchen die Kolonien“, schreibt er, „weil wir zahlreiche Rohstoffe benötigen, denn ohne Rohstoffe könnten wir unsere hochstehende Industrie nicht ihrem innersten Wesen und Werte nach beschäftigen, was zur unleidlichen Folge hätte, daß der heimische Arbeitsmann wieder arbeitslos werden würde.“ Sehr richtig, lieber Bauer! „Es dreht sich zwar nicht um die Arbeiter“ – sondern, Bauer? – „es dreht sich vielmehr um das Volksganze, denn auch der Arbeiter gehört letzten Endes zum Volk.“ Das ist ohne Zweifel letzten Endes eine großartige Entdeckung, geht es mir durch den Sinn, und plötzlich fällt es mir wieder auf, wie häufig in unserer Zeit uralte Weisheiten als erstmalig formulierte Schlagworte serviert werden. Oder war das immer schon so? Ich weiß es nicht. Jetzt weiß ich nur, daß ich wieder mal sechsundzwanzig Aufsätze durchlesen muß, Aufsätze, die mit schiefen Voraussetzungen falsche Schlußfolgerungen ziehen. Wie schön wärs, wenn sich „schief“ und „falsch“ aufheben würden, aber sie tuns nicht. Sie wandeln Arm in Arm daher und singen hohle Phrasen. Ich werde mich hüten als städtischer Beamter, an diesem lieblichen Gesange auch nur die leiseste Kritik zu üben! Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle? Er kann sich nur heimlich ärgern. Und ich will mich nicht mehr ärgern! Korrigier rasch, du willst noch ins Kino! Was schreibt denn da der N? „Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul“ – Zu dumm! Also das streich ich durch! Und ich will schon mit roter Tinte an den Rand schreiben: „Sinnlose Verallgemeinerung!“ – Da stocke ich. Aufgepaßt, habe ich denn diesen Satz über die Neger in letzter Zeit nicht schon mal gehört? Wo denn nur? Richtig: Er tönte aus dem Lautsprecher im Restaurant und verdarb mir fast den Appetit. Ich lasse den Satz also stehen, denn was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen. Und während ich weiterlese, höre ich immer das Radio: Es lispelt, es heult, es bellt, es girrt, es droht – Und die Zeitungen drucken es nach, und die Kindlein, sie schreiben es ab. Nun hab ich den Buchstaben T verlassen und schon kommt Z. Wo bleibt W? Habe ich das Heft verlegt? Nein, der W war ja gestern krank – Er hatte sich am Sonntag im Stadion eine Lungenentzündung geholt, stimmt, der Vater hats mir ja schriftlich korrekt mitgeteilt. Armer W! Warum gehst du auch ins Stadion, wenns eisig in Strömen regnet? Diese Frage könntest du eigentlich auch an dich selbst stellen, fällt es mir ein, denn du warst ja am Sonntag ebenfalls im Stadion und harrtest treu bis zum Schlußpfiff aus, obwohl der Fußball, den die beiden Mannschaften boten, keineswegs hochklassig war. Ja, das Spiel war sogar ausgesprochen langweilig – Also: warum bliebst du? Und mit dir dreißigtausend zahlende Zuschauer? Warum? Wenn der Rechtsaußen den linken Half überspielt und zentert, wenn der Mittelstürmer den Ball in den leeren Raum vorlegt und der Tormann sich wirft, wenn der

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Halblinke seine Verteidigung entlastet und ein Flügelspiel forciert, wenn der Verteidiger auf der Torlinie rettet, wenn einer unfair rempelt oder eine ritterliche Geste verübt, wenn der Schiedsrichter gut ist oder schwach, parteiisch oder parteilos, dann existiert für den Zuschauer nichts auf der Welt, außer dem Fußball, ob die Sonne scheint, obs regnet oder schneit. Dann hat er alles vergessen. Was „alles“? Ich muß lächeln: die Neger, wahrscheinlich – – ES

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Als ich am nächsten Morgen in das Gymnasium kam und die Treppe zum Lehrerzimmer emporstieg, hörte ich auf dem zweiten Stock einen wüsten Lärm. Ich eilte empor und sah, daß fünf Jungen, und zwar E, G, R, H, T, einen verprügelten, nämlich den F. „Was fällt euch denn ein?“ schrie ich sie an. „Wenn ihr schon glaubt, noch raufen zu müssen wie die Volksschüler, dann rauft doch gefälligst einer gegen einen, aber fünf gegen einen, also das ist eine Feigheit!“ Sie sahen mich verständnislos an, auch der F, über den die fünf hergefallen waren. Sein Kragen war zerrissen. „Was hat er euch denn getan?“ fragte ich weiter, doch die Helden wollten nicht recht heraus mit der Sprache und auch der Verprügelte nicht. Erst allmählich brachte ich es heraus, daß der F den fünfen nichts angetan hatte, sondern im Gegenteil: Die fünf hatten ihm seine Buttersemmel gestohlen, nicht, um sie zu essen, sondern nur, damit er keine hat. Sie haben die Semmel durch das Fenster auf den Hof geschmissen. Ich schaue hinab. Dort liegt sie auf dem grauen Stein. Es regnet noch immer, und die Semmel leuchtet hell herauf. Und ich denke: Vielleicht haben die fünf keine Semmeln, und es ärgerte sie, daß der F eine hatte. Doch nein, sie hatten alle ihre Semmeln und der G sogar zwei. Und ich frage nochmals: „Warum habt ihr das also getan?“ Sie wissen es selber nicht. Sie stehen vor mir und grinsen verlegen. Ja, der Mensch dürfte wohl böse sein, und das steht auch schon in der Bibel. Als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wieder wichen, sagte Gott: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde strafen um der Menschen willen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Hat Gott sein Versprechen gehalten? Ich weiß es noch nicht. Aber ich frage nun nicht mehr, warum sie die Semmel auf den Hof geworfen haben. Ich erkundige mich nur, ob sie es noch nie gehört hätten, daß sich seit Urzeiten her, seit tausend und tausend Jahren, seit dem Beginn der menschlichen Gesittung, immer stärker und stärker ein ungeschriebenes Gesetz herausgebildet hat, ein schönes, männliches Gesetz: Wenn ihr schon rauft, dann raufe nur einer gegen einen! Bleibet immer ritterlich! Und ich wende mich wieder an die fünf und frage: „Schämt ihr euch denn nicht?“ Sie schämen sich nicht. Ich rede eine andere Sprache. Sie sehen mich groß an, nur der Verprügelte lächelt. Er lacht mich aus. „Schließt das Fenster“, sage ich, „sonst regnets noch herein!“ Sie schließen es. Was wird das für eine Generation? Eine harte oder nur eine rohe? Ich sage kein Wort mehr und gehe ins Lehrerzimmer. Auf der Treppe bleibe ich stehen und lausche: ob sie wohl wieder raufen? Nein, es ist still. Sie wundern sich.

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P LEBEJER

Von 10–11 hatte ich Geographie. In dieser Stunde mußte ich die gestern korrigierte Schulaufgabe betreffs der kolonialen Frage drannehmen. Wie bereits erwähnt, hatte man gegen den Inhalt der Aufsätze vorschriftsgemäß nichts einzuwenden. Ich sprach also, während ich nun die Hefte an die Schüler verteilte, lediglich über Sprachgefühl, Orthographie und Formalitäten. So sagte ich dem einen B, er möge nicht immer über den linken Rand hinausschreiben, dem R, die Absätze müßten größer sein, dem Z, man schreibt Kolonien mit e und nicht Kolonihn mit h. Nur als ich dem N sein Heft zurückgab, konnte ich mich nicht zurückhalten: „Du schreibst“, sagte ich, „daß wir Weißen kulturell und zivilisatorisch über den Negern stehen, und das dürfte auch stimmen. Aber du darfst doch nicht schreiben, daß es auf die Neger nicht ankommt, ob sie nämlich leben könnten oder nicht. Auch die Neger sind doch Menschen.“ Er sah mich einen Augenblick starr an, und dann glitt ein unangenehmer Zug über sein Gesicht. Oder hatte ich mich getäuscht? Er nahm sein Heft mit der guten Note, verbeugte sich korrekt und nahm wieder Platz in seiner Bank. Bald sollte ich es erfahren, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Bereits am nächsten Tage erschien der Vater des N in meiner Sprechstunde, die ich wöchentlich einmal abhalten mußte, um mit den Eltern in Kontakt zu kommen. Sie erkundigten sich über die Fortschritte ihrer Kinder und holten sich Auskunft über allerhand, meist recht belanglose, Erziehungsprobleme. Es waren brave Bürger, Beamte, Offiziere, Kaufleute. Arbeiter war keiner darunter. Bei manchem Vater hatte ich das Gefühl, daß er über den Inhalt der diversen Schulaufsätze seines Sprößlings ähnlich denkt wie ich. Aber wir sahen uns nur an, lächelten und sprachen über das Wetter. Die meisten Väter waren älter als ich, einer war sogar ein richtiger Greis. Der Jüngste ist knapp vor zwei Wochen achtundzwanzig geworden. Er hatte mit siebzehn Jahren die Tochter eines Industriellen verführt, ein eleganter Mensch. Wenn er zu mir kommt, fährt er immer in seinem Sportwagen vor. Die Frau bleibt unten sitzen, und ich kann sie von droben sehen. Ihren Hut, ihre Arme, ihre Beine. Sonst nichts. Aber sie gefällt mir. Du könntest auch schon einen Sohn haben, denke ich dann, aber ich kann mich beherrschen, ein Kind in die Welt zu setzen. Nur damits in irgendeinem Krieg erschossen wird! Nun stand der Vater des N vor mir. Er hatte einen selbstsicheren Gang und sah mir aufrecht in die Augen. „Ich bin der Vater des Otto N.“ „Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr N“, antwortete ich, verbeugte mich, wie es sich gehört, bot ihm Platz an, doch er setzte sich nicht. „Herr Lehrer“, begann er, „mein Hiersein hat den Grund in einer überaus ernsten Angelegenheit, die wohl noch schwerwiegende Folgen haben dürfte. Mein Sohn Otto teilte mir gestern nachmittag in heller Empörung mit, daß Sie, Herr Lehrer, eine schier unerhörte Bemerkung fallen gelassen hätten –“ „Ich?!“ „Jawohl, Sie!“ „Wann?“ „Anläßlich der gestrigen Geographiestunde. Die Schüler schrieben einen Aufsatz über Kolonialprobleme, und da sagten Sie zu meinem Otto: Auch die Neger sind Menschen. Sie wissen wohl, was ich meine?“ „Nein.“

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Ich wußte es wirklich nicht. Er sah mich prüfend an. Gott, muß der dumm sein, dachte ich. „Mein Hiersein“, begann er wieder langsam und betont, „hat seinen Grund in der Tatsache, daß ich seit frühester Jugend nach Gerechtigkeit strebe. Ich frage Sie also: Ist jene ominöse Äußerung über die Neger Ihrerseits in dieser Form und in diesem Zusammenhange tatsächlich gefallen oder nicht?“ „Ja“, sagte ich und mußte lächeln: „Ihr Hiersein wäre also nicht umsonst –“ „Bedauere bitte“, unterbrach er mich schroff, „ich bin zu Scherzen nicht aufgelegt! Sie sind sich wohl noch nicht im klaren darüber, was eine derartige Äußerung über die Neger bedeutet?! Das ist Sabotage am Vaterland! Oh, mir machen Sie nichts vor! Ich weiß es nur zu gut, auf welch heimlichen Wegen und mit welch perfiden Schlichen das Gift Ihrer Humanitätsduselei unschuldige Kinderseelen zu unterhöhlen trachtet!“ Nun wurd’s mir aber zu bunt! „Erlauben Sie“, brauste ich auf, „das steht doch bereits in der Bibel, daß alle Menschen Menschen sind!“ „Als die Bibel geschrieben wurde, gabs noch keine Kolonien in unserem Sinne“, dozierte felsenfest der Bäckermeister. „Eine Bibel muß man in übertragenem Sinn verstehen, bildlich oder gar nicht! Herr, glauben Sie denn, daß Adam und Eva leibhaftig gelebt haben oder nur bildlich?! Na also! Sie werden sich nicht auf den lieben Gott hinausreden, dafür werde ich sorgen!“ „Sie werden für gar nichts sorgen“, sagte ich und komplimentierte ihn hinaus. Es war ein Hinauswurf. „Bei Philippi sehen wir uns wieder!“ rief er mir noch zu und verschwand. Zwei Tage später stand ich bei Philippi. Der Direktor hatte mich rufen lassen. „Hören Sie“, sagte er, „es kam hier ein Schreiben von der Aufsichtsbehörde. Ein gewisser Bäckermeister N hat sich über Sie beschwert, Sie sollen da so Äußerungen fallen gelassen haben – Nun, ich kenne das und weiß, wie solche Beschwerden zustande kommen, mir müssen Sie nichts erklären! Doch, lieber Kollege, ist es meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß sich derlei nicht wiederholt. Sie vergessen das geheime Rundschreiben 5679 u/33! Wir müssen von der Jugend alles fernhalten, was nur in irgendeiner Weise ihre zukünftigen militärischen Fähigkeiten beeinträchtigen könnte – Das heißt: Wir müssen sie moralisch zum Krieg erziehen. Punkt!“ Ich sah den Direktor an, er lächelte und erriet meine Gedanken. Dann erhob er sich und ging hin und her. Er ist ein schöner alter Mann, dachte ich. „Sie wundern sich“, sagte er plötzlich, „daß ich die Kriegsposaune blase, und Sie wundern sich mit Recht! Sie denken jetzt, siehe, welch ein Mensch! Vor wenigen Jahren noch unterschrieb er flammende Friedensbotschaften, und heute? Heut rüstet er zur Schlacht!“ „Ich weiß es, daß Sie es nur gezwungen tun“, suchte ich ihn zu beruhigen. Er horchte auf, blieb vor mir stehen und sah mich aufmerksam an. „Junger Mann“, sagte er ernst, „merken Sie sich eines: Es gibt keinen Zwang. Ich könnte ja dem Zeitgeist widersprechen und mich von einem Herrn Bäckermeister einsperren lassen, ich könnte ja hier gehen, aber ich will nicht gehen, jawohl, ich will nicht! Denn ich möchte die Altersgrenze erreichen, um die volle Pension beziehen zu können.“ Das ist ja recht fein, dachte ich.

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„Sie halten mich für einen Zyniker“, fuhr er fort und sah mich nun schon ganz väterlich an. „Oh, nein! Wir alle, die wir zu höheren Ufern der Menschheit strebten, haben eines vergessen: die Zeit! Die Zeit, in der wir leben. Lieber Kollege, wer so viel gesehen hat wie ich, der erfaßt allmählich das Wesen der Dinge.“ Du hast leicht reden, dachte ich wieder, du hast ja noch die schöne Vorkriegszeit miterlebt. Aber ich? Ich hab erst im letzten Kriegsjahr zum erstenmal geliebt, und frage nicht, was. „Wir leben in einer plebejischen Welt“, nickte er mir traurig zu. „Denken Sie nur an das alte Rom, 287 vor Christi Geburt. Der Kampf zwischen den Patriziern und Plebejern war noch nicht entschieden, aber die Plebejer hatten bereits wichtigste Staatsposten besetzt.“ „Erlauben Sie, Herr Direktor“, wagte ich einzuwenden, „soviel ich weiß, regieren bei uns doch keine armen Plebejer, sondern es regiert einzig und allein das Geld.“ Er sah mich wieder groß an und lächelte versteckt: „Das stimmt. Aber ich werde Ihnen jetzt gleich ein Ungenügend in Geschichte geben, Herr Geschichtsprofessor! Sie vergessen ja ganz, daß es auch reiche Plebejer gab. Erinnern Sie sich?“ Ich erinnerte mich. Natürlich! Die reichen Plebejer verließen das Volk und bildeten mit den bereits etwas dekadenten Patriziern den neuen Amtsadel, die sogenannten Optimates. „Vergessen Sies nur nicht wieder!“ „Nein.“ D AS B ROT

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Als ich zur nächsten Stunde die Klasse, in der ich mir erlaubte, etwas über die Neger zu sagen, betrete, fühle ich sogleich, daß etwas nicht in Ordnung ist. Haben die Herren meinen Stuhl mit Tinte beschmiert? Nein. Warum schauen sie mich nur so schadenfroh an? Da hebt einer die Hand. Was gibts? Er kommt zu mir, verbeugt sich leicht, überreicht mir einen Brief und setzt sich wieder. Was soll das? Ich erbreche den Brief, überfliege ihn, möchte hochfahren, beherrsche mich jedoch und tue, als würd ich ihn genau lesen. Ja, alle haben ihn unterschrieben, alle fünfundzwanzig, der W ist noch immer krank. „Wir wünschen nicht mehr“, steht in dem Brief, „von Ihnen unterrichtet zu werden, denn nach dem Vorgefallenen haben wir Endesunterzeichneten kein Vertrauen mehr zu Ihnen und bitten um eine andere Lehrkraft.“ Ich blicke die Endesunterzeichneten an, einen nach dem anderen. Sie schweigen und sehen mich nicht an. Ich unterdrücke meine Erregung und frage, wie so nebenbei: „Wer hat das geschrieben?“ Keiner meldet sich. „So seid doch nicht so feig!“ Sie rühren sich nicht. „Schön“, sage ich und erhebe mich, „es interessiert mich auch nicht mehr, wer das geschrieben hat, Ihr habt euch ja alle unterzeichnet – Gut, auch ich habe nicht die geringste Lust, eine Klasse zu unterrichten, die zu mir kein Vertrauen hat. Doch glaubt mir, ich wollte nach bestem Gewissen“ – Ich stocke, denn ich bemerke plötzlich, daß einer unter der Bank schreibt.

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„Was schreibst du dort?“ Er will es verstecken. „Gibs her!“ Ich nehm es ihm weg, und er lächelt höhnisch. Es ist ein Blatt Papier, auf dem er jedes meiner Worte mitstenographierte. „Ach, Ihr wollt mich bespitzeln?“ Sie grinsen. Grinst nur, ich verachte euch. Hier hab ich, bei Gott, nichts mehr verloren. Soll sich ein anderer mit euch raufen! Ich gehe zum Direktor, teile ihm das Vorgefallene mit und bitte um eine andere Klasse. Er lächelt: „Meinen Sie, die anderen sind besser?“ Dann begleitet er mich in die Klasse zurück. Er tobt, er schreit, er beschimpft sie – ein herrlicher Schauspieler! Eine Frechheit wärs, brüllt er, eine Niedertracht, und die Lümmel hätten kein Recht, einen anderen Lehrer zu fordern, was ihnen einfiele, ob sie denn verrückt geworden seien, usw.! Dann läßt er mich wieder allein zurück. Da sitzen sie nun vor mir. Sie hassen mich. Sie möchten mich ruinieren, meine Existenz und alles, nur weil sie es nicht vertragen können, daß ein Neger auch ein Mensch ist. Ihr seid keine Menschen, nein! Aber wartet nur, Freunde! Ich werde mir wegen euch keine Disziplinarstrafe zuziehen, geschweige denn mein Brot verlieren – Nichts zum Fressen soll ich haben, was? Keine Kleider, keine Schuhe? Kein Dach? Würd euch so passen! Nein, ich werde euch von nun ab nur mehr erzählen, daß es keine Menschen gibt, außer euch, ich will es euch so lange erzählen, bis euch die Neger rösten! Ihr wollt es ja nicht anders! D IE P EST An diesem Abend wollt ich nicht schlafen gehen. Immer sah ich das Stenogramm vor mir – Ja, sie wollen mich vernichten. Wenn sie Indianer wären, würden sie mich an den Marterpfahl binden und skalpieren, und zwar mit dem besten Gewissen. Sie sind überzeugt, sie hätten recht. Es ist eine schreckliche Bande! Oder versteh ich sie nicht? Bin ich denn mit meinen vierunddreißig Jahren bereits zu alt? Ist die Kluft zwischen uns tiefer als sonst zwischen Generationen? Heut glaube ich, sie ist unüberbrückbar. Daß diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, wär zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. Aber das Schlimmste ist, daß sie es überhaupt nicht kennenlernen wollen! Alles Denken ist ihnen verhaßt. Sie pfeifen auf den Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – Doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten. Wie gerne würden sie krepieren auf irgendeinem Feld! Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät. Doch halt! Ist es nicht eine große Tugend, diese Bereitschaft zum höchsten Opfer? Gewiß, wenn es um eine gerechte Sache geht – Um was geht es hier? „Recht ist, was der eigenen Sippschaft frommt“, sagt das Radio. Was uns nicht guttut, ist Unrecht. Also ist alles erlaubt, Mord, Raub, Brandstiftung, Meineid – Ja, es

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ist nicht nur erlaubt, sondern es gibt überhaupt keine Untaten, wenn sie im Interesse der Sippschaft begangen werden! Was ist das? Der Standpunkt des Verbrechers. Als die reichen Plebejer im alten Rom fürchteten, daß das Volk seine Forderung, die Steuern zu erleichtern, durchdrücken könnte, zogen sie sich in den Turm der Diktatur zurück. Und sie verurteilten den Patrizier Manlius Capitolinus, der mit seinem Vermögen plebejische Schuldner aus der Schuldhaft befreien wollte, als Hochverräter zum Tode und stürzten ihn vom Tarpejischen Felsen hinab. Seit es eine menschliche Gesellschaft gibt, kann sie aus Selbsterhaltungsgründen auf das Verbrechen nicht verzichten. Aber die Verbrechen wurden verschwiegen, vertuscht, man hat sich ihrer geschämt. Heute ist man stolz auf sie. Es ist eine Pest. Wir sind alle verseucht, Freund und Feind. Unsere Seelen sind voller schwarzer Beulen, bald werden sie sterben. Dann leben wir weiter und sind doch tot. Auch meine Seele ist schon schwach. Wenn ich in der Zeitung lese, daß einer von denen umgekommen ist, denke ich: „Zu wenig! Zu wenig!“ Habe ich nicht auch heute gedacht: „Geht alle drauf“? Nein, jetzt will ich nicht weiterdenken! Jetzt wasche ich meine Hände und geh ins Café. Dort sitzt immer wer, mit dem man Schach spielen kann! Nur hinaus jetzt aus meinem Zimmer! Luft! – Die Blumen, die ich von meiner Hausfrau zum Geburtstag bekam, sind verwelkt. Sie kommen auf den Mist. Morgen ist Sonntag. In dem Café sitzt keiner, den ich kenne. Niemand. Was tun? Ich geh ins Kino. In der Wochenschau seh ich die reichen Plebejer. Sie enthüllen ihre eigenen Denkmäler, machen die ersten Spatenstiche und nehmen die Paraden ihrer Leibgarden ab. Dann folgt ein Mäuslein, das die größten Katzen besiegt, und dann eine spannende Kriminalgeschichte, in der viel geschossen wird, damit das gute Prinzip triumphieren möge. Als ich das Kino verlasse, ist es Nacht. Aber ich geh nicht nach Haus. Ich fürchte mich vor meinem Zimmer. Drüben ist eine Bar, dort werd ich was trinken, wenn sie billig ist. Sie ist nicht teuer. Ich trete ein. Ein Fräulein will mir Gesellschaft leisten. „So ganz allein?“ fragt sie. „Ja“, lächle ich, „leider –“ „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ „Nein.“ Sie zieht sich gekränkt zurück. Ich wollt Ihnen nicht weh tun, Fräulein. Seien Sie mir nicht böse, aber ich bin allein. D AS Z EITALTER

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Als ich den sechsten Schnaps getrunken hatte, dachte ich, man müßte eine Waffe erfinden, mit der man jede Waffe um ihren Effekt bringen könnte, gewissermaßen also:

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das Gegenteil einer Waffe – Ach, wenn ich nur ein Erfinder wäre, was würd ich nicht alles erfinden! Wie glücklich wär die Welt! Aber ich bin kein Erfinder, und was würde die Welt nicht alles versäumen, wenn ich ihr Licht nicht erblickt hätte? Was würde die Sonne dazu sagen? Und wer würde denn dann in meinem Zimmer wohnen? Frag nicht so dumm, du bist betrunken! Du bist eben da. Was willst du denn noch, wo du es gar nicht wissen kannst, ob es dein Zimmer überhaupt geben würde, wenn du nicht geboren worden wärst? Vielleicht wär dann dein Bett noch ein Baum! Na also! Schäm dich, alter Esel, fragst mit metaphysischen Allüren wie ein Schulbub von anno dazumal, der seine Aufklärung in puncto Liebe noch nicht verdaut hat! Forsche nicht im Verborgenen, trink lieber deinen siebten Schnaps! Ich trinke, ich trinke – Meine Damen und Herren, ich liebe den Frieden nicht! Ich wünsche uns allen den Tod! Aber keinen einfachen, sondern einen komplizierten – Man müßte die Folter wieder einführen, jawohl: die Folter! Man kann nicht genug Schuldgeständnisse erpressen, denn der Mensch ist schlecht! Nach dem achten Schnaps nickte ich dem Pianisten freundlich zu, obwohl mir seine Musik bis zum sechsten Schnaps arg mißfiel. Ich bemerkte es gar nicht, daß ein Herr vor mir stand, der mich bereits zweimal angesprochen hatte. Erst beim drittenmal erblickte ich ihn. Ich erkannte ihn sogleich. Er war unser Julius Caesar. Ursprünglich ein geachteter Kollege, ein Altphilologe vom Mädchenlyzeum, geriet er in eine böse Sache. Er ließ sich mit einer minderjährigen Schülerin ein und wurde eingesperrt. Man sah ihn lange nicht, dann hörte ich, er würde mit allerhand Schund hausieren, von Tür zu Tür. Er trug eine auffallend große Krawattennadel, einen Miniaturtotenkopf, in welchem eine einzige Glühbirne stak, die mit einer Batterie in seiner Tasche verbunden war. Drückte er auf einen Knopf, leuchteten die Augenhöhlen seines Totenkopfes rot auf. Das waren seine Scherze. Eine gestrandete Existenz. Ich weiß es nicht mehr, wieso es kam, daß er plötzlich neben mir saß und daß wir in eine hitzige Debatte verstrickt waren. Ja, ich war sehr betrunken und erinnere mich nur an einzelne Gesprächsfetzen – Julius Caesar sagt: „Was Sie da herumreden, verehrter Kollega, ist lauter unausgegorenes Zeug! Höchste Zeit, daß Sie sich mal mit einem Menschen unterhalten, der nichts mehr zu erhoffen hat und der daher mit freiem Blick den Wandel der Generationen unbestechlich begreift! Also Sie, Kollega, und ich, das sind nach Adam Riese zwei Generationen, und die Lausbuben in Ihrer Klasse sind auch eine Generation, zusammen sind wir also nach Adam Riese drei Generationen. Ich bin sechzig, Sie zirka dreißig und jene Lauser zirka vierzehn. Paßt auf! Entscheidend für die Gesamthaltung eines ganzen Lebens sind die Erlebnisse der Pubertät, insbesondere beim männlichen Geschlecht.“ „Langweilens mich nicht“, sagte ich. „Auch wenn ich Sie langweil, hörens mir zu, sonst werd ich wild! Also das oberste und einzigste Generalproblem der Pubertät meiner Generation war das Weib, das heißt: das Weib, das wir nicht bekamen. Denn damals war das noch nicht so. Infolgedessen war unser markantestes Erlebnis jener Tage die Selbstbefriedigung, samt allen ihren altmodischen Folgeerscheinungen, nämlich mit der, wie sichs leider erst später herausstellen sollte, völlig sinnlosen Angst vor gesundheitsschädigenden Kon-

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sequenzen et cetera. Mit anderen Worten: Wir stolperten über das Weib und schlitterten in den Weltkrieg hinein. Anläßlich nun Ihrer Pubertät, Kollega, war der Krieg gerade im schönsten Gange. Es gab keine Männer, und die Weiber wurden williger. Ihr kamt gar nicht dazu, euch auf euch selbst zu besinnen, die unterernährte Damenwelt stürzte sich auf euer Frühlingserwachen. Für euere Generation war das Weib keine Heilige mehr, drum wird es euresgleichen auch nie restlos befriedigen, denn im tiefsten Winkel euerer Seelen sehnt ihr euch nach dem Reinen, Hehren, Unnahbaren – mit anderen Worten: nach der Selbstbefriedigung. In diesem Falle stolperten die Weiber über euch Jünglinge und schlitterten in die Vermännlichung hinein.“ „Kollega, Sie sind ein Erotomane.“ „Wieso?“ „Weil Sie die ganze Schöpfung aus einem geschlechtlichen Winkel heraus betrachten. Das ist zwar ein Kennzeichen Ihrer Generation, besonders in Ihrem Alter – Aber bleiben Sie doch nicht immer im Bett liegen! Stehen Sie auf, ziehen Sie den Vorhang zur Seite, lassen Sie Licht herein, und blicken Sie mit mir hinaus!“ „Und was sehen wir draußen?“ „Nichts Schönes, jedoch trotzdem!“ „Mir scheint, Sie sind ein verkappter Romantiker! Ich bitt Sie, unterbrechens mich nicht mehr! Setz dich! Wir kommen jetzt zur dritten Generation, nämlich zu den heute Vierzehnjährigen: Für die ist das Weib überhaupt kein Problem mehr, denn es gibt keine wahrhaften Frauen mehr, es gibt nur lernende, rudernde, gymnastiktreibende, marschierende Ungeheuer! Ist es Ihnen aufgefallen, daß die Weiber immer reizloser werden?“ „Sie sind ein einseitiger Mensch!“ „Wer möchte sich für eine rucksacktragende Venus begeistern? Ich nicht! Jaja, das Unglück der heutigen Jugend ist, daß sie keine korrekte Pubertät mehr hat – erotisch, politisch, moralisch et cetera, alles wurde vermanscht, verpantscht, alles in einen Topf! Und außerdem wurden zu viele Niederlagen als Siege gefeiert, zu oft wurden die innigsten Gefühle der Jugend in Anspruch genommen für irgendeinen Popanz, während sie es auf einer anderen Seite wieder zu bequem hat: Sie müssen ja nur das abschreiben, was das Radio zusammenblödelt, und schon bekommen sie die besten Noten. Aber es gibt auch noch einzelne, Gott sei dank!“ „Was für einzelne?“ Er sah sich ängstlich um, neigte sich dicht zu mir und sagte sehr leise: „Ich kenne eine Dame, deren Sohn geht ins Realgymnasium. Robert heißt er und ist fünfzehn Jahre alt. Neulich hat er so ein bestimmtes Buch gelesen, heimlich – nein, kein erotisches, sondern ein nihilistisches. Es hieß: ‚Über die Würde des menschlichen Lebens‘ und ist streng verboten.“ Wir sahen uns an. Wir tranken. „Sie glauben also, daß einzelne von denen heimlich lesen?“ „Ich weiß es. Bei jener Dame ist manchmal ein direktes Kränzchen, sie ist oft schon ganz außer sich. Die Buben lesen alles. Aber sie lesen nur, um spötteln zu können. Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn. Es kommen kalte Zeiten, das Zeitalter der Fische.“ „Der Fische?“ „Ich bin zwar nur ein Amateurastrolog, aber die Erde dreht sich in das Zeichen der Fische hinein. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches.“ – –

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Das ist alles, was ich von der langen Debatte mit Julius Caesar behielt. Ich weiß nur noch, daß er, während ich sprach, öfters seinen Totenkopf illuminierte, um mich zu irritieren. Aber ich ließ mich nicht, obwohl ich sinnlos betrunken war. – Dann erwache ich in einem fremden Zimmer. Ich lieg in einem anderen Bett. Es ist finster, und ich höre wen ruhig atmen. Es ist eine Frau – aha. Sie schläft. Bist du blond, schwarz, braun, rot? Ich erinnere mich nicht. Wie siehst du denn aus? Soll ich die Lampe andrehen? Nein. Schlaf nur zu. Vorsichtig stehe ich auf und trete ans Fenster. Es ist noch Nacht. Ich sehe nichts. Keine Straße, kein Haus. Alles nur Nebel. Und der Schein einer fernen Laterne fällt auf den Nebel, und der Nebel sieht aus wie Wasser. Als wäre mein Fenster unter dem Meer. Ich schau nicht mehr hinaus. Sonst schwimmen die Fische ans Fenster und schauen herein.

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Als ich morgens nach Hause kam, erwartete mich bereits meine Hausfrau. Sie war sehr aufgeregt. „Es ist ein Herr da“, sagte sie, „er wartet auf Sie schon seit zwanzig Minuten, ich hab ihn in den Salon gesetzt. Wo waren Sie denn?“ „Bei Bekannten. Sie wohnen auswärts, und ich habe den letzten Zug verpaßt, drum blieb ich gleich draußen über Nacht.“ Ich betrat den Salon. Dort stand ein kleiner, bescheidener Mann neben dem Piano. Er blätterte im Musikalbum, ich erkannte ihn nicht sogleich. Er hatte entzündete Augen. Übernächtig, ging es mir durch den Sinn. Oder hat er geweint? „Ich bin der Vater des W“, sagte er, „Herr Lehrer, Sie müssen mir helfen, es ist etwas Entsetzliches passiert! Mein Sohn wird sterben!“ „Was?!“ „Ja, er hat sich doch so furchtbar erkältet, heut vor acht Tagen beim Fußball im Stadion, und der Arzt meint, nur ein Wunder könnte ihn retten, aber es gibt keine Wunder, Herr Lehrer. Die Mutter weiß es noch gar nicht, ich wagte es ihr noch nicht mitzuteilen – Mein Sohn ist nur noch manchmal bei Besinnung, Herr Lehrer, sonst hat er immer nur seine Fieberphantasien, aber wenn er bei Besinnung ist, verlangt er immer so sehr, jemanden zu sehen –“ „Mich?“ „Nein, nicht Sie, Herr Lehrer, er möchte den Tormann sehen, den Fußballer, der am letzten Sonntag so gut gespielt haben soll, der ist sein ganzes Ideal! Und ich dachte, Sie wüßten es vielleicht, wo ich diesen Tormann auftreiben könnt, vielleicht wenn man ihn bittet, daß er kommt.“ „Ich weiß, wo er wohnt“, sagte ich, „und ich werde mit ihm sprechen. Gehen Sie nur nach Hause, ich bring den Tormann mit!“ Er ging. Ich zog mich rasch um und ging auch. Zum Tormann. Er wohnt in meiner Nähe. Ich kenne sein Sportgeschäft, das seine Schwester führt. Da es Sonntag war, war es geschlossen. Aber der Tormann wohnt im selben Haus, im dritten Stock.

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Er frühstückte gerade. Das Zimmer war voller Trophäen. Er war sofort bereit, mitzukommen. Er ließ sogar sein Frühstück stehen und lief vor mir die Treppen hinab. Er nahm uns ein Taxi und ließ mich nicht zahlen. In der Haustür empfing uns der Vater. Er schien noch kleiner geworden zu sein. „Er ist nicht bei sich“, sagte er leise, „und der Arzt ist da, aber kommen Sie nur herein, meine Herren! Ich danke Ihnen vielmals, Herr Tormann!“ Das Zimmer war halbdunkel, und in der Ecke stand ein breites Bett. Dort lag er. Sein Kopf war hochrot, und es fiel mir ein, daß er der Kleinste der Klasse war. Seine Mutter war auch klein. Der große Tormann blieb verlegen stehen. Also hier lag einer seiner ehrlichsten Bewunderer. Einer von den vielen Tausend, die ihm zujubeln, die am meisten schreien, die seine Biographie kennen, die ihn um Autogramme bitten, die so gerne hinter seinem Tor sitzen und die er durch die Ordner immer wieder vertreiben läßt. Er setzte sich still neben das Bett und sah ihn an. Die Mutter beugte sich über das Bett. „Heinrich“, sagte sie, „der Tormann ist da.“ Der Junge öffnete die Augen und erblickte den Tormann. „Fein“, lächelte er. „Ich bin gekommen“, sagte der Tormann, „denn du wolltest mich sehen.“ „Wann spielt ihr gegen England?“ fragte der Junge. „Das wissen die Götter“, meinte der Tormann, „sie streiten sich im Verband herum, und die oberste Sportbehörde funkt dazwischen! Wir haben Terminschwierigkeiten – Ich glaub, wir werden eher noch gegen Schottland spielen.“ „Gegen die Schotten gehts leichter –“ „Oho! Die Schotten schießen ungeheuer rasch und aus jeder Lage.“ „Erzähl, erzähl!“ Und der Tormann erzählte. Er sprach von berühmtgewordenen Siegen und unverdienten Niederlagen, von strengen Schiedsrichtern und korrupten Linienrichtern. Er stand auf, nahm zwei Stühle, markierte mit ihnen das Tor und demonstrierte, wie er einst zwei Elfer hintereinander abgewehrt hatte. Er zeigte seine Narbe auf der Stirne, die er sich in Lissabon bei einer tollkühnen Parade geholt hatte. Und er sprach von fernen Ländern, in denen er sein Heiligtum hütete, von Afrika, wo die Beduinen mit dem Gewehr im Publikum sitzen, und von der schönen Insel Malta, wo das Spielfeld leider aus Stein besteht – Und während der Tormann erzählte, schlief der kleine W ein. Mit einem seligen Lächeln, still und friedlich. – – – Das Begräbnis fand an einem Mittwoch statt, nachmittags um halbzwei. Die Märzsonne schien, Ostern war nicht mehr weit. Wir standen um das offene Grab. Der Sarg lag schon drunten. Der Direktor war anwesend mit fast allen Kollegen, nur der Physiker fehlte, ein Sonderling. Der Pfarrer hielt die Grabrede, die Eltern und einige Verwandte verharrten regungslos. Und im Halbkreis uns gegenüber standen die Mitschüler des Verstorbenen, die ganze Klasse, alle fünfundzwanzig. Neben dem Grab lagen die Blumen. Ein schöner Kranz trug auf einer gelb-grünen Schleife die Worte: „Letzte Grüße Dein Tormann.“ Und während der Pfarrer von der Blume sprach, die blüht und bricht, entdeckte ich den N. Er stand hinter dem L, H und F. Ich beobachtete ihn. Nichts rührte sich in seinem Gesicht. Jetzt sah er mich an.

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Er ist dein Todfeind, fühlte ich. Er hält dich für einen Verderber. Wehe, wenn er älter wird! Dann wird er alles zerstören, selbst die Ruinen deiner Erinnerung. Er wünscht dir, du lägest jetzt da drunten. Und er wird auch dein Grab vernichten, damit es niemand erfährt, daß du gelebt hast. Du darfst es dir nicht anmerken lassen, daß du weißt, was er denkt, ging es mir plötzlich durch den Sinn. Behalt sie für dich, deine bescheidenen Ideale, es werden auch nach einem N noch welche kommen, andere Generationen – Glaub nur ja nicht, Freund N, daß du meine Ideale überleben wirst! Mich vielleicht. Und wie ich so dachte, spürte ich, daß mich außer dem N noch einer anstarrt. Es war der T. Er lächelte leise, überlegen und spöttisch. Hat er meine Gedanken erraten? Er lächelt noch immer, seltsam starr. Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz. Ein Fisch? D ER

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TOTALE

K RIEG

Vor drei Jahren erließ die Aufsichtsbehörde eine Verordnung, durch welche sie die üblichen Osterferien in gewisser Hinsicht aufhob. Es erging nämlich die Weisung an alle Mittelschulen, anschließend an das Osterfest die Zeltlager zu beziehen. Unter „Zeltlager“ verstand man eine vormilitärische Ausbildung. Die Schüler mußten klassenweise auf zehn Tage in die sogenannte freie Natur hinaus und dort wie die Soldaten in Zelten kampieren, unter Aufsicht des Klassenvorstands. Sie wurden von Unteroffizieren im Ruhestand ausgebildet, mußten exerzieren, marschieren und vom vierzehnten Lebensjahre ab auch schießen. Natürlich waren die Schüler begeistert dabei, und wir Lehrer freuten uns auch, denn auch wir spielen gerne Indianer. Am Osterdienstag konnten also die Bewohner eines abgelegenen Dorfes einen mächtigen Autobus anrollen sehen. Der Chauffeur hupte, als käme die Feuerwehr, Gänse und Hühner flohen entsetzt, die Hunde bellten, und alles lief zusammen. „Die Buben sind da! Die Buben aus der Stadt!“ Wir sind um acht Uhr früh vor unserem Gymnasium abgefahren, und jetzt war es halbdrei, als wir vor dem Gemeindeamte hielten. Der Bürgermeister begrüßt uns, der Gendarmerieinspektor salutiert. Der Lehrer des Dorfes ist natürlich am Platz, und dort eilt auch schon der Pfarrer herbei, er hat sich verspätet, ein runder freundlicher Herr. Der Bürgermeister zeigt mir auf der Landkarte, wo sich unser Zeltlager befindet. Eine gute Stunde weit, wenn man gemütlich geht. „Der Feldwebel ist bereits dort“, sagt der Inspektor, „zwei Pioniere haben auf einem Pionierwagen die Zeltbahnen hinaufgeschafft, schon in aller Herrgottsfrüh!“ Während die Jungen aussteigen und ihr Gepäck zusammenklauben, betrachte ich noch die Landkarte: Das Dorf liegt 761 Meter hoch über dem fernen Meere, wir sind schon sehr in der Nähe der großen Berge, lauter Zweitausender. Aber hinter denen stehen erst die ganz hohen und dunklen mit dem ewigen Schnee. „Was ist das?“ frage ich den Bürgermeister und deute auf einen Gebäudekomplex auf der Karte, am westlichen Rande des Dorfes. „Das ist unsere Fabrik“, sagt der Bürgermeister, „das größte Sägewerk im Bezirk, aber leider wurde es voriges Jahr

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stillgelegt. Aus Rentabilitätsgründen“ – fügt er noch hinzu und lächelt. „Jetzt haben wir viele Arbeitslose, es ist eine Not.“ Der Lehrer mischt sich ins Gespräch und setzt es mir auseinander, daß das Sägewerk einem Konzern gehört, und ich merke, daß er mit den Aktionären und Aufsichtsräten nicht sympathisiert. Ich auch nicht. Das Dorf sei arm, erklärt er mir weiter, die Hälfte lebe von Heimarbeit mit einem empörenden Schundlohn, ein Drittel der Kinder sei unterernährt – „Jaja“, lächelt der Gendarmerieinspektor, „und das alles in der schönen Natur!“ Bevor wir zum Zeltlager aufbrechen, zieht mich noch der Pfarrer beiseite und spricht: „Hörens mal, verehrter Herr Lehrer, ich möchte Sie nur auf eine Kleinigkeit aufmerksam machen: Anderthalb Stunden von Ihrem Lagerplatz befindet sich ein Schloß, der Staat hats erworben, und jetzt sind dort Mädchen einquartiert, auch so ungefähr im Alter Ihrer Buben da. Und die Mädchen laufen auch den ganzen Tag und die halbe Nacht umher, passens ein bißchen auf, daß mir keine Klagen kommen“ – er lächelt. „Ich werde aufpassen.“ „Nichts für ungut“, meint er, „aber wenn man fünfunddreißig Jahre im Beichtstuhl verbracht hat, wird man skeptisch bei anderthalb Stund Entfernung.“ Er lacht. „Kommens mal zu mir, Herr Lehrer, ich hab einen prima neuen Wein bekommen!“ – Um drei Uhr marschieren wir ab. Zuerst durch eine Schlucht, dann rechts einen Hang empor. In Serpentinen. Wir sehen ins Tal zurück. Es riecht nach Harz, der Wald ist lang. Endlich wird es lichter: Vor uns liegt die Wiese, unser Platz. Wir kamen den Bergen immer näher. Der Feldwebel und die beiden Pioniere sitzen auf Zeltbahnen und spielen Karten. Als sie uns kommen sehen, stehen sie rasch auf, und der Feldwebel stellt sich mir militärisch vor. Ein ungefähr fünfzigjähriger Mann in der Reserve. Er trägt eine einfache Brille, sicher kein unrechter Mensch. Nun gehts an die Arbeit. Der Feldwebel und die Pioniere zeigen den Jungen, wie man Zelte baut, auch ich baue mit. In der Mitte des Lagers lassen wir ein Viereck frei, dort hissen wir unsere Fahne. Nach drei Stunden steht die Stadt. Die Pioniere salutieren und steigen ins Dorf hinab. Neben der Fahnenstange liegt eine große Kiste: Dort sind die Gewehre drin. Die Schießscheiben werden aufgestellt: hölzerne Soldaten in einer fremden Uniform. Der Abend kommt, wir zünden Feuer an und kochen ab. Es schmeckt uns gut, und wir singen Soldatenlieder. Der Feldwebel trinkt einen Schnaps und wird heiser. Jetzt weht der Bergwind. „Der kommt von den Gletschern“, sagen die Jungen und husten. Ich denke an den toten W. Ja, du warst der Kleinste der Klasse – und der Freundlichste. Ich glaube, du wärest der einzige gewesen, der nichts gegen die Neger geschrieben hätt. Drum mußtest du auch weg. Wo bist du jetzt? Hat dich ein Engel geholt, wie im Märchen? Flog er mit dir dorthin, wo all die seligen Fußballer spielen? Wo auch der Tormann ein Engel ist und vor allem der Schiedsrichter, der abpfeift, wenn einer dem Ball nachfliegt? Denn das ist im Himmel das Abseits. Sitzt du gut? Natürlich! Dort droben sitzt jeder auf der Tribüne, erste Reihe, Mitte, während die bösen Ordner, die dich immer hinter dem Tor vertrieben, jetzt hinter lauter Riesen stehen und nicht aufs Spielfeld schauen können. – –

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Es wird Nacht. Wir gehen schlafen. „Morgen beginnt der Ernst!“ meint der Feldwebel. Er schläft mit mir im selben Zelt. Er schnarcht. Ich entzünde noch mal meine Taschenlampe, um nach der Uhr zu sehen, und entdecke dabei auf der Zeltwand neben mir einen braunroten Fleck. Was ist das? Und ich denke, morgen beginnt der Ernst. Ja, der Ernst. In einer Kiste neben der Fahnenstange liegt der Krieg. Ja, der Krieg. Wir stehen im Feld. Und ich denke an die beiden Pioniere, an den Feldwebel in der Reserve, der noch kommandieren muß, und an die hölzernen Soldaten, an denen man das Schießen lernt; der Direktor fällt mir ein, der N und sein Vater, der Herr Bäckermeister bei Philippi; und ich denke an das Sägewerk, das nicht mehr sägt, und an die Aktionäre, die trotzdem mehr verdienen, an den Gendarmen, der lächelt, an den Pfarrer, der trinkt, an die Neger, die nicht leben müssen, und an die Heimarbeiter, die nicht leben können, an die Aufsichtsbehörde und an die unterernährten Kinder. Und an die Fische. Wir stehen alle im Feld. Doch wo ist die Front? Der Nachtwind weht, der Feldwebel schnarcht. Was ist das für ein braunroter Fleck? Blut? D IE

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Die Sonne kommt, wir stehen auf. Wir waschen uns im Bach und kochen Tee. Nach dem Frühstück läßt der Feldwebel die Jungen der Größe nach in zwei Reihen hintereinander antreten. Sie zählen ab, er teilt sie ein, in Züge und Gruppen. „Heut wird noch nicht geschossen“, sagt er, „heut wird erst ein bißchen exerziert!“ Er kontrolliert scharf, ob die Reihen schnurgerad stehen. Das eine Auge kneift er zu: „Etwas vor, etwas zurück – besonders der dritte dort hinten, der steht ja einen Kilometer zu weit vorn!“ Der dritte ist der Z. Wie schwer sich der einreihen läßt, wunder ich mich, und plötzlich hör ich die Stimme des N. Er fährt den Z an: „Hierher, Idiot!“ „Nanana!“ meint der Feldwebel. „Nur nicht grob werden! Das war mal, daß man die Soldaten beschimpft hat, aber heut gibts keine Beleidigungen mehr, merk dir das, ja?!“ Der N schweigt. Er wird rot und trifft mich mit einem flüchtigen Blick. Jetzt könnt er dich aber gleich erwürgen, fühle ich, denn er ist der Blamierte. Es freut mich, aber ich lächle nicht. „Regiment marsch!“ kommandiert der Feldwebel, und dann zieht es davon, das Regiment. Vorne die Großen, hinten die Kleinen. Bald sind sie im Wald verschwunden. Zwei blieben mit mir im Lager zurück, ein M und ein B. Sie schälen Kartoffeln und kochen die Suppe. Sie schälen mit stummer Begeisterung. „Herr Lehrer!“ ruft plötzlich der M. „Schauens mal, was dort anmarschiert kommt!“ Ich schaue hin: In militärischer Ordnung marschieren etwa zwanzig Mädchen auf uns zu, sie tragen schwere Rucksäcke, und als sie näher kommen, hören wir, daß sie singen. Sie singen Soldatenlieder mit zirpendem Sopran. Der B lacht laut.

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Jetzt erblicken sie unser Zeltlager und halten. Die Führerin spricht auf die Mädchen ein und geht dann allein auf uns zu. Es sind zirka zweihundert Meter. Ich geh ihr entgegen. Wir werden bekannt, sie ist Lehrerin in einer größeren Provinzstadt, und die Mädchen gehen in ihre Klasse. Jetzt wohnen sie in einem Schloß, es sind also dieselben, vor denen mich der Herr Pfarrer warnte. Ich begleite meine Kollegin zurück, die Mädchen starren mich an, wie Kühe auf der Weide. Nein, der Herr Pfarrer braucht sich keine Sorgen zu machen, denn, alles was recht ist, einladend sehen diese Geschöpfe nicht aus! Verschwitzt, verschmutzt und ungepflegt bieten sie dem Betrachter keinen erfreulichen Anblick. Die Lehrerin scheint meine Gedanken zu erraten, sie ist also wenigstens noch in puncto Gedankenlesen ein Weib, und setzt mir folgendes auseinander: „Wir berücksichtigen weder Flitter noch Tand, wir legen mehr Wert auf das Leistungsprinzip als auf das Darbietungsprinzip.“ Ich will mich mit ihr nicht über den Unwert der verschiedenen Prinzipien auseinandersetzen, sage nur: „Aha!“ und denke mir, neben diesen armen Tieren ist ja selbst der N noch ein Mensch. „Wir sind eben Amazonen“, fährt die Lehrerin fort. Aber die Amazonen sind nur eine Sage, doch ihr seid leider Realität. Lauter mißleitete Töchter der Eva! Julius Caesar fällt mir ein. Er kann sich für keine rucksacktragende Venus begeistern. Ich auch nicht. – Bevor sie weitermarschieren, erzählt mir die Lehrerin noch, die Mädchen würden heut vormittag den verschollenen Flieger suchen. Wieso, ist einer abgestürzt? Nein, das „Verschollenen-Flieger-Suchen“ sei nur ein neues wehrsportliches Spiel für die weibliche Jugend. Ein großer weißer Karton wird irgendwo im Unterholz versteckt, die Mädchen schwärmen in Schwarmlinie durch das Unterholz und suchen und suchen den Karton. „Es ist für den Fall eines Krieges gedacht“, fügt sie noch erläuternd hinzu, „damit wir gleich eingesetzt werden können, wenn einer abgestürzt ist. Im Hinterland natürlich, denn Weiber kommen ja leider nicht an die Front.“ Leider! Dann ziehen sie weiter, in militärischer Ordnung. Ich seh ihnen nach: Vom vielen Marschieren wurden die kurzen Beine immer kürzer. Und dicker. Marschiert nur zu, Mütter der Zukunft!

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Der Himmel ist zart, die Erde blaß. Die Welt ist ein Aquarell mit dem Titel: „April“. Ich geh um das Lager herum und folge dann einem Feldweg. Was liegt dort hinter dem Hügel? Der Weg macht eine große Krümmung, er weicht dem Unterholz aus. Die Luft ist still wie die ewige Ruh. Nichts brummt, nichts summt. Die meisten Käfer schlafen noch. Hinter dem Hügel liegt in einer Mulde ein einsamer Bauernhof. Kein Mensch ist zu sehen. Auch der Hund scheint fortgegangen zu sein. Ich will schon hinabsteigen, da halte ich unwillkürlich, denn plötzlich erblicke ich hinter der Hecke an der schmalen Straße, die am Hof vorbeiführt, drei Gestalten. Es sind Kinder, die sich verstekken, zwei Buben und ein Mädchen. Die Buben dürften dreizehn Jahr alt sein, das

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Mädchen vielleicht zwei Jahre älter. Sie sind barfuß. Was treiben sie dort, warum verstecken sie sich? Ich warte. Jetzt erhebt sich der eine Bub und geht auf den Hof zu, plötzlich schrickt er zusammen und verkriecht sich rasch wieder hinter der Hecke. Ich höre einen Wagen rasseln. Ein Holzfuhrwerk mit schweren Pferden fährt langsam vorbei. Als es nicht mehr zu sehen ist, geht der Bub wieder auf den Hof zu, er tritt an die Haustür und klopft. Er muß mit einem Hammer geklopft haben, denke ich, denn es dröhnte so laut. Er lauscht und die beiden anderen auch. Das Mädel hat sich emporgereckt und schaut über die Hecke. Sie ist groß und schlank, geht es mir durch den Sinn. Jetzt klopft der Bub wieder, noch lauter. Da öffnet sich die Haustür, und eine alte Bäuerin erscheint, sie geht gebückt auf einen Stock. Sie sieht sich um, als würde sie schnuppern. Der Bub gibt keinen Ton von sich. Plötzlich ruft die Alte: „Wer ist denn da?!“ Warum ruft sie, wenn der Bub vor ihr steht? Jetzt schreit sie wieder: „Wer ist denn da?!“ Sie geht mit dem Stock tastend an dem Buben vorbei, sie scheint ihn nicht zu sehen – Ist sie denn blind? Das Mädel deutet auf die offene Haustür, es sieht aus, als wärs ein Befehl, und der Bub schleicht auf Zehenspitzen ins Haus hinein. Die Alte steht und lauscht. Ja, sie ist blind. Jetzt klirrts im Haus, als wär ein Teller zerbrochen. Die Blinde zuckt furchtbar zusammen und brüllt: „Hilfe! Hilfe!“ – Da stürzt das Mädel auf sie los und hält ihr den Mund zu, der Bub erscheint in der Haustür mit einem Laib Brot und einer Vase, das Mädel schlägt der Alten den Stock aus der Hand – Ich rase hinab. Die Blinde wankt, stolpert und stürzt, die drei Kinder sind verschwunden. Ich bemühe mich um die Alte, sie wimmert. Ein Bauer eilt herbei, er hat das Geschrei gehört und hilft mir. Wir bringen sie in das Haus, und ich erzähle dem Bauern, was ich beobachtet habe. Er ist nicht sonderlich überrascht: „Jaja, sie haben die Mutter herausgelockt, damit sie durch die offene Tür hinein können, es ist immer dieselbe Bagage, man faßt sie nur nicht. Sie stehlen wie die Raben, eine ganze Räuberbande!“ „Kinder?!“ „Ja“, nickt der Bauer, „auch drüben im Schloß, wo die Mädeln liegen, haben sie schon gestohlen. Erst unlängst die halbe Wäsch. Passens nur auf, daß sie Ihnen im Lager keinen Besuch abstatten!“ „Nein-nein! Wir passen schon auf!“ „Denen trau ich alles zu. Es ist Unkraut und gehört vertilgt!“ D ER

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Ich gehe ins Lager zurück. Die Blinde hat sich beruhigt und war mir dankbar. Wofür? Ist es denn nicht selbstverständlich, daß ich sie nicht auf dem Boden liegen ließ? Eine verrohte Gesellschaft, diese Kinder! Ich halte plötzlich, denn es wird mir ganz seltsam zu Mute. Ich entrüste mich ja gar nicht über diesen Roheitsakt, geschweige denn über das gestohlene Brot, ich verurteile nur. Warum bin ich nur nicht empört? Weil es arme Kinder sind, die nichts zum Fressen haben? Nein, das ist es nicht. Der Weg macht eine große Krümmung, und ich schneide ihn ab. Das darf ich mir ruhig leisten, denn ich habe einen guten Orientierungssinn und werde das Zeltlager finden. Ich gehe durch das Unterholz. Hier steht das Unkraut und gedeiht. Immer muß ich an das Mädel denken, wie es sich reckt und über die Hecke schaut. Ist sie der Räuberhauptmann? Ihre Augen möchte ich sehen. Nein, ich bin kein Heiliger!

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Das Dickicht wird immer schlimmer. Was liegt denn dort? Ein weißer Karton. Darauf steht mit roten Buchstaben: „Flugzeug“. Ach, der verschollene Flieger! Sie haben ihn noch nicht gefunden. Also hier bist du abgestürzt? War es ein Luftkampf oder ein Abwehrgeschütz? Bist du ein Bomber gewesen? Jetzt liegst du da, zerschmettert, verbrannt, verkohlt. Karton, Karton! Oder lebst du noch? Bist schwer verwundet, und sie finden dich nicht? Bist ein Feindlicher oder ein Eigener? Wofür stirbst du jetzt, verschollener Flieger? Karton, Karton! Und da höre ich eine Stimme: „Niemand kann das ändern“ – Es ist die Stimme einer Frau. Traurig und warm. Sie klingt aus dem Dickicht. Vorsichtig biege ich die Äste zurück. Dort sitzen zwei Mädchen vom Schloß. Mit den Beinen, kurz und dick. Die eine hält einen Kamm in der Hand, die andere weint. „Was geht er mich denn an, der verschollene Flieger?“ schluchzt sie. „Was soll ich denn da im Wald herumlaufen? Schau, wie meine Beine geschwollen sind, ich möcht nicht mehr marschieren! Von mir aus soll er draufgehen, der verschollene Flieger, ich möcht auch leben! Nein, ich will fort, Annie, fort! Nur nicht mehr im Schloß schlafen, das ist ja ein Zuchthaus! Ich möcht mich waschen und kämmen und bürsten!“ „Sei ruhig“, tröstet sie Annie und kämmt ihr liebevoll das fette Haar aus dem verweinten Gesicht. „Was sollen wir armen Mädchen tun? Auch die Lehrerin hat neulich heimlich geweint. Mama sagt immer, die Männer sind verrückt geworden und machen die Gesetze.“ Ich horche auf. Die Männer? Jetzt küßt Annie ihre Freundin auf die Stirne, und ich schäme mich. Wie schnell war ich heut mit dem Spott dabei! Ja, vielleicht hat Annies Mama recht. Die Männer sind verrückt geworden, und die nicht verrückt geworden sind, denen fehlt der Mut, die tobenden Irrsinnigen in die Zwangsjacken zu stecken. Ja, sie hat recht. Auch ich bin feig. G EH

HEIM !

Ich betrete das Lager. Die Kartoffeln sind geschält, die Suppe dampft. Das Regiment ist wieder zu Haus. Die Jungen sind munter, nur der Feldwebel klagt über Kopfschmerzen. Er hat sich etwas überanstrengt, doch will ers nicht zugeben. Plötzlich fragt er: „Für wie alt halten Sie mich, Herr Lehrer?“ „Zirka fünfzig.“ „Dreiundsechzig“, lächelt er geschmeichelt, „ich war sogar im Weltkrieg schon Landsturm.“ Ich fürchte, er beginnt, Kriegserlebnisse zu erzählen, aber ich fürchte mich umsonst. „Reden wir lieber nicht vom Krieg“, sagt er, „ich hab drei erwachsene Söhne.“ Er betrachtet sinnend die Berge und schluckt das Aspirin. Ein Mensch. Ich erzähl ihm von der Räuberbande. Er springt auf und läßt die Jungen sofort antreten. Er hält eine Ansprache an sein Regiment: In der Nacht würden Wachen aufgestellt werden, je vier Jungen für je zwei Stunden. Osten, Westen, Süden, Norden, denn das Lager müßte verteidigt werden, Gut mit Blut, bis zum letzten Mann!

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Die Jungen schreien begeistert „Hurrah!“. „Komisch“, meint der Feldwebel, „jetzt hab ich keine Kopfschmerzen mehr“ – – Nach dem Mittagessen steig ich ins Dorf hinab. Ich muß mit dem Bürgermeister verschiedene Fragen ordnen: einige Formalitäten und die Nahrungsmittelzufuhr, denn ohne zu essen kann man nicht exerzieren. Beim Bürgermeister treffe ich den Pfarrer, und er läßt nicht locker, ich muß zu ihm mit seinen neuen prima Wein probieren. Ich trinke gern, und der Pfarrer ist ein gemütlicher Herr. Wir gehen durchs Dorf, und die Bauern grüßen den Pfarrer. Er führt mich den kürzesten Weg zum Pfarrhaus. Jetzt biegen wir in eine Seitenstraße. Hier hören die Bauern auf. „Hier wohnen die Heimarbeiter“, sagt der Pfarrer und blickt zum Himmel empor. Die grauen Häuser stehen dicht beieinander. An den offenen Fenstern sitzen lauter Kinder mit weißen alten Gesichtern und bemalen bunte Puppen. Hinter ihnen ist es schwarz. „Sie sparen das Licht“, sagt der Pfarrer und fügt noch hinzu: „Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.“ Er beginnt plötzlich schneller zu gehen. Ich gehe gerne mit. Die Kinder sehen mich groß an, seltsam starr. Nein, das sind keine Fische, das ist kein Hohn, das ist Haß. Und hinter dem Haß sitzt die Trauer in den finsteren Zimmern. Sie sparen das Licht, denn sie haben kein Licht. Das Pfarrhaus liegt neben der Kirche. Die Kirche ist ein strenger Bau, das Pfarrhaus liegt gemächlich da. Um die Kirche herum liegt der Friedhof, um das Pfarrhaus herum ein Garten. Im Kirchturm läuten die Glocken, aus dem Rauchfang des Pfarrers steigt blauer Dunst. Im Garten des Todes blühen die weißen Blumen, im Garten des Pfarrers wächst das Gemüse. Dort stehen Kreuze, hier steht ein Gartenzwerg. Und ein ruhendes Reh. Und ein Pilz. Im Pfarrhaus drinnen ist Sauberkeit. Kein Stäubchen fliegt durch die Luft. Im Friedhof daneben wird alles zu Staub. Der Pfarrer führt mich in sein schönstes Zimmer. „Nehmen Sie Platz, ich hole den Wein!“ Er geht in den Keller, ich bleibe allein. Ich setze mich nicht. An der Wand hängt ein Bild. Ich kenne es. Es hängt auch bei meinen Eltern. Sie sind sehr fromm. Es war im Krieg, da habe ich Gott verlassen. Es war zuviel verlangt von einem Kerl in den Flegeljahren, daß er begreift, daß Gott einen Weltkrieg zuläßt. Ich betrachte noch immer das Bild. Gott hängt am Kreuz. Er ist gestorben. Maria weint und Johannes tröstet sie. Den schwarzen Himmel durchzuckt ein Blitz. Und rechts im Vordergrunde steht ein Krieger, in Helm und Panzer, der römische Hauptmann. Und wie ich das Bild so betrachte, bekomme ich Sehnsucht nach meinem Vaterhaus. Ich möchte wieder klein sein. Aus dem Fenster schauen, wenn es stürmt. Wenn die Wolken niedrig hängen, wenn es donnert, wenn es hagelt. Wenn der Tag dunkel wird.

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Und es fällt mir meine erste Liebe ein. Ich möcht sie nicht wiedersehen. Geh heim! Und es fällt mir die Bank ein, auf der ich saß und überlegte: Was willst du werden? Lehrer oder Arzt? Lieber als Arzt wollte ich Lehrer werden. Lieber als Kranke heilen, wollte ich Gesunden etwas mitgeben, einen winzigen Stein für den Bau einer schöneren Zukunft. Die Wolken ziehen, jetzt kommt der Schnee. Geh heim! Heim, wo du geboren wurdest. Was suchst du noch auf der Welt? Mein Beruf freut mich nicht mehr. Geh heim! A UF

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DER

S UCHE

NACH DEN

I DEALEN

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M ENSCHHEIT

Der Wein des Pfarrers schmeckt nach Sonne. Aber der Kuchen nach Weihrauch. Wir sitzen in der Ecke. Er hat mir sein Haus gezeigt. Seine Köchin ist fett. Sicher kocht sie gut. „Ich esse nicht viel“, sagt plötzlich der Pfarrer. Hat er meine Gedanken erraten? „Ich trinke aber umsomehr“, sagt er und lacht. Ich kann nicht recht lachen. Der Wein schmeckt und schmeckt doch nicht. Ich rede und stocke, immer wieder befangen. Warum nur? „Ich weiß, was Sie beschäftigt“, meint der Pfarrer, „Sie denken an die Kinder, die in den Fenstern sitzen und die Puppen bemalen und mich nicht grüßen.“ Ja, an die Kinder denke ich auch. „Es überrascht Sie, wie mir scheint, daß ich Ihre Gedanken errate, aber das fällt mir nicht schwer, denn der Herr Lehrer hier im Dorfe sieht nämlich auch überall nur jene Kinder. Wir debattieren, wo wir uns treffen. Mit mir kann man nämlich ruhig reden, ich gehöre nicht zu jenen Priestern, die nicht hinhören oder böse werden, ich halte es mit dem heiligen Ignatius, der sagt: Ich gehe mit jedem Menschen durch seine Tür hinein, um ihn bei meiner Tür hinauszuführen.“ Ich lächle ein wenig und schweige. Er trinkt sein Glas aus. Ich schau ihn abwartend an. Noch kenne ich mich nicht aus. „Die Ursache der Not“, fährt er fort, „besteht nicht darin, daß mir der Wein schmeckt, sondern darin, daß das Sägewerk nicht mehr sägt. Unser Lehrer hier ist der Meinung, daß wir durch die überhastete Entwicklung der Technik andere Produktionsverhältnisse brauchen und eine ganz neuartige Kontrolle des Besitzes. Er hat recht. Warum schauen Sie mich so überrascht an?“ „Darf man offen reden?“ „Nur!“ „Ich denke, daß die Kirche immer auf der Seite der Reichen steht.“ „Das stimmt. Weil sie muß.“ „Muß?“ „Kennen Sie einen Staat, in dem nicht die Reichen regieren? ‚Reichsein‘ ist doch nicht nur identisch mit ‚Geldhaben‘ – Und wenn es keine Sägewerksaktionäre mehr geben wird, dann werden eben andere Reiche regieren, man braucht keine Aktien,

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um reich zu sein. Es wird immer Werte geben, von denen einige Leute mehr haben werden als alle übrigen zusammen. Mehr Sterne am Kragen, mehr Streifen am Ärmel, mehr Orden auf der Brust, sichtbar oder unsichtbar, denn arm und reich wird es immer geben, genau wie dumm und gescheit. Und der Kirche, Herr Lehrer, ist leider nicht die Macht gegeben, zu bestimmen, wie ein Staat regiert werden soll. Es ist aber ihre Pflicht, immer auf seiten des Staates zu stehen, der leider immer nur von den Reichen regiert werden wird.“ „Ihre Pflicht?“ „Da der Mensch von Natur aus ein geselliges Wesen ist, ist er auf eine Verbindung in Familie, Gemeinde und Staat angewiesen. Der Staat ist eine rein menschliche Einrichtung, der nur den einen Zweck haben soll, die irdische Glückseligkeit nach Möglichkeit herzustellen. Er ist naturnotwendig, also gottgewollt, der Gehorsam ihm gegenüber Gewissenspflicht.“ „Sie wollen doch nicht behaupten, daß zum Beispiel der heutige Staat nach Möglichkeit irdische Glückseligkeiten herstellt?“ „Das behaupte ich keineswegs, denn die ganze menschliche Gesellschaft ist aufgebaut auf Eigenliebe, Heuchelei und roher Gewalt. Wie sagt Pascal? ‚Wir begehren die Wahrheit und finden in uns nur Ungewißheit. Wir suchen das Glück und finden nur Elend und Tod.‘ Sie wundern sich, daß ein einfacher Bauernpfarrer Pascal zitiert – Nun, Sie müssen sich nicht wundern, denn ich bin kein einfacher Bauernpfarrer, ich wurde nur für einige Zeit hierherversetzt. Wie man so zu sagen pflegt, gewissermaßen strafversetzt“ – Er lächelt: „Jaja, nur selten wird einer heilig, der niemals unheilig, nur selten einer weise, der nie dumm gewesen ist! Und ohne die kleinen Dummheiten des Lebens wären wir ja alle nicht auf der Welt.“ Er lacht leise, aber ich lache nicht mit. Er leert wieder sein Glas. Ich frage plötzlich: „Wenn also die staatliche Ordnung gottgewollt –“ „Falsch!“ unterbricht er mich. „Nicht die staatliche Ordnung, sondern der Staat ist naturnotwendig, also gottgewollt.“ „Das ist doch dasselbe!“ „Nein, das ist nicht dasselbe. Gott schuf die Natur, also ist gottgewollt, was naturnotwendig ist. Aber die Konsequenzen der Erschaffung der Natur, das heißt in diesem Falle: die Ordnung des Staates, ist ein Produkt des freien menschlichen Willens. Also ist nur der Staat gottgewollt, nicht aber die staatliche Ordnung.“ „Und wenn ein Staat zerfällt?“ „Ein Staat zerfällt nie, es löst sich höchstens seine gesellschaftliche Struktur auf, um einer anderen Platz zu machen. Der Staat selbst bleibt immer bestehen, auch wenn das Volk, das ihn bildet, stirbt. Denn dann kommt ein anderes.“ „Also ist der Zusammenbruch einer staatlichen Ordnung nicht naturnotwendig?“ Er lächelt: „Manchmal ist solch ein Zusammenbruch sogar gottgewollt.“ „Warum nimmt also die Kirche, wenn die gesellschaftliche Struktur eines Staates zusammenbricht, immer die Partei der Reichen? Also in unserer Zeit: Warum stellt sich die Kirche immer auf die Seite der Sägewerksaktionäre und nicht auf die Seite der Kinder in den Fenstern?“ „Weil die Reichen immer siegen.“ Ich kann mich nicht beherrschen: „Eine feine Moral!“ Er bleibt ganz ruhig: „Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral.“ Er leert wieder sein Glas. „Ja, die Reichen werden immer siegen, weil sie die Brutaleren, Nie-

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derträchtigeren, Gewissenloseren sind. Es steht doch schon in der Schrift, daß eher ein Kamel durch das Nadelöhr geht, denn daß ein Reicher in den Himmel kommt.“ „Und die Kirche? Wird die durch das Nadelöhr kommen?“ „Nein“, sagt er und lächelt wieder, „das wäre allerdings nicht gut möglich. Denn die Kirche ist ja das Nadelöhr.“ Dieser Pfaffe ist verteufelt gescheit, denke ich mir, aber er hat nicht recht. Er hat nicht recht! Und ich sage: „Die Kirche dient also den Reichen und denkt nicht daran, für die Armen zu kämpfen –“ „Sie kämpft auch für die Armen“, fällt er mir ins Wort, „aber an einer anderen Front.“ „An einer himmlischen, was?“ „Auch dort kann man fallen.“ „Wer?“ „Jesus Christus.“ „Aber das war doch der Gott! Und was kam dann?“ Er schenkt mir ein und blickt nachdenklich vor sich hin. „Es ist gut“, meint er leise, „daß es der Kirche heutzutag in vielen Ländern nicht gut geht. Gut für die Kirche.“ „Möglich“, antworte ich kurz und merke, daß ich aufgeregt bin. „Doch kommen wir wieder auf jene Kinder in den Fenstern zurück! Sie sagten, als wir durch die Gasse gingen: ‚Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.‘ Sie sind doch ein gescheiter Mensch, Sie müssen es doch wissen, daß jene Kinder nicht verhetzt sind, sondern daß sie nichts zum Fressen haben!“ Er sieht mich groß an. „Ich meinte, sie seien verhetzt“, sagt er langsam, „weil sie nicht mehr an Gott glauben.“ „Wie können Sie das von ihnen verlangen!“ „Gott geht durch alle Gassen.“ „Wie kann Gott durch jene Gasse gehen, die Kinder sehen und ihnen nicht helfen?!“ Er schweigt. Er trinkt bedächtig seinen Wein aus. Dann sieht er mich wieder groß an: „Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.“ Ich starre ihn an. Hatte ich richtig gehört? Das Schrecklichste?! Er erhebt sich, tritt an das Fenster und schaut auf den Friedhof hinaus. „Er straft“, höre ich seine Stimme. Was ist das für ein erbärmlicher Gott, denke ich mir, der die armen Kinder straft! Jetzt geht der Pfarrer auf und ab. „Man darf Gott nicht vergessen“, sagt er, „auch wenn wir es nicht wissen, wofür er uns straft. Wenn wir nur niemals einen freien Willen gehabt hätten!“ „Ach, Sie meinen die Erbsünde!“ „Ja.“ „Ich glaube nicht daran.“ Er hält vor mir. „Dann glauben Sie auch nicht an Gott.“ „Richtig. Ich glaube nicht an Gott.“ – – „Hören Sie“, breche ich plötzlich das Schweigen, denn nun muß ich reden, „ich unterrichte Geschichte und weiß es doch, daß es auch vor Christi Geburt eine Welt gegeben hat, die antike Welt, Hellas, eine Welt ohne Erbsünde –“

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„Ich glaube, ihr irrt euch“, fällt er mir ins Wort und tritt an sein Bücherregal. Er blättert in einem Buch. „Da Sie Geschichte unterrichten, muß ich Ihnen wohl nicht erzählen, wer der erste griechische Philosoph war, ich meine: der älteste.“ „Thales von Milet.“ „Ja. Aber seine Gestalt ist noch halb in der Sage, wir wissen nichts Bestimmtes von ihm. Das erste schriftlich erhaltene Dokument der griechischen Philosophie, das wir kennen, stammt von Anaximander, ebenfalls aus der Stadt Milet – geboren 610, gestorben 547 vor Christi Geburt. Es ist nur ein Satz.“ Er geht ans Fenster, denn es beginnt bereits zu dämmern, und liest: „Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld ihres Daseins nach der Ordnung der Zeit.“ D ER

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H AUPTMANN

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Vier Tage sind wir nun im Lager. Gestern erklärte der Feldwebel den Jungen den Mechanismus des Gewehres, wie man es pflegt und putzt. Heut putzen sie den ganzen Tag, morgen werden sie schießen. Die hölzernen Soldaten warten bereits darauf, getroffen zu werden. Die Jungen fühlen sich überaus wohl, der Feldwebel weniger. Er ist in diesen vier Tagen zehn Jahre älter geworden. In weiteren vier wird er älter aussehen, als er ist. Außerdem hat er sich den Fuß übertreten und wahrscheinlich eine Sehne verzerrt, denn er hinkt. Doch er verbeißt seine Schmerzen. Nur mir erzählte er gestern vor dem Einschlafen, er würde schon ganz gerne wieder Kegelschieben, Kartenspielen, in einem richtigen Bett liegen, eine stramme Kellnerin hinten hineinzwicken, kurz: zu Hause sein. Dann schlief er ein und schnarchte. Er träumte, er wäre ein General und hätt eine Schlacht gewonnen. Der Kaiser hätt alle seine Orden ausgezogen und selbe ihm an die Brust geheftet. Und an den Rükken. Und die Kaiserin hätt ihm die Füß geküßt. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte er mich in aller Früh. „Wahrscheinlich ein Wunschtraum“, sagte ich. Er sagte, er hätte es sich noch nie in seinem Leben gewünscht, daß ihm eine Kaiserin die Füß küßt. „Ich werds mal meiner Frau schreiben“, meinte er nachdenklich, „die hat ein Traumbuch. Sie soll mal nachschauen, was General, Kaiser, Orden, Schlacht, Brust und Rücken bedeuten.“ Während er vor unserem Zelte schrieb, erschien aufgeregt ein Junge, und zwar der L. „Was gibts?“ „Ich bin bestohlen worden!“ „Bestohlen?!“ „Man hat mir meinen Apparat gestohlen, Herr Lehrer, meinen photographischen Apparat!“ Er war ganz außer sich. Der Feldwebel sah mich an. Was tun? lag in seinem Blick. „Antreten lassen“, sagte ich, denn mir fiel auch nichts Besseres ein. Der Feldwebel nickte befriedigt, humpelte auf den freien Platz, wo die Fahne wehte, und brüllte wie ein alter Hirsch: „Regiment antreten!“ Ich wandte mich an den L:

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„Hast du einen Verdacht?“ „Nein.“ Das Regiment war angetreten. Ich verhörte sie, keiner konnte etwas sagen. Ich ging mit dem Feldwebel in das Zelt, wo der L schlief. Sein Schlafsack lag gleich neben dem Eingang links. Wir fanden nichts. „Ich halte es für ausgeschlossen“, sagte ich zum Feldwebel, „daß einer der Jungen der Dieb ist, denn sonst wären ja auch mal im Schuljahr Diebstähle vorgekommen. Ich glaube eher, daß die aufgestellten Wachen nicht richtig ihre Pflicht erfüllten, so daß die Räuberbande sich hereinschleichen konnte.“ Der Feldwebel gab mir recht, und wir beschlossen, in der folgenden Nacht die Wachen zu kontrollieren. Aber wie? Ungefähr hundert Meter vom Lager entfernt stand ein Heuschober. Dort wollten wir übernachten und von dort aus die Wachen kontrollieren. Der Feldwebel von neun bis eins und ich von eins bis sechs. Nach dem Nachtmahl schlichen wir uns heimlich aus dem Lager. Keiner der Jungen bemerkte uns. Ich machte es mir im Heu bequem. – Um ein Uhr nachts weckt mich der Feldwebel. „Bis jetzt ist alles in Ordnung“, meldet er mir. Ich klettere aus dem Heu und postiere mich im Schatten der Hütte. Im Schatten? Ja, denn es ist eine Vollmondnacht. Eine herrliche Nacht. Ich sehe das Lager und erkenne die Wachen. Jetzt werden sie abgelöst. Sie stehen oder gehen ein paar Schritte hin und her. Osten, Westen, Norden, Süden – auf jeder Seite einer. Sie bewachen ihre photographischen Apparate. Und wie ich so sitze, fällt mir das Bild ein, das beim Pfarrer hängt und auch bei meinen Eltern. Die Stunden gehen. Ich unterrichte Geschichte und Geographie. Ich muß die Gestalt der Erde erklären und ihre Geschichte deuten. Die Erde ist noch rund, aber die Geschichten sind viereckig geworden. Jetzt sitz ich da und darf nicht rauchen, denn ich überwache die Wache. Es ist wahr: Mein Beruf freut mich nicht mehr. Warum fiel mir nur jenes Bild wieder ein? Wegen des Gekreuzigten? Nein. Wegen seiner Mutter – nein. Plötzlich wirds mir klar: wegen des Kriegers in Helm und Panzer, wegen des römischen Hauptmanns. Was ist denn nur mit dem? Er leitete die Hinrichtung eines Juden. Und als der Jude starb, sagte er: „Wahrlich, so stirbt kein Mensch!“ Er hat also Gott erkannt. Aber was tat er? Was zog er für Konsequenzen? Er blieb ruhig unter dem Kreuze stehen. Ein Blitz durchzuckte die Nacht, der Vorhang im Tempel riß, die Erde bebte – Er blieb stehen. Er erkannte den neuen Gott, als der am Kreuze starb, und wußte nun, daß seine Welt zum Tode verurteilt war. Und?

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Ist er etwa in einem Krieg gefallen? Hat er es gewußt, daß er für nichts fällt? Freute ihn noch sein Beruf? Oder ist er etwa alt geworden? Wurde er pensioniert? Lebte er in Rom oder irgendwo an der Grenze, wo es billiger war? Vielleicht hatte er dort ein Häuschen. Mit einem Gartenzwerg. Und am Morgen erzählte ihm seine Köchin, daß gestern jenseits der Grenze wieder neue Barbaren aufgetaucht sind. Die Lucia vom Herrn Major hat sie mit eigenen Augen gesehen. Neue Barbaren, neue Völker. Sie rüsten, sie rüsten. Sie warten. Und der römische Hauptmann wußte es, die Barbaren werden alles zertrümmern. Aber es rührte ihn nicht. Für ihn war bereits alles zertrümmert. Er lebte still als Pensionist, er hatte es durchschaut. Das große römische Reich.

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Der Mond hängt nun direkt über den Zelten. Es muß zirka zwei Uhr sein. Und ich denke, jetzt sind die Cafés noch voll. Was macht jetzt wohl Julius Caesar? Er wird seinen Totenkopf illuminieren, bis ihn der Teufel holt! Komisch: Ich glaube an den Teufel, aber nicht an den lieben Gott. Wirklich nicht? Ich weiß es nicht. Doch, ich weiß es! Ich will nicht an ihn glauben! Nein, ich will nicht! Es ist mein freier Wille. Und die einzige Freiheit, die mir verblieb: glauben oder nicht glauben zu dürfen. Aber offiziell natürlich so zu tun als ob. Je nachdem: einmal ja, einmal nein. Was sagte der Pfaffe? „Der Beruf des Priesters besteht darin, den Menschen auf den Tod vorzubereiten, denn wenn der Mensch keine Angst vor dem Sterben mehr hat, wird ihm das Leben leichter.“ Satt wird er nicht davon! „Aus diesem Leben des Elends und der Widersprüche“, sagte der Pfaffe, „rettet uns einzig und allein die göttliche Gnade und der Glaube an die Offenbarung.“ Ausreden! „Wir werden gestraft und wissen nicht wofür.“ Frag die Regierenden! Und was sagte der Pfaffe noch? „Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.“ Stimmt! – – Lieblich waren die Gedanken, die mein Herz durchzogen. Sie kamen aus dem Kopf, kostümierten sich mit Gefühl, tanzten und berührten sich kaum. Ein vornehmer Ball. Exklusive Kreise. Gesellschaft! Im Mondlicht drehten sich die Paare. Die Feigheit mit der Tugend, die Lüge mit der Gerechtigkeit, die Erbärmlichkeit mit der Kraft, die Tücke mit dem Mut.

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Nur die Vernunft tanzte nicht mit. Sie hatte sich besoffen, hatte nun einen Moralischen und schluchzte in einer Tour: „Ich bin blöd, ich bin blöd“ – Sie spie alles voll. Aber man tanzte darüber hinweg. Ich lausche der Ballmusik. Sie spielt einen Gassenhauer, betitelt: „Der einzelne ist Dreck.“ Sortiert nach Sprache, Rasse und Nation stehen die Haufen nebeneinander und fixieren sich, wer größer ist. Sie stinken, daß sich jeder einzelne die Nase zuhalten muß. Lauter Dreck! Alles Dreck! Düngt damit! Dünget die Erde, damit etwas wächst! Nicht Blumen, sondern Brot! Aber betet euch nicht an! Nicht den Dreck, den ihr gefressen habt! Z

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Fast vergaß ich meine Pflicht: vor einem Heuschober zu sitzen, nicht rauchen zu dürfen und die Wache zu kontrollieren. Ich blicke hinab: Dort wachen sie. Ost und West, Nord und Süd. Alles in Ordnung. Doch halt! Dort geht doch was vor sich – Was denn? Im Norden. Dort spricht doch der Posten mit jemand. Wer ist denn der Posten? Es ist der Z. Mit wem spricht er denn? Oder ists nur der Schatten einer Tanne? Nein, das ist kein Schatten, das ist eine Gestalt. Jetzt scheint der Mond auf sie: Es ist ein Junge. Ein fremder Junge. Was ist dort los? Der Fremde scheint ihm etwas zu geben, dann ist er verschwunden. Der Z rührt sich kurze Zeit nicht, ganz regungslos steht er da. Lauscht er? Er sieht sich vorsichtig um und zieht dann einen Brief aus der Tasche. Ach, er hat einen Brief bekommen! Er erbricht ihn rasch und liest ihn im Mondenschein. Er steckt ihn gleich wieder ein. Wer schreibt dem Z? – – Der Morgen kommt, und der Feldwebel erkundigt sich, ob ich etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte. Ich sage, ich hätte gar nichts wahrgenommen, und die Wachen hätten ihre Pflicht erfüllt. Ich schweige von dem Brief, denn ich weiß es ja noch nicht, ob dieser Brief mit dem gestohlenen Photoapparat irgendwie zusammenhängt. Das muß sich noch klären, und bis es nicht bewiesen wurde, will ich den Z in keinen Verdacht bringen. Wenn man nur den Brief lesen könnte!

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Als wir das Lager betreten, empfangen uns die Jungen erstaunt. Wann wir denn das Lager verlassen hätten? „Mitten in der Nacht“, lügt der Feldwebel, „und zwar ganz aufrecht, aber von eueren Wachen hat uns keiner gehen sehen, ihr müßt schärfer aufpassen, denn bei einer solchen miserablen Bewachung tragens uns ja noch das ganze Lager weg, die Gewehre, die Fahne und alles, wofür wir da sind!“ Dann läßt er sein Regiment antreten und fragt, ob einer etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte. Keiner meldet sich. Ich beobachte den Z. Er steht regungslos da. Was steht nur in dem Brief? Jetzt hat er ihn in der Tasche, aber ich werde ihn lesen, ich muß ihn lesen. Soll ich ihn direkt fragen? Das hätte keinen Sinn. Er würde es glatt ableugnen, würde den Brief dann zerreißen, verbrennen und ich könnt ihn nimmer lesen. Vielleicht hat er ihn sogar schon vernichtet. Und wer war der fremde Junge? Ein Junge, der um zwei Uhr nachts erscheint, eine Stunde weit weg vom Dorf? Oder wohnt er auf dem Bauernhof bei der blinden Alten? Aber auch dann: Immer klarer wird es mir, daß jener zur Räuberbande gehören muß. Zum Unkraut. Ist denn der Z auch Unkraut? Ein Verbrecher? Ich muß den Brief lesen, muß, muß! Der Brief wird allmählich zur fixen Idee. Bumm! Heute schießen sie zum erstenmal. Bumm! Bumm! – – Am Nachmittag kommt der R zu mir. „Herr Lehrer“, sagte er, „ich bitte sehr, ich möchte in einem anderen Zelte schlafen. Die beiden, mit denen ich zusammen bin, raufen sich in einem fort, man kann kaum schlafen!“ „Wer sind denn die beiden?“ „Der N und der Z.“ „Der Z?“ „Ja. Aber anfangen tut immer der N!“ „Schick mir mal die beiden her!“ Er geht, und der N kommt. „Warum raufst du immer mit dem Z?“ „Weil er mich nicht schlafen läßt. Immer weckt er mich auf. Er zündet oft mitten in der Nacht die Kerze an.“ „Warum?“ „Weil er seinen Blödsinn schreibt.“ „Er schreibt?“ „Ja.“ „Was schreibt er denn? Briefe?“ „Nein. Er schreibt sein Tagebuch.“ „Tagebuch?“ „Ja. Er ist blöd.“ „Deshalb muß man noch nicht blöd sein.“ Es trifft mich ein vernichtender Blick. „Das Tagebuchschreiben ist der typische Ausdruck der typischen Überschätzung des eigenen Ichs“, sagt er.

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„Kann schon stimmen“, antworte ich vorsichtig, denn ich kann mich momentan nicht erinnern, ob das Radio diesen Blödsinn nicht schon mal verkündet hat. „Der Z hat sich extra ein Kästchen mitgenommen, dort sperrt er sein Tagebuch ein.“ „Schick mir mal den Z her!“ Der N geht, der Z kommt. „Warum raufst du immer mit dem N?“ „Weil er ein Plebejer ist.“ Ich stutze und muß an die reichen Plebejer denken. „Ja“, sagt der Z, „er kann es nämlich nicht vertragen, daß man über sich nachdenkt. Da wird er wild. Ich führe nämlich ein Tagebuch, und das liegt in einem Kästchen, neulich hat er es zertrümmern wollen, drum versteck ichs jetzt immer. Am Tag im Schlafsack, in der Nacht halt ichs in der Hand.“ Ich sehe ihn an. Und frage ihn langsam: „Und wo ist das Tagebuch, wenn du auf Wache stehst?“ Nichts rührt sich in seinem Gesicht. „Wieder im Schlafsack“, antwortet er. „Und in dieses Buch schreibst du alles hinein, was du so erlebst?“ „Ja.“ „Was du hörst, siehst? Alles?“ Er wird rot. „Ja“, sagt er leise. Soll ich ihn jetzt fragen, wer ihm den Brief schrieb, und was in dem Briefe steht? Nein. Denn es steht bei mir bereits fest, daß ich das Tagebuch lesen werde. Er geht, und ich schau ihm nach. Er denkt über sich nach, hat er gesagt. Ich werde seine Gedanken lesen. Das Tagebuch des Z. A DAM

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Kurz nach vier marschierte das Regiment wieder ab. Sogar das „Küchenpersonal“ mußte diesmal mit, denn der Feldwebel wollte es allen erklären, wie man sich in die Erde gräbt, und wo die Erde am geeignetsten für Schützengräben und Unterstände ist. Seit er humpelt, erklärt er lieber. Es blieb also niemand im Lager, nur ich. Sobald das Regiment im Walde verschwand, betrat ich das Zelt, in welchem der Z mit N und R schlief. Im Zelte lagen drei Schlafsäcke. Auf dem linken lag ein Brief. Nein, der war es nicht. „Herrn Otto N“ stand auf dem Kuvert, „Absender: Frau Elisabeth N“ – ach, die Bäckermeistersgattin! Ich konnte nicht widerstehen, was schrieb wohl Mama ihrem Kindchen? Sie schrieb: „Mein lieber Otto, danke Dir für Deine Postkarte. Es freut mich und Vater sehr, daß Du Dich wohl fühlst. Nur so weiter, paß nur auf Deine Strümpfe auf, damit sie nicht wieder verwechselt werden! Also in zwei Tagen werdet Ihr schon schießen? Mein Gott, wie die Zeiten vergehen! Vater läßt Dir sagen, Du sollst bei Deinem ersten Schusse an ihn denken, denn er war der beste Schütze seiner Kompanie. Denk Dir nur, Mandi ist gestern gestorben. Vorgestern hüpfte er noch so froh und munter in seinem Käfiglein herum und tirilierte uns zur Freud. Und heut war er hin. Ich weiß nicht, es grassiert eine Kanarikrankheit. Die Beinchen hat der Ärmste von

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sich gestreckt, ich hab ihn im Herdfeuer verbrannt. Gestern hatten wir einen herrlichen Rehrücken mit Preißelbeeren. Wir dachten an Dich. Hast Du auch gut zum futtern? Vater läßt Dich herzlichst grüßen, Du sollst ihm nur immer weiter Bericht erstatten, ob der Lehrer nicht wieder solche Äußerungen fallen läßt wie über die Neger. Laß nur nicht locker! Vater bricht ihm das Genick! Es grüßt und küßt Dich, mein lieber Otto, Deine liebe Mutti.“ Im Schlafsack nebenan war nichts versteckt. Hier schlief also der R. Dann muß das Kästchen im dritten liegen. Dort lag es auch. Es war ein Kästchen aus blauem Blech und hatte ein einfaches Schloß. Es war versperrt. Ich versuchte, das Schloß mit einem Draht zu öffnen. Es ließ sich leicht. In dem Kästchen lagen Briefe, Postkarten und ein grüngebundenes Buch – „Mein Tagebuch“, stand da in goldenen Lettern. Ich öffnete es. „Weihnachten von Deiner Mutter.“ Wer war die Mutter des Z? Mir scheint, eine Beamtenwitwe oder so. Dann kamen die ersten Eintragungen, etwas von einem Christbaum – Ich blätterte weiter, wir sind schon nach Ostern. Zuerst hat er jeden Tag geschrieben, dann nur jeden zweiten, dritten, dann nur jeden fünften, sechsten – Und hier, hier liegt der Brief! Er ist es! Ein zerknülltes Kuvert, ohne Aufschrift, ohne Marke! Rasch! Was steht nur drin?! „Kann heute nicht kommen, komme morgen um zwei – Eva.“ Das war alles. Wer ist Eva? Ich weiß nur, wer Adam ist. Adam ist der Z. Und ich lese das Tagebuch: „Mittwoch. Gestern sind wir ins Lager gekommen. Wir sind alle sehr froh. Jetzt ist es abend, bin gestern nicht zum schreiben dazugekommen, weil wir alle sehr müde waren vom Zeltbau. Wir haben auch eine Fahne. Der Feldwebel ist ein alter Tepp, er merkts nicht, wenn wir ihn auslachen. Wir laufen schneller, wie er. Den Lehrer sehen wir gottseidank fast nie. Er kümmert sich auch nicht um uns. Immer geht er mit einem faden Gesicht herum. Der N ist auch ein Tepp. Jetzt schreit er schon das zweitemal, ich soll die Kerze auslöschen, aber ich tus nicht, weil ich sonst überhaupt zu keinem Tagebuch mehr komme, und ich möcht doch eine Erinnerung fürs Leben. Heute Nachmittag haben wir einen großen Marsch getan, bis an die Berge. Auf dem Wege dorthin sind wir bei Felsen vorübergekommen, in denen es viele Höhlen gibt. Auf einmal kommandiert der Feldwebel, wir sollen durch das Dickicht in Schwarmlinie gegen einen markierten Feind vor gehen, der sich auf einen Höhenzug mit schweren Maschinengewehren verschanzt hat. Wir schwärmten aus, sehr weit voneinander, aber das Dickicht wurde immer dicker, und plötzlich sah ich keinen mehr rechts und keinen mehr links. Ich hatte mich verirrt und war abgeschnitten. Auf einmal stand ich wieder vor einem Felsen mit einer Höhle, ich glaube, ich bin im Kreis herumgegangen. Plötzlich stand ein Mädchen vor mir. Sie war braunblond und hatte eine rosa Bluse, und es wunderte mich, woher und wieso sie überhaupt daherkommt. Sie fragte mich, wer ich wäre. Ich sagte es ihr. Zwei Buben waren noch dabei, beide barfuß und zerrissen. Der eine trug einen Laib Brot in der Hand, der andere eine Vase. Sie sahen mich feindlich an. Das Mädchen sagte ihnen, sie mögen nachhause gehen, sie möcht mir nur den Weg zeigen heraus aus dem Dickicht. Ich war darüber sehr froh, und sie begleitete

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mich. Ich fragte sie, wo sie wohne, und sie sagte, hinter dem Felsen. Aber auf der militärischen Karte, die ich hatte, stand dort kein Haus und überhaupt nirgends in dieser Gegend. Die Karte ist falsch, sagte sie. So kamen wir an den Rand des Dickichts, und ich konnte in weiter Ferne das Zeltlager sehen. Und da blieb sie stehen und sagte zu mir, sie müsse jetzt umkehren, und sie würde mir einen Kuß geben, wenn ich es niemand auf der Welt sagen würde, daß ich sie hier traf. Warum? fragte ich. Weil sie es nicht haben möchte, sagte sie. Ich sagte, geht in Ordnung, und sie gab mir einen Kuß auf die Wange. Das gilt nicht, sagte ich, ein Kuß gilt nur auf den Mund. Sie gab mir einen Kuß auf den Mund. Dabei steckte sie mir die Zunge hinein. Ich sagte, sie ist eine Sau, und was sie denn mit der Zunge mache? Da lachte sie und gab mir wieder so einen Kuß. Ich stieß sie von mir. Da hob sie einen Stein auf und warf ihn nach mir. Wenn der meinen Kopf getroffen hätte, wär ich jetzt hin. Ich sagte es ihr. Sie sagte, das würde ihr nichts ausmachen. Dann würdest du gehänkt, sagte ich. Sie sagte das würde sie sowieso. Plötzlich wurde es mir unheimlich. Sie sagte, ich solle ganz in ihre Nähe kommen. Ich wollte nicht feig sein und kam. Da packte sie mich plötzlich und stieß mir noch einmal ihre Zunge in den Mund. Da wurde ich wütend, packte einen Ast und schlug auf sie ein. Ich traf sie auf dem Rücken und den Schultern, aber nicht auf dem Kopf. Sie gab keinen Ton von sich und brach zusammen. Da lag sie. Ich erschrak sehr, denn ich dachte, sie wäre vielleicht tot. Ich trat zu ihr hin und berührte sie mit dem Ast. Sie rührte sich nicht. Wenn sie tot ist, hab ich mir gedacht, laß ich sie da liegen und tue, als wär nichts passiert. Ich wollte schon weg, aber da bemerkte ich, daß sie simulierte. Sie blinzelte mir nämlich nach. Ich ging rasch wieder hin. Ja, sie war nicht tot. Ich hab nämlich schon viele Tote gesehen, die sehen ganz anders aus. Schon mit sieben Jahren hab ich einen toten Polizisten und vier tote Arbeiter gesehen, es war nämlich ein Streik. Na wart, dachte ich, du willst mich da nur erschrecken, aber du springst schon auf – Ich erfaßte vorsichtig unten ihren Rock und riß ihn plötzlich hoch. Sie hatte keine Hosen an. Sie rührte sich aber noch immer nicht, und mir wurde es ganz anders. Aber plötzlich sprang sie auf und riß mich wild zu sich herab. Ich kenne das schon. Wir liebten uns. Gleich daneben war ein riesiger Ameisenhaufen. Und dann versprach ich es ihr, daß ich es niemand sagen werde, daß ich sie getroffen hab. Sie ist weggelaufen, und ich hab ganz vergessen zu fragen, wie sie heißt. Donnerstag. Wir haben Wachen aufgestellt wegen der Räuberbanden. Der N schreit schon wieder, ich soll die Kerze auslöschen. Wenn er noch einmal schreit, dann hau ich ihm eine herunter. – Jetzt hab ich ihm eine heruntergehaut. Er hat nicht zurückgehaut. Der blöde R hat geschrien, als hätt er es bekommen, der Feigling! Ich ärger mich nur, daß ich mit dem Mädel nichts ausgemacht hab. Ich hätte sie gerne wiedergesehen und mit ihr gesprochen. Ich fühlte sie heute Vormittag unter mir, wie der Feldwebel ‚Auf!‘ und ‚Nieder!‘ kommandiert hat. Ich muß immer an sie denken. Nur ihre Zunge mag ich nicht. Aber sie sagte, das sei Gewöhnung. Wie beim Autofahren das rasche Fahren. Was ist doch das Liebesgefühl für ein Gefühl! Ich glaube, so ähnlich muß es sein, wenn man fliegt. Aber fliegen ist sicher noch schöner. Ich weiß es nicht, ich möcht, daß sie jetzt neben mir liegt. Wenn sie nur da wär, ich bin so allein. Von mir aus soll sie mir auch die Zunge in den Mund stecken. Freitag. Übermorgen werden wir schießen, endlich! Heute Nachmittag hab ich mit dem N gerauft, ich bring ihn noch um. Der R hat dabei was abbekommen, was stellt sich der Idiot in den Weg! Aber das geht mich alles nichts mehr an, ich denke nur immer an

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sie und heute noch stärker. Denn heute nacht ist sie gekommen. Plötzlich, wie ich auf der Wache gestanden bin. Zuerst bin ich erschrocken, dann hab ich mich riesig gefreut und hab mich geschämt, daß ich erschrocken bin. Sie hats nichts bemerkt, Gott sei Dank! Sie hat so wunderbar gerochen, nach einem Parfum. Ich fragte sie, woher sie es herhabe? Sie sagte, aus der Droguerie im Dorf. Das muß teuer gewesen sein, sagte ich. Oh nein, sagte sie, es kostete nichts. Dann umarmte sie mich wieder, und wir waren zusammen. Dabei fragte sie mich, was tun wir jetzt? Ich sagte, wir lieben uns. Ob wir uns noch oft lieben werden, fragte sie. Ja, sagte ich, noch sehr oft. Ob sie nicht ein verdorbenes Mädchen wäre? Nein, wie könne sie sowas sagen! Weil sie mit mir in der Nacht herumliegt. Kein Mädchen ist heilig, sagte ich. Plötzlich sah ich eine Träne auf ihrer Wange, der Mond schien ihr ins Gesicht. Warum weinst du? Und sie sagte, weil alles so finster ist. Was denn? Und sie fragte mich, ob ich sie auch lieben würde, wenn sie eine verlorene Seele wär? Was ist das? Und sie sagte mir, sie hätte keine Eltern und wär mit zwölf Jahren eine Haustochter geworden, aber der Herr wär ihr immer nachgestiegen, sie hätte sich gewehrt, und da hätte sie mal ein Geld gestohlen, um weglaufen zu können, weil sie die Frau immer geohrfeigt hätt wegen des Herrn, und da wär sie in eine Besserungsanstalt gekommen, aber von dort wär sie ausgebrochen, und jetzt wohne sie in einer Höhle und würde alles stehlen, was ihr begegnet. Vier Jungen aus dem Dorf, die nicht mehr Puppen malen wollen, wären auch dabei, sie wär aber die älteste und die Anführerin. Aber ich dürfe es niemand sagen, daß sie so eine sei, denn dann käme sie wieder in die Besserungsanstalt. Und sie tat mir furchtbar leid, und ich fühlte plötzlich, daß ich eine Seele habe. Und ich sagte es ihr, und sie sagte mir, ja, jetzt fühle sie es auch, daß sie eine Seele habe. Ich dürfe sie aber nicht mißverstehen, wenn jetzt, während sie bei mir ist, im Lager etwas gestohlen wird. Ich sagte, ich würde sie nie mißverstehen, nur mir dürfe sie nichts stehlen, denn wir gehörten zusammen. Dann mußten wir uns trennen, denn nun wurde ich bald abgelöst. Morgen treffen wir uns wieder. Ich weiß jetzt, wie sie heißt. Eva. Samstag. Heute war große Aufregung, denn dem G wurde sein Photo gestohlen. Schadet nichts! Sein Vater hat drei Fabriken, und die arme Eva muß in einer Höhle wohnen. Was wird sie machen, wenn Winter ist? Der N schreit schon wieder wegen dem Licht. Ich werd ihn noch erschlagen. Ich kann die Nacht kaum erwarten bis sie kommt! Ich möcht mit ihr in einem Zelt leben, aber ohne Lager, ganz allein! Nur mit ihr! Das Lager freut mich nicht mehr. Es ist alles nichts. Oh Eva, ich werde immer für Dich da sein! Du kommst in keine Besserungsanstalt mehr, in keine mehr, das schwör ich Dir zu! Ich werde Dich immer beschützen! Der N schreit, er wird mein Kästchen zertrümmern, morgen, er soll es nur wagen! Denn hier sind meine innersten Geheimnisse drinnen, die niemand was angehen. Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!“ V ERURTEILT

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„Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!“ Ich lese den Satz zweimal und muß lächeln. Kinderei! Und ich will an das denken, was ich las, aber ich komme nicht dazu. Vom Waldrand her tönt die Trompete, ich muß mich beeilen, das Regiment naht. Rasch tu ich das

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Tagebuch wieder ins Kästchen und will es versperren. Ich drehe den Draht hin und her. Umsonst! Es läßt sich nicht mehr schließen, ich habe das Schloß verdorben – Was tun? Sie werden gleich da sein, die Jungen. Ich verstecke das offene Kästchen im Schlafsack und verlasse das Zelt. Es blieb mir nichts anderes übrig. Jetzt kommt das Regiment daher. In der vierten Reihe marschiert der Z. Du hast also ein Mädel und das nennt sich Eva. Und du weißt es, daß deine Liebe stiehlt. Aber du schwörst trotzdem, sie immer zu beschützen. Ich muß wieder lächeln. Kinderei, elende Kinderei! Jetzt hält das Regiment und tritt ab. Jetzt kenne ich deine „innersten Geheimnisse“, denke ich, aber plötzlich kann ich nicht mehr lächeln. Denn ich sehe den Staatsanwalt. Er blättert in seinen Akten. Die Anklage lautet auf Diebstahl und Begünstigung. Nicht nur Eva, auch Adam hat sich zu verantworten. Man müßte den Z sofort verhaften. Ich will es dem Feldwebel sagen und die Gendarmerie verständigen. Oder soll ich zuerst allein mit dem Z reden? Nun steht er drüben bei den Kochtöpfen und erkundigt sich, was er zum Essen bekommen wird. Er wird von der Schule fliegen, und das Mädel kommt zurück in die Besserungsanstalt. Beide werden eingesperrt. Adieu Zukunft, lieber Z! Es sind schon größere Herren über die Liebe gestolpert, über die Liebe, die auch naturnotwendig ist, und also ebenfalls gottgewollt. Und ich höre wieder den Pfaffen: „Das Schrecklichste auf der Welt ist Gott.“ Und ich höre einen wüsten Lärm, Geschrei und Gepolter. Alles stürzt zu einem Zelt. Es ist das Zelt mit dem Kästchen. Der Z und der N raufen, man kann sie kaum trennen. Der N ist rot, er blutet aus dem Mund. Der Z ist weiß. „Der N hat sein Kästchen erbrochen!“ ruft mir der Feldwebel zu. „Nein!“ schreit der N. „Ich habs nicht getan, ich nicht!“ „Wer denn sonst?!“ schreit der Z. „Sagen Sies selber, Herr Lehrer, wer könnt es denn sonst schon getan haben?!“ „Lüge, Lüge!“ „Er hat es erbrochen und sonst niemand! Er hats mir ja schon angedroht, daß er es mir zertrümmern wird!“ „Aber ich habs nicht getan!“ „Ruhe!“ brüllt plötzlich der Feldwebel. Es wird still. Der Z läßt den N nicht aus den Augen. Jeder, der sein Kästchen anrührt, stirbt, geht es mir plötzlich durch den Sinn. Unwillkürlich blick ich empor. Aber der Himmel ist sanft. Ich fühle, der Z könnte den N umbringen. Auch der N scheint es zu spüren. Er wendet sich kleinlaut an mich. „Herr Lehrer, ich möcht in einem anderen Zelte schlafen.“ „Gut.“

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„Ich habs wirklich nicht gelesen, sein Tagebuch. Helfen Sie mir, Herr Lehrer!“ „Ich werde dir helfen.“ Jetzt sieht mich der Z an. Du kannst nicht helfen, liegt in seinem Blick. Ich weiß, ich habe den N verurteilt. Aber ich wollt es doch nur wissen, ob der Z mit den Räubern ging, und ich wollt ihn doch nicht leichtfertig in einen Verdacht bringen, drum hab ich das Kästchen erbrochen. Warum sag ichs nur nicht, daß ich es bin, der das Tagebuch las? Nein, nicht jetzt! Nicht hier vor allen! Aber ich werde es sagen. Sicher! Nur nicht vor allen, ich schäme mich! Allein werd ichs ihm sagen. Von Mann zu Mann! Und ich will auch mit dem Mädel reden, heut nacht, wenn er sie trifft. Ich werde ihr sagen, sie soll sich nur ja nimmer blicken lassen, und diesem dummen Z werde ich ordentlich seinen Kopf waschen – Dabei solls dann bleiben! Schluß! Wie ein Raubvogel zieht die Schuld ihre Kreise. Sie packt uns rasch. Aber ich werde den N freisprechen. Er hat ja auch nichts getan. Und ich werde den Z begnadigen. Und auch das Mädel. Ich lasse mich nicht unschuldig verurteilen! Ja, Gott ist schrecklich, aber ich will ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Mit meinem freien Willen. Einen dicken Strich. Ich werde uns alle retten. Und wie ich so überlege, fühle ich, daß mich wer anstarrt. Es ist der T. Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz. Der Fisch! durchzuckt es mich. Er sieht mich noch immer an, genau wie damals beim Begräbnis des kleinen W. Er lächelt leise, überlegen, spöttisch. Seltsam starr. Weiß er, daß ich es bin, der das Kästchen erbrach? D ER M ANN

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IM

M OND

Der Tag wurd mir lang. Endlich sank die Sonne. Der Abend kam, und ich wartete auf die Nacht. Die Nacht kam, und ich schlich mich aus dem Lager. Der Feldwebel schnarchte bereits, es hat mich keiner gesehen. Zwar hing noch der Vollmond über dem Lager, aber aus dem Westen zogen die Wolken in finsteren Fetzen vorbei. Immer wieder wurde es stockdunkel, und immer länger währte es, bis das silberne Licht wieder kam. Dort, wo der Wald fast die Zelte berührt, dort wird er wachen, der Z. Dort saß ich nun hinter einem Baum. Ich sah ihn genau, den Posten. Es war der G. Er ging etwas auf und ab. Droben rasten die Wolken, unten schien alles zu schlafen. Droben tobte ein Orkan, unten rührte sich nichts. Nur ab und zu knackte ein Ast. Dann hielt der G und starrte in den Wald. Ich sah ihm in die Augen, aber er konnte mich nicht sehen.

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Hat er Angst? Im Wald ist immer was los, besonders in der Nacht. Die Zeit verging. Jetzt kommt der Z. Er grüßt den G und der geht. Der Z bleibt allein. Er sieht sich vorsichtig um und blickt dann zum Mond empor. Es gibt einen Mann im Mond, fällt es mir plötzlich ein, der sitzt auf der Sichel, raucht seine Pfeife und kümmert sich um nichts. Nur manchmal spuckt er auf uns herab. Vielleicht hat er recht. Er wird schon wissen, was er tut. – – Um zirka halbdrei erschien endlich das Mädel, und zwar derart lautlos, daß ich sie erst bemerkte, als sie bereits bei ihm stand. Wo kam sie her? Sie war einfach da. Jetzt umarmt sie ihn, und er umarmt sie. Sie küssen sich. Das Mädel steht mit dem Rücken zu mir, und ich kann ihn nicht sehen. Sie muß größer sein als er – Jetzt werde ich hingehen und mit den beiden sprechen. Ich erhebe mich vorsichtig, damit sie mich nicht hören. Denn sonst läuft mir das Mädel weg. Und ich will doch auch mit ihr reden. Sie küssen sich noch immer. Es ist Unkraut und gehört vertilgt, geht es mir plötzlich durch den Sinn. Ich sehe eine blinde Alte, die stolpert und stürzt. Und immer muß ich an das Mädel denken, wie sie sich reckt und über die Hecke schaut. Sie muß einen schönen Rücken haben. Ihre Augen möchte ich sehen – Da kommt eine Wolke, und alles wird finster. Sie ist nicht groß, die Wolke, denn sie hat einen silbernen Rand. Wie der Mond wieder scheint, gehe ich hin. Jetzt scheint er wieder, der Mond. Das Mädel ist nackt. Er kniet vor ihr. Sie ist sehr weiß. Ich warte. Sie gefällt mir immer mehr. Geh hin! Sag, daß du das Kästchen erbrochen hast! Du und nicht der N! Geh hin, geh! Ich gehe nicht hin. Jetzt sitzt er auf einem Baumstamm, und sie sitzt auf seinen Knien. Sie hat herrliche Beine. Geh hin! Ja, sofort – Und es kommen neue Wolken, schwärzere, größere. Sie haben keine silbernen Ränder und decken die Erde zu.

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Der Himmel ist weg, ich sehe nichts mehr. Ich lausche, aber es gehen nur Schritte durch den Wald. Ich halte den Atem an. Wer geht? Oder ist es nur der Sturm von droben? Ich kann mich selber nicht mehr sehen. Wo seid ihr, Adam und Eva? Im Schweiße eueres Angesichtes solltet ihr euer Brot verdienen, aber es fällt euch nicht ein. Eva stiehlt einen photographischen Apparat, und Adam drückt beide Augen zu, statt zu wachen – – Ich werd es ihm morgen sagen, diesem Z, morgen in aller Frühe, daß ich es war, der sein Kästchen erbrach. Morgen laß ich mich durch nichts mehr hindern! Und wenn mir der liebe Gott tausend nackte Mädchen schickt! – Immer stärker wird die Nacht. Sie hält mich fest, finster und still. Jetzt will ich zurück. Vorsichtig taste ich vor – Mit der vorgestreckten Hand berühre ich einen Baum. Ich weiche ihm aus. Ich taste weiter – Da, ich zucke entsetzt zurück! Was war das?! Mein Herz steht still. Ich möchte rufen, laut, laut – Aber ich beherrsche mich. Was war das?! Nein, das war kein Baum! Mit der vorgestreckten Hand faßte ich in ein Gesicht. Ich zittere. Wer steht da vor mir? Ich wage nicht mehr, weiterzugehen. Wer ist das?! Oder habe ich mich getäuscht? Nein, ich hab es zu deutlich gefühlt: die Nase, die Lippen – Ich setze mich auf die Erde. Ist das Gesicht noch dort drüben? Warte, bis das Licht kommt! Rühre dich nicht! – Über den Wolken raucht der Mann im Mond. Es regnet leise. Spuck mich nur an, Mann im Mond! D ER

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VORLETZTE

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Endlich wird es grau, der Morgen ist da. Es ist niemand vor mir, kein Gesicht und nichts. Ich schleiche mich wieder ins Lager zurück. Der Feldwebel liegt auf dem Rücken mit offenem Mund. Der Regen klopft an die Wand. Erst jetzt bin ich müde. Schlafen, schlafen –

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Als ich erwache, ist das Regiment bereits fort. Ich werde es dem Z sagen, daß ich es war und nicht der N, sowie er zurückkommt. Es ist der vorletzte Tag. Morgen brechen wir unsere Zelte ab und fahren in die Stadt zurück. Es regnet in Strömen, nur manchmal hört es auf. In den Tälern liegen dicke Nebel. Wir sollten die Berge nimmer sehen. Mittags kommt das Regiment zurück, aber nicht komplett. Der N fehlt. Er dürfte sich verlaufen haben, meint der Feldwebel, und er würde uns schon wieder finden. Ich muß an die Höhlen denken, die im Tagebuch des Z stehen, und werde unsicher. Ist es Angst? Jetzt muß ichs ihm aber sogleich sagen, es wird allmählich Zeit! Der Z sitzt in seinem Zelte und schreibt. Er ist allein. Als er mich kommen sieht, klappt er rasch sein Tagebuch zu und blickt mich mißtrauisch an. „Ach, wir schreiben wieder unser Tagebuch“, sage ich und versuche zu lächeln. Er schweigt und blickt mich nur an. Da sehe ich, daß seine Hände zerkratzt sind. Er bemerkt, daß ich die Kratzer beobachte, zuckt etwas zusammen und steckt die Hände in die Taschen. „Friert’s dich?“ frage ich und lasse ihn nicht aus den Augen. Er schweigt noch immer, nickt nur ja, und ein spöttisches Lächeln huscht über sein Gesicht. „Hör mal“, beginne ich langsam, „du meinst, daß der N dein Kästchen erbrochen hat –“ „Ich meine es nicht nur“, fällt er mir plötzlich fest ins Wort, „sondern er hats auch getan.“ „Woher willst du denn das wissen?“ „Er selbst hat es mir gesagt.“ Ich starre ihn an. Er selbst hat es gesagt? Aber das ist doch unmöglich, er hat es doch gar nicht getan! Der Z blickt mich forschend an, doch nur einen Augenblick lang. Dann fährt er fort: „Er hats mir heut vormittag gestanden, daß er das Kästchen geöffnet hat. Mit einem Draht, aber dann konnt er es nicht wieder schließen, denn er hat das Schloß ruiniert.“ „Und?“ „Und er hat mich um Verzeihung gebeten, und ich habe ihm verziehen.“ „Verziehen?“ „Ja.“ Er blickt gleichgültig vor sich hin. Ich kenne mich nicht mehr aus, und es fällt mir ein: „Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!“ Unsinn, Unsinn! „Weißt du, wo der N jetzt steckt?“ frage ich plötzlich. Er bleibt ganz ruhig. „Woher soll ich das wissen? Sicher hat er sich verirrt. Ich hab mich auch schon mal verirrt“ – Er erhebt sich, und es macht den Eindruck, als würde er nicht mehr weiterreden wollen. Da bemerke ich, daß sein Rock zerrissen ist.

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Soll ich es ihm sagen, daß er lügt? Daß der N es ihm niemals gestanden haben konnte, denn ich, ich habe doch sein Tagebuch gelesen – Aber warum lügt der Z? Nein, ich darf gar nicht daran denken! Warum sagte ich es ihm nur nicht sofort, gleich gestern, als er den N verprügelte! Weil ich mich schämte, vor meinen Herren Schülern zu gestehen, daß ich heimlich mit einem Draht ein Kästchen erbrochen hab, obwohl dies in bester Absicht geschehen ist – verständlich, verständlich! Aber warum verschlief ich nur heute früh?! Richtig, ich saß ja in der Nacht im Wald und machte das Maul nicht auf! Und jetzt, jetzt dürfte es wenig nützen, wenn ich es aufmachen würde. Es ist zu spät. Richtig, auch ich bin schuld. Auch ich bin der Stein, über den er stolperte, die Grube, in die er fiel, der Felsen, von dem er hinunterstürzte – Warum hat mich heut früh nur niemand geweckt?! Ich wollte mich nicht unschuldig verurteilen lassen und schlief, statt mich zu verteidigen. Mit meinem freien Willen wollte ich einen dicken Strich durch eine Rechnung machen, aber die Rechnung war bereits längst bezahlt. Ich wollte uns alle retten, aber wir waren bereits ertrunken. In dem ewigen Meer der Schuld. Doch wer ist denn schuld, daß das Schloß verdarb? Daß es sich nicht mehr zusperren ließ? Egal ob offen oder zu, ich hätte es sagen müssen! Die Pfade der Schuld berühren sich, kreuzen, verwickeln sich. Ein Labyrinth. Ein Irrgarten – mit Zerrspiegeln. Jahrmarkt, Jahrmarkt! Hereinspaziert, meine Herrschaften! Zahlt Buße und Strafe für die Schuld eueres Daseins! Nur keine Angst, es ist zu spät! – – Am Nachmittag zogen wir alle aus, um den N zu finden. Wir durchsuchten das ganze Gebiet, riefen „N!“ und wieder „N!“, aber es kam keine Antwort. Ich erwartete auch keine. Es dämmerte bereits, als wir zurückkehrten. Durchnäßt, durchfroren. Die Suche verlief ergebnislos. „Wenn das so weiterregnet“, fluchte der Feldwebel, „gibts noch die schönste Sündflut!“ Und es fiel mir wieder ein: Als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wichen, sprach der Herr: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde bestrafen um der Menschen willen.“ Und wieder frage ich mich: Hat der Herr sein Versprechen gehalten? Es regnet immer stärker. „Wir müssens der Gendarmerie melden“, sagt der Feldwebel, „daß der N abgängig ist.“ „Morgen.“ „Ich versteh Sie nicht, Herr Lehrer, daß Sie so ruhig sind.“ „Ich denke, er wird sich verirrt haben, man verirrt sich ja leicht, und vielleicht übernachtet er auf irgendeinem Bauernhof.“ „In der Gegend dort gibts keine Höfe, nur Höhlen.“ Ich horche auf. Das Wort versetzt mir wieder einen Schlag.

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„Wollen es hoffen“, fährt der Feldwebel fort, „daß er in einer Höhle sitzt und daß er sich nichts gebrochen hat.“ Ja, wollen wir hoffen. – Plötzlich frage ich den Feldwebel: „Warum haben Sie mich heut früh nicht geweckt?“ „Nicht geweckt?“ Er lacht. „Ich hab Sie in einer Tour geweckt, aber Sie sind ja dagelegen, als hätt Sie der Teufel geholt!“ Richtig, Gott ist das Schrecklichste auf der Welt. D ER

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Am letzten Tage unseres Lagerlebens kam Gott. Ich erwartete ihn bereits. Der Feldwebel und die Jungen zerlegten gerade die Zelte, als er kam. Sein Erscheinen war furchtbar. Dem Feldwebel wurde es übel, und er mußte sich setzen. Die Jungen standen entsetzt herum, halb gelähmt. Erst allmählich bewegten sie sich wieder, und zwar immer aufgeregter. Nur der Z bewegte sich kaum. Er starrte zu Boden und ging auf und ab. Doch nur ein paar Meter. Immer hin und her. Dann schrie alles durcheinander, so schien es mir. Nur der Z blieb stumm. Was war geschehen? Zwei Waldarbeiter waren im Lager erschienen, zwei Holzfäller mit Rucksack, Säge und Axt. Sie berichteten, daß sie einen Jungen gefunden hätten. Sie hatten seinen Schulausweis bei sich. Es war der N. Er lag in der Nähe der Höhlen, in einem Graben, unweit einer Lichtung. Mit einer klaffenden Kopfwunde. Ein Stein mußte ihn getroffen haben oder ein Schlag mit irgendeinem stumpfen Gegenstande. Auf alle Fälle war er hin. Tot und tot. Man hat ihn erschlagen, sagten die Waldarbeiter. Ich stieg mit den Waldarbeitern ins Dorf hinab. Zur Gendarmerie. Wir liefen fast. Gott blieb zurück. Die Gendarmen telephonierten mit dem Staatsanwalt in der nächsten Stadt, und ich telegraphierte meinem Direktor. Die Mordkommission erschien und begab sich an den Ort der Tat. Dort lag der N im Graben. Er lag auf dem Bauche. Jetzt wurde er photographiert. Die Herren suchten die nähere Umgebung ab. Peinlich genau. Sie suchten das Mordinstrument und irgendwelche Spuren. Sie fanden, daß der N nicht in jenem Graben erschlagen wurde, sondern ungefähr zwanzig Meter entfernt davon. Man sah deutlich die Spur, wie er in den Graben geschleift worden war, damit ihn niemand finde. Und sie fanden auch das Mordinstrument. Einen blutbefleckten spitzigen Stein. Auch einen Bleistift fanden sie, und einen Kompaß. Der Arzt konstatierte, daß der Stein mit großer Wucht aus nächster Nähe den Kopf des N getroffen haben mußte. Und zwar meuchlings, von rückwärts.

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Befand sich der N auf der Flucht? Der Untat mußte nämlich ein heftiger Kampf vorangegangen sein, denn sein Rock war zerrissen. Und seine Hände zerkratzt. – Als die Mordkommission das Lager betrat, erblickte ich sogleich den Z. Er saß etwas abseits. Auch sein Rock ist zerrissen, ging es mir durch den Sinn, und auch seine Hände sind zerkratzt. Aber ich werde mich hüten, davon zu reden! Mein Rock hat zwar keinen Riß und meine Hände sind ohne Kratzer, aber trotzdem bin auch ich daran schuld! – Die Herren verhörten uns. Wir wußten alle nichts über den Hergang des Verbrechens. Auch ich nicht. Und auch der Z nicht. Als der Staatsanwalt mich fragte: „Haben Sie keinen Verdacht?“ – Da sah ich wieder Gott. Er trat aus dem Zelte, wo der Z schlief, und hatte das Tagebuch in der Hand. Jetzt sprach er mit dem R und ließ den Z nicht aus den Augen. Der kleine R schien Gott nicht zu sehen, nur zu hören. Immer größer wurden seine Augen, als blickte er plötzlich in neues Land. Da höre ich wieder den Staatsanwalt: „So reden Sie doch! Haben Sie keinen Verdacht?“ „Nein.“ „Herr Staatsanwalt“, schreit plötzlich der R und drängt sich vor, „der Z und der N haben sich immer gerauft! Der N hat nämlich das Tagebuch des Z gelesen, und deshalb war ihm der Z todfeind – Er führt nämlich ein Tagebuch, es liegt in einem Kästchen aus blauem Blech!“ Alle blicken auf den Z. Der steht mit gesenktem Haupt. Man kann sein Gesicht nicht sehen. Ist es weiß oder rot? Langsam tritt er vor. Er hält vor dem Staatsanwalt. Es wird sehr still. „Ja“, sagt er leise, „ich habs getan.“ Er weint. Ich werfe einen Blick auf Gott. Er lächelt. Warum? Und wie ich mich so frage, sehe ich ihn nicht mehr. Er ist wieder fort.

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Morgen beginnt der Prozeß. Ich sitze auf der Terrasse eines Cafés und lese die Zeitungen. Der Abend ist kühl, denn es ist Herbst geworden. Schon seit vielen Tagen berichten die Zeitungen über die kommende Sensation. Einzelne unter der Überschrift Mordprozeß Z, andere unter Mordprozeß N. Sie bringen Betrachtungen, Skizzen, graben alte Kriminalfälle mit Jugendlichen im Mittelpunkt aus, sprechen über die Jugend überhaupt und an sich, prophezeien und kommen vom Hundertsten ins Tausendste, finden aber dennoch immer irgendwie zurück zum Ermordeten N und seinem Mörder Z. Heute früh erschien ein Mitarbeiter bei mir und interviewte mich. Im Abendblatt muß es schon drinnen sein. Ich suche das Blatt. Er hat mich sogar photographiert. Ja,

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da ist mein Bild! Hm, ich hätt mich kaum wiedererkannt. Eigentlich ganz nett. Und unter dem Bilde steht: „Was sagt der Lehrer?“ Nun, was sage ich? „Einer unserer Mitarbeiter besuchte heute vormittag im städtischen Gymnasium jenen Lehrer, der seinerzeit im Frühjahr die oberste Aufsicht über jenes Zeltlager inne hatte, allwo sich die verhängnisvolle Tragödie unter Jugendlichen abrollen sollte. Der Lehrer sagte, er stehe vor einem Rätsel, und zwar nach wie vor. Der Z sei immer ein aufgeweckter Schüler gewesen und ihm, dem Lehrer, wären niemals irgendwelche charakterlichen Anomalitäten, geschweige denn Defekte oder verbrecherische Instinkte aufgefallen. Unser Mitarbeiter legte dem Lehrer die folgenschwere Frage vor, ob diese Untat ihre Wurzel etwa in einer gewissen Verrohung der Jugend hätte, was jedoch der Lehrer strikt bestritt. Die heutige Jugend, meinte er, sei keineswegs verroht, sie sei vielmehr, dank der allgemeinen Gesundung, äußerst pflichtbewußt, aufopferungsfreudig und absolut national. Dieser Mord sei ein tiefbedauerlicher Einzelfall, ein Rückfall in schlimmste liberalistische Zeiten. Jetzt läutet die Schulglocke, die Pause ist aus, und der Lehrer empfiehlt sich. Er schreitet in die Klasse, um junge aufgeschlossene Seelen zu wertvollen Volksgenossen auszubilden. Gottlob ist der Fall Z nur ein Ausnahmefall, der ausnahmsweise Durchbruch eines verbrecherischen Individualismus!“ Hinter meinem Interview folgt eines mit dem Feldwebel. Auch sein Bild ist in der Zeitung, aber so hat er mal ausgesehen, vor dreißig Jahren. Ein eitler Knopf. Nun, was sagt der Feldwebel? „Unser Mitarbeiter besuchte auch den seinerzeitigen militärischen Ausbildungsleiter. Der militärische Ausbildungsleiter, kurz MA genannt, empfing unseren Mitarbeiter mit ausgesuchter Höflichkeit, doch in der strammen Haltung des alten, immer noch frischen Haudegens. Seiner Ansicht nach entspringt die Tat einem Mangel an Disziplin. Eingehend äußerte er sich über den Zustand des Leichnams des Ermordeten, anläßlich dessen Auffindung. Er hatte den ganzen Weltkrieg mitgemacht, jedoch niemals eine derart grauenhafte Wunde gesehen. ‚Als alter Soldat bin ich für den Frieden‘, schloß sein aufschlußreiches Gespräch.“ „Unser Mitarbeiter besuchte auch die Präsidentin des Verbandes gegen die Kinderverwahrlosung, die Frau Rauchfangkehrermeister K. Die Präsidentin bedauert den Fall aus tiefstem Inneren heraus. Sie kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen, visionäre Träume quälen die verdienstvolle Frau. Ihrer Meinung nach wäre es höchste Zeit, daß die maßgebenden Faktoren endlich bessere Besserungsanstalten bauten, angesichts der sozialen Not.“ Ich blättere weiter. Ach, wer ist denn das? Richtig, das ist ja der Bäckermeister N, der Vater des Toten! Und auch seine Gattin ist abgebildet, Frau Elisabeth N, geborene S. „Ihre Frage“, sagt der Bäckermeister zum Mitarbeiter, „will ich gerne beantworten. Das unbestechliche Gericht wird es herauszufinden haben, ob unser ärmster Otto nicht doch nur das Opfer eines sträflichen Leichtsinns der Aufsichtsstelle geworden ist, ich denke jetzt ausschließlich an den Lehrer und keineswegs an den MA. Justitia fundamentum regnorum. Überhaupt müßte eine richtige Durchsiebung des Lehrpersonals erfolgen, es wimmelt noch vor lauter getarnten Staatsfeinden. Bei Philippi sehen wir uns wieder!“ Und die Frau Bäckermeister meint: „Ottochen war meine Sonne. Jetzt hab ich halt nurmehr meinen Gatten. Aber Ottochen und ich, wir stehen immer in einem geistigen Kontakt. Ich bin in einem spiritistischen Zirkel.“

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Ich lese weiter. In einer anderen Zeitung steht: „Die Mutter des Mörders wohnt in einer Dreizimmerwohnung. Sie ist die Witwe des Universitätsprofessors Z, der vor zirka zehn Jahren starb. Professor Z war ein angesehener Physiologe. Seine Studien über die Reaktion der Nerven anläßlich von Amputationen erregten nicht nur in Fachkreisen Aufsehen. Vor zirka zwanzig Jahren bildete er einige Zeit hindurch das Hauptangriffsziel des Vereins gegen Vivisektion. Frau Professor Z verweigert uns leider jede Aussage. Sie sagt nur: ‚Meine Herren, können Sie es sich denn nicht denken, was ich durchzumachen habe?‘ Sie ist eine mittelgroße Dame. Sie trug Trauer.“ Und in einer anderen Zeitung entdecke ich den Verteidiger des Angeklagten. Er hat auch mit mir schon dreimal gesprochen und scheint Feuer und Flamme für den Fall zu sein. Ein junger Anwalt, der weiß, was für ihn auf dem Spiele steht. Alle Mitarbeiter blicken auf ihn. Es ist ein langes Interview. „In diesem sensationellen Mordprozeß, meine Herren“, beginnt der Verteidiger sein Interview, „befindet sich die Verteidigung in einer prekären Situation. Sie hat nämlich ihre Klinge nicht nur gegen die Staatsanwaltschaft, sondern auch gegen den Angeklagten, den sie ja verteidigen muß, zu führen.“ „Wieso?“ „Der Angeklagte, meine Herren, bekennt sich eines Verbrechens wider die Person schuldig. Es ist Totschlag und nicht Mord, wie ich ganz besonders zu vermerken bitte. Aber trotz des Geständnisses des jugendlichen Angeklagten bin ich felsenfest davon überzeugt, daß er nicht der Täter ist. Meiner Überzeugung nach deckt er jemanden.“ „Sie wollen doch nicht behaupten, Herr Doktor, daß jemand anderer die Tat beging?“ „Doch meine Herren, das will ich sogar sehr behaupten! Abgesehen davon, daß mir dies auch ein undefinierbares Gefühl sagt, gewissermaßen der Jagdinstinkt des Kriminalisten, habe ich auch bestimmte Gründe für meine Behauptung. Er war es nicht! Überlegen Sie sich doch mal die Motive der Tat! Er erschlägt seinen Mitschüler, weil dieser sein Tagebuch las. Aber was stand denn in dem Tagebuch? Doch hauptsächlich die Affäre mit jenem verkommenen Mädchen. Er schützt das Mädchen und verkündet unüberlegt: ‚Jeder, der mein Tagebuch anrührt, stirbt!‘ – gewiß gewiß! Es spricht alles gegen ihn und doch auch wieder nicht alles. Abgesehen davon, daß die ganze Art und Weise seines Geständnisses einer ritterlichen Haltung nicht ganz entbehrt, ist es denn nicht auffallend, daß er über den eigentlichen Totschlag nicht spricht? Kein Wörtchen über den Hergang der Tat! Warum erzählt er sie uns nicht? Er sagt, er erinnere sich nicht mehr. Falsch! Er könnte sich nämlich gar nicht erinnern, denn er weiß es ja nicht, wie, wo und wann sein bedauernswerter Mitschüler erschlagen wurde. Er weiß nur, es geschah mit einem Stein. Man zeigt ihm Steine, er kann sich nicht mehr erinnern. Meine Herren, er deckt die Tat eines anderen!“ „Aber der zerrissene Rock und die Kratzer an den Händen?“ „Gewiß, er hat den N auf einem Felsen getroffen und hat mit ihm gerauft, das erzählt er uns ja auch mit allen Einzelheiten. Aber daß er ihm dann nachgeschlichen ist und hinterrücks mit einem Stein – nein-nein! Den N erschlug ein anderer, oder vielmehr: eine andere!“

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„Sie meinen jenes Mädchen?“ „Jawohl, die meine ich! Sie beherrschte ihn, sie beherrscht ihn noch immer. Er ist ihr hörig. Meine Herren, wir werden auch die Psychiater vernehmen!“ „Ist das Mädchen als Zeugin geladen?“ „Natürlich! Sie wurde kurz nach dem Morde in einer Höhle verhaftet und ist bereits längst abgeurteilt, samt ihrer Bande. Wir werden Eva sehen und hören, vielleicht schon morgen.“ „Wie lange wird der Prozeß dauern?“ „Ich rechne mit zwei bis drei Tagen. Es sind zwar nicht viele Zeugen geladen, aber, wie gesagt, ich werde mit dem Angeklagten scharf kämpfen müssen. Hart auf hart! Ich fechte es durch! Er wird wegen Diebstahlsbegünstigung verurteilt werden – Das ist alles!“ Ja, das ist alles. Von Gott spricht keiner.

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Vor dem Justizpalast standen dreihundert Menschen. Sie wollten alle hinein, doch das Tor war zu, denn die Einlaßkarten waren bereits seit Wochen vergeben. Meist durch Protektion, aber nun wurde streng kontrolliert. In den Korridoren kam man kaum durch. Alle wollten den Z sehen. Besonders die Damenwelt. Vernachlässigt und elegant, waren sie geil auf Katastrophen, von denen sie kein Kind bekommen konnten. Sie lagen mit dem Unglück anderer Leute im Bett und befriedigten sich mit einem künstlichen Mitleid. Die Pressetribüne war überfüllt. Als Zeugen waren u.a. geladen: die Eltern des N, die Mutter des Z, der Feldwebel, der R, der mit Z und N das Zelt geteilt hatte, die beiden Waldarbeiter, die die Leiche des Ermordeten gefunden hatten, der Untersuchungsrichter, die Gendarmen, usw. usw. Und natürlich auch ich. Und natürlich auch Eva. Aber die war noch nicht im Saal. Sie sollte erst vorgeführt werden. Der Staatsanwalt und der Verteidiger blättern in den Akten. Jetzt sitzt Eva in einer Einzelzelle und wartet, daß sie drankommt. Der Angeklagte erscheint. Ein Wachmann begleitet ihn. Er sieht aus wie immer. Nur bleicher ist er geworden, und mit den Augen zwinkert er. Es stört ihn das Licht. Sein Scheitel ist noch in Ordnung. Er setzt sich auf die Angeklagtenbank, als wärs eine Schulbank. Alle sehen ihn an. Er blickt kurz hin und erblickt seine Mutter. Er starrt sie an – Was rührt sich in ihm? Scheinbar nichts. Seine Mutter schaut ihn kaum an. Oder scheint es nur so? Denn sie ist dicht verschleiert – schwarz und schwarz, kein Gesicht.

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Der Feldwebel begrüßt mich und erkundigt sich, ob ich sein Interview gelesen hätte. Ich sage „ja“, und der Bäckermeister N horcht auf meine Stimme hin gehässig auf. Er könnt mich wahrscheinlich erschlagen. Mit einer altbackenen Semmel. S CHLEIER

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Der Präsident des Jugendgerichtshofes betritt den Saal, und alles erhebt sich. Er setzt sich und eröffnet die Verhandlung. Ein freundlicher Großpapa. Die Anklageschrift wird verlesen. Z wird nicht des Totschlags, sondern des Mordes angeklagt, und zwar des meuchlerischen. Der Großpapa nickt, als würde er sagen: „Oh, diese Kinder!“ Dann wendet er sich dem Angeklagten zu. Z erhebt sich. Er gibt seine Personalien an und ist nicht befangen. Nun soll er in freier Rede sein Leben erzählen. Er wirft einen scheuen Blick auf seine Mutter und wird befangen. Es wär so gewesen wie bei allen Kindern, fängt er dann leise an. Seine Eltern wären nicht besonders streng gewesen, wie eben alle Eltern. Sein Vater sei schon sehr bald gestorben. Er ist das einzige Kind. Die Mutter führt ihr Taschentuch an die Augen, aber oberhalb des Schleiers. Ihr Sohn erzählt, was er werden wollte – Ja, er wollte mal ein großer Erfinder werden. Aber er wollte nur Kleinigkeiten erfinden, wie zum Beispiel: einen neuartigen Reißverschluß. „Sehr vernünftig“, nickt der Präsident. „Aber wenn du nichts erfunden hättest?“ „Dann wäre ich Flieger geworden. Postflieger. Am liebsten nach Übersee.“ Zu den Negern? muß ich unwillkürlich denken. Und wie der Z so von seiner ehemaligen Zukunft spricht, rückt die Zeit immer näher und näher – Bald wird er da sein, der Tag, an dem der liebe Gott kam. Der Z schildert das Lagerleben, das Schießen, Marschieren, das Hissen der Flagge, den Feldwebel und mich. Und er sagt einen sonderbaren Satz: „Die Ansichten des Herrn Lehrers waren mir oft zu jung.“ Der Präsident staunt. „Wieso?“ „Weil der Herr Lehrer immer nur sagte, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.“ Der Präsident sieht den Z groß an. Fühlt er, daß nun ein Gebiet betreten wurde, wo das Radio regiert? Wo die Sehnsucht nach der Moral zum alten Eisen geworfen wird, während man vor der Brutalität der Wirklichkeit im Staube liegt? Ja, er scheint es zu fühlen, denn er sucht nach einer günstigen Gelegenheit, um die Erde verlassen zu können. Plötzlich fragt er den Z: „Glaubst du an Gott?“ „Ja“, sagt der Z, ohne zu überlegen. „Und kennst du das fünfte Gebot?“ „Ja.“

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„Bereust du deine Tat?“ Es wird sehr still im Saal. „Ja“, meint der Z, „ich bereue sie sehr.“ Sie klang aber unecht, die Reue. Der Präsident schneuzte sich. Das Verhör wandte sich dem Mordtag zu. Die Einzelheiten, die bereits jeder kannte, wurden abermals durchgekaut. „Wir sind sehr früh fortmarschiert“, erzählt der Z zum hundertstenmal, „und sind dann bald in einer Schwarmlinie durch das Dickicht gegen einen Höhenzug vorgerückt, der von dem markierten Feinde gehalten wurde. In der Nähe der Höhlen traf ich zufällig den N. Es war auf einem Felsen. Ich hatte eine riesige Wut auf den N, weil er mein Kästchen erbrochen hat. Er hat es zwar geleugnet –“ „Halt!“ unterbricht ihn der Präsident. „Der Herr Lehrer hat es hier in den Akten vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gegeben, daß du ihm gesagt hättest, der N hätte es dir gestanden, daß er das Kästchen erbrochen hat.“ „Das hab ich nur so gesagt.“ „Warum?“ „Damit kein Verdacht auf mich fällt, wenn es herauskommt.“ „Aha. Weiter!“ „Wir gerieten also ins Raufen, ich und der N, und er warf mich fast den Felsen hinab – Da wurd es mir rot vor den Augen, ich sprang wieder empor und warf ihm den Stein hinauf.“ „Auf dem Felsen?“ „Nein.“ „Sondern wo?“ „Das hab ich vergessen.“ Er lächelt. Es ist nichts aus ihm herauszubekommen. Er erinnert sich nicht mehr. „Und wo setzt sie wieder ein, deine Erinnerung?“ „Ich ging ins Lager zurück und schrieb es in mein Tagebuch hinein, daß ich mit dem N gerauft habe.“ „Ja, das ist die letzte Eintragung, aber du hast den letzten Satz nicht zu Ende geschrieben.“ „Weil mich der Herr Lehrer gestört hat.“ „Was wollte er von dir?“ „Ich weiß es nicht.“ „Nun, er wird es uns schon erzählen.“ Auf dem Gerichtstisch liegt das Tagebuch, ein Bleistift und ein Kompaß. Und ein Stein. Der Präsident fragt den Z, ob er den Stein wiedererkenne? Der Z nickt ja. „Und wem gehört der Bleistift, der Kompaß?“ „Die gehören nicht mir.“ „Sie gehören dem unglücklichen N“, sagt der Präsident und blickt wieder in die Akten. „Doch nein! Nur der Bleistift gehört dem N! Warum sagst du es denn nicht, daß der Kompaß dir gehört?“ Der Z wird rot.

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„Ich hab es vergessen“, entschuldigt er sich leise. Da erhebt sich der Verteidiger: „Herr Präsident, vielleicht gehört der Kompaß wirklich nicht ihm.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Damit will ich sagen, daß dieser fatale Kompaß, der dem N nicht gehört, vielleicht auch dem Z nicht gehört, sondern vielleicht einer dritten Person. Bitte mal den Angeklagten zu fragen, ob wirklich niemand dritter dabei war, als die Tat geschah.“ Er setzt sich wieder, und der Z wirft einen kurzen feindseligen Blick auf ihn. „Es war keinerlei dritte Person dabei“, sagt er fest. Da springt der Verteidiger auf: „Wieso erinnert er sich so fest daran, daß keine dritte Person dabei war, wenn er sich überhaupt nicht erinnern kann, wann, wie und wo die Tat verübt wurde?!“ Aber nun mischt sich auch der Staatsanwalt ins Gespräch. „Der Herr Verteidiger will anscheinend darauf hinaus“, meint er ironisch, „daß nicht der Angeklagte, sondern der große Unbekannte den Mord vollführte. Jawohl, der große Unbekannte –“ „Ich weiß nicht“, unterbricht ihn der Verteidiger, „ob man ein verkommenes Mädchen, das eine Räuberbande organisierte, so ohne weiteres als eine große Unbekannte bezeichnen darf –“ „Das Mädel war es nicht“, fällt ihm der Staatsanwalt ins Wort, „sie wurde weiß Gott eingehend genug verhört, wir werden ja auch den Herrn Untersuchungsrichter als Zeugen hören – Abgesehen davon, daß ja der Angeklagte die Tat glatt zugibt, er hat sie sogar sogleich zugegeben, was auch in gewisser Hinsicht für ihn spricht. Die Absicht der Verteidigung, die Dinge so hinzustellen, als hätte das Mädchen gemordet, und als würde der Z sie nur decken, führt zu Hirngespinsten!“ „Abwarten!“ lächelt der Verteidiger und wendet sich an den Z: „Steht es nicht schon in deinem Tagebuch, sie nahm einen Stein und warf ihn nach mir – und wenn der mich getroffen hätte, dann wär ich jetzt hin?“ Der Z sieht ihn ruhig an. Dann macht er eine wegwerfende Geste. „Ich hab übertrieben, es war nur ein kleiner Stein.“ Und plötzlich gibt er sich einen Ruck. „Verteidigen Sie mich nicht mehr, Herr Doktor, ich möchte bestraft werden für das, was ich tat!“ „Und deine Mutter?!“ schreit ihn sein Verteidiger an. „Denkst du denn gar nicht an deine Mutter, was die leidet?! Du weißt ja nicht, was du tust!“ Der Z steht da und senkt den Kopf. Dann blickt er auf seine Mutter. Fast forschend. Alle schauen sie an, aber sie können nichts sehen vor lauter Schleier. IN

DER

W OHNUNG

Vor Einvernahme der Zeugen schaltet der Präsident eine Pause ein. Es ist Mittag. Der Saal leert sich allmählich, der Angeklagte wird abgeführt. Staatsanwalt und Verteidiger blicken sich siegesgewiß an. Ich gehe in den Anlagen vor dem Justizpalast spazieren. Es ist ein trüber Tag, naß und kalt. Die Blätter fallen – Ja, es ist wieder Herbst geworden. Ich biege um eine Ecke und halte fast.

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Aber ich gehe gleich weiter. Auf der Bank sitzt die Mutter des Z. Sie rührt sich nicht. Sie ist eine mittelgroße Dame, fällt es mir ein. Unwillkürlich grüße ich. Sie dankt jedoch nicht. Wahrscheinlich hat sie mich gar nicht gesehen. Wahrscheinlich ist sie ganz anderswo – – Die Zeit, in der ich an keinen Gott glaubte, ist vorbei. Heute glaube ich an ihn. Aber ich mag ihn nicht. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er im Zeltlager mit dem kleinen R spricht und den Z nicht aus den Augen läßt. Er muß stechende, tückische Augen haben – kalt, sehr kalt. Nein, er ist nicht gut. Warum läßt er die Mutter des Z so sitzen? Was hat sie denn getan? Kann sie für das, was ihr Sohn verbrach? Warum verurteilt er die Mutter, wenn er den Sohn verdammt? Nein, er ist nicht gerecht. Ich will mir eine Zigarette anzünden. Zu dumm, ich hab sie zu Hause vergessen! Ich verlasse die Anlagen und suche ein Zigarettengeschäft. In einer Seitenstraße finde ich eines. Es ist ein kleines Geschäft und gehört einem uralten Ehepaar. Es dauert lang, bis der Alte die Schachtel öffnet und die Alte zehn Zigaretten zählt. Sie stehen sich gegenseitig im Wege, sind aber freundlich zueinander. Die Alte gibt mir zu wenig heraus, und ich mache sie lächelnd darauf aufmerksam. Sie erschrickt sehr. „Gottbehüt!“ meint sie, und ich denke, wenn dich Gott behütet, dann bist du ja wohl geborgen. Sie hat kein Kleingeld und geht hinüber zum Metzger wechseln. Ich bleib mit dem Alten zurück und zünde mir eine Zigarette an. Er fragt, ob ich einer vom Gericht wär, denn bei ihm kauften hauptsächlich Herren vom Gericht. Und schon fängt er auch mit dem Mordprozeß an. Der Fall sei nämlich riesig interessant, denn da könnte man deutlich Gottes Hand darin beobachten. Ich horche auf. Gottes Hand? „Ja“, sagt er, „denn in diesem Falle scheinen alle Beteiligten schuld zu sein. Auch die Zeugen, der Feldwebel, der Lehrer – und auch die Eltern.“ „Die Eltern?“ „Ja. Denn nicht nur die Jugend, auch die Eltern kümmern sich nicht mehr um Gott. Sie tun, als wär er gar nicht da.“ Ich blicke auf die Straße hinaus. Die Alte verläßt die Metzgerei und geht nach rechts zum Bäcker. Aha, der Metzger konnte auch nicht wechseln. Es ist niemand auf der Straße zu sehen, und plötzlich werde ich einen absonderlichen Gedanken nicht mehr los: Es hat etwas zu bedeuten, denke ich, daß der Metzger nicht wechseln kann. Es hat etwas zu bedeuten, daß ich hier warten muß. Ich sehe die hohen grauen Häuser und sage: „Wenn man nur wüßte, wo Gott wohnt.“ „Er wohnt überall, wo er nicht vergessen wurde“, höre ich die Stimme des Alten. „Er wohnt auch hier bei uns, denn wir streiten uns nie.“ Ich halte den Atem an.

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Was war das? War das noch die Stimme des Alten? Nein, das war nicht seine – Das war eine andere Stimme. Wer sprach da zu mir? Ich dreh mich nicht um. Und wieder höre ich die Stimme: „Wenn du als Zeuge aussagst und meinen Namen nennst, dann verschweige es nicht, daß du das Kästchen erbrochen hast.“ Das Kästchen? Nein! Da werd ich doch nur bestraft, weil ich den Dieb nicht verhaften ließ! „Das sollst du auch!“ Aber ich verliere auch meine Stellung, mein Brot – „Du mußt es verlieren, damit kein neues Unrecht entsteht.“ Und meine Eltern?! Ich unterstütze sie ja! „Soll ich dir deine Kindheit zeigen?“ Meine Kindheit? Die Mutter keift, der Vater schimpft. Sie streiten sich immer. Nein, hier wohnst du nicht. Hier gehst du nur vorbei, und dein Kommen bringt keine Freude – Ich möchte weinen. „Sage es“, höre ich die Stimme, „sage es, daß du das Kästchen erbrochen hast. Tu mir den Gefallen und kränke mich nicht wieder.“ D ER K OMPASS

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Der Prozeß schreitet fort. Die Zeugen sind dran. Die Waldarbeiter, die Gendarmen, der Untersuchungsrichter, der Feldwebel, sie habens schon hinter sich. Auch der Bäckermeister N und seine Gattin Elisabeth sagten schon, was sie wußten. Sie wußten alle nichts. Der Bäckermeister brachte es nicht übers Herz, meine Ansicht über die Neger unerwähnt zu lassen. Er richtete heftige Vorwürfe gegen meine verdächtige Gesinnung, und der Präsident sah ihn mißbilligend an, wagte es aber nicht, ihn zu unterbrechen. Jetzt wird die Mutter des Z aufgerufen. Sie erhebt sich und tritt vor. Der Präsident setzt es ihr auseinander, daß sie sich ihrer Zeugenaussage entschlagen könnte, doch sie fällt ihm ins Wort, sie wolle aussagen. Sie spricht, nimmt jedoch den Schleier nicht ab. Sie hat ein unangenehmes Organ. Der Z sei ein stilles, jedoch jähzorniges Kind, erzählt sie, und diesen Jähzorn hätte er von seinem Vater geerbt. Krank wäre er nie gewesen, nur so die gewöhnlichen harmlosen Kinderkrankheiten hätte er durchgemacht. Geistige Erkrankungen wären in der Familie auch nicht vorgekommen, weder väterlicher- noch mütterlicherseits. Plötzlich unterbricht sie sich selber und fragt: „Herr Präsident, darf ich an meinen Sohn eine Frage richten?“ „Bitte!“ Sie tritt an den Gerichtstisch, nimmt den Kompaß in die Hand und wendet sich ihrem Sohne zu.

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„Seit wann hast du denn einen Kompaß?“ fragt sie und es klingt wie Hohn. „Du hast doch nie einen gehabt, wir haben uns ja noch gestritten vor deiner Abreise ins Lager, weil du sagtest, alle haben einen, nur ich nicht, und ich werde mich verirren ohne Kompaß – Woher hast du ihn also?“ Der Z starrt sie an. Sie wendet sich triumphierend an den Präsidenten: „Es ist nicht sein Kompaß, und den Mord hat der begangen, der diesen Kompaß verloren hat!“ Der Saal murmelt, und der Präsident fragt den Z: „Hörst du, was deine Mutter sagt?“ Der Z starrt sie noch immer an. „Ja“, sagt er langsam. „Meine Mutter lügt.“ Der Verteidiger schnellt empor: „Ich beantrage, ein Fakultätsgutachten über den Geisteszustand des Angeklagten einzuholen!“ Der Präsident meint, das Gericht würde sich später mit diesem Antrag befassen. Die Mutter fixiert den Z: „Ich lüge, sagst du?“ „Ja.“ „Ich lüge nicht!“ brüllt sie plötzlich los. „Nein, ich habe noch nie in meinem Leben gelogen, aber du hast immer gelogen, immer! Ich sage die Wahrheit und nur die Wahrheit, aber du willst doch nur dieses dreckige Weibsbild beschützen, dieses verkommene Luder!“ „Das ist kein Luder!“ „Halt den Mund!“ kreischt die Mutter und wird immer hysterischer. „Du denkst eh immer nur an lauter solche elende Fetzen, aber nie denkst du an deine arme Mutter!“ „Das Mädel ist mehr wert wie du!“ „Ruhe!“ schreit der Präsident empört und verurteilt den Z wegen Zeugenbeleidigung zu zwei Tagen Haft. „Unerhört“, fährt er ihn an, „wie du deine eigene Mutter behandelst! Das läßt aber tief blicken!“ Jetzt verliert der Z seine Ruhe. Der Jähzorn, den er von seinem Vater geerbt hat, bricht aus. „Das ist doch keine Mutter!“ schreit er. „Nie kümmert sie sich um mich, immer nur um ihre Dienstboten! Seit ich lebe, höre ich ihre ekelhafte Stimme, wie sie in der Küche die Mädeln beschimpft!“ „Er hat immer zu den Mädeln gehalten, Herr Präsident! Genau wie mein Mann!“ Sie lacht kurz. „Lach nicht, Mutter!“ herrscht sie der Sohn an. „Erinnerst du dich an die Thekla?!“ „An was für eine Thekla?!“ „Sie war fünfzehn Jahre alt, und du hast sie sekkiert, wo du nur konntest! Bis elf Uhr nachts mußte sie bügeln und morgens um halbfünf schon aufstehen, und zu fressen hat sie auch nichts bekommen! Und dann ist sie weg – Erinnerst du dich?“ „Ja, sie hat gestohlen!“ „Um fort zu können! Ich war damals sechs Jahre alt und weiß es noch genau, wie der Vater nach Haus gekommen ist und gesagt hat, das arme Mädel ist erwischt worden, sie kommt in die Besserungsanstalt! Und daran warst du schuld, nur du!“ „Ich?!“ „Vater hat es auch gesagt!“

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„Vater, Vater! Der hat vieles gesagt!“ „Vater hat nie gelogen! Ihr habt euch damals entsetzlich gestritten, und Vater schlief nicht zu Haus, erinnerst du dich? Und so ein Mädel wie die Thekla, so eines ist auch die Eva – genau so! Nein, Mutter, ich mag dich nicht mehr!“ Es wurde sehr still im Saal. Dann sagt der Präsident: „Ich danke, Frau Professor!“ D AS K ÄSTCHEN

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Nun bin ich dran. Es ist bereits dreiviertelfünf. Ich werde als Zeuge vereidigt. Ich schwöre bei Gott, nach bestem Gewissen die Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen. Jawohl, nichts zu verschweigen. Während ich schwöre, wird der Saal unruhig. Was gibts? Ich dreh mich kurz um und erblicke Eva. Sie setzt sich gerade auf die Zeugenbank, begleitet von einer Gefängnisbeamtin. Ihre Augen wollt ich mal sehen, geht es mir durch den Sinn. Ich werde sie mir anschauen, sowie ich alles gesagt haben werde. Jetzt komme ich nicht dazu. Ich muß ihr den Rücken zeigen, denn vor mir steht das Kruzifix. Sein Sohn. Ich schiele nach dem Z. Er lächelt. Ob sie jetzt wohl auch lächelt – hinter meinem Rücken? Ich beantworte die Fragen des Präsidenten. Er streift auch wieder die Neger – Ja, wir verstehen uns. Ich stelle dem N ein gutes Zeugnis aus und ebenso dem Z. Beim Mord war ich nicht dabei. Der Präsident will mich schon entlassen, da falle ich ihm ins Wort: „Nur noch eine Kleinigkeit, Herr Präsident!“ „Bitte!“ „Jenes Kästchen, in welchem das Tagebuch des Z lag, erbrach nicht der N.“ „Nicht der N? Sondern?“ „Sondern ich. Ich war es, der das Kästchen mit einem Draht öffnete.“ Die Wirkung dieser Worte war groß. Der Präsident ließ den Bleistift fallen, der Verteidiger schnellte empor, der Z glotzte mich an mit offenem Munde, seine Mutter schrie auf, der Bäckermeister wurde bleich wie Teig und griff sich ans Herz. Und Eva? Ich weiß es nicht. Ich fühle nur eine allgemeine ängstliche Unruhe hinter mir. Es murrt, es tuschelt. Der Staatsanwalt erhebt sich hypnotisiert und deutet langsam mit dem Finger nach mir. „Sie?!“ fragt er gedehnt. „Ja“, sage ich und wundere mich über meine Ruhe. Ich fühle mich wunderbar leicht. Und erzähle nun alles.

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Warum ich das Kästchen erbrach, und weshalb ich es dem Z nicht sogleich gestand. Weil ich mich nämlich schämte, aber es war auch eine Feigheit dabei. Ich erzähle alles. Weshalb ich das Tagebuch las, und warum ich keine gesetzlichen Konsequenzen zog, denn ich wollte einen Strich durch eine Rechnung ziehen. Einen dicken Strich. Durch eine andere Rechnung. Ja, ich war dumm! Ich bemerke, daß der Staatsanwalt zu notieren beginnt, aber das stört mich nicht. Alles, alles! Erzähl nur zu! Auch Adam und Eva. Und die finsteren Wolken und den Mann im Mond! Als ich fertig bin, steht der Staatsanwalt auf. „Ich mache den Herrn Zeugen darauf aufmerksam, daß er sich über die Konsequenzen seiner interessanten Aussage keinerlei Illusionen hingeben soll. Die Staatsanwaltschaft behält es sich vor, Anklage wegen Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung zu erheben.“ „Bitte“, verbeuge ich mich leicht, „ich habe geschworen, nichts zu verschweigen.“ Da brüllt der Bäckermeister: „Er hat meinen Sohn am Gewissen, nur er!“ Er bekommt einen Herzanfall und muß hinausgeführt werden. Seine Gattin hebt drohend den Arm: „Fürchten Sie sich“, ruft sie mir zu, „fürchten Sie sich vor Gott!“ Nein, ich fürchte mich nicht mehr vor Gott. Ich spüre den allgemeinen Abscheu um mich herum. Nur zwei Augen verabscheuen mich nicht. Sie ruhen auf mir. Still, wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat. Eva, bist du schon der Herbst? V ERTRIEBEN

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AUS DEM

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Eva wird nicht vereidigt. „Kennst du das?“ fragt sie der Präsident und hebt den Kompaß hoch. „Ja“, sagt sie, „das zeigt die Richtungen an.“ „Weißt du, wem der gehört?“ „Mir nicht, aber ich kann es mir denken.“ „Schwindel nur nicht!“ „Ich schwindle nicht. Ich möcht jetzt genau so die Wahrheit sagen wie der Herr Lehrer.“ Wie ich? Der Staatsanwalt lächelt ironisch. Der Verteidiger läßt sie nicht aus den Augen. „Also los!“ meint der Präsident. Und Eva beginnt: „Als ich den Z in der Nähe unserer Höhle traf, kam der N daher.“ „Du warst also dabei?“ „Ja.“ „Und warum sagst du das erst jetzt? Warum hast du denn die ganze Untersuchung über gelogen, daß du nicht dabei warst, wie der Z den N erschlug?!“ „Weil der Z nicht den N erschlug.“ „Nicht der Z?! Sondern?!“

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Ungeheuer ist die Spannung. Alles im Saal beugt sich vor. Sie beugen sich über das Mädchen, aber das Mädchen wird nicht kleiner. Der Z ist sehr blaß. Und Eva erzählt: „Der Z und der N rauften fürchterlich, der N war stärker und warf den Z über den Felsen hinab. Ich dachte, jetzt ist er hin, und ich wurde sehr wild, und ich dachte auch, er kennt ja das Tagebuch und weiß alles von mir – Ich nahm einen Stein, diesen Stein da, und lief ihm nach. Ich wollte ihm den Stein auf den Kopf schlagen, ja, ich wollte, aber plötzlich sprang ein fremder Junge aus dem Dickicht, entriß mir den Stein und eilte dem N nach. Ich sah, wie er ihn einholte und mit ihm redete. Es war bei einer Lichtung. Den Stein hielt er noch immer in der Hand. Ich versteckte mich, denn ich hatte Angst, daß die beiden zurückkommen. Aber sie kamen nicht, sie gingen eine andere Richtung, der N zwei Schritt voraus. Auf einmal hebt der Fremde den Stein und schlägt ihn von hinten dem N auf den Kopf. Der N fiel hin und rührte sich nicht. Der Fremde beugte sich über ihn und betrachtete ihn, dann schleifte er ihn fort. In einen Graben. Er wußte es nicht, daß ich alles beobachtete. Ich lief dann zum Felsen zurück und traf dort den Z. Er tat sich nichts durch den Sturz, nur sein Rock war zerrissen und seine Hände waren zerkratzt.“ – – Der Verteidiger findet als erster seine Sprache wieder: „Ich stelle den Antrag, die Anklage gegen Z fallen zu lassen –“ „Moment, Herr Doktor“, unterbricht ihn der Präsident und wendet sich an den Z, der das Mädel immer noch entgeistert anstarrt. „Ist das wahr, was sie sagte?“ „Ja“, nickt leise der Z. „Hast du es denn auch gesehen, daß ein fremder Junge den N erschlug?“ „Nein, das habe ich nicht gesehen.“ „Na also!“ atmet der Staatsanwalt erleichtert auf und lehnt sich befriedigt zurück. „Er sah nur, daß ich den Stein erhob und dem N nachlief“, sagt Eva. „Also warst du es, die ihn erschlug“, konstatiert der Verteidiger. Aber das Mädchen bleibt ruhig. „Ich war es nicht.“ Sie lächelt sogar. „Wir kommen noch darauf zurück“, meint der Präsident. „Ich möchte jetzt nur hören, warum ihr das bis heute verschwiegen habt, wenn ihr unschuldig seid. Nun?“ Die beiden schweigen. Dann beginnt wieder das Mädchen: „Der Z hat es auf sich genommen, weil er gedacht hat, daß ich den N erschlagen hätt. Er hat es mir nicht glauben wollen, daß es ein anderer tat.“ „Und wir sollen es dir glauben?“ Jetzt lächelt sie wieder. „Ich weiß es nicht, es ist aber so –“ „Und du hättest ruhig zugeschaut, daß er unschuldig verurteilt wird?“ „Ruhig nicht, ich hab ja genug geweint, aber ich hatte so Angst vor der Besserungsanstalt – und dann, dann hab ichs doch jetzt gesagt, daß er es nicht gewesen ist.“ „Warum erst jetzt?“ „Weil halt der Herr Lehrer auch die Wahrheit gesagt hat.“ „Sonderbar!“ grinst der Staatsanwalt. „Und wenn der Herr Lehrer nicht die Wahrheit gesagt hätte?“ erkundigt sich der Präsident.

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„Dann hätte auch ich geschwiegen.“ „Ich denke“, meint der Verteidiger sarkastisch, „Du liebst den Z. Die wahre Liebe ist das allerdings nicht.“ Man lächelt. Eva blickt den Verteidiger groß an. „Nein“, sagt sie leise, „ich liebe ihn nicht.“ Der Z schnellt empor. „Ich hab ihn auch nie geliebt“, sagt sie etwas lauter und senkt den Kopf. Der Z setzt sich langsam wieder und betrachtet seine rechte Hand. Er wollte sie beschützen, aber sie liebt ihn nicht. Er wollte sich für sie verurteilen lassen, aber sie liebte ihn nie. Es war nur so – An was denkt jetzt der Z? Denkt er an seine ehemalige Zukunft? An den Erfinder, den Postflieger? Es war alles nur so – Bald wird er Eva hassen. D ER F ISCH

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„Nun“, fährt der Präsident fort, Eva zu verhören, „du hast also den N mit diesem Steine hier verfolgt?“ „Ja.“ „Und du wolltest ihn erschlagen?“ „Aber ich tat es nicht!“ „Sondern?“ „Ich habs ja schon gesagt, es kam ein fremder Junge, der stieß mich zu Boden und lief mit dem Stein dem N nach.“ „Wie sah denn dieser fremde Junge aus?“ „Es ging alles so rasch, ich weiß es nicht –“ „Ach, der große Unbekannte!“ spöttelt der Staatsanwalt. „Würdest du ihn wiedererkennen?“ läßt der Präsident nicht locker. „Vielleicht. Ich erinner mich nur, er hatte helle, runde Augen. Wie ein Fisch.“ Das Wort versetzt mir einen ungeheueren Hieb. Ich springe auf und schreie: „Ein Fisch?!“ „Was ist Ihnen?“ fragt der Präsident und wundert sich. Alles staunt. Ja, was ist mir denn nur? Ich denke an einen illuminierten Totenkopf. Es kommen kalte Zeiten, höre ich Julius Caesar, das Zeitalter der Fische. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches. Zwei helle, runde Augen sehen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz. Es ist der T. Er steht an dem offenen Grabe. Er steht auch im Zeltlager und lächelt leise, überlegen spöttisch. Hat er es schon gewußt, daß ich das Kästchen erbrochen hab? Hat auch er das Tagebuch gekannt? Hat er spioniert?

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Ist er dem Z nachgeschlichen und dem N? Er lächelt seltsam starr. Ich rühre mich nicht. Und wieder fragt der Präsident: „Was ist Ihnen?“ Soll ich es sagen, daß ich an den T denke? Unsinn! Warum sollte denn der T den N erschlagen haben? Es fehlt doch jedes Motiv – Und ich sage: „Verzeihung, Herr Präsident, aber ich bin etwas nervös.“ „Begreiflich!“ grinst der Staatsanwalt. Ich verlasse den Saal. Ich weiß, sie werden den Z freisprechen und das Mädel verurteilen. Aber ich weiß auch, es wird sich alles ordnen. Morgen oder übermorgen wird die Untersuchung gegen mich eingeleitet werden. Wegen Irreführung der Behörde und Diebstahlsbegünstigung. Man wird mich vom Lehramt suspendieren. Ich verliere mein Brot. Aber es schmerzt mich nicht. Was werd ich fressen? Komisch, ich hab keine Sorgen. Die Bar fällt mir ein, in der ich Julius Caesar traf. Sie ist nicht teuer. Aber ich besaufe mich nicht. Ich geh heim und leg mich nieder. Ich hab keine Angst mehr vor meinem Zimmer. Wohnt er jetzt auch bei mir? ER

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BEISST NICHT AN

Richtig, im Morgenblatt steht es bereits! Der Z wurde nur wegen Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung unter Zubilligung mildernder Umstände zu einer kleinen Freiheitsstrafe verurteilt, aber gegen das Mädchen erhob der Staatsanwalt die Anklage wegen Verbrechens des meuchlerischen Mordes. Der neue Prozeß dürfte in drei Monaten stattfinden. Das verkommene Geschöpf hat zwar hartnäckig ihre Unschuld beteuert, schreibt der Gerichtssaalberichterstatter, aber es war wohl niemand zugegen, der ihrem Geschrei irgendwelchen Glauben geschenkt hat. Wer einmal lügt, lügt bekanntlich auch zweimal! Selbst der Angeklagte Z reichte ihr am Ende der Verhandlung nicht mehr die Hand, als sie sich von der Gefängnisbeamtin losriß, zu ihm hinstürzte und ihn um Verzeihung bat, daß sie ihn nie geliebt hätte! Aha, er haßt sie bereits! Jetzt ist sie ganz allein. Ob sie noch immer schreit? Schrei nicht, ich glaube dir – Warte nur, ich werde den Fisch fangen. Aber wie? Ich muß mit ihm sprechen, und zwar so bald wie möglich!

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Mit der Morgenpost erhielt ich bereits ein Schreiben von der Aufsichtsbehörde: Ich darf das Gymnasium nicht mehr betreten, solange die Untersuchung gegen mich läuft. Ich weiß, ich werde es nie mehr betreten, denn man wird mich glatt verurteilen. Und zwar ohne Zubilligung mildernder Umstände. Aber das geht mich jetzt nichts an! Denn ich muß einen Fisch fangen, damit ich sie nicht mehr schreien höre. Meine Hausfrau bringt das Frühstück und benimmt sich scheu. Sie hat meine Zeugenaussage in der Zeitung gelesen, und der Wald rauscht. Die Mitarbeiter schreiben: „Der Lehrer als Diebshelfer“ – Und einer schreibt sogar, ich wäre ein geistiger Mörder. Keiner nimmt meine Partei. Gute Zeiten für den Herrn Bäckermeister N, falls ihn heut nacht nicht der Teufel geholt hat! – Mittags stehe ich in der Nähe des Gymnasiums, das ich nicht mehr betreten darf, und warte auf Schulschluß. Endlich verlassen die Schüler das Haus. Auch einige Kollegen. Sie können mich nicht sehen. Und jetzt kommt der T. Er ist allein und biegt nach rechts ab. Ich gehe ihm langsam entgegen. Er erblickt mich und stutzt einen Augenblick. Dann grüßt er und lächelt. „Gut, daß ich dich treffe“, spreche ich ihn an, „denn ich hätte Verschiedenes mit dir zu besprechen.“ „Bitte“, verbeugt er sich höflich. „Doch hier auf der Straße ist zuviel Lärm, komm, gehen wir in eine Konditorei, ich lade dich ein auf ein Eis!“ „Oh danke!“ Wir sitzen in der Konditorei. Der Fisch bestellt sich Erdbeer und Zitrone. Er löffelt das Eis. Selbst wenn er frißt, lächelt er, stelle ich fest. Und plötzlich überfalle ich ihn mit dem Satz: „Ich muß mit dir über den Mordprozeß sprechen.“ Er löffelt ruhig weiter. „Schmeckts?“ „Ja.“ Wir schweigen. „Sag mal“, beginne ich wieder, „glaubst du, daß das Mädel den N erschlagen hat?“ „Ja.“ „Du glaubst es also nicht, daß es ein fremder Junge tat?“ „Nein. Das hat sie nur erfunden, um sich herauszulügen.“ Wir schweigen wieder. Plötzlich löffelt er nicht mehr weiter und sieht mich mißtrauisch an: „Was wollen Sie eigentlich von mir, Herr Lehrer?“

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„Ich dachte“, sage ich langsam und blicke in seine runden Augen, „daß du es vielleicht ahnen wirst, wer jener fremde Junge war.“ „Wieso?“ Ich wage es und lüge: „Weil ich es weiß, daß du immer spionierst.“ „Ja“, sagt er ruhig, „ich habe Verschiedenes beobachtet.“ Jetzt lächelt er wieder. Wußte er es, daß ich das Kästchen erbrochen hab? Und ich frage: „Hast du das Tagebuch gelesen?“ Er fixiert mich: „Nein. Aber ich habe Sie, Herr Lehrer, beobachtet, wie Sie sich fortgeschlichen haben und dem Z und dem Mädel zugeschaut haben –“ Es wird mir kalt. Er beobachtet mich. „Sie haben mir damals ins Gesicht gelangt, denn ich stand hinter Ihnen. Sie sind furchtbar erschrocken, aber ich hab keine Angst, Herr Lehrer.“ Er löffelt wieder ruhig sein Eis. Und es fällt mir plötzlich auf, daß er sich an meiner Verwirrung gar nicht weidet. Er wirft nur manchmal einen lauernden Blick auf mich, als würde er etwas registrieren. Komisch, ich muß an einen Jäger denken. An einen Jäger, der kühl zielt und erst dann schießt, wenn er sicher trifft. Der keine Lust dabei empfindet. Aber warum jagt er denn dann? Warum, warum? „Hast du dich eigentlich mit dem N vertragen?“ „Ja, wir standen sehr gut.“ Wie gerne möchte ich ihn nun fragen: Und warum hast du ihn denn dann erschlagen? Warum, warum?! „Sie fragen mich, Herr Lehrer“, sagt er plötzlich, „als hätte ich den N erschlagen. Als wär ich der fremde Junge, wo Sie doch wissen, daß niemand weiß, wie der aussah, wenn es ihn überhaupt gegeben hat. Selbst das Mädel weiß ja nur, daß er Fischaugen gehabt hat –“ Und du? denke ich. „– und ich hab doch keine Fischaugen, sondern ich hab helle Rehaugen, meine Mama sagts auch und überhaupt alle. Warum lächeln Sie, Herr Lehrer? Viel eher wie ich haben Sie Fischaugen –“ „Ich?!“ „Wissen Sie denn nicht, Herr Lehrer, was Sie in der Schule für einen Spitznamen haben? Haben Sie ihn nie gehört? Sie heißen der Fisch.“ Er nickt mir lächelnd zu. „Ja, Herr Lehrer, weil Sie nämlich immer so ein unbewegliches Gesicht haben. Man weiß nie, was Sie denken und ob Sie sich überhaupt um einen kümmern. Wir sagen immer, der Herr Lehrer beobachtet nur, da könnt zum Beispiel jemand auf der Straße überfahren worden sein, er würde nur beobachten, wie der Überfahrene da liegt, nur damit ers genau weiß, und er tät nichts dabei empfinden, auch wenn der draufging –“ Er stockt plötzlich, als hätte er sich verplappert, und wirft einen erschrockenen Blick auf mich, aber nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Warum? Aha, du hast den Haken schon im Maul gehabt, hast es dir aber wieder überlegt.

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Du wolltest schon anbeißen, da merktest du die Schnur. Jetzt schwimmst du in dein Meer zurück. Du hängst noch nicht, aber du hast dich verraten. Warte nur, ich fange dich! Er erhebt sich: „Ich muß jetzt heim, das Essen wartet, und wenn ich zu spät komm, krieg ich einen Krach.“ Er bedankt sich für das Eis und geht. Ich sehe ihm nach und höre das Mädchen schreien. F AHNEN Als ich am nächsten Tage erwachte, wußte ich, daß ich viel geträumt hatte. Ich wußte nur nicht mehr, was. Es war ein Feiertag. Man feierte den Geburtstag des Oberplebejers. Die Stadt hing voller Fahnen und Transparente. Durch die Straßen marschieren die Mädchen, die den verschollenen Flieger suchen, die Jungen, die alle Neger sterben lassen, und die Eltern, die die Lügen glauben, die auf den Transparenten stehen. Und die sie nicht glauben, marschieren ebenfalls mit. Divisionen der Charakterlosen unter dem Kommando von Idioten. Im gleichen Schritt und Tritt. Sie singen von einem Vögelchen, das auf einem Heldengrabe zwitschert, von einem Soldaten, der im Gas erstickt, von den schwarzbraunen Mädchen, die den zuhausegebliebenen Dreck fressen, und von einem Feinde, den es eigentlich gar nicht gibt. So preisen die Schwachsinnigen und Lügner den Tag, an dem der Oberplebejer geboren ward. Und wie ich so denke, konstatierte ich mit einer gewissen Befriedigung, daß auch aus meinem Fenster ein Fähnchen flattert. Ich hab es bereits gestern abend hinausgehängt. Wer mit Verbrechern und Narren zu tun hat, muß verbrecherisch und närrisch handeln, sonst hört er auf. Mit Haut und Haar. Er muß sein Heim beflaggen, auch wenn er kein Heim mehr hat. Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit, und die Lüge kommt. Die Lüge, die Mutter aller Sünden. Fahnen heraus! Lieber Brot als tot! – So dachte ich, als es mir plötzlich einfiel: Was denkst du da? Hast du es denn vergessen, daß du vom Lehramt suspendiert bist? Du hast doch keinen Meineid geschworen und hast es gesagt, daß du das Kästchen erbrochen hast. Häng nur deine Fahne hinaus, huldige dem Oberplebejer, krieche im Staub vor dem Dreck und lüge, was du kannst – Es bleibt dabei! Du hast dein Brot verloren! Vergiß es nicht, daß du mit einem höheren Herrn gesprochen hast! Du lebst noch im selben Haus, aber in einem höheren Stock. Auf einer anderen Ebene, in einer anderen Wohnung. Merkst du es denn nicht, daß dein Zimmer kleiner geworden ist? Auch die Möbel, der Schrank, der Spiegel –

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Du kannst dich noch sehen im Spiegel, er ist immer noch groß genug – gewiß, gewiß! Du bist auch nur ein Mensch, der möchte, daß seine Krawatte richtig sitzt. Doch sieh mal zum Fenster hinaus! Wie entfernt ist alles geworden! Wie winzig sind plötzlich die großen Gebieter und wie arm die reichen Plebejer! Wie lächerlich! Wie verwaschen die Fahnen! Kannst du die Transparente noch lesen? Nein. Hörst du noch das Radio? Kaum. Das Mädchen müßte gar nicht so schreien, damit sie es übertönt. Sie schreit auch nicht mehr. Sie weint nur leise. Aber sie übertönt alles.

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Ich putz mir gerade die Zähne, als meine Hausfrau erscheint. „Es ist ein Schüler draußen, der Sie sprechen möcht.“ „Einen Moment!“ Die Hausfrau geht, und ich ziehe meinen Morgenrock an. Ein Schüler? Was will er? Ich muß an den T denken. Den Morgenrock hab ich zu Weihnachten bekommen. Von meinen Eltern. Sie sagten schon immer: „Du kannst doch nicht ohne Morgenrock leben!“ Er ist grün und lila. Meine Eltern haben keinen Farbensinn. Es klopft. „Herein!“ Der Schüler tritt ein und verbeugt sich. Ich erkenne ihn nicht sogleich – Richtig, das ist der eine B! Ich hatte fünf B’s in der Klasse, aber dieser B fiel mir am wenigsten auf. Was will er? Wie kommt es, daß er draußen nicht mitmarschiert? „Herr Lehrer“, beginnt er, „ich hab es mir lange überlegt, ob es vielleicht wichtig ist – Ich glaube, ich muß es sagen.“ „Was?“ „Es hat mir keine Ruh gelassen, die Sache mit dem Kompaß.“ „Kompaß?“ „Ja, ich hab es nämlich in der Zeitung gelesen, daß bei dem toten N ein Kompaß gefunden worden ist, von dem niemand weiß, wem er gehört –“ „Na und?“ „Ich weiß, wer den Kompaß verloren hat.“ „Wer?!“ „Der T.“ Der T?! durchzuckt es mich. Schwimmst du wieder heran? Taucht dein Kopf aus den finsteren Wassern auf – Siehst du das Netz? Er schwimmt, er schwimmt – –

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„Woher weißt du es, daß der Kompaß dem T gehört?“ frage ich den B und befleißige mich, gleichgültig zu scheinen. „Weil er ihn überall gesucht hat, wir schliefen nämlich im selben Zelt.“ „Du willst doch nicht sagen, daß der T mit dem Mord irgendwas zu tun hat?“ Er schweigt und blickt in die Ecke. Ja, er will es sagen. „Du traust das dem T zu?“ Er sieht mich groß an, fast erstaunt. „Ich traue jedem alles zu“, sagt er. „Aber doch nicht einen Mord!“ „Warum nicht?“ Er lächelt – nein, nicht spöttisch. Eher traurig. „Aber warum hätte denn der T den N ermorden sollen, warum? Es fehlt doch jedes Motiv!“ „Der T sagte immer, der N sei sehr dumm.“ „Aber das wär doch noch kein Grund!“ „Das noch nicht. Aber wissen Sie, Herr Lehrer, der T ist entsetzlich wißbegierig, immer möcht er alles genau wissen, wie es wirklich ist, und er hat mir mal gesagt, er möcht es gern sehen, wie einer stirbt.“ „Was?!“ „Ja, er möcht es sehen, wie das vor sich geht – Er hat auch immer davon phantasiert, daß er mal zuschauen möcht, wenn ein Kind auf die Welt kommt.“ Ich trete ans Fenster, ich kann momentan nichts reden. Draußen marschieren sie noch immer, die Eltern und die Kinder. Und es fällt mir plötzlich wieder auf, wieso dieser B hier bei mir ist. „Warum marschierst du eigentlich nicht mit?“ frage ich ihn. „Das ist doch deine Pflicht!“ Er grinst. „Ich hab mich krankgemeldet.“ Unsere Blicke treffen sich. Verstehen wir uns? „Ich verrate dich nicht“, sage ich. „Das weiß ich“, sagt er. Was weißt du? denke ich. „Ich mag nicht mehr marschieren, und das Herumkommandiertwerden kann ich auch nicht mehr ausstehen, da schreit dich ein jeder an, nur weil er zwei Jahr älter ist! Und dann die faden Ansprachen, immer dasselbe, lauter Blödsinn!“ Ich muß lächeln. „Hoffentlich bist du der einzige in der Klasse, der so denkt!“ „Oh nein! Wir sind schon zu viert!“ Zu viert? Schon? Und seit wann? „Erinnern Sie sich, Herr Lehrer, wie Sie damals die Sache über die Neger gesagt haben, noch im Frühjahr vor unserem Zeltlager? Damals haben wir doch alle unterschrieben, daß wir Sie nicht mehr haben wollen – Aber ich tats nur unter Druck, denn Sie haben natürlich sehr recht gehabt mit den Negern. Und dann allmählich fand ich noch drei, die auch so dachten.“ „Wer sind denn die drei?“ „Das darf ich nicht sagen. Das verbieten mir unsere Satzungen.“ „Satzungen?“

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„Ja, wir haben nämlich einen Klub gegründet. Jetzt sind noch zwei dazugekommen, aber das sind keine Schüler. Der eine ist ein Bäckerlehrling und der andere ein Laufbursch.“ „Einen Klub?“ „Wir kommen wöchentlich zusammen und lesen alles, was verboten ist.“ „Aha!“ Wie sagte Julius Caesar? Sie lesen heimlich alles, aber nur, um es verspotten zu können. Ihr Ideal ist der Hohn, es kommen kalte Zeiten. Und ich frage den B: „Und dann sitzt ihr beieinander in euerem Klub und spöttelt über alles, was?“ „Oho! Spötteln ist bei uns streng verboten nach Paragraph drei! Es gibt schon solche, die immer nur alles verhöhnen, zum Beispiel der T, aber wir sind nicht so, wir kommen zusammen und besprechen dann alles, was wir gelesen haben.“ „Und?“ „Und dann reden wir halt, wie es sein sollte auf der Welt.“ Ich horche auf. Wie es sein sollte? Ich sehe den B an und es fällt mir der Z ein. Er sagt zum Präsidenten: „Der Herr Lehrer sagt immer nur, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.“ Und ich sehe den T. Was sagte Eva in der Verhandlung? „Der N fiel hin. Der fremde Junge beugte sich über den N und betrachtete ihn. Dann schleifte er ihn in den Graben.“ Und was sagte vorhin der B? „Der T möchte immer nur wissen, wie es wirklich ist.“ Warum? Nur um alles verhöhnen zu können? Ja, es kommen kalte Zeiten. – „Ihnen, Herr Lehrer“, höre ich wieder die Stimme des B, „kann man ja ruhig alles sagen. Drum komme ich jetzt auch mit meinem Verdacht zu Ihnen, um es mit Ihnen zu beraten, was man tun soll.“ „Warum gerade mit mir?“ „Wir haben es gestern im Klub alle gesagt, als wir Ihre Zeugenaussage mit dem Kästchen in der Zeitung gelesen haben, daß Sie der einzige Erwachsene sind, den wir kennen, der die Wahrheit liebt.“ D ER K LUB

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Heute gehe ich mit dem B zum zuständigen Untersuchungsrichter. Gestern war nämlich sein Büro wegen des Staatsfeiertages geschlossen. Ich erzähle dem Untersuchungsrichter, daß es der B möglicherweise wüßte, wem jener verlorene Kompaß gehört – Doch er unterbricht mich höflich, die Sache mit dem Kompaß hätte sich bereits geklärt. Es wäre einwandfrei festgestellt worden, daß der Kompaß dem Bürgermeister des Dorfes, in dessen Nähe wir unser Zeltlager hatten, gestohlen worden war. Wahrscheinlich hätte ihn das Mädchen verloren, und wenn nicht sie, dann eben einer von ihrer Bande, vielleicht auch schon bei einer frü-

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heren Gelegenheit, als er mal an dem damals noch zukünftigen Tatort zufällig vorbeigegangen wäre, denn der Tatort wäre ja in der Nähe der Räuberhöhle gelegen. Der Kompaß spiele keine Rolle mehr. Wir verabschieden uns also wieder, und der B schneidet ein enttäuschtes Gesicht. Er spielt keine Rolle mehr? denke ich. Hm, ohne diesen Kompaß wäre doch dieser B niemals zu mir gekommen. Es fällt mir auf, daß ich anders denke als früher. Ich erwarte überall Zusammenhänge. Alles spielt eine Rolle. Ich fühle ein unbegreifliches Gesetz. – Auf der Treppe begegnen wir dem Verteidiger. Er begrüßt mich lebhaft. „Ich wollte Ihnen bereits schriftlich danken“, sagt er, „denn nur durch Ihre schonungslose und unerschrockene Aussage wurde es mir möglich gemacht, diese Tragödie zu klären!“ Er erwähnt noch kurz, daß der Z von seiner Verliebtheit bereits radikal kuriert sei, und daß das Mädchen hysterische Krämpfe bekommen hätte und nun im Gefängnisspital liege. „Armer Wurm!“ fügt er noch rasch hinzu und eilt davon, um neue Tragödien zu klären. Ich sehe ihm nach. „Das Mädel tut mir leid“, höre ich plötzlich die Stimme des B. „Mir auch.“ Wir steigen die Treppen hinab. „Man müßte ihr helfen“, sagt der B. „Ja“, sage ich und denke an ihre Augen. Und an die stillen Seen in den Wäldern meiner Heimat. Sie liegt im Spital. Und auch jetzt ziehen die Wolken über sie hin, die Wolken mit den silbernen Rändern. Nickte sie mir nicht zu, bevor sie die Wahrheit sprach? Und was sagte der T? Sie ist die Mörderin, sie will sich nur herauslügen – Ich hasse den T. Plötzlich halte ich. „Ist es wahr“, frage ich den B, „daß ich bei euch den Spitznamen hab: der Fisch?“ „Aber nein! Das sagt nur der T – Sie haben einen ganz anderen!“ „Welchen?“ „Sie heißen: der Neger.“ Er lacht und ich lach mit. Wir steigen weiter hinab. Auf einmal wird er wieder ernst. „Herr Lehrer“, sagt er, „glauben Sie nicht auch, daß es der T war, auch wenn ihm der verlorene Kompaß nicht gehört?“ Ich halte wieder. Was soll ich sagen? Soll ich sagen: möglich, vielleicht, unter Umständen –? Und ich sage: „Ja. Ich glaube auch, daß er es war.“ Die Augen des B leuchten.

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„Er war es auch“, ruft er begeistert, „und wir werden ihn fangen!“ „Hoffentlich!“ „Ich werde im Klub einen Beschluß durchdrücken, daß der Klub dem Mädel helfen soll! Nach Paragraph sieben sind wir ja nicht nur dazu da, um Bücher zu lesen, sondern auch, um danach zu leben.“ Und ich frage ihn: „Was ist denn euer Leitsatz?“ „Für Wahrheit und Gerechtigkeit!“ Er ist ganz außer sich vor Tatendrang. Der Klub wird den T beobachten, auf Schritt und Tritt, Tag und Nacht, und wird mir jeden Tag Bericht erstatten. „Schön“, sage ich und muß lächeln. Auch in meiner Kindheit spielten wir Indianer. Aber jetzt ist der Urwald anders. Jetzt ist er wirklich da.

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Am nächsten Morgen bekomme ich einen entsetzten Brief von meinen Eltern. Sie sind ganz außer sich, daß ich meinen Beruf verlor. Ob ich denn nicht an sie gedacht hätte, als ich ganz überflüssig die Sache mit dem Kästchen erzählte, und warum ich sie denn überhaupt erzählt hätte?! Ja, ich habe an euch gedacht. Auch an euch. Beruhigt euch nur, wir werden schon nicht verhungern! „Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen“, schreibt meine Mutter, „und haben über Dich nachgedacht.“ So? „Mit was haben wir das verdient?“ fragt mein Vater. Er ist ein pensionierter Werkmeister, und ich muß jetzt an Gott denken. Ich glaube, er wohnt noch immer nicht bei ihnen, obwohl sie jeden Sonntag in die Kirche gehen. Ich setze mich und schreibe meinen Eltern. „Liebe Eltern! Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen“ – Ich stocke. Warum? Sie wußten es, daß ich nicht an ihn glaubte, und jetzt werden sie denken: Schau, jetzt schreibt er von Gott, weil es ihm schlecht geht! Aber das soll niemand denken! Nein, ich schäme mich – Ich zerreiße den Brief. Ja, ich bin noch stolz! Und den ganzen Tag über will ich meinen Eltern schreiben. Aber ich tu es nicht. Immer wieder fange ich an, aber ich bringe es nicht über das Herz, das Wort Gott niederzuschreiben. Der Abend kommt, und ich bekomme plötzlich wieder Angst vor meiner Wohnung. Sie ist so leer. Ich gehe fort. Ins Kino?

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Nein. Ich gehe in die Bar, die nicht teuer ist. Dort treffe ich Julius Caesar, es ist sein Stammlokal. Er freut sich ehrlich, mich zu sehen. „Es war anständig von Ihnen, das mit dem Kästchen zu sagen, hochanständig! Ich hätts nicht gesagt! Respekt, Respekt!“ Wir trinken und sprechen über den Prozeß. Ich erzähle vom Fisch – Er hört mir aufmerksam zu. „Natürlich ist der Fisch derjenige“, meint er. Und dann lächelt er: „Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, ihn zu fangen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, denn auch ich habe meine Verbindungen –“ Ja, die hat er allerdings. Immer wieder wird unser Gespräch gestört. Ich sehe, daß Julius Caesar ehrfürchtig gegrüßt wird, viele kommen zu ihm und holen sich Rat, denn er ist ein wissender und weiser Mann. Es ist alles Unkraut. Ave Caesar, morituri te salutant! Und in mir erwacht plötzlich die Sehnsucht nach der Verkommenheit. Wie gerne möchte ich auch einen Totenkopf als Krawattennadel haben, den man illuminieren kann! „Passen Sie auf Ihren Brief auf!“ ruft mir Caesar zu. „Er fällt Ihnen aus der Tasche!“ Ach so, der Brief! Caesar erklärt gerade einem Fräulein die neuen Paragraphen des Gesetzes für öffentliche Sittlichkeit. Ich denke an Eva. Wie wird sie aussehen, wenn sie so alt sein wird wie dieses Fräulein? Wer kann ihr helfen? Ich setze mich an einen anderen Tisch und schreibe meinen Eltern. „Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen!“ Und ich zerreiße den Brief nicht wieder. Oder schrieb ich ihn nur, weil ich getrunken habe? Egal!

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Am nächsten Tag überreicht mir meine Hausfrau ein Kuvert, ein Laufbursche hätte es abgegeben. Es ist ein blaues Kuvert, ich erbreche es und muß lächeln. Die Überschrift lautet: „Erster Bericht des Klubs.“ Und dann steht da: „Nichts Besonderes vermerkt.“ Jaja, der brave Klub! Er kämpft für Wahrheit und Gerechtigkeit, kann aber nichts Besonderes vermerken! Auch ich vermerke nichts. Was soll man nur tun, damit sie nicht verurteilt wird?

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Immer denke ich an sie – Liebe ich denn das Mädel? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich ihr helfen möchte – Ich hatte viele Weiber, denn ich bin kein Heiliger, und die Weiber sind auch keine Heiligen. Aber nun liebe ich anders. Bin ich denn nicht mehr jung? Ist es das Alter? Unsinn! Es ist doch noch Sommer. Und ich bekomme jeden Tag ein blaues Kuvert: zweiter, dritter, vierter Bericht des Klubs. Es wird nichts Besonderes vermerkt. Und die Tage vergehen – Die Äpfel sind schon reif und nachts kommen die Nebel. Das Vieh kehrt heim, das Feld ist kahl – Ja, es ist noch Sommer, aber man wartet schon auf den Schnee. Ich möchte ihr helfen, damit sie nicht friert. Ich möchte ihr einen Mantel kaufen, Schuhe und Wäsche. Sie braucht es nicht vor mir auszuziehen – Ich möchte nur wissen, ob der Schnee kommen kann. Noch ist alles grün. Aber sie muß nicht bei mir sein. Wenns ihr nur gut geht.

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Heute vormittag bekam ich Besuch. Ich habe ihn nicht sogleich wiedererkannt, es war der Pfarrer, mit dem ich mich mal über die Ideale der Menschheit unterhalten hatte. Er trat ein und trug Zivil, dunkelgraue Hosen und einen blauen Rock. Ich stutzte. Ist er weggelaufen? „Sie wundern sich“, lächelt er, „daß ich Zivil trage, aber das trage ich meistens, denn ich stehe zu einer besonderen Verfügung – Kurz und gut: Meine Strafzeit ist vorbei, doch reden wir mal von Ihnen! Ich habe Ihre tapfere Aussage in den Zeitungen gelesen und wäre schon früher erschienen, aber ich mußte mir erst Ihre Adresse beschaffen. Übrigens: Sie haben sich stark verändert, ich weiß nicht wieso, aber irgendwas ist anders geworden. Richtig, Sie sehen viel heiterer aus!“ „Heiterer?“ „Ja. Sie dürfen auch froh sein, daß Sie das mit dem Kästchen gesagt haben, auch wenn Sie jetzt die halbe Welt verleumdet. Ich habe oft an Sie gedacht, obwohl oder weil Sie mir damals sagten, Sie glaubten nicht an Gott. Inzwischen werden Sie ja wohl angefangen haben, etwas anders über Gott zu denken –“ Was will er? denke ich und betrachte ihn mißtrauisch. „Ich hätte Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen, aber zunächst beantworten Sie mir, bitte, zwei Fragen. Also erstens: Sie sind sich wohl im klaren darüber, daß Sie, selbst wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Sie niederschlagen sollte, nie wieder an irgendeiner Schule dieses Landes unterrichten werden?“ „Ja, darüber war ich mir schon im klaren, bevor ich die Aussage machte.“

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„Das freut mich! Und nun zweitens: Wovon wollen Sie jetzt leben? Ich nehme an, daß Sie keine Sägewerksaktien besitzen, da Sie sich ja damals so heftig für die Heimarbeiter einsetzten, für die Kinder in den Fenstern – Erinnern Sie sich?“ Ach, die Kinder in den Fenstern! Die hatte ich ja ganz vergessen! Und das Sägewerk, das nicht mehr sägt – Wie weit liegt das alles zurück! Wie in einem anderen Leben – – Und ich sage: „Ich habe nichts. Und ich muß auch meine Eltern unterstützen.“ Er sieht mich groß an und sagt dann nach einer kleinen Pause: „Ich hätte eine Stellung für Sie.“ „Was?! Eine Stellung?!“ „Ja, aber in einem anderen Land.“ „Wo?“ „In Afrika.“ „Bei den Negern?“ Es fällt mir ein, daß ich „der Neger“ heiße, und ich muß lachen. Er bleibt ernst. „Warum finden Sie das so komisch? Neger sind auch nur Menschen!“ Wem erzählen Sie das? möchte ich ihn fragen, aber ich sage nichts dergleichen, sondern höre es mir an, was er mir vorschlägt: Ich könnte Lehrer werden, und zwar in einer Missionsschule. „Ich soll in einen Orden eintreten?“ „Das ist nicht notwendig.“ Ich überlege. Heute glaube ich an Gott, aber ich glaube nicht daran, daß die Weißen die Neger beglücken, denn sie bringen ihnen Gott als schmutziges Geschäft. Und ich sage es ihm. Er bleibt ganz ruhig. „Das hängt lediglich von Ihnen ab, ob Sie Ihre Sendung mißbrauchen, um schmutzige Geschäfte machen zu können.“ Ich horche auf. Sendung? „Jeder Mensch hat eine Sendung“, sagt er. Richtig! Ich muß einen Fisch fangen. Und ich sage dem Pfarrer, ich werde nach Afrika fahren, aber nur dann, wenn ich das Mädchen befreit haben werde. Er hört mir aufmerksam zu. Dann sagt er: „Wenn Sie glauben zu wissen, daß der fremde Junge es tat, dann müssen Sie es seiner Mutter sagen. Die Mutter muß alles hören. Gehen Sie gleich zu ihr hin“ – –

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Ich fahre zur Mutter des T. Der Pedell im Gymnasium gab mir die Adresse. Er verhielt sich sehr reserviert, denn ich hätte ja das Haus nicht betreten dürfen. Ich werde es nie mehr betreten, ich fahre nach Afrika. Jetzt sitze ich in der Straßenbahn. Ich muß bis zur Endstation.

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Die schönen Häuser hören allmählich auf, und dann kommen die häßlichen. Wir fahren durch arme Straßen und erreichen das vornehme Villenviertel. „Endstation!“ ruft der Schaffner. „Alles aussteigen!“ Ich bin der einzige Fahrgast. Die Luft ist hier bedeutend besser als dort, wo ich wohne. Wo ist Nummer dreiundzwanzig? Die Gärten sind gepflegt. Hier gibts keine Gartenzwerge. Kein ruhendes Reh und keinen Pilz. Endlich hab ich dreiundzwanzig. Das Tor ist hoch, und das Haus ist nicht zu sehen, denn der Park ist groß. Ich läute und warte. Der Pförtner erscheint, ein alter Mann. Er öffnet das Gitter nicht. „Sie wünschen?“ „Ich möchte Frau T sprechen.“ „In welcher Angelegenheit?“ „Ich bin der Lehrer ihres Sohnes.“ „Sofort!“ Er öffnet das Gitter. Wir gehen durch den Park. Hinter einer schwarzen Tanne erblicke ich das Haus. Fast ein Palast. Ein Diener erwartet uns bereits, und der Pförtner übergibt mich dem Diener: „Der Herr möchte die gnädige Frau sprechen, er ist der Lehrer des jungen Herrn.“ Der Diener verbeugt sich leicht. „Das dürfte leider seine Schwierigkeiten haben“, meint er höflich, „denn gnädige Frau haben soeben Besuch.“ „Ich muß sie aber dringend sprechen in einer sehr wichtigen Angelegenheit!“ „Könnten Sie sich nicht für morgen anmelden?“ „Nein. Es dreht sich um ihren Sohn.“ Er lächelt und macht eine winzige wegwerfende Geste. „Auch für ihren Sohn haben gnädige Frau häufig keine Zeit. Auch der junge Herr muß sich meist anmelden lassen.“ „Hören Sie“, sage ich und schaue ihn böse an, „melden Sie mich sofort, oder Sie tragen die Verantwortung!“ Er starrt mich einen Augenblick entgeistert an, dann verbeugt er sich wieder leicht: „Gut, versuchen wir es mal. Darf ich bitten! Verzeihung, daß ich vorausgehe!“ Ich betrete das Haus. Wir gehen durch einen herrlichen Raum und dann eine Treppe empor in den ersten Stock. Eine Dame kommt die Treppen herab, der Diener grüßt, und sie lächelt ihn an. Und auch mich. Die kenne ich doch? Wer ist denn das? Wir steigen weiter empor. „Das war die Filmschauspielerin X“, flüstert mir der Diener zu. Ach ja, richtig! Die hab ich erst unlängst gesehen. Als Fabrikarbeiterin, die den Fabrikdirektor heiratet. Sie ist die Freundin des Oberplebejers.

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Dichtung und Wahrheit! „Sie ist eine göttliche Künstlerin“, stellt der Diener fest, und nun erreichen wir den ersten Stock. Eine Tür ist offen, und ich höre Frauen lachen. Sie müssen im dritten Zimmer sitzen, denke ich. Sie trinken Tee. Der Diener führt mich links in einen kleinen Salon und bittet, Platz zu nehmen, er würde alles versuchen, bei der ersten passenden Gelegenheit. Dann schließt er die Türe, ich bleibe allein und warte. Es ist noch früh am Nachmittag, aber die Tage werden kürzer. An den Wänden hängen alte Stiche. Jupiter und Io. Amor und Psyche. Marie Antoinette. Es ist ein rosa Salon mit viel Gold. Ich sitze auf einem Stuhl und sehe die Stühle um den Tisch herum stehen. Wie alt seid ihr? Bald zweihundert Jahre – Wer saß schon alles auf euch? Leute, die sagten: Morgen sind wir bei Marie Antoinette zum Tee. Und Leute, die sagten: Morgen gehen wir zur Hinrichtung der Marie Antoinette. Wo ist jetzt Eva? Hoffentlich noch im Spital, dort hat sie wenigstens ein Bett. Hoffentlich ist sie noch krank. Ich trete ans Fenster und schaue hinaus. Die schwarze Tanne wird immer schwärzer, denn es dämmert bereits. Ich warte. Endlich öffnet sich langsam die Türe. Ich drehe mich um, denn nun kommt die Mutter des T. Wie sieht sie aus? Ich bin überrascht. Es steht nicht die Mutter vor mir, sondern der T. Er selbst. Er grüßt höflich und sagt: „Meine Mutter ließ mich rufen, als sie hörte, daß Sie da sind, Herr Lehrer. Sie hat leider keine Zeit.“ „So? Und wann hat sie denn Zeit?“ Er zuckt müde die Achsel: „Das weiß ich nicht. Sie hat eigentlich nie Zeit.“ Ich betrachte den Fisch. Seine Mutter hat keine Zeit. Was hat sie denn zu tun? Sie denkt nur an sich. Und ich muß an den Pfarrer denken und an die Ideale der Menschheit. Ist es wahr, daß die Reichen immer siegen? Wird der Wein nicht zu Wasser? Und ich sage zum T: „Wenn deine Mutter immer zu tun hat, dann kann ich vielleicht mal deinen Vater sprechen?“ „Vater? Aber der ist doch nie zu Haus! Er ist immer unterwegs, ich seh ihn kaum. Er leitet ja einen Konzern.“ Einen Konzern? Ich sehe ein Sägewerk, das nicht mehr sägt. Die Kinder sitzen in den Fenstern und bemalen die Puppen. Sie sparen das Licht, denn sie haben kein Licht.

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Und Gott geht durch alle Gassen. Er sieht die Kinder und das Sägewerk. Und er kommt. Er steht draußen vor dem hohen Tore. Der alte Pförtner läßt ihn nicht ein. „Sie wünschen?“ „Ich möchte die Eltern T sprechen.“ „In welcher Angelegenheit?“ „Sie wissen es schon.“ Ja, sie wissen es schon, aber sie erwarten ihn nicht. – „Was wollen Sie eigentlich von meinen Eltern?“ höre ich plötzlich die Stimme des T. Ich blicke ihn an. Jetzt wird er lächeln, denke ich. Aber er lächelt nicht mehr. Er schaut nur. Ahnt er, daß er gefangen wird? Seine Augen haben plötzlich Glanz. Die Schimmer des Entsetzens. Und ich sage: „Ich wollte mit deinen Eltern über dich sprechen, aber leider haben sie keine Zeit.“ „Über mich?“ Er grinst. Ganz leer. Da steht der Wißbegierige wie ein Idiot. Jetzt scheint er zu lauschen. Was fliegt um ihn? Was hört er? Die Flügel der Verblödung? Ich eile davon.

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Zu Hause liegt wieder ein blaues Kuvert. Aha, der Klub! Sie werden wieder nichts vermerkt haben – Ich öffne und lese: „Achter Bericht des Klubs. Gestern nachmittag war der T im Kristall-Kino. Als er das Kino verließ, sprach er mit einer eleganten Dame, die er drinnen getroffen haben mußte. Er ging dann mit der Dame in die Y-Straße Nummer 67. Nach einer halben Stunde erschien er mit ihr wieder im Haustor und verabschiedete sich von ihr. Er ging nachhaus. Die Dame sah ihm nach, schnitt eine Grimasse und spuckte ostentativ aus. Es ist möglich, daß es keine Dame war. Sie war groß und blond, hatte einen dunkelgrünen Mantel und einen roten Hut. Sonst wurde nichts vermerkt.“ Ich muß grinsen. Ach, der T wird galant – Aber das interessiert mich nicht. Warum schnitt sie eine Grimasse? Natürlich war sie keine Dame, doch warum spuckte sie ostentativ aus? Ich geh mal hin und frage sie. Denn ich will jetzt jede Spur verfolgen, jede winzigste, unsinnigste –

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Wenn er nicht anbeißt, wird man ihn wohl mit einem Netz fangen müssen, mit einem Netz aus feinsten Maschen, durch die er nicht schlüpfen kann. Ich gehe in die Y-Straße 67 und frage die Hausmeisterin nach einer blonden Dame – Sie unterbricht mich sofort: „Das Fräulein Nelly wohnt Tür siebzehn.“ In dem Hause wohnen kleine Leute, brave Bürger. Und ein Fräulein Nelly. Ich läute an Tür siebzehn. Eine Blondine öffnet und sagt: „Servus! Komm nur herein!“ Ich kenne sie nicht. Im Vorzimmer hängt der dunkelgrüne Mantel, auf dem Tischchen liegt der rote Hut. Sie ist es. Jetzt wird sie böse werden, daß ich nur wegen einer Auskunft komme. Ich verspreche ihr also ihr Honorar, wenn sie mir antwortet. Sie wird nicht böse, sondern mißtrauisch. Nein, ich bin kein Polizist, versuche ich zu beruhigen, ich möchte ja nur wissen, warum sie gestern hinter dem Jungen her ausgespuckt hat? „Zuerst das Geld“, antwortet sie. Ich gebe es ihr. Sie macht sichs auf dem Sofa bequem und bietet mir eine Zigarette an. Wir rauchen. „Ich rede nicht gern darüber“, sagt sie. Sie schweigt noch immer. Plötzlich legt sie los: „Warum ich ausgespuckt hab, ist bald erklärt: Es war eben einfach zu ekelhaft! Widerlich!“ Sie schüttelt sich. „Wieso?“ „Stellen Sie sich vor, er hat dabei gelacht!“ „Gelacht?“ „Es ist mir ganz kalt heruntergelaufen, und dann bin ich so wild geworden, daß ich ihm eine Ohrfeige gegeben hab! Da ist er gleich vor den Spiegel gerannt und hat gesagt: Es ist nicht rot! Immer hat er nur beobachtet, beobachtet! Wenns nach mir ging, würd ich ja diesen Kerl nie mehr anrühren, aber leider werde ich noch mal das Vergnügen haben müssen –“ „Noch mal? Wer zwingt Sie denn dazu?“ „Zwingen laß ich mich nie, nicht die Nelly! Aber ich erweise damit jemand einen freiwilligen Gefallen, wenn ich mich mit dem Ekel noch einmal einlaß – Ich muß sogar so tun, als wär ich in ihn verliebt!“ „Sie erweisen damit jemandem einen Gefallen?“ „Ja, weil ich eben diesem jemand auch sehr zu Dank verpflichtet bin.“ „Wer ist das?“ „Nein, das darf ich nicht sagen! Das sagt die Nelly nicht! Ein fremder Herr.“ „Aber was will denn dieser fremde Herr?“ Sie sieht mich groß an und sagt dann langsam: „Er will einen Fisch fangen.“ Ich schnelle empor und schreie: „Was?! Einen Fisch?!“ Sie erschrickt sehr. „Was ist Ihnen?“ fragt sie und drückt rasch ihre Zigarette aus. „Nein-nein, jetzt spricht die Nelly kein Wort mehr! Mir scheint, Sie sind ein Verrückter! Gehen wir, gehen wir! Pa, adieu!“

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Ich gehe und torkle fast, ganz wirr im Kopf. Wer fängt den Fisch? Was ist los? Wer ist dieser fremde Herr? 5

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Als ich nach Hause komme, empfängt mich meine Hausfrau besorgt. „Es ist ein fremder Herr hier“, sagt sie, „er wartet auf Sie schon seit einer halben Stunde, und ich hab Angst, etwas an ihm stimmt nämlich nicht. Er sitzt im Salon.“ Ein fremder Herr? Ich betrete den Salon. Es ist Abend geworden, und er sitzt im Dunklen. Ich mache Licht. Ach, Julius Caesar! „Endlich!“ sagt er und illuminiert seinen Totenkopf. „Jetzt spitzen Sie aber Ihre Ohren, Kollega!“ „Was gibts denn?“ „Ich habe den Fisch.“ „Was?!“ „Ja. Er schwimmt schon um den Köder herum, immer näher – Heut nacht beißt er an! Kommen Sie, wir müssen rasch hin, der Apparat ist schon dort, höchste Zeit!“ „Was für ein Apparat?“ „Werd Ihnen alles erklären!“ Wir gehen rasch fort. „Wohin?“ „In die Lilie!“ „In wohin?“ „Wie sag ichs meinem Kinde? Die Lilie ist ein ordinäres Animierlokal!“ Er geht sehr rasch, und es beginnt zu regnen. „Regen ist gut“, sagt er, „bei Regen beißen sie eher an.“ Er lacht. „Hören Sie“, schreie ich ihn an, „was haben Sie vor?!“ „Ich erzähl alles, sowie wir sitzen! Kommen Sie, wir werden naß!“ „Aber wie kommen Sie dazu, den Fisch zu fangen und mir nichts zu sagen?!“ „Ich wollte Sie überraschen, lassen Sie mir die Freud!“ Plötzlich bleibt er stehen, obwohl es jetzt stark regnet und er große Eile hat. Er sieht mich sonderbar an und sagt dann langsam: „Sie fragen“, und mir ists, als betonte er jedes Wort, „Sie fragen mich, warum ich den Fisch fange? Sie haben mir doch davon erzählt, vor ein paar Tagen – Erinnern Sie sich? Sie haben sich dann an einen anderen Tisch gesetzt, und es fiel mir plötzlich auf, wie traurig Sie sind wegen dem Mädel, und da war es mir so, daß ich Ihnen helfen muß. Erinnern Sie sich, wie Sie dort an dem Tisch gesessen sind – Ich glaube, Sie schrieben einen Brief.“ Einen Brief?! Ja, richtig! Den Brief an meine Eltern! Als ich es endlich über mich brachte: „Gott wird schon helfen“ – Ich wanke.

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„Was ist Ihnen? Sie sind ja ganz blaß?“ höre ich Caesars Stimme. „Nichts, nichts!“ „Höchste Zeit, daß Sie einen Schnaps bekommen!“ Vielleicht! Es regnet, und das Wasser wird immer mehr. Mich schaudert. Einen winzigen Augenblick lang sah ich das Netz. D ER N

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Die Lilie ist kaum zu finden, so finster ist die ganze Umgebung. Drinnen ist es nicht viel heller. Aber wärmer, und es regnet wenigstens nicht herein. „Die Damen sind schon da“, empfängt uns die Besitzerin und deutet auf die dritte Loge. „Bravo!“ sagt Caesar und wendet sich zu mir: „Die Damen sind nämlich mein Köder. Die Regenwürmer, gewissermaßen.“ In der dritten Loge sitzt das Fräulein Nelly mit einer dicken Kellnerin. Nelly erkennt mich sogleich, schweigt jedoch aus Gewohnheit. Sie lächelt nur sauer. Caesar hält perplex. „Wo ist der Fisch?“ fragt er hastig. „Er ist nicht erschienen“, sagt die Dicke. Es klingt so traurig monoton. „Er hat mich sitzen lassen“, meint Nelly und lächelt süß. „Zwei Stunden hat sie vor dem Kino gewartet“, nickt die Dicke resigniert. „Zweieinhalb“, korrigiert Nelly und lächelt plötzlich nicht mehr. „Ich bin froh, daß das Ekel nicht gekommen ist.“ „Na so was“, meint Caesar und stellt mich den Damen vor: „Ein ehemaliger Kollege.“ Die Dicke mustert mich, und das Fräulein Nelly blickt in die Luft. Sie richtet ihren Büstenhalter. Wir setzen uns. Der Schnaps brennt und wärmt. Wir sind die einzigen Gäste. Die Besitzerin setzt sich die Brille auf und liest die Zeitung. Sie beugt sich über die Bar, und es sieht aus, als würde sie sich die Ohren zuhalten. Sie weiß von nichts und möchte auch von nichts wissen. Wieso sind die beiden Damen Regenwürmer? „Was geht hier eigentlich vor sich?“ frage ich Caesar. Er beugt sich ganz nahe zu mir: „Ich wollte Sie ursprünglich eigentlich vorher gar nicht einweihen, verehrter Kollega, denn es ist und bleibt eine ordinäre Geschichte und Sie sollten nichts damit zu tun haben, aber dann dachte ich, es könnt vielleicht doch nichts schaden, wenn wir noch einen Zeugen hätten. Wir drei, die beiden Damen und ich, wollten nämlich die Tat rekonstruieren.“ „Rekonstruieren?!“ „Gewissermaßen.“ „Aber wieso denn?!“ „Wir wollten, daß der Fisch den Mord wiederholt.“

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„Wiederholt?!“ „Ja. Und zwar nach einem altbewährten genialen Plan. Ich wollte nämlich die ganze Affäre in einem Bett rekonstruieren.“ „In einem Bett?!“ „Passen Sie auf, Kollega“, nickt er mir zu und illuminiert seinen Totenkopf, „das Fräulein Nelly sollte den Fisch vor dem Kino erwarten, denn er meint nämlich, daß sie ihn liebt.“ Er lacht. Aber das Fräulein Nelly lacht nicht mit. Sie schneidet nur eine Grimasse und spuckt aus. „Spuck hier nicht herum!“ grinst die Dicke. „Das freie Ausspucken ist behördlich verboten!“ „Die Behörde darf mich“, beginnt Nelly. „Also nur keine Politik!“ fällt ihr Caesar ins Wort und wendet sich wieder mir zu: „Hier in dieser Loge sollte unser lieber Fisch besoffen gemacht werden, bis er nicht mehr hätt schwimmen können, sodaß man ihn sogar mit der Hand hätt fangen können – Dann wären die beiden Damen mit ihm dort hinten durch die Tapetentür aufs Zimmer gegangen. Und hierauf hätte sich folgerichtig und logischerweise folgendes entwickelt: Der Fisch wär eingeschlafen. Die Nelly hätte sich auf den Boden gelegt, und dies rundliche Kind hätte sie mit einem Leintuch zugedeckt, ganz und gar, als wär sie eine Leiche. Dann hätt sich meine liebe Rundliche auf den schlafenden Fisch gestürzt und hätt gellend geschrien: ‚Was hast du getan?! Menschenskind, was hast du getan?!‘ Und ich wär ins Zimmer getreten und hätt gesagt: ‚Polizei!‘ und hätts ihm auf den Kopf zugesagt, daß er in seinem Rausch die Nelly erschlagen hat, genau so wie seinerzeit den anderen – Wir hätten eine große Szene aufgeführt, und ich hätt ihm auch ein paar Ohrfeigen gegeben – Ich wette, Kollega, er hätt sich verraten! Und wenns auch nur ein Wörtchen gewesen wär, ich hätt ihn aufs Land gezogen, ich schon!“ Ich muß lächeln. Er sieht mich an, fast unwillig. „Sie haben recht“, sagt er, „der Mensch denkt, und Gott lenkt – Wenn wir uns ärgern, daß einer nicht anbeißt, dann zappelt er vielleicht schon im Netz.“ Es durchzuckt mich. Im Netz?! „Lächeln Sie nur“, höre ich Caesar, „Sie reden ja immer nur von dem unschuldigen Mädel, aber ich denk auch an den toten Jungen!“ Ich horche auf. An den toten Jungen? Ach so, der N – Den hab ich ja ganz vergessen. – Ich dachte an alle, alle – Sogar an seine Eltern denke ich manchmal, wenn auch nicht gerade liebevoll – Aber nie an ihn, nie, er fiel mir gar nicht mehr ein. Ja, dieser N! Der erschlagen worden war. Mit einem Stein. Den es nicht mehr gibt.

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Ich verlasse die Lilie. Ich geh rasch heim, und die Gedanken an den N, den es nicht mehr gibt, lassen mich nicht los. Sie begleiten mich in mein Zimmer, in mein Bett. Ich muß schlafen! Ich will schlafen! Aber ich schlafe nicht ein – Immer wieder höre ich den N: „Sie haben es ja ganz vergessen, Herr Lehrer, daß Sie mitschuldig sind an meiner Ermordung. Wer hat denn das Kästchen erbrochen – ich oder Sie? Hatte ich Sie denn damals nicht gebeten: Helfen Sie mir, Herr Lehrer, ich habs nämlich nicht getan – Aber Sie wollten einen Strich durch eine Rechnung ziehen, einen dicken Strich – Ich weiß, ich weiß, es ist vorbei!“ Ja, es ist vorbei. Die Stunden gehen, die Wunden stehen. Immer rascher werden die Minuten – Sie laufen an mir vorbei. Bald schlägt die Uhr. „Herr Lehrer“, höre ich wieder den N, „erinnern Sie sich an eine Geschichtsstunde im vorigen Winter. Wir waren im Mittelalter und da erzählten Sie, daß der Henker, bevor er zur Hinrichtung schritt, den Verbrecher immer um Verzeihung bat, daß er ihm nun ein großes Leid antun müsse, denn eine Schuld kann nur durch Schuld getilgt werden.“ Nur durch Schuld? Und ich denke: Bin ich ein Henker? Muß ich den T um Verzeihung bitten? Und ich werd die Gedanken nicht mehr los – Ich erhebe mich – „Wohin?“ „Am liebsten weg, gleich weit weg –“ „Halt!“ Er steht vor mir, der N. Ich komm durch ihn nicht durch. Ich mag ihn nicht mehr hören! Er hat keine Augen, aber er läßt mich nicht aus den Augen. Ich mache Licht und betrachte den Lampenschirm. Er ist voll Staub. Immer muß ich an den T denken. Er schwimmt um den Köder – oder? Plötzlich fragt der N: „Warum denken Sie nur an sich?“ „An mich?“ „Sie denken immer nur an den Fisch. Aber der Fisch, Herr Lehrer, und Sie, das ist jetzt ein und dasselbe.“ „Dasselbe?!“ „Sie wollen ihn doch fangen – nicht?“ „Ja, gewiß – Aber wieso sind ich und er ein und dasselbe?“ „Sie vergessen den Henker, Herr Lehrer – den Henker, der den Mörder um Ver-

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zeihung bittet. In jener geheimnisvollen Stunde, da eine Schuld durch eine andere Schuld getilgt wird, verschmilzt der Henker mit dem Mörder zu einem Wesen, der Mörder geht gewissermaßen im Henker auf – Begreifen Sie mich, Herr Lehrer?“ Ja, ich fange allmählich an zu begreifen – Nein, jetzt will ich nichts mehr wissen! Hab ich Angst? „Sie sind noch imstand und lassen ihn wieder schwimmen“, höre ich den N. „Sie beginnen ja sogar schon, ihn zu bedauern –“ Richtig, seine Mutter hat für mich keine Zeit – „Sie sollen aber auch an meine Mutter denken, Herr Lehrer, und vor allem an mich! Auch wenn Sie nun den Fisch nicht meinetwegen, sondern nur wegen des Mädels fangen, wegen eines Mädels, an das Sie gar nicht mehr denken –“ Ich horche auf. Er hat recht, ich denke nicht an sie – Schon seit vielen Stunden. Wie sieht sie denn nur aus? Es wird immer kälter. Ich kenne sie ja kaum – Gewiß, gewiß, ich sah sie schon mal ganz, aber das war im Mond, und die Wolken deckten die Erde zu – Doch was hat sie nur für Haare? Braun oder blond? Komisch, ich weiß es nicht. Ich friere. Alles schwimmt davon – Und bei Gericht? Ich weiß nur noch: Wie sie mir zunickte, bevor sie die Wahrheit sagte, aber da fühlte ich, ich muß für sie da sein. Der N horcht auf. „Sie nickte Ihnen zu?“ „Ja.“ Und ich muß an ihre Augen denken. „Aber Herr Lehrer, sie hat doch keine solchen Augen! Sie hat ja kleine, verschmitzte, unruhige, immer schaut sie hin und her, richtige Diebsaugen!“ „Diebsaugen?“ „Ja.“ Und plötzlich wird er sonderbar feierlich. „Die Augen, Herr Lehrer, die Sie anschauten, waren nicht die Augen des Mädels. Das waren andere Augen.“ „Andere?“ „Ja.“

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Mitten in der Nacht höre ich die Hausglocke. Wer läutet da? Oder habe ich mich getäuscht? Nein, jetzt läutet es wieder! Ich springe aus dem Bett, zieh mir den Morgenrock an und eile aus dem Zimmer. Dort steht bereits meine Hausfrau, verschlafen und wirr.

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„Wer kommt denn da?“ fragt sie besorgt. „Wer ist da?“ rufe ich durch die Türe. „Kriminalpolizei!“ „Jesus Maria!“ schreit die Hausfrau und wird sehr entsetzt. „Was habens denn angestellt, Herr Lehrer?“ „Ich? Nichts!“ Die Polizei tritt ein – zwei Kommissare. Sie fragen nach mir. Jawohl, ich bin es. „Wir wollen nur eine Auskunft. Ziehen Sie sich gleich an, Sie müssen mit!“ „Wohin?“ „Später!“ Ich ziehe mich überstürzt an – Was ist geschehen?! Dann sitz ich im Auto. Die Kommissare schweigen noch immer. Wohin fahren wir? Die schönen Häuser hören allmählich auf, und dann kommen die häßlichen. Es geht durch die armen Straßen, und wir erreichen das vornehme Villenviertel. Ich bekomme Angst. „Meine Herren“, sage ich, „was ist denn geschehen in Gottes Namen?!“ „Später!“ Hier ist die Endstation, wir fahren weiter. Ja, jetzt weiß ich, wohin die Reise geht – Das hohe Tor ist offen, wir fahren hindurch, es meldet uns niemand an. In der Halle sind viele Menschen. Ich erkenne den alten Pförtner und den Diener, der mich in den rosa Salon führte. An einem Tische sitzt ein hoher polizeilicher Funktionär. Und ein Protokollführer. Alle blicken mich forschend und feindselig an. Was hab ich denn verbrochen? „Treten Sie näher“, empfängt mich der Funktionär. Ich trete näher. Was will man von mir? „Wir müssen einige Fragen an Sie richten. Sie wollten doch gestern nachmittag die gnädige Frau sprechen –“ Er deutet nach rechts. Ich blicke hin. Dort sitzt eine Dame. In einem großen Abendkleid. Elegant und gepflegt – ach, die Mutter des T! Sie starrt mich haßerfüllt an. Warum? „So antworten Sie doch!“ höre ich den Funktionär. „Ja“, sage ich, „ich wollte die gnädige Frau sprechen, aber sie hatte leider keine Zeit für mich.“ „Und was wollten Sie ihr erzählen?“ Ich stocke – Aber es hat keinen Sinn! Nein, ich will nicht mehr lügen! Ich sah ja das Netz – „Ich wollte der gnädigen Frau nur sagen“, beginne ich langsam, „daß ich einen bestimmten Verdacht auf ihren Sohn habe –“ Ich komme nicht weiter, die Mutter schnellt empor.

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„Lüge!“ kreischt sie. „Alles Lüge! Nur er hat die Schuld, nur er! Er hat meinen Sohn in den Tod getrieben! Er, nur er!“ Ich wanke. In den Tod?! „Was ist denn los?!“ schreie ich. „Ruhe!“ herrscht mich der Funktionär an. Und nun erfahre ich, daß der Fisch ins Netz geschwommen ist. Er wurde bereits ans Land gezogen und zappelt nicht mehr. Es ist aus. Als die Mutter vor einer Stunde heimkam, fand sie einen Zettel auf ihrem Toilettentisch. „Der Lehrer trieb mich in den Tod“, stand auf dem Zettel. Die Mutter lief in das Zimmer des T hinauf – Der T war verschwunden. Sie alarmierte das Haus. Man durchstöberte alles und fand nichts. Man durchsuchte den Park, rief „T!“ und immer wieder „T!“ – keine Antwort. Endlich wurde er entdeckt. In der Nähe eines Grabens. Dort hatte er sich erhängt. Die Mutter sieht mich an. Sie weint nicht. Sie kann nicht weinen, geht es mir durch den Sinn. Der Funktionär zeigt mir den Zettel. Ein abgerissenes Stück Papier. Ohne Unterschrift. Vielleicht schrieb er noch mehr, fällt es mir plötzlich ein. Ich schau die Mutter an. „Ist das alles?“ frage ich den Funktionär. Die Mutter schaut weg. „Ja, das ist alles“, sagt der Funktionär. „Erklären Sie sich!“ Die Mutter ist eine schöne Frau. Ihr Ausschnitt ist hinten tiefer als vorn. Sie hat es sicher nie erfahren, was es heißt, nichts zum Fressen zu haben – Ihre Schuhe sind elegant, ihre Strümpfe sind so zart, als hätte sie keine an, aber ihre Beine sind dick. Ihr Taschentuch ist klein. Nach was riecht es? Sicher hat sie ein teures Parfüm – Aber es kommt nicht darauf an, mit was sich einer parfümiert. Wenn der Vater keinen Konzern hätte, würde die Mutter nur nach sich selbst duften. Jetzt sieht sie mich an, fast höhnisch. Zwei helle, runde Augen – Wie sagte doch seinerzeit der T in der Konditorei? „Aber Herr Lehrer, ich hab doch keine Fischaugen, ich hab ja Rehaugen – Meine Mutter sagts auch immer.“ Sagte er nicht, sie hätte die gleichen Augen? Ich weiß es nicht mehr. Ich fixiere die Mutter. Warte nur, du Reh! Bald wird es schneien, und du wirst dich den Menschen nähern. Aber dann werde ich dich zurücktreiben! Zurück in den Wald, wo der Schnee meterhoch liegt. Wo du stecken bleibst vor lauter Frost – Wo du verhungerst im Eis. Schau mich nur an, jetzt rede ich!

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Und ich rede von dem fremden Jungen, der den N erschlagen hat, und erzähle, daß der T zuschauen wollte, wie ein Mensch kommt und geht. Geburt und Tod, und alles, was dazwischen liegt, wollt er genau wissen. Er wollte alle Geheimnisse ergründen, aber nur, um darüberstehen zu können – darüber mit seinem Hohn. Er kannte keine Schauer, denn seine Angst war nur Feigheit. Und seine Liebe zur Wirklichkeit war nur der Haß auf die Wahrheit. Und während ich so rede, fühle ich mich plötzlich wunderbar leicht, weil es keinen T mehr gibt. Einen weniger! Freue ich mich denn? Ja! Ja, ich freue mich! Denn trotz aller eigenen Schuld an dem Bösen ist es herrlich und wunderschön, wenn ein Böser vernichtet wird! Und ich erzähle alles. „Meine Herren“, sagte ich, „es gibt ein Sägewerk, das nicht mehr sägt, und es gibt Kinder, die in den Fenstern sitzen und die Puppen bemalen.“ „Was hat das mit uns zu tun?“ fragt mich der Funktionär. Die Mutter schaut zum Fenster hinaus. Draußen ist Nacht. Sie scheint zu lauschen – Was hört sie? Schritte? Das Tor ist ja offen – „Es hat keinen Sinn, einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen“, sage ich und plötzlich höre ich meine Worte. Jetzt starrt mich die Mutter wieder an. Und ich höre mich: „Es ist möglich, daß ich Ihren Sohn in den Tod getrieben habe –“ Ich stocke – Warum lächelte die Mutter? Sie lächelt noch immer – Ist sie verrückt? Sie beginnt zu lachen – immer lauter! Sie kriegt einen Anfall. Sie schreit und wimmert – Ich höre nur das Wort „Gott“. Dann kreischt sie: „Es hat keinen Sinn!“ Man versucht, sie zu beruhigen. Sie schlägt um sich. Der Diener hält sie fest. „Es sägt, es sägt!“ jammert sie – Was? Das Sägewerk? Sieht sie die Kinder in den Fenstern? Ist jener Herr erschienen, der auch auf Ihre Zeit, gnädige Frau, keine Rücksicht nimmt, denn er geht durch alle Gassen, ob groß oder klein –

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Sie schlägt noch immer um sich. Da verliert sie ein Stückchen Papier – Als hätte ihr wer auf die Hand geschlagen. Der Funktionär hebt es auf. Es ist ein zerknülltes Papier. Der abgerissene Teil jenes Zettels, auf dem stand: „Der Lehrer trieb mich in den Tod.“ Und hier schrieb der T, warum er in den Tod getrieben wurde: „Denn der Lehrer weiß es, daß ich den N erschlagen habe. Mit dem Stein –“ Es wurde sehr still im Saal. Die Mutter schien zusammengebrochen. Sie saß und rührte sich nicht. Plötzlich lächelt sie wieder und nickt mir zu. Was war das? Nein, das war doch nicht sie – Das waren nicht ihre Augen – Still, wie die dunkeln Seen in den Wäldern meiner Heimat. Und traurig wie eine Kindheit ohne Licht. So schaut Gott zu uns herein, muß ich plötzlich denken. Einst dachte ich, er hätte tückische, stechende Augen – Nein, nein! Denn Gott ist die Wahrheit. „Sage es, daß du das Kästchen erbrochen hast“, höre ich wieder die Stimme. „Tu mir den Gefallen und kränke mich nicht –“ Jetzt tritt die Mutter langsam vor den Funktionär und beginnt zu reden, leise, doch fest: „Ich wollte mir die Schande ersparen“, sagt sie, „aber wie der Lehrer zuvor die Kinder in den Fenstern erwähnte, dachte ich schon: Ja, es hat keinen Sinn.“ Ü BER

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Morgen fahre ich nach Afrika. Auf meinem Tische stehen Blumen. Sie sind von meiner braven Hausfrau zum Abschied. Meine Eltern haben mir geschrieben, sie sind froh, daß ich eine Stellung habe, und traurig, daß ich so weit weg muß über das große Meer. Und dann ist noch ein Brief da. Ein blaues Kuvert. „Schöne Grüße an die Neger. Der Klub.“ Gestern hab ich Eva besucht. Sie ist glücklich, daß der Fisch gefangen wurde. Der Pfarrer hat es mir versprochen, daß er sich um sie kümmern wird, wenn sie das Gefängnis verläßt. Ja, sie hat Diebsaugen. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen mich niedergeschlagen, und der Z ist schon frei. Ich packe meine Koffer. Julius Caesar hat mir seinen Totenkopf geschenkt. Daß ich ihn nur nicht verliere! Pack alles ein, vergiß nichts! Laß nur nichts da! Der Neger fährt zu den Negern.

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I NHALT

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Die Neger ................................................................................. Es regnet ................................................................................... Die reichen Plebejer ..................................................................... Das Brot ................................................................................... Die Pest .................................................................................... Das Zeitalter der Fische ................................................................. Der Tormann .............................................................................. Der totale Krieg .......................................................................... Die marschierende Venus................................................................ Unkraut .................................................................................... Der verschollene Flieger................................................................. Geh heim!.................................................................................. Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit..................................... Der römische Hauptmann ............................................................... Der Dreck.................................................................................. Z und N .................................................................................... Adam und Eva ............................................................................ Verurteilt ................................................................................... Der Mann im Mond ...................................................................... Der vorletzte Tag ......................................................................... Der letzte Tag ............................................................................. Die Mitarbeiter............................................................................ Mordprozess Z oder N ................................................................... Schleier .................................................................................... In der Wohnung ........................................................................... Der Kompaß............................................................................... Das Kästchen.............................................................................. Vertrieben aus dem Paradies ............................................................ Der Fisch................................................................................... Er beißt nicht an .......................................................................... Fahnen ..................................................................................... Einer von fünf............................................................................. Der Klub greift ein ....................................................................... Zwei Briefe ................................................................................ Herbst ...................................................................................... Besuch ..................................................................................... Die Endstation ............................................................................ Der Köder.................................................................................. Im Netz..................................................................................... Der N ....................................................................................... Das Gespenst .............................................................................. Das Reh .................................................................................... Die anderen Augen ....................................................................... Über den Wassern ........................................................................

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Kommentar

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Vorarbeit 1

Chronologisches Verzeichnis Vorarbeiten Vorarbeit 1: Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit – in sieben Bildern H1 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 208 mm), blaue Tinte E1 = Figurenliste mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ mit Notizen und Dialogskizzen

Die Entwürfe und Textstufen zu dem Dramenprojekt Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit dürften zwischen 1934 und 1936 entstanden sein. Sie bilden die früheste Vorarbeit zu dem Werkprojekt Jugend ohne Gott. Bei dem vorliegenden Entwurf E1 handelt es sich wahrscheinlich um den ersten Entwurf zu Der Lenz ist da! Horváth skizziert in ihm bereits die auch den späteren Roman Jugend ohne Gott kennzeichnenden männlichen und weiblichen Jugendgruppen, die Bedeutung des Fußballspiels (Sports) und seinen Gegensatz, eine Welt des „Geistes“ und Intellekts, wobei der Begriff „Geist“ hier noch wie ein sprechender Name für einen der männlichen Jugendlichen verwendet wird. Auch die Lehrerfiguren und die Elternfiguren als Gegenfiguren zu den Jugendlichen werden in dem vorliegenden Entwurf schon genannt. Der Entwurf hat den Charakter einer Figurenliste, könnte aber auch als Strukturplan in vier Bildern gewertet werden, denn die Punkte 2–4 tragen bildtitelähnliche Überschriften: „Die Mädchen“, „Die Professoren“ und „Die Eltern“ (vgl. E4–E8). Der in E1 notierte und von da an beibehaltene Werktitel Der Lenz ist da! spielt auf das Lied Lenz des Komponisten und Sängers Eugen Hildach (1849–1924) an, das auch in dem 1936/37 entstandenen Schauspiel Der jüngste Tag (vgl. WA 10/K4/TS5/SB Georg Marton, S. 36) erwähnt wird, dort allerdings unter dem Titel „Der Lenz ist da“, der den ersten Vers des Liedes bildet: „Die Finken schlagen, der Lenz ist da!“ Der Untertitel des in E1 erwähnten Werktitels verweist auf Frank Wedekinds Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie (1891; UA 1906), den revolutionären Klassiker der Literatur der Jahrhundertwende, durch den erstmals das Entstehen jugendlicher Sexualität und Brutalität auf die Bühne gebracht wurde. In einer am rechten oberen Rand notierten Dialogskizze ist von einem Text mit dem Titel „Von der Würde des menschlichen Lebens“ die Rede, der auch in Jugend ohne Gott eine Rolle spielen wird. Dort beteuert „Julius Caesar“, der wegen der Verführung einer Minderjährigen entlassene Lateinprofessor, gegenüber dem Lehrer, dass er einen Jugendlichen namens Robert kenne, der ein „nihilistisches“ Buch mit dem Titel Über die Würde des menschlichen Lebens gelesen habe, das „streng verboten“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 34) sei. Damit ist wahrscheinlich der 1496 posthum veröffentlichte Traktat De dignitatae hominis (Über die Würde des Menschen) des italienischen Humanisten Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) gemeint, der von der katholischen Kirche verboten wurde, weil in ihm die Menschen als dem Abbild Gottes nachgebildet und für sich selbst verantwortlich dargestellt werden (vgl. Horváth 2009a, S. 155). Der zweite Teil des Untertitels „in unserer Zeit“ erinnert an die analog gebildeten Titel Die Hochzeit

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Chronologisches Verzeichnis

des Figaro in unserer Zeit (vgl. WA 8), Ein Don Juan unserer Zeit (vgl. WA 9) und Ein Soldat unserer Zeit bzw. Ein Kind unserer Zeit (vgl. WA 16) in der Genese der jeweiligen Werkprojekte. H2 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (225 × 145 mm), Viertelbogen, unregelmäßig gerissen, blaue Tinte E2 = Strukturplan in 11 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen unserer Zeit“ mit Notizen (rechts) E3 = Figurenliste (links)

Die Blätter 1–5 der Mappe BS 11 a [1] bilden aufgrund ihrer Qualität und Größe eine Einheit. Bl. 2 dürfte allerdings als Erstes beschrieben worden sein, denn die Risskante befindet sich, wenn man die Seite, auf der die Entwürfe E2 und E3 eingetragen sind, als Vorderseite des Blattes betrachtet, auf der linken Seite, was die von Horváth übliche Verwendung solcher gerissener Blätter darstellt, wie sie auch auf den übrigen Blättern von H3 beobachtbar ist. Erst in der Folge wurde der auf den Bl. 1, 2v, 3–5 befindliche Strukturplan mit Dialogskizzen (E4) notiert, wobei das Bl. 2 auf seiner Versoseite wiederverwendet wurde. Wie ein gestrichener Eintrag auf Bl. 2 oben links zeigt („Wien, 2“), wollte Horváth diese kleinen Blätter zunächst für einen Brief verwenden, wie er dies wiederholt getan hat, vor allem wenn es sich um private Korrespondenz handelte. In E2 entwirft Horváth einen Strukturplan in elf Bildern mit den Bildtiteln: „Ferienlager“, „Fussballplatz“, „Der Kirchgang“, „Vor der Schule“, „Vor der Fabrik“, „Vor der Werkstatt“, „Die Professoren“, „Die Eltern“, „Die Staatsbehörde“, „Die Sportbehörde“ und „Die Liebe zum Mädchen“. In dem Strukturplan wird bereits in nuce das spätere Drama, das in Form des fragmentarischen Typoskripts T2 überliefert ist, erkennbar. Außerdem enthält der Strukturplan wesentliche Elemente auch des Romans Jugend ohne Gott, so die Bedeutung des Fußballspiels, der Religion, der Schule, der Fabrik, der Professoren, der Eltern und des Staats; sogar die Liebe zu einem Mädchen, wie sie im Roman zwischen dem Schüler aus der Stadt, Z, und der kleinen Diebin aus der Provinz, Eva, geschildert wird, ist schon vorweggenommen. Horváth wird sich schließlich zu einer Struktur in sieben Bildern (vgl. E6, E10, E15, E17, E18, TS2, E29–E32, E34 und E35) entschließen, wie sie in seinem Werk wiederholt vorzufinden ist (vgl. WA 4 und WA 10). Den Werktitel ändert er in E2 geringfügig gegenüber E1, die Präposition „in“ vor „unserer Zeit“ fehlt. Solche geringfügigen Änderungen sind aber wenig aussagekräftig in Bezug auf genetische Zusammenhänge. In E3 notiert Horváth eine fragmentarische Figurenliste mit „Vater“, „Mutter“, „Tochter“ und „Mutter“, „Sohn“. Zum „Vater“ findet sich die Notiz: „der Mann, der früher im Büro immer die Fenster aufgemacht hat“ – ein Eintrag, der in der Folge keine weitere Verwendung erfährt. H3 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 1, 2v, 3–5 2 Blatt unliniertes Papier (225 × 145 mm) und 3 Blatt unliniertes Papier (210 × 149 mm), Viertelbogen, unregelmäßig gerissen, blaue Tinte, Paginierung 1–5 E4 = Strukturplan in 4 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da!“ mit Dialogskizzen und Notizen

E4 stellt einen bereits weit ausgearbeiteten Entwurf dar, in dem Horváth eine Struktur in vier Bildern skizziert und dabei zu den ersten beiden Bildern „Vor einem Fussballplatz“ und „Bei den Mädeln“ größere Dialogskizzen ausarbeitet. Die fünf Blätter,

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die gemeinsam den Entwurf E4 bilden, sind von Horváth paginiert worden, was ihre Zusammengehörigkeit klar erkennbar macht. Die Figuren, die in den beiden Dialogskizzen vorkommen, die Buben und die Mädeln, haben noch keine Namen, sondern werden von Horváth einfach durchnummeriert, was ein Hinweis darauf ist, dass es sich noch um relativ frühe Entwürfe handelt, denn später (ab E9) entwirft Horváth Namen für sie. Das 1. Bild soll also, entgegen dem Strukturplan E2, wo ein 1. Bild „Ferienlager“ vorgesehen ist, „[v]or einem Fussballplatz“ spielen (in E2 ist dies das 2. Bild). In einer Szenenanweisung heißt es: „Vier Buben: (unterhalten sich – unter ihnen der Grosse, Starke)“ (Bl. 1). Die vier Buben wollten offensichtlich ein Fußballspiel besuchen, konnten sich aber den Eintritt nicht leisten („Zweiter: 10 Groschen haben mir noch gefehlt, dann hätte ich hineinkönnen!“, ebd.). So stehen sie „[v]or [dem] Fussballplatz“ und schauen abwechselnd „durch ein Astloch im Zaun“ (Bl. 1). Nachdem ein „Goal“ fällt, diskutieren sie mit drei anderen Schülern, die vom Spiel kommen, über Fußball. Der „Zweite“, zu dem Horváth „Geist“ notiert (vgl. E1), behauptet, dass die Verlierermannschaft „mit mehr Geist gespielt“ habe und die anderen deshalb „unverdient“ gewonnen hätten (Bl. 2v). Der „Grosse“ widerspricht ihm jedoch, wenn er sagt: „Ich pfeif Dir was auf Deinen Geist! Die Hauptsach sind die Goals!“ (ebd.), was sich in ähnlicher Form im Prosa-Exposé (TS1/BS 11 b, Bl. 2) und in der fragmentarischen Endfassung von Der Lenz ist da! (TS4/A4/BS 11 c, Bl. 22) findet, wo gleichfalls über den Gegensatz zwischen Schönheit und Effizienz des Spiels diskutiert wird. Zum Schluss dieser Dialogskizze notiert Horváth: „Gymnasiasten und Proleten (vereinigen sich im Gelächter)“ (Bl. 2v), womit er erstmals den Begriff „Proleten“ erwähnt. Im Roman wird der Begriff „Plebejer“ eine besondere Rolle spielen (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 14). Zum 2. Bild, das „Bei den Mädeln“ situiert ist, notiert Horváth zunächst zwei Alternativtitel „Bei den Eltern“ und „Bei den Professoren“. Zu Letzterem, der wohl der gültige bleibt, fügt er dann einen Untertitel „A.) Bei den Mädeln“ hinzu, zu dem er in der Folge eine Dialogskizze ausarbeitet. Darin treten drei Mädchen auf, die an der Tür ihres „Zimmerherr[n]“ „horchen“, der „weibliche[n] Besuch“ (Bl. 3) hat. Die Mädchen unterhalten sich dabei über die Liebe und die Dritte meint: „Damals waren die Leut noch so sentimental. Es hat noch eine Rolle gespielt, die Liebe. Da sind wir anders –“ (Bl. 4). Die Zweite fügt dem hinzu: „Wenn ich mal lieben werde, dann nur wegen des Kindes. Ich werde sparen, um ein Kind zu haben. Ohne Kind ist die Liebe nichts.“ Darauf repliziert die Dritte: „Dann treib ich lieber Sport.“ (ebd.) Horváth entwirft hier schon gegensätzliche jugendliche Standpunkte, die jedoch alle von einer Nüchternheit und Sachlichkeit geprägt sind, wie er sie dann im Roman Jugend ohne Gott als dem „Zeitalter der Fische“ (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 28) entsprechend darstellen wird. Auch die „marschierende Venus“ (ebd., S. 48), das moderne militärisch-sportliche Frauenbild, das er im Roman einer scharfen Kritik unterziehen wird, klingt hier schon an. In einer gestrichenen Notiz stellt der Autor den „[b]ürgerlich[en]“ Eltern die „[p]roletarischen“ gegenüber, wobei er Letztere für das 3. Bild vorsieht, das den Bildtitel „Die proletarischen Eltern“ trägt (Bl. 5). Hier ist ein „betrunken[er]“ (ebd.) Vater und eine ihn heimführende Mutter geplant, die von ihrem Sohn, dem Großen, „beschützt“ wird. Sie setzen sich auf eine Parkbank. Ebenfalls für dieses Bild vorgesehen sind ein Gymnasiast und ein Mädel, die auf einer anderen Parkbank sitzen und eine „Liebesszene“ (ebd.) geben. Es handelt sich dabei wohl um eine Vorläufer-Geschichte zur Liebesgeschichte zwischen Z und Eva in Jugend ohne Gott. Das 4. Bild trägt den Titel „Die Professoren“ und soll „Über das Turnen“ (ebd.) handeln.

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H4 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 6, 7 Insgesamt 2 Blatt, davon 1 Blatt unliniertes Papier (290 × 208 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen und 1 Blatt unliniertes Papier (290 × 416 mm), gefaltet, blaue Tinte E5 = Strukturplan in 3 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen unserer Zeit“ (Bl. 6 oben) E6 = Strukturplan in 7 Bildern mit Notizen, Repliken, Konfigurationsplänen und Dialogskizzen (Bl. 6 unten, Bl. 7) E7 = Strukturplan in 2 Akten mit Notizen, Repliken, Konfigurationsplänen und einer Dialogskizze (Bl. 7 oben rechts) E8 = Strukturplan in 2 Akten mit einer Replik, Notizen und einem Konfigurationsplan (Bl. 7 mittig rechts)

Die Bl. 6 und 7 der Mappe BS 11 a [1] dürften in inhaltlicher Hinsicht zusammengehören, was sich besonders im Strukturplan in sieben Bildern E6 äußert, der von Bl. 6 auf Bl. 7 übergreift. Bei Bl. 6 handelt es sich um dasselbe Papier wie bei Bl. 7, um einen großen Bogen im Format 290 × 416 mm, der im Fall von Bl. 6 in die Hälfte gerissen, im Fall von Bl. 7 jedoch nur zusammengefaltet wurde. In E5 notiert Horváth unter dem Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen unserer Zeit“ (vgl. E2) einen Strukturplan in drei Bildern mit den Bildtiteln: „Vor dem Fussballplatz“, „Bei den Mädchen“ und „Auf dem Sportplatz bei den Mädchen und Jungen“. Zum 2. Bild „Bei den Mädchen“ findet sich noch eine gestrichene Notiz: „Geist {kommt vorbei}“. Das 3. Bild hätte zunächst den Titel „Die Professoren“ tragen sollen, der aber gestrichen und durch „Auf dem Sportplatz bei den Mädchen und Jungen“ ersetzt wurde. Bei E6 handelt es sich um einen Strukturplan in sieben Bildern (vgl. E10, E15, E17, E18, TS2, E29–E32, E34 und E35), der mit zahlreichen Notizen und Dialogskizzen versehen ist und sich über die beiden Blätter 6 und 7 zieht. Die Struktur in sieben Bildern ist eine von Horváth häufig gewählte Makrostruktur (vgl. WA 4 und WA 10). Er wird diese Struktur im Falle des Werkprojekts Der Lenz ist da! über einige Zwischenstufen letztlich bis zur fragmentarischen Endfassung TS4/A4 beibehalten, wobei hier nur fünf Bilder ausgearbeitet sind. Das 1. Bild lautet in E6 wieder – ähnlich wie in E4 und E5 – „Vor dem Fussballplatz“. Zu diesem Bild notiert Horváth nichts, was ein Hinweis darauf ist, dass es schon ausgearbeitet ist (vgl. E4) und nicht mehr bearbeitet zu werden braucht. Zum 2. Bild „Bei der Mutter“, das in dieser Form noch nicht vorgekommen ist, skizziert der Autor einen Dialog zwischen der Mutter, einer „Kriegerwitwe“, und ihrem „Zimmerherr[n]“ (Bl. 6), die offensichtlich ein Verhältnis miteinander haben. Die Mutter fürchtet, dass ihr Sohn nachhause kommt und sie bei ihrem Techtelmechtel erwischt. Er ist bei einem Fußballspiel. Auch der Zimmerherr interessiert sich für Fußball, hat früher auch selbst gespielt. Die Mutter hingegen versichert, dass Fußball „roh“ (ebd.) ist. In dem Augenblick kommt ihr Sohn, es ist der bereits aus E1 bekannte „Geist“, nachhause. Er ist „zerfetzt“ und „[g]anz zerrissen“ und behauptet: „Sie haben mich geschlagen – zu sechst haben sie mich überfallen – – Kann ich mir hier nur noch ein Buch nehmen?“ (ebd.) Trotz schwerer Verletzungen bleibt er also dem Geist treu. Horváth skizziert hier erneut den Gegensatz von Geist und Sport, wie er ihn bereits in E1 entwickelt hatte. Die Problematik des unfairen Verprügelns (sechs gegen einen) findet sich im zweiten Kapitel („Es regnet“) von Jugend ohne Gott wieder, dort sind es fünf (E, G, R, H und T), die einen (den F) verprügelt haben und sich nicht dafür „schämen“, weshalb der Lehrer das erste Mal das Gefühl hat, dass die neue Jugend „roh“ ist (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 11–14). Bild 3 trägt den Titel „Professoren“ (B. 7; vgl. E1, E4 und E5). Hier wird die Problematik des

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unfairen Verprügelns von den Professoren diskutiert: „Sechs gegen einen, das geht nicht!“ (Bl. 7), meint ein alter Professor. Doch ein junger widerspricht ihm. Und ein dritter kontert: „Wir im Krieg, da waren oft 100 gegen einen – die Ritterlichkeit, mein lieber Kollege, das ist ein alter Schnee, ich weiss, was Sie meinen – aber diese Welt ist vorbei – –“ (ebd.). Im Roman heißt es diesbezüglich aus der Lehrerperspektive: „Ich erkundige mich nur, ob sie es noch nie gehört hätten, dass sich seit Urzeiten her, seit tausend und tausend Jahren, seit dem Beginn der menschlichen Gesittung, immer stärker und stärker ein ungeschriebenes Gesetz herausgebildet hat, ein schönes, männliches Gesetz: Wenn Ihr schon rauft, dann raufe nur einer gegen einen! Bleibet immer ritterlich!“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 13) Zum 4. Bild notiert Horváth zunächst: „Die Mä[dchen]“, streicht dies jedoch wieder und ersetzt den Bildtitel durch „Strasse“. Auch diesen Titel streicht er aber wieder genauso wie den darunter notierten Konfigurationsplan: „Der Rohe – Vater, Mutter“. Stattdessen notiert er einen „Konflikt“ zwischen dem „Junge[n] Lehrer“ und dem „Geist“: „der Geist: (haut dem jungen / Lehrer eine runter) / der Rohe: (haut dem jungen / Lehrer eine runter)“. Außerdem vermerkt Horváth zu diesem Bild: „Die Mitschüler, deren Eltern arbeitslos werden – fangen an, nachzudenken. / Dem einen Mitschüler stirbt die Mutter.“ (Bl. 7) Das 5. Bild zeigt den „Rohe[n]“, den „Geist“ und einen Polizisten. Zum Geist ist folgende, etwas kryptische Replik (ohne klar ersichtlichen Zusammenhang) notiert: „Was glaubt Ihr, wie das gewesen wär, wenn wir nicht freundlich gewesen wären!“ (ebd.) Eine weitere Notiz bringt den Geist mit einem „Mädel“ (ebd.) in Kontakt. Hieraus entwickelt sich wohl die Adam-und-Eva-Geschichte des Romans, zwischen dem intelligenten Tagebuchschreiber Z (dem Geist) und der verwahrlosten Diebin Eva. In E6 jedoch geht es vorerst nur um den Kontakt zu einer Schulkollegin, weshalb das 6. Bild auch den Titel „Vor der Schule“ trägt. Zu ihm ist nichts Weiteres notiert. Bild 7 hätte zunächst „Vor Gericht“ spielen sollen. Dieser Bildtitel wird jedoch gestrichen und durch „Wird der Geist relegiert?“ ersetzt. Auch dieser Titel wird gestrichen und durch „7.) Wieder in der Festung“ ersetzt. Hierzu ist Folgendes notiert: „Die bekehrten Schüler kommen. Der Professor kommt und sagt: er erteilt Privatunterricht.“ (Bl. 7; vgl. E15 und TS1/BS 11 b, Bl. 7) Damit endet E6. In E7 skizziert Horváth neuerlich einen Strukturplan, der allerdings an Detailliertheit deutlich hinter E6 zurückfällt. Der Autor entwirft hier eine Struktur in zwei Akten, wobei der I. Akt die Bilder „Fussballplatz“, „Bei der Mutter“ und „Die Professoren“ umfasst (vgl. E6). Zum II. Akt notiert Horváth das 1. Bild „Die Mädchen auf dem Sportplatz im Walde. Gemeinschaftsübung der Jungen.“ Hierzu entwirft er einen kleinen Dialog zwischen einem Jungen und einem Mädchen, die sich vor den Übungen „gedrückt“ haben und jetzt ins „Kino“ wollen. Bild 2 des II. Aktes zeigt sie folgerichtig in einer „Anlage. (Nach dem Kino)“. Dort treffen der Junge (Geist), das Mädel, der Rohe, Vater und Mutter zusammen. Vom Rohen heißt es, dass er seinen Vater „umbringen“ will, doch der Geist hält ihn zurück. Er versucht ihn zu bekehren, indem er ihm erzählt, dass er ein Buch gelesen hat: „Über die Würde des Menschen“ (vgl. E1 und E6) und fordert den Rohen auf, bei ihm zu übernachten. Ein von Horváth eingetragener Pfeil bringt dann den Strukturplan E7 mit E6 in Verbindung, wo der Anschluss an das 5. Bild hergestellt wird, das wohl E7 fortsetzen soll, ebenso wie die beiden folgenden Bilder. In E8 fertigt Horváth neuerlich einen Strukturplan in zwei Akten, der im Wesentlichen E7 wiederaufnimmt und weiterentwickelt. Zum I. Akt notiert Horváth folgende Bilder: „Fussballplatz“, „Bei der Mutter“, „Die Professoren“, zum II. Akt: „Die Mäd-

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chen auf dem Sportplatz“ und „Gemeinschaftsübung der Jungen im Walde“. Zum 1. Bild des II. Aktes findet sich die Replik: „Eine: Mein Bruder hat erzählt, sie haben einen verhaut, gestern –“, was auf E6 zurückverweist. Zum 2. Bild vermerkt der Autor: „Mädel in der Ferne marschieren vorbei“, eine Szene, die als eine der wenigen Konstanten in vielen Entwürfen (vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 1, E17, E21, E28, E29, E32/BS 11 a [1], Bl. 29, E34, TS3, E35/BS 11 a [1], Bl. 32 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4) wiederkehrt und in ähnlicher Form in das Kapitel „Die marschierende Venus“ in Jugend ohne Gott eingegangen ist (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 49–52). H5 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 9 1 Blatt kariertes Papier (295 × 208 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte E9 = Figurenliste mit Werktitel „Der Lenz ist da!“ mit einer Notiz (oben) E10 = Strukturplan in 7 Bildern (unten links) E11 = Notiz zum 1. Bild (unten rechts)

Die Bl. 9–15 der Mappe BS 11 a [1] weisen dieselbe materielle Qualität auf (kariertes Papier im selben Format und schwarzblaue Tinte), weshalb sie wohl auch textgenetisch zusammengehören. Horváth entwirft auf diesen Blättern, die vermutlich in geringem, aber doch merkbarem Abstand zu den zuvor gereihten Entwürfen der Vorarbeit 1 entstanden sein dürften, ein deutlich spezifischer geartetes Stück unter demselben Titel Der Lenz ist da! Mit E9 beginnt er die Figuren mit Namen zu bezeichnen. Er notiert für die „Schüler“ folgende Namen: Peter = Geist (der seit E1 verwendete sprechende Name wird damit von Horváth unterdrückt), Rudolf, Max, Alfred und Robert. Ein Großteil dieser Namen bleibt bis zur fragmentarischen Endfassung des Stückes VA1/TS4/A4 erhalten. Weiters erwähnt er drei „Buben“: Kobenzl – der Rohe, Schorsch und Nicolo. An „Schülerinnen“ finden sich: Marianne, Elisabeth, Ernestine und Lili. An weiteren „Mädeln“: Kitty, die als „Type der Haustochter“ (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 94) bezeichnet wird, und Maria. Außerdem notiert Horváth die „Mutter Peters“ und den „Zimmerherrn“ (vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 6) sowie die „Professoren“ Klatt, Bauer, Strasser und Hansheinrich Schmidt, den „Turnlehrer“. Auch von einem der „Buben“ sollen „Vater“ und „Mutter“ im Stück vorkommen. Weiters werden notiert: ein „Polizist“ und „[z]wei Lehrerinnen“. In E10 skizziert Horváth einen Strukturplan in sieben Bildern (vgl. E6, E15, E17, E18, TS2, E29–E32, E34 und E35), der folgende Bildtitel umfasst: „Fussballplatz“ (vgl. E2, E4/BS 11 a [1], Bl. 1 und E5–E8), „Korridor in der Schule“, „Wald“, „Parkanlage“ (vgl. E4/BS 11 a [1], Bl. 5, E7 und E12), „Bei der Mutter“ (vgl. E6–E8), „Turnsaal“ und „Kiesgrube“ (vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 20). Damit entwirft der Autor eine Reihe neuer Bilder. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Bilder „Wald“ und „Kiesgrube“. Der „Wald“ wird nicht nur im weiteren Verlauf des Dramenfragments, sondern insbesondere im Roman Jugend ohne Gott eine besondere Rolle spielen, nämlich als Ort der paramilitärischen Übungen und als Tatort des Mordes an dem jungen N. In E11 notiert Horváth nur folgende Bemerkung zum 1. Bild: „Peter möchte eine Zeitschrift herausgeben. Wird verspottet von Schmidt.“ Wieder betont er damit die Intellektualität Peters, des „Repräsentant[en] des Geistes“ (TS1/BS 11 b, Bl. 2). Der Entwurf bricht an dieser Stelle jedoch ab.

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H6 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 10 1 Blatt kariertes Papier (295 × 208 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte E12 = Strukturplan in 3 Bildern mit Konfigurationsplänen, Notizen und Repliken

E12 stellt einen Strukturplan in drei Bildern dar mit den Bildtiteln: „Fussballplatz“ (vgl. E2, E4/BS 11 a [1], Bl. 1, E5–E8 und E10), „Korridor in der Schule“ (E10) und „Parkanlage“ (vgl. E4/BS 11 a [1], Bl. 5, E7 und E10). Er bildet eine Fortsetzung des Strukturplans von E10, bricht jedoch nach dem dritten Bild ab. Zum 1. Bild „Fussballplatz“ entwirft Horváth eine Reihe von Konfigurationsplänen zu einzelnen Szenen. Im Zentrum stehen dabei die Figuren Kobenzl, Schorsch, Nicolo, Peter und Kitty. Zu Kitty notiert der Autor, dass sie Kobenzls Freundin ist, in der folgenden Szene soll sie sich jedoch zu einem „Rendez-vous“ mit Peter verabreden. In einer Replik versichert Professor Schmidt, der Turnlehrer (vgl. E9): „Peter hat Unrecht. Es kommt nicht auf den Geist an, sondern auf die Tore!“ (vgl. E4/BS 11 a [1], Bl. 2v, E12, E14/BS 11 a [1], Bl. 14, TS1/BS 11 b, Bl. 2 und TS4/A4/BS 11 b, Bl. 22) Weiterhin wird zu Peter folgende Replik notiert: „Ich will jetzt eine Zeitschrift herausgeben – Die Zeitschrift müsste für alles Grosse eintreten – alles Wahre. Es ist soviel Lüge in der Welt.“ Damit skizziert Horváth erstmals den Motivkreis der „Wahrheit“, der im Gerichtssaalroman Jugend ohne Gott eine ganz zentrale Bedeutung spielen wird, wo es um die Wahrheitsfindung nach einem Verbrechen geht. Die Wahrheitssuche ist dort vor allem dem Lehrer zugeteilt, aber auch den Mitschülern des getöteten N, deren vier einen „Klub“ gründen, dem es um „Wahrheit und Gerechtigkeit“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 174) geht. Statt einer Zeitschrift schreiben sie „Berichte“, die dem Lehrer überbracht werden. Mit Kitty, Kobenzl, Schorsch und Nicolo sind auch bereits die jugendlichen Diebe angelegt, die im Roman eine wichtige Rolle spielen werden. In E12 notiert Horváth diesbezüglich einen „Krach, wegen etwas anderem, was schon mit dem Diebstahl zusammenhängt“. Außerdem bemerkt er zu Kobenzl und Kitty: „sie beschliessen ihn [Peter; Anm.] hineinzulegen“. Zum 2. Bild notiert er eine Replik Professor Schmidts: „Er [Peter; Anm.] will eine Zeitschrift herausgeben – hier hab ich einen Artikel bei ihm gefunden: ‚Es kommt im Leben nicht auf die Tore an, sondern auf das schönste Spiel!‘“ Zum 3. Bild notiert Horváth nur den Bildtitel „Parkanlage“. Der Titel findet sich bereits in vorhergehenden Entwürfen (E4/BS 11 a [1], Bl. 5, wo von einer „Bank“ die Rede ist, E7, „Anlage“, und E10) und steht dort für ein Bild, in dem eine „Liebesszene“ zwischen einem Jungen, im vorliegenden Fall: Peter, und einem Mädel geplant ist (vgl. das „Liebeserlebnis“ in E15 und die „melancholische Liebesszene“ in TS1/BS 11 b, Bl. 3 sowie die nächtliche Liebesszene zwischen Z und Eva in Jugend ohne Gott, K/TS2/Horváth 1938a, S. 100–106). H7 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 11, 12 2 Blatt kariertes Papier (295 × 208 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte E13 = Strukturplan in 3 Akten mit Werktitel „Der Lenz ist da!“ mit Repliken, Dialogskizzen, Notizen und Konfigurationsplänen

Wahrscheinlich gehören die Bl. 11 und 12 zusammen und bilden gemeinsam einen Strukturplan in drei Akten. Allerdings notiert Horváth für den ersten Akt eine arabische Ziffer, während er für die Akte zwei und drei römische Ziffern verwendet. Aus inhaltlichen und formalen Gründen scheint jedoch die Zusammengehörigkeit der beiden Blätter deutlich. Zum Werktitel notiert der Autor den Zusatz: „Das Stück

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spielt in einem Wald“ (Bl. 11). Eine Verortung der Handlung im Wald liegt spätestens seit E10 vor, wo Horváth erstmals ein Bild „Wald“ festhält. Damit entwickelt er bereits zu diesem Zeitpunkt ein entscheidendes räumliches Umfeld des späteren Romans. Der Wald bringt einen weiten Spielraum an Konnotationen mit sich, die vom „deutschen Wald“ über die Romantik zu den nationalsozialistischen Jugendbünden reichen. Horváth hat wohl bewusst einen solchen assoziationsreichen Locus gewählt. Auf Bl. 11 notiert er zunächst ein 1. Bild „Die Mädeln beim Turnen“, streicht dies jedoch wieder und ersetzt es durch ein 1. Bild, in dem der Bürgermeister auftreten und die Jugendlichen auf dem Land begrüßen soll: „Und so begrüsse ich mit einer besonderen Freude die Jugend hier, die Zukunft unseres Volkes! Stählt Euere Körper, lebt in der frischen Luft heraussen! Diese Ruine hier droben sieht auf Euer Lager herab – denkt an die edlen Ritter!“ (Bl. 11) Damit spricht der Bürgermeister in ‚gutem’ völkischem Jargon. Wenn er auf die Ritter verweist, so könnte das eine Wiederaufnahme der Problematik des fairen Kampfes sein (vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7). Eine ähnliche Begrüßung durch den Bürgermeister, allerdings ohne Ansprache, findet sich auch in dem späteren Roman Jugend ohne Gott im Kapitel „Der totale Krieg“ (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 43f.). Horváth streicht jedoch auch diesen Entwurf wieder und skizziert dann ein 1. Bild, das jedoch als I. Akt gewertet werden kann, mit dem Bild-/Akttitel „Im Walde“. Hierzu notiert er: „Die Mädchen singen und ziehen vorbei – mit der Lehrerin.“ (Bl. 11; vgl. E8, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 1, E17, E21, E28, E29, E32/BS 11 a [1], Bl. 29, E34, TS3, E35/BS 11 a [1], Bl. 32, TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4 und das Kapitel „Die marschierende Venus“ in K/TS2/Horváth 1938a, S. 48–52, wo eine ganz ähnliche Szene geschildert wird) Auch die bereits aus E9 bekannten Figuren Schorsch und Nikolo finden hier Erwähnung. Sie „kommen hinter einem Baum hervor“ und „unterhalten sich über die Mädel, die im Schloss wohnen“ (Bl. 11). Schließlich taucht Kobenzl (vgl. E9) auf und „berichtet von den Jungen, die auch ein Lager haben, rechts am Waldrand“ (Bl. 11). Damit ist das „Zeltlager“ angesprochen, das in den folgenden Entwürfen und Textstufen (E14/BS 11 a [1], Bl. 18, TS1/BS 11 b, Bl. 5, E15, E18, E19, E21, E29–E31, E32/BS 11 a [1], Bl. 29 und E35/BS 11 a [1], Bl. 32 und 33) als eigenes Bild im Stück geplant ist. Zwei weitere Notizen an dieser Stelle, nämlich „Ferienlager“ und „Osterferien“, verweisen wieder voraus auf den Roman, wo es zu Beginn des Kapitels „Der totale Krieg“ heißt: „Vor drei Jahren erliess die Aufsichtsbehörde eine Verordnung, durch welche sie die üblichen Osterferien in gewisser Hinsicht aufhob. Es erging nämlich die Weisung an alle Mittelschulen, anschliessend an das Osterfest die Zeltlager zu beziehen. Unter ‚Zeltlager’ verstand man eine vormilitärische Ausbildung. Die Schüler mussten klassenweise auf zehn Tage in die sogenannte freie Natur hinaus und dort, wie die Soldaten, in Zelten kampieren, unter Aufsicht des Klassenvorstands.“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 42; vgl. auch TS1/BS 11 b, Bl. 1 und 3–6 sowie TS4/A4/BS 11 c, Bl. 1 und 10) Eine weitere Notiz lässt Max, Peter, Alfred und Rudolf (vgl. E9) auftauchen, die sich „über Fussball“ „unterhalten“ (Bl. 11). Anschließend werden sie von Kobenzl, Schorsch und Nikolo in ein Gespräch verwickelt, in dem diese erzählen, dass sie aus der nahe gelegenen „Kleinstadt“ stammen, wo sich „eine Fabrik“ befindet, die aber „stillgelegt“ wurde, weshalb ihre „Eltern arbeitslos“ seien (Bl. 11; vgl. das stillgelegte „Sägewerk“ in K/TS2/Horváth 1938a, S. 43f.). Dann soll das Gespräch neuerlich auf Fußball kommen. Zuletzt taucht der Turnlehrer Schmidt (vgl. E9) auf, „Mädels: (ziehen vorbei)“ (Bl. 11) und Schmidt soll sich mit der Lehrerin der Mädchen unterhalten (vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 16, E35/BS 11 a [1], Bl. 32 und K/TS2/Horváth 1938a, S. 50f.). Aus einem Konfi-

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gurationsplan geht hervor, dass auch zwischen den Mädchen und Buben „kurze Dialoge“ (Bl. 11) vorgesehen sind. Den Abschluss soll eine (Liebes-)Szene zwischen Peter und Kitty bilden, dem verwahrlosten Mädchen, das in E9 als „Type der Haustochter“ bezeichnet wird, aber bereits in E12 als Gefährtin der jungen Diebe Kobenzl, Schorsch und Nikolo, im Besonderen als Freundin Kobenzls, erscheint (vgl. die „melancholisch[e] Liebesszene“ zwischen Hannes und Kitty in TS1/BS 11 b, Bl. 3). Der II. Akt soll wieder im „Wald“ spielen und zwar im „Lager der Buben“. Diese bekommen „Elternbesuch“ und sind, laut einer Notiz“, „2 Wochen“ hier (Bl. 12; vgl. die „drei Wochen“, die die Mädchen auf dem Schloss sind, in TS4/A4/BS 11 c, Bl. 5 und die Verkürzung auf „zehn Tage“ in Jugend ohne Gott in dem weiter oben angeführten Zitat). Die „Professoren“ sollen in einer „Disziplinaruntersuchung“ über Peter beraten, „der in der Nacht immer weg ist“ (Bl. 12; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 18, TS1/BS 11 b, Bl. 6 und die nächtlichen Ausflüge des Z zu Eva in Jugend ohne Gott, K/TS2/Horváth 1938a, S. 94f. und 102f.). Laut einer Notiz soll Kitty kommen und sagen, dass sie „wegen Diebstahls“ verfolgt werde, „aber sie sei unschuldig“ (Bl. 12). Peter will ihr helfen, entdeckt dann aber, dass wirklich etwas gestohlen wurde (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 3, wo Kitty behauptet, Peter seine „goldene Uhr“ stehlen zu wollen). Auch eine „Zeitschrift“, die wohl Peter herausgegeben hat, wird hier erwähnt (vgl. Bl. 12). Der III. Akt ist „Vor der Höhle“ der Diebesbande angesiedelt. Hier treffen sich Peter, Kobenzl und Kitty. Horváth notiert hierzu: „Bekehrung Kobenzls zum Geist“, was eine seltsame Wendung darstellt, die in dieser Form auch keine weitere Verwendung findet. Abschließend tauchen die „Polizei“ und ein „Professor“ auf. Was sie genau tun, geht aus dem Entwurf nicht hervor, aus früheren Entwürfen scheint es aber plausibel, dass sie die jungen Diebe verhaften und Peter von zumindest einem Professor versichert bekommt, dass er ihm „Privatunterricht“ (E6/BS 11 a [1], Bl. 7) gibt. Unter diesen beiden Figurennamen notiert Horváth in großen Lettern „Ende“ und schließt damit die Ausarbeitung ab. H8 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 13–20 Insgesamt 8 Blatt, davon 3 Blatt kariertes Papier (295 × 208 mm), Halbbogen, gerissen und 5 Blatt unliniertes Papier (295 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1–8 E14 = Strukturplan in 4 Akten mit Notizen, Repliken, Dialogskizzen und Konfigurationsplänen

Die Bl. 13–20 sind zwar unterschiedlich, was ihre Qualität betrifft (kariertes und unliniertes Papier in unterschiedlichem Format), gehören aber aufgrund einer von Horváth eingetragenen Paginierung eindeutig zusammen. Sie bilden einen Strukturplan in vier Akten. Horváth entwirft damit erstmals eine Struktur, wie sie auch das Prosa-Exposé (TS1) kennzeichnet. Es scheint deshalb naheliegend, dass zwischen der Erstellung dieses umfänglichen Strukturplans mit zahlreichen Notizen und dialogischen Ausarbeitungen und der Erstellung des Prosa-Exposés nicht allzu viel Zeit verstrichen ist, weshalb es unmittelbar nach diesem Entwurf gereiht wird. Der I. Akt spielt ähnlich wie in E13/BS 11 a [1], Bl. 11 auf einer „Waldlichtung“ zu „Ostern“ (Bl. 13). Horváth entwirft für diesen I. Akt eine Struktur in zehn Bildern. Wie in dem vorhergehenden Entwurf „ziehen“ zunächst „Mädeln“ „mit Gesang vorbei“ (ebd., 1. Bild). Wieder kommen Schorsch und Nikolo (von Horváth fallweise auch als „Nicolo“ geschrieben) „hinter einem Baum hervor“ und „unterhalten sich über die Mädeln, die im nahen Schloss wohnen, ein Ferienlager, Osterferien“ (ebd., 2. Bild). Kobenzl taucht auf und „berichtet mit Sorge von den Jungen, die am Wald-

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rand auf dem Höhenzug ein Zeltlager errichten“. Er fürchtet, dass sie „ihre Höhle“ „entdecken“ (Bl. 13, 3. Bild). Zu den Namen Schorsch, Nikolo und Kobenzl notiert Horváth an dieser Stelle erstmals Alternativen, nämlich „Nussknacker“, „Capone“ und „Dillinger“. Es sind dies die „Spitznamen“ (TS1/BS 11 b, Bl. 1) der jungen Diebe, deren letztere beiden der Autor in den folgenden Entwürfen (vgl. E17, E28, E29, E34 und E35), im Prosa-Exposé (TS1), in TS2 und TS3 sowie in der fragmentarischen Endfassung (TS4/A4) statt der zunächst gewählten Namen verwenden wird. Den „Nussknacker“ ersetzt er in der Folge durch den Namen Hannes, der ohne Spitznamen bleibt (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 1, TS2, E28, E29, E34 und E35). In einem nachträglich hinzugefügten Bild 3a.) sollen „nochmals“ „Mädeln“ vorbeiziehen. Bild 4 zeigt Peter, Max, Alfred und Rudolf, die sich über Fußball unterhalten und dann mit den drei jungen Dieben ins Gespräch kommen. Dabei erfahren sie von der „Kleinstadt“ und der „stillgelegte[n] Fabrik“ (vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 11) sowie von „Heimarbeiter[n], die Spielzeuge herstellen“ (Bl. 13; vgl. die Kinder, die zuhause Puppen bemalen, in der fragmentarischen Endfassung TS4/A4/BS 11 c, Bl. 11 und in Jugend ohne Gott, K/TS2/Horváth 1938a, S. 59f.). Im 5. Bild taucht der Turnlehrer, Prof. Hansheinrich Schmidt (vgl. E9), auf. Von ihm heißt es: „er ist bei den Jungen beliebt, nur gegen Peter hat er eine Aversion“ (Bl. 13). In einem Gespräch über Fußball entscheidet Schmidt „gegen den Geist, gegen Peter“ (Bl. 14; vgl. E4/BS 11 a [1], Bl. 2v, TS1/BS 11 b, Bl. 2 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 22). Peter, eine Vorläuferfigur des Tagebuch schreibenden, intellektuellen Z im Roman Jugend ohne Gott, wird schließlich von den Jungen „verhöhn[t]“ (Bl. 14, Bild 6). Auch Schorsch und Nicolo „verhöhnen“ Peter und meinen: „Es kommt nur auf die Tore an!“ (Bl. 14) Daraufhin kommt es zu einem Wortgefecht zwischen Nicolo und Peter, wobei Ersterer den Letzteren „schlägt“. Peter schlägt aber nicht zurück, weil Nicolo ihm „zu klein“ ist (Bl. 14, Bild 7; vgl. WA 8/K3/TS6/A2/BS 35 b, Bl. 8). In Bild 8 taucht Kitty auf, die neuerlich als „Haustochter-Typ“ (Bl. 14; vgl. E9 und K/TS2/Horváth 1938 a, S. 94) bezeichnet wird. Sie ist mit Schorsch, Nicolo und Kobenzl verbündet und weist ihnen den Weg: „Rasch! Ihr müsst weg! Es ist keiner da! Holt die Maschine!“ (Bl. 14) Dies dürfte ein erster Hinweis auf den Diebstahl des „photographischen Apparat[s]“ sein, der in Jugend ohne Gott (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 73) eine zentrale Rolle spielt. Bild 9 zeigt dann Kitty und Peter. Kitty fragt Peter, wie lange sie dableiben. Peter antwortet: „8 Tage“ (Bl. 14; vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 12, wo es noch „2 Wochen“ sind, und den Roman, wo es „zehn Tage“ sind, vgl. auch den Kommentar zu E13). Anschließend heißt es: „sie machen ein Rendez-vous aus“ (Bl. 15). Bild 10 zeigt Kobenzl und Kitty. Kobenzl ist eifersüchtig auf Peter, worauf ihm Kitty versichert, dass sie sich nur mit ihm anfreunde, um ihm seine „goldene Uhr“ zu stehlen (Bl. 15; vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 3). Horváth notiert sich an dieser Stelle zweimal: „Er hat eine goldene Uhr“ (Bl. 15) und unterstreicht dies im zweiten Fall sogar doppelt. Anschließend vermerkt er „Aktschluss“. Auf Bl. 16 notiert Horváth zunächst den Akttitel „II. Akt“, streicht diesen jedoch wieder und notiert „I. Akt“, worauf die Bilder 11–15 folgen, die die auf Bl. 13–15 entworfenen Bilder 1–10 fortsetzen, wodurch die Zusammengehörigkeit der Bl. 16–20, die auf unliniertem Papier gefertigt sind, mit den vorangehenden Bl. 13–15 auf kariertem Papier eindeutig belegt ist. Für das 11. Bild notiert sich Horváth einen Konfigurationsplan mit „Mädel“ und „Lehrerin“ sowie der Notiz „mit Gesang“. Eine Replik der Lehrerin lautet: „Halt! Abzählen!“ Sie verweist neuerlich auf den militärischen Umgangston der „marschierenden Venus“ (vgl. oben). Eine Notiz „Turnen,

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ausziehen“ deutet den Inhalt dieses Bildes an, das die Mädchen beim Turnen und im Turngewand zeigen soll (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 3 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 5 und 18f.). Für das 12. Bild ist dann ein Auftritt der „Jungen“ mit ihrem Lehrer Schmidt vorgesehen, die an den Mädchen „mit Gesang vorbei[ziehen]“. Ähnlich wie im späteren Roman Jugend ohne Gott kommt es dann zu einem Gespräch zwischen der Lehrerin und dem Lehrer, der hier noch Schmidt heißt. Die Lehrerin erklärt wie im Romankapitel „Die marschierende Venus“: „Wir suchen den verschollenen Flieger –“ (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 51). In der Folge notiert Horváth „Vorhang“, korrigiert dies aber durch drei weitere Bilder, die mit dem Hinweis „eventuell“ versehen sind: Im 13. Kapitel sollen die „Jungen“ „singen“ und „vorbei“ marschieren. Zu Peter notiert der Autor: „singt nicht mit“. Auch eine Konfrontation zwischen Peter und Schmidt ist hier angedeutet. Im 14. Bild sollen die „Mädel“ den „Flieger“ „suchen“ (vgl. das Kapitel „Der verschollene Flieger“ im Roman Jugend ohne Gott, K/TS2/Horváth 1938a, S. 55–58). Zum 15. Bild notiert Horváth: „Mädel – Verbrechen (Kitty)“, was ein Hinweis darauf ist, dass es in diesem Bild bereits ein Verbrechen geben soll, an dem ein Mädchen namens Kitty beteiligt ist (vgl. E15, TS1/BS 11 b, Bl. 2f. und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 23f.). Diese Kitty ist eine Vorläuferfigur der Eva im Roman Jugend ohne Gott. Auf Bl. 17 vermerkt Horváth den Akttitel „II. Akt“ und fügt folgende Szenenanweisung hinzu: „Im Walde. Es dämmert.“ Zum 1. Bild vermerkt er: „Mädel sammeln Wildgemüse und suchen verschollenen Flieger“, was ein Hinweis darauf sein dürfte, dass die Bilder 13–15 von Bl. 16 doch eher als obsolet zu betrachten sind und von den in der Folge notierten Bildern des II. Aktes ersetzt werden. Zu Bild 2 notiert sich Horváth einen „Dialog“ zwischen den „Mädel[n]“ und den „Jungen“. Bild 3 zeigt dann den Lehrer Schmidt und die Lehrerin (vgl. E35/BS 11 a [1], Bl. 32 und K/TS2/Horváth 1938a, S. 50f.). Für Bild 4 sind Kitty und Peter vorgesehen. Zu Peter notiert Horváth die Replik: „Ich möchte den menschlichen Geist dazu brauchen, um Euch zu helfen –“. In Bild 5 „stiehlt“ Kitty „Peter die Uhr“, das im 15. Bild des II. Aktes angedeutete „Verbrechen“ findet also erst hier statt. In Bild 6 versichert Peter gegenüber Kitty: „Die anderen, Mädeln sind mir zu dumm –“. Bild 7 sieht neuerlich eine Zusammenkunft des Lehrers Schmidt und der Lehrerin vor. Zu Bild 8 notiert Horváth: „Kitty (gibt ihm die Uhr zurück – ,Ich hab sie Dir gestohlen.‘)“, streicht jedoch dieses Bild nachträglich. Zum 9. Bild vermerkt Horváth einen Dialog zwischen Kobenzl und Kitty, die die Uhr zwar hat, sie aber nicht an Kobenzl abgeben will. Der „verhaut sie“, aber sie gibt sie trotzdem nicht heraus. Horváth notiert am Ende dieses Bildes „Vorhang“. Auf Bl. 18 setzt er mit dem III. Akt fort. Hier findet sich zunächst ein Bild „Im Zeltlager“. Es spielt „In der Früh“. Die Jungen müssen „zum Appell“ antreten. Dabei erhalten sie auch „Post von zuhause“. Darüber hinaus notiert Horváth einen Dialog zwischen Schmidt und Peter. Peter war in der Nacht außerhalb des Lagers und wird jetzt vom Lehrer verwarnt: „Die Disziplin des Lagers lässt das nicht zu. Also keine Extraturen mehr, ja?!“ (vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 12 und TS1/BS 11 b, Bl. 5) Zu Peter ist noch eine Replik vermerkt, in der er konstatiert, dass er seine Uhr „verloren“ hat, dass sie eine „Erinnerung an [s]einen Vater“ war, „der im Felde gefallen ist –“. In einem anschließenden Dialog zwischen Peter und den Jungen „verhöhnen“ ihn diese wieder: „Hast Dich im Mondschein lyrisch gebadet?“ Laut einer Notiz sollen sie ihn auch verprügeln und zwar fünf gegen einen (vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7). Doch Horváth streicht diese Notiz wieder und notiert stattdessen: „der Kleinste schlägt ihn; er

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schlägt nicht zurück“. Daraufhin wird er vom Lehrer zur Rede gestellt und seine Männlichkeit angezweifelt. Er erwidert aber, dass er nicht zurückgeschlagen habe, weil ihm der andere „zu klein“ (ebd.) war (vgl. auch Bild 7 des I. Aktes). „Zur Strafe“ wird Peter von Schmidt zum Kartoffelschälen (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 5) eingeteilt, während die anderen Jungen eine „Geländeübung“ (Bl. 19) machen. Peter liest jedoch ein Buch. Darunter notiert Horváth ein Zusammentreffen zwischen Peter und den kriminellen Jugendlichen Kobenzl, Schorsch und Nikolo, die zu dritt über ihn herfallen. Die Professoren wundern sich, wie man so unfair sein kann (vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7 und den Kommentar zu E6). Peter „schält“ nun „Kartoffel“ (Bl. 19). Wegen eines Sturms kommen die Jungen verfrüht zurück. Ein Gendarm taucht auf und bringt Peters Uhr, die er bei dem „alten Säufer Hanslich“ (ebd.) gefunden hat. Es kommt zu einem „Zusammenstoss“ (ebd.) zwischen Peter und Schmidt, den Letzterer mit den Worten: „Das wirst Du mir büssen!“ quittiert. Ein „Vorhang“ beschließt diesen Akt. Den Abschluss von E14 bildet Bl. 20. Hier setzt Horváth mit dem IV. Akt fort. Zu diesem notiert er die Szenenanweisung oder den Bildtitel „In der Kiesgrube“. Die Ausarbeitung dieses abschließenden Aktes bleibt auf ein paar Konfigurationspläne und ein paar Repliken beschränkt. Zunächst bemerkt Kitty gegenüber Kobenzl, dass ihr Vater verhaftet wurde, was sie mit den Worten: „Recht geschiehts ihm!“ kommentiert. Peter taucht auf und bemerkt: „Mit mir ists aus“, wohl auf seine Auseinandersetzung mit Schmidt Bezug nehmend. Peter und Kobenzl sollen sich dann versöhnen. Daraufhin kommt ein Gendarm und „verhaftet die Kinder“. Den Schluss des Bildes soll ein Dialog zwischen Peter und Prof. Bauer (vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7 und E13/BS 11 a [1], Bl. 12) bilden. Darunter notiert Horváth in großen Lettern: „Ende“. Das Werkprojekt wurde damit von Horváth wie bereits in E6 und E13 neuerlich bis zum Ende durchgedacht. In TS1 leistet er die narrative Umsetzung dieses Strukturplans in Form eines Prosa-Exposés, das wesentliche Ingredienzien von E14 wiederaufnimmt und weiter ausarbeitet. Die fragmentarische Endfassung TS4/A4 sieht demgegenüber jedoch deutlich anders aus. Dennoch hat Horváth in dem vorliegenden Strukturplan E14 einen wichtigen Gesamtplan für sein Werkprojekt entworfen, in dem in einigen Aspekten das spätere Drama (TS4/A4) und der Roman Jugend ohne Gott (K/TS2) erkennbar werden. T1 = ÖLA 3/W 311 – BS 11 b, Bl. 1–7 7 Blatt unliniertes Papier (295 × 208 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift, Paginierung 1–7 TS1 = Fassung (Prosa-Exposé) in 4 Akten mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit in vier Akten von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht: schwarzblaue Tinte) Druck in: KW 16, S. 197–202.

T1 ist auf demselben Papier verfasst wie Teile des unmittelbar vorhergehenden Entwurfs E14. Dies stützt die Vermutung eines genetischen Naheverhältnisses, die sich vor allem auch durch die im genetischen Material singuläre strukturelle Verwandtschaft des Strukturplans und der Fassung aufdrängt. Das von Horváth mit dem Gattungstitel „Exposé“, dem handschriftlichen Zusatz „Skizze“ und dem Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit in vier Akten“ betitelte Typoskript umfasst sieben Blätter. Warum Horváth dieses Prosa-Exposé verfasste, ist nicht eindeutig zu klären. Möglicherweise sollte es ihm nur zur inhaltlichen Erstaus-

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formulierung dienen. Es stellt keine unmittelbare Grundlage für die fragmentarische Endfassung (TS4/A4) dar, die zu einem späteren Zeitpunkt in der Werkgenese in dramatischer Form und in sieben Bildern realisiert wurde und bis zu deren Abfassung von Horváth noch eine Reihe von Strukturplänen (E15, E16, E18, E19, E21–E24, E28–E32 und E35) entworfen wurde. Horváth setzt im Prosa-Exposé die Struktur in vier Akten um, die er kurz zuvor im Strukturplan E14 skizziert hatte. Dieser führt jedoch für die Figurennamen der drei jungen Diebe noch Schorsch, Nikolo und Kobenzl, die im Prosa-Exposé durch Capone, Dillinger und Hannes ersetzt werden. Allerdings hatte Horváth in E14 in einer wohl nachträglich eingefügten Marginalie die Namen Capone, Dillinger und Nussknacker schon notiert (vgl. den Kommentar zu E14). Sie standen also wahrscheinlich schon kurz nach der Ausarbeitung dieses Entwurfs fest. Bei TS1 handelt es sich also um eine narrative Ausarbeitung der in E14 entwickelten Ideen und Bilderfolge. Zunächst hatte Horváth im Exposé „in drei Akten“ getippt, dies jedoch handschriftlich zu „in vier Akten“ korrigiert. Das Typoskript weist darüber hinaus kaum handschriftliche Eingriffe auf, mit Ausnahme des Endes des I. Aktes, wo Horváth an einer Stelle einen Nebensatz hinzufügt. Die makrostrukturelle Gliederung in Akte ist ein deutliches Indiz dafür, dass Horváth auch zum Zeitpunkt der Abfassung des Prosa-Exposés noch an eine spätere dramatische Verarbeitung des Stoffes dachte. Der 1. Akt spielt auf einer „Waldlichtung. In der Osterzeit“ (vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13 und K/TS2/Horváth 1938a, S. 42). Zunächst marschiert „[e]ine Abteilung junger Mädchen im Alter von 14-17 Jahren“ „unter Anführung einer Turnlehrerin“ vorbei und singt „militärische Lieder“ (Bl. 1; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 13). Dann tauchen zwei Jungen, 14 und 15 Jahre alt, aus dem Gebüsch auf. Sie unterhalten sich über die Mädchen, die auf Ferienlager und auf dem leer stehenden Schloss einquartiert sind. Die beiden Jungen stammen aus dem nahe gelegenen Dorf, „einem kleinem Industrieort mit stillgelegter Fabrik und Heimarbeiterindustrie“ (ebd.; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 13). Das Dorf ist verarmt und von „grosse[r] Not“ gekennzeichnet: „[D]ie beiden Jungen sind richtige Proletarierkinder.“ (Bl. 1) Sie haben sich die „Spitznamen Capone und Dillinger“ (ebd.) zugelegt. Zu ihnen stößt dann ihr „Kamerad“ (ebd.) Hannes, der 16 Jahre alt ist. Er berichtet über das Zeltlager, das Jungen auf einem Höhenzug errichtet haben: „Die Drei sind besorgt, denn sie fürchten nun, durch diese zahlreichen Besucher entdeckt zu werden.“ (ebd.; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 13) Weiters heißt es von den Jungen, dass sie „verbrecherische Kinder“ sind, die „auf die schiefe Ebene geraten“ (ebd.) sind und ihre Beute „in einer Höhle im Walde verstecken“ (Bl. 2). Dann tauchen ein paar Jungen aus dem Zeltlager auf und fragen „nach dem Weg in das Dorf“ (ebd.). Horváth will durch das Zusammentreffen der beiden Jungengruppen den „Gegensatz“ zwischen den Städtern und den „verwahrlosten Kindern“ hervortreten lassen: „Sie treffen sich nur im Gespräch über die Mädel im Schloss und der Erörterung von Fussballregeln.“ (ebd.; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 13) An dieser Stelle tritt Peter, „15 Jahre alt“, erstmals hervor. Von ihm heißt es: Er „hebt sich charakterlich und vor allem intellektuell deutlich von den Anderen ab. Er ist der Repräsentant des Geistes, des kritischen Intellekts. Er meint, beim Fussball käme es nicht auf die Tore an, sondern darauf, dass schön gespielt werden müsste.“ (Bl. 2; vgl. E4/BS 11 a [1], Bl. 2v, E12 und E14/BS 11 a [1], Bl. 14) Daraufhin kommt es zu einem Streit zwischen den Jungen, zu dem der junge Sportlehrer Schmidt, „eine Sportnatur“ (vgl. den von Horváth entfalteten Gegensatz zwischen Sport und Geist seit E1), dazukommt: „Er ist bei den Jungen sehr beliebt,

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nur gegen Peter hat er eine unbewusste Aversion. In dem Fussballstreit, zuguterletzt zwischen Schönheit und Erfolg, entscheidet er gegen Peter, gegen den Geist.“ (Bl. 2; vgl. E12 und E14/BS 11 a [1], Bl. 14) In der Folge entsteht eine erste Verbindung zwischen den verwahrlosten Kindern, vor allem zwischen Hannes und Peter. Kitty, „ein 15jähriges Mädchen aus dem Dorf“, kommt dazu. Sie ist „die Anführerin der Bande“ (Bl. 2) und gibt „leise Direktiven“, dass es jetzt günstig wäre, bei einem nahe gelegenen Bauernhof einzubrechen. Kitty bleibt schließlich mit Peter zurück und „[e]s bildet sich leise eine Beziehung zwischen Kitty und Peter.“ (Bl. 3) Hannes ist eifersüchtig auf Peter, weshalb Kitty ihm versichert, dass sie „ihm nur deshalb schön [tue] […], um ihm die [goldene; Anm.] Uhr stehlen zu können“ (ebd.; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 15). „Der Akt schliesst mit einer melancholischen Liebesszene zwischen Kitty und Hannes.“ (Bl. 3) Der 2. Akt ist an einem „Waldrand“ (Bl. 3) angesiedelt. Hier kommt es zum Zusammentreffen der Mädchen aus dem Schloss mit den Jungen aus dem Zeltlager (vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 16, E21, E22 und E35/BS 11 a [1], Bl. 32). Die Lehrer begrüßen sich, wie dies in den beiden früheren Strukturplänen schon vorgesehen war, auch in späteren Entwürfen noch geplant ist und bis zum Roman Jugend ohne Gott erhalten bleibt (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 50). Die Mädchen spielen in der Folge das „Kriegsspiel ‚verschollenen Flieger suchen’“ (Bl. 3; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 16, E15, E18, E19, E21 und E35/BS 11 a [1], Bl. 33). Die Jungen ziehen weiter und singen „ein Lied von ‚unsere Feinde schlagen’“ (Bl. 4; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 16). Mit Ausnahme von Peter, der nicht mitsingt (vgl. Bl. 4). So zieht er sich neuerlich den „Hass des Schmidt“ (ebd.) zu. Die „verwahrlosten Kinder“ tauchen wieder auf. Sie haben den Einbruch im Bauernhof verübt und verstecken „ihre armselige Beute“ in der Höhle. Sie treffen auf die Mädchen, die den „verschollenen Flieger“ suchen. Dann sollen einzelne Liebespaare auftreten: „Mädchen und Jungen. Schmidt und die dreissigjährige Lehrerin. Frühlingserwachen in unserer Zeit“ (ebd.), notiert Horváth dazu. Der Akt endet mit einer „grossen Liebesszene“ zwischen Peter und Kitty: „Kitty wird seine ersten Frau und stiehlt ihm dabei die goldene Uhr.“ (ebd.; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 17) Peter kehrt ins Zeltlager zurück. Hannes taucht auf und will Kitty die Uhr abnehmen. Sie gibt sie ihm aber nicht, weshalb er sie „verhaut“ (Bl. 4; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 17). Der 3. Akt ist im „Zeltlager“ (Bl. 5) angesiedelt. Peter erhält dort für seine nächtlichen „Extraturen“ eine Standpauke von Schmidt (ebd.; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 18). Er wird mit Hausarrest und Kartoffelschälen bestraft (vgl. ebd. und E14/BS 11 a [1], Bl. 19). Einer der Professoren sympathisiert mit Peter. Ein Gendarm taucht auf und bringt Peters gestohlene Uhr zurück: „Man hätte sie bei dem Vater der Kitty, einem alten Säufer, gefunden.“ (Bl. 5; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 19) So kommt Peters „nächtliches Rendez-vous heraus“ (Bl. 6). Peter „muss nun sehen, dass die Schicht, der er idealerweise durch seinen Geist helfen wollte, es nicht wert ist, dass man ihr hilft.“ (ebd.) Es kommt zu einem offenen Kampf zwischen Peter und Schmidt, der ihn „strafexerzieren“ lassen wollte. Peter wird „relegiert“ (ebd.). Der 4. Akt spielt „Vor der Höhle der verwahrlosten Kinder“ (ebd.) Kitty und Hannes streiten wegen der Uhr, wegen der Kittys Vater verhaftet wurde. Peter taucht auf und ist schon geneigt, auf die „Bahn des Verbrechens“ zu wechseln, als ein Gendarm kommt: „Fieberhaft wird alles, der Eingang und die Spuren, unter Leitung Peters unkenntlich gemacht.“ (ebd.) Der Gendarm geht so an der Höhle vorbei, ohne dass er etwas bemerkt. Schließlich taucht der dritte Professor auf, der mit Peter sympathi-

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siert. „Grosse Szene“, notiert Horváth und: „Der Dritte erklärt ihm, dass er sich für ihn einsetzen werde, es gefalle ihm sein Geist, den die Welt mal brauchen wird und der sich ja nur durch Enttäuschungen entwickeln könnte.“ (Bl. 7) Er ist bereit, ihm „Privatunterricht“ zu geben, damit er die „Abschlussprüfung“ (ebd.; vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7, E13/BS 11 a [1], Bl. 12 und E14/BS 11 a [1], Bl. 20) bestehe: „Peter ist im innersten ergriffen.“ (Bl. 7) Der Gendarm kehrt zurück und nimmt die verwahrlosten Kinder gefangen (vgl. ebd. und E14/BS 11 a [1], Bl. 20). Capone und Dillinger beschuldigen auch Peter, an ihren Diebstählen beteiligt gewesen zu sein, doch Kitty verteidigt ihn. Zum Schluss sieht man die Kinder, die verhaftet werden, und Peter, der mit dem dritten Professor abzieht. Damit endet das Prosa-Exposé. Wie die Verweise auf E14 gezeigt haben, handelt es sich bei TS1 also im Wesentlichen um eine narrative Ausarbeitung der dort angelegten Handlung. In der fragmentarischen Endfassung TS4/A4 wird Horváth auf einige Elemente dieses Exposés zurückgreifen (vgl. den Kommentar zu TS4/A4), doch das Drama in einer Struktur in sieben Bildern anlegen, wie er sie in den folgenden Entwürfen (E15, E17, E18, E29–E32, E34 und E35) ausarbeitet. H9 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 21 1 Blatt kariertes Papier (291 × 445 mm), Doppelbogen, gefaltet, blaue Tinte, auf der Rückseite: Notiz „B“ E15 = Strukturplan in 7 Bildern mit Dialogskizzen, Notizen, Repliken und Konfigurationsplänen

Bei dem vorliegenden Blatt handelt es sich um einen Doppelbogen. Auf der letzten Seite des Doppelbogens ist ein „B“ notiert, was für „Bauernhof“ oder „Bauernhaus“ stehen könnte, ein Bildtitel, der in den folgenden Entwürfen und Textstufen (E18, E19, E21–E24, TS2, E28–E31, TS3, E35 und TS4/A4) des Öfteren vorkommt, allerdings meist in der Verbindung mit „Einsamer“/„Einsames“. Bemerkenswert ist jedoch das Schreibmaterial, da Horváth wie schon in den frühen Entwürfen (E1–E8) blaue Tinte verwendet. Es könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass der Entwurf früher zu verorten ist. Einige inhaltliche Elemente sprechen jedoch für eine spätere Platzierung. In E15 kehrt der Autor zu einer Struktur in sieben Bildern zurück (vgl. E6 und E10), wie er sie gerne für Stücke verwendet hat und wie er sie im Falle des Dramenprojekts Der Lenz ist da! – einige Entwürfe in acht Bildern ausgenommen – von diesem Zeitpunkt in der Werkgenese an bis zur fragmentarischen Endfassung beibehalten wird (vgl. E17, E18, TS2, E29–E32, E34, E35 und TS4/A4, wovon allerdings nur fünf Bilder ausgearbeitet sind). Die sieben Bilder lauten hier: „Wald“, „Schloss“, „Einsamer Bauernhof“, „Zeltlager“, „Wald in der Nacht“, „Zeltlager“ und „Höhle“. Damit entwirft Horváth im Vergleich zu den vorhergehenden Entwürfen kein gänzlich neues Stück, flicht aber doch einige Bilder in das bestehende Konzept ein, die das Werkprojekt entscheidend weiterentwickeln. So etwa die Bilder 2–4 und das abschließende Bild „Höhle“, das bereits in E13 vorgekommen ist und das Stück bis hin zur Endfassung kennzeichnen wird. Im Vergleich zu den vorhergehenden Entwürfen wird die Kriminalhandlung in diesem Strukturplan verstärkt (die Bilder „Einsamer Bauernhof“ und „Höhle“). Auch die Liebeshandlung („Wald in der Nacht“) erfährt hier eine Aufwertung. Beide Entwicklungen weisen verstärkt in Richtung des späteren Romans Jugend ohne Gott, wo diese beiden Handlungsstränge den Hauptanteil des Textes bilden.

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Zum 1. Bild „Wald“ notiert Horváth nur die Szenenanweisung „In der Nähe der Höhle“. Zum 2. Bild „Schloss“ vermerkt er eine kurze Dialogskizze zwischen Robert und Peter, der sich „Fussballschuh“ „besorgen“ will. Vom 3. Bild „Einsamer Bauernhof“ skizziert der Autor den Inhalt: „Peter fasst das verwahrloste Mädel – sie beschwört ihn, schildert ihm ihre Not – der Gendarm kommt – Peter tritt für sie ein“. Damit deutet Horváth die enge Verbindung zwischen Peter und dem „verwahrloste[n] Mädel“ an. Eine Replik zu diesem Bild lautet: „Mädel: Was ist die Alte? Ein Dreck? Eine Wuchererin! Jetzt ist sie alt – willst Du mich strafen?!“ Damit erwähnt Horváth erstmals die „Alte“ als Bewohnerin des Bauernhofs. Sie wird in der fragmentarischen Endfassung (TS4/A4/BS 11 c, Bl. 24) und im Roman (K/TS2/Horváth 1938a, S. 53f.) blind sein und von den jungen Kriminellen überlistet werden. Auch die Bezeichnung „Dreck“ behält Horváth bis zum Roman aufrecht, allerdings verwendet er sie dort für die jungen Kriminellen (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 77, 79 et passim). Auch der Begriff „Unkraut“ findet dort Verwendung (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 52, 55, 82, 103 et passim). Das zunächst 4. Bild „Wald in der Nacht“ verschiebt Horváth mittels eines Pfeils an die fünfte Position. Zum 4. Bild, das nun vakant ist, trägt Horváth nachträglich den Bildtitel „Zeltlager“ ein und notiert dazu: „Fussball – Zusammenstoss mit Schmidt“ sowie eine kurze Dialogskizze zwischen Peter und Schmidt, in der es um Fußballschuhe geht (vgl. das 2. Bild). Peter hat „wieder nicht die richtigen“ gekauft, weshalb ihn Schmidt mit den Worten „Gott, bist Du blöd!“ beschimpft. Weiter notiert Horváth zu diesem Bild eine kurze Dialogskizze zwischen Peter und Robert, in der Peter beteuert: „Man müsste eine Zeitschrift gründen.“ Robert repliziert darauf: „Eine Zeitschrift? Wer liest denn das?“ Das Projekt einer Zeitschrift findet sich bereits in einigen früheren Entwürfen und Textstufen (E10, E12, E13 und TS1/BS 11 b, Bl. 4) und weist voraus auf die „Berichte“ des „Klubs“ in Jugend ohne Gott (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 174 und 179). Zum neuen 5. Bild „Wald in der Nacht“ notiert Horváth einen Konfigurationsplan mit Peter und Maria. Möglicherweise handelt es sich dabei um das in E9 als zweite notierte „Mädel“, mit dem Peter hier offensichtlich ein „Liebeserlebnis“ haben soll. Möglicherweise ersetzt Horváth auch den Namen Kittys kurzfristig durch Maria, einen christlicheren Namen, der im Roman Jugend ohne Gott dann zu dem alttestamentarischen Eva transformiert wird. Darunter vermerkt der Autor: „Mädel: (suchen verschollenen Flieger)“ – eine Konstante schon dieser frühen Entwürfe (vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 16, E18, E19, E21 und E35/Bl. 33), die bis zum Roman (K/TS2/Horváth 1938a, S. 55–58) erhalten bleibt. Maria „erzählt ihm [Peter; Anm.] von der Höhle“, „stiehlt ihm die Uhr und bereut es“ (vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 15). Außerdem notiert Horváth zu Peter die Replik: „Die anderen haben auch Beine, aber Du hast viel schönere –“. Die Beine Evas werden auch im Roman Jugend ohne Gott als besonders schön dargestellt, wo der Lehrer sich vor allem von ihren Beinen angezogen fühlt: „Sie hat herrliche Beine“, denkt er im Kapitel „Der Mann im Mond“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 103), wo er als eine Art Voyeur das nächtliche Liebesspiel zwischen Z und Eva beobachtet. Horváth notiert zum nunmehrigen 5. Bild darüber hinaus eine Dialogskizze zwischen Peter und Maria, in der es um Fußballschuhe und um eine Zeitschrift geht. Maria meint: „Ihr Jungen redet so dumm! Der meine spricht über Malerei, Musik – Ästhetik!“, was Peter mit den Worten „Das ist reaktionär!“ kommentiert. Das 6. Bild trägt wie schon Bild 4 den Titel „Zeltlager“. Hierzu ist jedoch nichts weiter ausgeführt. Zum 7. Bild „Höhle“ notiert Horváth einzig eine Re-

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plik des Lehrers, die wohl Peter gilt: „Komm, ich werde Dich unterrichten. Deiner Generation gehört die Zukunft. Und wenn Du zur Prüfung kommst, wirst Du lauter einser bekommen.“ (vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7) In größerer Schrift und als Marginalien trägt Horváth vier weitere Sätze auf dem Blatt ein, die zu zwei Blöcken oben und unten zusammengefasst sind. Am rechten oberen Blattende ist zu lesen: „Was weisst Du von der Not der Leut? / Ist es die Schlechtigkeit?“ Am rechten unteren Blattende hingegen findet sich die Notiz: „Auf was kommt es an? / Dass der Geist nicht verachtet wird!!“ Mit diesen beiden nachträglichen Eintragungen ist einerseits die Thematik von Armut und Kriminalität angesprochen, die von den frühen Entwürfen bis zum Roman eine Rolle spielt, andererseits der Gegensatz von Körper (Sport und Brutalität) und Geist, für den Ähnliches gilt. H10 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 22 1 Blatt kariertes Papier (291 × 228 mm), Halbbogen, gerissen, blaue Tinte E16 = gestrichener fragm. Strukturplan in 1 Bild (oben) E17 = Konfigurationsplan in 5 Szenen zum 1. Bild mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit. Sieben Bilder“ mit Dialogskizzen und Notizen (oben, mittig und unten)

Das vorliegende Bl. 22 entspricht materiell Bl. 21 (E15). Die Blattgröße ist identisch, was ein deutlicher Hinweis auf die chronologische Nähe der beiden Blätter ist, und auch die Tintenfarbe ist dieselbe (vgl. den Kommentar zu E15). In E16 notiert sich Horváth zunächst einen Titel – wohl „Unsere Zeitung” –, streicht diesen aber sofort wieder. Darunter vermerkt er einen Bild- oder Akttitel „I“ und streicht diesen ebenfalls wieder, um dann neuerlich einen Bild- oder Akttitel zu notieren: „I. In einem tiefen Walde“ (vgl. E10, E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13 und E15). Auch diesen Entwurf streicht er jedoch sofort wieder. Darunter skizziert Horváth einen Konfigurationsplan in fünf Szenen zum 1. Bild „Wald. (Höhle oben)“ (vgl. E15). Dabei notiert er sich zur 1. Szene die Namen: Peter, Robert, Alfred, Rudolf und Max (vgl. E9, E12, E13/BS 11 a [1], Bl. 11 und E14/BS 11 a [1], BS 11 b, Bl. 13) und vermerkt zu Letzterem: „der humoristische Skeptiker“. In der 2. Szene trägt er zwei Namen ein, die bisher nur zweimal (E14/BS 11 a [1], Bl. 13 und TS1/Bl. 1, 2 und 7) vorgekommen sind, die jedoch von diesem Entwurf an bis zur fragmentarischen Endfassung (TS4/A4) die Namen der beiden jugendlichen Kriminellen bleiben: Capone und Dillinger. Ein dritter junger Dieb kommt hier nicht vor. Die Dialogskizze, die Horváth zu diesen beiden Figuren entwirft, ist geprägt von Heimlichtuerei und einem Sich-verstecken-Müssen. Für die 3. Szene sind Mädchen vorgesehen, die singend vorbeiziehen (vgl. E8, E13/BS 11 a [1], Bl. 11 und E14/BS 11 a [1], Bl. 13). In der 4. Szene unterhalten sich Capone und Dillinger über die Mädchen und Capone versichert: „Zuvor gingen da fünf vorbei. Und der eine hat unsere Höhle entdeckt.“ Für die 5. Szene ist dann ein Zusammentreffen der beiden jugendlichen Kriminellen mit den fünf Jugendlichen (1. Szene) aus dem Zeltlager geplant, die „im Kreise gegangen“ sind (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 1f.).

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H11 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 23 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte E18 = Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ (links) E19 = Strukturplan in 8 Bildern (rechts) E20 = Figurenliste (mittig)

In E18 skizziert Horváth neuerlich einen Strukturplan in sieben Bildern (vgl. E6, E10, E15, E17, TS2, E29–E32, E34, E35 und TS4/A4, wo allerdings nur fünf Bilder ausgearbeitet sind), den er mit dem Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ versieht. Die Bilderfolge ist am ehesten mit jener von E15 vergleichbar: „Wald. Vor der Höhle“, „Schloss“, „Einsamer Bauernhof“, „Fussball“, „Wald. (Verschollenen Flieger suchen)“, „Zeltlager“ und „Höhle“. In E19 wiederholt Horváth diesen Strukturplan im Wesentlichen, erweitert ihn aber um ein zweites Bild „Wald“, wodurch ein Strukturplan in acht Bildern entsteht (vgl. E21). Auffallend ist dabei, dass statt der in E15 genannten Maria wieder der Name Kitty erwähnt wird. Man muss dafür aber nicht unbedingt einen Hinweis für eine andere Reihung der Entwürfe sehen. Der achtteilige Strukturplan ist solcherart gestaltet, dass er mit einiger Sicherheit nach E15 entstanden ist. Vor allem die Erweiterung um ein Bild ist ein Hinweis auf ein späteres Entstehen. In E20 schließlich entwirft Horváth eine fragmentarische Figurenliste für sein Dramenprojekt, die folgende Namen umfasst: Kitty, Hannes, Josef, Schorsch und Alfons. Auffallend ist dabei vor allem der Name Hannes für den Anführer der jungen Diebe, der auf die späteren Entwürfe (E21, E28, E29, E34 und E35) und auf die ausgearbeiteten Fassungen (TS1–TS4/A4) verweist. Der Name bietet also ein weiteres Argument für die relativ späte Reihung der auf diesem Blatt befindlichen Entwürfe. H12 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 31 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 211 mm), Halbbogen, unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte E21 = Strukturplan in 8 Bildern zum I. Teil mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ (links) E22 = teilweise gestrichener fragm. Strukturplan in 9 Bildern (mittig) E23 = fragm. Strukturplan in 4 Bildern (rechts)

In E21 arbeitet Horváth einen Strukturplan in acht Bildern aus, den er unter die Überschrift „Erster Teil“ stellt. Eine Strukturierung in Teilen findet sich in der weiteren Werkgenese nicht mehr, allerdings hatte Horváth im Prosa-Exposé (TS1) und in E14 eine Einteilung in vier Akte vorgenommen. Der Autor kehrt in dem vorliegenden Strukturplan im Wesentlichen wieder zu einer Bilderfolge zurück, wie er sie zuletzt im Strukturplan E19 skizziert hatte: „Wald“, „Schloss“, „Einsamer Bauernhof“, „Abzählen der Mädchen“, „Jungen beim Fussballspiel“, „Wald“, „Zeltlager“ und „Höhle“. Die Reihenfolge der Bilder ist hier gegenüber E19 zwar etwas verändert, aber es handelt sich um dieselben Bilder. In E22 notiert Horváth zunächst sieben Bilder, von denen er jedoch nur die ersten vier mit Titeln versieht. Sie entsprechen den ersten vier Bildern von E21. Das 4. Bild betitelt der Autor zunächst: „Wald (Nacht)“, korrigiert dann zu „Zeltlager“, um schließlich wieder, wie in E21, zu „Wald (Abzählen der Mädchen – Gewehrschiessen) / (Jungen marschieren vorbei)“ zurückzukehren. In der Folge vermerkt Horváth die Bildnummern 5–9, ohne jedoch Bildtitel dazu zu notieren. Schließlich streicht er diese Bildnummern wieder. In E23 notiert Horváth neuerlich die ersten vier Bilder wie in E21 und E22, nur dass das 4. Bild ohne Titel bleibt.

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H13 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 24 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, blaue Tinte E24 = Strukturplan in 8 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ (links) E25 = gestrichener fragm. Strukturplan in 1 Bild (rechts oben) E26 = Figurenliste (rechts mittig) E27 = Notiz zum 1. Bild (unten)

Das vorliegende Blatt weist ein charakteristisches Wasserzeichen („Drei Sterne“) auf, wie es auch Blätter tragen, die zu den genetischen Konvoluten von Pompeij (1937) und Ein Kind unserer Zeit (1938) gehören. Allerdings ist das vorliegnde Blatt kleiner als die dort verwendeten. Dennoch könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass die Arbeiten zu Der Lenz ist da! später als hier angenommen, etwa erst im Sommer 1937, entstanden sind. In E24 nimmt Horváth die Strukturpläne E18, E19 und E21 wieder auf und entscheidet sich neuerlich, wie in E19 und E21, für eine Struktur in acht Bildern. Das Bild „Fussball“ der genannten Entwürfe fällt jedoch weg. Stattdessen nimmt Horváth ein weiteres Bild „Wald“ in den Strukturplan auf. Die Bilderfolge lautet nun: „Wald“, „Wald“, „Vor dem Schloss“, „Einsamer Bauernhof“, „Wald“, „Wald. Nacht“, „Zeltlager“ und „Höhle“. In E25 setzt der Autor noch einmal zu einem Strukturplan an, bricht aber mitten im 1. Bild („Wal[d]“) ab und streicht den Entwurf wieder. In E26 notiert er eine Figurenliste, die folgende Figuren umfasst: Peter, der Junge, Else, das Mädchen, Kitty (die „Haustochter“), Schmidt (der Lehrer) und die Jungen. Auffallend daran ist der Name Else, der bisher nicht vorgekommen ist. Er ist in TS4/A4/BS 11 c, Bl. 15 einer der beiden Namen der Mädchen auf dem Schloss, der andere ist Maria (vgl. E15). Wie aus E27 hervorgeht, plant Horváth in diesem Stadium der Konzeption eine Verbindung zwischen Peter, dem Jungen aus dem Zeltlager, und Else, einem Mädchen auf dem Schloss. Hier heißt es in einer Notiz: „Peter trägt Elses Brief aufs Postamt.“ (vgl. TS4/A4/BS 11 c, Bl. 15–17) H14 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 25 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte TS2 = fragm. Fassung des 1. Bildes „Bauernhaus“ mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit. Sieben Bilder“ (Korrekturschicht)

Horváth stellt an den Beginn des Blattes den Werktitel „Der Lenz ist da!“ mit dem Zusatz „Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ sowie der Strukturkennzeichnung „Sieben Bilder“. Die Struktur in sieben Bildern hat er im Wesentlichen seit E6 (ebenso in E10, E15, E17 und E18) vor Augen, auch wenn er zwischendurch wieder Strukturen in vier Akten (E14) oder acht Bildern (E19 und E21) entwirft. Im Werktitel von TS2 ist jedoch wieder von einer Struktur in sieben Bildern die Rede, zu deren erstem Bild er in TS2 einen Dialog zwischen den jugendlichen Kriminellen Capone, Dillinger (vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 13, und E17) und Hannes (vgl. TS1/Bl. 1–4 und E20) ausarbeitet, die schließlich von einem Gendarmen überrascht werden (vgl. TS1/Bl. 6, 7 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 25, 26). Das Bild trägt den Titel „Bauernhaus“ und weicht damit signifikant von der Bildverteilung in den vorhergehenden Strukturplänen (E18, E19 und E21–E24) ab, wo ein solches Bild an 3., 4. oder 5. Stelle gereiht war. In dem fragmentarisch ausgearbeiteten Bild wird ein Überfall der drei Jugendlichen auf ein Bau-

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ernhaus geschildert. Sie wollen dort einen „Schinken“ stehlen, werden daran aber von einem Gendarmen gehindert. Ein ähnlicher Überfall auf ein Bauernhaus findet sich noch in der fragmentarischen Endfassung TS4/A4/BS 11 c, Bl. 23–26 sowie im Roman Jugend ohne Gott (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 52–55, Kapitel „Unkraut“). In Letzterem sind es allerdings nur zwei namenlos bleibende „Buben“ und ein vorerst namenlos bleibendes „Mädchen“ (später: Eva), die Nachläuferfigur der hier nur im Dialog genannten Kitty. H15 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 26 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), Doppelbogen, gefaltet, schwarzblaue Tinte E28 = fragm. Strukturplan in 2 Bildern mit einem Konfigurationsplan in 10 Szenen zum 1. Bild

In E28 notiert Horváth wie schon in TS2 neuerlich ein 1. Bild „Bauernhaus“, zu dem er nachträglich „Einsames kleines“ hinzufügt. Da dieser Zusatz auch in den folgenden Entwürfen (E29 und E30) wiederaufgenommen wird, ist davon auszugehen, dass diese Entwürfe nach TS2 entstanden sind, wo die Attribuierung zunächst noch nicht vorhanden ist. Der in E28 in zehn Szenen aufgeteilte Konfigurationsplan sieht vor allem Szenen mit Capone und Dillinger (vgl. TS2) bzw. Capone und Hannes sowie Capone, Hannes und Dillinger vor. An weiteren Figuren sind der Gendarm und die Alte (vgl. TS2) vorgesehen. Die Mädchen vom Schloss sollen ähnlich wie in vorhergehenden Entwürfen (E8, E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, E17 und E21) im Hintergrund vorbeimarschieren. Außerdem notiert Horváth zur 8. Szene zu Dillinger „kommt aus dem Haus mit dem Schinken“ (vgl. TS2 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 24) und fügt noch hinzu: „Er hat auch noch eine silberne Kette gestohlen. (für Kitty)“. Abschließend vermerkt Horváth das 2. Bild „Höhle“, zu dem er jedoch keine weiteren Notizen hinzufügt. H16 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 27 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte E29 = fragm. Strukturplan in 2 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit. Sieben Bilder“ mit einem Konfigurationsplan in 9 Szenen zum 1. Bild (links) E30 = fragm. Strukturplan in 7 Bildern (mittig oben) E31 = Strukturplan in 7 Bildern (rechts oben)

In E29 notiert Horváth wie schon in E28 unter dem Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit. Sieben Bilder“ neuerlich ein 1. Bild „Einsames, kleines Bauernhaus“, zu dem er einen Konfigurationsplan in neun Szenen ausarbeitet. Dieser ist fast identisch mit jenem von E28, ausgenommen die 9. Szene, die wegfällt und an deren Platz die 10. Szene von E28 rückt, weshalb ein Konfigurationsplan in neun Szenen entsteht. Das 2. Bild trägt nun den Titel „Im Zeltlager der Jungen“, wird also gegenüber E28 verändert, wo es noch mit „Höhle“ betitelt war. Diese Transformation übernimmt Horváth auch in die beiden Strukturpläne in sieben Bildern, die er in E30 und E31 am rechten oberen Rand von Bl. 27 entwirft. Bei E30 handelt es sich um einen fragmentarischen Strukturplan in sieben Bildern, in dem nur vier Bilder ausgearbeitet sind: 1. Bild: „Einsames, kleines Bauernhaus“, 2. Bild: „Im Zeltlager der Jungen“, 6. Bild: „Zeltlager“ und 7. Bild: „Höhle“. In E31, der ein vollständiger Strukturplan in sieben Bildern ist, werden die fehlenden Bilder ergänzt: 3. Bild: „Die Mädchen“, 4. Bild: „Wald“ und 5. Bild ebenfalls: „Wald“. Die restlichen Bilder bleiben wie in E30.

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Vergleicht man diese Strukturpläne mit früheren Strukturplänen in sieben oder acht Bildern, so fällt auf, dass Horváth vor allem das „Bauernhaus“, das früher (etwa in E15, E18, E19, E21 und E24) in der Mitte der Werkstruktur (3., 4. oder 5. Bild) angesiedelt war, nun an den Beginn des Stückes rückt. Während in den früheren Strukturplänen zu Beginn meist die Bilder „Höhle“ oder „Wald. Höhle“ standen, folgt nun auf das 1. Bild „Bauernhaus“ das 2. Bild „Zeltlager“ und das 3. Bild „Die Mädchen“. Damit werden die drei Protagonistengruppen des Stückes (und des späteren Romans Jugend ohne Gott) in den ersten drei Bildern exponiert: die jungen Kriminellen, die Jungen im Zeltlager und die Mädchen auf dem Schloss. Bei dem 4. Bild „Wald“ dürfte es sich um das Zusammentreffen der Mädchen, die den verschollenen Flieger suchen, mit den Jungen handeln (vgl. E15). Das „Fussball“-Bild (4. bzw. 5. Bild) von E18, E19 und E21 fällt somit aus dem Stück hinaus. Das 5. Bild „Wald“ dürfte dem 6. Bild von E24 („Wald. Nacht“) entsprechen und das nächtliche „Liebeserlebnis“ (E15) Peters beinhalten. Die beiden Schlussbilder „Zeltlager“ (6. Bild) und „Höhle“ (7. Bild) stehen seit E15. H17 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 28, 29 2 Blatt unliniertes Papier (297 × 208 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand. E32 = fragm. Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ mit Konfigurationsplänen und Notizen

Der Entwurf E32, ein fragmentarischer Strukturplan in sieben Bildern, zieht sich über zwei Blätter, wobei auf dem ersten Blatt (Bl. 28) nur ein einziges Bild, nämlich das 1., notiert ist, während die sechs weiteren Bilder auf Bl. 29 vermerkt sind. Die Zusammengehörigkeit der beiden Blätter steht aber außer Frage, da sie dieselbe Papierqualität und Papiergröße (aufgrund der Reißung um einen Millimeter in der Breite different) aufweisen sowie mit demselben Schreibmaterial (schwarzblaue Tinte) verfasst sind. Auch die Schreibweise der Bildnummer und des Wortes „Bild“ inklusive Zeichensetzung und Unterstreichung ist identisch. Der Strukturplan ist deshalb fragmentarisch, weil vom „1. Bild“ nicht einmal ein Bildtitel notiert ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dafür jedoch der in den vorhergehenden Strukturplänen E28–E31 und in der Fassung TS2 genannte Bildtitel „Bauernhaus“ zu setzen, den Horváth, weil er für ihn feststeht, gar nicht mehr erwähnt. Das 2. Bild soll auf einer „Waldlichtung“ spielen, wo ein „Abzählen“ (Bl. 29; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 16, E21 und E22) stattfindet. Ein Konfigurationsplan weist diesem Bild die Figuren „Peter“ und die „Mädchen vom Ferienheim“ (Bl. 29) zu. Das 3. Bild ist mit „Höhle“ betitelt und soll Peter und Kitty zeigen. Zum 4. Bild notiert Horváth: „das Suchen nach der richtigen Frau“, „Enttäuschung“ und „Peter – und die beiden Frauen = / Gymnasiastin / Kitty“ (ebd.), was einen neuen ideellen Aspekt darstellt, da Peter bisher immer nur eine Frau zugewiesen wurde. Das 5. Bild ist mit „Nacht“ betitelt, das 6. mit „Lager“ und das 7. mit „Höhle“ (ebd.). Gegenüber den vorhergehenden Strukturplänen, vor allem gegenüber E31 ergeben sich Verschiebungen in den Bildern 2, 3, 4 und 5, also im Mittelteil, der nach wie vor nicht feststeht. Wie ein Blick auf die fragmentarische Endfassung TS4/A4 zeigt, war die Abfolge der Bilder für Horváth bis zuletzt fraglich, denn auch dort nimmt er sogar in bereits maschinenschriftlich ausgearbeiteten Bilderfolgen noch einmal Verschiebungen vor (vgl. den Kommentar zu TS4/A1–A4).

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H18 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 30 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), Doppelbogen, gefaltet, schwarzblaue Tinte E33 = Notizen (oben) E34 = Konfigurationspläne zum 1. Bild mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ (mittig) TS3 = fragm. Fassung des 1. Bildes „Bei einem Bauern“ (rechts und unten; Korrekturschicht)

In E33 macht sich Horváth Notizen zu dem Werkprojekt Der Lenz ist da! Die Zuordnung zu diesem Werkprojekt fällt relativ leicht, da sich auf demselben Blatt eine fragmentarisch ausgearbeitete Fassung des 1. Bildes „Bei einem Bauern“ befindet (TS3). In E33 fällt erstmals das Wort „Gott“, das dann im späteren Roman schon im Titel prominent anwesend ist, wenn es in einer ersten Notiz heißt: „Sie wollen den lieben Gott betrügen.“ Darunter notiert Horváth: „Das Ausnutzen der Schlechtigkeit der Armen. (Die Schlechtigkeit der armen Leut) Kein Mitleid! Nur kein Mitleid! Ohne Pardon!“ Die zweite Notiz verweist auf eine ähnliche Randbemerkung in E15, wo es geheißen hatte: „Was weisst Du von der Not der Leut? Ist es die Schlechtigkeit?“ Der Autor nimmt hier also die Thematik Armut und Kriminalität wieder auf, die das Dramenprojekt genauso wie den späteren Roman prägen wird. In E34 notiert er unter dem Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit“ eine Reihe von Konfigurationsplänen zum 1. Bild, die im Gegensatz zu jenen von E28 und E29 die jungen Kriminellen Capone, Dillinger und Hannes mit den Jungen und dem Lehrer Schmidt (beim „Vorbeimarsch[ieren]“) zusammenführen. Der Gendarm und die Alte der früheren Entwürfe tauchen hier nicht mehr auf. Horváth plant hier also für den Beginn doch nicht den Überfall, sondern eine Exposition aller männlichen Jugendlichen. Allerdings revidiert er diese Auffassung bereits in der auf demselben Blatt notierten Textstufe TS3. Hier arbeitet der Autor eine Fassung des 1. Bildes aus, wobei dieses nicht wie in den vorhergehenden Entwürfen (E28–E31) „Bauernhaus“ heißt, sondern den alternativen Titel „Bei einem Bauern“ trägt. Zu Beginn sind in dem Bild Capone und Dillinger zu sehen, die sich dem Bauernhaus nähern und darüber spekulieren, ob noch jemand „zuhaus“ ist. Auch über den Hund Nero, der scheinbar nicht bellt, reden sie. Dann taucht, wie schon in E28 und E29 vorgesehen, ein Gendarm auf, der Capone die Nachricht überbringt, dass sein Vater keine Unterstützung bekommt (vgl. TS4/A4/BS 11 c, Bl. 25). Dillinger mischt sich ein und fragt: „Aber für meine Mutter gilt sie doch! Mein Vater ist doch im Krieg gefallen und mein Onkel auch –“, was der Gendarm bestätigt. Nachdem er abgezogen ist, unterhalten sich die beiden Jungen über das Fallen im Krieg und Capone kommt zu dem Schluss: „Es ist besser, wenn der Vater gefallen ist, da kriegst eine Rente – aber wir kriegen nichts. Jeder kann sich glücklich preisen, dessen Vater im Krieg gefallen ist –“, eine Passage, die den Zynismus der jungen Diebe zeigen sollte, aber keine weitere Verwendung findet. Eine abschließende Notiz weist darauf hin, dass in weiterer Folge die Mädchen „mit Gesang: guter Kamerad“ (vgl. TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4) vorbeiziehen sollen. Horváth bringt also, anders als in E34 geplant, in dieser Textstufe zum 1. Bild die jungen Kriminellen Capone und Dillinger mit den Mädchen aus dem Schloss in Kontakt. Nach dieser Notiz bricht die Textstufe ab und bleibt also fragmentarisch.

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Vorarbeit 1

H19 = ÖLA 3/W 310 – BS 11 a [1], Bl. 32, 33 2 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), Halbbogen, gerissen, schwarzblaue Tinte E35 = Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit. Sieben Bilder“ mit Notizen, Konfigurationsplänen und Repliken

Bei dem Strukturplan in sieben Bildern E35 handelt es sich um den letzten handschriftlichen Entwurf zu dem Werkprojekt Der Lenz ist da! Der Strukturplan trägt wie einige vorhergehende Entwürfe und Textstufen (E1, TS2, E29, E32 und E34) den Werktitel „Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit. Sieben Bilder“. Die Bildertitel lauten hier: „Einsamer kleiner Bauernhof“, „Höhenzug. Zeltlager der Jungen“, „Vor dem Schloss“, „Wald“, „Höhle“, „Zeltlager“ und „Höhle“. Sie entsprechen am ehesten den Strukturplänen E30 und vor allem E31, wo Horváth ganz ähnliche Bilderfolgen skizziert. Der Autor kehrt damit zu einer Struktur zurück, die er schon in einigen vorhergehenden Entwürfen (E6, E10, E15, E17, E18, TS2, E29–E32 und E34) erprobt hatte und die viele seiner Werkprojekte kennzeichnet (etwa Kasimir und Karoline und Der jüngste Tag, vgl. WA 4 und WA 10). Zum 1. Bild „Einsamer kleiner Bauernhof“ (vgl. TS2, E28–E31 und TS3) notiert Horváth die Figuren Capone, Dillinger, Hannes, Kitty, Gendarm, Mädchen und die alte Urgroßmutter. Es ist anzunehmen, dass dabei in dem Bild der Überfall auf den Bauernhof stattfinden soll. Aufgrund der Figurennamen Capone, Dillinger, Hannes und Kitty ist klar, dass es sich um einen Entwurf aus einer späteren Phase der Werkgenese handelt, denn diese Figurennamen bleiben vom Prosa-Exposé (TS1) bis zur fragmentarischen Endfassung (TS4/A4) erhalten. Das 2. Bild spielt im „Zeltlager der Jungen“ auf einem „Höhenzug“. Auch die hier notierten Namen Rudolf, Max, Peter, Robert und Alfred kommen zwar schon in früheren Entwürfen (erstmals in E9) vor, gehören aber auch im Prosa-Exposé (TS1) und in der fragmentarischen Endfassung (TS4/A4) zum Figureninventar. Auch der Lehrer Schmidt wird hier erwähnt. Er hat im 2. Bild zweimal Krach mit Peter, was sich in ähnlicher Form schon in früheren Entwürfen findet (vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7, E14/BS 11 a [1], Bl. 16 und 18 sowie E15). Ebenfalls im 2. Bild soll es zu einer ersten Begegnung zwischen den Jungen und den Mädchen kommen, die „vorbei“ „ziehen“ (Bl. 32; vgl. E8, E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 1, E17, E21, E28, E29, E32/BS 11 a [1], Bl. 29, E34, TS3, TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4 und das Kapitel „Die marschierende Venus“ in K/TS2/Horváth 1938a, S. 48–52, wo eine ganz ähnliche Szene geschildert wird). Zwischen dem Lehrer Schmidt und der Lehrerin kommt es zu einer „Begrüssung“ (vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 11 und E14/BS 11 a [1], Bl. 16). Die erwähnten Jungen unterhalten sich über die Mädchen und dann über Fußball, wodurch es zum 2. Krach zwischen Schmidt und Peter kommt. Das 3. Bild spielt „Vor dem Schloss“, auf dem die Mädchen „einquartiert“ (Bl. 32; vgl. E15, E18, E19, E21–E24 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 13) sind. Capone, Dillinger, Hannes und Kitty „kommen und schauen durch die Fenster hinein“ (Bl. 32). Ein Konfigurationsplan zeigt, dass auch die Jungen vom Zeltlager dazukommen sollen (vgl. TS4/A4/BS 11 c, Bl. 17f.). Eine Szene zeigt dann nur Kitty und Peter. Zu Kitty ist die Replik notiert: „Komm, ich will Dir was zeigen –“ (Bl. 32). Zum 4. Bild „Wald“ notiert Horváth: „Mädchen: (suchen verschollenen Flieger)“ (Bl. 33; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 16, TS1/BS 11 b, Bl. 3, E15, E18, E19 und E21) sowie drei Konfigurationspläne „Mädchen – Jungen“, „Schmidt – Lehrerin“ und „Peter – Kitty“ (Bl. 33; vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 11 und E14/BS 11 a [1], Bl. 16). Das 5. Bild „Höhle“ zeigt Capone, Dillinger, Hannes und Kitty. Zu ihnen stößt Peter. Eine Szene soll nur Peter und Kitty zeigen, wohl das „Liebeserlebnis“ (E15) zwi-

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schen den beiden. Zum 6. Bild notiert der Autor nur den Bildtitel „Zeltlager“ und zum 7. „Höhle“ (vgl. E13/BS 11 a [1], Bl. 12, E15, E18, E19, E21, E24, E30, E31 und E32/BS 11 a [1], Bl. 29). T2 = ÖLA 3/W 312 – BS 11 c, Bl. 1–26 26 Blatt unliniertes Papier (295 × 208 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1–3 auf Bl. 1–3, masch. Paginierung 1–5 und hs. Paginierung 4–8 auf Bl. 4–8, masch. Paginierung 9–21 auf Bl. 9–21, masch. Paginierung 1 auf Bl. 22, masch. Paginierung 1–4 und hs. Paginierung 22–25 auf Bl. 23–26 TS4/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 11 c, Bl. 4–8 (nicht gedruckt) TS4/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 11 c, Bl. 23–26 (nicht gedruckt) TS4/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 11 c, Bl. 1–21 und 23–26 (nicht gedruckt) TS4/A4 = fragm. Endfassung in 5 Bildern konstituiert durch BS 11 c, Bl. 1–26 (Korrekturschicht) Druck von TS4/A4 in: KW 16, S. 203–221.

Das Typoskript T2 umfasst 26 Blätter, die alle aus demselben Papier bestehen. Es handelt sich dabei um die fragmentarische Endfassung des Dramenprojekts Der Lenz ist da! Allerdings enthält das Typoskript kein Titelblatt und auch keine Titelangabe, weshalb nicht völlig sicher ist, dass das Drama sieben Bilder hätte umfassen sollen, obwohl ein Großteil der vorhergehenden Entwürfe und Textstufen (E6, E10, E15, E17, E18, TS2, E29–E32, E34 und E35) eine solche strukturelle Einteilung vorsieht. Ähnlich wie im Prosa-Exposé TS1 wollte Horváth zunächst eine Einteilung in Akte vornehmen. Die Überarbeitungen, die sich in T2 finden, deuten darauf hin, dass Horváth die Endfassung TS4/A4 in mehreren Ansätzen ausgearbeitet hat. A1 dürfte von Bl. 4–8 gereicht haben. So findet sich auf Bl. 4 der Eintrag „Erster Akt“, den der Autor jedoch in weiterer Folge (A3) gestrichen und durch „Zweites Bild“ ersetzt hat. Dieser erste Akt mit der Szenenanweisung „Waldlichtung“ (Bl. 4) hat bis Bl. 8 gereicht, wo Horváth diesen Ansatz TS4/A1 abbricht. In A1 ist für die Bl. 4–8 noch die maschinenschriftliche Paginierung 1–5 gültig. In der Folge arbeitet Horváth A2 aus, der die Bl. 23–26 umfasst, wobei er sich hierbei für eine Einteilung in Bildern entscheidet. So vermerkt er auf Bl. 23 den Bildtitel „Erstes Bild“, den er in den folgenden Ansätzen (A3 und A4) handschriftlich zunächst auf „Viertes Bild“, dann auf „Fünftes Bild“ korrigiert. Dieses erste Bild führt die Szenenanweisung „Einsamer Bauernhof“ (Bl. 23; vgl. E28–E31 und E35). In A3 tippt er nun die Bl. 1–3, die das neue 1. Bild „Wald“ darstellen, fügt Bl. 4–8 wieder ein, auf denen er den Akttitel „Erster Akt“ handschriftlich zum Bildtitel „Zweites Bild“ korrigiert und die Paginae handschriftlich anpasst. In diesem Ansatz dürfte er auch die Bl. 9–21 ausgearbeitet haben, die eine nicht korrigierte maschinenschriftliche Paginierung tragen. Auch der Bildtitel „Drittes Bild“ („Vor dem Schloss“) auf Bl. 13 wurde nachträglich nicht korrigiert. Die Bl. 23–26 schließen an Bl. 21 an. Hier korrigiert Horváth das maschinenschriftliche „Erst[e] Bild“ („Einsamer Bauernhof“) handschriftlich zu „Viertes Bild“. Erst in A4 arbeitet er Bl. 22 aus, das nun das „Vierte Bild“ („Wiese. Es wird auf ein Tor Fussball gespielt.“) repräsentiert und korrigiert den Bildtitel auf Bl. 23 zu „Fünftes Bild“, ohne jedoch die Paginae noch einmal anzupassen, weshalb die Paginierung des Typoskripts mit der handschriftlichen Pagina 25 endet, obwohl der Textträger 26 Blatt umfasst. TS4/A4 weist nun folgende Bilderfolge auf: „Wald“, „Waldlichtung“, „Vor dem Schloss“, „Wiese“ und „Einsamer Bauernhof“. Im 1. Bild „Wald“ sieht man die fünf Jungen aus dem Zeltlager herumirren (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 2). Erst im 2. Bild

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Vorarbeit 1

schwenkt der Blick dann auf die „Gruppe junger Mädchen“, die mit ihrer Turnlehrerin durch den Wald marschieren und das Soldatenlied „Ich hatt einen Kameraden“ singen (vgl. vgl. E8, E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 1, E17, E21, E28, E29, E32/BS 11 a [1], Bl. 29, E34, TS3, E35/BS 11 a [1], Bl. 32 und das Kapitel „Die marschierende Venus“ in K/TS2/Horváth 1938a, S. 48–52). Sie werden von Capone und Dillinger beobachtet, die aus einem „Gebüsch“ hervorkommen (Bl. 4). Die beiden sprechen abfällig über die „gymnastische[n] Uebungen“ (Bl. 5) der Mädchen und beneiden sie um ihre „Töpf, wie Fässer“ und den „Keller“, den sie „voll Kartoffel[n]“ haben (ebd.). Der Bürgermeister hat die Mädchen bei ihrer Ankunft auf dem Land begrüßt, wie er dies im Roman Jugend ohne Gott mit den Jungen tun wird (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 43f.). Als Nächster taucht Hannes auf, der vom Schloss kommt und dort die Mädchen bestohlen hat. Außerdem informiert er Capone und Dillinger über die Jungen, die auf dem „Höhenzug“ (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 1) ein Zeltlager aufgeschlagen haben. Die drei jungen Diebe fürchten, dass ihre Höhle entdeckt wird (vgl. ebd.). Wieder marschieren die Mädchen vorbei und singen: „Wenn wir marschieren, ziehen wir zum grünen Tor hinaus / Schwarzbraunes Mädel, Du bleibst zuhaus!“ (Bl. 7) Auf Bl. 9 setzt Horváth dann mit einem neuerlichen Auftritt der fünf Jungen aus dem Zeltlager fort: Peter, Robert, Rudolf, Max und Alfred (vgl. E9, E12–E14, TS1/BS 11 b, Bl. 2, E17 und E35). Sie suchen nach dem Weg ins Dorf und bekommen von den drei jungen Dieben Auskunft nicht nur über die Richtung, sondern auch über die ökonomische Verfasstheit des Dorfes, über die Stilllegung der Fabrik und die Heimarbeit (vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 13 und TS1/BS 11 b, Bl. 2). Peter erkundigt sich, wovon die Bevölkerung jetzt lebe und Hannes kontert: „Was geht das Dich an?“ (Bl. 10), worauf Alfred Peter verteidigt: „Aber der fragt doch nur, weil er sich interessiert! Er interessiert sich für die Oeffentlichkeit -- er ist ein grosser Philosoph!“ (ebd.; vgl. E1, E9 und TS1/BS 11 b, Bl. 2) Die drei Diebe informieren die Jungen aus dem Zeltlager dann noch über die Anwesenheit der „Gäns“ (Bl. 11) im Schloss. Horváth arbeitet hier, wie er das im Prosa-Exposé (vgl. TS1/BS 11 b, Bl. 2) vermerkt hatte, sehr stark den Gegensatz zwischen den verwöhnten Jungen aus der Stadt und den verwahrlosten Jungen vom Land heraus. Den Abschluss des Bildes stellt ein Dialog über das Puppenherstellen in Heimarbeit (Bl. 11; vgl. E14/BS 11 a [1], Bl. 13) dar und über die schlechte Entlohnung dieser Arbeit (vgl. die heimarbeitenden Kinder, die Puppen herstellen, im Roman Jugend ohne Gott, K/TS2/Horváth 1938a, S. 59f.). Das 3. Bild ist „Vor dem Schloss“ angesiedelt, in dem das „Ferienlager der Mädchen“ (Bl. 13) ist. Ein Gendarm befragt die Lehrerin zu den nächtlichen Überfällen: Es ist „zum zweitenmal in der Nacht gestohlen worden“ (ebd.). Die Lehrerin überlegt, ob sie vielleicht einen „Wachtposten“ in der Nacht aufstellen sollten, meint dann aber, dass das nicht ginge, weil sie eine „Nachtübung“ (Bl. 14) hätten. Der Gendarm wundert sich über diese Form der Übung für Mädchen, worauf die Lehrerin erwidert: „Ob Junge oder Mädchen, der Unterschied verschwindet immer mehr.“ (ebd.; vgl. die Kapitel „Das Zeitalter der Fische“ und „Die marschierende Venus“ in Jugend ohne Gott, K/TS2/Horváth 1938a, S. 28–35 und S. 48–52) Und dann setzt sie noch fort: „Die Mädchen werden heutzutag auch für das allgemeine Wohl erzogen. Flitter und Tand statt gibts Zucht und Disziplin. Abhärtung und Sport.“ (Bl. 14) Eine sehr ähnliche Passage findet sich noch im Roman in dem erwähnten Kapitel „Die marschierende Venus“, wo die Lehrerin meint: „Wir berücksichtigen weder Flitter noch Tand, wir legen mehr Wert auf das Leistungsprinzip als auf das Darbietungsprinzip.“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 50) Aus einem Gespräch zwischen der Lehrerin und der

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Schülerin Maria wird klar, dass eine Schülerin namens Else Hausarrest hat, weil sie „[l]yrische Gedichte“ gelesen und „Liebesbriefe“ (Bl. 15) geschrieben hat, was die Lehrerin mit den Worten kommentiert: „Sie soll lieber sehen, dass sie im Sport was taugt --“ (ebd.). Neuerlich wird damit von Horváth der Gegensatz zwischen Sport und Geist aufgetan, der das Werkprojekt von den frühen Entwürfen (vgl. E1, E4/BS 11 a [1], Bl. 2v, E6/BS 11 a [1], Bl. 7 und E7) bis zur fragmentarischen Endfassung TS4/A4 prägt. Auch die folgende Bemerkung der Lehrerin: „Wenn sie einen liebt, dann bitte sachlich!“ (Bl. 15) zeigt die neue (neusachliche) Gesinnung auf, die vor allem von der Lehrerin vertreten wird. In der Folge bittet Else ihre Freundin Maria inständig, ihren Brief wegzuschicken, denn sonst werde „eine ganze Ehe zerstört, eine ganze Familie“ (ebd.). Else hat nämlich ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, eine Motivkette, die in keiner der Vorstufen angedacht ist und auch im späteren Roman Jugend ohne Gott keine Rolle mehr spielen wird, wo die Mädchen auf dem Schloss nur noch Statistinnen und Kontrastfiguren zu Eva sind. Schließlich streiten sich die beiden Mädchen über „Moralbegriffe“ (Bl. 16) zwischen Sachlichkeit und Romantik, die Lehrerin kommt dazwischen und nimmt den Brief an sich. Nachdem sie die Adresse gesehen hat, verspricht sie, den Brief aufzugeben. Schließlich erweist sie sich doch als sehr menschlich, als sie gegenüber Maria bekundet: „man muss auch mit Menschen ein Einsehen haben, die gefehlt haben --“ (Bl. 17). In der nächsten Szene tauchen die fünf Jungen aus dem Zeltlager beim Schloss auf und beobachten die Mädchen durch die Fenster. Sie diskutieren dabei über menschliche Schönheit und die Anziehung der Geschlechter, wobei Peter die Rolle dessen einnimmt, der die Schönheit und das Geheimnis der Anziehung verteidigt, während Robert meint: „Es ist alles ganz klar! Alles sonnenklar! Die Geschlechter ziehen sich an und fertig! Das ist alles, wie ein Butterbrot und sonst nix, eine normale körperliche Funktion --“ (Bl. 19). Auch hier treffen also wieder Neo-Romantik und Neue Sachlichkeit aufeinander. Alfred, der im Gegensatz zu Peter offensichtlich schon sexuelle Erfahrungen hatte, geht sogar so weit zu sagen: „Ich kann Dir verraten -- es ist nichts besonderes dabei. Wirklich, eine überschätzte Sache. Wenn ich eine Zigarette rauch, das ist für mich mehr.“ (ebd.) In der Folge beobachten die fünf eine Prügelszene zwischen den Mädchen, eine erstmals von Horváth umgesetzte Idee, wobei „alle gegen eine“ kämpfen (ebd.; vgl. E6/BS 11 a [1], Bl. 7). Die Jungen schließen daraus: „Weiber sind keine Lords.“ (Bl. 19) Als die Jungen lachen, werden sie von Peter zurechtgewiesen, was Robert so aufbringt, dass er droht, Peter zu verprügeln. Aber dazu kommt es nicht. Die vier ziehen ohne Peter ab, der zurückbleibt. Die verprügelte Else kommt aus dem Schloss gelaufen. Peter hält sie auf und versichert ihr, dass das „eine grosse Gemeinheit“ war, „alle gegen eine“ (Bl. 20). Aber Else versichert, das sei doch immer so. Als sie bemerkt, dass Peter durchs Fenster geschaut hat, kommentiert sie dies mit den Worten: „Die heutige Jugend --“, aber Peter widerspricht ihr: „Ich bin etwas anders. Ich hab nur per Zufall hineingeschaut.“ (ebd.) Else erwidert darauf: „Ich will nichts mit der Jugend zu tun haben. Ein junger Mensch ist nichts, ich brauch einen älteren --“ (Bl. 21). Das 4. Bild ist auf einer „Wiese“ angesiedelt, auf der „Fussball gespielt“ wird (vgl. das 4. Bild „Fussball“ in E18 und E19). Es treten die fünf aus den vorhergehenden Bildern bekannten Jungen Robert, Alfred, Rudolf, Max und Peter auf. Peter äußert wieder seine bereits aus früheren Entwürfen bekannte Fußball-Philosophie: „Es kommt ja garnicht aufs Tor an --“ und „Es kommt darauf an, ob mit Geist gespielt wird -- mir ist eine Mannschaft lieber, die keine Tore macht, aber schön spielt --“ (Bl. 22; vgl.

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Vorarbeit 2

E4/BS 11 a [1], Bl. 2v, E12, E14/BS 11 a [1], Bl. 14 und TS1/BS 11 b, Bl. 2). Das Bild „Fussball“ spielt in späteren Entwürfen (nach E19) keine Rolle mehr, wo die Kriminalhandlung und die Liebeshandlung stärker in den Vordergrund rücken. Das 5. Bild lautet in TS4/A4 „Einsamer Bauernhof“, eine Position, die es zuletzt in E19 hatte. In dem Bild wird der Überfall der jungen Diebe Capone, Dillinger, Hannes und Kitty auf den Bauernhof geschildert. Kitty feuert Hannes mit folgenden Worten an: „So geh doch schon! Gleich links, wennst reinkommst, dort hängt der Schinken, dort ist die Küche -- und der Speck -- pack alles zusammen -- gestern hat er die Sau geschlacht, ich hab zugschaut“ (Bl. 24; vgl. TS2 und E28). Die Alte ist hier, wie in einigen vorhergehenden Entwürfen und im späteren Roman Jugend ohne Gott, wo im Kapitel „Unkraut“ eine ganz ähnliche Szene geschildert wird (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 52–55), das einzige Hindernis für den Diebstahl, doch sie ist „schon dreiviertel blind“ (Bl. 24), stellt also auch kein wirkliches Hindernis dar. Dann taucht jedoch unvermittelt ein Gendarm auf (vgl. TS2 und TS3) und informiert Kitty, dass ihr Vater, der um eine „Unterstützung“ angesucht hat, „morgen früh aufs Bürgermeisteramt“ kommen solle (Bl. 25; vgl. TS3). Zuletzt fordert er sie auf, auf den Vater zu schauen, damit er „seine ganze Unterstützung“ nicht „versauft“ (Bl. 25). Kittys Mutter ist krank: „Der Arzt meint, sie machts nimmer lang.“ (ebd.) Horváth schildert hier sehr breit die triste Lebenssituation der verwahrlosten Kinder. Die Fassung bricht mit Kittys folgender Replik ab: „Ich bin doch froh, dass mein Vater sauft. Wenn er nicht sauft, sieh ich ihn mehr. Und die Mutter solltens lieber ins Krankenhaus schaffen, als wie zuhaus -- wer soll sie denn pflegen? Die stirbt uns noch weg --- unter der Hand --“ (Bl. 26). Horváth hat also in TS4/A4 sein Drama Der Lenz ist da! nur fragmentarisch ausgearbeitet. Er konnte oder wollte dieses Werkprojekt nicht abschließen, hat aber wesentliche Teile davon in den späteren Roman Jugend ohne Gott übernommen.

Vorarbeit 2: Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit – Roman In Vorarbeit 2 des Werkprojekts Jugend ohne Gott, dem nur in wenigen Entwürfen fragmentarisch ausgearbeiteten Roman mit dem Titel Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit, nimmt Horváth eine für das Werkprojekt entscheidende Veränderung vor, nämlich einen Gattungswechsel vom Drama zur Prosa. Solche Gattungswechsel sind in den Werkgenesen des Autors keine Seltenheit. Allerdings finden sie meistens eher in frühen Phasen der Werkgenese statt, so etwa im Fall der Komödie Figaro läßt sich scheiden (1936), die Horváth zunächst als Roman unter dem Titel Figaro II. ausarbeiten wollte (vgl. WA 8/VA1/E1). Wie eine wahrscheinlich erst nach Abschluss der Arbeit an der Komödie entstandene kurze Prosaskizze zeigt, hat der Autor diese Idee später noch einmal aufgegriffen (vgl. WA 8/K4/TS2). Auch in der Werkgenese des Schauspiels Don Juan kommt aus dem Krieg gibt es Gattungswechsel, hier sogar mehrfache, hatte Horváth dort in Konzeption 1, nach Entwurf einiger Dramen-Strukturpläne, kurz erwogen, den Don Juan-Stoff zu einem Roman unter dem Titel Ein Don Juan unserer Zeit zu verarbeiten (vgl. WA 9/K1/TS5). In Konzeption 2 arbeitete er dann drei Filmexposés unter demselben Titel aus (vgl. WA 9/K2/TS1–TS3), um schließlich doch die ursprüngliche Idee eines Dramas, zunächst unter dem Titel Ein Don Juan unserer Zeit, dann unter dem definitiven Titel Don Juan kommt aus dem Krieg auszuführen.

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T1 = ÖLA 3/W 323 – BS 25 [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), hs. Eintragungen mit Bleistift, Paginierung 1 TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Das vorliegende Blatt BS 25 [2], Bl. 1 weist dieselbe Papierqualität auf wie die Bl. 1–3 der Mappe BS 40 a (vgl. TS2/A1 und A2). Es ist deshalb von einem genetischen Naheverhältnis dieser Blätter auszugehen. Bei der Fassung TS1 handelt es sich um ein Typoskript, das Horváth anschließend mit Bleistift überarbeitet hat (vgl. TS2/A4). Obwohl die folgenden Textstufen allesamt handschriftlich verfasst sind, ist davon auszugehen, dass TS1 die früheste Fassung zu der Vorarbeit Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit darstellt. Horváth arbeitet in der vorliegenden Textstufe ein Gespräch zwischen einem Engel und einem Schriftsteller aus, der einen Roman schreiben will. Der Engel bietet ihm einen „Stoff“ an: „es wär ein Roman über die Ideale der Menschheit in unserer Zeit“ und schlägt sogar vor, dass sie sich „gemeinsam eine Handlung“ ausdenken. Der Schriftsteller reagiert aber mit einer gewissen Skepsis auf diesen Vorschlag: „Ich sah den Engel gross an. Die Ideale der Menschheit haben mir noch nie so richtig zugesagt. Unter Idealen der Menschheit unserer Zeit konnte ich mir momentan nichts richtiges vorstellen.“ Schließlich fordert der Engel den Schriftsteller auf, mit ihm in den Prater zu gehen. Dort erzählt er ihm: „Das freut mich, dass wenig Menschen da sind, denn ich hab sie nicht gern.“ Damit entwickelt Horváth in der vorliegenden Fassung bereits eine Form von Misanthropie, wie sie auch den späteren Roman Jugend ohne Gott kennzeichnen wird. Die Idee einer Engelsfigur findet in der Folge keine weitere Verwendung mehr. Aus der Perspektive der folgenden Ansätze einer Textstufe erscheint TS1 als eine Art Rahmen oder Vorgeschichte zu der in den folgenden Ansätzen skizzierten Handlung des ersten Kapitels des Romans mit dem Titel Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit, über dessen Entstehungsgeschichte und Schreibszene in TS1 reflektiert wird. Dass er als von einem Engel eingegeben und damit gewissermaßen gottgewollt erscheint, ist ein erster Hinweis auf die metaphysische Ebene, die in Jugend ohne Gott eine noch facettenreichere Ausprägung erhalten wird. H1 = ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), schwarze Tinte TS2/A1 = fragm. Fassung des I. Kapitels „Ein Lehrer in heutiger Zeit“ bzw. „Ein unbekannter Dichter“ mit Werktitel „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit. Roman“ (Korrekturschicht)

Die folgenden vier Ansätze von TS2 sind allesamt narrative Ausarbeitungen des ersten Kapitels des Romans Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit. Das erste Kapitel erhält dabei unterschiedliche Titel und auch unterschiedliche Nummerierungen (einmal in römischer, einmal in arabischer Bezifferung). Das vorliegende Blatt BS 40 a, Bl. 1 enthält zunächst eine fragmentarische Fassung des I. Kapitels „Ein Lehrer in heutiger Zeit“, zu der Horváth alternativ eine Fassung des I. Kapitels mit dem Titel „Ein unbekannter Dichter“ notiert. Das Blatt trägt als einziges Blatt dieses Werkprojekts den Werktitel „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“, der im späteren Roman Jugend ohne Gott zu einem Kapiteltitel wird (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 62). Außerdem notiert Horváth zum Werktitel den Gattungstitel „Roman“, der erkennen lässt, dass die vorliegende Textstufe als Teil eines Romanprojekts anzusehen ist.

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Vorarbeit 2

Anders als in TS1 handelt es sich bei der Hauptfigur der vorliegenden Textstufe nicht um einen Schriftsteller, sondern um einen Lehrer, wie er auch im späteren Roman Jugend ohne Gott den Protagonisten abgeben wird. Insofern dürfte TS2/A1 tatsächlich nach TS1 zu reihen sein. Auch die Notation des Titels, der in TS1 nur als „Stoff“ gehandelt wird, stützt diese Annahme. Bemerkenswert ist auch die atmosphärische Schilderung: „Die Zeitung. Das Radio. Ein Besuch aus dem Ausland, der sympathisiert mit den dortigen Zuständen“, die bereits auf den Roman vorausweist (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 26f.). Auch für die nächste Notiz: „Er wird wieder kirchlich“, gilt dies, geht es doch in Jugend ohne Gott ganz zentral um eine Rückkehr (des Lehrers) zu Gott, der in Horváths Spätwerk (vgl. auch Der jüngste Tag in WA 10) nichts anderes ist als das subjektive Gewissen. Der Lehrer will einen „Brief an die neue Regierung“ schreiben, signiert mit: „Von einem unbekannten Dichter“. In der zweiten Variante werden unter dem Titel „Ein unbekannter Dichter“ die Lebensumstände des Lehrers geschildert. Er ist verheiratet. Seine Frau ist „6 Jahre jünger“. Sie „versorgt das Haus und kocht sehr gut“. In einer nachträglich eingetragenen Variante beschließt er jedoch, „ein Tagebuch [zu] beginnen“, weil er „niemanden [hat], mit dem [er] reden kann“ (vgl. K/E2). Er notiert folglich ein Datum. Es ist der „27. November 1935“. Ob dieses Datum, wie in der Forschung vermutet wurde (vgl. Horváth 2009a, S. 181), tatsächlich zur Datierung des Blattes herangezogen werden kann, scheint fraglich. Es ist wahrscheinlicher, dass der Autor hier zumindest ein Jahr rückdatiert und das Blatt erst Mitte oder Ende 1936 entstanden ist. Im Sommer 1936 wurden die beiden Stücke Don Juan kommt aus dem Krieg (WA 9) und Figaro läßt sich scheiden (WA 8) fertig. In der Folge arbeitete Horváth jedoch vor allem an Der jüngste Tag und Ein Dorf ohne Männer (WA 10), die beide 1937 abgeschlossen wurden. Die eigentliche Arbeit an Jugend ohne Gott ist deshalb wohl auf nach Juni 1937 – dem Zeitpunkt der Fertigstellung von Ein Sklavenball bzw. Pompeji – zu datieren. Die Vorarbeiten indes dürften schon früher entstanden sein. Aufschlussreicher für die Datierung Letzterer scheint ein Datum zu sein, das auf BS 40 a, Bl. 2 eingetragen ist, wo es heißt, dass der Ich-Erzähler „in zwei Monaten 36 Jahre alt“ (TS2/A2/BS 40 a, Bl. 2) wird. Bezieht man dies auf Horváths eigenes Alter, so wäre das Blatt im Oktober 1937 entstanden. Da jedoch der Auslieferungstermin des fertigen Romans Jugend ohne Gott der 26. Oktober 1937 ist (vgl. Horváth 2009a, S. 183), scheint wahrscheinlich, dass Horváth in beiden Fällen um ein Jahr umdatiert hat, dass also sowohl TS2/A1 als auch TS2/A2, entgegen den darauf eingetragenen Datierungen, Mitte oder Ende 1936 entstanden sind. Bemerkenswert ist der unterste Absatz des Blattes, der häufig als „eine Art frühes Vorwort zu Jugend ohne Gott“ verstanden wurde (vgl. Horváth 2009a, S. 182). Dort heißt es: „Ich überreiche dies Buch der Öffentlichkeit unserer Zeit. Ich weiss, es wird viel verboten werden, denn es handelt von den Idealen der Menschheit. Ein Lehrer, der Lesen und Schreiben lehrt, von dem handelt es. Es ist ein Buch gegen die geistigen Analphabeten, gegen die, die wohl lesen und schreiben können, aber nicht wissen, was sie schreiben, und nicht verstehen, was sie lesen. Und ich habe ein Buch für die Jugend geschrieben, die heute bereits wieder ganz anders aussieht, als die fetten Philister, die sich Jugend dünken. Aus den Schlacken und Dreck verkommener Generationen steigt eine neue Jugend empor. Der sei mein Buch geweiht! Sie möge lernen aus unseren Fehlern und Zweifeln! Und wenn nur einer dies Buch liebt, bin ich glücklich!“ Der Lehrer ist hier also noch Deutschlehrer, wenig später wird er von HorTS2/A1

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Chronologisches Verzeichnis

váth dann aber als Lehrer für „Geschichte und Geographie“ (TS2/A4/BS 40 a, Bl. 4) bezeichnet, was auch seine Funktion im späteren Roman sein wird (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 7, wo sich der Autor der exakt gleichen Formulierung bedient). Da diese Passage einen solch großen werkbiographischen Stellenwert hat, wurde bei der Transkription des Blattes der Variante 1 gegenüber den in der Korrekturschicht eingetragenen Varianten 2–4 der Vorzug gegeben. H2 = ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 2, 3 2 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), schwarze Tinte TS2/A2 = Fassung des 1. Kapitels (Korrekturschicht)

In TS2/A2 arbeitet Horváth eine Fassung des 1. Kapitels aus, das in diesem Fall mit einer arabischen Ziffer nummeriert wird (vgl. TS2/A1). Der Eröffnungssatz der Textstufe lautet: „Es ist tiefe Nacht.“ (Bl. 2) Er kehrt in Form des Kapiteltitels in den folgenden Ansätzen von TS2 wieder, die beide mit „In tiefer Nacht“ betitelt sind (vgl. TS2/A3 und A4). Der zweite Satz: „Ich sitze in meinem Haus und meine Gedanken werden von der Nacht bewacht.“ (Bl. 2) kehrt in TS2/A3 unverändert wieder, wird aber dort noch um den Zusatz: „Denn während des Tages habe ich keine Zeit für mich. Ich bin ein Lehrer, ein einfacher Lehrer“ erweitert. Diese nachträgliche Einfügung ist ein deutlicher Hinweis für die Reihung der Textstufen. Ähnlich wie in TS1 baut Horváth seinen Text in TS2/A2 dialogisch auf. In diesem Fall spricht der Ich-Erzähler aber nicht mit einem Engel, sondern mit der personifizierten Nacht. Er fragt die Nacht, für wie alt sie ihn hält und antwortet: „Ich werde in zirka zwei Monaten 36 Jahre alt. Ist das alt – oder bin ich noch jung?“ (Bl. 2; vgl. dazu den Kommentar zu TS2/A1). Der Text beschreibt eine seltsame Kurve zwischen Tagesflucht: „Sie [die Gedanken; Anm.] sollen den Tag nicht sehen, denn die Sonne ist hell und froh.“ (Bl. 2) und Tagessehnsucht: „Wann kommt die Sonne?“ (Bl. 3) Zuletzt scheint sich der Ich-Erzähler aus der Nacht zu befreien: „ich werde mich freimachen von Deiner Umarmung, ich steh auf aus Deinem Bett und zieh mich an.“ (ebd.) Allerdings empfängt ihn dann ein Tag, der auch nicht gerade hell ist: „Ich muss das Licht herinnen anzünden, obwohl es Mittag ist. So gehts schon seit langer Zeit, der Nebel will nicht weichen, er hat sich eingehängt.“ (ebd.) H3 = ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (342 × 420 mm), Doppelbogen, gefaltet, schwarze Tinte TS2/A3 = fragm. Fassung des I. Kapitels „In tiefer Nacht“ (Korrekturschicht)

Auf BS 40 a, Bl. 6 skizziert Horváth neuerlich eine Fassung des I. Kapitels, das hier mit einer römischen Ziffer nummeriert wird. Wahrscheinlich ist Bl. 6 vor den Bl. 4 und 5 zu reihen, denn TS2/A3 steht noch näher bei TS2/A2, was sich etwa daran äußert, dass Horváth beginnt wie dort: „Es ist Nacht“, schreibt er in TS2/A3 zunächst („Es ist tiefe Nacht“, steht in TS2/A2), streicht dies aber wieder. Die dann folgende Passage: „Ich sitze in meinem Haus und meine Gedanken werden von der Nacht bewacht. Sie sollen den Tag nicht sehen, denn die Sonne ist hell und froh“ übernimmt er direkt aus TS2/A2, wo er im zweiten Satz noch korrigiert hatte. Allerdings wird diese Passage auch in TS2/A3 wieder gestrichen. In der Folge räsoniert der Ich-Erzähler wie in TS2/A1 und A2 über das Wetter, über Herbst und Winter, über lange und kurze Tage und darüber, ob es vielleicht bald Frühling wird. Auch die Tatsache, dass

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Vorarbeit 2

der Ich-Erzähler ein Lehrer ist (vgl. TS2/A1) findet wieder Erwähnung, hier in der Form: „Ich bin ein Lehrer, ein einfacher Lehrer.“ Horváth überarbeitet diesen ersten Absatz sehr stark, er streicht viele der bereits notierten Sätze wieder und fügt neue hinzu. Wahrscheinlich zu einer letztlich fallen gelassenen Variante zählt der letzte Absatz des Blattes, der eine völlige Neuerung darstellt. Dort heißt es: „Ich setze mich wieder an meinen Tisch und schreibe weiter. Wo war ich stehengeblieben? Ja, richtig: dort, wo der selige Sedlmeier zu mir gesagt hat: ‚Lieber Freund, also wenn Du mal recht blöd bist, dann denk an mich!‘“ Der Name Sedlmeier ist in den vorhergehenden Ansätzen nicht vorgekommen (vgl. TS2/A4). H4 = ÖLA 3/W 324 – BS 40 a, Bl. 4, 5 2 Blatt unliniertes Papier (342 × 210 mm), Halbbogen, gerissen, schwarze Tinte, Bleistift, Paginierung 1 und 2 TS2/A4 = fragm. Fassung des I. Kapitels „In tiefer Nacht“ (Korrekturschicht)

Die Bl. 4 und 5 weisen dieselbe Papierqualität wie Bl. 6 auf, es sind charakteristische Blätter mit einer Überlänge von 342 mm. Diese materielle Ähnlichkeit verweist auf ein genetisches Naheverhältnis der beiden Handschriften. Wahrscheinlich hat Horváth zunächst Bl. 6 (TS2/A3) ausgearbeitet, dann die beiden Bl. 4 und 5, die gemeinsam den Ansatz TS2/A4 bilden (vgl. die Paginierung; vgl. auch den Kommentar zu TS2/A3). TS2/A4 ist neuerlich eine Ausarbeitung des I. Kapitels, das hier wie schon in A3 mit einer römischen Bezifferung nummeriert wird. Wie dort trägt es den Titel „In tiefer Nacht.“ Horváth beginnt zunächst wieder mit einer Ausarbeitung der Schreibszene: „Endlich hab ich Zeit“ (Bl. 4), heißt es dort und: „Nun sitz ich an meinem Tisch in der Ecke und schreibe es nieder, was mir am Herzen liegt. Endlich hab ich mich aufgerafft, all das niederzuschreiben.“ (ebd.) Horváth streicht jedoch diesen Absatz wieder und beginnt mit einer neuen Passage, die wieder stärker an die vorhergehenden Ansätze A2 und A3 angelehnt ist: „Ich sitze in meinem Hause und meine Gedanken werden von der Nacht bewacht“ (ebd.), heißt es hier wieder. Der Ansatz nimmt dann jedoch eine andere Richtung als die vorhergehenden, denn Horváth spricht in der Folge von der Wohnsituation des Ich-Erzählers statt vom Wetter und der Jahreszeit wie zuvor. Der Leser erfährt, dass das Haus nicht im Besitz des Ich-Erzählers ist, sondern „dem Fleischhauer P. Martin“ (ebd., Grundschicht) gehört. Der Ich-Erzähler ist nur Mieter, allerdings „ein guter Mieter“ (ebd.), „denn [er hat] eine festbesoldete Anstellung“ und ist „ein staatlich angestellter Lehrer und unterrichte[t] bereits seit sieben Jahren an der hiesigen Schule“. Und weiter: „Unser Ort ist ein kleines Städtchen mit ungefähr 5000 Einwohnern. Ich unterrichte am Gymnasium, es kommen von weitem Umkreis die Kinder her. Ich unterrichte Geschichte und Geographie.“ (ebd.) Die Passage weist in vielem auf den späteren Roman Jugend ohne Gott voraus, wo es heißt: „Du hast doch eine sichere Stellung mit Pensionsberechtigung und das ist in der heutigen Zeit, wo niemand weiss, ob sich morgen die Erde noch drehen wird, allerhand! […] Danke Gott, dass Du zum Unterrichtskörper eines Städtischen Gymnasiums gehörst und dass Du also ohne wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden darfst.“ (K/TS2/Horváth 1938a, S. 6) Und wenig später heißt es dort: „[I]ch unterrichte nämlich Geschichte und Geographie.“ (ebd., S. 7) Zunächst hatte Horváth in A4 noch „Ich unterrichte deutsche Sprache, Geschichte und Geographie“ (Bl. 4) geschrieben, dann aber Ersteres gestrichen und sich für die Fächer entschieden, die sich auch im späteren Roman finden (vgl. auch K/TS2/Horváth 1938a, S. 75).

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Chronologisches Verzeichnis

In der Folge bezeichnet der Ich-Erzähler den Hausherrn als „brave[n] Mensch[en]“ (Bl. 4), weil er ihm einmal die Miete schuldig geblieben sei und der sehr großzügig reagiert habe. Außerdem erfahren wir, dass der Ich-Erzähler „verheiratet“ (Bl. 5) ist (vgl. auch TS2/A1) und zwar „seit etwas über fünf Jahren“ (Bl. 5). Mit dieser Textstufe TS2/A4 bricht das Werkprojekt des Romans Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit ab. Horváth wird den Werktitel als Kapiteltitel und als Thematik in den späteren Roman Jugend ohne Gott integrieren (vgl. K/TS2/Horváth 1938a, S. 62). Außerdem übernimmt er die Lehrerfigur und seine Unterrichtsfächer aus den Ansätzen dieser Vorarbeit.

Konzeption Konzeption: Jugend ohne Gott – Roman H1 = ÖLA 3/W 333 – BS 40 b, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), schwarze Tinte E1 = Notizen (mittig) E2 = Strukturplan in 3 Teilen (links, unten und rechts)

Das vorliegende Blatt bildet zusammen mit dem folgenden (BS 16 b [1], Bl. 4v) das einzige überlieferte genetische Material zur eigentlichen Werkgenese von Jugend ohne Gott. Das Blatt war bisher unbekannt. Auf dem oberen Teil (sowie auf der Versoseite) befindet sich je ein Entwurf zu der Komödie Ein Sklavenball, an der Horváth im Frühsommer 1937 gearbeitet hat. Eine Datierung dieses Blattes auf die Frühphase der eigentlichen Arbeit am „Roman“, wie er in E1 noch heißt, also auf Juni 1937, scheint deshalb naheliegend. Horváth notiert zu diesem „Roman“ den Titel „Durch Korruption zum Katholizismus“, wobei nicht ganz klar ist, ob es sich dabei um einen Werk- oder nur um einen Kapiteltitel handelt. Alternativ dazu notiert er auch den Titel „Marxismus und Glaube“. Beide Titelentwürfe deuten klar in Richtung des späteren Romans Jugend ohne Gott. Zunächst skizziert der Autor darunter eine reflexive Passage, in der ein Ich-Erzähler über seine Abgeschiedenheit nachdenkt und sich fragt: „Aber woher soll ich die Leute kennen? Woher die Leute, die mir was sagen können?“ Und er setzt fort: „Ich sitze auf meinem Zimmer und bin abgeschnitten von der Welt.“ Diese Szene erinnert in vielem an die Textstufen zu Vorarbeit 2 Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit, wo eine ähnliche Schreibszene geschildert wird (vgl. VA2/TS2/A2–A4). Die Problematik von „Marxismus und Glaube“ sowie jene der „Regierenden“, die „[l]auter Verbrecher“ sind, wie Horváth rechts oben notiert, spielt in dem späteren Romankapitel mit dem Titel „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“ eine ganz entscheidende Rolle (vgl. TS2/Horváth 1938a, S. 62–71). Zuletzt spricht der Ich-Erzähler in E1 von der „geistige[n] Not und Angst“, in der er lebt, eine Stelle, die die atmosphärische Situation des Lehrers in Jugend ohne Gott bereits vorwegnimmt. In E2 notiert Horváth einen Strukturplan in drei Teilen, wobei nicht sicher ist, ob es sich dabei um Kapitel oder um größere Teile handelt, den er mit zahlreichen Notizen versieht. Die Teiltitel „Das Tagebuch“, „Der ländliche Priester“ und „Der hohe Priester“ verweisen schon deutlich voraus auf den Roman, wo diese wichtige Ingredienzien darstellen. Auch die „Schuljungen“ spielen hier schon eine Rolle, und es

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Konzeption

wird erwähnt, dass die Mutter eines Schuljungen „kran[k]“ sein soll. Die „katholische Schwester“, die Horváth an einer Stelle notiert und über die sich der Ich-Erzähler zahlreiche Gedanken macht, die rings um E1 vermerkt sind, spielt indes im späteren Roman keine Rolle mehr. Es dürfte sich dabei um eine frühe personelle Idee handeln, die bald fallen gelassen wurde. Stattdessen rückt im späteren Roman der „Priester“ (in der Form: „Pfarrer“) in den Fokus. Die Idee, dass die Kranken Gott „näher“ stehen als die Gesunden, die Horváth rechts unten notiert, geht ebenfalls nicht in den späteren Roman ein. H2 = ÖLA 3/W 351 – BS 16 b [1], Bl. 4v 1 Blatt unliniertes Papier (295 × 207 mm), doppelt gefaltet, schwarze Tinte TS1 = fragm. Fassung (Grundschicht)

Bei dem vorliegenden Blatt handelt es sich zusammen mit dem vorhergehenden (BS 40 b, Bl. 1) um das einzige überlieferte Material aus der eigentlichen Werkgenese von Jugend ohne Gott. Die Eintragung war bis dato unbekannt. Das Blatt befindet sich in einer Mappe, die zum Konvolut des Romanprojekts Die stille Revolution gehört, das eine Vorarbeit des Romans Ein Kind unserer Zeit darstellt. Darin bildet es die Versoseite eines Blattes, das Teil einer mehrblättrigen handschriftlich ausgearbeiteten Textstufe ist (vgl. WA 16/VA1/TS2). Da Horváth den Roman Jugend ohne Gott sowie den Folgeroman Ein Kind unserer Zeit großteils im Salzburgischen Henndorf geschrieben hat (vgl. die Vorworte in diesem Band und in WA 16), muss davon ausgegangen werden, dass die Blätter zur Stillen Revolution auch dort entstanden sind, sonst hätte er dafür kaum ein Blatt aus der Werkgenese von Jugend ohne Gott verwenden können. Dies stützt die Datierung der Entwürfe zur Stillen Revolution auf die Mitte des Jahres 1937, wahrscheinlich erst nach oder im Zuge der Fertigstellung von Jugend ohne Gott. Der Entwurf zu Jugend ohne Gott befindet sich aus rein chronologischer Perspektive also auf der Rectoseite des Blattes, wurde aber von der Berliner Bearbeitung als Versoseite klassifiziert, da die Textstufe zur Stillen Revolution nicht nachträglich gestrichen wurde und deshalb als wichtiger anzusehen ist. Horváth hat also die Versoseite eines Blattes aus der Werkgenese von Jugend ohne Gott für das Romanprojekt Die stille Revolution wiederverwendet. Wann die Textstufe gestrichen wurde, ist nicht eruierbar, möglicherweise erst bei der Wiederverwendung des Blattes für Die stille Revolution. Vielleicht war das Blatt auch Teil einer größeren ausgearbeiteten Textstufe, allerdings fehlt dafür der Beleg durch eine eingetragene Paginierung. Da die Textstufe jedoch mitten in einem Kapitel einsetzt, wäre dies zumindest vorstellbar. TS1 enthält eine fragmentarische Fassung der Kapitel „Die Endstation“ oder „Das Reh“. In Letzterem finden sich die Passagen: „ach, die Mutter des T!“ (TS2/Horváth 1938a, S. 209) und „Was ist denn los?!“ (ebd., S. 210), die aus der vorliegenden Textstufe hervorgegangen sein dürften, wo sich ganz ähnliche Sätze finden. Offensichtlich sollte zu diesem Zeitpunkt der Vater des T noch im Roman auftreten, während er in der Endfassung als der abwesende Vater erscheint, den der Sohn „kaum“ sieht, weil er „immer unterwegs“ ist und einen „Konzern“ „leitet“ (ebd., S. 189).

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D1 = Jugend ohne Gott. Roman (Exemplar in: ÖLA 3) Verlag Allert de Lange, Amsterdam 1938, mit Widmung des Autors: „Meinen lieben Eltern von ihrem Ödön / Henndorf, 6. Nov. 1937“ (S. 1), Paginierung 5–219 TS2 = Endfassung mit Werktitel „Jugend ohne Gott. Roman“ (Grundschicht)

Zu dem Werkprojekt Jugend ohne Gott ist, mit Ausnahme der Entwürfe und Textstufen der beiden Vorarbeiten und der beiden Entwürfe und der Textstufe der Konzeption, kein genetisches Material überliefert. Im Splitternachlass Ödön von Horváth ÖLA 27 findet sich zwar ein Typoskript (in der Mappe ÖLA 27/W 37), das den Titel „Jugend ohne Gott. Roman“ trägt, doch bei diesem Typoskript (61 Bl. in blauer Mappe) handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um ein originales Typoskript (Horváths) aus den dreißiger Jahren, sondern um eine spätere Abschrift. Auf welcher Grundlage diese angefertigt wurde, lässt sich nicht mehr eruieren. Denn auch eine unmittelbare Druckvorlage für die Erstausgabe des Romans im Herbst 1937 im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange fehlt. Im Nachlass Ödön von Horváth ÖLA 3 hat sich indes von diesem Erstdruck ein Widmungsexemplar des Autors an seine Eltern gefunden. Es ist mit der Widmung: „Meinen lieben Eltern von ihrem Ödön / Henndorf, 6. Nov. 1937“ versehen. Der Erstdruck ist zwar mit Copyright 1938 erschienen, wurde aber bereits am 26. Oktober 1937 ausgeliefert (vgl. Horváth 2009a, S. 183). Er bildet die Grundlage der linearisierten Fassung in Form der Textstufe TS2 sowie auch der emendierten Endfassung. Die wahrscheinlich von Horváth bewusst gesetzten Rechtschreibfehler im Brief der Bäckermeistersgattin N sowie im Tagebuch des Z wurden in ihrer originalen Form belassen (vgl. Horváth 2009, S. 142). Auch auf eine Emendation der im restlichen Text uneinheitlichen Groß-/Kleinschreibungen wurde verzichtet (vgl. ebd., S. 141f.). Alle Eingriffe in den originalen Wortlaut der Erstausgabe finden sich im kritischen Apparat vermerkt. Der Aufbau des Romans Jugend ohne Gott ist klar strukturiert. Wie in der Vorarbeit Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit angelegt, hat sich Horváth auch in der definitiven Romanfassung für eine Unterteilung in Kapiteln entschieden. Im Gegensatz zur Vorarbeit 2 greift er dafür aber nicht auf eine numerische Kapitelzählung zurück, sondern weist den Kapiteln Titelüberschriften zu, die, wie Klaus Kastberger und Evelyne Polt-Heinzl plausibel gemacht haben, „nicht dem Erleben der Erzählfigur zuzurechnen sind“, wodurch sie „eine zusätzliche Kommentarebene bieten könnten“, sondern sie „verzichten auf Distanzierung und bringen überwiegend weitere Variationen auf die aus dem Text herausragenden Enden des Motivgeflechts“ (Horváth 2009a, S. 186). Insgesamt besteht der Roman aus 44 Kapiteln, von denen einige besonders prägnante und nachhaltig wirksame Titel führen, etwa: „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“, „Der römische Hauptmann“, „Das Zeitalter der Fische“, „Die marschierende Venus“, „Der verschollene Flieger“ und „Adam und Eva“. Einige dieser Titel gehen auf die beiden Vorarbeiten zurück: Dies gilt vor allem für die Titel „Die marschierende Venus“, „Der verschollene Flieger“ und „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“, die in gleicher oder ähnlicher Form bereits dort vorgebildet sind (vgl. VA1/E8, E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 1, E17, E21, E28, E29, E32/BS 11 a [1], Bl. 29, E34, TS3, E35/BS 11 a [1], Bl. 32, TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4 und VA2/TS2/A1). Der Titel „Der römische Hauptmann“ taucht erstmals im Kontext der Entstehung des Romans Der ewige Spießer (1930) auf, und zwar in der frühen Konzeptionsphase Charlotte. Roman einer Kellnerin (vgl. WA 14/K1/E15), die

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Konzeption

wahrscheinlich auf die Jahre 1927 oder 1928 zu datieren ist, wo Horváth ähnlich wie in Der Lenz ist da! und Jugend ohne Gott eine zeitliche Situierung der Handlung rund um das Osterfest plant (vgl. VA1/E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 1 und K/TS2/Horváth 1938a, S. 42). Der Titel oder der Figurenname „Der römische Hauptmann“ erscheint dort im Abschnitt „Karfreitag“ neben „Barabas“. Er verweist aber auch auf einen Der römische Hauptmann betitelten kurzen Prosatext des Autors (vgl. ÖLA 3/W 21 – BS 39 c [5], Bl. 1 und 2), der im Kontext der Entstehung des Volksstücks Glaube Liebe Hoffnung (1932) verfasst wurde. In diesem Text wird der Hauptmann, der der Kreuzigung Christi beigewohnt hat, einer genaueren psychologischen Durchleuchtung unterzogen. Im Roman Jugend ohne Gott taucht das Motiv des römischen Hauptmanns mittels eines Gemäldes auf, auf dem Christus am Kreuz, Maria, Johannes und der römische Hauptmann dargestellt sind. Dieses Bild hängt bei den Eltern des Ich-Erzählers, von denen es heißt: „Sie sind sehr fromm.“ (TS2/Horváth 1938a, S. 61), aber auch in der guten Stube des Pfarrers, zu dem der Lehrer eingeladen wird (vgl. ebd.). Das Bild verweist auf Frömmigkeit und auf die religiöse Wende im Leben des Lehrers, der sein Gewissen und damit auch seine Religiosität entdeckt und sie der Jugend ohne Gott entgegensetzt. Im Kapitel „Der römische Hauptmann“ fällt für den Lehrer der römische Hauptmann auf dem Bild beim Pfarrer mit dem alternden Feldwebel zusammen, der dem Lager der Jungen beigestellt wurde und sie in die militärischen Grundbegriffe einlernt: „Er erkannte den neuen Gott, als der am Kreuze starb, und wusste nun, dass seine Welt zum Tode verurteilt war. […] Und der römische Hauptmann wusste es, die Barbaren werden alles zertrümmern. Aber es rührte ihn nicht. Für ihn war bereits alles zertrümmert. / Er lebte still als Pensionist, er hatte es durchschaut. / Das grosse römische Reich.“ (TS2/Horváth 1938a, S. 76) Unschwer ist hier die Analogie zum Deutschen Reich erkennbar, in dem die neuen „Barbaren“ ja gleichfalls eine alte Welt zertrümmerten. Der Titel „Adam und Eva“ schließlich markiert am deutlichsten den Bezug zum biblischen Intertext des Romans. Der Roman Jugend ohne Gott wird, ähnlich wie das Dramenprojekt Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit, das unter dem deutlichen Einfluss von Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen (1891, UA 1906; vgl. den Kommentar zu VA1/E1) entstanden ist, von der Darstellung der Entstehung jugendlicher Sexualität und Brutalität geprägt. Gleich zu Beginn des Textes wird der Lehrer Augenzeuge einer Prügelei zwischen den Schülern, wobei fünf gegen einen kämpfen (vgl. TS2/ Horváth 1938a, S. 11–13). Bereits in den Vorarbeiten spielt dieses Thema des Verprügelns, vor allem des unfairen Verprügelns (mehrere gegen einen oder eine) eine wichtige Rolle und kehrt mehrfach wieder (vgl. VA1/E6/BS 11 a [1], Bl. 7, E14/BS 11 a [1], Bl. 19 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 19). Im Kapitel „Die reichen Plebejer“ tritt der Lehrer in seiner Funktion als Geografie-Lehrer in Erscheinung. Das Thema des gestellten Aufsatzes ist: „Warum müssen wir Kolonien haben?“ (TS2/Horváth 1938a, S. 7) Da der Lehrer zunächst als devot erscheint, will er am Inhalt der Aufsätze seiner Schüler nichts kritisieren („Wie bereits erwähnt, hatte man gegen den Inhalt der Aufsätze vorschriftsgemäss nichts einzuwenden.“ TS2/Horváth 1938a, S. 14) und verlegt seine Arbeit zunächst auf die Korrektur von „Sprachgefühl, Orthographie und Formalitäten“ (ebd.). Er erscheint somit zunächst nur als „Lehrer, der Lesen und Schreiben“ (VA2/TS2/A1) lehrt, bzw. als Lehrer für „deutsche Sprache“, wie es in VA2/TS2/A4/ BS 40 a, Bl. 4 in der Grundschicht heißt, später aber von Horváth gestrichen wurde, weshalb nur die Fächer „Geschichte und Geographie“ stehen bleiben. Wie aus der aus

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dem Roman zitierten Passage hervorgeht, bleibt die Sprachlehre aber nolens volens das wesentliche Betätigungsfeld des Lehrers. Im weiteren Verlauf des Romans wird jedoch klar, dass der Lehrer sich auch inhaltlicher Kritik nicht enthalten kann, wenn er dem N erklärt, dass auch die „Neger“ „Menschen“ sind (vgl. TS2/Horváth 1938a, S. 14f.). Horváth übernimmt also in den Roman Jugend ohne Gott die Lehrerfigur aus der Vorarbeit Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit, nicht jene aus dem Werkprojekt Der Lenz ist da!, wo der Sportlehrer Hansheinrich Schmidt (erstmals in VA1/E9) die zentrale Lehrerfigur abgibt, an der sich die Jungen im Zeltlager reiben. Der namenlose Lehrer in Jugend ohne Gott ist im Gegensatz zur Vorarbeit (vgl. VA2/TS2/A1 und TS2/A4/BS 40 a, Bl. 5) nicht verheiratet und lebt als Untermieter bei einer „braven Hausfrau“ (TS2/Horváth 1938a, S. 5), die ihm an seinem Geburtstag, dem 25. März, an dem der Roman beginnt, Blumen aufs Zimmer stellt. Dieser 25. März ist, worauf Klaus Kastberger und Evelyne Polt-Heinzl zuerst hingewiesen haben, „der Tag des Heiligen Dismas, des gekreuzigten Schächers zur Rechten Christi, der sich reuig zu Christus bekehrt“ (Horváth 2009a, S. 186). Eine Bekehrung, die hier wohl nicht zufällig mit dem Lehrer in Zusammenhang gebracht wird: „Er wird wieder kirchlich“, wie es in einer Variante von VA2/TS2/A1 heißt. Denkt man an die oben erwähnte bildliche Darstellung der Kreuzigung, so schließt sich damit neuerlich ein Kreis biblischer Anspielungen, die den Roman durchziehen. Auch ein weiterer intertextueller Verweis zu dem Romanfragment Charlotte ist damit gegeben, wo Horváth in dem oben zitierten Strukturplan neben dem römischen Hauptmann und Barabas auch den „Rechten oder linken Schächer“ (WA 14/K1/E15) notiert, womit er in dem frühen Entwurf bereits den Heiligen Dismas vorwegnimmt, der ihn offensichtlich schon zu diesem Zeitpunkt beschäftigt hat. Mit dem Kapiteltitel „Die reichen Plebejer“ führt Horváth, wie schon in Vorarbeit 1 geplant, wo er meist von den „Proleten“ oder „Rohen“ spricht (vgl. VA1/E1, E4/BS 11 a [1], Bl. 2v, E6/BS 11 a [1], Bl. 7 und E7), die Problematik und den Gegensatz von Arm und Reich in den Text ein, in dem erwähnten Kapitel exponiert er etwa den Bäckermeister N, der mit seinem Betrieb zu einem mäßigen Reichtum gekommen ist, aber im Grunde doch ein Plebejer geblieben ist. In der Vorarbeit ist der Gegensatz von Arm und Reich leitmotivisch präsent: „Was weisst denn Du von der Not der Leut?!“, heißt es etwa in einer Replik Peters in VA1/E15 und in TS1/BS 11 b, Bl. 2 spricht Horváth von dem Vorsatz, den „Gegensatz zwischen den Jungen aus der Stadt, die sich eigentlich nur für Sport interessieren, und den verwahrlosten Kindern etwas zum Vorschein“ zu bringen. In VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4f. führt der Autor die beiden jungen Diebe Capone und Dillinger mit den Worten ein: „sie sind ärmlich gekleidet und machen einen verwahrlosten Eindruck.“ Hannes lässt er in der fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 11 einen langen Monolog über die Heimarbeit seiner Eltern halten. Es ist dies ein Motiv, das im Roman eine besondere Rolle spielt, wo es der Lehrer ist, der bei seinem Spaziergang mit dem Pfarrer durch das Dorf die heimarbeitenden Kinder mit ihren hasserfüllten Gesichtern sieht, die lange in seinem Gedächtnis haften bleiben. Auch in dem ausführlichen Gespräch zwischen ihm und dem Pfarrer, in dem es im Wesentlichen um den Gegensatz von Arm und Reich geht, tauchen sie wieder auf (vgl. E2 und TS2/Horváth 1938a, S. 59f., 182 sowie das gesamte Kapitel „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“, ebd., S. 62–71). Das Kapitel „Der totale Krieg“, das nicht nur im Titel eine scharfe Kritik an den „Zuständen“ (vgl. VA2/TS2/A1) im nationalsozialistischen Deutschland enthält, zeigt die Errichtung des Zeltlagers durch die Jungen aus der Stadt, ein Motiv, das bis auf

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Konzeption

die frühesten Strukturpläne zum Werkprojekt Der Lenz ist da! zurückgeht (vgl. VA1/E2, E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 5f., E15, E18, E19, E21, E22, E24, E29–E32, E35/BS 11 a [1], Bl. 33 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 1, 7 und 10). Das folgende Kapitel „Die marschierende Venus“ bringt die Jungen aus dem Zeltlager mit den Mädchen vom Schloss zusammen, die dort ebenfalls auf Ferienlager sind, darüber hinaus treten auch der Lehrer der Jungen und die Lehrerin der Mädchen miteinander in Kontakt (vgl. TS2/Horváth 1938a, S. 48–52). Das ganze Kapitel ist so schon im Werkprojekt Der Lenz ist da! angelegt, wo das Bild der marschierenden Mädchen eine der Konstanten vieler Entwürfe und Textstufen darstellt (vgl. VA1/E8, E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 13, TS1/BS 11 b, Bl. 1, E17, E21, E28, E29, E32/BS 11 a [1], Bl. 29, E34, TS3, E35/BS 11 a [1], Bl. 32 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 4). Während in der Vorarbeit die Mädchen ein eigenes Gesicht und eine gewisse Bedeutung innerhalb des Dramenfragments (vgl. insbesondere VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 15–17 und 20f.) bekommen, erscheinen sie im späteren Roman als bloße Kontrastfiguren zu den Jungen und vor allem zu dem verwahrlosten Mädchen Eva, in gewisser Weise also als Statistinnen, die den historischen Verfall von Weiblichkeit zu nüchtern-sachlichem Amazonentum versinnbildlichen (vgl. dazu auch das Gespräch des Lehrers mit dem wegen der Verführung einer Minderjährigen entlassenen, ehemaligen Lehrer „Julius Caesar“ in TS2/Horváth 1938a, S. 33–35). Einzig im Kapitel „Der verschollene Flieger“ (TS2/Horváth 1938a, S. 55–58) individualisiert sich die marschierende Mädchenmasse kurzfristig zu zwei mit individuellen Zügen ausgestatteten Mädchen, von denen eine, die keinen Namen trägt, angesichts der militärischen Ertüchtigungsübung des Verschollenen-Flieger-Suchens, in Tränen ausbricht, und dann von der anderen, die den Namen Annie trägt, getröstet wird. Hier werden auch die eigentlich Schuldigen an den herrschenden Zuständen genannt, wenn das eine Mädchen zu Annie sagt: „,Was geht er mich denn an, der verschollene Flieger?’ schluchzt sie. ‚Was soll ich denn da im Wald herumlaufen? Schau, wie meine Beine geschwollen sind, ich möcht nicht mehr marschieren! Von mir aus soll er draufgehen, der verschollene Flieger, ich möcht auch leben! Nein, ich will fort, Annie, fort! Nur nicht mehr im Schloss schlafen, das ist ja ein Zuchthaus! Ich möcht mich waschen und kämmen und bürsten!’“ Annie antwortet ihr darauf: „,Was sollen wir armen Mädchen tun? Auch die Lehrerin hat neulich heimlich geweint. Mama sagt immer, die Männer sind verrückt geworden und machen die Gesetze.’“ (TS2/Horváth 1938a, S. 57) Das Kapitel „Der verschollene Flieger“ ist ebenfalls schon in der Vorarbeit Der Lenz ist da! angelegt, wo es in zahlreichen Entwürfen als fixer Bestandteil der Werkstruktur aufscheint (vgl. VA1/E14/BS 11 a [1], Bl. 16, TS1/BS 11 b, Bl. 3f., E15, E18, E19, E21 und E35/BS 11 a [1], Bl. 33). Der Namenlosigkeit der meisten Mädchen entspricht die beinahe Namenlosigkeit der Jungen, die nur mit Buchstaben bezeichnet werden. Einige Figuren bekommen jedoch Vornamen, so etwa der N, der Otto heißt (vgl. TS2/Horváth 1938a, S. 16), oder der B, der an einer Stelle Franz (vgl. TS2/Horváth 1938a, S. 7) genannt wird, oder der Z, der den Vornamen Adam hat oder vom Lehrer bekommt (vgl. TS2/Horváth 1938a, S. 87f.), im Gegensatz zu den Entwürfen und Textstufen von Der Lenz ist da!, wo er Peter heißt (vgl. VA1/E9 etc.), und als Kontrapunkt zu der verwahrlosten Diebin Eva, die in Vorarbeit 1 meist Kitty heißt (vgl. ebd.). Die Jungen tragen in den frühesten Entwürfen (VA1/E1, E4–E8) des Dramenprojekts Der Lenz ist da! ebenfalls keine Namen, sondern sind dort einfach durchnummeriert. In späteren Entwürfen (ab VA1/E9) dieses Werkprojekts gibt ihnen Horváth jedoch Namen, meistens: Peter, Robert, Max,

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Chronologisches Verzeichnis

Alfred und Rudolf. Dementsprechend haben auch die jungen Diebe Namen. In den früheren Entwürfen: Nikolo, Schorsch und Kobenzl (ab VA1/E9), in den späteren: Capone, Dillinger (ab E14) und Hannes (ab TS1). Auch der Lehrer wird im Roman nicht aus der Anonymität herausgehoben, er bekommt indes einen Spitznamen: „der Neger“ (TS2/Horváth 1938a, S. 173). Die Diebe bleiben, bis auf Eva, im Roman ebenfalls namenlos. Bemerkenswert ist auch die Transformation des Fußball-Motivs im Laufe der Werkgenese. Es geht bis auf die ersten Entwürfe der Vorarbeit Der Lenz ist da! (vgl. VA1/E2, E4–E8, E10 und E12–E14) zurück und spielt auch im Prosa-Exposé (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 2), in den späten Entwürfen (vgl. VA1/E18, E19, E21 und E35/BS 11 a [1], Bl. 32) sowie in der fragmentarischen Endfassung dieses Werkprojekts (VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 22) eine Rolle. Während es bereits in den frühen Entwürfen zu Der Lenz ist da! (ab VA1/E2) innerhalb des Ferienlagers situiert wird, erlebt es im Roman eine Verschiebung außerhalb des Ferienlagers. Es bildet hier eine Art Vorspiel in der Stadt, in dem erste grundlegende Themen und Motive des Romans angesprochen werden: die Begeisterung der Jungen (und auch des Lehrers) für den Fußball und damit für alles Körperliche im Gegensatz zum Geistigen, die Beobachterposition des T, der (durch den Kolonien-Aufsatz geschürte) Hass des N auf den Lehrer und die Humanität des Letzteren, der dem kranken W den bekannten Tormann ans Sterbebett holt. Zur Fußball-Begeisterung äußert die Lehrerfigur, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, in einer der wohl schönsten Fußballelogen der Weltliteratur: „Wenn der Rechtsaussen den linken Half überspielt und zentert, wenn der Mittelstürmer den Ball in den leeren Raum vorlegt und der Tormann sich wirft, wenn der Halblinke seine Verteidigung entlastet und ein Flügelspiel forciert, wenn der Verteidiger auf der Torlinie rettet, wenn einer unfair rempelt oder eine ritterliche Geste verübt, wenn der Schiedsrichter gut ist oder schwach, parteiisch oder parteilos, dann existiert für den Zuschauer nichts auf der Welt, ausser dem Fussball, ob die Sonne scheint, obs regnet oder schneit. Dann hat er alles vergessen.“ (TS2/Horváth 1938a, S. 10f.) Von den frühen Entwürfen bis zur fragmentarischen Endfassung der Vorarbeit 1 kehrt leitmotivisch die Frage wieder, ob es beim Fußballspiel um die Tore oder um das schöne Spiel gehe (vgl. VA1/E4/BS 11 a [1], Bl. 2v, E12, E14/BS 11 a [1], Bl. 14, TS1/BS 11 b, Bl. 2 und TS4/A4/BS 11 c, Bl. 22). Immer wieder kommt es ob dieser Frage zu Zwistigkeiten zwischen den Jungen, wobei meist einer für das schöne Spiel (den Geist) plädiert – ab E9 ist dies Peter –, während die anderen durchwegs für die Tore sind. Im Roman bleibt davon nur eine winzige Spur übrig, wenn der Lehrer versichert, dass „der Fussball, den die beiden Mannschaften [am vergangenen Sonntag] boten, keineswegs hochklassig war. Ja, das Spiel war sogar ausgesprochen langweilig –“ (TS2/Horváth 1938a, S. 10). Wegen des Fußballspiels, während dem es regnete und kalt war, stirbt der junge W an einer Lungenentzündung. Der Fußball sorgt also für den ersten Toten des Romans. Dieser ist jedoch nur eine Art Vorzeichen, eine Präfiguration für noch schlimmere Ereignisse, nämlich für die Ermordung des N durch den T und für die abschließende Selbsttötung des T. Das Zentrum des Romans nimmt das Zeltlager der Jungen in der Provinz ein. Hier kommen wesentliche Entwicklungen in Gang. Die Idee eines Zeltlagers entwirft Horváth ebenfalls schon in der Vorarbeit Der Lenz ist da! In VA1/E2 wird das „Ferienlager“ erstmals erwähnt, in VA1/E13 notiert er „Ferienlager“ und „Osterferien“ (VA1/E13/BS 11 a [1], Bl. 11), in VA1/E14 ist zum ersten Mal vom „Zeltlager“ (VA1/E14/BS 11 a [1], Bl. 13) die Rede. Die zuletzt genannten Entwürfe gehen dem Prosa-Exposé VA1/TS1 unmittelbar voraus, wo das „Ferienlager“

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Konzeption

bzw. „Zeltlager“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 1, 2 und 5) schon einen fixen Bestandteil der erzählten Handlung bildet, die im Fall des Prosa-Exposés und der fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 zur Gänze „im Wald“ bzw. in angrenzenden Gegenden (der Waldlichtung, dem Schloss, der Wiese und dem einsamen Bauernhof) angesiedelt ist, wie dies der Strukturplan VA1/E13 vorsieht. Das „Zeltlager“ findet sich überdies in folgenden Entwürfen: VA1/E15, E18, E19, E21, E24, E29–E31, E32/BS 11 a [1], Bl. 29 („Lager“) und E35, es stellt also ein konstitutives Element der Vorarbeit 1 bis in die letzten Entwürfe hinein dar. Die Endfassung spielt demgegenüber sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, eine für Horváth typische Transposition der Handlung (vgl. WA 8 und WA 9), durch die immer Entwicklungen innerhalb des Geschehens und/oder der Figuren angeregt werden. Das Geschehen in der Stadt umgibt in Jugend ohne Gott in Form einer Rahmenkonstruktion dasjenige auf dem Land. Doch es ist das Land, auf dem die entscheidenden Ereignisse vorfallen: einerseits die Kriminalhandlung, die mit dem Raub eines „photographischen Apparat[s]“ (TS2/Horváth 1938a, S. 73) und dem Aufbrechen des Tagebuchs des Z (vgl. auch E2) durch den Lehrer beginnt, mit dem Mord an N ihren Höhepunkt erreicht und im Mordprozess ihr Nachspiel mit Selbstmord (T) erlebt; andererseits die Liebeshandlung zwischen Z und Eva, dem verwahrlosten Mädchen mit den „Diebsaugen“ (TS2/Horváth 1938a, S. 207), die durch ähnliche personale Besetzungen mit der Kriminalhandlung verbunden ist. Beide Handlungsstränge sind in der Vorarbeit Der Lenz ist da! schon vorgebildet. In dem unmittelbar vor dem Prosa-Exposé zu situierenden Entwurf VA1/E14 notiert Horváth erstmals, dass Peter „eine goldene Uhr“ (VA1/E14/BS 11 a [1], Bl. 15) hat und dass Kitty ihm diese stehlen wolle. Außerdem ist hier von einem „Zelt“ und von einer „Maschine“ die Rede, die das Interesse der jungen Diebe weckt, die hier noch Kobenzl, Schorsch und Nikolo heißen. Auch die Liebeshandlung zwischen Z und Eva wird in Vorarbeit 1 schon angedacht und zwar im selben Entwurf VA1/E14/BS 11 a [1], Bl. 15, der einen ganz entscheidenden Schritt in der Werkgenese des Dramas Der Lenz ist da! darstellt. Im Prosa-Exposé heißt es dazu: „Es bildet sich leise eine Beziehung zwischen Kitty und Peter.“ (VA1/TS1/BS 11 b, Bl. 3) und zwar vor allem deshalb, weil Kitty hört, dass Peter „auf dem Standpunkt steht, es käme [beim Fußballspiel; Anm.] nicht auf die Tore an“ (ebd.). Hannes, die Nachfolgerfigur von Kobenzl, ist „eifersüchtig“ (ebd.) auf Peter, worauf ihn Kitty „beruhigt“: „sie hätte entdeckt, dass Peter eine goldene Uhr habe und sie würde ihm nur deshalb schön tun, und hätte mit ihm nur deshalb für spät abend ein Rendez-vous ausgemacht, um ihm die Uhr stehlen zu können.“ (ebd.) „Der Akt schliesst mit einer melancholischen Liebesszene zwischen Kitty und Hannes.“ (ebd.) In der fragmentarischen Endfassung VA1/TS4/A4 sind ebenfalls mehrere Liebeshandlungen ausgeführt, einerseits diejenige zwischen der Schülerin Else und einem verheirateten Mann (vgl. VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 16), andererseits wird eine Verbindung zwischen Peter und Else angedeutet (VA1/TS4/A4/BS 11 c, Bl. 20f.; vgl. auch VA1/E32/BS 11 a [1], Bl. 29, wo Horváth zum 2. Bild notiert: „Peter – Mädchen vom Ferienheim / Peter = das Suchen nach der richtigen Frau. / = Enttäuschung“ und zum folgenden 3. Bild: „Peter – Kitty“). VA1/TS4/A4 bricht aber ab, bevor es zu einem Zusammentreffen zwischen Peter und Kitty kommt. Aus den vorhergehenden Entwürfen (v.a. aus VA1/E35) geht aber eindeutig hervor, dass eine solche Verbindung zwischen Kitty und Peter vorgesehen ist. Auch Verbindungen zwischen dem Lehrer Schmidt und der Lehrerin sowie zwischen anderen Jungen und Mädchen sind hier noch geplant (vgl. VA1/E35/BS 11 a [1], Bl. 33; vgl. auch

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Chronologisches Verzeichnis

E13/BS 11 a [1], Bl. 11, E14/BS 11 a [1], Bl. 17 und TS1/BS 11 b, Bl. 4). Eine solche Verbindung gibt es in der Endfassung nicht mehr. Die Mädchen auf dem Schloss erscheinen, wie erwähnt, als reine Kontrastfiguren und Statistinnen, die Lehrerin deklassiert sich in den Augen des Lehrers durch ihre seltsamen Anschauungen über weibliches Amazonentum (vgl. TS2/Horváth 1938a, S. 51) selbst, der Lehrer hat deshalb kein Interesse an den „Amazonen“ (ebd.), entdeckt aber in der nächtlichen Wachszene (Kapitel „Der Mann im Mond“, TS2/Horváth 1938a, S. 100–106) eine seltsame Zuneigung zu Eva, die bis zuletzt anhält und erst durch die Bemerkung des N, dass sie „Diebsaugen“ (TS2/Horváth 1938a, S. 207) habe, entzaubert wird.

Jugend ohne Gott. Roman (Endfassung, emendiert) Die emendierte Endfassung folgt dem Erstdruck des Romans im Herbst 1937 (Copyright 1938) im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange, der in Form eines Widmungsexemplars des Autors an seine Eltern im Nachlass Ödön von Horváth ÖLA 3 überliefert ist (vgl. den Kommentar zu K/TS2) und auch die Grundlage von K/TS2 darstellt. Die emendierte Endfassung wurde nach den zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929) normalisiert. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien am Ende dieses Bandes (vgl. S. 337f.). Die wahrscheinlich von Horváth bewusst gesetzten Rechtschreibfehler im Brief der Bäckermeistersgattin N sowie im Tagebuch des Z wurden in ihrer originalen Form belassen (vgl. Horváth 2009, S. 142). Im Inhaltsverzeichnis wurden die Seitenzahlen der vorliegenden Ausgabe eingetragen.

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Anhang

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Editionsprinzipien

Editionsprinzipien Die Wiener Ausgabe (WA) sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist eine historischkritische Edition. Sie umfasst alle abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Werke sowie alle verfügbaren Briefe und Lebensdokumente des Autors. Den Ausgangspunkt bilden die umfangreichen werkgenetischen Materialien aus dem Nachlassbestand des Autors im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (teilweise als Leihgabe der Wienbibliothek im Rathaus). Die einzelnen Bände der WA sind in Vorwort, Text- und Kommentarteil gegliedert. In ihrem Zusammenspiel machen diese Teile den Entstehungsprozess der Werke transparent und bieten die Möglichkeit eines schrittweisen Nachvollzugs bis in die Letztfassungen der Texte. Das Vorwort skizziert die Entstehungsgeschichte unter Miteinbeziehung der zeitgenössischen Rezeption. Der Textteil reiht die genetischen Materialien chronologisch, wobei die Edition in Auswahl und Textkonstitution auf Lesbarkeit zielt. Dem Lesetext ist ein kritisch-genetischer Apparat beigegeben. Dieser macht die Änderungsprozesse des Autors deutlich, auf denen die konstituierten Fassungen basieren, ferner verzeichnet er alle Eingriffe der Herausgeber. Die Endfassung des Werkes wird zusätzlich in emendierter Form dargestellt. Im Kommentarteil findet sich ein chronologisches Verzeichnis, das alle vorhandenen Textträger formal und inhaltlich beschreibt und Argumente für die Reihung der darauf befindlichen Entwürfe (E) und Textstufen (TS) sowie für die Konstitution der innerhalb der Textstufen vorliegenden Fassungen liefert. Simulationsgrafiken dienen zur Darstellung komplexer genetischer Vorgänge.

1 Textteil 1.1 Genetisches Material Das genetische Material wird in zwei unterschiedlichen Formen zur Darstellung gebracht: Entwürfe erscheinen in diplomatischer Transkription, Fassungen innerhalb von Textstufen werden linear konstituiert.

1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) Von genetischen Materialien, deren Topografie sich nicht in eine lineare Folge auflösen lässt, wird eine diplomatische Transkription geboten. Hierbei handelt es sich um sogenannte Entwürfe (E), in denen Horváth auf meist nur einem Blatt in Form von Strukturplänen u.ä. das grobe Konzept von Werken und Werkteilen oder knappe Textskizzen entwirft. Die diplomatische Transkription versteht sich als eine Orientierungshilfe zur Entzifferung des nebenstehend faksimilierten Originals und gibt dessen Erscheinungsbild nicht in allen Details, sondern nur insofern wieder, als dies der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre dient. Den verwendeten Schriftgrößen kommt dabei keine distinktive Funktion zu; sie dienen dazu, die räumlichen Verhältnisse des Originals annähernd wiederzugeben. Folgende Umsetzungen finden statt:

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Überschriebene Zeichen oder Wörter werden links neben den ersetzenden wiedergegeben, wobei der ursprüngliche Ausdruck gestrichen und der neue Ausdruck mittels zweier vertikaler Linien eingeklammert wird: tä|e|xt; text|text|. Unlesbare Wörter erscheinen als { }, gegebenenfalls mehrfach gesetzt; unsicher entzifferte Zeichen und Wörter als: te{x}t, {text}. Gestrichener Text in Zeilen erscheint als: text. Vertikale oder kreuzförmige Streichungen werden als solche dargestellt. Mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie gekennzeichneter Text wird als solcher wiedergegeben. Unterstreichungen erscheinen als: text, text. Deutlich von einem Wort abgesetzte Punkte werden entsprechend dargestellt: text . Eingerahmte oder in eckige Klammern gestellte Ziffern, Wörter und Textpassagen erscheinen als: [text], gegebenenfalls auch über mehrere Zeilen gestellt. Der vom Autor zur Strukturierung verwendete Stern (manchmal eingekreist und bis hin zu dicken schwarzen Punkten intensiviert) erscheint als: . Das vom Autor zur Strukturierung verwendete große X erscheint als: . Von Horváth zur Markierung verwendete An- und Durchstreichungen werden individuell angepasst wiedergegeben. Verweispfeile und Linien werden schematisch dargestellt, sofern sie Wörter und Textblöcke miteinander verbinden. Dienen solche Zeichen der Abgrenzung von Textteilen, werden sie nicht wiedergegeben. Liegen auf einem Blatt mehrere Entwürfe nebeneinander, werden diese ab dem zweiten Entwurf zur besseren Unterscheidung grau hinterlegt. Aktuell nicht relevanter Text (Entwürfe zu anderen Werken und Werkvorhaben) erscheint in grau 50 %: text. Die im Zuge der Berliner Bearbeitung von Horváths Nachlass partiell vorgenommene Transkription schwer lesbarer Wörter bzw. allfällige Kommentare direkt in den Originalen erscheinen kursiv und in grau 50 %: text.

1.1.2 Lineare Textkonstitutionen (Fassungen) Textausarbeitungen des Autors, die eine lineare Lektüre zulassen, werden (ohne Faksimileabdruck) konstituiert. Hierbei handelt es sich um Fassungen oft im Rahmen umfänglicher Textstufen (TS). Folgende Prinzipien kommen zur Anwendung: x

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Schichtwahl: Im Lesetext wird entweder die Grundschicht oder die in der jeweiligen Arbeitsphase gültige Korrekturschicht einer Textstufe ediert. Die Grundschicht wird im Allgemeinen dann gewählt, wenn es um die Präsentation frühester Schreibansätze geht; in eher seltenen Fällen liegen Typoskripte auch ohne handschriftliche Korrekturschichten vor. Ein genauer Ausweis der Schichtwahl (im Fall des Vorliegens komplexer Schichtungen differenziert nach unterschiedlichen Schreibwerkzeugen und Farben – z.B. schwarze Tinte, roter Buntstift) erfolgt im chronologischen Verzeichnis. Punktuelle Streichungen und Einfügungen, die aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, weil das Material im Laufe des Produktionsprozesses dorthin weitergewandert ist, werden im Lesetext nicht berücksichtigt. Besondere Auffälligkeiten werden gegebenenfalls im chronologischen Verzeichnis beschrieben.

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Editionsprinzipien

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Textausarbeitungen, die linear in eine Fassung nicht sinnvoll integriert werden können, aber offensichtlich aus der gegenwärtigen Bearbeitungsphase stammen, erscheinen im Lesetext eingerückt und grau hinterlegt. Deutlich gesetzte Leerzeilen werden in entsprechender Anzahl wiedergegeben.

Emendiert (und im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesen) werden offensichtliche Schreib- und Tippfehler des Autors sowie inkonsequente Ersetzungen oder offensichtlich falsche Setzungen von Figuren- oder Ortsnamen. Folgende Normierungen finden statt: Regie- und Szenenanweisungen erscheinen kursiv, Figurennamen in Kapitälchen (innerhalb von Regie- oder Szenenanweisungen nur dann, wenn sie vom Autor grafisch hervorgehoben wurden, ansonsten bleiben sie ohne Auszeichnung). Von Horváth hs. fallweise anstelle von (runden Klammern) gesetzte [eckige Klammern] werden als runde Klammern wiedergegeben. Autortext erscheint in Times New Roman 12 pt. Herausgebertext innerhalb des Autortextes wird unter Backslashes in Helvetica 9 pt. gesetzt; im Einzelnen umfassen diese Eintragungen den Abbruch von Textbearbeitungen ohne Anschluss an den folgenden Text bzw. am Ende von Texten durch den Eintrag: \Abbruch der Bearbeitung\ sowie den Verlust von Text (z.B. durch Abriss oder Blattverlust): \Textverlust\. Unsicher entzifferte Buchstaben bzw. unsicher entzifferte Wörter erscheinen als: te{x}t, {text}; unlesbare Wörter (gegebenenfalls mehrfach gesetzt) als: { }. Blattwechsel wird durch 얍 angezeigt, die Angabe des neuen Textträgers mit Signatur erfolgt in der Randspalte. Die Ansatzmarke: text kennzeichnet im Lesetext Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungsvorgängen des Autors oder Eingriffen der Herausgeber hervorgegangen sind; nachgewiesen wird beides im kritisch-genetischen Apparat. B

N

1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat Werden Fassungen in der Grundschicht ediert, verzeichnet der kritisch-genetische Apparat die Veränderungsprozesse nur in dieser Schicht (Sofortkorrekturen). Werden Fassungen in der Korrekturschicht ediert, verzeichnet er alle Änderungsprozesse im Übergang von der Grundschicht zur Korrekturschicht; Sofortkorrekturen in der Grundschicht werden hier nicht mehr verzeichnet, sondern als Ausgangspunkt gesetzt. Ferner weist der kritisch-genetische Apparat alle Eingriffe der Herausgeber nach (diese werden von Herausgeberkommentaren eingeleitet, wie z.B. korrigiert aus:, gestrichen:, gemeint ist:). Autortext erscheint in Times New Roman 10 pt., Herausgebertext in Helvetica 7 pt.

1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) Was die Gestalt der Endfassungen betrifft, werfen die bisherigen Leseausgaben Horváths zahlreiche Fragen auf. Um den Benutzern der Wiener Ausgabe einen einheitlich normierten Lesetext zu bieten, erscheinen die Endfassungen der Texte zusätzlich in emendierter Form. Die Basis der Emendation bieten die zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Gegenüber den (nicht immer konsequent gepflogenen) Eigentümlichkeiten von Horváths Schreibung ergeben sich Abweichungen vor allem in folgenden Punkten:

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Zusammengeschriebene Wörter und Wortgruppen wie „garnicht“, „garkein“, „nichtmehr“ werden getrennt. Doppel-s anstelle von ß wird berichtigt (mit Ausnahme des Doppel-s im Format Figurennamen, z.B. G ROSSMUTTER ). Die Interjektionen, bei Horváth oft: „A“ und „O“, werden auf „Ah“ und „Oh“ vereinheitlicht. Falschschreibung von Fremdwörtern wird korrigiert, sofern es sich nicht um stilistische Setzungen handelt. Werden bereits zu Horváths Lebzeiten gemäß zeitgenössischer Rechtschreibkonvention veraltete Fremdwortschreibungen verwendet (z.B. „Affaire“, „Couvert“), so wird die Schreibung Horváths beibehalten. Fehlende Accents werden nachgetragen, ebenso fehlende Punkte, auch in „usw.“ etc. Gedankenstriche, die in Typoskripten als -- realisiert sind, erscheinen als –. Die groß geschriebene Anrede „Du“, „Ihr“ etc. wird klein gesetzt, die Höflichkeitsform erscheint groß. Ebenfalls groß bleiben persönliche Anreden in Zitaten innerhalb von Figurenreden (z.B. in von Figuren vorgelesenen Briefen, Schildern etc.). Kleinschreibung am Beginn ganzer Sätze nach Doppelpunkten und Gedankenstrichen wird korrigiert. Kommasetzung, im Einzelnen: – Überzählige Kommata in als- und wie-Vergleichen werden getilgt. – Fehlende Kommata in vollständigen Hauptsätzen, die durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, werden ergänzt; ebenso in Relativsätzen und erweiterten Infinitiv- und Partizipialgruppen. – Nach Interjektionen wie „Ja“, „Nein“, „Na“, „Ah“, „Oh“, „Geh“ wird nur dann ein Komma gesetzt, wenn die Interjektionen betont sind und hervorgehoben werden sollen. Wenn sie in den Folgetext integriert sind, werden sie nicht durch Kommata getrennt, z.B. „Na und?“ Grammatikalische Fehler werden nur so weit korrigiert, als es sich dabei nicht um stilistische Setzungen handelt; alle dialektal geprägten Formen bleiben erhalten. Figurennamen erscheinen in Kapitälchen (auch in Regie- und Szenenanweisungen). Normierungen in Regieanweisungen: Bilden Regieanweisungen ganze Sätze (auch in Verbindung mit vorangegangenen Figurennamen), so wird abschließend ein Punkt gesetzt.

2 Kommentarteil 2.1 Chronologisches Verzeichnis Das chronologische Verzeichnis beschreibt alle zu einem Werk vorhandenen Textträger und sichert die Reihung der darauf befindlichen werkgenetischen Einheiten argumentativ ab. Textträger und Text werden getrennt sigliert: Die Materialsigle bezeichnet den Textträger und unterscheidet Handschrift (H), Typoskript (T) und Druck (D). Die Textsigle bezeichnet die auf dem Textträger befindliche werkgenetische Einheit und differenziert Entwürfe (E) und Textstufen (TS) mit teilweise mehreren Ansätzen (A).

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Die Beschreibung des Textträgers umfasst folgende Elemente: Signatur: Wiener Signatur (ÖLA bzw. IN) des Nachlassbestands und Berliner Signatur (BS), gegebenenfalls auch andere Angaben zu Bezeichnung und Herkunft des Textträgers Materielle Beschreibung: Umfang, Papierart samt Angaben über spezielle Erscheinung, Größe in Millimeter, Angabe über Teilung, Faltung, Reißung o.ä., Wasserzeichen, Schreibmaterial, Paginierung vom Autor samt Seitenzahlen und Blattnachweisen, Eintragungen fremder Hand Der Beschreibung des Textträgers folgt eine Auflistung und formale Beschreibung der auf dem jeweiligen Textträger befindlichen Entwürfe, Textstufen und Ansätze. Umfasst ein Textträger mehrere werkgenetische Einheiten und ist eine dieser Einheiten im Entstehungsprozess später einzuordnen, wird sie erst dort verzeichnet und kommentiert. Die Beschreibung des Textträgers wird an der späteren Stelle wiederholt. Auch das Weiterwandern von Textträgern (durch Übernahme von Blättern in spätere Fassungen) wird vermerkt. Sofern die Entwürfe und Fassungen veröffentlicht sind, wird deren Erstdruck in einer abschließenden Zeile verzeichnet. Das konkrete Erscheinungsbild der Texte in den Erstdrucken weicht jedoch von den in der Wiener Ausgabe gebotenen Neueditionen oftmals gravierend ab. Der nachfolgende werkgenetische Einzelkommentar beschreibt die Entwürfe, Textstufen und Ansätze auch inhaltlich. Argumente für deren Reihung (manchmal in Form von gesetzten Wahrscheinlichkeiten) werden genannt und Beziehungen zu anderen Einheiten im werkgenetischen Material hergestellt; gegebenenfalls wird auch auf den Zusammenhang mit anderen Werken des Autors verwiesen. Folgende werkgenetische Begriffe finden Verwendung: Konzeption Als Konzeption (K) gilt eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei Teile/sieben Bilder/etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt. Vorarbeit Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten (VA) zugeordnet. Im Falle des Vorliegens mehrerer Vorarbeiten werden diese nach genetischen Zusammenhängen gruppiert und/oder in eine Folge gebracht. Entwurf In einem Entwurf (E) legt Horváth die Gesamtstruktur eines Werkes oder eines einzelnen Strukturelements (Bild, Kapitel, Szene, …) fest. Entwürfe sind fast ohne Ausnahme handschriftlich ausgeführt und zumeist auf ein einziges Blatt be-

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schränkt. Zur näheren Beschreibung stehen (spezifisch für den Dramentext) folgende Begriffe zur Verfügung: x

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Strukturplan: Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z.B. Gliederung in Akte oder Teile, Szenen, Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren). Konfigurationsplan: Skizzierung einzelner Szenen (= Auftritte). Skizze: Punktuell bzw. schematisch ausgearbeitete Textsequenz. Der Begriff wird auch für grafische Entwürfe (z.B. zum Bühnenbild) verwendet. Darüber hinaus können Entwürfe auch lose Notizen zu Motiven, Figuren, Schauplätzen, Dialogpassagen oder Handlungselementen enthalten.

Textstufe Eine Textstufe (TS) bezeichnet eine klar abgrenzbare Arbeitseinheit im Produktionsprozess, die intentional vom Anfang bis zum Ende einer isolierten Werkeinheit (Bilderfolge, Bild, Akt, Kapitel, Unterkapitel, …) reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes dient. Materiell umfasst der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder Übernahme aus einer frühen Arbeitsphase zur Zusammenstellung aktueller Fassungen verwendet hat. Ansatz Ein neuer Ansatz (A) liegt dann vor, wenn der Autor innerhalb einer Textstufe eine materielle Ersetzung von Textträgern oder Teilen davon (Blattbeschneidungen, Austausch von Blättern) vornimmt. Innerhalb einer Textstufe bilden die einander folgenden Ansätze eine genetische Reihe; textlich repräsentiert sich in ihnen in der jeweils gültigen Textschicht die jeweils aktuelle Fassung des Textes. Der letzte Ansatz einer Textstufe, d.h. der letztmalige Austausch von Textträgern, bildet die materielle Grundlage der letzten Fassung innerhalb der jeweiligen Textstufe. Die Abfolge der Ansätze innerhalb einer Textstufe wird in komplizierten Fällen in Simulationsgrafiken dargestellt. Fassung Der Begriff der Textstufe ist ein dynamischer; er bezeichnet die Gesamtheit des in einer Arbeitsphase vorliegenden genetischen Materials, das in Grund- und Korrekturschicht und in verschiedene Ansätze differenziert sein kann. Der Begriff der Fassung bezeichnet im Gegensatz dazu die konkrete Realisation eines singulären Textzustands (z.B. K1/TS7/A5 – Korrekturschicht). Die Fassungen, die im Textteil konstituiert werden, stellen eine Auswahl innerhalb einer Vielzahl von Möglichkeiten dar. Der Produktionsprozess wird von ihnen an möglichst aussagekräftig gesetzten Punkten unterbrochen und ein jeweils aktuelles Textstadium linear fixiert. Endfassung Der Begriff Endfassung bezeichnet eine Fassung, in der sich aus Autorensicht eine endgültige Textgestalt repräsentiert. Durch spätere Wiederaufnahme der Arbeit können innerhalb einer Werkgenese mehrere Endfassungen (meist auch als Abschluss einzelner Konzeptionen) vorliegen.

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Editionsprinzipien

Stammbuch Mit dem Begriff Stammbuch bezeichneten Horváths Theaterverlage in kleiner Auflage hergestellte Drucke, die nicht für den allgemeinen Verkauf, sondern für den Gebrauch an Theatern bestimmt waren. Oft tragen solche Stammbücher den Aufdruck: „Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt“ sowie den meist handschriftlich notierten Vermerk „ST“ (für „Stammbuch“). Mit diesen Anmerkungen wurde der für die jeweilige Aufführung autorisierte Text gekennzeichnet. Vorarbeiten und Konzeptionen, Entwürfe, Textstufen und Ansätze werden im chronologischen Verzeichnis über Siglen gereiht, die Reihung von TS und E erfolgt innerhalb der jeweiligen Kategorie, sodass sich als genetische Abfolge z.B. ergeben kann: K2/E1, K2/TS1, K2/TS2/A1, K2/TS2/A2, K2/E2, K2/E3, K2/TS3 usw.

2.2 Simulationsgrafiken In den Simulationsgrafiken wird die Abfolge von Ansätzen innerhalb einer Textstufe dargestellt und zwar in der Art, dass die Textträger mit syntagmatisch zusammengehörendem Text untereinander stehen und die ersetzenden Textträger rechts von den ersetzten positioniert werden. Ausgangspunkt der Darstellung ist der früheste Ansatz der jeweiligen Textstufe. Die Textträger werden an allen rekonstruierbaren Positionen abgebildet und damit die materiellen Vorgänge der Textentstehung und -ersetzung simuliert. Die ungefähre Form des Textträgers ist in der Grafik durch einen Rahmen wiedergegeben. Die Paginierung Horváths – so vorhanden – und die Berliner Blattnummer sind eingetragen. An seiner ersten Position wird der Textträger mit durchgezogenen Rahmenlinien dargestellt, an allen späteren mit strichlierten, wobei der Textträger so lange eingeblendet bleibt, wie er Gültigkeit hat. Die doppelt-strichpunktierten Linien kennzeichnen Schnitte, die punktierten Linien „Klebenähte“, die nach dem Ankleben von neuem Text auf den Originalen erkennbar sind. Zur Illustration der Funktionsweise dient die nachstehend abgebildete Simulationsgrafik zu einer Textstufe der Hofrat-Konzeption aus Geschichten aus dem Wiener Wald. Diese Grafik, die ausschließlich Material der Mappe BS 37 c darstellt, zeigt einen relativ gleichmäßig verlaufenden Produktionsprozess: Horváth beginnt (links oben eingetragen) auf Bl. 14 mit der Ausarbeitung des Bildes, bricht jedoch mitten auf Bl. 15a ab, setzt auf Bl. 15b mit dem Text neu an und kommt bis Bl. 17. Er korrigiert den Text dieser Blätter handschriftlich und macht sich am Fuß von Bl. 17 Notizen zum weiteren Textverlauf. Auf Bl. 18 und 19 schreibt er den Text von Bl. 17 ins Reine und setzt ihn dann auf Bl. 19 neu fort, bricht jedoch wieder ab, noch bevor er das Blatt vollgeschrieben hat. Bl. 19 wird dann durch Bl. 20 ersetzt, Bl. 20 gemeinsam mit Bl. 21 durch Bl. 22–24. In dieser Art schreibt sich Horváth in immer neuen Ansätzen bis ans Ende des Bildes durch. Bei Bl. 32 wendet der Autor ein Verfahren an, das ihm kürzere Rückschritte ermöglicht: Er schneidet Bl. 32a von Bl. 32 ab und klebt ein Stück mit neuem Text an. Die anschließenden Blätter 33 bis 37 sind in einem Zug geschrieben.

341

Editionsprinzipien

342

Siglen und Abkürzungen

Siglen und Abkürzungen Schriftarten (allgemein) Times New Roman

Autortext

Helvetica

Herausgebertext, im Autortext in Backslashes

Diplomatische Transkriptionen (Entwürfe) text, text

getilgtes Zeichen, getilgter Text. Tilgungen über mehrere Zeilen (meist durch Kreuz) werden grafisch entsprechend dargestellt

tä|e|xt

überschriebenes und ersetztes Zeichen

text |text|

überschriebener und ersetzter Text

text, text

unterstrichener Text

text

unterwellter Text; mit Fragezeichen überschriebener Text wird grafisch entsprechend dargestellt

[text]

eingerahmter oder in eckige Klammern gestellter Text oder Ziffer; falls über mehrere Zeilen reichend, grafisch entsprechend dargestellt Strukturierungszeichen: Stern, Punkt Strukturierungszeichen: großes

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggf. mehrfach gesetzt

Times New Roman, 50 % grau

Eintragung von fremder Hand, Berliner Bearbeitung

Times New Roman, 50 % grau

aktuell nicht relevanter Text grau hinterlegte Fläche zur Abgrenzung verschiedener Ent-

\E1\

würfe

Lineare Konstitutionen (Fassungen) textN, B N

Ansatzmarke; kennzeichnet Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungen des Autors hervorgegangen sind, sowie Eingriffe der Herausgeber



Blattwechsel; Angabe des Textträgers in der Randspalte

B

eingerückt, grau hinterlegt; Textzusätze des Autors in der aktuellen Fassung, die sich in den Lesetext linear nicht integrieren lassen

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggf. mehrfach gesetzt

\Abbruch der Bearbeitung\ \Textverlust\ \Textverlust durch Blatteinriss\

Herausgebertext im Autortext

343

Siglen und Abkürzungen

Kritisch-genetischer Apparat text\e/

nachträglich eingefügtes Zeichen

\text/

nachträglich eingefügter Text

text[e]

getilgtes Zeichen

[text]

getilgter Text

t[ä]|e|xt

getilgtes Zeichen in Verbindung mit Ersetzung

[text] |text|

getilgter Text in Verbindung mit Ersetzung

[text]|text|

überschriebener Text

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggf. mehrfach gesetzt

[text]

rückgängig gemachte Tilgung

text

mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie versehener Text

!text"!text"

durch Verweisungszeichen des Autors umgestellter und gegenseitig ausgetauschter Text

text f text [text]f x

Text von bis Textverschiebung

x

neuer Textanschluss

text2 text1

geänderte Wort- oder Satzfolge

(1), (2) …

Variantenfolge

gestrichen: gemeint ist: verweist auf K2/TS3:

irr rorr rp

korrigiert aus:

Herausgeberkommentare in Helvetica 9 pt.

Signaturen ÖLA

(vormals: Österreichisches) Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

BS

Berliner Signatur

ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 5

Signatur Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

344

Siglen und Abkürzungen

Abkürzungen K H T TS A E Bl. Pag. hs. masch. fragm. r v o. BS

Konzeption Handschrift Typoskript Textstufe Ansatz Entwurf Blatt Pagina (vom Autor eingefügt) handschriftlich maschinenschriftlich fragmentarisch recto (Vorderseite) verso (Rückseite) ohne Berliner Signatur

345

Siglen und Abkürzungen

346

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis GW GWA GA

Horváth 1938a Horváth 1938b Horváth 1948 Horváth 1951 Horváth 1953 Horváth 1998a Horváth 1998b Horváth 2009a Horváth 2009b Horváth 2010 KW

KW 15 KW 16 WA

WA 4

WA 6

WA 8

WA 9

WA 10

Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Dieter Hildebrandt/ Walter Huder/Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970–71. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke/ Dieter Hildebrandt. 2., verbesserte Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. (= Gedenkausgabe anlässlich des 50. Todestages, Abdruck von Texten und genetischem Material aus den Gesammelten Werken und Bibliothek Suhrkamp-Bänden, der 5. Band mit Skizzen, Fragmenten und einem Gesamtkommentar ist nicht erschienen) Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Roman. Amsterdam: Allert de Lange 1938. Ödön von Horváth: Ein Kind unserer Zeit. Roman. Amsterdam: Allert de Lange 1938. Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Roman. Wien: Bergland 1948. Ödön von Horváth: Ein Kind unserer Zeit. Roman. Wien: Bergland 1951. Ödön von Horváth: Zeitalter der Fische (Jugend ohne Gott. Ein Kind unserer Zeit) 2 Romane in 1 Band. Wien: Bergland 1953. Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Erläuterungen und Dokumente. Hg. v. Norbert Keufgens. Stuttgart: Reclam 1998. Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Roman. Mit einem Kommentar von Elisabeth Tworek. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Hg. v. Klaus Kastberger und Evelyne PoltHeinzl. Stuttgart: Reclam 2009. Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hg. v. Klaus Kastberger und Nicole Streitler. Stuttgart: Reclam 2009. Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Erläuterungen und Dokumente. Hg. v. Klaus Kastberger und Evelyne Polt-Heinzl. Stuttgart: Reclam 2010. Ödön von Horváth: Kommentierte Werkausgabe in 14 Einzelbänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–88. Ödön von Horváth: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Ödön von Horváth: Ein Fräulein wird verkauft und andere Stücke aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Hg. v. Klaus Kastberger. Berlin: de Gruyter 2009ff. Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2009. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 4) Ödön von Horváth: Eine Unbekannte aus der Seine. Hin und her. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2012. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6) Ödön von Horváth: Figaro läßt sich scheiden. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Andreas Ehrenreich und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 8) Ödön von Horváth: Don Juan kommt aus dem Krieg. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 9) Ödön von Horváth: Der jüngste Tag. Ein Dorf ohne Männer. Hg. v. Nicole Streitler und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 10)

347

Literaturverzeichnis

WA 14

Ödön von Horváth: Der ewige Spießer. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 14 [2 Teilbände])

Bance, Alan: The overcoming of the collective: „Jugend ohne Gott“ as drama. In: Sprachkunst, XIX. Jg./1988, 2. Halbband, S. 137–147. Baumann, Peter: Ödön von Horváth: „Jugend ohne Gott“ – Autor mit Gott? Bern: Peter Lang 2003. Birbaumer, Ulf: Trotz alledem: die Liebe höret nimmer auf. Motivparallelen in Horváths „Der Lenz ist da!“ und „Jugend ohne Gott“. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 116–128. Bossinade, Johanna: „Verloren, was ich niemals besessen hab“. Ödön von Horváths Exilromane. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 74–97. Brod, Max: Das Leben unter Tyrannen. In: Prager Tagblatt, 11. 12. 1937. Csokor, Franz Theodor: Ein Buch von Morgen. In: National-Zeitung, Basel, 28. 11. 1937. D-d.: „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horvath. In: Neue Zürcher Zeitung, 12. 12. 1937. Dahn, Felix: Gedichte. Illustriert von Ferdinand Leeke und Hans Grobet. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1912. Eckhart, Juliane: „Jugend ohne Gott“ im Literaturunterricht. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 198–221. Heil, Stefan: Die Rede von Gott im Werk Ödön von Horváths. Ostfildern: Schwabenverlag 1999. Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hg. von Ursula und Volker Michels. Dritter Band 1936–1948. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Horváth, Oedön von: Der junge Lehrer. In: Das Neue Tage-Buch, Paris/Amsterdam, 5. Jg, H. 42, 16. 10. 1937, S. 1003f. Horváth, Ödön von: Ein Knabe stirbt. In: Prager Tagblatt, 2. 11. 1937. Humm, Rudolf Jakob: Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. In: Maß und Wert, 1. Jg., Heft 4, März/April 1938, S. 648–650. Kaiser, Wolf: „Jugend ohne Gott“ – ein antifaschistischer Roman? In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 48–68. Krischke, Traugott (Hg.): Materialien zu Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. Krischke, Traugott/Hans F. Prokop: Ödön von Horváth: Leben und Werk in Daten und Bildern. Frankfurt am Main: Insel 1977. Krischke, Traugott (Hg.): Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Krischke, Traugott (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Krischke, Traugott: Horváth-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. Krischke, Traugott: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit. Berlin: Ullstein 1998. Mann, Thomas: Briefe 1937–1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt am Main: S. Fischer 1963. Mann, Thomas: Tagebücher 1937–1939. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main: S. Fischer 1980 Müller-Funk, Wolfgang: Faschismus und freier Wille. Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ zwischen Zeitbilanz und Theodizee. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 157–179. Schröder, Jürgen: Das Spätwerk Ödön von Horváths. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 125–155. Stephan, Alexander: Exil-Verlage. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Jugend ohne Gott“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 27–47.

348

Literaturverzeichnis

Inhalt (detailliert) Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Vorarbeit 1: Der Lenz ist da! . . . . . . . . . . . . Figurenliste (VA1/E1) . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan, Figurenliste (VA1/E2–E3) . . . . . Strukturplan in vier Bildern (VA1/E4) . . . . . . Strukturpläne (VA1/E5–E8) . . . . . . . . . . . Figurenliste, Strukturplan, Notiz (VA1/E9–E11) . Strukturplan in drei Bilder (VA1/E12) . . . . . . Strukturplan in drei Akten (VA1/E13) . . . . . . Strukturplan in vier Akten (VA1/E14) . . . . . . Fassung (VA1/TS1). . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Bildern (VA1/E15) . . . . Strukturplan, Konfigurationsplan (VA1/E16–E17) Strukturpläne, Figurenliste (VA1/E18–E20) . . . . Strukturpläne (VA1/E21–E23). . . . . . . . . . . Strukturpläne, Figurenliste, Notiz (VA1/E24–E27) Fragmentarische Fassung (VA1/TS2) . . . . . . . Strukturplan in zwei Bildern (VA1/E28) . . . . . Strukturpläne (VA1/E29–E31). . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Bildern (VA1/E32) . . . . Notizen, Konfigurationspläne (VA1/E33–E34). . . Fragmentarische Fassung (VA1/TS3) . . . . . . . Strukturplan in sieben Bildern (VA1/E35) . . . . Fragmentarische Endfassung (VA1/TS4/A4) . . .

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25 26 28 30 40 44 46 48 52 68 72 74 76 78 80 83 84 86 88 92 95 96 100

Vorarbeit 2: Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit. Fragmentarische Fassung (VA2/TS1) . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS2/A1) . . . . . . . . . . Fassung (VA2/TS2/A2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS2/A3) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (VA2/TS2/A4) . . . . . . . . . .

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115 117 118 121 122 123

Konzeption: Jugend ohne Gott . . . . . . . . . . . Notizen, Strukturplan (K/E1–E2) . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K/TS1) . . . . . . . . Jugend ohne Gott. Roman – Endfassung (K/TS2)

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125 126 128 130

Jugend ohne Gott. Roman (Endfassung, emendiert). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Chronologisches Verzeichnis . Vorarbeit 1 . . . . . . . . Vorarbeit 2 . . . . . . . . Konzeption . . . . . . . . Endfassung, emendiert . .

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293 293 319 324 332

Inhalt (detailliert)

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Textteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Genetisches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) 1.1.2 Lineare Textkonstitution (Fassungen) . . . . . . . . . 1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat . . . . . . . . . . . . . 1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) . . . . . . . 2 Kommentarteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Simulationsgrafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

335 335 335 335 336 337 337 338 338 341

Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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350

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