Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 14 Der ewige Spießer 9783110252866, 9783110238037

The novel The Eternal Philistine (1930) established Horváth’s reputation as a sharp-witted critic of his time. This hist

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German Pages 947 [944] Year 2010

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Lesetext
Konzeption 1: Roman einer Kellnerin
Konzeption 2: Sechsunddreißig Stunden, später: Herr Reithofer wird selbstlos
Begleitende Einzeltexte
Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München
Das Märchen vom Fräulein Pollinger
Das Fräulein wird bekehrt
Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer
Konzeption 4: Der ewige Spießer
Herr Reithofer wird selbstlos (Endfassung, emendiert)
Der ewige Spießer (Endfassung, emendiert)
Kommentar
Chronologisches Verzeichnis
Übersichtsgrafiken
Übersicht Materialwanderung
Übersicht Materialschichten
Anhang
Editionsprinzipien
Siglen und Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Inhalt (detailliert)
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Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 14 Der ewige Spießer
 9783110252866, 9783110238037

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Ödön von Horváth Wiener Ausgabe

I

Ödön von Horváth

Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Historisch-kritische Edition Am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek herausgegeben von Klaus Kastberger

Band 14.1

De Gruyter II

Ödön von Horváth

Der ewige Spießer

Herausgegeben von Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar

Band 1

De Gruyter III

Erstellt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) und die Kulturabteilung der Stadt Wien. Dank an die Österreichische Nationalbibliothek (Wien) und die Wienbibliothek im Rathaus für die Überlassung von Reprorechten an den Faksimiles.

ISBN 978-3-11-023803-7 e-ISBN 978-3-11-025286-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck: Mercedes-Druck, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Stein+Lehmann GmbH, Berlin ÜGedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

IV

Inhalt Band 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konzeption 1: Roman einer Kellnerin . . . . . . . . . . . . Konzeption 2: Sechsunddreißig Stunden, später: Herr Reithofer wird selbstlos . . . . . . . . . . . . Begleitende Einzeltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München Das Märchen vom Fräulein Pollinger . . . . . . . . . . . . Das Fräulein wird bekehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer . . . . . . . .

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Konzeption 4: Der ewige Spießer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herr Reithofer wird selbstlos (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . Der ewige Spießer (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

853

Band 2

Chronologisches Verzeichnis. . . Übersichtsgrafiken. . . . . . . . Übersicht Materialwanderung . Übersicht Materialschichten .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editionsprinzipien . . . . Siglen und Abkürzungen Literaturverzeichnis . . . Inhalt (detailliert). . . .

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VI

Vorwort

Vorwort Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen Dauer der Schreibarbeiten an der Spießer-Prosa: Erste Arbeiten an Roman einer Kellnerin Ende 1927/Anfang 1928; Kernarbeitszeit an Sechsunddreißig Stunden (späterer Titel: Herr Reithofer wird selbstlos) Herbst 1928 bis Frühjahr 1929; Annahme des Romans durch den Ullstein-Verlag am 26. April 1929. Kernarbeitszeit an dem Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer September 1929 bis Anfang 1930; Kernarbeitszeit an dem die beiden letztgenannten Projekte fusionierenden Roman Der ewige Spießer Frühjahr/ Sommer 1930, Aufhebung des Vertrags bezüglich Sechsunddreißig Stunden und Zusage zur Annahme von Der ewige Spießer durch den Ullstein-Verlag am 14. April 1930. Umfang des genetischen Materials: mehr als 800 Blatt an Entwürfen und Fassungen, unterteilt in vier Konzeptionen. Erstdruck des Romans Der ewige Spießer im Oktober 1930 in dem zu Ullstein gehörigen Propyläen-Verlag.

Datierung und Druck Die Publikation von Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen im Oktober 1930 markiert das Ende der Schreibarbeiten, die unter dem Begriff der „SpießerProsa“ zusammengefasst werden können. Schon 1927/28 hatte sich Ödön von Horváth mit einem nicht sehr weit ausgeführten Romanprojekt (Konzeption 1: Roman einer Kellnerin) befasst, ehe er im Spätsommer 1928 am Roman Sechsunddreißig Stunden (später: Herr Reithofer wird selbstlos) zu schreiben begann. Obwohl mit dem Datum vom 26. April 1929 ein Vertrag über die Publikation dieses Romans in dem zu Ullstein gehörenden Propyläen-Verlag und zu diesem Zeitpunkt vermutlich auch ein vollständiges Manuskript vorlag, kam der Druck nicht zustande. Auch das nachfolgende Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer, dessen Konzept Horváth zu einem Großteil in einem Notizbuch entwickelte, das er auf seiner Reise zur Weltausstellung nach Barcelona im September 1929 mitführte, wurde nicht eigenständig publiziert, obwohl der Autor auch hier ursprünglich eine Buchpublikation vorgesehen hatte. Gemeinsam mit Sechsunddreißig Stunden arbeitete er den Text ab März 1930 in modifizierter Form in den Roman Der ewige Spießer ein. Somit erstrecken sich die Schreibarbeiten an der Spießer-Prosa von Ende 1927 bis ins Jahr 1930. Horváth war zu dieser Zeit durch die Aufführungen seiner Theaterstücke Die Bergbahn (UA: 4. Januar 1929) und Sladek (UA: 14. Oktober 1929) als Dramenautor in Deutschland bekannt und hatte sich durch die Veröffentlichung von Kurzprosatexten in Zeitungen und Zeitschriften wie dem Berliner Tageblatt, dem Simplicissimus u.a. einen Namen gemacht.

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Vorwort

Der auf Vorüberlegungen zu dem nicht vollendeten Projekt Roman einer Kellnerin basierende Text Sechsunddreißig Stunden ist Horváths erster abgeschlossener Roman. Die Handlung spielt, wie es im Text heißt, „Ende August 1928“ (K2/TS1/BS 5 a [4], Bl. 2), wobei die Geschichte an einem Dienstagabend beginnt und nach Ablauf von exakt sechsunddreißig Stunden am übernächsten Morgen endet. Gegen Schluss des Romans wird die Grundsteinlegung des Deutschen Museums in München „in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg“ (K2/TS8/BS 5 b, Bl. 138) erwähnt. Dieser Datierungshinweis bezieht sich auf den Bibliotheksbau des Museums, dessen Grundsteinlegung am 4. September 1928 stattgefunden hat. Am 4. Januar 1929 druckte das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung einen „Roman-Anfang von Oedön von Horváth“,1 wobei es sich um das erste Kapitel von Sechsunddreißig Stunden handelt. Wenige Tage später, am 11. Januar des gleichen Jahres, unterzeichnete der Autor einen Vertrag mit dem Ullstein-Verlag, der ihm, ohne ein einzelnes Werk namentlich zu nennen, monatliche Pränumerationszahlungen zusicherte und ihn verpflichtete, „seine gesamte schriftstellerische Produktion an dramatischen, erzählenden und lyrischen Werken während der Zeit bis 15. Jänner 1930 dem Verlag Ullstein zuerst einzureichen“.2 Aus einem Brief Horváths an seine Freundin Lotte Fahr vom 15. Januar 1929 geht hervor, dass sich diese Regelung unter anderem auf den Roman Sechsunddreißig Stunden bezog: „Der Roman wird im Propyläen-Verlag erscheinen. Die haben mehr gezahlt als Fischer, der wollte ihn auch haben. Kapitalist bleibt Kapitalist, warum soll ich ihnen was schenken?“3 Am 26. April 1929 bestätigte der Ullstein-Verlag Horváth in einem Schreiben „die mit Ihnen getroffene Abrede, wonach wir Ihren Roman ‚36 Stunden‘ in unsern Verlag nehmen. Wir erwerben also die Vertragsrechte zu den im Vertrag [vom 11. Januar 1929, Anm.] niedergelegten Bedingungen. Der Roman wird im Propyläen-Verlag erscheinen.“4 In einem kurzen, undatierten Brief an seinen Freund P. A. Otte, Redakteur des Berliner Tageblatts, bezieht sich Horváth auf ein druckfertiges Manuskript: „[I]ch entdecke soeben, dass ich Ihnen gestern ein nicht ganz durchkorrigiertes Exemplar übergab – verzeihen Sie mir! Beiliegend das richtige!“5 Wenig später, am 23. April 1929 teilte er Otte schriftlich mit: „[S]eien Sie so gut, den Titel meines Romans zu ändern. Setzen Sie bitte […] statt ‚36 Stunden‘ – ‚Herr Reithofer wird selbstlos‘. Das soll nun der endgültige Titel sein.“6 Angesichts dieses Schreibens überrascht es ein wenig, dass der Ullstein-Verlag den Roman noch unter dem alten Titel angenommen hat, obgleich Horváth drei Tage zuvor den Berliner Redakteur über die Titeländerung informiert hat. Ein gleichzeitiges Schreiben an den Ullstein-Verlag hätte sicher noch Berücksichtigung finden können. 1

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Oedön von Horváth: Roman-Anfang. In: Das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, 4. Januar 1929. Vertrag zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Ullstein Aktiengesellschaft, Berlin, 11. Januar 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags, Berlin, ohne Signatur. Brief von Ödön von Horváth an Lotte Fahr, Berlin, 15. Januar 1929, Original im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Signatur ÖLA 84/97 – Schachtel 57. Vertrag zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Ullstein Aktiengesellschaft, Berlin, 26. April 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags, Berlin, ohne Signatur. Brief von Ödön von Horváth an P. A. Otte, o. Ort, o. Datum. In: Katalog der Berliner Autographenhandlung J. A. Stargardt, 22./23. März 1983, Los Nr. 192. Brief von Ödön von Horváth an P. A. Otte, Berlin, 23. April 1929. In: Horváth-Blätter, Heft 1, 1983, S. 108.

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Vorwort

Als eigenständiges Romanprojekt findet Herr Reithofer wird selbstlos noch zweimal Erwähnung: Im Herbst 1929 ist Horváth neben Autoren wie Joseph Roth, Erich Kästner und Marieluise Fleißer mit dem Text Ein Fräulein wird bekehrt in Hermann Kestens Anthologie 24 neue deutsche Erzähler vertreten. Die „Bibliographische Notiz“ am Ende des Bandes führt unter seinem Namen das Werk „‚Herr Reithofer wird selbstlos.‘/Roman. Propyläen-Verlag, Berlin“7 an. Auch in der Besprechung einer Lesung, die der Autor am 19. März 1930 in München hielt, ist davon die Rede, dass Horváth hier „zwei Kapitel aus seinem demnächst erscheinenden Roman ‚Herr Reithofer wird selbstlos‘“8 zum Besten gab. Wenig später wurde der Plan einer eigenständigen Publikation aufgegeben.9 Um die weitere Entwicklung der Spießer-Prosa zu verstehen, muss man in der Chronologie einige Monate zurückgehen: Ende September 1929 reiste Horváth zur Weltausstellung nach Barcelona. Anhand diverser Postkarten und Briefe lässt sich belegen, dass er sich am 22. September 1929 in der katalanischen Hauptstadt aufhielt und zwei Tage später über Marseille nach Deutschland zurückreisen wollte.10 Noch während seiner Spanienreise hielt Horváth in einem Notizbuch erste Überlegungen zu dem Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer fest, das um eine Reise nach Barcelona kreist. Die Schreibarbeiten an dem Roman haben den Autor die nächsten Monate bis in das Jahr 1930 hinein beschäftigt. Wie im Fall des Romans Sechsunddreißig Stunden, den Horváth zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem Titel Herr Reithofer wird selbstlos führte, gab der Autor auch den Plan einer eigenständigen Publikation des Kobler-Romans auf. Dokumentiert ist diese konzeptionelle Neuausrichtung in dem Notizbuch Nummer 3, das Horváth von März bis April 193011 verwendete und in das er zahlreiche Werkzusammenstellungen

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Hermann Kesten: 24 neue deutsche Erzähler. Berlin: Gustav Kiepenheuer 1929, S. 419. [Wilhelm Lukas] K[ristl]: Drei Dichter lesen. In: Münchner Post, 24. März 1930. Unter dem von Traugott Krischke gesetzten Titel Die Geschichte vom Fräulein Pollinger erschien der Roman erstmals in der vierbändigen Werkausgabe von 1970/71 als eine Variante zum zweiten und dritten Teil des Ewigen Spießer (vgl. GW IV, S. 478–577). In dem Band Ödön von Horváth: Ein Lesebuch (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976) konstituierte Krischke den Text in leicht veränderter Form unter dem Titel Fräulein Pollinger; in der zweiten Auflage des Lesebuchs (1981) wurde der Titel des ansonsten textident publizierten Romans zu Sechsunddreißig Stunden (Die Geschichte vom Fräulein Pollinger) modifiziert. Zwischenzeitlich war der Text in der Bibliothek Suhrkamp unter dem Titel Sechsunddreißig Stunden auch eigenständig publiziert worden (Ödön von Horváth: Sechsunddreißig Stunden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979). In die Kommentierte Werkausgabe (KW 12, 9–125) übernahm ihn Krischke in dieser Form. Am 22. September 1929 schickt Horváth Katharina Leitner eine Ansichtskarte (Motiv einer Stierkampfarena) aus Barcelona. „Hab grad an Stierkampf gesehn. Abscheulich. Eckelhaft. Ich fahr auch in 2 Tag wieder nach Marseille. Nach Frankreich.“ Postkarte von Ödön von Horváth an Katharina Leitner, Barcelona, 22. September 1929, abgedruckt in: Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos/Elisabeth Tworek: Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg, Wien, Frankfurt am Main: Residenz 2001, S. 76. Diese Datierung basiert auf den dortigen Eintragungen: Horváth eröffnet das Notizbuch (es trägt im Nachlass die Nr. 3) mit dem Entwurf einer Entgegnung auf einen Artikel im „‚Murnauer Tagblatt‘ Nu 60 vom 13. März 30“ (ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 1). Im gleichen Notizbuch (auf ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 8, 9) finden sich Aufzeichnungen zu dem Text Brief aus Hinterhornbach, der am 30. März 1930 im Berliner Tageblatt erschien. Auf ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 21, 22 reagiert Horváth auf eine Rezension von Heinrich Mann in der Literarischen Welt vom 4. April 1930.

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Vorwort

mit verschiedenen Titelvarianten (u.a. auch zu dem zeitgleich entstandenen Stück Ein Wochenendspiel und zu dem Hörspiel Stunde der Liebe 1930) eingetragen hat. Mit den beiden Werktiteln Herr Reithofer wird selbstlos und Herr Kobler wird Paneuropäer sind in dem Notizbuch zunächst noch zwei eigenständige Romane gemeint, in weiterer Folge dann aber die entsprechenden Teile des Romans Der ewige Spießer. In den ersten Teil „Herr Kobler wird Paneuropäer“ geht mit wenigen Veränderungen das gleichnamige Romanprojekt ein; im zweiten „Fräulein Pollinger wird praktisch“ und dritten Teil „Herr Reithofer wird selbstlos“ finden sich – teilweise stark modifiziert – Teile des ursprünglich Sechsunddreißig Stunden genannten Romanprojekts wieder. In einem Schreiben vom 14. April 1930 bestätigte der Ullstein-Verlag dem Autor die Annahme des Romans Der ewige Spießer sowie die Absicht, das Buch im Propyläen-Verlag erscheinen zu lassen. Bezüglich der früher getroffenen Vereinbarungen heißt es in dem Vertrag: „Unsere Erklärung vom 26. April vor. Js. bezüglich des in vorstehendem Roman mit enthaltenen Schlußteils, für sich seinerzeit mit ‚36 Stunden‘ betitelt, wird hiermit gegenstandslos.“12 Am 11. Juli 1930 wurde Horváths Typoskript satzfertig von der Herstellung in die Druckerei gegeben,13 und am 6. Oktober 1930 erschien das Buch in zwei textidentischen Ausgaben, broschiert zu 3 und zu 4,50 Mark in Leinen gebunden mit dem auf dem Schutzumschlag eingetragenen Untertitel „Eine erbauliche Geschichte in drei Teilen“.14

Das genetische Material und seine Chronologie Das genetische Material der Spießer-Prosa umfasst insgesamt mehr als 800 Blatt. Der größte Teil davon liegt auf meist als Typoskript überlieferten Einzelblättern vor, die durch Schnitte und Klebungen mitunter starken Montagecharakter aufweisen. Außerdem sind handschriftliche Notizen auf Einzelblättern sowie in den bereits erwähnten Notizbüchern der Spanienreise (Notizbuch Nummer 6 – ÖLA 3/W 332) und der konzeptionellen Neugestaltung zum Buch Der ewige Spießer (Notizbuch Nummer 3 – ÖLA 3/W 364) überliefert. Auf der Grundlage des vorhandenen Materials und anderer Quellen lässt sich der Entstehungsprozess des Romans in vier Konzeptionen gliedern. Im Einzelnen ergibt sich die nachstehende Abfolge: Konzeption 1: Roman einer Kellnerin Konzeption 2: Sechsunddreißig Stunden, später: Herr Reithofer wird selbstlos Begleitende Einzeltexte: Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München (ET1) Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2) Das Fräulein wird bekehrt (ET3) Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer Konzeption 4: Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen

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Vertrag zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Ullstein Aktiengesellschaft, Berlin, 14. April 1930, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags, Berlin, ohne Signatur. Vgl. die Notiz auf der letzten Seite des Verlagsmanuskripts ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 183. Vgl. Lunzer/Lunzer-Talos/Tworek (Anm. 10), S. 77.

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Vorwort

Konzeption 1: Roman einer Kellnerin Erste Überlegungen zu dem Werkprojekt, das unter wechselnden Titeln wie Ursula. Roman einer Kellnerin, Lotte, die Kellnerin und Charlotte. Roman firmiert, verfasste Horváth u.a. auf Schreibmaschinenpapier, das er nur über einen kurzen Zeitraum verwendete. Der Kurzprosatext Aus den weissblauen Kalkalpen, der sich aufgrund eines textlichen Hinweises auf die Landtagswahlen in Bayern am 20. Mai 1928 auf Anfang 1928 datieren lässt, wurde auf dem gleichen Papier verfasst. Die Überlegungen zu dem Romanprojekt sind in Form von handschriftlichen Entwürfen (22 Blatt) und Typoskripten (22 Blatt) überliefert. Horváth plante einen Roman über eine Kellnerin, die nach längerer Arbeitslosigkeit eine Stellung bekommt. Dargestellt wird das Schicksal eines Mädchens, das durch wirtschaftliche Not auf Abwege gerät. Dabei tangiert die Geschichte Themen, die sich in zahlreichen Horváth’schen Kurzprosatexten der späten 1920er-Jahre wiederfinden, darunter Fremdenverkehr, Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Prostitution. Aus den wenigen maschinenschriftlichen Ausarbeitungen lässt sich die Anlage des Romanprojekts nicht vollständig erschließen. Bereits hinsichtlich der Wahl des Titels schwankt Horváth zwischen den bereits erwähnten Varianten; ebenso unschlüssig ist er bei der Wahl des Namens der Hauptfigur. Während in den Entwürfen E1 bis E9 sowie in TS1 Ursula als Protagonistin agiert, zeichnet sich ab E10 eine Namensänderung in Charlotte und in E19 eine Verkürzung auf Lotte ab. Nachdem Horváth zur Strukturierung des Romans kurzzeitig die vier Monate Juni bis September (E4) vorgesehen hatte, plant er ab E5 einen Aufbau, der der Abfolge der Osterfeiertage entspricht. Ab E12 bleibt die Aufteilung in die fünf Bücher „Gründonnerstag“, „Karfreitag“, „Karsamstag“, „Ostersonntag“ und „Ostermontag“ konstant. Das erste Buch sollte das Leben der weiblichen Protagonistin thematisieren. Neben Stichpunkten zu ihrer Herkunft („das uneheliche Kind eines Attachés“, „ihre ehelichen Geschwister“, „die Liebe ihres Vaters“, E13) steht dabei ein „Osterengagement“ (E21) im Zentrum, das sie nach längerer Arbeitslosigkeit erhält. Obwohl Horváth das Romanprojekt textlich nicht allzu weit ausführt, legt er mit ihm einen wichtigen Grundstein für die folgenden Konzeptionen. Sowohl die handschriftlichen Entwürfe als auch die maschinenschriftlichen Ausarbeitungen werfen eine Reihe von Themen und Motiven auf, die er in der Folgezeit wieder aufgreift und weiter ausführt. Hierzu gehört die Tatsache, dass das Romanprojekt von Beginn an in München, rund um die Schellingstraße (vgl. TS8), angesiedelt ist. Diesen Handlungsort behält der Autor in Herr Reithofer wird selbstlos und Der ewige Spießer sowie als Ausgangspunkt der Romanhandlung von Herr Kobler wird Paneuropäer bei. Die Familiengeschichte der Kellnerin, der Horváth das erste Buch seines Romans widmen wollte, zeigt auffallende Ähnlichkeiten zu den frühen Textstufen von Herr Reithofer wird selbstlos; teilweise übernimmt der Autor ganze Textpassagen der maschinenschriftlichen Ausarbeitungen in nur geringfügig veränderter Form.

Konzeption 2: Sechsunddreißig Stunden, später: Herr Reithofer wird selbstlos In dieser Phase der Schreibarbeit, die von Herbst 1928 bis ins Frühjahr 1929 reicht, führt Horváth sein Romanprojekt erstmals umfassend textlich aus. Zu dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos liegt eine Vielzahl von ausschließlich als Typoskript

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Vorwort

überlieferten Textstufen mit einem Gesamtumfang von mehr als 360 Blatt vor. Bei etlichen dieser Blätter handelt es sich um Durchschläge, die teilweise innerhalb der Konzeption von einer Fassung in die nächste weiterwandern bzw. auch später materiell in den Roman Der ewige Spießer übernommen werden (vgl. dazu die Übersicht Materialwanderung in diesem Band, S. 917). Irritierend ist, dass, obwohl mit K2/TS8 eine zwar nur fragmentarisch überlieferte, aber offenbar druckfertige Endfassung vorliegt, Horváth an keiner Stelle den Titel des Romanprojekts nennt und dazu auch kein Deckblatt überliefert ist. Der Titel Sechsunddreißig Stunden sowie die Änderung in Herr Reithofer wird selbstlos gehen allein aus der bereits erwähnten Korrespondenz mit dem Verlag und dem Berliner Freund und Feuilletonist P. A. Otte hervor. Zu Herr Reithofer wird selbstlos sind keine Struktur- oder Konfigurationspläne erhalten. Die ersten Ausarbeitungen des Romans sind stark von Konzeption 1 geprägt. Wie in dem Roman einer Kellnerin, in dessen Zentrum ein Fräulein steht, das Ursula, Lotte oder Charlotte heißt, kreist die Handlung auch in Herr Reithofer wird selbstlos um eine weibliche Protagonistin, die jetzt den Namen Agnes Pollinger trägt. K2/TS1 stellt mit großer Wahrscheinlichkeit die früheste Fassung des Romans dar; Handlung und Ort der Geschichte werden aus Konzeption 1 übernommen: „Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Karl kennen lernte […]“ (K2/TS1/BS 5 a [4], Bl. 1). Hinsichtlich des Namens des arbeitslosen Kellners (möglicherweise eine Transformation der früheren Kellnerin), der Agnes zur Seite gestellt wird, schwankt Horváth anfänglich. In der Grundschicht von K2/TS1 heißt er zunächst Karl, in der Korrekturschicht ändert der Autor den Namen in Eugen und später lautet sein vollständiger Name Eugen Reithofer. Mit der handschriftlichen Notiz „Fünfzig Jahre bürgerliche Familiengeschichte“ (Korrekturschicht BS 5 a [4], Bl. 4) am Ende von K2/TS1 deutet Horváth an, in welche Richtung seine Überlegungen gehen. Dementsprechend steht in den Textstufen K2/TS2 und K2/TS3 die Genealogie der weiblichen Protagonistin im Vordergrund. Dabei zehrt Horváth in weiten Teilen von Textausarbeitungen aus Konzeption 1. Ab K2/TS4 kürzt er die Familiengeschichte der Protagonistin, die sich zu Anfang noch über mehrere Seiten erstreckt hatte, auf ein Minimum und konzentriert sich zunehmend auf die Schilderung der Handlung in der Gegenwart. Die ursprünglich den Mitgliedern einer Familie zugedachten Eigenschaften und Schicksale werden im Laufe der Bearbeitung zunehmend nicht-verwandten Personen zugeordnet, die miteinander mehr oder weniger stark verbunden sind, womit sich das Spektrum der verschiedenen Charaktere entscheidend erweitert. In dieser Abspaltung vom Familiären zeichnet sich das Konzept ab, den „neue[n] Typ des Spiessers“ (K4/TS4/BS 8, Bl. 1) darzustellen und damit das ganze Spektrum einer Epoche zu zeichnen, was für die weitere Entwicklung des Werkprojekts richtungsweisend ist. Die Struktur des Romans ist durch den ursprünglichen Titel Sechsunddreißig Stunden vorgegeben: Ausgehend von der Begegnung zwischen Agnes Pollinger und Eugen Reithofer werden in zwei Handlungssträngen die Erlebnisse der beiden Protagonisten innerhalb der nachfolgenden 36 Stunden erzählt. Zunächst schildert Horváth die Lebensumstände der weiblichen Protagonistin, die aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage arbeitslos geworden ist. Durch die wohlmeinende Empfehlung eines Bekannten wird sie einem Maler als Modell vermittelt, aber sowohl der Künstler als auch dessen Bekannte betrachten Agnes als nichts anderes als ein leicht zu habendes Mädchen. Im Anschluss daran werden die Erlebnisse Eugen Reithofers geschildert, der am folgenden Tag vergeblich am vereinbarten Treffpunkt auf Agnes wartet.

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Vorwort

Mit K2/TS6 liegt eine erste ausgearbeitete Gesamtfassung des Romans vor, die aber nur fragmentarisch überliefert ist. Hier montiert Horváth Textbausteine älterer und neuerer Fassungen. Bei TS8 handelt es sich um die Durchschläge einer Reinschrift, die ebenfalls nur fragmentarisch überliefert ist. Das Original dieser Reinschrift lag vermutlich im Herbst 1929 dem Ullstein-Verlag vor. Mit TS9 sind Teile weiterer Durchschläge dieser Textfassung vorhanden, die Bearbeitungsspuren Horváths aufweisen. Möglicherweise hatte der Verlag um Änderungen gebeten, denen der Autor nachkam, ohne diese jedoch zu einem belegbaren Abschluss zu bringen. Eine vollständige Endfassung von Herr Reithofer wird selbstlos ist nicht überliefert; allein das erste Kapitel des Romans wurde bereits am 4. Januar 1929 unter der Überschrift „Roman-Anfang“ (TS10) im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung abgedruckt. Die emendierte Fassung von Herr Reithofer wird selbstlos (in diesem Band, S. 713–73) wurde aus den überlieferten Durchschlägen der Reinschrift und früheren Textstufen konstituiert.

Begleitende Einzeltexte Während der Arbeit am Roman Herr Reithofer wird selbstlos (K2) hat Horváth eine Reihe eigenständiger Kurzprosatexte verfasst, die inhaltlich aus dem Romanprojekt hervorgegangen sind, jedoch keinen unmittelbaren Bestandteil der Konzeption bilden. Dazu gehören die Einzeltexte Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München (ET1), Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2) und Das Fräulein wird bekehrt (ET3). Neben inhaltlichen Parallelen lassen sich zwischen diesen drei Texten und Konzeption 2 auch materiale Gemeinsamkeiten feststellen.

Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München (ET1) Schon der handschriftlich eingefügte Titel „Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München. (in dritter Person erzählt)“ (ET1/TS1) lässt vermuten, dass dieser Text – ebenso wie die weiter unten angeführte Arbeit Das Fräulein wird bekehrt (ET3) – für eine den Roman Herr Reithofer wird selbstlos ankündigende Einzelveröffentlichung vorgesehen war. Das verwendete Papier (mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“) und die Type erlauben eine Datierung auf Anfang 1929 (vgl. KW 15, S. 201) und damit auf einen Zeitraum, in dem auch die auf dem gleichem Material verfassten Texte Flucht aus der Stille (ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 1–4, KW 11, S. 187f.) und Unlängst traf ich einen alten Bekannten (ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 13–16, KW 11, S. 189–192) entstanden sind. Die maschinenschriftlichen Ausarbeitungen auf dem einzigen vorhandenen Blatt kreisen – wie es der ursprünglich getippte Titel „Tanzstunde“ andeutet – um die Erlebnisse des männlichen Protagonisten in einer Tanzschule in Budapest.

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Vorwort

Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2) Zu dem Text Das Märchen vom Fräulein Pollinger sind vier Typoskriptblätter überliefert, wobei es sich um eine zwei Blatt umfassende Textstufe und den Durchschlag derselben handelt. Die äußere Gestalt des Kurzprosatexts lässt vermuten, dass er für eine Zeitschrift oder Anthologie vorgesehen war. Die Entstehungszeit des Textes lässt sich nicht exakt bestimmen.15 Aufgrund des verwendeten Papiers und der Schreibmaschinentype ist jedoch von einem unmittelbaren Bezug zu Herr Reithofer wird selbstlos auszugehen. Die Geschichte der weiblichen Protagonistin, die durch eine Bergtour und den anstrengenden Abstieg eine Schwangerschaft verhindern will, findet sich in leicht veränderter Form in dem Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer (K3/TS3/BS 6 a, Bl. 34f.) und später auch in Der ewige Spießer (K4/TS5/S. 40) wieder.

Das Fräulein wird bekehrt (ET3) Der Kurzprosatext Das Fräulein wird bekehrt ist in der von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler im Herbst 1929 erschienen. Thematisch besteht ein enger Zusammenhang mit dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos, aus dem Figuren, Motive und einzelne Textpassagen entlehnt sind. Offenkundig sollte die Einzelveröffentlichung Interesse für das Romanprojekt wecken. Dies zeigt sich auch in der direkten Anrede der Leserschaft: „Wollen wir ihnen folgen? Nein. Es ist doch häßlich, zwei Menschen zu belauschen, von denen man doch schon weiß, was sie voneinander wollen“ (ET3/TS4/S. 401) und „Sie wollen, daß ich weitererzähle? Sie finden, daß das kein Schluß ist? Sie wollen wissen, ob sich das Fräulein wirklich bekehrt hat?“ (ebd.) Das werkgenetische Material zu dem Text umfasst 24 Typoskriptblätter. ET3/TS1 bis TS3 wurden auf der gleichen Schreibmaschine getippt wie Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2). Bereits die erste Textstufe enthält die Genealogie eines namenlosen Fräuleins, wie sie ein Thema auch in Herr Reithofer wird selbstlos ist. Die Großmutter, von der es in dem Einzeltext heißt, dass sie „eine einfache Frau aus der Biedermeierzeit“ ist und ein Gebetbuch mit einer „gepresste[n] Rose“ (ET3/TS1/BS 4 c [1], Bl. 1) besitzt, findet sowohl in Herr Reithofer wird selbstlos als auch in Der ewige Spießer Erwähnung. Das Fräulein selbst wird soziologisch charakterisiert: Es zählt sich selbst – trotz seiner Herkunft – „nicht zum Proletariat“ (ET3/TS1/BS 4 c [1], Bl. 2) und leugnet „die Solidarität der Arbeitenden“ (ebd.). Nachdem Herr Schultz (später heißt er Wiedmann und in der gedruckten Fassung Reithofer) sie zum proletarischen Denken bekehrt hat, gewinnt sie in der Arbeiterwohlfahrtslotterie. Mit den gewonnenen 200 Mark unternimmt sie eine Reise in die Berge. Bei einer Wanderung mit dem Sohn eines Kommerzienrats verkühlt sie sich und muss den Rest ihres Urlaubs im Bett verbringen. Die Idee der Bekehrung des Fräuleins behält Horváth bis zur 15

Kurt Bartsch geht aufgrund eines indirekten Datierungshinweises im Text („Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag und wir machen eine Bergtur“ – ET2/TS1/BS 4 b, Bl. 2, woraus sich der 1. November 1924 ergibt) davon aus, dass der Text zeitnahe zu dieser Datierung 1924/25 entstanden ist. Vgl. Kurt Bartsch: Ödön von Horváth. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 102.

8

Vorwort

Druckfassung ET3/TS4 bei, verschiebt jedoch den Fokus seiner Geschichte geringfügig: Die Schilderung der sozialen Komponente der Standeszugehörigkeit sowie der politischen Agitation nimmt hier einen weit größeren Raum ein. Reithofer berichtet in ET3/TS4 rückblickend von einem Urlaub in den Bergen und kommt zu dem Schluss: „Vom Urlaub allein hat man noch nichts, da gehört noch was dazu, ein anderes Gesetz, ein ganz anderes Gesetzbuch“ (ET3/TS4/S. 400).

Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer Das Material des Romanprojekts Herr Kobler wird Paneuropäer besteht aus 40 Blatt handschriftlicher Notizen sowie 317 Seiten Typoskript. Erste Notizen hält Horváth im Notizbuch Nummer 6 fest, das er während seiner Spanienreise im September 1929 verwendete. Aus den handschriftlichen Eintragungen geht hervor, dass der Roman ursprünglich als ein eigenes Projekt neben dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos geplant war. Eine vollständig ausgearbeitete und in sich geschlossene Endfassung von Herr Kobler wird Paneuropäer ist nicht überliefert. Mit großer Wahrscheinlichkeit entschied sich Horváth kurz vor der Fertigstellung Ende März 1930 gegen eine eigenständige Publikation und für die Integration ausgearbeiteten Textmaterials in den Roman Der ewige Spießer (K4). K3/E1 aus dem Notizbuch Nummer 6 stellt den frühesten Entwurf zu Herr Kobler wird Paneuropäer dar. Der Titel des Werkprojekts lautet hier zunächst nur „Roman“; in E19 notiert Horváth erstmals den Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ und behält diesen bis zuletzt bei. Mit den vier Teiltiteln des ersten Strukturplans 1.) „Fahrt bis zur Grenze“, 2.) „Genf“, 3.) „Lyon–Genf“ und 4.) „Lyon–Barcelona“ (E1) sind die Etappen einer Reise von Deutschland nach Spanien vorgegeben. Inspiriert von seiner eigenen Spanienreise entwirft Horváth einen Roman, in dem zunächst ein Protagonist mit dem Namen Herr K. agiert, der ab E2 Kakuschke heißt und später in Kobler umbenannt wird (vgl. E10). Kakuschke erhält durch einen erfolgreichen Autoverkauf 600 Mark (die gleiche Summe bekommt Horváth am 9. September 1929 als Vorschuss vom Ullstein-Verlag),16 und ein Freund rät ihm, dieses Geld für eine Reise zur Weltausstellung nach Spanien (vgl. E2) zu verwenden. Von der Idee angetan, erwirbt er in einem Reisebüro eine Zugfahrkarte und nimmt Abschied von seinem Stammlokal in der Schellingstraße. Die vorgesehene Kapitelunterteilung entspricht den einzelnen Etappen der Reise, an die verschiedene Erlebnisse des Protagonisten und Gespräche mit anderen Reisenden gekoppelt werden. Zwischenzeitlich sieht Horváth zehn Stationen vor, reduziert sie aber im Verlauf der Arbeit auf sieben (in E15 erstmals fixiert). Ausgangspunkt der Reise ist die Schellingstraße in München, Endpunkt des Romans Genf. In einem der letzten Entwürfe sind „Altbayern und das heilige Land Tirol“, „Durch das neue Italien“, „Marseille“, „Die Pyrenäen“ und „Corrida de Toros“ als Zwischenstationen und „U.S.A. und Genf“ (E34) als Zielpunkte genannt. Gemäß diesem Strukturplan arbeitet Horváth eine erste Fassung (TS1/A1) des Romans bis zum dritten Teil aus. Durchschläge dieser Fassung sowie Teile ihrer Überarbeitung gehen in 16

Brief des Ullstein-Verlags an Ödön von Horváth, Berlin, 9. September 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags Berlin, ohne Signatur: „Sehr geehrter Herr Horváth! Wir haben Ihnen Ihrem Wunsche entsprechend heute Mk. 600.– überwiesen.“

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Vorwort

die montierte Fassung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS3/A1 und A2) ein. Anhand der teilweise gestrichenen Kapitelüberschriften sowie einer markanten Schreibmaschinentype lässt sich aus diesem Material eine fast vollständige Fassung des Romans Herr Kobler wird Paneuropäer rekonstruieren (K3/TS3). Diese letzte, fragmentarisch überlieferte Textstufe weist aufgrund der eingetragenen, später jedoch wieder gestrichenen Kapitelüberschriften starke Parallelen zu dem in E37 notierten Strukturplan in dreizehn Teilen auf. Wahrscheinlich hatte Horváth das Romanprojekt annähernd fertig gestellt, bevor er weite Teile seiner Ausarbeitungen in Der ewige Spießer (vgl. K4/TS3/A1 und A2) überführt. Kurzzeitig (dokumentiert in E25, E27 und E28) hatte der Autor auch daran gedacht, die beiden Werkprojekte Herr Reithofer wird selbstlos und Herr Kobler wird Paneuropäer gemeinsam mit einigen weiteren geplanten Texten (von denen jedoch nicht viel mehr als die Titel überliefert sind) zu einem siebenbzw. neunteiligen Novellenband zusammenzustellen, in dem sich nach dem Muster „Fräulein Pollinger wird sinnlich“, „Herr Berger wird religiös“, „Frau Stern wird katholisch“ oder „Herr Sachs wird Kommunist“ (E25) die Wandlung einzelner Personen zeigen sollte.

Konzeption 4: Der ewige Spießer Das Material dieser Konzeption setzt sich aus wenigen Blättern handschriftlicher Notizen und mehr als 360 Blatt maschinenschriftlicher Ausarbeitung zusammen. Ein Großteil der Entwürfe ist in dem Notizbuch Nummer 3 eingetragen, über das sich der Beginn der Arbeit an Konzeption 4 auf Mitte März 1930 datieren lässt. In etwa zeitgleich schreibt Horváth an dem Drama Ein Wochenendspiel (später: Italienische Nacht), das im Herbst 1930 vom Ullstein-Verlag angenommen wird.17 Im ersten Entwurf E1 notiert Horváth ein Werkverzeichnis, anhand dessen sich der Aufbau seines Romanprojekts erahnen lässt: Neben dem Titel des Hörspiels „Stunde der Liebe 1930“ führt er hier den Romantitel „Der ewige Spiesser“ mit dem Untertitel „Roman in drei Teilen“ (E1) an. Wenig später nennt er in einem Strukturplan die drei geplanten Teile des Montageromans: I. „Herr Kobler wird Paneuropäer“, II. „Fräulein Pollinger wird praktisch“ und III. „Herr Reithofer wird selbstlos“ (E3). Damit wird die Idee einer Zusammenführung der beiden Romanprojekte aus Konzeption 2 und 3 manifest. Die erste überlieferte Fassung des Romans K4/TS3/A1 spiegelt diese Montage auch in materialer Hinsicht wider: So greift Horváth im ersten Teil („Herr Kobler wird Paneuropäer“) auf eine Reihe von Durchschlägen und Abschriften aus der gleichnamigen Konzeption K3/TS1/A2 und TS3 zurück. Diese bearbeitet er, indem er sie beschneidet, neue Übergänge formuliert und Textpassagen neu zusammenklebt. Inhaltlich folgt er bei dieser Zusammenstellung noch weitgehend der im letzten Strukturplan von Konzeption 3 dargestellten Abfolge (K3/E37). Auch im zweiten („Fräulein Pollinger wird praktisch“) und dritten Teil („Herr Reithofer wird selbstlos“) von K4/TS3/A1 greift er auf Textbausteine früherer Fassungen zurück. So finden sich hier u.a. Durchschläge aus K2/TS4 und TS8. Während der erste Teil des Romans inhaltlich weitgehend dem in Konzeption 3 projektierten Roman entspricht, greift Horváth im zweiten und dritten 17

Vgl. den Vertrag zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Ullstein Aktiengesellschaft, Berlin, 18. November 1930, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags Berlin, ohne Signatur.

10

Vorwort

Teil nur auf einige wenige Textpassagen aus Konzeption 2 zurück. Diese reißt er zumeist aus ihren Zusammenhängen und implementiert sie an anderer Stelle, sodass das ursprüngliche Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos, innerhalb dessen die Handlungsstränge eng miteinander verflochten waren, in seiner ursprünglichen Anlage nicht mehr erkennbar ist. Der Montagecharakter von K4/TS3 ist besonders auffällig: Anhand von Schreibmaschinentype, Papierqualität und anderen materialen Merkmalen lassen sich in dem stark geklebten Typoskript insgesamt zwölf verschiedene Materialschichten nachweisen, die aus verschiedenen Arbeitsphasen stammen. Um dies sichtbar und den Entstehungsprozess von TS3 transparent zu machen, erläutert eine Aufstellung (in diesem Band, S. 918-20) die Beschaffenheit der einzelnen Schichten; eine Übersichtsgrafik (in diesem Band, S. 917) weist das erstmalige Vorkommen des jeweiligen Materials im Entstehungsprozess sowie die komplexen Materialwanderungen nach. Auch im Abdruck des Lesetexts von TS3 wird der Wechsel der Materialschichten angezeigt, sodass die Montage der Textstufe im Detail nachvollzogen werden kann. Bei der textgenetisch unmittelbar nachfolgenden Fassung TS4 handelt es sich bereits um das Einreichmanuskript für den Verlag. Neben letzten Korrekturen des Autors enthält es zahlreiche Eingriffe des Lektors und Markierungen des Setzers. In Buchform erschien Der ewige Spießer im Propyläen-Verlag am 6. Oktober 1930; darauf basiert die emendierte Fassung des Textes (in diesem Band, S. 775–852).

Zeitgenössische Rezeption Im Herbst 1930 wartete Horváth zunächst ungeduldig auf die Belegexemplare seines Romans, wie er in einem Brief an Julius Bab vom 4. November 1930 schreibt.18 Wenige Tage später erkundigte er sich bei der Werbeabteilung des Propyläen-Verlags, ob bereits Rezensionen eingegangen seien. Der Verlag vertröstete ihn in einem Antwortschreiben: „Jetzt vor Weihnachten, wo sich die Flut der Neuerscheinungen häuft, dauert es immer etwas länger. Sowie einige Rezensionen vorliegen, werden wir Ihnen diese selbstverständlich zuschicken.“19 Wider Erwarten sind noch vor Ende des Jahres einige Besprechungen zu verzeichnen. Darin findet das Buch eine durchwegs positive Aufnahme. Mit seiner ersten selbstständigen Prosapublikation dürfte Horváth den Nerv der Zeit getroffen haben. So heißt es Ende Dezember 1930 in der Berliner Zeitung: In einer volkstümlichen, saftigen Sprache wird hier Lustiges, Scharfes und Weises aus der nächsten Umwelt ausgesagt. Ebenso wie in den Bühnenwerken dieses begabten jungen Autors steht eine wache zeitkritische Anschauung hinter den witzigen Episoden. Man muß das lesen und verstehen, den breiten, gelassenen Humor, den Beigeschmack von Bitterkeit, Mitleid, erbarmungslos durchschauenden [sic!] Gescheitheit genießen. „Der ewige Spießer“ ist hoffentlich das erste von vielen epischen Werken, die man von diesem originellen Dichter erwarten darf.20

18

19

20

Brief von Ödön von Horváth an Julius Bab, Murnau, 4. November 1930, Original im Julius-BabArchiv, Stiftung der Akademie der Künste, Berlin, Signatur 447. Brief des Propyläen-Verlags an Ödön von Horváth, 13. November 1930, Original im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Signatur ÖLA 3/B 4. sch.: Der ewige Spießer. In: Berliner Zeitung, 24. Dezember 1930.

11

Vorwort

Fritz Gaupp bezeichnet den Autor am 30. November 1930 in der Literarischen Umschau als „viel moderner, als die meisten“ seiner Zeitgenossen. „Sein Können liegt im Beobachten und Belauschen der Mitmenschen, und da sind ihm in der sicheren Formulierung seiner schwerfällig tapsenden, aber außerordentlich prägnanten Sprache herrliche Notizen gelungen.“21 Auch Fritz Walter bemerkt im Berliner Börsen-Courier, dass „die Begabung Horváths gerade nach der humoristischen Richtung frei geworden und noch sehr entwicklungsfähig“22 sei. Einige Rezensenten heben die Verortung des Romangeschehens im bayerisch-österreichischen Raum positiv hervor und betonen, dass die Spießertypen in ihrer Lächerlichkeit „durch ihre landschaftliche Färbung, die bayerische-österreichische Sprache und Denkart, an Witz und Wunderlichkeit noch gewinnen“.23 Außerdem lockere der Autor die „Schriftsprache durch weitgehende Benutzung des Dialekts auf, was ihm manche sprachliche Lässigkeit erlaubt“.24 Nach der Lektüre des Romans formulierte der Schriftsteller und Lektor des Kiepenheuer Verlags Hermann Kesten in einem kurzen Schreiben an den Autor seine Begeisterung: „[N]ichts von Thoma – überhaupt keine Vergleiche für Ihr reizendes Buch (nicht einmal mit Aristophanes, Mark Twain, Don Quichote, Voltaire und Swift).“25 Zwei Tage später übermittelte er Horváth die Abschrift seiner Rezension vom 26. Juni 1931 mit den Worten: „Sie können daraus sehen, dass ich Ihr Buch ‚unvergleichlich’ finde. Ich habe bei der Gelegenheit wieder in Ihrem Buch gelesen und habe dabei wieder sehr viel Vergnügen gehabt.“26 In seiner Besprechung lobte Kesten Horváth als einen „sehr witzige[n] Erzähler, ein[en] satirischen Beobachter der mittleren Gemeinheiten der mittleren Existenzen unserer mittleren Großstädte“, der „nicht über die Schwächen der Menschen, sondern über ihre Fehler lacht, und nicht um des Witzes, sondern um des Glaubens willen“.27 Demgegenüber weist der österreichische Erzähler und Journalist Anton Kuh in Der Querschnitt auf die Ambivalenz hin, die dem Roman ebenso innewohnt wie sein Humor: Dieser Oedön Horváth, dessen Name so eigenartig nach Mord-Chronik, Steckbrief, k. k. ArmeeUeberbleibsel klingt, ist ein Ausnahmefall unter den Exzedenten seines Geschlechts. Ein amorphes Stück Natur; vulgär wie ein Noch-nicht-Literat, souverän wie ein Nicht-mehr-Literat; aus Elementarem und Dilettantischem gemengt. So könnte die Reinschrift eines großen satirischen Erzählers aussehen; aber auch die Reinschrift eines genialen Abenteurers, der sich für einen Schriftsteller ausgibt.28

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22 23 24

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26

27 28

Fritz Gaupp: Oedön Horvath: Der ewige Spießer. In: Literarische Umschau (Beilage zur Vossischen Zeitung), 30. November 1930. Fritz Walter: Der ewige Spießer. In: Berliner Börsen-Courier, 21. Dezember 1930. Ebd. Hermann Kesten: Oedön Horvath: Der ewige Spießer. Propyläen-Verlag, Berlin. In: Die literarische Welt, 26. Juni 1931. Brief von Hermann Kesten an Ödön von Horváth, Berlin, 6. Januar 1931, Original im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Signatur ÖLA 3/B 2. Brief von Hermann Kesten an Ödön von Horváth, Berlin, 8. Januar 1931, Original im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Signatur ÖLA 3/B 3. Kesten (Anm. 24). Anton Kuh: Oedön Horvath, Der ewige Spießer, Propyläen-Verlag, Berlin. In: Der Querschnitt, X. Jg., Heft 12, 1930, S. 97.

12

Vorwort

Obgleich Der ewige Spießer bei der Kritik durchwegs auf positive Resonanz stieß, kam es nicht zuletzt wegen ihm Ende 1932 zu Differenzen zwischen Horváth und dem Ullstein-Verlag. Schlussendlich wurde der Generalvertrag am 7. November 1932 „auf Grund gegenseitigen freundschaftlichen Uebereinkommens“29 aufgelöst. Drei Tage später teilte man dem Autor mit, dass aufgrund des „seit längerer Zeit außerordentlich zurückgegangen[en]“30 Verkaufs der Ladenpreis für den Roman Der ewige Spießer aufgehoben wurde und man den Restbestand nunmehr zu einem niedrigeren Preis verkaufe.

29

30

Brief des Propyläen-Verlags an Ödön von Horváth, Berlin, 7. November 1932, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags, Berlin, ohne Signatur. Brief des Propyläen-Verlags an Ödön von Horváth, Berlin, 10. November 1932, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags, Berlin, ohne Signatur.

13

Vorwort

14

Lesetext

15

16

Konzeption 1: Roman einer Kellnerin

17

Strukturplan in drei Kapiteln

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 8

18

Strukturplan in drei Kapiteln

K1/E1

19

Lesetext

Strukturplan in vier Kapiteln

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 2

20

Strukturplan in vier Kapiteln

K1/E2

21

Lesetext

Strukturplan in zwei Kapiteln

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 1

22

Strukturplan in zwei Kapiteln

K1/E3

23

Lesetext

Strukturpläne in vier Kapiteln, Notizen

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 3

24

Strukturpläne in vier Kapiteln, Notizen

K1/E4–E6

25

Lesetext

Werk- und Kapiteltitel

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 4

26

Werk- und Kapiteltitel

K1/E7

27

Lesetext

28

Fragmentarische Fassung

K1/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

 I. Karfreitag

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 5

BN

5

Seit dem Herbst leb ich in Oberbayern am Rande der nördlichen Kalkalpen, so siebzig Kilometer südlich von München, in einem grösseren Dorfe, das offiziell den Titel „Markt“ trägt und an einem nach meinem Geschmacke fast zu lieblichen See liegt. Man sieht die Berge von Tölz bis Neuschwanstein , jenem romantischen Baukasten weiland Ludwigs des Zweiten. Es soll vor dem Kriege Bauern gegeben haben, die glaubten Ludwig lebe noch, er sei über den Starnbergersee geschwommen und nach dieser sportlichen Leistung nach Nordamerika ausgewandert. Ob er dort allerdings seine bauliche Tätigkeit weiter ausgeübt hat, interessiert hier nicht. Es hätte doch ganz reizend gewirkt, wenn er in New-Jork die Feuertürme oder das Bratwurstglöckl errichtet hätte. Auch die Sage, dass er nächtlicherweise in einem sechsspännigen Schlitten durch die verschneiten Wälder jagte, gerät allmählich in Vergessenheit. Die Republik hat dazu zwar nur wenig beigetragen, desto mehr aber das Zeitalter der Technik und des Sports. B

N

B

10

N

B

N

B

B

15

3

6 7 11 12 14

B N

N

]

nach f lieblichenN ] NeuschwansteinN ] Binteressiert f nicht.N ] BFeuertürmeN ] BSchlittenN ] B B

N

[Ostern naht, das Fes] [|Ostern naht[, das Fest] und das gesammte Christentum begeht das Fest der Kreuzigung jenes armen grossen Menschen, [um den sich heute] |den man vor rund||] [|Ich liebe das Land.|] [|[I] |Der Winter war lang, [und] |kalt| und nass||] [|Ich wohne am Rande der nördlichen Kalkalpen|] [|Ich wohne in Oberbayern|] [lieblichen] |nach f lieblichen| [Fü] |Neuschwanstein| [entzieht sich meiner Kenntnis] |interessiert f nicht.| Feuertürme[,] [{K}] |S|chlitten

29

Notizen

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 6

30

Notizen

K1/E8–E9

31

Lesetext

Strukturplan in drei Kapiteln

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 10

32

Strukturplan in drei Kapiteln

K1/E10

33

Lesetext

Titelvarianten, Strukturpläne

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 7

34

Titelvarianten, Strukturpläne

K1/E11–E14

35

Lesetext

Titelvarianten, Strukturpläne (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 9

36

Titelvarianten, Strukturpläne (Fortsetzung)

K1/E11–E14

37

Lesetext

Strukturplan in fünf Büchern

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 13

38

Strukturplan in fünf Büchern

K1/E15

39

Lesetext

40

Fragmentarische Fassung

K1/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Erstes Buch.

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 13 B

5

Charlotte ist engagiert.

N

Die Schellingstr. in München ist eine lange, stille Strasse. Wenn man von Oberwiesenfeld kommt, so sieht man am Ende die beiden Türme der Ludwigskirche – in der Nähe des Oberwiesenfeldes, eines von Kasernen umgebenen Exerzierplatzes, wohnte in einem gelben, alten Hause Charlotte. Sie wurde in Schleissheimerstr. geboren, aber ihre Eltern sind dann umgezogen, weil ihr Vater in eine höhere Gehaltsklasse aufgerückt war und es immer schon sein Fimmel war, eine schöne Wohnung zu besitzen. Hätte er Geld gehabt, hätte er ein Palais gehabt. Alles steckte er in die Wohnung. Nie ging er in das Wirtshaus – es war eine triste, eintönige Luft. Die Mutter Charlottes war eine schwermütige Frau, sie sass gern am \Abbruch der Bearbeitung\ B

B

N

N

BN

B

10

3 5 5 8 9

N

Charlotte f engagiert.N ] Die f Strasse.N ] Blange,N ] B N] BaberN ] B B

[Die Eisenbahnfahrt.] |Charlotte f engagiert.| [Als Charlotte] |Die f Strasse.| [stille,] |lange,| gestrichen: in [{–}] |aber|

41

Notizen

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 12

42

Notizen

K1/E16

43

Lesetext

Notizen, Strukturplan in fünf Büchern

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 4

44

Notizen, Strukturplan in fünf Büchern

K1/E17–E18

45

Lesetext

Strukturplan in fünf Büchern

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 3

46

Strukturplan in fünf Büchern

K1/E19

47

Lesetext

48

Fragmentarische Fassung

K1/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Zu all den Problemen, wie es sich die anderen Frauen stellten, hatte sie keine Zeit. Es hiess sofort sie sei faul, während die anderen BBourgoisweiberN sich behandeln liessen. 5

Sie hatte nur einmal in ihrem Leben Zeit. Das waren sechs Tage, wo sie durchgebrannt ist.

2

B

BourgoisweiberN ]

gemeint ist: Bourgeoisweiber

49

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 3v

Strukturplan in drei Büchern

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 6

50

Strukturplan in drei Büchern

K1/E20

51

Lesetext

Strukturplan in fünf Teilen

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 1

52

Strukturplan in fünf Teilen

K1/E21

53

Lesetext

Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 2

54

Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)

K1/E21

55

Lesetext

Strukturplan in vier Teilen

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 1v

56

Strukturplan in vier Teilen

K1/E22

57

Lesetext

Notizen

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 2v

58

Notizen

K1/E23

59

Lesetext

Fragmentarische Fassung

K1/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Es war Gründonnerstag, sieben Jahre nach dem Weltkrieg, drei Jahre nach der Inflation. Die Mark hatte sich wieder erholt, die Parteien stritten sich darum wer sie saniert hat, wer des Kapitalisten Geld gerettet hat. \Abbruch der Bearbeitung\

60

ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 5v

Fragmentarische Fassung



K1/TS5 (Korrekturschicht)

BN

Als es Charlotte noch nicht auf der Welt gab und, sofern man an eine persönliche Seele glauben mag , in hellblauen Gefilden auf einem Korallenbaume sass oder als gefallener Erzengel hinabstürzte bis in alle Ewigkeit in den Schlund nach apokalyptischen Sünden – kurzum: als die Mutter Charlottes, eine schwermütige, zarte , ungebildete Frau noch ihren Vater , einen selbstbewussten Spiessbürger zu Liebesmelancholien reizte, sodass er im Englischen Garten herumlief , mitten in der Nacht und am Monopteros in Maschinen schwörte , nie mehr den Verführungen einer Kellnerin zu unterliegen – nämlich er hatte bei einer Kellnerin unbezahlte Schulden und dieser es noch nicht wagte, vor ihr herumzu{küssen} und sie in den Arm zu kneifen, und sie noch wie bissig und verstockt war, wie ein verprügelter Rattler noch nicht als sein kirchlich getrautes Weib heimführte in die DreiZimmer-Wohnung, damals war Bayern noch Königreich. Der König Otto war allerdings verrückt und infolgedessen regierte der gute alte Prinzregent Luitpolt. Er sah dekorativ aus, rauchte schwere Zigarren, förderte Kitsch und Wissenschaft , hasste die Hohenzollern , sprach nie hochdeutsch, schoss Gemsen und liess sich Alpenrosen von Kinderhand schenken und war allB

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5

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10

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15

Lesetext

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1

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2 2 3 3 3 3 4 4–5 6 6 6–7

B

7–10 7 8 10

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10–11 10 11–12 11 12 12 13 14 14 15 15 15–16 16 16 16–17 17

B

17 17

B

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]

esN ] nicht f gabN ] Bglauben magN ] B N] BaufN ] BeinemN ] BgefallenerN ] Bbis f SündenN ] BzarteN ] Bihren VaterN ] Beinen f LiebesmelancholienN ] B

sodass f SchuldenN ] ] Bund f schwörteN ] Bes f ihrN ] B N

herumzu{küssen} f kneifen,N ] ] Bund f RattlerN ] B N] BRattlerN ] Bsein f WeibN ] BBayern nochN ] B N] Bder f alteN ] BLuitpolt.N ] B N] Bförderte f WissenschaftN ] BWissenschaft,N ] Bdie HohenzollernN ] Bsprach f schenkenN ] BschossN ] B N

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liess sichN ] vonN ]

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B

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[Ich kenne Charlotte seit ihrem [elften] |sechsten| Lebensjahre, ihr Vater hatte nämlich ein Zigarettengeschäft in dem Hause, in dem meine Eltern wohnten.] \es/ [ungeboren war,] |nicht f gab| glaub[t]|en| \mag/ [phantastischen] [mi] |auf| [{e}] |einem| \gefallener/ \bis f Sünden/ [brave] |zarte| ihre[r]|n| [M]|Va|ter [einen Zigarettengeschäftsinhaber,] |einen f Liebes[gedichten]|melancholien| [\auf Ansichtskartengrüssen/]| \sodass f Schulden/ [{ }] [, anstatt] |und f schwörte| (1) sie noch nicht (2) es f ihr \herumzu{küssen} f kneifen,/ [ihn] [{nie} über den Mund schlug –] |und f Rattler| [{ }] [Hund] |Rattler| [Braut] |sein f [Frau]|Weib|| [München no] |Bayern noch| [angestammte] [der] |der f alte| Luitpolt[,]|.| [den die Welt von schönen Briefmarken her kennt.] [\schoss Gemsen, kaufte Bilder,/] |förderte f Wissenschaft| korrigiert aus: Wissenschaft [den Imperator Rex] |die Hohenzollern| \sprach f schenken/ (1) {fla} (2) schoss [nahm Edlwei] |liess sich| [aus] |von|

61

ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 14

Fragmentarische Fassung

K1/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

seits beliebt, denn der Bayer liebt das Kunstgewerbe im Gegensatz zu Politik, die ihn langweilt, sofern sie nicht Anlass zu Starkbierbacchanalien unter dem Schutze eines Heiligen gibt. Vier Wochen vor Charlottes Geburt flaggte München zum Erntedankfest. Der Hof war erschienen, die schönsten Rindvieher prämiert und einige Rösser veranstalteten ein historisches Rennen. Vierzehn Tage hindurch gab es nun täglich 5–6000 Betrunkene \Abbruch der Bearbeitung\ B

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2–3 2 2 2

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4 5–6 6 6 6

B

B

KunstgewerbeN ] im f langweilt,N ]

sofern f gibt.N ] AnlassN ] BStarkbierbacchanalienN ] BStarkbierbacchanalien f gibt.N ] B

]

VierN ] einige f veranstaltetenN ] BRennen.N ] BVierzehn TageN ] BnunN ] B

N B

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B

N

Kunstgewerbe[,] [und kümm] [|langweilt|] [|und findet die Politik langweilig, ja überflüssig,|] |im f langweilt,| [Sein ererbter Liberalismus] |sofern f gibt.| [Vorwand] |Anlass| korrigiert aus: Starkbierbacha{ielen} [Festlichkeiten wird.] |[Faschingsveranstaltungen,] Starkbier[festen][|orgien|][|gelagen|] |bacchanalien| f gibt. [oder Erntedankfesten gibt.]| [Sein ererbter Liberalismus] [|Diese lukullische Seite seines Wesens lässt ihn liberal denken|] [Zwei] |Vier| \einige Rösser [rannten] |veranstalteten|/ [Pferderennen veranstaltet.] |Rennen.| [Zwei Wochen] |Vierzehn Tage| \nun/

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Fragmentarische Fassung

5

K1/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Als Charlotte noch ungeboren war Bund,N sofern man an eine persönliche Seele glaubt, BentwederN als Bewiger SäuglingN Bauf Seerosen sass und sich vonN BelyseischenN Störchen füttern liess Boder aber als apokalyptischer Verbrecher B N durch Milliarden Lichtjahre BkopfüberN BfielN um auf unserem Planet BaufzuschlagenN, wie eine reife Pflaume –N \Abbruch der Bearbeitung\

1 2 2 2 2 3–5

B

und,N ] entwederN ] Bewiger SäuglingN ] Bauf f vonN ] BelyseischenN ] Boder f Pflaume –N ]

3 4 4 4

B N

B

] kopfüberN ] BfielN ] BaufzuschlagenN ] B

korrigiert aus: und

, \entweder/ [hellblaue Unschuld] |ewiger Säugling| [in \zarten/ elyseischen Märchenweihern sass, über die von] |auf f von| \elyseischen/ (1) oder [als] |aber| als [finsterer Engel nach] |apokalyptischer Verbrecher| [hinabstürzte, um] von [finstren Engel] [|dunkeln|] [|struppigen|] [|{übellaunigen}|] |herzlosen| Erzengeln kopfüber herabgeschleudert auf der Erde zu landen – kurzum: (2) oder f Pflaume – [von riesigen Erzengeln] [hind] [|hindurch|] |kopfüber| [herabstürzte] [|herabstürzte,|] |fiel| [{aufzusch}] |aufzuschlagen|

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ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 11

Fragmentarische Fassung

K1/TS7 (Korrekturschicht)

Es waren drei Wochen vergangen seit dieser Redoute, der Fasching war aus, die Starkbiersaison begann, München flaggte zum Nationalfeiertag BOktoberfest = BErntedankfestN N und es gab zwei Wochen hindurch täglich fünf- bis sechstausend Betrunkene. B N Die Leute standen von den Tischen nichtmehr auf, kotzen daneben hin, sangen Deutschland Deutschland über Alles, Bversicherten im Chor, dass es nur ein BLoisachtalN gibt und frugen sich gegenseitig, ob sie B N auch das Tal im Alpenglühen kennen, Bayrischzell.N Drei Frauen Bund neun MännerN wurden vergewaltigt und siebzehntausendzweiundzwanzig Ehen gebrochen und ungefähr dasselbe Bfast gebrochenN. Vornehme Damen traten einfach heraus und pissten auf die Strasse, die Schutzmänner hatten anstrengenden Dienst. BDie Strassenbahnen konnten nicht weiter fahren, weil sich die Leute auf den Schienen auszogen, es wurden im Ganzen zweiundzwanzig Leute erstochen Bdarunter 22 NorddeutscheN, drei erschossen einer hat sich selbst erschossen, aus lauter Gemütlichkeit.N In einer Bierbude sassen zehn Männer um einen Tisch. Der eine wollte sich den Mantel holen, sah aber, dass er gestohlen war, sprang auf den Tisch und schrie: „Damit Ihr seht, wie ich mir das zu Herzen nehme, erschiess ich mich“ und zog einen Revolver und erschoss sich. Fiel tot über den Tisch an dem sein Bruder sass, der sagte nur: B „IsN dös aba a Witz, jetzt derschieaast sie der wegn an Mantl“. Das Blut rann mit dem Bier zusammen und die Ordner schafften die Leiche aus dem Saale. Es war sehr gemütlich. An Alkoholvergiftung erkrankten dreissig Personen, eine Frau wurde bewusstlos in das Krankenhaus gebracht. Ein BwürdigerN alter BHerr mit BismarckbindeN stieg am Marienplatz ein und fiel mit seinem langen Bweissen BartN um. Alles bemühte ich um den BPatriarchenN, als er zu sich kam, spie er den Wagen voll, der gute alte Herr und rülpste nach Bier und BRettigN. „BHerzlichen DankN, meine Herren!“ sagte er und fiel aus der Strassenbahn. Die Sanitäter brachten ihn mit einem komplizierten BOberschenkelbruchN in das Krankenhaus. Er starb dort, der Arme, am Säuferwahn. \Textverlust\

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Lesetext

2–3 3 4 5–7

B

\Oktoberfest = Erntedankfest/

B

korrigiert aus: Erntedankfest.

6 6 7 9

B

10–13 12 18 22 22–23 23 24 25 25 27

Oktoberfest = Erntedankfest N ] ErntedankfestN ] B N] Bversicherten f Bayrischzell.N ] LoisachtalN ] ] Bund f MännerN ] Bfast gebrochenN ] B N

Die f GemütlichkeitN ] darunter f NorddeutscheN ] B„IsN ] BwürdigerN ] BHerr f BismarkbindeN ] Bweissen BartN ] BPatriarchenN ] BRettigN ] BHerzlichen DankN ] BOberschenkelbruchN ] B B

[Die f Gemütlichkeit.]f x (1) und Bayrischzell und die Alpenkönigin Edelweiss. (2) versicherten f Bayrischzell.

[Tal im] |Loisachtal| [{sie}] \und f Männer/ (1) versucht (2) \fast gebrochen/ xDie f Gemütlichkeit. \darunter f Norddeutsche/ korrigiert aus: Is \würdiger/ [Mann] |Herr f Bismarkbinde| korrigiert aus: Bart weissen [Ohnmächtigen] |Patriarchen| gemeint ist: Rettich \Herzlichen/ Dan[ke]|k| korrigiert aus: Oberschenkbruch

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ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K1/TS7 (Korrekturschicht)

Lesetext

Sein Delirium: Kleine Kinder bekamen Bier eingeflösst, die Brust der Münchener Mutter hatte Bier, statt Milch, und in den Kirchen verwandelte sich Bier in das Blut des Nazareners . Die ganze Stadt war ein Bierkeller, es gründete sich ein Verein gegen das schlechte Einschenken stellte den Ministerpräsidenten und man vergass das Vaterland, es hiess statt Bayern und Pfalz , Hopfen und Malz, Gott erhalts! Und während der Arme an Säuferwahn starb, kam der Vater Charlottes nach Hause. Am Hute trug er Tannenreis. Er legte sich zu Bett. Der angestammte König, Otto von Wittelsbach war verrückt und infolge dessen regierte der Prinzregent Luitpold, den die Welt von den Briefmarken her kennt. Er unterstützte die Künstler, ging auf die Ateliers, ging auf die Gemsjagd und Wilhelm der Zweite war ihm höchst unsympathisch . Er war schon ein alter Herr, rauchte schwere Zigarren und war allseits beliebt, denn er störte nirgends wo er hinkam. Er sah dekorativ aus und der Bayer liebt das Kunstgewerbe. Die Münchener Bürger kümmerten sich nicht um Politik und ihr ererbter Liberalismus äusserte sich nicht im Freihandel, sondern in einer Duldsamkeit gegen den Rausch, die Besoffenen. Freie Bahn dem Besoffenem, das war die Parole. Lola Montez – die Spiesserrevolution. Die Museen mussten wegen dem Fremdenverkehr errichtet werden, der blühte. Jeder Maler war Professor, die Schwabinger beliebt, der Geist geduldet, die Künstlerfeste dazu musste man die Kunst haben. Der Mittelstand erwies wiedermal seine Kulturaufgabe, als der Stand, der die Kultur trägt. Der Kitsch blühte, Zarathustra tanzte und Isar-Athen war so gemütlich die Stadt der Musen, der Boheme, dieser bürgerlichen spiessigen Anarchisten und des deutschen Museums, dieses Wunderwerkes der Technik. Charlottes Mutter las soeben in der Zeitung, dass Zar Nikolaus mit Imperator Rex Wilhelm zwo zusammentraf und sich herzlich begrüssten und, dass der Bürgermeister von Berlin, Herr von Jagow auf die Leute schiessen liess und, dass wieder so B

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1 2 3 5 5 6 6–8 9 9 9 9 9–10 11 12 14 15 15 16 18 26 26 26–27

N

B

\Sein Delirium:/

B

Sein Delirium:N ] KleineN ] BNazarenersN ]

korrigiert aus: Kleiner (1) Heilandes (2) \Nazareners/

stellte f MinisterpräsidentenN ] ] BPfalzN ] BUnd f Bett.N ] BDer angestammteN ] BKönig,N ] B N] BWittelsbachN ] BinfolgedessenN ] BunterstützteN ] BunsympathischN ] BEr f Kunstgewerbe.N ] BMünchenerN ] BererbterN ] BinN ] BLola f Spiesserrevolution.N ] BZarN ] B N] BImperator RexN ]

\stellte f Ministerpräsidenten/ [der] korrigiert aus: Pflaz \Und f Bett./ \Der angestammte/ König\,/ [\{ }/] [Bayern] |Wittelsbach| [statt ihm] |infolgedessen| korrigiert aus: untestützte korrigiert aus: unsyäpathisch \Er f Kunstgewerbe./ M[ü]|ü|nchener erer[n]bter korrigiert aus: im \Lola f Spiesserrevolution./ \Zar/ [der Zweite von Russland] [Kaiser] |Imperator Rex|

B

B N

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ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K1/TS7 (Korrekturschicht)

eine Schweinerei von einem gewissen Wedekind verboten worden ist und, dass Ludwig Thoma wegen Beleidigung von Vertretern von Sittlichkeitsvereinen eingesperrt worden ist, als ihr Mann eintrat. Sie fühlte sich in gewisser Weise als Siegerin über ihn und seit dieser Redoute hatte sie es sich vorgenommen, ihn ab und zu zu ärgern. Er schien ihr plötzlich minderwertig, und, dass sie eine viel bessere Partie hätte machen können. Es war ihr aber, als merkte er ihre Gedanken und tat er ihr wieder leid. Er setzte sich in den Stuhl und las die kleinen Anzeigen, wer gestorben ist, usw, das andere denn ob unsere Zukunft am Wasser liegt oder nicht, das interessierte ihn nicht. Sie bildete sich ein, dass das Kind vom Attache war, und es war doch von ihm, denn nach jener Redoute nahm er sie auch, denn das dicke Mädel war plötzlich mit einem jungen Studenten verschwunden mit wasserblauen Augen, der zum erstenmal auf einer Maskengaudi war. Der Attache konnte nämlich gar kein Kind bekommen, das wusste er. Er war un fruchtbar und das war gut so. Also war Charlotte rechtlich korrekt erzeugt und die geheime Hoffnung der Mutter zu Schanden geworden. In der Nacht lag er neben ihr, sie war wach, und er sprach im Schlaf sonderbare Dinge: Zensi, sagte er, Zensi -- wieso nacha hast Du sechs Kinder also, da kommst doch dann auf den einen auch nicht zusammen. Schau, Alte, wieso? Was hat der gesagt? Ich könnte auch der Vater sein? Wo ich so obacht gebn hab! Ha? So so -- also, Fräulein Bichler, leckens mich am Arsch“. Charlottes Mutter ging in solcher Stimmung auf die Redoute. Als Charlotte geboren wurde, war es Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-ro mantische Nacht und Spätherbst. In den nahen Alpen ist es still geworden, die Luft stand unheimlich klar und abends zog ein zarter Nebel über die schwarzen Teiche und den Wald. Im Kaisergebirge bei Kufstein machte am selben Tage Paul Preuss, der berühmte Alpinist, die ungewöhnlich schwierige Nordwestwand des Totenkirchls. Er war der wagemutigste Alleingeher, und ist auch abgestürzt, nach einigen Jahren später. Da war aber Charlotte bereits vier Jahre alt und sie hatte noch keine Ahnung von Nordwestwänden, sie hatte noch nie einen Berg gesehen, es interessierte sie auch nicht, sie hatte eine Puppe und bohrte in der Nase und roch daran. Abends betete sie vor dem Einschlafen, ohne zu wissen, was sie daherplapperte, aber es wurde ihr so schon in frühester Jugend eingetrommelt, frei nach dem Nancyger Apotheker, dass sie ein sündiger Mensch sei und dass Gott ihr die Sünden vergeben möge. Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie die Butter mit den Fingern angriff, sich des öfteren bemachte und furchtbar schrie wenn man sie in einer dunklen Kammer allein liess. Sie hatte Angst vor dem Kaminkehrer. Und, dass sie Pepperl, dem Hunde, auf die Schnauze küsste. B

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Lesetext

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1 8 22–23 23 24 24 24–25

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wordenN ] denn f dasN ] Bwar f undN ] B N] BstandN ] BzarterN ] Büber f Wald.N ]

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einerN ] Kaminkehrer. Und,N ]

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korrigiert aus: wo rden \denn f das/ [war es] |war f und| [unheimlich] [war] |stand| [feiner] [|{kleiner}|] |zarter| über1 den6 [schwarzen] Wald7 und5 die2 \schwarzen/3 Teiche4\./[, wie ein blauer Rauch.] [|zart und { } alt.|] korrigiert aus: eine korrigiert aus: Kaminkehrer. Und,

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ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 3

ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K1/TS7 (Korrekturschicht)

Ich weiss nicht, ob Gott ihr das alles verziehen hat. Fest steht, dass er irgendwie auf Charlotte geärgert gewesen sein musste, denn mit acht Jahren ist sie in der Schule durchgefallen und bekam Dyphteritis . Gott hat sie fast zu sich genommen, aber der gute Arzt, Herr Dr. Müller, hat es nicht zugelassen. Er hat mit dem Serum Kochs mit Gott gekämpft. Gott sprach: Mein Gott, jetzt erfinden sie sogar schon Serums , wie soll das enden? Jetzt gibt es schon keine Cholera mehr, keine Pest in zivilisierten Gegenden. Nur gut, dass sie die Syphilis noch nicht ganz heilen können. Und er bestimmte den Erzbischof von Prag, der sprach: Man darf nicht gegen die Krankheiten kämpfen, sie sind Gottes Prüfungen. Wenn einer heult, lasst ihn heulen. Wenn einer Geschwüre hat und Knochenfrass, so helft ihm nicht, denn warum hat er sich mit dem Fräulein Kitty Mesalka abgegeben? Wie? -- Aber die Welt wurde immer ungläubiger und Gottes Stimme drang nicht in die Laboratorien. Sie machte Halt vor der Klinik. Später kam Gott auf eine sehr gute Ausrede. Er sagte, er hätte  es sich überlegt. Die Dyphterie sei ab heute eine Harmlosigkeit . Aber die Menschen sollen nur nicht zu frech werden, denn zum Beispiel Zuckerkranke sind immer noch unheilbar. Gott ersann immer neue Bazillen. Seine Erfindungsgabe ist göttlich. Aber der Mensch wehrte sich: je nach seiner Geldbörse. Und Gott sprach: es werde Krieg! Und es ward Krieg. Und Gott sah, dass es gut war. An die Zeit vor dem Kriege konnte sich Charlotte nicht erinnern. Als der Krieg  ausbrach war sie zehn Jahre alt. Sie hatte eine einzige Erinnerung an die Tage vor der grossen Zeit: sie sass in einem hohen Zimmer am Boden und spielte mit Puppen und bunten Steinen und Kugeln. Draussen schien die Sonne, aber kein Strahl fiel in das Zimmer. Sie hatte das Gefühl, als wär das Zimmer ungeheuer hoch über der Erde, derweil war es nur der dritte Stock. Und dann weiss sie , dass wenn sie zum Fenster träte , draussen ein breiten Fluss tief unten in der Ferne mit einer Eisenbahnbrücke. Ein Zug fährt lautlos darüber in eine grosse graue Ebene, mit B

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ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 5

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1 3 5 5 5 5 6–7 15 15 16–20 19 22 24 26 26 26 26 26 27 27 27 27 28–68,1

verziehenN ] DyphteritisN ] BerfindenN ] Bsogar schonN ] BSerumsN ] B N] BJetzt f können.N ] BDyphterieN ] BHarmlosigkeitN ] BGott f war.N ] B N] BTageN ] BbuntenN ] BderN ] BdritteN ] Bweiss sieN ] BwennN ] B N] BträteN ] B N] BeinN ] Btief untenN ] Bmit f SchlagsahneN ] B B

korrigiert aus: verzeihen korrigiert aus: Dyphetritis

[haben] |erfinden| [ein] |sogar schon| Serum\s/ [gegen Dyphteritis erfunden] [Dieser Koch ist ein widerlicher Patron!] |Jetzt f können.| korrigiert aus: Dypheterie Harm\l/osigkeit \Gott f war./ [{ }] [Zeit] |Tage| Korrektur von fremder Hand: \bunten/ [im] |der| dritte[n] [erinnerte sie sich] |weiss sie| \wenn/ [absolut das Gefühl hatte, wenn sie] [treten würde] |träte| [so sähe sie] ein[en] [\nah/] [|{ } und fliessen würde|] |tief unten| \mit f Schlagsahne/

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ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 6

Fragmentarische Fassung

K1/TS7 (Korrekturschicht)

weissem Rauch wie Schlagsahne am Horizont steht der Abend mit violetten Wolken. Aber das ist ja alles nicht wahr. Das Zimmer ging auf einen Hof mit verkrüppelten Fliederbüschen und Kehrrichttonen, in diesem Hofe klopften die Hausfrauen die Teppiche aus, führten ihr Hündinen, wenn sie läufig waren herunter, das Kinderspielen hat der Hausherr verboten, weil sie ihm mal den Flieder gestohlen hatten und ohne Rücksicht auf eine sterbende böse Großmutter Niedermeyer im ersten Stock johlten und schrien, wie besessen. Sie spielten Verbrecher und Gendarm, jeder wollte Verbrecher sein, keiner Polizist. Ein Psychoanalytiker hatte Charlotte mal gesagt, das Bild von der Landschaft, die es nie gab, sei so ne sexuelle Sache. Er wollte ihr das alles erklären, weil er mit ihr schlafen wollte. Charlotte wollte ja auch, und sie dachte sich die ganze Zeit, wenn er nur schon mal das Quatschen aufhören würde und los ginge -- und er dachte, derweilen dass -- und quatschte. Am Schluss wurde aber dann doch nichts daraus, weil alle Bänke am Kinderspielplatz besetzt waren. Es war ein verpatzter Abend. Das war drei Tage vor Kriegsende, aber wir wollen doch lieber alles der Reihe nach erzählen. Also, es gab Krieg. Krieg ist Krieg, und Charlottes Vater wurde Soldat und sie bekam mit Schwestern, Militärärzten und Sanitätern, Verwundeten, alles aus Zinn zum spielen. Sie hätte lieber Soldaten gehabt, und zum erstenmale kam ihr der Gedanke, warum sie kein Junge sei. Bis dato hasste sie die Jungen, aber jetzt kam sie sich plötzlich ganz minderwertig vor. Die Leute zogen vor das Gebäude der Öster.-Ung. Gesandschaft sangen Gotterhalte und das Deutsch-landlied. Es war ein riesiger Rausch. Der Vater sagte: Serbien muss sterbien, Viel Feind, viel Ehr, er sei in drei Wochen wieder aus Paris zurück , aber in vier Wochen war er tot. Charlotte fühlte sich stolz einen Vater am Felde der Ehre verloren zu haben. Die anderen Mädels blickten voll Neid auf sie. Die Lehrerin in der Schule hat sie belobt und nicht beschimpft, weil sie ihre Schulaufgabe nicht richtig wusste. Sie durfte sogar früher nach Hause gehen. Sie hatte das Gefühl, alle Leute weichen ihr aus, man sieht es ihr direkt an, dass sie einen Vater dem Vaterlande gegeben hat, und das stand ihr gut. Die anderen Mädeln waren aber nicht faul und bald fiel der Bruder der einen, der Vater der anderen und einer sogar Vater und Bruder. In der Schule erblindeten zwei Väter, fünfe verloren ein Bein, sechs den Arm, vier hatten Nervenschocks, sieben fieB

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SchlagsahneN ] ] B N] Bist f wahr.N ] Bböse f NiedermeyerN ]

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PsychoanalytikerN ] so neN ]

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Serbien f Ehr,N ] ] Bwieder ausN ] BzurückN ] B N

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korrigiert aus: Schlagsahne. [gelben,] [, dunklen] [kann alles nicht stimmen.] |ist f wahr.| (1) alte Frau (2) \böse f [Müller] |Niedermeyer|/ korrigiert aus: Psychoanalitiker (1) eine (2) so ne [im Englischen Garten] [|in den Anlagen|] |am Kinderspielplatz| [Zinnsoldaten] Verwundeten[.]|,| \alles f spielen./ (1) sagte, (2) sagte\:/ \Serbien [und] muss sterbien, Viel Feind, viel Ehr,/ gestrichen: \drei/ [in] |wieder aus| \zurück/

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ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K1/TS7 (Korrekturschicht)

Lesetext

len, zwanzig gerieten in Kriegsgefangenschaft und einer ist desertiert. Der hernach noch sitzt. Das Reichswehrministerium war aber dagegen. Er ist nach Holland und es war eine Hausdurchsuchung. Das Mädel ist bei der Prüfung durchgefallen. In München landete angeblich ein französisches Kriegsflugzeug, das vergiftete die Brunnen, alle Staaten erklärten einander den Krieg das Kafè Fahrig wurde zertrümmert, weil an einem Tische ein bodenlos unrasierter Mann sass, der für einen Serben gehalten wurde, eine dicke alte Nonne wurde fast erschlagen, weil man dachte, sie sei ein verkleidet Mann, ein Spion. Aber sie wehrte sich so, dass die Fetzen flogen. „Sakrament“ fluchte die Nonne „heilige Muttergottes! Ich ein Spion? Ihr Hunde, ich bin eine Deutsche, wie Ihr, Ihr Hunde!“ Aber der Krieg dauerte immer länger, es kam das erste Weihnachten im Feld. Die Presse schrieb begeistert über das deutsche Christkind, das französische Christkind es gab auch unzählige Marien auch ein schaumburg-lippisches Christkind. Zu dieser Zeit sass ein einsamer einfacher Mensch in der Schweiz und schrieb Aufsätze über Aufsätze, der einzige, der den Kopf nicht hängen liess. Lenin. Verlacht und verspottet. Es wusste niemand in Deutschland, ausser Berufspolitikern etwas von der Existenz dieses Fanatikers. Die Sachlichen zogen frisch fröhlich in das Stahlbad, der Fanatiker verfolgte diesen realpolitischen Wahnsinn mit scharfem Auge, bereit mit allen Mitteln zuzuschlagen, wie immer auch. Am Anfang war die Tat, sagte Goethe und schrieb den Faust. Am Anfang war das Wort, sagt Wilhelm der Zweite, und führte uns herrlichen Zeiten entgegen. Am Anfang war, das kümmert mich nicht, sagt Lenin. Jetzt kommt die Tat oder das Wort. Ich bin, sagt Lenin. Ich lebe. Charlottes Mutter war aber gar nicht so patriotisch, wie ihre Tochter. Sie sass be kümmert, sie sah nun das Ende kommen, den Zusammenbruch ihres Geschäftes. Mit Rücksichtslosigkeit richtet die Rationalisierung der Wirtschaft den Laden zu Grunde. Zuerst kam eine Bank hinein, dann eine Metzgerei. Die Mutter wurde immer schwächer und kränker, sie musste eine Stellung annehmen im zweiten Kriegsjahr. Die Zigaretten wurden immer schlechter, die Zigarren hiessen Deutsche Keule, Eindenburg, Tannenberg, Ludendorf , all das richtete sie zu Grunde. Sie nahm eine Stellung an in einem Lebensmittelgeschäft, bald gab es aber auch keine Lebensmittel mehr, sie wurde entlassen und bekam pro Monat 15 Mark, für dafür, dass ihr Mann im Krieg fiel. Sie hat ihren Mann gegen Raten verkauft, mit einer monatlichen Abzahlung mit 15 Mark. B

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Der f dagegen.N ] KafèN ] BbegeistertN ] Büber f Christkind.N ] BeinN ] BZuN ] BverfolgteN ] Bund f entgegen.N ] BAmN ] BIch f lebe.N ] Bdie f WirtschaftN ]

1–2 5 12 12–13 13 14 18 21 21 22–23 26

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WirtschaftN ] LudendorfN ] BMonatN ] B

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\Der f dagegen./ Kaf[e]|è| korrigiert aus: begeistert, \über f Christkind./ korrigiert aus: eine korrigiert aus: zu korrigiert aus: voerfolgte \und führt uns [{herrligen}] |herrlichen| Zeiten entgegen./ korrigiert aus: am \Ich f lebe./ (1) das Grosskapital (2) die f Wirtschaft korrigiert aus: Wirtschaft. gemeint ist: Ludendorff (1) Jahr (2) Monat

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ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 8

Fragmentarische Fassung

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K1/TS7 (Korrekturschicht)

Lesetext

Es ging ihr immer schlechter. Charlotte konnte nun nichtmehr Lehrerin werden, sie wurde auch Verkäuferin, dann später kam sie in die Lehre zu einer Kellnerin. Das war eine dicke Frau, die im Krieg dreissig Pfund abgenommen hat, und froh war darüber. In dem Lokal verkehrten viele Soldaten. Einmal kam ein trauriger Soldat und setzte sich, hat sich besoffen, und sang das Lied: Ja, nimmt denn das Elend schon gar kein End .... bald erschien eine Patrouille und nahm ihn mit. Er hatte sich gedrückt. Sie haben ihn verprügelt. Und später standesrechtlich erschossen. Die Kriegslust wurde immer schwächer. In der Schule waren nun nurmehr die Kinder der Reichen, die Armen mussten heraus. Diese Reichen wurden zum Jungsturm gezwungen und zur Wehrkraft, sie waren alle begeistert, denn sie spielten gerne Soldaten. Auch ich. Ich erinnere mich an Kurt Eisner, an die Unruhen im Marienplatz. Ein Arbeiter sagte zu mir: „Bürscherl! Willst gegen uns, gelt?“ Und gab mir eine Ohrfeige, ich war ihm nicht bös, ja der Mann hatte recht. Furchtbarer Hass ergriff mich gegen die Polizisten, die auf die Leute einschlugen und ich schämte mich über mich. Ich riss die Kokarde von der Mütze, 1917, versteckte die Mütze. Ein Herr hatte das gesehen und gab mir eine Ohrfeige. Ich spürte den Hass in mir, ich erkannte damals mit vierzehn Jahren den Feind. Wir hatten Übungen in Immenstadt. Waren schwuhl und betrogen die Kellnerin in der Konditorei. Die Soldaten sahen uns schief an, und spuckten aus. Wir sind auf den Stuiben hinaufgehetzt worden, es war sicher gesund, aber das Gesundsein war hier nur Mittel zum  Zweck. Charlotte war in der ersten Zeit Eisverkäuferin. Sie stand im Dienste eines alten blonden Mannes, der sie auch entjungferte. Sie hätte sonst diese Stelle nie bekommen. Wir kauften bei ihr Eis und waren zwar nicht verliebt, aber wir markierten alle die Liebe. „Solche Kerle werden alle Verbrecher“ hatte der Lehrer gesagt, „Die ganze Generation.“ Die Generation vor uns starb, es war nicht unsere Schuld, also ging es uns nichts an. Heute beisst es die Jüngsten und die Ältesten. Wir hörten von phantastischen Orgien der Offiziere, ein Schulkamerad von mir hatte einen Bruder, der war Leutnant und von dem erzählte er uns immer phantastische Geschichten. Von besonders raffinierten Französinen und Belgierinen und verhaltenen Russinen. Wir kannten sie alle, wie sie lieben. In der Nähe unserer Schule war ein Weinlokal und da verkehrte die Mannschaft, am Tage war es finster und abends drang ein mysteriöser Schein heraus. Es hiess man könne sie haben für einige Mark. Einer ist hinein und hat uns dann alles erzählt. Ich bin auch hinein. Das Mädel in Innsbruck , der Bauer als Soldat im Zimmer, der Operationsstuhl. Wir waren dreizehn Jahre alt. Wurden vierzehn. Und das Verhältnis zu Charlotte wurde immer eindeutiger. Ich ging mal mit ihr spazieren, es war Nacht und sternenB

N

B

10

B

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5–6 7 12 27 31 31 32 33 36 37

hat f End ....N ] Und f erschossen.N ] BEinN ] Bstarb,N ] Bbesonders raffiniertenN ] BraffiniertenN ] BverhaltenenN ] BamN ] Bin InnsbruckN ] BOperationsstuhl.N ] B B

N

N

N

\hat f End ..../ \Und später [erschossen. Standes] |standesrechtlich erschossen.|/ korrigiert aus: Eine starb [und] |,| \besonders raffinierten/ korrigiert aus: raffiniert \verhaltenen/ korrigiert aus: a m \in Innsbruck/ korrigiert aus: Operationsstuhl

70

ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 9

Fragmentarische Fassung

K1/TS7 (Korrekturschicht)

klar. „Wieso,“ hab ich gesagt, „bist Du entjungert worden?“ An diesem abend fielen viele an den Fronten, es wurde eine grosse Schlacht geschlagen. Wir wechselten die Stimme während des Kanonendonners, wir waren in der Pubertät. Das Weltschmerzliche ging auch uns an, aber wir überwanden es bald. Ringsumher war alles dreck, und das Erwachen unserer Gefühle kam uns komisch vor. Wir waren nichtmehr der Mittelpunkt. Wir höhnten, gingen unter oder überwanden, es gab nur dieses beide. Ein ausweichen gab es für uns nicht. Nur die Reichen , die spürten genau so, nur, dass sie später erkannten, dass ihr Vorteil in der Betonung des Persönlichen liegt. Zu all diesen Problemen hatte ein Mädel, wie Charlotte, keine Zeit. Die reichen Weiber stellten sich solche Probleme, aber wenn sie über so etwas nachdachte, hiess es sofort sie sei faul, während die reichen Weiber sich behandeln liessen. Ab ihrem dreizehnten Jahre hatte sie keine Zeit bis zu ihrem zwanzigsten. Dann war sie zwei Jahre arbeitslos. Aber sie hat ihre Ansichten nicht geändert, nur verhärtert. Ihre Mutter war auch gestorben und Charlotte stand allein auf der Welt. Ihre Mutter starb vor dem Krieg, sie hatte zuviel Kunsthonig gegessen und starb an Vergiftung. Die Fälle wurden seinerzeit verschwiegen, um die Begeisterung über den Kunsthonig nicht zu beeinträchtigen. B

5

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BN

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B

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Lesetext

B

1 7 7 13 18

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„Wieso f worden?“N ] \„Wieso f worden?“/ ] Korrektur von fremder Hand: [die Dummen,] BReichenN ] Korrektur von fremder Hand: [R]|R|eichen BJahreN ] korrigiert aus: jahre Bnicht f beeinträchtigen.N ] [nicht] nicht f beeinträchtigen. | | B

B N

71

Fragmentarische Fassung

5

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30

K1/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Dass die Stadt München vom Herrn Herzog Heinrich dem BLöwenN gegründet worden war, das habe ich seinerzeit in der Schule nicht gewusst und da hat sich unser lieber Studienrat sehr gefreut, weil er Sadist war. Ich wusste zwar, wer die Stadt Rom gegründet hat, aber ich erinnere mich noch genau, wie mir das nichts nützte, weil wir B damalsN in München wohnten. In der Schellingstrasse. Die Schellingstrasse ist gross. Als ich noch ganz klein war, fürchtete ich, sie wäre endlos, aber je länger ich wurde, umso kürzer wurde sie. Ohne sie zu unterschätzen darf ich heute sagen, dass sie B N anderthalb Kilometer Bmisst.N Dort wo sie BendetN wurde in einem langweiligem gelben Hause Bdie Heldin dieses B RomansN N geboren, ungefähr zu derselben Zeit wie ich und auch unter einem verwandten Stern, obwohl man darauf nichts geben soll. B N BSie heisstN BCharlotte.N B N BIch denke nicht daran, über Charlotte nun irgendetwas zusammenzuphantasieren. Statt einer Einleitung muss betonen, B N N BichN will es mir nicht so leicht machen, denn dazu bin ich zu eitel, ich will lediglich alles demütig aufzeichnen, was sich um Charlotte herum ereignet hat -- wobei ich gleich betonen möchte, dass Charlotte noch lebt und wahrscheinlich noch einige Jahre leben wird und erst 25 Jahre alt ist, so, dass ich also freilich nicht bis zum Schluss, wie man so sagt, ein Menschenschicksal geben will, ich will vielmehr die Person Charlottes genau so demütig behandeln, indem ich sie nicht in den Mittelpunkt stelle, sie ist gewissermassen nur der Titel, weil es ohne Titel keinen Roman gibt. Ich habe es Charlotte erklärt, dass ich es mir verbitte, dass sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt und sie hat gesagt, ich solle nicht so blöd daherre-den, das ist doch alles selbstverständlich. Sie hatte sich nur einmal eingebildet, Mittelpunkt zu sein, damals wollte sie zum Film, aber sie hätte fast ein Kind B bekommen. --N Fünf Jahre waren Charlottes Eltern bereits verheiratet, bevor sie kam. Der Vater war ein biederer braver ungebildeter Zigarettengeschäftsinhaber, der einen geheimen Respekt vor dem Reichtum hatte, der sich darin offenbarte, dass er die teueren Sorten hochdeutsch anpries, je billiger sie wurden, umso mehr sprach er Dialekt. Er schimpfte dabei auf die sehr Reichen, besonders die reichen Frauen. Unter Damen verstand er eigentlich Huren, das hatte seinen Grund in einem Bfrühen BErlebnisN!N Ein Jugend-

1 5 8 8 9 9–10 10 11 11 11 11

B

LöwenN ] damalsN ] B N] Bmisst.N ] BendetN ] Bdie f RomansN ] BRomansN ] B N] BSie heisstN ] BCharlotte.N ] B N]

11–13

B

13 13 24 30 30

B N

B

Ich f betonen,N ]

] ichN ] Bbekommen. --N ] Bfrühen ErlebnisN ] BErlebnis!N ] B

[Berberl]|L|öwen \damals/ [knapp] [|{misst}|] [lang ist.] |misst.| [aufhört, in der Nähe der Endhaltestelle der Linie sieben, dort] |endet| [Charlotte] |die f Romans| korrigiert aus: Romans; Absatz vom Autor getilgt

\Sie heisst/ korrigiert aus: Charlotte [wurde später Kellnerin und desshalb ist sie die Heldin dieses Romans, wobei ich] ![s]|S|tatt1 einer{2} Einleitung3 betonen5 muss4," ![i]|I|ch nicht{2} daran{3} denke,1 über f zusammenzuphantasieren." gestrichen: dass korrigiert aus: Ich korrigiert aus: bekommen.-\frühen/ [Jugende]|E|rlebnis Erlebnis[,]|!| [das er unzähligemale erzählte.]

72

ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 2

ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K1/TS8 (Korrekturschicht)

freund , der schöne Franz , verliebte sich nämlich in eine alte Gräfin und liess sich von ihr aushalten, er führte ein flottes Leben, aber eines Tages kündigte ihm die Gräfin, weil er fertig war, wie ein heiliger Indianer, und dann hatte er wieder nichts. Er konnte sich in das Nichts nichtmehr gewöhnen und hat harte Zeiten durchgemacht . Zuerst liess er sich von gewerbsmässigen Huren aushalten und dann heiratete er ein junges Mädel in Ostpreussen, wohin er fliehen musste. Das junge Mädel bekam eine Unterleibserkrankung und starb im Wochenbett, und der Kerl hat nun ein Geschäft. Sic transit gloria mundi. Die Mutter Charlottes war brav und ungebildet eine schwermütige Frau mit fettigem Haar. Sie sass immer schon gerne am Fenster, sie hatte sehr jung geheiratet, ohne richtige Vorstellung von Mann, nur mit der Sehnsucht eines Kindes eines Postassistenten und einer Kolonialwarenhändlerstochter. Sie war ihrem Mann treu, bis auf ein einzigesmal. BN

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N B

N B

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Lesetext

B

1 1 1 1 4–5 5 8 8 9 10

] derN ] BschöneN ] BFranzN ] Bhat f durchgemachtN ] BgewerbsmässigenN ] B N B

Geschäft.N ] Sic f mundi.N ] Bbrav f ungebildetN ] Bimmer f gerneN ] B B

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N

[von ihm] [ein] |der| schöne[r] [Bursche] |Franz| [ist verkommen] |hat f durchgemacht| (1) richtigen (2) \gewerbsmässigen/ Geschäft[, das Schwein]. \Sic f mundi./ \brav f ungebildet/ (1) oft (2) immer f gerne

73

Fragmentarische Fassung

5

10

15

20

K1/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Dass die Stadt München vom Herrn Herzog Heinrich dem Löwen gegründet worden war, das habe ich seinerzeit in der Schule nicht gewusst und da hat sich unser lieber Studienrat sehr gefreut, weil er Sadist war. Ich wusste zwar, wer die Stadt Rom gegründet hat, aber ich erinnere mich noch genau, wie mir das nichts nützte, weil wir damals in München wohnten. In der Schellingstrasse. Die Schellingstrasse ist gross. Als ich gehen lernte, befürchtete ich, sie wäre endlos, aber je länger ich wurde, umso kürzer wurde sie. Ohne sie zu unterschätzen darf ich heute sagen, dass sie anderthalb Kilometer misst. Dort wo sie endet wurde in einem langweiligen gelben Hause die Heldin dieses Romanes BgezeugtN, ungefähr zu derselben Zeit wie ich und auch unter einem verwandten Stern, obwohl man darauf nichts geben soll. Sie heisst Charlotte. Ich denke natürlich nicht daran über Charlotte nun irgendetwas zusammenzuphantasieren, ich betone vielmehr statt einer Einleitung, dass ich es mir nicht so leicht machen will, denn dazu bin ich zu eitel -- ich will nur demütig registrieren unter dem Titel Charlotte. Ich habe Charlotte erklärt, dass ich es mir verbitte, dass sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt und sie hat gesagt, ich solle nicht so blöd daherreden, das ist doch alles selbstverständlich. Sie hatte sich nur einmal eingebildet Mittelpunkt zu sein, damals wollte sie filmen, aber sie hätte fast ein Kind bekommen. BSie will gar nicht daran denken. Sie hat genug zu tun und man weiss nicht was kommt.N Als Charlotte noch ungeboren war und, sofern man an eine persönliche Seele glaubt, entweder als ewiger Säugling auf Seerosen sass und sich von elyseischen Störchen füttern liess oder als apokalyptischer Verbrecher durch Milliarden Lichtjahre fiel, um kopfüber auf \Textverlust\

10 18–19

B B

gezeugtN ] Sie f kommt.N ]

[geboren] |gezeugt| \Sie f kommt./

74

ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

5

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40

K1/TS10 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Als Charlotte nun endlich geboren wurde, war es Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. In den nahen Alpen ist es still geworden, die Luft stand unheimlich klar und abends zog der Nebel über die schwarzen Teiche und den Wald. Im Kaisergebirge bei Kuftstein durchkletterte am selben Tage der berühmte Alpinist Paul Preuss die ausserordentlich schwierige Nordwestwand des Totenkirchls. Er war der beste Kletterer und ist desshalb tötlich abgestürzt, als Charlotte vier Jahre alt war. Damals hatte sie keine Ahnung von Himmelsrichtungen, geschweige denn von Nordwestwänden. Sie hatte ja noch nie einen Berg gesehen, lebte nur für ihre unzerbrechliche Puppe und betete vor dem Einschlafen. Sie wusste zwar nicht, was sie daherplapperte, und hätte es auch wahrscheinlich gar nicht begriffen, dass sie ein sündiger Mensch sei. Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie mit ungewaschenen Fingern in die Butter griff, was ihr wohl tat, dass sie verzweifelte wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und dem Hündchen Pepperl auf die Schnauze küsste. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass Gott der Allgütige der kleinen Charlotte nicht nur verziehen, sondern sie ganz besonders liebgewonnen hatte, denn mit acht Jahren wollte er sie zu sich nehmen. Sie bekam nämlich Dyphteritis, aber der schlechte Mensch Doktor Müller hat B N über die göttlichen Finger geschlagen. „Au!“ zischte Gott und zog seine Pfoten hurtig zurück. „Mein Gott!“ seufzte der Gerechte „jetzt erfinden sie sogar schon Serums! sind die Leut dumm! In dem heutigen Zeitalter hat sie es jedoch nicht gut, als einzelne Jetzt gibt es schon keine Cholera, keinen Aussatz, keine Lepra in zivilisierten Gegenden. Nur gut, dass sie die  Syphilis nicht ganz heilen können.“ Ein langer finsterer Engel beugte sich stumm über Gott und nahm sein heroisches Antlitz herab wie eine Maske -- in einer einzigen verfaulten Wunde wälzten sich fette weisse Würmer. Gott nickte. Und Gott sprach: Es werde Weltkrieg! Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war. Als der Weltkrieg ausbrach war Charlotte BachtN Jahre alt. An die Zeit vor 1914  kann sie sich nichtmehr erinnern. Ihr Leben beginnt mit der Kriegserklärung. Wenn sie nachdenkt: was war denn, wie ich noch ganz klein war? -- so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draussen scheint die Sonne, aber kein Strahl fällt in das Zimmer. Sie hatte das Gefühl als wäre das Zimmer ungeheuer hoch über der Erde, derweil war es doch nur der dritte Stock. Und dann weiss sie, dass wenn sie zum Fenster träte draussen tief unten in der Ferne ein breiter Fluss fliessen würde, lautlos fährt ein Zug über die Brücke in eine grosse graue Ebene. Am Horizont steht der abend mit violetten Wolken. Aber das ist ja alles nicht wahr.

20 32

] achtN ]

B N B

[mit einer feinen Injektionsspr[o]|i|tze scharf] [zehn] |acht|

75

ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 5

ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 6

ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

5

K1/TS11 (Korrekturschicht)

Lesetext

 Es war die Zeit der Wiedererstarkung. Deutschland sass im Völkerbund und hatte B einenN ständigen Ratsitz. Als ich Charlotte das letztemal sah, sagte sie, sie BfährtN über Ostern auf das Land. Sie hatt eine Stellung bekommen als Aushilfskellnerin in eienem Landhotel. An einem See. Am Rande der weissblauen Kalkalpen. Ich habe sie nur ganz flüchtig gesprochen.

2 2

B B

einenN ] fährtN ]

korrigiert aus: ein

[will] |fährt|

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ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 8

Fragmentarische Fassung

5

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35

40

K1/TS13/A1 (Grundschicht)

Lesetext

 Dass die Stadt München vom Herrn Herzog Heinrich dem Löwen gegründet worden war, das habe ich seinerzeit in der Schule nicht gewusst und da hat sich unser lieber Herr Studienrat sehr gefreut, weil er BeinN Sadist war. Ich wusste zwar, wer die Stadt Rom gegründet hat, aber ich erinnere mich noch genau, wie mir das nichts nützte, weil wir damals in München wohnten. In der Schellingstrasse. Die Schellingstrasse ist gross. Als ich gehen lernte, befürchtete ich, sie wäre endlos, aber je länger ich wurde, umso kürzer wurde sie. Ohne sie zu unterschätzen darf ich heute sagen, dass sie anderthalb Kilometer misst. Dort wo sie endet wurde in einem langweiligen gelben BHauseN die Heldin dieses Romanes BgezeugtN und geboren, ungefähr zu derselben Zeit wie ich und auch unter einem verwandten Stern, obwohl man darauf nichts geben soll. Sie heisst Charlotte. Ich denke natürlich nicht daran über Charlotte nun irgendetwas zusammenzuphantasieren, ich betone vielmehr statt einer Einleitung, dass ich es mir nicht so leicht machen will, denn dazu bin ich BzuN eitel -- ich will nur demütig registrieren unter dem Titel Charlotte. Ich habe Charlotte erklärt, dass ich es mir verbitte, dass sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt und sie hat gesagt, ich solle nicht so blöd daherreden, das ist doch alles selbstverständlich. Sie hatte sich nur einmal eingebildet Mittelpunkt zu sein, BdamalsN wollte sie filmen, aber sie hätte fast ein Kind bekommen. Sie will gar nicht daran denken. Sie hat genug zu denken und man weiss nicht was kommt. Als Charlotte das Licht der Welt erblickte war es natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. In den nahen Alpen ist es still geworden, die Luft stand unheimlich klar und abends zog der Nebel über die schwarzen Teiche und den Wald. Im Kaisergebirge bei Kufstein durchkletterte am selben morgen der berühmte Alpinist Paul Preuss die ausserordentlich schwierige Nordwestwand des Totenkirchls. Er war der BbesteN Kletterer und hat sich auch zu Tode gestürzt als Charlotte vier Jahre alt war. Damals  hatte sie noch keine Ahnung von Himmelsrichtungen, geschweige denn von Nordwestwänden. Sie hatte ja noch nie einen Berg gesehen, lebte nur für ihre unzerbrechliche Puppe und betete vor dem Einschlafen. Sie wusste zwar nicht, was sie daherplapperte, und hätte es auch wahrscheinlich gar nicht begriffen, dass sie ein sündiger Mensch sei. Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie mit ungewaschenen Fingern in die Butter griff, was ihr wohl tat, dass sie verzweifelte wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und dem Hündchen Pepperl auf die Schnauze küsste. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik BbegreifenN zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass Gott der Allgütige der kleinen Charlotte nicht nur verziehen, sondern sie BganzN besonders liebgewonnen hatte, denn mit B sechsN Jahren wollte er sie zu sich nehmen. Sie bekam nämlich Dyphteritis, aber der schlechte Mensch Doktor Müller hat mit einer feinen Injektionsspritze scharf über 3 9 10 14 18 27 36 38 39

einN ] HauseN ] BgezeugtN ] BzuN ] BdamalsN ] BbesteN ] BbegreifenN ] BganzN ] BsechsN ] B B

\ein/ H[u]|a|use gezeu[i]gt [{u}]|z|u [s]|d|ama[,]|l|[l]|s| korrigiert aus: besste be[f]|g|reifen [h]|g|anz [acht] |sechs|

77

ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 1

ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

Lesetext

die göttlichen Finger geschlagen. „Au!“ zischte Gott und zog seine Pfoten hurtig zurück. „Mein Gott!“ seufzte der Gerechte „jetzt erfinden sie sogar schon Serums! Jetzt gibt es schon keine Cholera, keinen Aussatz, keine Lepra in zivilisierten Gegenden. Nur gut, dass sie die Syphilis nicht ganz heilen können. Besonders die Späterkrankungen, zum Beispiel Paralyse.“ Ein langer finsterer Engel mit einer heroischen Maske beugte sich stumm über Gott, wie ein väterlicher Höfling über einen minderjährigen Herrscher. Und Gott sprach: „Richtig! Es werde Weltkrieg!“ Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war. \Abbruch der Bearbeitung\ B

5

K1/TS13/A1 (Grundschicht)

N

B

B

N

B

3 6 7 8

Cholera,N ] MaskeN ] BGott,N ] B„Richtig!N ]

N

B

korrigiert aus: Cholera

B

Ma[{ }]|s|ke korrigiert aus: Gott , [Es] |„Richtig!|

78

,

N

Fragmentarische Fassung



5

B

Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula Haringer Ostern 1926

15

Lesetext

N

ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 1

Dass die Stadt München vom Herrn Herzog Heinrich dem Löwen gegründet worden war, das habe ich seinerzeit in der Schule nicht gewusst und da hat sich unser lieber Herr Studienrat sehr gefreut, weil er ein Sadist war. Ich wusste zwar, wer die Stadt Rom gegründet hatte , aber ich erinnere mich noch genau, wie mir das nichts nützte, weil wir damals in München wohnten. In der Schellingstrasse. Die Schellingstrasse ist gross. Als ich gehen lernte, befürchtete ich, sie wäre endlos, aber je länger ich wurde, umso kürzer wurde sie. Ohne sie zu unterschätzen darf ich heute sagen, dass sie anderthalb Kilometer misst. Dort wo sie endet wurde in einem langweiligen gelben Hause die Heldin dieses Romanes gezeugt und geboren, ungefähr zu derselben Zeit wie ich und auch unter einem verwandten Stern, obwohl man darauf nichts geben soll. Sie heisst Charlotte. Ich denke natürlich nicht daran über Charlotte nun irgendetwas zusammenzuphantasieren, ich fühle mich vielmehr verpflichtet statt einer Einleitung zu betonen , dass ich es mir nicht so leicht machen will, denn dazu bin ich zu eitel -- ich will vielmehr demütig gewissermassen registrieren, nur unter dem Titel Agnes . Ich habe Charlotte erklärt, dass ich es mir verbitte, dass sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt und sie hat gesagt, ich solle nicht so blöd daherreden, das ist doch alles selbstverständlich. Sie hatte sich nur einmal eingebildet Mittelpunkt zu sein, damals wollte sie filmen, aber sie hätte fast ein Kind bekommen. Sie will gar nicht daran denken. Sie hat genug zu denken und man weiss nicht was kommt. Als Charlotte das Licht der Welt erblickte war es natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. In den nahen Alpen ist es still geworden, die Luft stand unheimlich klar und abends zog der Nebel über die schwarzen Teiche und den Wald. Damals war Bayern noch Königreich. Im Kaisergebirge bei Kufstein durchkletterte am selben morgen der berühmte Alpinist Paul Preuss die ausserordentlich schwierige Nordwestwand des Totenkirchls. Er war der beste Kletterer und hat sich auch zu Tode gestürzt als Charlotte vier Jahre alt war. Damals  hatte sie noch keine Ahnung von Himmelsrichtungen, geschweige denn von Nordwestwänden. Sie hatte ja noch nie einen Berg gesehen, lebte nur für ihre unzerbrechliche Puppe und betete vor dem Einschlafen. Sie wusste zwar nicht, was sie daherplapperte, und hat es auch gar nicht begriffen, warum sie ein sündiger Mensch sei. Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie mit ungewascheB

10

K1/TS13/A2 (Korrekturschicht)

N

B

N

B

N

B

N

B

20

25

N

B

N B

N B

B

N

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N

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1 6 15 15 15–16 17 17 17 17 17 26 27 29 33 33 33

Die f 1926N ] hatteN ] Bfühle michN ] BverpflichtetN ] Bzu betonenN ] BvielmehrN ] BgewissermassenN ] Bregistrieren,N ] BnurN ] BAgnesN ] BDamals f Königreich.N ] B N] BbesteN ] BhatN ] B N] BwarumN ] B B

N

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[Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula] |Die f 1926| hat\te/ [betone] |fühle mich| \verpflichtet/ \zu betonen/ [nur] |vielmehr| [\u/]|gewissermassen| registrieren\,/ [\gewissermassen/] |nur| [Charlotte] |Agnes| \Damals f Königreich./ [\Damals/] korrigiert aus: besste h[ä]|a|t[te] [wahrscheinlich] [dass] |warum|

79

B

N

ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

10

K1/TS13/A2 (Korrekturschicht)

nen Fingern in die Butter griff, was ihr wohl tat, dass sie verzweifelte wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und dem Hündchen Pepperl auf die Schnauze küsste. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass Gott der Allgütige der kleinen Lotte nicht nur verziehen, sondern sie ganz besonders liebgewonnen hatte, denn mit sechs Jahren wollte er sie zu sich nehmen. Sie bekam nämlich Dyphteritis, aber der schlechte Mensch Doktor Müller hat mit einer feinen Injektionsspritze scharf über die göttlichen Finger geschlagen. „Au!“ zischte Gott und zog seine Pfoten hurtig zurück. „Mein Gott!“ seufzte der Gerechte „jetzt erfinden sie sogar schon Serums! Jetzt gibt es schon keine Cholera, keinen Aussatz, keine Lepra in zivilisierten Gegenden. Nur gut, dass sie die Syphilis nicht ganz heilen können. Besonders die Späterkrankungen, zum Beispiel Paralyse. Und auch die Tuberkulose – aber das mit der künstlichen Höhensonne will mir schon gar nicht gefallen. Wie war nur die letzte Statistik? Und dann hängen sie überall Plakate auf, dass man nicht so herumspucken soll, wirklich, die Leut werden zu frech. Wenn das so weitergeht, na Servus! Höchste Zeit, dass was geschieht!“ Und Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“ B

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Lesetext

N B

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N

N

5 11 13 13–17

B

[Charl]|L|otte

B

korrigiert aus: Cholera

15 16

B N

LotteN ] Cholera,N ] BParalyse.N ] BUnd f Weltkrieg!“N ]

B

] frech.N ]

, Paralyse.[“] (1) Ein langer finsterer Engel mit einer heroischen Maske beugte sich stumm über Gott, wie ein väterlicher Höfling über \s/einen minderjährigen [Herrscher] |Kaiser|. Und Gott sprach: „Richtig! Es werde Weltkrieg!“ Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war. (2) Und f Weltkrieg!“ [Rückgang?] frech[!]|.|

80

Fragmentarische Fassung



5

B

Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula Haringer Ostern 1926

15

Lesetext

N

ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 1

Dass die Stadt München vom Herrn Herzog Heinrich dem Löwen gegründet worden war, das habe ich seinerzeit in der Schule nicht gewusst und da hat sich unser lieber Herr Studienrat sehr gefreut, weil er ein Sadist war. Ich wusste zwar, wer die Stadt Rom gegründet hatte , aber ich erinnere mich noch genau, wie mir das nichts nützte, weil wir damals in München wohnten. In der Schellingstrasse. Die Schellingstrasse ist gross. Als ich gehen lernte, befürchtete ich, sie wäre endlos, aber je länger ich wurde, umso kürzer wurde sie. Ohne sie zu unterschätzen darf ich heute sagen, dass sie anderthalb Kilometer misst. Dort wo sie endet wurde in einem langweiligen gelben Hause die Heldin dieses Romanes gezeugt und geboren, ungefähr zu derselben Zeit wie ich und auch unter einem verwandten Stern, obwohl man darauf nichts geben soll. Sie heisst Charlotte. Ich denke natürlich nicht daran über Charlotte nun irgendetwas zusammenzuphantasieren, ich fühle mich vielmehr verpflichtet statt einer Einleitung zu betonen , dass ich es mir nicht so leicht machen will, denn dazu bin ich zu eitel -- ich will vielmehr demütig gewissermassen registrieren, nur unter dem Titel Agnes . Ich habe Charlotte erklärt, dass ich es mir verbitte, dass sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt und sie hat gesagt, ich solle nicht so blöd daherreden, das ist doch alles selbstverständlich. Sie hatte sich nur einmal eingebildet Mittelpunkt zu sein, damals wollte sie filmen, aber sie hätte fast ein Kind bekommen. Sie will gar nicht daran denken. Sie hat genug zu denken und man weiss nicht was kommt. Als Charlotte das Licht der Welt erblickte war es natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. In den nahen Alpen ist es still geworden, die Luft stand unheimlich klar und abends zog der Nebel über die schwarzen Teiche und den Wald. Damals war Bayern noch Königreich. Im Kaisergebirge bei Kufstein durchkletterte am selben morgen der berühmte Alpinist Paul Preuss die ausserordentlich schwierige Nordwestwand des Totenkirchls. Er war der beste Kletterer und hat sich auch zu Tode gestürzt als Charlotte vier Jahre alt war. Damals  hatte sie noch keine Ahnung von Himmelsrichtungen, geschweige denn von Nordwestwänden. Sie hatte ja noch nie einen Berg gesehen, lebte nur für ihre unzerbrechliche Puppe und betete vor dem Einschlafen. Sie wusste zwar nicht, was sie daherplapperte, und hat es auch gar nicht begriffen, warum sie ein sündiger Mensch sei. Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie mit ungewascheB

10

K1/TS13/A3 (Korrekturschicht)

N

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B

N

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25

N

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Die f 1926N ] hatteN ] Bfühle michN ] BverpflichtetN ] Bzu betonenN ] BvielmehrN ] BgewissermassenN ] Bregistrieren,N ] BnurN ] BAgnesN ] BDamals f Königreich.N ] B N] BbesteN ] BhatN ] B N] BwarumN ] B B

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[Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula] |Die f 1926| hat\te/ [betone] |fühle mich| \verpflichtet/ \zu betonen/ [nur] |vielmehr| [\u/]|gewissermassen| registrieren\,/ [\gewissermassen/] |nur| [Charlotte] |Agnes| \Damals f Königreich./ [\Damals/] korrigiert aus: besste h[ä]|a|t[te] [wahrscheinlich] [dass] |warum|

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K1/TS13/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

nen Fingern in die Butter griff, was ihr wohl tat, dass sie verzweifelte wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und dem Hündchen Pepperl auf die Schnauze küsste. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass Gott der Allgütige der kleinen Lotte nicht nur verziehen, sondern sie ganz besonders liebgewonnen hatte, denn mit sechs Jahren wollte er sie zu sich nehmen. Sie bekam nämlich Dyphteritis, aber der schlechte Mensch Doktor Müller hat mit einer feinen Injektionsspritze scharf über die göttlichen Finger geschlagen. „Au!“ zischte Gott und zog seine Pfoten hurtig zurück. „Mein Gott!“ seufzte der Gerechte „jetzt erfinden sie sogar schon Serums! Jetzt gibt es schon keine Cholera, keinen Aussatz, keine Lepra in zivilisierten Gegenden. Nur gut, dass sie die Syphilis nicht ganz heilen können. Besonders die Späterkrankungen,  zum Beispiel Paralyse. Und auch die Tuberkulose -- aber das mit der künstlichen Höhensonne will mir schon gar nicht gefallen. Wie war nur die letzte Statistik, lieber Erzengel? Was, sie hängen überall Plakate herum, dass man nicht so herumspucken soll? Wirklich, die Leut werden immer frecher. Wenn das so weitergeht, na servus! Höchste Zeit, dass was gschieht!“ Und Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“ Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war. Drei Tage später wurde Charlotte acht Jahre alt. An die Zeit vor 1914 kann sie sich nichtmehr erinnern. Ihr Leben beginnt mit der Kriegserklärung. B

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korrigiert aus: Cholera , (1) zum Beispiel Paralyse.[“]

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Ein langer finsterer Engel mit einer heroischen Maske beugte sich stumm über Gott, wie ein väterlicher Höfling über \s/einen minderjährigen [Herrscher] |Kaiser|. Und Gott sprach: „Richtig! Es werde Weltkrieg!“ Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war. (2) || zum Beispiel Paralyse.[“] Und auch die Tuberkulose – aber das mit der künstlichen Höhensonne will mir schon gar nicht gefallen. Wie war nur die letzte Statistik? [Rückgang?] Und dann hängen sie überall Plakate auf, dass man nicht so herumspucken soll, wirklich, die Leut werden zu frech[!]|.| Wenn das so weitergeht, na Servus! Höchste Zeit, dass was geschieht!“ Und Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“ (3) zum f war. \Drei f Kriegserklärung./

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ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 2

ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung



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K1/TS13/A4 (Korrekturschicht)

Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula Haringer Ostern 1926

Lesetext

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ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 1

Dass die Stadt München vom Herrn Herzog Heinrich dem Löwen gegründet worden war, das habe ich seinerzeit in der Schule nicht gewusst und da hat sich unser lieber Herr Studienrat sehr gefreut, weil er ein Sadist war. Ich wusste zwar, wer die Stadt Rom gegründet hatte , aber ich erinnere mich noch genau, wie mir das nichts nützte, weil wir damals in München wohnten. In der Schellingstrasse. Die Schellingstrasse ist gross. Als ich gehen lernte, befürchtete ich, sie wäre endlos, aber je länger ich wurde, umso kürzer wurde sie. Ohne sie zu unterschätzen darf ich heute sagen, dass sie anderthalb Kilometer misst. Dort wo sie endet wurde in einem langweiligen gelben Hause die Heldin dieses Romanes gezeugt und geboren, ungefähr zu derselben Zeit wie ich und auch unter einem verwandten Stern, obwohl man darauf nichts geben soll. Sie heisst Charlotte. Ich denke natürlich nicht daran über Charlotte nun irgendetwas zusammenzuphantasieren, ich fühle mich vielmehr verpflichtet statt einer Einleitung zu betonen , dass ich es mir nicht so leicht machen will, denn dazu bin ich zu eitel -- ich will vielmehr demütig gewissermassen registrieren, nur unter dem Titel Agnes . Ich habe Charlotte erklärt, dass ich es mir verbitte, dass sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt und sie hat gesagt, ich solle nicht so blöd daherreden, das ist doch alles selbstverständlich. Sie hatte sich nur einmal eingebildet Mittelpunkt zu sein, damals wollte sie filmen, aber sie hätte fast ein Kind bekommen. Sie will gar nicht daran denken. Sie hat genug zu denken und man weiss nicht was kommt. Als Charlotte das Licht der Welt erblickte war es natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. In den nahen Alpen ist es still geworden, die Luft stand unheimlich klar und abends zog der Nebel über die schwarzen Teiche und den Wald. Damals war Bayern noch Königreich.

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Der König Otto war allerdings verrückt und infolgedessen regierte der gute alte Prinzregent Luitpold. Er rauchte schwere Zigarren, liebte seine Briefmarken, hasste die Hohenzollern, förderte Kunst, Kitsch und Wissenschaft, sprach nie nach der Schrift, badete in Bergseen, schoss Gemsen, Auer- und Spielhähne, Böcke und Murmeltiere, lief mit jeder Prozession, betete vierzig Stunden, schlief bei der Suppe ein und wachte beim Käse auf, vergass, dass er essen wollte, erinnerte sich noch gut an achtundvierzig, spielte Sechsundsechzig, wusch zwölf Aposteln die Füsse, schlug Familienmitglieder zu Rittern, liess sich von Kinderhand Alpenrosen und Edelweiss 1 6 15 15 15–16 17 17 17 17 17 26 27

Die f 1926N ] hatteN ] Bfühle michN ] BverpflichtetN ] Bzu betonenN ] BvielmehrN ] BgewissermassenN ] Bregistrieren,N ] BnurN ] BAgnesN ] BDamals f Königreich.N ] B N] B B

[Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula] |Die f 1926| hat\te/ [betone] |fühle mich| \verpflichtet/ \zu betonen/ [nur] |vielmehr| [\u/]|gewissermassen| registrieren\,/ [\gewissermassen/] |nur| [Charlotte] |Agnes| \Damals f Königreich./ [[\Damals/] Im Kaisergebirge bei Kufstein durchkletterte am selben morgen der berühmte Alpinist Paul Preuss die ausserordentlich schwierige Nordwestwand des Totenkirchls. Er war der besste Kletterer und hat sich auch zu Tode gestürzt als Charlotte vier Jahre alt war. Damals]

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ÖLA 3/W 328 – BS 60 a [3], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K1/TS13/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

schenken, war beliebt und eröffnete Galerien, Parlamente, Wunderwerke der Technik, Starkbierbachanalien unter dem Schutze irgendeines sympathischen Heiligen und das Oktoberfest. Mit spanischer Etikette erschien der ganze Hof, die grössten Rindvieher wurden prämiiert und einige Rösser veranstalteten ein historisches Rennen. Rings um die Bavaria drehten sich Karusselle , Nomaden liessen sich nieder, Löwen, Tiger, Leoparden hatten Angst, apathische Abnormitäten befriedigten sich selbst, Schützenkönige trafen ins Schwarze, täglich besoffen sich rund zehntausend Menschen, an Alkoholvergiftung  erkrankten achtundzwanzig Männer, zweiunddreissig Weiber und vierundfünfzig Kinder, nüchtern schienen nur die Missgeburten, Kamelmensch, Löwenmädchen, eine Hand voll zusammengewachsener Zwerge, der zehnjährige Grossvater und das dümmste Prinzesslein. Alles war verkotzt, drei Frauen und neun Männer wurden kurzerhand vergewaltigt, dreitausendzwohundertsechsundachtzig Ehen gebrochen, sieben fast gebrochen, zwanzig Kinder wurden verloren, aber nur elf gefunden und nur drei abgeholt, zwölf Kinder wurden erdrückt, sechs auf einmal, unzählbare Ochsen, Hühner, Fische, Kokosnüsse wurden vertilgt und begeistert auf das Gedeihen der Gemütlichkeit getrunken. Der Verkehr stockte, weil sich viele Fussgänger auf der Strasse auszogen, um auf den Schienen zu entschlummern, so zehn wurden hiebei überfahren, drei erstochen, sechs erschossen, zwei erwürgt, vier erschlagen, einer hat seinem Leben selbst ein Ende bereitet, weil ihm der Hut gestohlen worden war. Am Marienplatz traf einen alten Herrn der Schlag in der Strassenbahn, alles bemühte sich um den Patriarchen, allmählich erholte er sich, spie einer Dame in den Schoos und röchelte: „Es ist strengstens verboten mit dem Wagenführer zu sprechen!“ riss sich los, rülpste und fiel aus der fahrenden Bahn. Er erlitt komplizierte Oberschenkelbrüche, Beckenbrüche, Schlüsselbeinbrüche, Armbrüche und starb im Krankenhaus rechts der Isar versehen mit den heiligen Sterbesakramenten an Säuferwahn. Er war mit Charlotte entfernt verwandt. Mütterlicherseits. B

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wusste zwar nicht, was sie daherplapperte, und hat es auch gar nicht begriffen, warum sie ein sündiger Mensch sei. Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie mit ungewaschenen Fingern in die Butter griff, was ihr wohl tat, dass sie verzweifelte wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und dem Hündchen Pepperl auf die Schnauze küsste. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass Gott der Allgütige der kleinen Lotte nicht nur verziehen, sondern sie ganz besonders liebgewonnen hatte, denn mit sechs BN

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Karuss\e/lle [vergiftung] Schlüsselbeinbrüche\,/ [und] [Ganz München roch nach Rettig und in den Kirchen verwandelte sich Bier in das Blut des Nazareners.] [hatte sie noch keine Ahnung von Himmelsrichtungen, geschweige denn von Nordwestwänden. Sie hatte ja noch nie einen Berg gesehen, lebte nur für ihre unzerbrechliche Puppe und betete vor dem Einschlafen. Sie] h[ä]|a|t[te] [wahrscheinlich] [dass] |warum| [Charl]|L|otte

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Fragmentarische Fassung

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K1/TS13/A4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Jahren wollte er sie zu sich nehmen. Sie bekam nämlich Dyphteritis, aber der schlechte Mensch Doktor Müller hat mit einer feinen Injektionsspritze scharf über die göttlichen Finger geschlagen. „Au!“ zischte Gott und zog seine Pfoten hurtig zurück. „Mein Gott!“ seufzte der Gerechte „jetzt erfinden sie sogar schon Serums! Jetzt gibt es schon keine Cholera, keinen Aussatz, keine Lepra in zivilisierten Gegenden. Nur gut, dass sie die Syphilis nicht ganz heilen können. Besonders die Späterkrankungen,  zum Beispiel Paralyse. Und auch die Tuberkulose -- aber das mit der künstlichen Höhensonne will mir schon gar nicht gefallen. Wie war nur die letzte Statistik, lieber Erzengel? Was, sie hängen überall Plakate herum, dass man nicht so herumspucken soll? Wirklich, die Leut werden immer frecher. Wenn das so weitergeht, na servus! Höchste Zeit, dass was gschieht!“ Und Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“ Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war. Drei Tage später wurde Charlotte acht Jahre alt. An die Zeit vor 1914 kann sie sich nichtmehr erinnern. Ihr Leben beginnt mit der Kriegserklärung. B

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Cholera,N ] zum f war.N ]

Drei f Kriegserklärung.N ]

korrigiert aus: Cholera

,

|| [zum Beispiel Paralyse.[“] Ein langer finsterer Engel mit einer heroischen Maske beugte sich stumm über Gott, wie ein väterlicher Höfling über \s/einen minderjährigen [Herrscher] |Kaiser|. Und Gott sprach: „Richtig! Es werde Weltkrieg!“ Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war.] [|Und auch die Tuberkulose – aber das mit der künstlichen Höhensonne will mir schon gar nicht gefallen. Wie war nur die letzte Statistik? [Rückgang?] Und dann hängen sie überall Plakate auf, dass man nicht so herumspucken soll, wirklich, die Leut werden zu frech[!]|.| Wenn das so weitergeht, na Servus! Höchste Zeit, dass was geschieht!“ Und Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“|] |zum f war.| \Drei f Kriegserklärung./

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Konzeption 2: Sechsunddreißig Stunden, später: Herr Reithofer wird selbstlos

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K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

 Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Karl kennen lernte, da war es noch Sommer. Sie waren Beide arbeitslos und Karl knüpfte daran an, als er sie ansprach. Das war in der Thalkirchnerstrasse vor dem städtischen Arbeitsamt und BerN B sagte,N er sei bereits zwei Monate ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher. Sie sagte, sie sei bereits 5 Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr schöne Stadt und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wollte, er hatte so lange nicht mehr diskuriert, denn er kenne hier nur seine Wirtin und das sei ein pedantes Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante und schwieg. Er lächelte und sagte, er freue sich sehr, dass er sie nun kennen BgelerntN habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Hierauf gingen sie spazieren. Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauerstrasse, dann die Augustenstrasse entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld. Als Karl die ehemaligen Kasernen sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Mächte, die BstärkerN waren als der Mensch, aber so dürfe man nicht denken, denn dann müsste man sich aufhängen. Sie sagte, er solle doch nicht so traurig daherreden, hier sei nun das Oberwiesenfeld und er solle doch lieber sehen, wie weit heute der Horizont wär und wie still die Luft, nur ab und zu kreise über einem ein Flugzeug, denn dort drüben sei der Flughafen. Er sagte, das wisse er schon und die Welt werde immer enger, denn bald wird man von dort drüben in zwei Stunden nach Australien fliegen, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn  von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett gehen wollte und derweil in den Himmel kam. Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich grossartig, dass der menschliche Geist solche Höhen erklimmt und sie werde es ja auch noch erleben, dass, wenn das so weiter geht, Europa zu Grunde gehen wird. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse und er habe gestern gelesen, dass sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil sich die Kapitalisten anfangen zu organisieren. Sie sagte, jener BamerikanischeN künstliche Mensch würde sie schon sehr interessieren. Er sagte, auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen. Das war Ende August 1928. Es hatte wochenlang nicht mehr geregnet und man prophezeite einen kurzen trüben Herbst und einen langen kalten Winter. Die Landeswetterkarte konstatierte, dass das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll BbereitsN Schnee gefallen sein und auch der Golfstrom sei nichtmehr BsoN ganz in Ordnung, hörte man in München.

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sagte,N ] gelerntN ] BstärkerN ] BamerikanischeN ] BbereitsN ] BsoN ] B

(1) Karl (2) er korrigiert aus: sagte ,

ge[r]|l|ernt korrigiert aus: starker amer[k]ikanische berei[e]ts [ga]|so|

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Fragmentarische Fassung

K2/TS1 (Grundschicht)

Am Nachmittag hatte es zwar dreimal gedonnert, aber wieder nicht geregnet und nach Sonnenuntergang war es noch derart drückend, schwül, als hätte die Luft Fieber. Erst um Mitternacht setzte sich langsam der Staub auf die verschwitzte Stadt. Agnes fragte Karl, ob auch er es fühle, wie schwül der Abend sei und dann: sie denke nun schon so lange darüber nach und könne es sich gar nicht vorstellen, was er für einen Beruf hatte. „Kellner“ sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute sicher in einem ausländischen Grandhotel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Bisra . Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Er hätt zehn Neger unter sich und tät dem Vanderbildt seinem Neffen servieren, er hätt fürstlich verdient und hätt sich mit fünfzig ein kleines Hotel im Salzkammergut gekauft. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Serajewo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der wo der österreich-ungarische Thronfol-ger war, erschossen haben. Sie sagte, sie wisse nicht, was dieses Serajewo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, gleich ganz zu Beginn und so viel sie gehört hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an den ganzen Weltkrieg nicht gut erinnern, denn als der seinerzeit ausbrach, da sei sie erst vier Jahr alt gewesen. Sie erinnere sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals sei ihre Mutter an der Kopfgrippe gestorben. Sie habe zwar ihre Mutter nie richtig geliebt, die sei sehr mager gewesen und so streng weiss um den Mund herum und sie hätt oft das Gefühl gehabt, dass die Mutter denke: warum lebt das Mädel? Sie habe noch heut ab und zu Angst, obwohl nun die Mutter seit sechs Jahren tot sei. So habe sie erst neulich geträumt, sie sei wieder ganz klein und ein General mit lauter Orden sei in der Küche erschienen und habe gesagt: „Im Namen Seiner Majestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!“ Und die Mutter habe nur gesagt: „Soso , wenn er nur nicht wieder den Hausschlüssel verliert.“ Und der General habe präsentiert und sei verschwunden und die Mutter habe sich vor sie hingeschlichen und habe sie entsetzlich gehässig angeglotzt. Dann habe sie das Licht ausgedreht, weil es plötzlich Nacht geworden sei, und habe den Gashahn aufgedreht und etwas vor sich hingemurmelt, das habe geklungen wie eine Prozession. Aber plötzlich sei es unheimlicht licht geworden und das war überirdisch. Und Gottvater selbst sei zur Türe hereingekommen und habe zur Mutter gesagt: „Was tust Du Deinem Kinde? Das ist strengstens verboten, Frau Pollinger!“ Dann habe der Gottvater das Fenster aufgerissen und den Gashahn geschlossen. Und Agnes erklärte Karl: „Solche Dummheiten träumt man oft, aber das war eine blöde Dummheit.“ B

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setzteN ] „Kellner“N ] BOase BisraN ] BVanderbildtN ] BSerajewoN ] BSerajewoN ] Bgesagt: „ImN ] BSeinerN ] BistN ] Bgesagt: „SosoN ] BundN ] Bangeglotzt.N ] Bgesagt: „WasN ] BKarl: „SolcheN ] BDummheit.“N ]

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korrigiert aus: „ Kellner“ gemeint ist: Oase Biskra gemeint ist: Vanderbilt gemeint ist: Sarajevo gemeint ist: Sarajevo korrigiert aus: gesagt:„ Im

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Fragmentarische Fassung

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Die Grossmutter Biedermann war die Tochter eines langsamen, melancholischen Färbermeisters, der unter dem Pantoffel seiner lauten, herrschsüchtigen Gattin stand und alle maschinellen Neuerungen hasste, \Abbruch der Bearbeitung\ B

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Und Agnes dachte, wenn sie heut an ihre Kindheit zurückdenkt, so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draussen scheint die Sonne, aber kein Strahl fällt in das Zimmer. Sie hat das Gefühl, als schwebe der Raum ungeheuer hoch über der Erde. Und dann weiss sie, dass draussen tief unten in der Ebene ein breiter Fluss fliessen würde, wenn sie grösser wäre und durch das Fenster sehen könnte. Lautlos fährt ein Zug über die Brücke. Der Abend wartet  am Horizont mit violetten Wolken. Aber das ist freilich alles ganz anders gewesen. Der Himmel war mit Brandmauern verbaut und durch das Fenster jenes Zimmers sah man auf einen trüben Hof mit Kehrrichttonnen und verkrüppelten Fliederbüschen. Hier klopften die Hausfrauen Teppiche und liessen ihre Hündinnen herunter, wenn sie läufig waren. Kinder durften nicht spielen, das hat der Hausmeister untersagt, weil sie mal Flieder gestohlen und ohne Rücksicht auf die sterbende alte Frau Biedermann im 2. Stock gejohlt und gepfiffen haben, dass irgend ein Tepp auf der Strasse die Feuerwehr alarmiert hat. Diese sterbende Frau Biedermann war mit Agnes verwandt. Sie war ihre Grossmutter, mütterlicherseits. B

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K2/TS1 (Grundschicht)

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untenN ] Wolken.N ] BFensterN ] BklopftenN ] Bspielen, dasN ] Buntersagt, weilN ] B N] BalarmiertN ] BGrossmutterN ] BalleN ] B B

unte[r]|n| [der] [{Strahlen}.] |Wolken.| korrigiert aus: Fanster kl[p]|o|pften korrigiert aus: spielen, das korrigiert aus: untersagt, weil [die] korrigiert aus: alamiert Gr[p]|o|ssmutter alle[n]

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ÖLA 3/W 136 – BS 5 a [4], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K2/TS2 (Grundschicht)

Das war um 1880 herum, da hat er fast nur mit ihr getanzt, BaufN BsoN einer B richtigenN Redoute mit Korsett und Decolleté. Die Grossmutter muss damals einen hübschen Busen gehabt haben, denn der Attaché ist mit ihr am nächsten Mittag in einer hohen standesgemässen Kutsche in das Isartal gefahren, dort sind sie dann zu zweien am lauschigen Ufer entlang promeniert. BSieN haben von den blauen Bergen gesprochen und von dem, was dahinter liegt. Er hat vom sonnigen Süden erzählt, vom Vesuv und von Sizilien, von römischen Ruinen und den Wellen der Adria. Er hat ihr einen Ring aus Venedig geschenkt, ein Schlänglein mit falschen Rubinaugen und der BInschrift „Memento!N “ Und dann hat sie sich ihm gegeben auf einer Lichtung bei Höllriegelskreuth und er hat sie sich genommen. Es war natürlich Nacht, so eine richtige BkleinbürgerlichN-romantische Nacht und Vormärz. Über die nahen Alpen wehte der Frühlingswind und abends hing der Mond über schwarzen Teichen und dem Wald. Nach zwei Wochen blieb bei der Grossmutter das aus, das sie mit dreizehn Jahren derart erschreckt hatte, dass sie wimmernd zu ihrer älteren Freundin Helene gerannt war, denn sie hatte gefürchtet, nun werde BsieN verbluten müssen. Aber Helene hatte sie umarmt, geküsst und Bgesagt: „ImN Gegenteil, nun bist Du ein Fräulein.“ Nun aber wusste sie, dass sie bald Mutter sein wird. Sie dachte, wenn sie nur wahnsinnig werden könnte, und wollte aus dem Fenster springen. Sie biss sich alle Fingernägel ab und schrieb drei Abschiedsbriefe, einen an ihren Vater und zwei an den polnischen Geliebten. An  ihren Vater schrieb sie: B„MeinN Vater! Verzeihe Deiner BunsagbarN gefallenen Tochter Regina.“ Und an ihn schrieb Bsie: „WarumN lasst Du mich nach einem BWorteN von Dir verschmachten? Bist Du denn ein Schuft?“ Diesen Brief zerriss sie und begann den Bzweiten: „NimmerN wirst Du mich sehen, bete für meine BsündigeN Seele. Bald blühen BBlümleinN auf einem frischen armen Grabe und die verlassene Nachtigall aus dem Isartal singt von einem zerbrochenen B Glück --“N Und sie beschrieb ihr eigenes Begräbnis. Sie erlebte ihre eigene Himmelfahrt. Sie sah sich selbst im Schattenreich und tat sich selbst herbstlich leid. Ein heroischer Engel beugte sich BüberN sie und Bsprach: „WeisstN BDu,N was das ist ein Bösterreich-unga\Textverlust\

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aufN ] soN ]

richtigenN ] SieN ] BInschrift „Memento!N ] BkleinbürgerlichN ] BsieN ] Bgesagt: „ImN ] B„MeinN ] BunsagbarN ] Bsie: „WarumN ] BWorteN ] Bzweiten: „NimmerN ] BsündigeN ] BBlümleinN ] BGlück --“N ] BüberN ] Bsprach: „WeisstN ] BDu,N ] Bösterreich-ungarischerN ] B B

au[c]|f|[h] (1) s[{ }]|o| (2) so ri[h]|c|htigen [D]|S|ie korrigiert aus: Inschrift„ Memento! kleinb[r]|ü|rgerlich [{d}]|s|ie korrigiert aus: gesagt: „ Im korrigiert aus: „ Mein unsagbar[en] korrigiert aus: sie:„ Warum [W]|W|orte korrigiert aus: zweiten:„ Nimmer korrigiert aus: sundige korrigiert aus: Blumlein korrigiert aus: Glück-korrigiert aus: {i}ber korrigiert aus: sprach:„ Weisst korrigiert aus: Du , korrigiert aus: [O]|o|sterreich- ungarischer

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 67

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 69

Fragmentarische Fassung

K2/TS2 (Grundschicht)

rischer Attaché? Nein, das weisst Du nicht, was das ist ein österreich-ungarischer Attaché. Ein österreich-ungarischer Attaché verlässt keine werdende Mutter nicht, überhaupt als polnischer Graf, Du kleingläubiges Geschöpf! Schliess das Fenster, es zieht!“ Sie schloss es und glaubte wieder an das verlogene Märchen vom Prinzen und dem spiessbürgerlichen Bettelkind. Dabei wurde sie immer bleicher, hatte selten Appetit und erbrach sich oft heimlich. An den lieben Gott hatte sie nie so recht geglaubt , nämlich sie konnte ihn sich nicht so recht vorstellen, hingegen um so inniger an den heiligen Antonius von Padua. Und sie betete zu dem himmlischen Jüngling mit der weissen Lilie um einen baldigen Brief von ihrem galizischen Grafen. \Textverlust\ bezaubert tun, treten sie ihre nichthochgeborene Auserwählte in den Dreck, in dem sie natürlich immer denken: „Du bist ja doch nur bürgerlicher Mist!“ Freilich war auch auf jener Redoute nicht alles so, wie es die Grossmutter gerne sah. Sie ist keineswegs vor allen anderen Holden dem siebenbürgischen Halunken aufgefallen, sondern dieser hat sich zuerst an eine Bachantin gerieben, aber nachdem deren Kavalier etwas von Watschen sprach, war seine Begeisterung merklich abgekühlt. Aus der ersten Verlegenheit heraus tanzte er mit der Grossmutter, die als Mexikanerin maskiert war, und besoff sich aus Wut über den gemeinen Mann, der leider riesige Pratzen hatte. In seinem Rausche fand er die Grossmutter ganz poussierlich und versprach ihr den Ausflug in das Isartal. Am nächsten Tage fand er sie allerdings vernichtend langweilig, und nur um nicht umsonst in das Isartal gefahren zu sein, nahm er sie. Hierbei musste er an eine langbeinige Hure denken, um den physischen Kontakt mit der kurzbeinigen Grossmutter herstellen zu können. N

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Palmen an der Riviera. Als dann im Spätherbst die Grossmutter an einem Sonntagvormittag auf der Treppe zusammenbrach und eine Tochter gebar, da verstiessen sie ihre Eltern natürlich nach Sitte und Recht. Die Mutter gab ihr noch zwei Ohrfeigen und der Vater schluchzte, er verstehe das ganze Schicksal überhaupt nicht, was er denn wohl nur verbrochen habe, dass gerade seine Tochter unverheiratet geschwängert worden sei. B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 71

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Sie macht herrliche Leberknödel und siehe, das ist Deine Leidenschaft, Du alter Sünder!“ Und der alte Sünder schlug der Grossmutter vor, seinen Haushalt in Straubing zu führen, ohne Entgelt, weil sie ihm leid tat. Natürlich willigte sie ein und dachte: B

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1 2 8 10 13 15 16 17 21 24 28 29 35 36–94,1

österreich-ungarischerN ] österreich-ungarischerN ] BgeglaubtN ] BhimmlischenN ] Bdenken: „DuN ] BHalunkenN ] BBachantinN ] BwarN ] BpoussierlichN ] BherstellenN ] BdaN ] BOhrfeigenN ] Bin StraubingN ] Bdachte: „AlsoN ] B B

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korrigiert aus: [O] o sterreich- ungarischer korrigiert aus: österreich- ungarischer

geglau[g]|b|t h[o]|i|mmlischen korrigiert aus: denken:„ Du Hal[i]|u|nken gemeint ist: Bacchantin wa[s]|r| poussierlic[j]|h| herste[nn]|ll|en da[s] Ohr[r]|f|eigen korrigiert aus: in Straubing korrigiert aus: dachte:„ Also

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ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K2/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Also , es stimmt halt doch: Wo die Not am Grössten , ist Gottes Hilf am Nächsten .“ Der Schnee fiel in breiten Flocken und es war bitterkalt, da Magdalena in viele Windeln vermummt auf den Armen der ausgemergelten Grossmutter in Straubing eintraf. Ihr Vater, der gräfliche Attaché, wurde gerade vom Papste in Privataudienz empfangen. Damals hatte sie natürlich keine Ahnung, wer der Papst sei, noch was das Wort „Privataudienz“ bedeute. Und sie hat es nie erfahren, dass ihr Vater ein Aristokrat ist, sie dachte, das wäre ein Straubinger Hausbesitzer, denn der Biedermann hatte sie adoptiert. Das kam so: Als sie vier Jahre alt wurde, da wuchs im Magen des Biedermann ein Geschwür. Er durfte keine Leberknödel mehr essen, wurde mürrisch, boshaft und bigott, bedauerte, kein Mönch geworden zu sein, las Bücher über die Folterwerkzeuge der Hölle und nahm sich vor, eine rechtschaffene Tat zu vollbringen, denn er hatte solche Angst vor dem Tode, dass er sich beschiss, wenn er eine Sense sah. Er schlug der Grossmutter vor, mit ihm eine Josephsehe einzugehen, das heisst, eine Ehe ohne Fleischeslust und Sinnentaumel. Die Grossmutter hätte natürlich auch einen vom Galgen herunter geheiratet, auch ohne Keuschheitsgelübde und der Biedermann adoptierte die kleine Magdalena und verfasste sein Testament. Er vermachte alles der Kirche. Die Hölle, das Magengeschwür und die entschwundenen Leberknödel beunruhigten seine Phantasie. Wenns dämmerte, schlich er an Magdalenchens Bettchen und wenn sie mal eingeschlafen war, ohne gebetet zu haben, kniff er sie blau und grün. Er malte ihr die Qualen der Hölle aus und zittere vor dem jüngsten Gericht wie ein verprügelter Rattler. Die kleine Magdalena hörte ihm mit grossen runden Augen zu, fing plötzlich an zu weinen und betete. Sie wusste zwar nicht, was sie daherplapperte und hätte es auch gar nicht begriffen, dass sie ein sündiger Mensch sei. Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie mit ungewaschenen Händchen in die  Butter griff, was ihr wohl tat, dass sie verzweifelte, wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und den Pintscher Pepperl auf den Hintern küsste. Dieser Pintscher Pepperl wurde sechzehn Jahre alt. Er war bereits taub, blind und lahm, konnte weder bellen noch beissen und ist eines unheimlich stürmischen Abends friedlich verreckt. Magdalena hat tagelang geheult, bedeutend inniger als beim Begräbnis ihres vermeintlichen Vaters. Der Biedermann war nämlich kurz vorher nach einem fürchterlichen Todeskampfe verschieden. Er hatte zehn Stunden lang geröchelt und wirres Zeug dahergeredet und immer wieder losgebrüllt: „Lüge ! Lüge! Ich kenn kein kleines Mariechen, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein Mariechen in den Kanal gestossen, MarieN

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GrösstenN ] NächstenN ] BAttaché, wurdeN ] BgeradeN ] BWort „Privataudienz“N ] BdaN ] BlasN ] BnatürlichN ] BsechzehnN ] BbeissenN ] Blosgebrüllt: „LügeN ] B B

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ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS2 (Grundschicht)

chen ist von selbst ersoffen, ich hab nur an den Wädelchen getätschelt ! Meine Herren , ich hab nie Bonbons bei mir!“ Und dann hatte er wild um sich geschlagen und geheult: „Auf dem Sofa sitzt der Satan! Auf dem Sofa sitzt noch ein Satan!“ und dann hatte er gewimmert, eine Strassenbahn würde ihn überfahren , mit Rädern, wie Rasiermesser, und seine letzten Worte hatten gelautet: „Es ist strengstens verboten mit dem Wagenführer zu sprechen!“ Dann hatte ihn seine Seele verlassen. Die Grabrede war sehr erhebend gewesen. Irgend ein versoffener Pater hatte etwas dahergeschwätzt von „asketischem Lebenswandel“, „göttlichen Gesetzen“ und „Majestät des Todes“, und dann hatte er ehrfurchtheischend auseinandergesetzt, wie „der Dulder erlöst ward, versehen mit den heiligen Sterbesakramenten“ und hatte ergriffen geschlossen: „Ruhe in Frieden, August Biedermann!“ -- Es war wirklich sehr rührend gewesen, aber die Grossmutter hatte nicht weinen können. Und die Gebeine des August Biedermann versanken in der Grube und mit dem Gelde des erlösten Dulders wurde die Kapelle irgendeiner geräderten heiligen Märtyrerin renoviert und ihr gekröntes Skelett neu vergoldet, denn der Biedermann hatte tatsächlich sein ganzes Vermögen aus rücksichtsloser Angst vor dem höllischen Schlund in jenen /Textverlust/ \Textverlust\ In der Konditorei verkehrten Gymnasiasten, Realschüler, Realgym nasiasten und höhere Töchter aus beschränkten Bürgerfamilien und böse alte Weiber, die Magdalena gehässig hin und her hetzten, schikanierten und beschimpften, weil sie noch jung war. Ein Gymnasiast, der Sohn eines sparsamen Regierungsrates, verliebte sich in sie und kaufte sich jeden Nachmittag um vier Uhr für fünf Pfennig Schokolade, nur um ihren Bewegungen schüchtern folgen zu können. Dann schrieb er mal während der Geographiestunde auf dem Rande der Karte des malayischen Archipels, was er alles mit ihr tun würde, falls er den Mut fände, ihr seine Liebe zu erklären. Hierbei wurde er von einem Studienrat ertappt, der Atlas wurde beschlagnahmt und nach genauer Prüfung durch ein Kollegium von Steisspaukern unter dem Vorsitz eines verkalkten Greises nach der Berichterstattung eines klerikalen Trottels laut Antrag eines sadistiB

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Lesetext

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getätscheltN ] HerrenN ] Bmir!“N ] Bgeheult: „AufN ] BüberfahrenN ] Bgelautet: „EsN ] BverbotenN ] Bsprechen!“ DannN ] BIrgendN ] B„asketischemN ] B„göttlichenN ] Bund „MajestätN ] Bwie „derN ] Bgeschlossen: „RuheN ] BBiedermann!“ -- EsN ] BKapelleN ] BSkelettN ] BVermögenN ] BRealgymnasiastenN ] BRealgymnasiastenN ] BschikaniertenN ] BvonN ] BeinemN ] B B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 62

Fragmentarische Fassung

Lesetext

schen Narren für unsittlich erklärt. Er flog aus der Schule und ist auf Befehl seines Vaters, eines bornierten Haustyrannen, in einer Besserungsanstalt verkommen. Einmal ging er dort durch, knapp vor Weihnachten, aber der Polizeihund Cäsar von der Schmittenhöhe stellte ihn auf einem verschneiten Kartoffelacker und dann musste er beichten und kommunizieren und dann verbleuten ihn drei Aufseher mit Lederriemen und ein blonder Katechet mit Stiftenkopf und frauenhaften Händen riss ihm fast die Ohren aus. B

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K2/TS2 (Grundschicht)

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Fragmentarische Fassung

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K2/TS3 (Grundschicht)

Lesetext

 Magdalena hörte davon und obzwar sie doch nichts dafür konnte, da sie ja seine Leidenschaft nie erkannt hatte, weil sie überhaupt geschlechtlich unterentwickelt war, fühlte sie sich dennoch schuldbewusst, als hätte sie BzumindestN jenen Cäsar BvonN der Schmittenhöhe dressiert. Sie wollte fort von Regensburg. Raus aus der Konditorei. Sie sagte Bsich: „Ach,N gäbs nur keine Schokolade, gäbs nur keine Gymnasiasten, es gibt halt keine Gerechtigkeit!“ Und sie kaufte sich das BBuch „StenographieN durch Selbstunterricht.“ Nachts, nach ihrer täglichen vierzehnstündigen Arbeitszeit, erlernte sie heimlich Gabelsbergers System. Dann bot sie sich in der führenden Zeitung Süddeutschlands als Privatsekretärin an. Nach drei Tagen kam folgender Brief: Wertes Fräulein! Teilen Sie mir näheres über BIhrenN Busen und ihre sonstigen Formen mit. Wenn Sie einen schönen und vor allem festen Busen haben, kann ich Ihnen sofort angenehme Stellen zu durchweg distinguierten Herren vermitteln. Auch möchte ich wissen, ob Sie einen Scherz verstehen und entsprechend zu erwidern im Stande sind. Hochachtungsvoll!

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 63

Die Unterschrift war unleserlich und darunter stand: Vermittlerin mit prima Referenzen. Sitz Breslau. Filialen in Berlin, München und Mainz. Briefe mit Photographie und genauer Altersangabe wolle man unter Chiffre 8472 an die Expedition des Blattes adressieren. Diskretion Ehrensache. Dieses „ Diskretion Ehrensache“ ist ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. Seit es Götter und Menschen, Pharaos und Sklaven, Priester und Laien, Patrizier und Plebejer, Kaiser und Knechte, Ritter und Leibeigene, Herren und Hörige, Beichtväter und Beichtkinder, Adelige und Büger, Aufsichtsräte und Arbeiter, Abteilungschefs und Verkäuferinnen, Familienväter und Dienstmädchen, Generaldirektoren und Privatsekretärinnen ---- kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ Und seit jener Zeit, da die Herrschenden erkannt hatten, dass es sich maskiert mit  dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend erhebender, edler und belustigender rauben, morden und betrügen liess --- seit also jener Gekreuzigte gepredigt hatte, dass auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit wird allgemein herumgetuschelt: „Diskretion Ehrensache!“ B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 64

Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Grundschicht)

Lesetext

Wer wagt es also die heute herrschende Bourgoisie anzuklagen, dass sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhabenen Selbstbetruges entblösst, indem sie schlicht die Frage stellt: „Na was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihr einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tut? Nein, das kann man nicht. Die Bourgoisie ist nämlich überaus ehrlich. Sie spricht ihre Erkenntnis offen aus, dass die wahre Liebe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten Prostitution sei. Dass die Ausgebeuteten unter sich auch ohne jede Prostitution lieben könnten, das bezweifelt die Bourgoisie nicht, denn sie hält die Ausgebeuteten für noch dümmer, da sie sich ja sonst nicht ausbeuten liessen. Die Bourgoisie ist nämlich überaus intelligent. Sie hat auch erkannt, dass es selbst unter Ausbeutern nur Ausbeutung gibt. Nämlich, dass die ganze Liebe nur eine Frage der kaufmännischen Intelligenz ist. Kann man die Bourgoisie anklagen, weil sie alles auf den Besitzstandpunkt zurückführt? Nein, das kann man nicht. -B

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Sie stand noch erschrocken über jene Stimme hinter all der Schlagsahne und Schokolade, den essbaren Mäusen und Käfern, gefüllten Hasen, bunten Torten und Pralinées, da vernahm sie zum erstenmal die Stimme ihres Zukünftigen und das war ein angenehmes Organ: „Fräulein , bitte geben Sie mir ein Stück Prinzregententorte und etwas Schlagsahne.“ Sie sah ihn an. Vor ihr stand ein Leutnant und wurde rot. Er hiess Alfons Pollinger und jedes dritte Wort, das er sprach, schrieb oder dachte, war das Wort „eigentlich .“ So hatte er „eigentlich “ keine Lust zum Leutnant, aber er hatte sich seinerzeit „eigentlich “ widerspruchslos dem elterlichen Zwange gebeugt und war in des Königs Rock geschlüpft, weil er „eigentlich “ nicht wusste, was er „eigentlich“ wollte. „Eigentlich “ konnte er sauber zeichnen, aber er wäre kein guter Künstler geworden, denn er war sachlich voller Ausreden und persönlich voller Gewissensbisse, statt umgekehrt. Er hatte linkische Bewegungen, stotterte etwas und stolperte manchmal über seinen eigenen Säbel. Las Gedichte von Lenau, Romane von Tovote, kannte jede Operette und hatte Zwangsvorstellungen. In seinem Tagebuche stand: „Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Oh, warum hat mich Gott eigentlich mit Händen erschaffen!“ B

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ÖLA 3/W 133 – BS 5 a [1], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Grundschicht)

Und es war noch kein Jahr vergangen, da heiratete dieser Leutnant das Fräulein aus der Konditorei und hing seinen Säbel „eigentlich “ als Erinnerung über das Sofa, denn als Offizier durfte er natürlich keine arbeitende Frau ehelichen, um den Offiziersstand nicht zu beschmutzen. Er brachte Magdalena das Opfer, nahm seinen Abschied, wurde ein Sklave des Kontors und war derart ehrlich niemals sein Opfer zu erwähnen. Denn, wie gesagt, war ja dies Opfer nur ein scheinbares, da ihm weitaus bedeutsamer für seine Zukunft, als selbst der Feldmarschallrang, eine Frau dünkte, die ihn durch ihre Hilflosigkeit zwang, allen zu „opfern “, um sie  beschützen zu können, zu behüten, bekleiden, beschuhn, ernähren -- kurz: für die er verantwortlich sein musste, um sich selbst beweisen zu können, dass er doch „eigentlich “ ein regelrechter Mann sei. Er klammerte sich krampfhaft an jenes erste Zusammentreffen, da er die vorzügliche Prinzregententorte bestellt hatte und Magdalena so blass, klein und zerbrechlich, entsetzt und hilfesuchend hinter all der Schlagsahne und Schokolade und so weiter gestanden war, weil sie gerade jenen Brief mit der Chiffre 8472 gelesen hatte, von dessen Existenz er nie etwas erfuhr. So sah er sie neun Jahre lang und wurde ihr hörig. Freilich war sie niemals so zerbrechlich gewesen, wie er es benötigte. In ihrer zarten Gestalt lebte die Herrschsucht der Färbermeistersgattin, wohnte die Verbitterung der Grossmutter und ab und zu sprang aus einer Ecke der kriminelle Egoismus des österreichisch-ungarischen Attachés. Sie war noch unberührt und wurde von ihrem Alfons erst in der Hochzeitsnacht entjungfert , allerdings erst nach einem Nervenzusammenbruche seinerseits mit Weinen und Selbstmordgedanken. Denn die Frau, die ihn „eigentlich “ körperlich reizen konnte, musste wie das Bild sein, das Magdalena später zufällig in seiner Schublade fand: eine hohe dürre Frau mit männlichen Hüften und einem geschulterten Gewehr. Darunter stand: „Die fesche Jägerin. Wien 1899. Guido Kratochwill pinx.“ Und obwohl Magdalena klein und rundlich war, blieb sie ihm doch ihr ganzes Leben über treu und unterdrückte jede Regung für einen fremden Mann, weil er ihr eben hündisch hörig war. So wurde sie die Gefangene ihres falschen Pflichtgefühls und bald verabscheute sie ihn auch, verachtete ihn mit dem Urhass der Kreatur, weil die Treue, die ihr seine Hörigkeit aufzwang, sie hinderte, sich sexuell auszuleben. Sie fing an, alle Männer zu hassen, als hätte sie keiner befriedigen können und die Gespenster der Todesangst quälten sie wie weiland ihren vermeintlichen Vater August Biedermann. Und es wurde nicht besser, selbst da sie ihm zwei Kinder gebar. Das erste, ein  Sohn, starb nach zehn Minuten, das zweite, ein Mädchen, erhielt den Namen Agnes. Immer mehr glich sie einer Ratte. -B

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ÖLA 3/W 133 – BS 5 a [1], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Grundschicht)

Ihr Schwiegervater war der allseits geachtete Honorarkonsul von Honduras in München, Franz Xaver Pollinger. Der fand sich selbst sehr ehrfurchtheischend mit seinem Wilhelminischen Schnurrbart und sprach: „Mein Sohn hat eine Kellnerin geheiratet. Mein Sohn hat eine Angestellte geheiratet. Mein Sohn hat eine Dirne geheiratet. Ich habe keinen Sohn mehr.“ Und ihre Schwiegermutter , die Tochter eines Hamburger Importeuers, sagte: „Ich hoffe, Gott wird es mir verzeihen, einen solchen Sohn gehabt zu haben“ -- und verschenkte seine Spielzeuge an arme Kinder, deren Mütter ihre behandschuhte Hand küssen mussten. Sie war nämlich eine gefeierte Gesellschaftserscheinung und sass im Präsidium jeder Wohltätigkeitsveranstaltung , denn sie war sehr eitel und freute sich himmlisch, wenn die anderen Wohltätigkeitsdamen über ihre Kleider, Pelze, Federn, Ringe und Diademe vor Wut und Neid erbleichten. Sie war vom Schlage jener Gattin des Herrenhausmitgliedes von Vopelius, die auf das Unterstützungsgesuch einer armen Wöchnerin, der Frau eines Hühnerfelder Bergarbeiters und Mutter von vierzehn Kindern, mit folgendem Schreiben antwortete: Sulzbach a. Saar, 30.4.1910 … Es hat überhaupt niemand das Recht, Ansprüche zu machen. Der Vaterländische Frauenverein kann doch nichts dafür, dass Ihr so viele Kinder habt. Mit kaltem Wasser kann man die Triebe auch zurückhalten, eine kleine Waschbütte mit kaltem Wasser ist dagegen sehr gut für die Männer und vorher sich tüchtig müde schaffen. Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenbett! Frau Richard von Vopelius. 1913, im November, starb der Konsul Pollinger an einer Gallenentzündung und wurde, da er Leutnant der Reserve war, mit militärischen Ehren begraben, ohne je einen Krieg erlebt zu haben. Er landete in einer geschmacklosen Familiengruft und einer seiner letzten Befehle lautete: sollte sein ehemaliger Sohn sich etwa er-dreisten, auf dem Friedhofe zu erscheinen oder gar einen Kranz zu spenden, so sei das Subjekt vom Platze zu verweisen und das Objekt zurückzusenden, denn sonst würde sich sein Leichnam im Grabe herumdrehen. Es war sein einziger Sohn. Mit diesem erlosch das Geschlecht der Pollinger. Der Grossvater des alten Pollinger war ein schlauer, stämmiger Bauernbursche, der seinerzeit aus der Gegend von Holzkirchen nach der Stadt München gewandert kam, da seine Eltern ein Dutzend Kinder in die Welt gesetzt, hingegen nur einen armen Hof mit fünf kleinen Kühen hatten. Er arbeitete in einer Brauerei, sah malerisch aus, konnte gar artig tanzen, jodeln und musizieren und wurde, da er seine Glutaugen richtig rollen liess, von der mannstollen Brauereibesitzerswitwe Schädlbauer B

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ÖLA 3/W 133 – BS 5 a [1], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Grundschicht)

geheiratet, die zwar um dreissig Jahre älter war als der Bräutigam, dafür aber bald an Unterleibskrebs dahinsiechen sollte. Nach ihrem Tode, den er eigentlich gar nicht so rasch erwartet hatte, wurde er alleiniger Brauereibesitzer, prellte die übrigen Erben, richtete mit frischer Unternehmungslust rücksichtslos befreundete Brauereibesitzer zu Grunde und heiratete ein junges dralles Weib mit acht Häusern, namens Therese Kreitmeyer und wurde reich, mächtig und fett. Sein Sohn war ein Idiot . Nämlich der Vater seiner Frau war ein Säufer. Sein Enkel wurde Honorarkonsul. Die Pollingers wurden Patrizier und der Honorarkonsul hinterliess seiner Witwe sechzehn Häuser, eine Villa in Tirol, fünf Grundstücke und Geld auf der Bank of England. Sie liess sich neun Trauerkostüme machen, sechs Trauerabendkleider, sieben Trauermorgenröcke , zwei Trauerpelze, drei Trauermäntel, einen Trauerregenmantel, sechzehn Trauerhüte mit einundfünfzig Trauerstraussfedern und elf Trauerreihern, siebenundzwanzig Trauerschleier, vierzehn Paar Trauerschuhe, dreiundzwanzig Paar Trauerhandschuhe, sechs  Trauerpompadours und kaufte sich statt der zwei Schimmel ihres Fiakers vier Rappen. Vor lauter Gram wurde sie grau, färbte sich vor lauter Trauer die Haare schwarz und unternahm im nächsten Sommer zwecks Erstarkung ihrer erschütterten Nerven eine Nordlandreise. Sie sah das Nordlicht und überlegte gerade, ob sie sich nicht wieder verheiraten sollte, da sprach der liebe Gott: „Es werde Weltkrieg!“ Und es geschah also. Und Gott sah, dass er gut getan. Die Horizonte waren rot von den Flammen der brennenden Dörfer, es regnete Granaten, Schrappnells, Bomben und Kugeln, in den Wassern explodierten Torpedos und Minen und über das Leben kroch das Gas. Rund zwölf Millionen Menschen wurden erschossen, erstochen, erschlagen, ersäuft, erwürgt, verbrannt, vergiftet, verschüttet, zertrampelt, zerquetscht, zerstückelt , zerrissen und über die Erde kollerten herrenlose Arme, Beine, Schenkel, Finger, Zehen, Hände , Gedärme, Gehirne, Zungen, Ohren, Nasen, Augen, Köpfe, es war Hausse in Prothesen und Beisse in Brot. Fabriken, Bergwerke, Städte, Brücken , Strassen, Wasserleitungen, Krankenhäuser, Denkmäler, Kirchen, Wälder, Wiesen, Äcker, Fluren, Gärten wurden plangerecht zerstört und an ihrer Stelle mit übermenschlichen Qualen stilvolle Wüsten angelegt. Die Erde wurde dem Monde immer ähnlicher und nach vier irrsinnigen Jahren hat jedes Volk den Krieg verloren. So schauerlich verloren, dass die Herrschenden es mit der Angst zu tun bekamen, sich zusammenfanden und sprachen: „So dürfen die Dinge nicht weitergehen. Nachdem uns diese grossen Zeiten fast zu gross geworden sind, dürfen wir fürderhin nicht jeder auf eigene Faust betrügen, wir müssen vielmehr B

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ÖLA 3/W 133 – BS 5 a [1], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Grundschicht)

den Betrug organisieren, rationalisieren, stabilisieren und das nennen wir dann Hochkapitalismus.“ Und die Optimisten sagten, das bedeute den Übergang zum Sozialismus. Und die Pessimisten verhungerten. -Auch Frau Honorarkonsul Pollinger hatte durch Krieg und Inflation ihr Vermö gen verloren. Ihr Geld hatten die Engländer beschlagnahmt und für die Summe, um die sie 1915–1920 ihre gesamten Immobilien aus naiver Spekulationssucht verkauft hatte, konnte sie sich 1923 nur ein Stück Prinzregententorte kaufen. Als ihr das bewusst wurde, sass sie gerade am Fenster und über ihr hing ein Gemälde König Ludwigs des Zweiten, in den sie einst als Backfisch verliebt gewesen war und den sie als begeisterte Wagnerianerin Zeit des Lebens untertänigst verehrte. Sie sass am Fenster und erinnerte sich ihrer Nordlandreise und es fiel ihr ein, dass sie vielleicht nochmals geheiratet hätte ---Sie lebte noch sechs Stunden lang bei vollem Bewusstsein. Doch war sie gelähmt , konnte weder sprechen, noch den kleinsten Muskel bewegen. Nur die Augen schienen entsetzt etwas fragen oder um etwas bitten zu wollen, aber niemand im Hause, weder Arzt noch Zugeherin, konnte es erraten, denn ihr Antlitz blieb stumm und starr, wie das Antlitz eines Fisches. Sie starb. Vielleicht wollte sie ihren Sohn sehen, die Wohltätigkeitstante. Sie wusste ja gar nicht, dass er bereits Anfang August 1914 auf dem Felde der Ehre „eigentlich “ gefallen war. Sie hat es auch nie erfahren, dass dessen Frau der Grippe erlag, dass sie schon seit dreizehn Jahren Grossmutter war und, dass ihr Enkelkind, ein Mädchen namens Agnes, sogar an derselben Stelle, wie sie , denselben Leberfleck hatte, nur mit dem kleinen Unterschiede, dass die Alte stolz auf ihr „ Schönheitspflästerchen “ war, während Agnes es eckelhaft fand. B

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 Und ungefähr fünf Jahre später, Ende August B1928N ging diese Agnes mit einem stellungslosen Kellner, der sie vor knapp anderthalb Stunden in der Thalkirchnerstrasse angeredet hatte, über das Oberwiesenfeld in München. Der Tag gähnte bereits, er war schon müde geworden und wollte bald schlafen gehen. Er zog sich schon die Stiefel aus, als Agnes jenem Kellner erzählte, dass sie ausser der Tante, bei der sie hier wohne, keinen einzigen BVerwandtenN kennt. Sie habe überhaupt keine Verwandte mehr, auch die Tante sei ja keine Tante, sondern nur mal die beste Freundin ihrer Mutter gewesen.

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ÖLA 3/W 133 – BS 5 a [1], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

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K2/TS3 (Grundschicht)

Auch Agnes hat es nie erfahren, dass ihre Grossmutter Pollinger an derselben Stelle, wie sie, denselben Leberfleck hatte, nämlich etwas unterhalb der linken Schulter. Sie wusste von den Grosseltern Pollinger nur so viel, dass diese ungeheuer reich und zwei schlechte, hochmütige, hartherzige Menschen gewesen seien, die oft fünfzig Personen eingeladen und sich dazu zwanzig Diener ausgeborgt hätten und bei denen sogar mal ein leibhaftiger Prinz gegessen, getrunken und der Grossmutter die Hand geküsst haben sollte. Die Grossmutter hätte dann den Handschuh einrahmen und im Salon aufhängen lassen. Auch viele Opernsänger hätten dort gegessen , getrunken und gesungen, denn die Grossmutter soll einen feinen Koch extra aus Paris gehabt und viel von Kunst verstanden haben, besonders von dem berühmten Richard Wagner. Und Agnes erzählte Karl, einmal habe die Tante gesagt, sie sehe ihrem Vater schon gar nicht ähnlich, der seinem Vater sehr ähnlich gesehen haben soll. Sie erinnere sich ja nicht mehr an ihren Vater, aber sie soll sein Haar haben. Ihre Mutter habe gesagt: „Gelobt sei Jesus Christus, wenn Du sonst nichts von ihm hast!“ Und dazu habe die Mutter so bissig gegrinst, dass sie sehr böse auf die Mutter geworden sei, weil ja der Vater schon tot geschossen gewesen wäre, und sie habe die Mutter gefragt, was sie denn von ihr hätte. Da sei aber die Mutter sehr traurig geworden und habe nur gesagt: „Sei froh, wenn Du nichts von mir hast! “ Sie glaube auch,  dass sie schon rein gar nichts von der Mutter habe. Sie habe jedoch ein Jugendbildnis der Grossmutter Biedermann aus Straubing gesehen und da sei sie direkt erschrocken, wie ähnlich sie der sähe. Sie könnte ihre Tochter sein oder ihre Schwester. Oder sie selbst. Karl meinte, dass jeder Mensch Verwandte hat, der eine mehr und der andere weniger, entweder reiche oder arme, boshafte oder liebe und jeder Verwandte vererbt einem etwas, der eine mehr oder der andere weniger, entweder Geld, ein Haus, zwei Häuser oder einen grossen Dreck. Auch Eigenschaften werden vererbt, so wird der eine ein Genie, der zweite Beamte, der dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen werden bloss Nummern, die sich alles gefallen lassen. Nur wenige lassen sich nicht alles gefallen und das ist sehr traurig. Und Karl erzählte, er habe vor dem Weltkrieg im Bauhofscafé in Temesvar einen internationalen Taschendieb bedient, das sei ein ungarischer Rumäne gewesen, und der habe immer gesagt: „Ich versteh die Polizei nicht, warum verhaftet die nur mich? Warum verhaftet die nicht auch meinen verstorbenen Vater, Grossvater, Urgrossvater, Ururgrossvater, meine verstorbene Mutter, Urgrossmutter, Ururgrossmutter? Nämlich das waren doch alle Taschendiebe. Kann ich denn dafür, dass ich immer erwischt werd? Wer kann dafür, dass ich nicht so geschickt bin, wie mein verB

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gegessenN ] ihrenN ] Bgesagt: „GelobtN ] Bgesagt: „SeiN ] Bhast!N ] BoderN ] BMenschN ] BentwederN ] Bgesagt: „IchN ] BGrossvater,N ] BUrgrossmutter,N ] BdasN ] Bdoch alleN ] B B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS3 (Grundschicht)

storbener Vater oder gar die Ururgrossmutter? Dafür kann nur meine Grossmutter seelig, die meinem Grossvater seelig davongelaufen ist, wie sie gemerkt hat, dass er kein Einsteigdieb, sondern ein Taschendieb ist. Die war nämlich aus einer Einsteigdiebsfamilie und aus keiner Taschendiebsfamilie, also habe ich meine Ungeschicklichkeit von ihr geerbt.  Ein Einsteigdieb kann nämlich ruhig mit den Fingern zittern, aber die Finger müssen muskulös sein. Ich hab überhaupt keine Muskeln, aber dafür zittere ich mit den Fingern. Ich kann also kein Einsteigdieb sein, noch bin ich ein Taschendieb, mein Leben ist ruiniert. Herr Ober, Sie werden noch an mich denken, meine Grossmutter seelig ist an allem schuld!“ -- Und dann habe dieser Rumäne angefangen über die Vererbung nachzugrübeln, habe sich Tabellen zusammengestellt, addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und im Lexikon studiert von A bis Z und sei endlich dahintergekommen, dass jeder mit jedem irgendwie verwandt ist, mit jedem Räuber, Mörder, General, Minister , sogar mit jedem römisch-katholischen Pfaffen und dem Wunderrabbi von Kolomea. Darüber sei er dann verrückt geworden und habe aus der Irrenanstalt Briefe an seine Verwandten geschickt . So habe er bereits 1912 sechsunddreissig Monarchen, fünfunddreissig Thronfolgern und einer Thronfolgerin folgenden Kartengruss gesandt: Herzliche Grüsse aus dem K. K. priv. Narrenhaus ! Das Wetter ist schön Auf Wiedersehn! Euer Opapa. Und 1915 habe er dem Feldmarschall Erzherzog Friedrich diese Feldpostkarte gesandt: Oh, Du mein lieber Armeeinhaber! Wann kommst Du endlich? Wann darf ich Dich endlich umarmen? Wann werd ich Dich endlich sehen? Wann werd ich Dich küssen, herzen, streicheln können? Gib nur sehr auf Dich acht, dass Du Dich nicht erkältest im Krieg! Und, dass Du mir ja nicht auf dem Felde der Ehre fällst, Du herziger Buzi! Das Wetter ist schön Auf Wiedersehen! Dein K. K. priv. Grossonkel . Nota bene: schreibe bald per Brieftaube! Aber besonders emsig, betonte Karl, hätte dieser bedauernswerte Narr vor hohen Feiertagen geschrieben. So habe er zu Ostern fröhliche Weihnachten, zu Weihnachten gesegnete Pfingsten, zu Pfingsten ein amüsantes Laubhüttenfest und zum Laubhüttenfest eine recht \Textverlust\ B

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ÖLA 3/W 133 – BS 5 a [1], Bl. 9

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

Die Freundin meinte, es sei ueberhaupt Bruch mit dieser neuen Sinneslust, und sie schimpfte auf die neueingefuehrte Vierundzwanzigstundenzeit. Jhr Bruder sei Logenschliesser im Nationaltheater und der sage auch immer, frueher sei an so einer Julia noch was dran gewesen oder gar an der Desdemona, die haette BgleichN einen Hintern gehabt wie ein Braeuross, aber jetzt saehe die Desdemona direkt minderjaehrig aus und kein Theaterbesucher begreife den Othello, den Mohr von Venedig, dass er sich wegen so ein Krischperl so furchtbar aufregt. Es sei eine Suende an den Klassikern. -Diese ihre einzige Freundin hiess Afra Krumbier. Sie kannten sich schon von der Schule her, waren beide dreiundsechzig Jahr alt, und seit vier Jahren sass Afra den ganzen Tag in der Tante ihrem B„AntiquariatN“. Sie kramten gemeinsam die zerissenen Buecher durch, lasen aufmerksam jede neuerschienene antiquarische Zeitschrift, machten sich gegenseitig auf originelle Zitate aufmerksam durchdachten gar vielerlei, waren sehr neugierig und ziemlich aberglaeubig, verurteilten die Maedchen, die sich nackt photographieren liessen, beschimpften und verfluchten die Polizei, die sich um etwas anderes kuemmern sollte als um solche harmlose BAktaufnahmen, erinnertenN sich der guten alten Militaermusik, verehrten den BheiligenN Antonius von Padua und interessierten sich fuer Fuerstenstammbaeume und alles Lebendige, besonders fuer Sexualprobleme, Darmtaetigkeit und Kommunalpolitik. Afra Krumbier war das Echo der Tante. Wie die Tante hatte auch sie in der Jnflation ihr kleines Geld verloren und hungerte nun als sogenannte Kleinrentnerin. Jhr einziger Trost war die Tante und ihr einziger Stolz, dass sie was von Politik versteht. Waere sie als Tochter eines Aufsichtsrates geboren worden, haette auch sie einen politischen Salon BgeführtN haette Reichsminister protegiert, Leitartikel geschrieben ueber die Baden-Badener Polospiele und die kulturellen BEntwicklungsmoeg-N  BlichkeitenN des Proletariats und haette natuerlich zugegeben dass Lenin ein Saekularmensch war und dass der Marxismus Schiffbruch erlitten hat. So aber besuchte sie nur eifrig Wahlversammlungen und meldete sich sogar manchmal zur Diskussion. Dann BwarenN die Angehoerigen jener Partei, fuer die sie eintreten Bwollte, bestuerztN, die Opposition begeistert und die Nichtwaehler Bbelustigt.N Sie waehlte 1919 unabhaengig sozialdemokratisch, 1920 deutschnational, 1924 voelkisch, 1925 bayrisch volksparteilich und 1928 sozialdemokratisch. Wie alle Kleinbuerger zog sie infolge Denkunfaehigkeit auch politisch verschrobene Schluesse, hielt Gemeinplaetze fuer ihre persoenlichen Erkenntnisse und diese wieder nicht nur nicht für B„graue TheorieN“, sondern sogar fuer „Praxis“. Aber so einfaeltig war sie nun dennoch Bnicht, wieN es der Freiherr von Aretin wuenschte, der \Textverlust\

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gleichN ] „AntiquariatN ] BAktaufnahmen, erinnertenN ] BheiligenN ] BgeführtN ] BEntwicklungsmoeg-N ] BlichkeitenN ] BwarenN ] Bwollte, bestuerztN ] Bbelustigt.N ] B„graue TheorieN ] Bnicht, wieN ] B B

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ÖLA 3/W 137 – BS 5 a [5], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

nach den Maiwahlen 1928 in den „Muenchener Neuesten Nachrichten“ behauptet hatte, dass das niederbayrische Bauernweiblein nur in dem Glauben, dass der Kommunismus mit der heiligen Kommunion zusammenhaengt, kommunistisch waehlt. Und sie glaubte auch nicht, was in der „Muenchener Zeitung“ stand, dass naemlich die Herrschaft des Sozialismus eine Orgie der sieben Todsuenden bedeutet. Sie besass doch immerhin den unchristlichen Jnstinkt, ihre Mitbuerger in „Grosskopfete “ und „anstaendige Menschen“ einzuteilen. - 16. (Studienrat Niemeyer) 17. Afra Krumbier fragte die Tante, welcher Kunstmaler sich die Agnes als Modell gewaehlt haette, ob er eine Beruemtheit sei oder eine Null, ob noch jung oder schon aelter, ob verheiratet, verwitwet , geschieden oder ob er so im Konkubinat dahinlebe, wie das bei den Kunstmalern meistens der Fall sei. Die Tante meinte, sie kenne den Kunstmaler nicht persoenlich, er wohne zwar nicht weit von hier und sie hoere nur Gutes ueber ihn; zwar habe sie nur gehoert, dass er Lachner heisst, aber auf die Kunstmaler sei kein Verlass, und sie habe es der Agnes auch schon erklaert, dass sie sich ja nicht unterstehen soll bei kuenstlichem Lichte als Modell herumzustehen. Bei kuenstlichem Lichte koenne naemlich kein Kunstmaler malen und dann noch  Modell stehen; das sei eine Schweinerei. Sie kenne naemlich mehrere Modelle, die beim kuenstlichen Licht Kinder bekommen haetten, und so Kuenstler schwoerten gerne ab, besonders Kunstmaler. Und die Krumbier erwiederte, das sei schon sehr wahr, aber es gebe auch korrekte Kunstmaler. So kenne sie eine Konkubine, die duerfe heute sechzig Jahre alt sein und lebe noch immer mit ihrem Kunstmaler zusammen. Der sei zwar erst fuenfunddreissig Jahre alt und habe noch nie ein Bild verkauft, aber das koenne ihm sauwurscht sein, denn jene Konkubine habe Geld. Die Tante wollte gerade erklaeren, dass die Kunstmaler solch ein Konkubinat „freie Liebe“ nennen, weil es nicht wie eine buergerliche Ehe auf Geld aufgebaut sei - da betrat ein Kunde das „Antiquariat “, der Hochwuerdige Herr Religionslehrer Joseph Heinzmann. Hochwuerden waren sehr sittenstreng und hatten eine schmutzige Fantasie. Nicht umsonst hatte das Christentum zweitausend Jahre lang die Gueltigkeit des Geschlechtstriebes bezweifelt. B

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ÖLA 3/W 137 – BS 5 a [5], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

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K2/TS5 (Korrekturschicht)

Einmal verbot dieser fromme Religionslehrer einem achtjaehrigen Maedchen, mit nackten Oberarmen in der Schulbank zu sitzen, denn das sei verderblich. Aber am naechsten Sonntag in der Sakristei setzte ihm deren Vater, ein Feinmechaniker aus der Schellingsstrasse, auseinander, dass er doch nicht hinschauen soll, wenn er eine solche Sau sei und dass er durch einen ueberaus gluecklichen Zufall erfahren habe, dass Hochwuerden gern gar oft ein sauberes „Antiquariat “ in der Schellingstrasse besuche, um sich dort an den Photographien nackter Weiber zu ergoetzen. Und der hochwuerdige Herr erwiederte, das sei eine gewaltige Verleumdung; wohl besuche er des oefteren  oefteren jenes „Antiquariat “ in der Schellingstrasse, aber nur, um sich Heiligenbildchen zu kaufen, die dort sehr preiswert waeren und die er dann unter seine Lieblingsschuelerinnen verteile. Und er laechelte scheinheilig und meinte noch, der Herr Feinmechaniker solle nur ja nicht verleumden, denn das waere keine laessliche Suende. Aber der Herr Feinmechaniker sagte, er scheisse auf alle laesslichen und unerlaesslichen Suenden, und er wiederholte, dass jenes „Antiquariat“ Hochwuerden allerdings leicht verderblich werden koennte, massen sich Hochwuerden nur noch einmal erfrechen sollte, sich ueber die nackten Oberarme seiner achtjaehrigen Tochter aufzuregen . „Nun , nun, nun“ antwortete Hochwuerden gekraenkt, naemlich er begann jeden Satz mit dem Woertchen „nun“ und diesmal fiel ihm kein Satz ein, denn der Feinmechaniker hatte recht und Hochwuerden liess ihn entruestet stehen. - Seit dieser Unterredung besuchte dieser heilige Geselle nur ab und zu die Tante, denn er war nicht nur schlau, sondern auch feig. Die Tante hatte ihn bereits drei Wochen lang nicht gesehen und als er jetzt den Laden betrat, hub er gleich an zu luegen: „Nun , ich habe es Euch doch schon des oefteren aufgetragen, gute Frau, dass Jhr in die Auslage nicht diese obszoenen Nuditaeten haengen sollt, wie dieses „Vor dem Spiegel“ oder jenes schamlose „Weib auf dem Panterfell“. Welchen Samen streuen solche Schandbilder in die Seelen unserer heranreifenden Jugend!“ „Das sind doch keine Schandbilder, das sind doch nur Photographien!“ aergerte sich die Tante. „Das kauft sich keine heranreifende Jugend nicht, das kaufn sich nur die heranreifendn Kunstmaler, das habn die naemlich zur Kunst noetig.“ Hochwuerden trat an den Buecherstaender, durchstoeberte den verstaubten Kram, und die Tante knurrte bloss: „Nun , ich kenn schon Deine Jrrlehren, alter Suender, ganz ausgschamter!“ B

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K2/TS5 (Korrekturschicht)

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„Nun, gute Frau, die Kunst ist göttlichen Ursprungs, aber heute photographierte der Satan. Nun, wollen wir mal sehen, ob Ihr etwas neues bekommen habt, oder? Nun, habt Ihr noch das Büchlein über die gnostischen Irrlehren ? Nun, Ihr wisst doch, wie sehr wir uns für Irrlehren interessieren.“ Sie hasste ihn naemlich, denn auch er gehoerte zu jenen Kunden, die sich alle Wo chen tausend Weiber „auf dem Panterfell, vor dem Spiegel“ betrachten und sich dann keine einzige kaufen, sondern sich nur hoeflich bedanken und sagen: „Ja , wissen Sie, das ist doch nicht das, was ich zur Kunst benoetige. Jch benoetige eine grosse schlanke Blondine, aber die hier sind schwarz, braun, rot, zu blond und entweder zu gross, zu klein, zu dick, zu duenn oder zu teuer. Die koennen wir armen heranreifenden Kuenstler uns nicht leisten.“ Und waehrend die Krumbier leise der Tante von den abscheulichen Verbrechen der Jesuiten in Mexiko, Bolivien und Peru erzaehlte, entzifferte Hochwuerden Buchtitel: „Aus dem Liebesleben der Sizilianerinnen. - Sind Brunette grausam? - Selbstbekenntnisse einer Dirne. - Selbstbekenntnisse zweier Dirnen. - Selbstbekenntnisse dreier Dirnen. - Fort mit den laestigen Sommersprossen! - Die unerbittliche Jungfrau. - Gibt es semitische Huren? - Sadismus, Masochismus und Hypnose. Marianischer Kalender. - Unser oesterreich-ungarischer Bundesgenosse. - Abtreibung und Talmud. - Wie bist Du Weib? - Quo vadis Weib? - Sphinx Weib. - Wer bist Du Weib? - Wer sei Jhr Weiber?“ Und Hochwuerden seufzte wie ein alter Hirsch und blaetterte benommen in dem Werke „Tugend oder Laster?“ und sein Blick blieb an der Stelle kleben: „Der Coitus interruptus ist auf dem Seewege von den Griechen zu den Juden gekommen.“ Erschuettert ueber solch unzuechtige Erforschung des antiken Transportwesens, legte er behutsam das Buch auf eine Darstellung der Leda, schwitzte wie ein Baer und starrte sinnierend vor sich hin. Vor ihm lagen zwei Weiber auf je einem Panterfell. „Apropos , wie geht es der lieben Nichte?“ wandte er sich an die Tante. „Nun , das ist ein huebsches Kind, das sich hoffentlich niemals auf einem Panterfell photographie-photographieren lassen wird; die Welt ist unsittlich, gute Frau, und ich B

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korrigiert aus: Irr ehren korrigiert aus: „ auf korrigiert aus: sagen:„ Ja korrigiert aus: „ Aus korrigiert aus: Sizilianerinnen.-Sind korrigiert aus: Dirne.korrigiert aus: Dirnen.korrigiert aus: Jungfrau.korrigiert aus: Hypnose.korrigiert aus: Kalender.korrigiert aus: Bundesgenosse.korrigiert aus: Talmud.Korrektur von fremder Hand: [1] Q uo korrigiert aus: „ Tugend korrigiert aus: kleben:„ Der korrigiert aus: „ Apropos korrigiert aus: „ Nun korrigiert aus: Kind,das korrigiert aus: unsittlich ,

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Als jener gesalbte Luestling im Antiquariat ueber die heilige Agnes sprach, betrat Agnes Pollinger den fuenften Stock des Hauses Schellingsstrasse 104 und stand nun vor dem Atelier Arthur Maria Lachners. „Akademischer Kunstmaler “ las sie auf dem Schilde unter seinem schoenen Namen. Und darunter hing ein Zettel mit der Ueberschrift „Raum fuer Mitteilungen, falls nicht zuhause“ und da stand: „Wir sind um zwo im Stefanie. Schachmatt. -- Sie kommt, ich erscheine um achtzehn Uhr. Kastner. -- War gestern abend da, Bloedian. Erwarte mich. Rembrandt. -- Was macht mein Edgar Allan Poe III. Band? Du weisst B

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las jetzt soeben im Marianischen Kalender, dass der Agnestag am 21. Januar ist. Nun, die Geschichte der heiligen Agnes ist erbaulich, ihr Sinnbild ist das Lamm. Nun, die heilige Agnes war eine schoene roemische Christin und weil sie die Ehe mit einem vornehmen heidnischen Juengling ausschlug, wurde sie in ein oeffentliches Haus gebracht, blieb aber auch da mit einem Heiligenschein versehen, unversehrt auf ihrem Lotterbett. Nun, als endlich aber ihr Braeutigam ihr Gewalt antun wollte, erblindete er, wurde aber auf ihre Fuerbitte hin wieder sehend. Nun, dennoch wurde sie zum Feuertode verurteilt, und weil sie die Flammen nicht verbrennen konnten, hat man sie enthauptet. Nun, das von dem Blindwerden faellt mir ein, wenn ich diese Schamlosigkeiten auf den Panterfellen hier erblicke. Nun, uebrigens ich muss nun gehen. Nun, also behuet Euch Gott, liebe Frau, - die Welt ist verroht, aber Gottes Muehlen mahlen langsam.“ Er ging. Und die Tante sagte: „Nun , das ist ein ganz hintervotziger Hund. Jedsmal bevor er rausgeht, erzaehlt er irgend so ein Schmarrn, damits nicht so auffaellt, dass er sich nie was kauft .“ Und die Krumbier meinte, auch ihre Schutzheilige, die heilige Afra, sei seinerzeit dem Venusdienst geweiht worden auf der Jnsel Zypern, aber eines Tages sei der heilige Bischof Narzissus in jenes Freudenhaus gekommen und haette dort die heilige Afra und ihre Mutter samt deren Dienerinnen getauft und jetzt ruhe Afras heiliger Leib in der Kirche von St. Ulrich in Augsburg. Die Tante brummte nur, es sei schon sehr merkwuerdig, dass soviele Heilige aus Freudenhaeusern stammen. Aber die Krumbier meinte, man koenne auch die Freudenmaedchen nicht so ohne  weiteres verdammen. So habe sie eine Bekannte gehabt, bei der haetten nur Huren gewohnt, doch die waeren peinlich puenktlich mit der Miete gewesen und haetten die Moebel schon sehr geschont, sauber und akkurat. Sie haetten sich ihre Zimmer direkt mit Liebe eingerichtet und nie ein unfeines Wort gebraucht. - B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

schon. -- Kann Dir mitteilen, dass ich nicht kann. Elly. -- Bin Mittwoch fuenf Uhr nachmittag da. Gruss Priegler.“ Und diese Mitteilungen umgaben auf dem Rande des Zettels lauter einzelne Worte, wie eine Girlande. Es waren meist Schmaehworte, wie: „Bruch , Aff, Mist, Trottel, Arsch, Rindvieh, Gauner, Hund usw.“ Neben dem Zettel erblickte Agnes eine kurze Schnur, an deren Ende urspruenglich ein Bleistift befestigt worden war, aber dieser Bleistift ist wiedermal geklaut worden, und nun hing die arme Schnur nur so irgendwie herunter, muerrisch, einsam und erniedrigt, ohne Zweck und ohne Sinn. Sie hatte ihre Daseinsberechtigung verloren und ihre einzige Hoffnung war ein neuer Bleistift. Sie wusste ja noch nicht, dass ihr Herr, der Lachner, bereits beschlossen hatte, nie  nie wieder einen Bleistift vor seine Tuer zu haengen. Die Schnur kannte den Dieb, sie wusste, dass er Kastner hiess, und es quaelte die Schnur, dass keine Behoerde ihre Anklagen zu Protokoll nahm. Agnes wollte laeuten, aber neben der Klingel hing ebenfalls ein Zettel: „Glocke ruiniert, bitte sehr stark gen die Pforte zu pochen. A M L.“ Und Agnes erriet, dass diese drei Buchstaben „Arthur Maria Lachner“ bedeuten und sie pochte sehr stark gegen die Pforte. Sie hoerte wie jemand rasch und elastisch einen langen Korridor entlang schritt und sie war ueberzeugt, dass dieser lange Korridor stockfinster ist, obwohl sie ihn ja noch nie gesehen hatte. Ein Herr in Pullover und Segelschuhen oeffnete: „Ach , Sie sind doch wahrscheinlich das Modell? Jenun, Sie kommen gerade recht, ich bin A M L und Sie heissen doch Pollinger, nicht? Alors, erlauben Sie, dass ich vorausgehe, der Korridor ist naemlich leider stockfinster. Bitte, nach mir!“ Und Agnes war befriedigt, dass sie es erraten, dass der Korridor stockfinster ist. -Das Atelier hingegen war hell und gross, die Sonne brannte durch die hohe Glasscheibe und Agnes dachte, hier muss es auch im strengsten Winter mollig warm sein; wenn nur auch im Winter die Sonne so scheinen wuerde wie im Sommer. Dann duerfte es ruhig schneien. Links an der Wand lehnte ein kleiner eiserner Herd. Auf ihm standen Bierflaschen, Teetassen, ein Teller, zwei verbogene Loeffel, ein ungereinigter Rasierapparat und die Briefe Vincent van Goghs in Halbleinen. Hinter einer spanischen Wand lag ein Grammophon in einem unueberzogenen Bette und rechts im Hintergrunde thronte ein Buddha auf einer Kiste, die mysterioes bemalt war. An den Waenden  Waenden hingen Reproduktionen von Greco und Bayros und drei Originalportraets phantastischer indischer Goettinnen von A M L. Die Staffelei wartete vor einem kleinen Podium, auf dem sich ein altes durchdruecktes Sofa zu schaemen schien. Es roch nach Oelfarben, Sauerkohl und englischen Zigaretten. Und A M L sprach: B

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Elly. --N ] Girlande.N ] B„BruchN ] Bnahm. -N ] BZettel: „GlockeN ] B„ArthurN ] B„AchN ] Bist. --N ] B B

korrigiert aus: Elly.-korrigiert aus: Girlande korrigiert aus: „ Bruch korrigiert aus: nahm.korrigiert aus: Zettel:„ Glocke korrigiert aus: „ Arthur korrigiert aus: „ Ach korrigiert aus: ist.--

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Fragmentarische Fassung

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„Wie , Sie heissen Agnes? Jch war einst mit einer Agnes befreundet, die schreib die entzueckendsten Maerchen, so irgendwie feine zarte in der Farbe. Sie war die Gattin unseres Botschafters in der Tschechoslowakei. Sie haben sie gekannt? Nein? Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versaeumt! Jch bin auch mit dem Botschafter befreundet, ich habe ihn portraetiert und das Bild haengt nun in der Nationalgalerie in Berlin. Kennen Sie Berlin? Nein? Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versaeumt! Als ich das letzte Mal in Berlin war, traf ich unter den Linden meinen Freund, den Botschafter in der Tschechoslowakei . Sie kennen doch die Tschechoslowakei? Nein? Jch auch nicht. Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versaeumt!“ Und dann sprach er ueber die alte Stadt Prag und erwaehnte so nebenbei den Golem. Und er meinte, er sei nun auf die tschechoslowakischen Juden zu sprechen gekommen, weil seine Grossmutter Argentinierin gewesen waere, eine leidenschaftliche Portugiesin, die man einst in Bremen wegen ihrer schwarzen Glutaugen leider fuer eine Jsraelitin gehalten haette -- und er unterbrach sich selbst ungeduldig: er wolle nun tatsaechlich nicht ueber die suedamerikanischen Pampas plaudern, sondern ueber sich, seine Sendung und seine Arbeitsart. Der Kastner wuerde es ihr ja wahrscheinlich schon mitgeteilt haben, dass er sie im Auftrage eines duesseldorfer Generaldirektors als Hetaere im Opiumrausch malen muss. So benannte A M L einen Viehhaendler aus Kempten zum Generaldirektor in Duesseldorf und Agnes wurde stutzig:  stutzig: der Kastner haette ihr doch gesagt, dass sie im Auftrage des hessischen Freistaates als Hetaere im Opiumrausch gemalt werden wuerde. Doch A M L laechelte nur und log: der Kastner haette sich versprochen, denn im Auftrage des hessischen Freistaates muesste er einen Madonna schaffen. Aber dazu benoetige er ein demievierge Modell mit einem wissenden Zug um den unbefleckten Mund. Er sei sich ja bewusst, dass er nicht das richtige Verhaeltnis zur Muttergottes besitze, und er fuehrte Agnes vor den Buddha auf der Kiste. Das sei sein Hausaltar, erklaerte er ihr. Sein Gott sei nicht gekreuzigt worden, sondern haette nur staendig seinen Nabel betrachtet und dieser Erloeser nenne sich Buddha. Er selbst sei naemlich Buddhist. Auch er wuerde regelmaessig meditieren, zur vorgeschriebenen Zeit die vorschriftsmaessigen Gebete und Gebaerden verrichten und wenn er seiner Eingebung folgen duerfte, wuerde er die Madonna mit sechs Armen, zwoelf Beinen, achtzehn Bruesten und drei Koepfen malen. Aber das Jnteressanteste an ihm sei, dass er trotz der buddhistischen Askese Sinn fuer Hetaeren im Opiumrausch habe, das sei eben sein Zwiespalt, er habe ja auch zwei verschiedene Gesichtshaelften. Und er zeigte ihr sein Selbstportraet. Das sah aus, als haette er links eine gewaltige Ohrfeige bekommen. „Die ungemeine Auspraegung der linken Gesichtshaelfte ist ein Merkmal der Jnvertiertheit,“ konstatierte er. „Alle grossen Maenner waren invertiert. Auch Oscar Wilde.“ B

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K2/TS5 (Korrekturschicht)

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korrigiert aus: „ Wie Korrektur von fremder Hand: Tschec\h/oslowakei korrigiert aus: gekommen,weil eingefügt korrigiert aus: Opiu rausch gemeint ist: demi-vierge korrigiert aus: bewusst,dass korrigiert aus: „ Die korrigiert aus: „ Alle

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ÖLA 3/W 137 – BS 5 a [5], Bl. 13

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

Neuerdings naemlich ueberraschte sich A M L bei Erregungen homosexueller Art. Als korrekter Hypochonder belauerte er auch seinen Trieb. Und Agnes betrachtete Buddhas Nabel und dachte, das waere bloss ein Schmeerbauch, und wenn der Buddhist noch nicht bloed sein sollte, so wuerde er bald verbloeden, so intelligent sei er.

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XIII

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Agnes trat hinter die spanische Wand. „Ziehen Sie sich nur ruhig aus“, vernahm sie des Buddhisten Stimme und hoerte, wie er sich eine Zigarette anzuendete. „Es ist bekannt, dass sich das erste Mal eine gewisse Scheu einstellt. Sie sind doch kein Berufsmodell. Jedoch nur keine falsche Scham! Wir alle opfern auf dem Altare der Kunst und ohne Schamlosigkeit geht das eben nicht, sagt Frank Wedekind.“ Agnes fand es hoechst ueberfluessig, dass er sich verpflichtet fuehlte, ihr das Entkleiden zu erleichtern, denn sie dachte sich ja nichts dabei, da es ihr bekannt war, dass sie gut gebaut ist. Einmal wurde sie von der Tante erwischt, wie sie sich gerade Umfang und Laenge ihres Oberschenkels mass, naemlich in der Sonntagsbeilage standen die genauen Masse der amerikanischen Schoenheitskoenigin Miss Virginia und die Redaktion der Sonntagsbeilage versprach derjenigen Muenchnerin hundert Mark, deren Koerperteile genau dieselben Masse aufweisen konnten. Die Tante behauptete natuerlich, das waeren wahrscheinlich die Masse eines Menschenaffen und Agnes taete bedeutend klueger, wenn sie auf das Arbeitsamt in der Thalkirchnerstrasse ginge statt sich von oben bis unten abzumessen, wie eine Badhur und sie fragte sie noch, ob sie sich denn ueberhaupt nicht mehr schaeme. Agnes dachte sich nur, wenn sie der Tante ihre Masse haette, dann wuerde sie sich allerdings schaemen und sie freute sich, dass sie genau so gebaut ist wie Miss Virginia. Nur mit dem Busen, dem Unterarm und den Ohren klappte es nicht so ganz genau, aber sie beschwindelte sich selbst und war ueberzeugt, das koenne bei der Verteilung der hundert Mark keinerlei Rolle spielen. Aber es spielte eine Rolle und die hundert Mark gewann ein gewisses Fraeulein Koeck aus der Blumenstrasse und in der naechsten Sonntagsausgabe protestierte dagegen ein Kaufmann aus der  Thierschstrasse, weil die Huefte seiner Gattin nur um einen knappen Zentimeter breiter waere, als die Huefte der Schoenheitskoenigin und Fraeulein Koeck haette doch hingegen um einen ganzen halben Zentimeter duennere Oberschenkel und um zwo Zentimeter laengere Finger. Auch ein Turnlehrer aus der Theresienstrasse protestierte und schrieb, man muesse ueberhaupt betreffs Hueften die Eigenart des altbayerischen Menschenschlages gebuehrender beruecksichtigen, und es gaebe doch gottlob noch unterschiedliche Rassenmerkmale. Und Agnes dachte, es gibt halt keine Gerechtigkeit. Damals schlug ihr dann der Kastner vor, ob er sie als kuenstlerischen Akt photographieren duerfe, aber sie muesse sich vorher noch so ein Laecheln wie die Hollywooder Stars antrainieren. Sie liess sich zwar nicht photographieren, versuchte aber vor dem Spiegel das Hollywooder Laecheln zu erlernen, fing jedoch ploetzlich an B

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korrigiert aus: Wand.„ Ziehen

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Fragmentarische Fassung

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K2/TS5 (Korrekturschicht)

Grimassen zu schneiden und erschrack derart ueber ihr eigenes Gesicht, dass sie entsetzt davonlief. Aber der Kastner liess nicht locker und noch vor zehn Tagen, als er mit ihr am Ammersee badete, versuchte er sie zu photographieren. Er erzaehlte ihr, dass in Schweden alles ohne Trikot badet, denn das Trikot reize die Phantasie ohne sie zu befriedigen und das waere ungesund. Hier mengte sich ein fremder Badegast in das Gespraech und sagte, er waere Schwede und er fragte Agnes, ob sie nicht mit ihm Familienkunde treiben wolle, massen sie einen Langschaedel habe und blau und blond sei; jedoch der Kastner wurde sehr boese und log, er selbst sei ebenfalls Schwede, worauf jener Schwede sehr verlegen wurde und kleinlaut hinzufuegte, er waere allerdings nur ein geborener Schwede, aber Privatgelehrter. -Dieser geborene schwedische Privatgelehrte fiel nun Agnes ploetzlich ein, weil  A M L sagte: „Jn Schweden badet alles ohne Trikot. Lassen Sie die Struempfe an! Ein weiblicher Akt mit Struempfen wirkt bekanntlich erotisierender. Meine Hetaere traegt Struempfe! Jch will die Hetaere mit Struempfen erschaffen, mit Pagenstruempfen! Eine Hetaere ohne Pagenstruempfe ist, wie - -“ Er stockte, denn es fiel ihm kein Vergleich ein, und er aergerte sich darueber und fuhr rasch fort: „Jch las gestern eine pittoreske Novelle von --“. Er stockte wieder, denn es fiel ihm kein Novellist ein und legte wuetend los: „Vorgestern habe ich mich rasiert und da habe ich mich furchtbar geschnitten und heute habe ich mich wieder rasiert und habe mich nicht geschnitten! Kennen Sie die Psychoanalyse? Es ist alles Symbol, das stimmt. Wir denken symbolisch, wir koennen nur zweideutig denken. Zum Beispiel: das Bett. Wenn wir an ein Bett denken, so ist das ein Symbol fuer das Bett. Verstehen Sie mich? Jch freue mich nur, dass Sie kein Berufsmodell sind. Jch hasse das Schema, ich benoetige Jndividualitaet! Ich bin naemlich krasser Jndividualist, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehoere zu jener „unsichtbaren Loge“ wahrer Geister, die sich ueber ihre Zeit erhoben und ueber die gestern in der „Neuesten “ ein fabelhaftes Feuilleton stand!“ Und waehrend Agnes ihr Hemd auf den Grammophon legte, verdammte er den Kollektivismus. B

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XIV

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Manchmal schwaetzte A M L als waere er ein Schwaetzer. Aber er schwaetzte ja nur aus Angst vor einem gewissen Gedanken. - Sein Vater war Tischlermeister gewesen und A M L hatte zuhause nie ein boeses Wort gehoert. Er erinnerte sich seiner Eltern als ehrlicher arbeitsamer Menschen  Menschen und manchmal traeumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten grossen Augen und fettigem Haar. Es war alles so schoen zuhause gewesen und zufrieden. Es ist gut gekocht und gern gegesssen worden und heute schien es A M L, als haetten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und den Weihnachtsmann. B

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Agnes, obN ] sagte: „JnN ] Bfort: „JchN ] Bvon --“. ErN ] Blos: „VorgesternN ] Bstimmt. WirN ] B„unsichtbarenN ] B„NeuestenN ] BMutter, einerN ] B B

korrigiert aus: Agnes,ob korrigiert aus: sagte:„ Jn korrigiert aus: fort:„ Jch korrigiert aus: von--“.Er korrigiert aus: los:„ Vorgestern korrigiert aus: stimmt.Wir korrigiert aus: „ unsichtbaren korrigiert aus: „ Neuesten korrigiert aus: Mutter,einer

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ÖLA 3/W 137 – BS 5 a [5], Bl. 17

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

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Und manchmal musste A M L denken, ob er nicht auch lieber Tischlermeister geworden waere mit einem Kind und einer rundlichen Frau mit guten grossen Augen und fettigem Haar. Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen. Und um nicht erschlagen zu werden, verkroch er sich vor jedem seiner Gedanken. Wenn er allein im Atelier sass, sprach er laut mit sich selbst, nur um nichts denken zu muessen. Oder er liess den Grammophon spielen, rezitierte Gedichte, pfiff Gassenhauer und manchmal schrieb er sogar sich selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Ueberschrift: „Raum fuer Mitteilungen, falls nicht zuhause.“ Er tat, wie die Chinesen tun, die ueberall hin Gloecklein haengen, um die boesen Geister zu verscheuchen. Denn die boesen Geister fuerchten auch das feinste Geraeusch und glotzen uns nur in der Stille an. Er hasste die Stille. Etwas in seinem Wesen erinnerte an seinen verstorbenen Onkel August Meinzinger in Graz. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und sass oft stundenlang auf Kinderspielplaetzen. Er war ein alter Herr und in seinem Magen wuchs ein Geschwuer. Er musste auf seine Lieblingsknoedel verzichten, wurde boshaft und bigott, bedauerte kein Moench geworden zu sein, las Buecher ueber die Folterwerkzeuge der Hoelle und nahm sich vor, rechtschaffene Taten zu vollbringen; denn er hatte solche Angst vor  vor dem Tode, dass er sich beschiss, wenn er eine Sense sah. Die Hoelle, das Magengeschwuer und die entschwundenen Lieblingsknoedel beunruhigten seine Phantasie. Einst als A M L vier Jahre alt wurde, besuchte Onkel August Muenchen. Und da es daemmerte, schlich er an A M Ls Bettchen und kniff ihn heimlich blau und gruen, weil er eingeschlafen war, ohne gebetet zu haben. Er schilderte ihm die Qualen der Hoelle und zitterte dabei vor dem juengsten Gericht wie ein verpruegelter Rattler. Der kleine A M L hoerte ihm mit runden Augen zu, fing ploetzlich an zu weinen und betete. Er wusste zwar nicht, was er daherplapperte und haette es auch garnicht begriffen, dass er ein suendiger Mensch ist. Seine Suenden bestanden damals lediglich darin, dass er mit ungewaschenen Haendchen in die Butter griff, was ihm wohl tat, dass er verzweifelte, wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des oefteren bemachte, in den Milchreis rotzte und den Pintscher Pepperl auf den Hintern kuesste. Und als A M L in die Schule kam, verschied der Onkel August in Graz nach einem fuerchterlichen Todeskampfe. Er roechelte zehn Stunden lang, redete wirres Zeug daher und bruellte immer wieder los: „Luege ! Luege! Jch kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein Mizzilein in den Kanal gestossen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Jch hab ja nur an den Waedelchen getaetschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!“ Und dann schlug er wild um sich und heulte: „Auf dem Divan sitzt der Satan! Auf B

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korrigiert aus: tischlermeister korrigiert aus: ers hlagen korrigiert aus: Ueberschrift:„ Raum korrigiert aus: wurde,besuchte gemeint ist: Pinscher korrigiert aus: los:„ Luege korrigiert aus: gestossen,Mizzilein korrigiert aus: heulte:„ Auf

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ÖLA 3/W 137 – BS 5 a [5], Bl. 18

Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

dem Divan sitzt noch ein Satan!“ Dann wimmerte er, eine Strassenbahn ueberfahre ihn mit Raedern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: „Es ist strengstens verboten mit dem Wagenfuehrer zu sprechen!“ Und des Onkels Seele schwebte himmelwaerts aus der steiermaerkischen Stadt  Graz und mit seinem Gelde wurde der Altar einer geraederten heiligen Maertyrerin renoviert und ihr gekroentes Skelett neu vergoldet, denn August Meinzinger hatte tatsaechlich sein ganzes Vermoegen aus ruecksichtsloser Angst vor dem hoellischen Schlund in jenen der alleinseligmachenden Kirche geworfen. Nur seinem Neffen A M L hatte er ein silbernes Kruzifixlein hinterlassen, welches dieser fuenfzehn Jahre spaeter, 1913 , im Versatzamt verfallen liess, denn er benoetigte das Geld fuer die Behandlung seines haushohen Trippers. Und kaum war er geheilt, brach der Weltkrieg aus. Er wurde Pionier, bekam in Belgrad das eiserne Kreuz und in Warschau seinen zweiten Tripper. Und kaum war er geheilt, brach Deutschland zusammen. Und waehrend die Menschen, die weitergehen wollten, erschossen wurden, bekam er seinen dritten Tripper. Und kaum war er geheilt, trat in Weimar die Nationalversammlung zusammen. Er wurde beherrscht und schwor, sich offiziell zu verloben, um seinen Geschlechtsverkehr gefahrlos gestalten zu koennen. Er wollte die Tochter eines Regierungsbaumeisters heiraten, es war eine reine Liebe und sie brachte ihm seinen vierten Tripper. Nun wurde er immer vergeistigter und bildete sich ein, er sei verflucht. Hatte er mal Kopfschmerzen, Katarrh , einen blauen Fleck, Mitesser, Husten, Fieber, Durchfall oder harten Stuhl, immer witterte er irgend einen mysterioesen Tripper. Er wagte sich kaum mehr einem Weibe zu naehern, hasste auch die Mottergottes und wurde Buddhist. Durch das Mikroskop erblickte er das Kleinod im Lotos. B

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Agnes stand nun vor A M L. Sie hatte nur ihre Struempfe an und schaemte sich, weil der eine zerrissen war, waehrend A M L meinte, es waere jammerschade, dass sie keine Pagenstruempfe habe. Dann forderte er sie auf, im Atelier herumzugehen. „Geloest“, sagte er, „Nur geloest!“ Und so geloest solle sie sich auch setzen, legen, aufstehen, niederknieen, kauern, aufstehen, wieder hinlegen, wieder aufstehen, sich beugen und wieder herumgehen -- das haetten naemlich auch die Modelle von Rodin genau so machen muessen. Selbst Balzac haette vor Rodin vierzehn Tage lang so geloest herumgehen muessen, bis Rodin die richtige Pose gefunden haette. Er habe es zwar nicht noetig, dabei Skizzen zu machen, wie jener, er behalte naemlich alle seine Skizzen im Kopf, B

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korrigiert aus: „ Es korrigiert aus: heuligen korrigiert aus: spaeter,1913

[Deutschland] korrigiert aus: Pionier,bekam korrigiert aus: wollten,erschossen korrigiert aus: Kattarrh gemeint ist: Muttergottes \XV./ korrigiert aus: zerissen korrigiert aus: „ Geloest“,sagte korrigiert aus: aufstehen,wieder

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Fragmentarische Fassung

K2/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

denn er habe ein gutes Gedaechtnis. Damit wolle er sich jedoch keineswegs mit Rodin vergleichen, das waere ja vermessen, aber es sei halt nun mal so. Agnes tat alles, was er wollte und wunderte sich ueber sein sonderbar sachliches Mienenspiel, denn eigentlich hatte sie erwartet, dass er sich ihr naehern werde. Und nun schaemte sie sich noch mehr ueber ihren zerrissenen Strumpf. Sie erinnerte sich des Fraeulein Therese Seitz aus der Schellingstrasse. Die war Berufsmodell und hatte ihr mal von einem Kunstmaler erzaehlt, der behauptet haette, er koennte sie leider nicht malen, wenn sie sich ihm nicht hingeben wollte und er muesste sie leider hinausschmeissen, das wuerde er naemlich seiner Kunst schuldig sein. Endlich fand A M L die richtige Pose. Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt und lag auf dem Bauche. „Halt !“ rief er, raste hinter seine Staffelei und visierte: „Jetzt hab ich die Hetaere! Nur geloest! Geloest! --  - es ist in die Augen fallend, dass sich die Kluft zwischen dem heutigen Schoenheitsideal und jenem der Antike immer breiter auftut. Jch denke an die Venus von Milo.“ Und waehrend A M L an Paris dachte, dachte Agnes an sich und wurde traurig, denn: „Was tut man nicht alles fuer zwanzig Pfennige in der Stunde!“ Ueberhaupt diese Kunst! Keine zwanzig Pfennige wuerde sie fuer diese Kunst ausgeben! Wie oft hatte sie sich schon ueber diese ganze Kunst geaergert! Wie gut haben es doch die Bilder in den Museen! Sie wohnen vornehm, frieren nicht, muessen weder essen noch arbeiten, haengen nur an der Wand und werden bestaunt, als haetten sie Gottweisswas geleistet. Aber am meisten aergerte sich Agnes ueber die Glypthotek auf dem Koenigsplatze, in der die Leute alte Steintruemmer beglotzten, so andaechtig, als stuenden sie vor der Auslage eines Delikatessengeschaeftes. Einmal war sie in der Glypthotek , denn es hat sehr geregnet und sie ging gerade ueber den Koenigsplatz. Drinnen fuehrte einer mit einer Dienstmuetze eine Gruppe von Saal zu Saal und vor einer Figur sagte er, das sei die Goettin der Liebe. Die Goettin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte und Agnes musste direkt laecheln und einer aus der Gruppe laechelte auch und loeste sich von der Gruppe und naeherte sich Agnes vor einer Figur ohne Feigenblatt. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar und vor dem Kriege haetten auf Befehl des Zentrums die Saaldiener aus Papier Feigenblaetter schneiden und diese auf die unsterblichen Kunstwerke haengen muessen und das waere wider die Kunst gewesen. Und er fragte Agnes, ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wolle und Agnes traf sich mit ihm auf dem Sendlingertorplatz. Er kaufte zwei Logenplaetze, aber da es  es Sonntag war und nass und kalt, war keine Loge ganz leer und das verstimmte ihn und er sagte, haette er das geahnt, so haette er zweites Parkett gekauft, denn dort sehe man besser, er sei naemlich sehr kurzsichtig. Und er wurde ganz melancholisch B

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werde. UndN ] zerrissenenN ] B„HaltN ] Bvisierte: „JetztN ] B N] B„WasN ] BGlypthotekN ] BGlypthotekN ] Bgewesen. UndN ] B B

korrigiert aus: werde.Und korrigiert aus: zerissenen korrigiert aus: „ Halt korrigiert aus: visierte:„ Jetzt gestrichen: „ korrigiert aus: „ Was gemeint ist: Glyptothek gemeint ist: Glyptothek korrigiert aus: gewesen.Und

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ÖLA 3/W137 – BS 5 a [5], Bl. 22

Fragmentarische Fassung

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K2/TS5 (Korrekturschicht)

Lesetext

und meinte, wer weiss, wann sie sich wiedersehen werden, er sei naemlich aus Augsburg und muesse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren und eigentlich liebe er das Kino garnicht und die Logenplaetze waeren verrueckt teuer. Agnes begleitete ihn hernach an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, da sie sich trennten und sagte: „Fraeulein , ich bin verflucht. Jch hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Soehne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau sechsundfuenfzig. Jch war immer Jdealist. Fraeulein, Sie werden noch an mich denken. Jch bin Kaufmann. Jch hab Talent zum Bildhauer.“ B

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sagte: „FraeuleinN ]

korrigiert aus: sagte:„ Fraeulein

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K2/TS6 (Korrekturschicht)



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ÖLA 3/W 136 – BS 5 a [4], Bl. 1

Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Eugen kennen lernte, da war es noch Sommer. Sie waren Beide arbeitslos und Eugen knüpfte daran an, als er sie ansprach. Das war in der Thalkirchnerstrasse vor dem städtischen Arbeitsamt und er sagte, er sei bereits zwei Monate ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher. Sie sagte, sie sei bereits fünf Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr schöne Stadt und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wolle , er habe so lange nicht mehr diskuriert, denn er kenne hier nur seine Wirtin und das sei ein pedantes Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante und schwieg. Er lächelte und sagte, er freue sich sehr, dass er sie nun kennen gelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Hierauf gingen sie spazieren. Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauerstrasse, dann die Augustenstrasse entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld. Als Eugen die ehemaligen Kasernen sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Mächte, die stärker waren als der Mensch, aber so dürfe man nicht denken, denn dann müsste man sich aufhängen. Sie sagte, er solle doch nicht so traurig daherreden, hier sei nun das Oberwiesenfeld und er solle doch lieber sehen, wie weit heut der Horizont wär und wie still die Luft, nur ab und zu kreise über einem ein Flugzeug, denn dort drüben sei der Flughafen. Er sagte, das wisse er schon und die Welt werde immer enger, denn bald wird man von dort drüben in zwei Stunden nach Australien fliegen, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn  von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett gehen wollte und derweil in den Himmel kam. Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich grossartig, dass der menschliche Geist solche Höhen erklimmt und sie werde es ja auch noch erleben, dass, wenn das so weiter geht, Europa zu Grunde gehen wird. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse und er habe gestern gelesen, dass sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil sich die Kapitalisten anfangen zu organisieren. Sie sagte, jener amerikanische künstliche Mensch würde sie schon sehr interessieren. Er sagte, auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen. B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 136 – BS 5 a [4], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Das war Ende August 1928. Es hatte wochenlang nicht mehr geregnet und man prophezeite einen kurzen trüben Herbst und einen langen kalten Winter. Die Landeswetterwarte konstatierte, dass das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein und auch der Golfstrom sei nichtmehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Am Nachmittag hatte es zwar dreimal gedonnert, aber wieder nicht geregnet und nach Sonnenuntergang war es noch derart drückend schwül, als hätte die Luft Fieber. Erst um Mitternacht setzte sich langsam der Staub auf die verschwitzte Stadt. Agnes fragte Eugen , ob auch er es fühle, wie schwül der Abend sei und dann: sie denke nun schon so lange darüber nach und könne es sich gar nicht vorstellen, was er für einen Beruf hätte. „Kellner “ sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute sicher in einem ausländischen Grandhotel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Bisra . Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Er hätt zehn Neger unter sich und tät dem Vanderbildt seinem Neffen servieren, er hätt fürstlich verdient und hätt sich mit fünfzig ein kleines Hotel im Salzkammergut gekauft. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Serajewo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der wo der österreich-ungarische Thronfol-ger war, erschossen haben. Sie sagte, sie wisse nicht, was dieses Serajewo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, gleich ganz zu Beginn und so viel sie gehört hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an den ganzen Weltkrieg nicht gut erinnern, denn als der seinerzeit ausbrach, da sei sie erst vier Jahr alt gewesen. Sie erinnere sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals sei ihre Mutter an der Kopfgrippe gestorben. Sie habe zwar ihre Mutter nie richtig geliebt, die sei sehr mager gewesen und so streng weiss um den Mund herum und sie hätt oft das Gefühl gehabt, dass die Mutter denke: warum lebt das Mädel? Sie habe noch heut ab und zu Angst, obwohl nun die Mutter seit fünf Jahren tot sei. So habe sie erst neulich geträumt, sie sei wieder ganz klein und ein General mit lauter Orden sei in der Küche erschienen und habe gesagt: „Im Namen Seiner Majestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!“ Und die Mutter habe nur gesagt: „Soso , wenn er nur nicht wieder den Hausschlüssel verliert.“ Und der General habe präsentiert und sei verschwunden und die Mutter habe sich vor sie hingeschlichen und sie entsetzlich gehässig angeglotzt. Dann habe sie das Licht ausgedreht, weil es plötzlich Nacht geworden sei, und den Gashahn aufgedreht und etwas vor sich hingemurmelt, das habe geklungen wie eine Prozession. Aber plötzlich sei es unheimlich licht geworden und das war überirdisch. Und Gottvater selbst B

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LandeswetterwarteN ] drückendN ] BEugenN ] B„KellnerN ] BBisraN ] BVanderbildtN ] BSerajewoN ] BSerajewoN ] BfünfN ] Bgesagt: „ImN ] Bgesagt: „SosoN ] BundN ] Bangeglotzt.N ] B N] B B

Landeswetter[k]|w|arte drückend[,] [Karl] |Eugen| korrigiert aus: „ Kellner gemeint ist: Biskra gemeint ist: Vanderbilt gemeint ist: Sarajevo gemeint ist: Sarajevo [sechs] |fünf| korrigiert aus: gesagt:„ Im korrigiert aus: gesagt:„ Soso un\d/ [habe] korrigiert aus: angeglotzt [habe]

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ÖLA 3/W 136 – BS 5 a [4], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

sei zur Türe hereingekommen und habe zur Mutter gesagt: „Was tust Du Deinem Kinde? Das ist strengstens verboten, Frau Pollinger!“ Dann habe der Gottvater das Fenster aufgerissen und den Gashahn geschlossen. Und Agnes erklärte Eugen: „Solche Dummheiten träumt man oft, aber das war eine blöde Dummheit.“ Und Agnes dachte, wenn sie heut an ihre Kindheit zurückdenkt, so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draussen scheint die Sonne, aber kein Strahl fällt in das Zimmer. Sie hat das Gefühl, als schwebe der Raum ungeheuer hoch über der Erde. Und dann weiss sie, dass draussen tief unten in der Ebene ein breiter Fluss fliessen würde, wenn sie grösser wäre und durch das Fenster sehen könnte. Lautlos fährt ein Zug über die Brücke. Der Abend wartet  am Horizont mit violetten Wolken. Aber das ist freilich alles ganz anders gewesen. Der Himmel war verbaut und durch das Fenster jenes Zimmers sah man auf einen trüben Hof mit Kehrrichttonnen und verkrüppelten Fliederbüschen. Hier klopften die Hausfrauen Teppiche und wenn ihre Hündinnen läufig waren, liessen sie sie nur hier unten spazieren, denn draussen auf der Strasse wimmerten die Kavaliere. Kinder durften hier aber nicht spielen, das hat der Hausmeister untersagt, seit sie den Flieder gestohlen und ohne Rücksicht auf die sterbende böse Grossmutter Biedermann im ersten Stock gejohlt und gepfiffen haben, dass irgend ein Tepp die Feuerwehr alarmierte. Dies Haus steht noch heute in Regensburg und im dritten Stock links erlag 1923 Frau Helene Pollinger der Kopfgrippe. Sie war die Witwe des auf dem Felde der Ehre gefallenen Artilleristen und Zigarettenvertreters Martin Pollinger. Und ungefähr fünf Jahre später, Ende August 1928, ging ihre Tochter Agnes mit einem arbeitslosen Kellner aus Österreich über das Münchener Oberwiesenfeld und erzählte: „Als sie meine Mutter begrabn habn, da war es der achtundzwanzigste Oktober und dann bin ich von Regensburg zur Tante nach München gefahrn. Ich war, glaub ich, grad vierzehn Jahr alt und hab im Zug sehr gefroren, weil die Heizung hin war und das Fenster kein Glas nicht gehabt hat, es war nämlich grad Infalation. Die Tante hat mich am Hauptbahnhof erwartet und hat geweint, nun bin ich also ein Waisenkind, ein Doppelwaisenkind, ein Niemandskind, ein ganz bedauernswertes und dann hat die  Tante furchtbar geschimpft, weil sie nun gar nicht weiss, was sie mit mir anfangen soll, sie hat ja selber nichts und ob ich etwa glaub, dass sie etwas hätt und ob meine Mutter selig vielleicht geglaubt hätt, dass sie etwas hätt und wenn ich auch die Tochter ihrer einzign Schwester selig bin und diese einzige Schwester selig soebn in Gott verstorbn ist, so muss man halt doch schon wissn, dass ein Jeder sterben muss, B

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 1

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korrigiert aus: gesagt:„ Was korrigiert aus: [Karl] Eugen :„ Solche korrigiert aus: Dummheit. “

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[mit Brandma[r]|u|ern] [vor dem Tore] |auf f Strasse| alarmiert\e./ [hat.] korrigiert aus: „ Als [und hat furchtbar geschimpft, dass der Zug zwei Stunden Verspätung gehabt hat, weil gerad der Zug vor mir entgleist ist und so hat mein Zug umgeleitet werdn müssn und dann hat mich die Tante abgeküsst] geweint\,/ [und hat immer wieder gesagt]

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

keiner lebt ewig nicht, da hilft sich nichts. Und die Tante hat gesagt, auf die Verwandtn ist wirklich kein Verlass nicht. Ich bin dann bald zu einer Näherin gekommen und hab dort nähen gelernt und hab Pakete herumtragn müssen in ganz München, aber die Näherin hat paar Monat drauf einen Postbeamten geheiratet, nach Ingolstadt. Da hat die Tante wieder furchtbar geschimpft und hat mich hinausschmeissn wolln, aber ich bin im letztn Moment zu einer anderen Näherin gekommen, dort hab ich aber ein Kostüm verschnittn und dann bin ich wieder zu einer anderen Näherin gekommen, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn und dann hab ich wirklich Glück gehabt, dass ich gleich wieder zu einer Näherin gekommen bin, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn, ich hab schon wirklich Pech gehabt.“ Und Agnes fuhr fort, im letzten Kriegsjahr sei mal die Tante in Regensburg gewesen und habe gesagt, sie sehe zwar ihrem Vater schon gar nicht ähnlich, aber sie hätte genau sein Haar, worauf ihre Mutter gemeint habe: „Gelobt sei Jesus Christus, wenn Du sonst nichts von ihm hast!“ Und dazu habe die Mutter so bissig gegrinst, dass sie sehr böse geworden ist, weil ja der Vater schon tot geschossen gewesen wäre, und sie habe die Mutter sehr geärgert gefragt, was sie denn von ihr hätte. Da sei aber die Mutter plötzlich sehr traurig geworden und habe nur gesagt: „Sei froh, wenn Du nichts von mir hast!“ Sie glaube auch, dass sie schon rein gar nichts von der Mutter habe. Sie habe jedoch ein Jugendbildnis der Grossmutter aus Straubing gesehen und da sei sie direkt erschrocken, wie ähnlich sie der sehe. Sie könnte ihre Tochter sein oder ihre Schwester. Oder sie selbst. Eugen meinte, dass jeder Mensch Verwandte hat, der eine mehr und der andere  weniger, entweder reiche oder arme, boshafte oder liebe, und jeder Verwandte vererbt einem etwas, der eine mehr und der andere weniger, entweder Geld, ein Haus, zwei Häuser oder einen grossen Dreck. Auch Eigenschaften wären erblich, so würde der eine ein Genie, der zweite Beamte, der dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloss Nummern, die sich alles gefallen liessen. Nur wenige liessen sich nicht alles gefallen und das wäre sehr traurig. Und Eugen erzählte, er habe vor dem Weltkrieg im Bahnhofscafe in Temesvar den Bahnhofsvorstand bedient, das sei ein ungarischer Rumäne gewesen und hätte angefangen über die Vererbung nachzugrübeln, hätte sich Tabellen zusammengestellt, addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und im Lexikon studiert von A bis Z und wäre endlich dahintergekommen, dass jeder mit jedem irgendwie verwandt ist, mit jedem Räuber, Mörder, General, Minister, sogar mit jedem römisch-katholischen Priester und dem Wunderrabbi von Kolomea. Darüber sei er dann verrückt geworden und hätte aus der Irrenanstalt Briefe an seine Verwandten geschickt. So habe er zu Weihnachten Franz Joseph folgendermassen gratuliert: Liebe Nichte! Ich wünsche Dir einen recht angenehmen Geburtstag. Herzliche Grüsse aus dem K. K. priv. Narrenhaus! Das Wetter ist schön Auf Wiedersehn! Es küsst Dich Deine Mama. B

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gewesen undN ] ZN ] Brömisch-katholischenN ] B B

korrigiert aus: gewesen und korrigiert aus: Zz korrigiert aus: römisch-katholischem

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

Und Eugen erklärte Agnes, obwohl jener Bedauernswerte korrekt verrückt gewesen sei, hätte jener doch recht gehabt, denn jeder Mensch sei tatsächlich mit jedem Menschen verwandt, aber es habe keinen Sinn, sich mit dieser Verwandtschaft zu beschäftigen, denn wenn man sich all das so richtig überlegen würde, müsste man wahrscheinlich auch verrückt werden. Da habe der alte Schuster Breitenberger in Press-burg schon sehr recht gehabt, wie er, bevor er gestorben ist, zu seiner versammelten Familie gesagt hat: „Leutl , wenn ihr mal recht blöd seids, so denkts an mich!“ Agnes sagte, sie denke fast nie an ihre Familienverhältnisse und sie wundere sich schon eine ganze Weile sehr, wieso, wodurch und warum sie darauf zu sprechen gekommen sei. Eugen sagte, er denke überhaupt nie an seine Vorfahren, er sei doch kein Aristokrat, der darüber Buch führe, damit er es sich auf den Tag ausrechnen könne, wann er verteppen würde. So endete das Gespräch über die liebe Verwandtschaft. -Der Tag gähnte, er war bereits müde geworden und zog sich schon die Stiefel aus, als Agnes fühlte, dass Eugen bald ihre Hüfte berühren werde. Er tat es auch und sagte „Pardon!“ B

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 4

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Zehn Minuten später sassen Agnes und Eugen unter einer Ulme. Er hatte sie nämlich gefragt, ob sie sich nicht setzen wollten, er sei zwar nicht müde, aber immerhin hätte er nichts dagegen, wenn er sich setzen könnte. Sie hatte ihn etwas misstrauisch angeschaut, und er hatte ein ganz unschuldiges Gesicht geschnitten, aber sie hatte ihm diese Unschuld schon gar nicht geglaubt und gesagt, sie hätte nichts dagegen, dass er sich setzen wollte, er könnte sich ruhig setzen und wenn er sich setzen würde, würde sie sich auch setzen. Es war nirgends eine Bank zu sehen und sie haben sich dann ins Gras gesetzt. Unter einer Ulme. Das war ein grosser alter Baum, und die Sonne ging unter. Im Westen, natürlich. Überhaupt ging alles seine schicksalhafte Bahn, das Grösste und das Kleinste, auch unter der Ulme. Man hörte es fast gehen, so still war es ringsum.  Auch Agnes und Eugen sassen schweigend unter ihrer Ulme und sie dachte: „So ein Baum ist etwas schönes.“ Und er dachte: „So ein Baum ist etwas schönes.“ Und da hatten sie Beide recht. B

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korrigiert aus: hat:„ Leutl

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hat: „LeutlN ] denktsN ] BVerwandtschaft. --N ] Bsagte „Pardon!“N ] B2.N ] Bgeschnitten,N ] Bdachte: „SoN ] BUndN ] Bdachte: „SoN ]

denkt\s/ korrigiert aus: Verwandtschaft.-korrigiert aus: sagte„ Pardon!“

[II.] |2.| korrigiert aus: geschnitten , korrigiert aus: dachte:„ So

[u]|U|nd korrigiert aus: dachte:„ So

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

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Lesetext

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Agnes lachte. Es fiel ihr nämlich plötzlich ein, dass sie ja noch gar nicht weiss, wie der Mann da neben ihr heisst. Sie wisse ja nur, dass er den Vornamen Eugen hat und vielleicht hat er einen sehr komischen Nachnamen, etwa Käsbohrer, Itzelplitz, Rindskopf, Kalbskopf oder die drei bayerischen Köpf: Holzkopf, Gipskopf, Saukopf oder Baron Rotz, Fürst Steiss, Graf Huber Sepp – Warum sie denn lache und worüber, erkundigte sich Eugen. Es sei ihr nur etwas eingefallen. Was? Es sei ihr eingefallen, dass sie einmal einen Menschen kannte, der Salat hiess. Er meinte, dass fände er gar nicht komisch, eher tragisch. So kenne er einen tragischen Fall, einen Kollegen in Linz, der an seinem Familiennamen zu Grunde gegangen ist. „Er hiess Johann Suppe und war in ganz Oberösterreich berühmt, er war nämlich der Zahlkellner im „Erzherzog Albrecht “ und alle Gäste riefen ihm nur per „Herr Rindssuppe ! Herr Nudelsuppe! Herr Reissuppe! Herr Krautsuppe! Zahlen‚ Herr Brotsuppe! Sie haben sich verrechnet, Herr Erdäpfelsuppe! Wo bleibt meine Erbsensuppe, Herr Erbsensuppe?! Was macht mein Bier, Herr Biersuppe?! Schweinerei das, Herr Schweinssuppe!“ undsoweiter, bis er eines Tages sagte: „Jetzt hab ich aber die Suppen satt! Meiner Seel, ich lass mich umtaufen und wenn ich Pischeles heissen werd!“ Er ist aufs Magistrat  gegangen, um die Formulare zur Namensänderung auszufüllen, aber diese Formulare hatte ein Beamter unter sich, der auch Stammgast im „Erzherzog Albrecht“ war und der hat ihn gleich per „Herr Bohnensuppe“ apostrophiert und hat ihn gefragt: „Na wo fehlts denn, mein lieber Bouillon mit Ei?“ und da hat sich mein unglücklicher Kollege eine Beamtenbeleidigung geleistet und hat sich dann später im Gefängnis ein Magenleiden geholt, und wie er dann herausgekommen ist, da hat ihm der Arzt gesagt: „Sie müssen strengste Diät halten, Sie dürfen nur mehr Suppe essen, sonst nichts.“ Da ist er sehr bleich geworden und der Arzt hat ihn trösten wollen und hat gesagt: „Ja , so ist das Leben, B

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3.N ] nur,N ] BItzelplitz, Rindskopf, KalbskopfN ] BSepp –N ] Berkundigte sichN ] B„ErN ] BJohannN ] B„ErzherzogN ] BAlbrechtN ] B„Herr RindssuppeN ] BKrautsuppe! Zahlen, HerrN ] Bundsoweiter, bisN ] Bsagte: „JetztN ] Bsatt! MeinerN ] BheissenN ] BAlbrecht“ warN ] B„HerrN ] Bgefragt: „NaN ] Bgesagt: „SieN ] B„JaN ] Bso f Leben,N ] B B

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 6

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

mein lieber Herr Kraftbrühe!“ und da hat er sich an dem Arzt vergriffen und hat wegen schwerer Körperverletzung Kerker gekriegt und hat sich dann dort erhängt. Er ist an sich selbst gestorben.“ Und Eugen schloss, er sei froh, dass er nicht Johann Suppe heisse , sondern Eugen Reithofer. Und Agnes war auch froh, dass sie nicht Agnes Suppe heisst , sondern Agnes Pollinger, und er meinte, Pollinger sei kein so verbreiteter Name wie Reithofer und er sei fest überzeugt, dass sie sehr froh sein darf, dass sie Pollinger heisst, denn ein verbreiteter Name bereite einem oft eklatante Scherereien: „So war ich mal 1913 in einem gewissen Café Mariahilf und der Cafétier hat auch Reithofer geheissen. Kommt da an einem Montag ein eleganter alter Pensionist, hat sich einen Kapuziner bestellt und mich in einer Tour fixiert und hat dann sehr höflich gefragt: „Pardon , Sie sind doch der Herr Reithofer selbst?“ „Ja“ hab ich gesagt und da hat er gesagt: „Also , Pardon, mein lieber Herr Reithofer, ich bin der Oberstleutnant Ferdinand Reithofer und ich möchte Sie nur bitten, dass Sie sich nicht allen Menschen per Oberstleutnant Reithofer vorstellen, Sie ordinärer Hochstapler und Canaille!“ Da hab ich ihm natürlich zwei Watschen gegeben und er ist davon gestürzt, als hätt ich ihm auch noch zwei Fusstritt gegeben, denn ich hab mich noch nie per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt und ich hab im Moment nicht gedacht, dass dieser Pensionist ja gar nicht mich sondern den Cafètier gemeint hat, der ja auch Reithofer geheissen hat. Der Cafètier hat dann am Dienstag eine Vorladung auf das  Kommissariat bekommen, er ist hin und dort haben sie ihn dann verhört wegen der beiden Watschen und dem einen Fusstritt. Er hat überhaupt von nichts gewusst, er hat sich nämlich auch noch nie per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt und das Ganze war ein Irrtum von dem Pensionisten Reithofer. Nämlich der, der sich per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt hat, das war ein gewisser Versicherungsagent Reithofer aus dem VIII. Bezirk, aber die Polizei hat gesagt, das spiele eine sekundäre Rolle, sie verhöre ihn jetzt nur wegen der beiden Watschen und dem Fusstritt und der Cafétier Reithofer hat gemeint, dass er verrückt geworden ist oder vielleicht hypnotisiert worden ist und ist wütend ins Café zurückgekommen und hat seinen Ärger am Piccolo ausgelassen. Er hat ihm zwei Watschen gegeben. Dieser Piccolo hat auch Reithofer geheissen.“ BN

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] hat sichN ] Berhängt. f selbstN ] BheisseN ] BheisstN ] BfrohN ] Bdarf,N ] BScherereien: „SoN ] Bgefragt: „PardonN ] Bselbst?“ „Ja“N ] Bgesagt: „AlsoN ] BCanaille!“N ] BCafètierN ] BCafètierN ] BnichtsN ] BReithofer. NämlichN ] BspieleN ] BverhöreN ] BhypnotisiertN ] Bausgelassen.N ] BErN ] B N] B N B

[\schweren/] [ist] |hat sich| [an Verzweiflung] |erhängt. f selbst| heiss[t]|e| heiss[e]|t| f\r/oh [kann,] |darf,| korrigiert aus: Scherereien:„ So korrigiert aus: gefragt:„ Pardon korrigiert aus: selbst?“„Ja“ korrigiert aus: gesagt:„ Also Canaille!\“/ Caf[é]|è|tier Caf[e]|è|tier nicht\s/ korrigiert aus: Reithofer.Nämlich spiel[t]|e| verhör[t]|e| korrigiert aus: hypnosisiert ausgelassen[,] |.| [nämlich] [e]|E|r [wegen nichts]

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Während Eugen sprach, kam Agnes immer mehr und mehr dahinter, dass dies eine sehr verwickelte Geschichte ist . Und sie wurde traurig, denn auf einmal schien ihr alles auf der Welt so fürchterlich verwickelt zu sein, dass jeder in alles unerbittlich hineingewickelt wird. Da könne sich keiner herauswickeln und sie bedauerte sich selbst, als hätte sie von jenem ungerechten Cafétier Reithofer jene zwei Watschen bekommen. „Ich bin doch auch nur ein Piccolo“, dachte sie und Eugen konstatierte: „Freilich geht das nicht immer so glücklich aus, indem irgendsoein Piccolo zwei Watschen kriegt. So hat man mich mal fast verhaften wollen, weil ein Zahlkellner, der wo auch Reithofer geheissen hat, seine Braut erschlagen, zerstückelt und im Herd verbrannt hat. Später hat es sich erst rausgestellt, dass der nicht Reithofer geheissen hat, sondern Wimpassinger.“ Agnes konstatierte, jeder Lustmord sei ein scheussliches Verbrechen und Eugen erwiderte, heute hätten es sich die Kapazitäten ausgerechnet, dass jeder Lustmord eine Krankheit wäre, ein ganz gewöhnliches Gebrechen, wie etwa ein Buckel oder ein Schnupfen. Die Lustmörder seien nämlich alle wahnsinnig, aber die Kapazitäten hätten  es sich ausgerechnet, dass fast jeder Mensch ein bisserl wahnsinnig wäre. Agnes meinte, sie sei ganz normal. Eugen meinte, auch er sei ganz normal. So endete das Gespräch über die komischen Familiennamen und deren tragische Folgen, über die beiden Watschen und den armen Kellner Johann Suppe, über Lustmörder und Kapazitäten mit besonderer Berücksichtigung des normalen Geschlechtsverkehrs. B

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Es wurde immer dunkler unter der Ulme und Eugen dachte: „Also einen Lustmord könnt ich nie machen“. Und Agnes dachte: „Also wie ein Lustmörder sieht der nicht aus,“ worauf sie ihn fragte, ob er Berlin kenne? Sie möchte mal gerne nach Berlin. Oder gar nach Amerika. Auch in Garmisch-Partenkirchen sei sie noch nie gewesen, sie habe überhaupt noch nie einen richtigen Berg gesehen und sie habe gehört, dass die Zugspitze ein sehr hoher Berg sei mit eisernen Nägeln in der Wand, an denen die Turisten hinaufkletterten und viele Sachsen abstürzten. Sie wartete, aber seine Antwort auf ihre Frage, ob er Berlin kenne, gar nicht ab, sondern erklärte ihm, dass nach ihrer innersten Überzeugung jene Turisten, die über B

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 8

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

jene eisernen Nägel hinaufkletterten, durchaus schwindelfrei sein müssten und, dass jene Sachsen, die herunterfielen, sicherlich nicht schwindelfrei wären. Und sie teilte ihm mit, dass sie nur zwei Städte auf der ganzen Erde kennt, nämlich München und Regensburg, wo sie geboren sei . Regensburg liege an der Donau und in der Nähe sei die Walhalla, wo die berühmten Männer als Marmorbüsten herumständen, während München an der Isar liege. Die Donau sei zwar grösser als die Isar, aber dafür könne die Isar nichts. Hinwiederum sei die Isar zwar grüner als die Donau, dafür sei aber wieder München die Hauptstadt Bayerns. So sprach sie, ohne zu wissen, was sie sprach, denn sie dachte nur daran, dass et was vor sich gehen werde, sobald sie aufhören würde zu sprechen, nämlich er hat ja schon mal ihre Hüfte berührt. Er hat zwar „Pardon!“ gesagt, aber unter der Ulme wurde es, wie gesagt, immer dunkler und auf so ein „Pardon!“ ist kein Verlass. Sie hatte Angst vor dem Ende ihrer Erzählungen, wie Scheherazade in tausend und einer Nacht. Sie erzählte zwar keine Märchen, sondern Blech und Mist und Eugen wurde ganz melancholisch und dachte sich: „Sind denn alle Mädel blöd? Oder ist das nur so eine weibliche Nervosität, nämlich so Frauen sind sehr sensibel, die spürens gleich im vornhinein.“ Und er erinnerte sich an eine zarte Blondine, das war die Frau des Restaurateurs Klein in Pressburg, eine ungarische Jüdin, die hat mal zu ihm gesagt: „Spüren Sie denn gar nichts, Herr Jenö?“ Er hat gesagt, nein, er spürte gar nichts und er könnte es sich überhaupt nicht vorstellen, was er spüren sollte , worauf sie gesagt hat : „Freytag Nacht verreist mein Herr Gemahl und heut ist Freytag. Spüren Sie denn noch immer nichts, lieber Jenö?“ Da hat er schon etwas gespürt und Freytag Nacht im Bett hat sie ihm dann zugehaucht, sie hätte es schon am Montag vor vierzehn Tagen gespürt, dass er Freytag Nacht so süss sein werde. So sensibel war jene blonde Frau Klein. „Aber nicht nur die Blondinen, auch die Schwarzen sind sensibel“, überlegte Eugen. „Auch die Brünetten, die Strohgelben und Tizianroten -- und auch diese B

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durch[ ][a]|a|us [ist] |sei| h[abe]|at| h[abe]|at| korrigiert aus: „ Pardon!“ d[i]|u|nkler korrigiert aus: „ Pardon!“ korrigiert aus: sich:„ Sind korrigiert aus: Pressburg, eine korrigiert aus: gesagt:„ Spüren korrigiert aus: nichts,Herr [sagte,] |hat gesagt,| spür[e]|te| könn[e]|te| soll\t/e [sagte] |gesagt hat| korrigiert aus: „ Freytag h[abe]|ätte| w[ird.]|erde.| korrigiert aus: „ Aber sensibel“[;]|,| Eugen[,]|.| [„a]|„A|uch korrigiert aus: Tizianroten--

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 9

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Agnes da ist genau so sensibel, sonst tät sie eben keine solchen Blödheiten daherreden.“ Sie fing ihm an leid zu tun wegen ihrer Sensibilität. Sie musste sich ja furchtbar anstrengen mit dem vielen Reden, weil sie es auch im vornhinein spürt. Und er dachte, das wäre jetzt sehr edel, wenn er ihr nur väterlich über das Haar streichen, ihr Zuckerln schenken und sagen würde: „Geh ruhig nachhaus, mein liebes Kind.“ Er tat es natürlich nicht, sondern lächelte sanft und verlegen, als würden die Kind lein zu ihm kommen. Und Agnes redete, redete, redete, ohne Komma, ohne Punkt -- nur ab und zu flatterte aus all dem wirren Geschwätz ein ängstliches Fragezeichen über das stille Oberwiesenfeld. B

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1 6 10 10 15 17 25 27 38

sensibel, sonstN ] würde: „GehN ] BPunkt --N ] BundN ] B5.N ] Bfragen, obN ] Bsagen: „WasN ] BKnien daN ] BKnie -- daN ] B B

ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 10

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Sie wollte ihn gerade fragen, ob auch er es nicht glaube, dass an all dem Elend die Juden schuld sind, wie es der Hitler überall herumplakatiert, da legte er seine Hand auf ihr Knie und sie verstummte. Mittendrin. Sie fühlte seine linke Hand auf ihrem linken Knie. Seine Hand war stark und warm. Und wurde immer stärker und sie fühlte ihre Wärme durch den Strumpf dringen bis unter ihre Haut und sie selbst wurde immer unentschlossener, was sie nun mit seiner linken Hand und ihrem linken Knie anfangen soll. Soll sie sagen: „Was machens denn da mit ihrer linken Hand? Glaubens nur ja nicht, dass mein linkes Knie ihrer linken Hand gehört! Mein Knie ist kein solches Knie! Mein Knie ist zum Knien da , aber nicht dazu, dass Sie mich am End noch aufregen!“ Oder soll sie gar nichts sagen, sondern nur sanft seine linke Hand von ihrem linken Knie langsam wegheben oder spassig über seine linke Hand schlagen und dazu lächeln, aber dann würde sie ihn vielleicht erst auf irgendwelche Kniegedanken bringen, denn vielleicht weiss er es ja noch gar nicht, dass er seine linke Hand auf ihrem linken Knie hat, er hat sie vielleicht nur zufällig da und dann wäre ihr das sehr peinlich, denn dann würde er denken, dass sie denkt, dass er seine linke Hand nicht zufällig auf ihrem linken Knie hat. Oder soll sie überhaupt nichts sagen und nichts tun, sondern nur warten, bis er seine linke Hand von ihrem  linken Knie nimmt, denn er weiss sicher nichts von seiner linken Hand, er sitzt ja ganz weltverloren neben ihr und scheint an etwas ernstes zu denken und nicht an ein linkes Knie -- da fühlte sie seine Hand auf ihrem rechten Knie. B

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korrigiert aus: sensibel,sonst korrigiert aus: würde:„ Geh korrigiert aus: Punkt-korrigiert aus: zu

[V.] [|5.|] |5.| korrigiert aus: fragen , ob korrigiert aus: sagen:„ Was korrigiert aus: Knien da korrigiert aus: Knie--da

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 11

Fragmentarische Fassung

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

Sie presste sich erschrocken zusammen und da lag nun seine linke Hand auf ihren beiden Knien. So gross war er. Und Agnes dachte: also ist der da neben mir doch nicht so weltverloren, aber er scheint noch immer an etwas sehr ernstes zu denken und vielleicht weiss ers noch immer nicht, was seine linke Hand tut -- da fühlte sie, wie seine rechte Hand hinter ihrem Rücken ihren rechten Oberarm erfasste. Auch seine rechte Hand war stark und warm. Und Agnes dachte, er sei nicht nur stark und gross, sondern vielleicht auch grob und es sei nun erwiesen, dass er an nichts Ernstes denkt, sondern an sie. Und es wäre halt doch das Beste, wenn sie ihm sehr bald folgendes sagen würde : „Was machens denn da mit ihrer linken Hand und ihrer rechten Hand? Glaubens nur ja nicht, dass mein rechtes Knie ihrer linken Hand gehört! Mein linkes Knie ist kein solches Knie und mein rechtes Knie ist nur zum knien da, aber nicht dazu da, dass Sie mit ihrer rechten Hand meinen rechten Arm so narrisch zamdrucken, au ! Gehns weg mir ihrer linken Hand! Was machens denn da mit ihrer rechten Hand, au! Werdens gleich ihre linke Hand von meiner rechten Schulter runter? Himmel, mein Haar! Mein linker Daumen, au ! Mein rechter kleiner Finger, au ! Gehns weg mit ihrer Nasen, ich beiss! Jessus Maria, mein Mund! Au, Sie ganz Rabiater! Sie mit ihrer linken Hand --“ Aber von all dem hat der mit seiner linken Hand nichts gehört, denn sie hat ihm ja kein Wort gesagt, sondern all dies sich nur gedacht. Sie wusste nämlich, dass sich solch eine linke Hand durch Worte nicht hindern lässt -- und Agnes überlegte, sie habe sich zwar gewehrt, aber sie hätte sich dreimal so wehren können, er hätte sie genau so abgeküsst, denn er sei noch stärker und überhaupt gut gebaut, jedoch wäre es ungerecht, wenn man sagen würde, dass er grob ist.  Nein, grob sei er gar nicht gewesen, aber es sei schon sehr ungerecht eingerichtet, dass die Herren stärker sind als die Damen. So hätten es die Mannsbilder immer besser und seien doch oft nur Schufte, die sofort hernach verschwänden, obwohl sie oft angenehme Menschen seien, wie dieser da mit seiner linken Hand, der sie ja auch erst nur dreimal geküsst hatte und das dritte Mal sei es am schönsten gewesen. Die Sonne war untergegangen und nun kam die Nacht. So ging alles, wie es kommen musste. B

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Erstaunt stellte Agnes fest, dass Eugen sie noch immer umarmt hält und sie ihn. 5 5 10 10 11 12 14 14 17 17 18–19 22 27 31 33

nicht, wasN ] tut --N ] Bsagen würdeN ] Bwürde: „WasN ] BHand? GlaubensN ] Bgehört! MeinN ] BArm soN ] Bzamdrucken, auN ] BDaumen, auN ] BFinger, auN ] BHand --“N ] Blässt --N ] BDamen. SoN ] BkamN ] B N] B B

korrigiert aus: nicht, was korrigiert aus: tut--

sagen\ /würde korrigiert aus: würde:„ Was korrigiert aus: Hand?Glaubens korrigiert aus: gehört!Mein korrigiert aus: Arm so korrigiert aus: zamdrucken,au korrigiert aus: Daumen,au korrigiert aus: Finger,au korrigiert aus: Hand--“ korrigiert aus: lässt-korrigiert aus: Damen. So

ka[n]|m| [Ein Stern erschien. So erschien alles, wie es scheinen sollte.]

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 12

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Sie war sprachlos und die ganze Welt schien sprachlos zu sein, so still war es unter der Ulme. So kam alles, wie es kommen sollte. Man hörte es fast kommen und Eugen sah sich plötzlich um. Auch Agnes erschrack und fragte ihn schüchtern, ob er etwas gehört hätte. „Ja“ , sagte er, „es war nichts.“ Und sie meinte, ob sie jetzt nicht gehen wollten und er meinte, nein. So blieben sie sitzen. B

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Eugen sprach sehr leise. Wenn das Oberwiesenfeld noch Exerzierplatz wäre, sagte er, dann wäre es hier heute nicht so still und er hasse das Militärische und sie könnte fast seine Tochter sein, obzwar er nur zwölf Jahre älter sei, aber die Kriegsjahre würden ja doppelt gezählt werden, wenn man etwa Generalspensionsberechtigung haben würde -- aber nun wolle er wirklich nicht mehr so traurig daher reden. Er lächelte dabei und wartete bis sie ihn ansah. Und als sie ihn ansah, da sah  er sie an und sagte, der Abend, respektive die Nacht, sei wirklich warm. Sie sagte, sie liebe den Sommer und er sagte, nun flöge auch kein Flugapparat mehr herum, sie seien alle daheim. Er möchte so ein Flugapparat sein und auch mal daheim sein können. Und jetzt sei überhaupt wieder ein Tag zu End und morgen begönne ein neuer Tag. Heute sei Dienstag und morgen sei Mittwoch und sie solle doch nicht so sein, sie sei ja gar nicht so, sie sei ganz anders, er wisse schon, wie sie sei. Es sei überhaupt schon stockfinster, wer sollte denn noch kommen? Es sei niemand da, nur sie zwei. Sie seien wirklich allein. Mehr allein könne man gar nicht sein. Er presste sie an sich und Agnes sagte, das sehe sie schon ein, dass sie ganz allein sind, aber sie fürchte sich immer so, es könne was daraus werden aus dem Alleinsein, nämlich das ginge ihr gerade noch ab. Und sie presste sich an ihn und meinte resigniert, vielleicht sei sie dumm, weil sie sich so sehr fürchte. Gerührt erwiderte er, freilich sei das dumm, jedoch begreiflich, aber ihm könnte sie sich ganz anvertrauen, er sei nämlich ein durchaus anständiger und vorsichtiger Mann. B

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So f sollte.N ] „Ja“N ] Ber, „esN ] B N] B6.N ] Bwürde --N ] BesN ] BkönneN ] BUnd sieN ] Banständiger undN ] BvorsichtigerN ] BMann.N ] B

So1 [war alles, wie es schien, und] alles3 kam2, wie4 es5 kommen6 sollte.7

B

korrigiert aus: „ Ja“ korrigiert aus: er,„ es

[--] [VI.] [|6.|] |6.| korrigiert aus: würde-e[s]|s| könn[te]|e| \Und/ [S]|s|ie \anständiger und/ vor[s]|s|ichtiger Mann\./ [---{ }]

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 13

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

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Es war nach der Polizeistunde, als sich Eugen von Agnes verabschiedete. Er hatte sie bis nachhause gebracht und sah ihr nun zu, wie sie sich anstrengte, die Haustüre mit einem falschen Hausschlüssel zu öffnen. Nämlich sie hatte ihren richtigen Hausschlüssel verloren, als sie vor drei Wochen mit dem Zimmerherren ihrer Tante, einem gewissen Herrn Kastner, im Kino gewesen ist. Man hat den Film „Madame wünscht keine Kinder“ gegeben und der Kastner hat sie immer abgreifen wollen, sie hat sich gewehrt und dabei den Hausschlüssel verloren. Das durfte aber die Tante nie erfahren, sonst würde sie schauerlich keppeln, nicht wegen der Greiferei, sondern wegen des Schlüssels. Der Kastner ist damals sehr verärgert gewesen und hat sie gefragt, wie sie wohl  darüber denke, dass man jemand zu einem Grossfilm einladet und dann „nicht mal das?!“ Er ist sehr empört gewesen, aber trotzdem hat er sie zehn Tage später zu einem Ausflug nach dem Ammersee mitgenommen, doch dieser Sonntagnachmittag hat auch damit geendet, dass er gesagt hat, nun sei das Mass voll. Der Kastner hat ihr noch nie gefallen, denn er hat vorn lauter Stiftzähne. Nur ein Zahn ist echt, der ist schwarz, das Zahnfleisch ist gelb und blutet braun. Die Tante wohnte in der Schellingstrasse, nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete sie im vierten Stock Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres verstorbenen Mannes, kaum grösser als eine Kammer. Darüber stand „Antiquariat“ und im Fenster gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten. Als Eugen so vor der Haustüre stand, fiel es ihm plötzlich auf, dass er eigentlich schon unglaublich oft so vor einer Haustüre gestanden ist und zugeschaut hat, wie irgendeine sie öffnete und er fand es eigenartig, dass er es gar nicht zusammenzählen kann, wie oft er schon so dagestanden ist. Doch bald dünkte ihm das eigentlich gar nicht eigenartig, sondern selbstverständlich und er wurde stolz. In wie vielen Strassen und Ländern ist er schon so dagestanden! Mit Österreicherinnen. Böhminnen, Ungarinnen, Rumäninnen, Serbinnen, Italienerinnen und jetzt mit einer Oberpfälzerin! Um ein Haar wäre er auch mit Negerinnen, Türkinnen, Araberinnen, Beduininnen so dagestanden, nämlich in der Oase Bisra , hätte es keinen Weltkrieg gegeben. Und wer weiss, mit wem allen er noch so dastehen wird, wo und wie oft, warum und darum, denn er hat ja eigentlich keine Heimat und auch er weiss es nicht, was ihm bevorsteht. B

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7.N ] Film „MadameN ] BdieN ] BDer KastnerN ] B„nichtN ] BZahnfleischN ] B N] Bstand „Antiquariat“N ] Beigenartig, sondernN ] BBöhminnen, f ItalienerinnenN ]

31–32 32 33–34

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Negerinnen, f BeduininnenN ] BisraN ] Bwarum f darum,N ] B

[VII.] [|7.|] |7.| korrigiert aus: Film„ Madame d[r]|i|e korrigiert aus: DerKastner korrigiert aus: „ nicht Zahn[fleis]fleisch [--] korrigiert aus: stand„ Antiquariat“ korrigiert aus: eigenartig,sondern korrigiert aus: Böhminnen,Ungarinnen,Rumäninnen,Serbinnen,Italienerinnen korrigiert aus: Negerinnen,Türkinnen,Araberinnen,Beduininnen gemeint ist: Biskra \warum f darum,/

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 14

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Und Eugen wurde sentimental und dachte, man sollte an vieles nicht denken können, aber er dürfe es nicht vergessen, dass er nun  schon zwei Monate so herumlungert und keine Aussicht auf Arbeit hat, man werde ja immer älter und er denke schon lange an keine Oase Bisra mehr, er würde auch in jedem Bauernwirtshaus servieren. Afrika verschwand und da er nun schon mal sentimental geworden ist, dachte er auch gleich an seine erste Liebe, weil das damals eine grosse Enttäuschung gewesen war, da sie ihm nur ein einzigesmal eine Postkarte geschrieben hatte: „Beste Grüsse Ihre Anna Sauter.“ Und darunter: „Gestern habe ich drei Portionen Gefrorenes gegessen.“ Das war seine erste Liebe. Seine zweite Liebe war das Wirtshausmensch in seinem Heimatdorfe, fern in Niederösterreich, nahe der ungarischen Grenze. Sein Vater war Lehrer, er war das neunte Kind und damals fünfzehn Jahr alt und das Wirtshausmensch gab ihm das Ehrenwort, dass er es um acht Uhr abend in den Maisfeldern treffen wird und, dass es nur zwei Kronen kostet. Aber als er hinkam, stand ein Husar bei ihr und wollte ihn ohrfeigen. Vieles ist damals in seiner Seele zusammengebrochen und erst später hat er erfahren, dass das seiner Seele nichts geschadet hat, denn das Wirtshausmensch war krank und trieb sich voll Geschwüren und zerfressen im Land herum und bettelte. Bis nach Kroatien kam sie und in Slavonien riet ihr eine alte Hexe, sie solle sich in den Düngerhaufen legen, das heilt. Sie ist aber in die Grube gefallen, weil sie schon fast blind war, und ersoffen. Endlich konnte Agnes die Haustüre öffnen und Eugen dachte, wie dürfe man nur denken, dass diese Agnes da nicht hübsch ist! Er gab ihr einen Kuss und sie sagte, heute sei Dienstag und morgen sei Mittwoch. Sie schwieg und sah die Schellingstrasse entlang, hinab bis zur Ludwigskirche. Dann gab sie ihm ihr Ehrenwort, am Mittwoch um sechs Uhr Abend an der Ecke der Schleissheimerstrasse zu sein und er sagte, er wolle es ihr glauben und sie meinte noch, sie freue sich schon auf den Spaziergang über das Oberwiesenfeld. „Also morgen“ lächelte Agnes und überlegte sich: er hat  wirklich breite Schultern und der Frack steht ihm sicher gut und sie liebt die weissen Hemden. Sie sah ein grosses Hotel in Afrika. „Also morgen“ wiederholte sie. B

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Agnes stand im Treppenhaus und ihre Seele verliess die afrikanische Küste. Sie schwebte über den finsteren Tannenwäldern, lieblichen Seen und unheimlichen Eisriesen Salzkammerguts und erblickte endlich das kleine Hotel, das sich Eugen kauBN

4 7 8 14 20 28 31 34 39

BisraN ] hatte: „BesteN ] Bdarunter: „GesternN ] Bkostet. AberN ] B N] B„AlsoN ] B„AlsoN ] B8.N ] B N] B B

gemeint ist: Biskra korrigiert aus: hatte:„Beste korrigiert aus: darunter:„ Gestern korrigiert aus: kostet.Aber

[--] korrigiert aus: „ Also korrigiert aus: „ Also

[VIII.] [|8.|] |8.| [des]

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 16

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

fen wollte, hätte es eben nur jenen Weltkrieg nicht gegeben und hätte er in jenem grossen afrikanischen Hotel dem Vanderbildt seinem Neffen serviert. Und während sie die Stufen hinaufstieg, wurde auch jenes kleine Hotel immer grösser und da sie den vierten Stock betrat, war das Hotel auch vier Stock hoch gewachsen. Es hatte sogar einen Turm und aus jedem Fenster hing eine Fahne und vor dem Eingang stand ein prächtiger Portier in Gold und Rot und ein Unterportier in Rot und Gold. Auch ein grosser Garten war da, eine Terrasse am See, ein Autobus und das Alpenglühen. Das Publikum war elegant und plauderte. Man sah viele Pyjamas und auch die herrlichen hellbraunen Schuhe, die es beim Schlesinger in der Kaufingerstrasse zu kaufen gibt. Überhaupt diese Schuhe! Sie ist mal zum Schlesinger hinein und hat bloss gefragt: „Bittschön , was kostn  die hellbraunen Schuh in der Auslag?“ aber die Verkäuferin hat sie nur spöttisch angeschaut und eine zweite Verkäuferin hat gesagt: „Nur sechsundvierzig Mark“ und hat dazu so grausam gelächelt dass sie direkt verwirrt geworden ist und niessen hat müssen. „Nur sechsundvierzig Mark!“ hörte sie jetzt im Treppenhaus wieder die Stimme der Verkäuferin, während sie sich die Schuhe auszog, denn sonst würde die Tante aufwachen und fragen: „Was glaubst Du, wo Du schon enden wirst, Schlampn läufiger?“ Sie könnte nicht antworten. Sie wollte nichts glauben. Sie wusste ja nicht, wo sie enden wird. 9. Die Wohnung der Tante bestand aus zwei Zimmern, Küche, kleinem Vorraum und stockfinsterem Klosett. /Das eine Zimmer hatte die Tante an den Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich leer, denn es war schon seit einem halben Jahre verwanzt. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht und hatte sich dann bei der Tante beschwert und hatte ihr mitgeteilt, dass er ihr die Miete schuldig bleibt, bis nicht die letzte Wanze vertilgt wäre./ Das leere Zimmer bewohnte Agnes. Die Tante schlief in der Küche, weil sie mit der Heizung sparen wollte. Der Sommer 1928 war zwar ungewöhnlich heiss, aber die B

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VanderbildtN ] seinemN ] Bda,N ] BSee, einN ] BPyjamasN ] Bund auchN ]

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gemeint ist: Vanderbilt

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seine[n]|m| [,] |da,|

9 9 9 12 13 14 17 18 19 21 22 23 24 28

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Schuhe,N ] ] BSchlesingerN ] B„BittschönN ] BAuslag?“ aberN ] Bgesagt: „NurN ] B„NurN ] BdieN ] Bfragen: „WasN ] B N] B9.N ] BzweiN ] B/DasN ] Bwäre./N ] B N

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korrigiert aus: See, ein Pyjamas[.] [Sie selbst sass in einem Strandkorb, ass Wiener Schnitzl mit Gurkensalat und hatte] [|und|] |und auch| Schuhe\,/ [an] Sc[g]|h|lesinger korrigiert aus: „ Bittschön korrigiert aus: Auslag?“aber korrigiert aus: gesagt:„ Nur korrigiert aus: „ Nur korrigiert aus: due korrigiert aus: fragen:„ Was [--] [\9./] |9.| [{2}] [zwei] \//Das wäre.\//

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ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 17

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Tante war das nun mal seit 1897 so gewöhnt und so schnarchte sie nun in der Küche neben ihrem Kanari. Als Agnes die Wohnung betrat, erwachte der Kanari und sagte: „Piep .“ „Piep nur,“ ärgerte sich Agnes „wenn Du die Tante aufpiepst, dann lass ich Dich aber fliegn, ich weiss, Du kannst nicht fliegn, so kriegt Dich die Katz.“ Erschrocken verstummte der Kanari und horchte: droben auf dem Dache sass die Katz und unterhielt sich mit dem Kater vom ersten Stock über den Kanari, während sich Agnes in ihr Zimmer schlich. „Man sollte alles der Tante erzählen“, dachte der Kanari. „Es tut mir tatsächlich leid, dass ich nur singen kann. Ich wollt, ich könnt sprechen!“ B

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„So ein Kanari hats gut“, dachte Agnes. „Ich wollt, ich könnt singen!“ fuhr sie fort und setzte sich apathisch auf den einzigen Stuhl, der krächzte, aber sie meinte nur: „Zerbrich !“ So müde war sie. Der Stuhl ächzte jämmerlich, er war nämlich sehr zerbrechlich, denn der Kastner hatte ihn mal aus Wut über die Tante zerbrochen und die Tante hatte ihn vor vier Wochen bloss provisorisch zusammengeleimt. Agnes zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund. Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: ein grosser weisser Engel schwebte in einem Zimmer, das auch verwanzt sein konnte und verkündete der knieenden Madonna: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ Und Agnes dachte, Eugen habe wirklich schön achtgegeben und sei überhaupt ein lieber Mensch, aber leider kein solch weisser Engel, dass man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonders geleistet, dass sie so fürstlich belohnt worden ist? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen und das hätten ja alle mal gehabt. Auch sie selbst hätte das mal gehabt. Noch vor drei Jahren. B

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sagte: „PiepN ] „PiepN ] BAgnes „wennN ] BDichN ] Bhorchte: drobenN ] B„ManN ] Berzählen“, dachteN ] B„EsN ] Bleid, dassN ] Bkann. IchN ] B10.N ] B„SoN ] BAgnes.N ] B„IchN ] Bnur: „ZerbrichN ] BnämlichN ] BwögeN ] Bschwebte inN ] BMadonna: „BeiN ] B N] BwirklichN ] BsolchN ] B B

korrigiert aus: sagte:„ Piep korrigiert aus: „ Piep korrigiert aus: Agnes„wenn korrigiert aus: dich korrigiert aus: horchte:droben korrigiert aus: „ Man korrigiert aus: erzählen,“dachte korrigiert aus: „ Es korrigiert aus: leid , dass korrigiert aus: kann.Ich

[IX.] [|9.|] [|10.|] |10.| korrigiert aus: „ So

Agnes\./ [in ihrem verwanzten Zimmer.] korrigiert aus: „ Ich korrigiert aus: nur:„ Zerbrich korrigiert aus: nänlich [{ }]|w|öge korrigiert aus: schwebte in korrigiert aus: Madonna:„ Bei [wäre wirklich sehr vorsichtig, er] \wirklich/ solch[er]

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Sie hatte sich damals viel darüber geärgert und gekränkt denn die Theres und überhaupt all ihre Altersgenossinnen, die mit ihr bei den verschiedenen Schneiderinnen nähen gelernt hatten, waren schon diese lästige Übergangsform los und zu richtiggehenden Menschen geworden. Nur sie hatte sich sehr geschämt und ihre Kolleginnen angelogen, dass sie bereits entjungfert worden ist. Die Theres hatte es ihr  geglaubt, denn sie hatte sie einmal mit einem Konditorlehrling aus der Schellingstrasse im Englischen Garten spazieren sehen und sie konnte es ja nicht gewusst haben, dass dieser junge Mann auf folgender Plattform gestanden ist: je grösser die himmlische, um so kleiner die irdische Liebe. Er ist ein grosser himmlischer Lügner und irdischer Feigling gewesen, nämlich er hatte sich selbst befriedigt. Als Agnes einsah, dass diese bequeme Seele sie pflichtbewusst verkümmern liess, hing sie sich an einen anderen Konditorlehrling aus der Schellingstrasse. Der hätte Friseur sein können, so genau kannte er jedes Rennpferd und die Damenmode. Er schwärmte für Fussball, war sehr belesen und überaus sinnlich. Als er aber erfuhr, dass sie noch Jungfrau ist, da lief er davon. Er sagte, das hätten sich die Südseeinsulaner schon sehr nachahmenswert eingerichtet, dass sie ihre Bräute durch Sklaven entjungfern lassen. Er sei weder ein dummer Junge noch ein Lebegreis , er sei ein Mann und wolle ein Weib, aber keine Kaulquappe, und übrigens sei er kein Sklave, sondern ein Südseeinsulaner. Sie wurde dann endlich, nachdem sie schon ganz verzweifelt war, von einem Rechtsanwalt entjungfert. Das begann auf dem Oktoberfest vor der Bude der Lionella. Diese Lionella war ein Löwenmädchen mit vier Löwenbeinen, Löwenfell, Löwenmähne und Löwenbart und Agnes überlegte gerade, ob wohl diese Lionella auch noch Jungfrau sei, da lernte sie ihren Rechtsanwalt kennen. Der hatte bereits vier Maas getrunken, rülpste infolgedessen und tat sehr lebenslustig. Sie wollte zuerst noch einige andere Missgeburten sehen und er kaufte die Eintrittskarten, denn er hatte eine gute Kinderstube. Dann führe sie zweimal mit der Achterbahn und zweimal auf der Stufenbahn. Sie assen zu Zweit ein knusperiges Huhn, er trank noch vier Maas und sie drei. So hatten beide ihren Bierrausch, er verehrte ihr sein Lebkuchenherz, liess sie noch im Hippodrom reiten und fuhr sie dann mit einem Kleinauto in seine Kanzlei. Dort warf er die Akten eines  Abtreibungsprozesses vom Sofa und endlich wurde Agnes entjungfert. Das Sofa roch nach Zigaretten, Staub, Kummer und Betrug und Agnes zitterte, trotz ihrer wilden Entschlossenheit ein Mensch zu werden, vor dem unbekannten Gefühl. Sie spürte aber nicht viel davon, so neugierig war sie und der Rechtsanwalt merkte es gar nicht, dass sie noch Jungfrau war, so besoffen war er. Als sie ihm aber hernach gestand, dass er ihr nun ihre Unschuld geB

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[die Anna, die Leni, Kreszens und Elisabeth,] |überhaupt|

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korrigiert aus: Schneiderinnen nähen

ihreN ] EnglischenN ] B N] BbequemeN ] BLebegreisN ] BübrigensN ] BerN ] BinfolgedessenN ] Blebenslustig.N ] Bnicht, dassN ]

[schon fast siebzehn Jahr lang in Ägypten verweilt, ohne die Pyramiden gesehen zu haben. Sie hatte] [die] |ihre| [e]|E|nglischen [--] be[{ }]|q|ueme Lebe[k]|g|reis übrigens[: Jungfrauen stünken nach nassem Kalb und er] \er/ [vom { } Bier] [|daher|] |infolgedessen| korrigiert aus: lebenslustig. korrigiert aus: nicht, dass

überhauptN ] Schneiderinnen nähenN ] B N] B B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

nommen hat, da wurde er plötzlich nüchtern, knöpfte sich überstürzt die Hosen zu und schmiss sie hinaus. „Also erpressen lass ich mich nicht!“ sagte er höflich. „Ich bin Rechtsanwalt! Ich kenn das! Ich hab schon mal so eine wie Dich verteidigt!“ Das geschah 1925. Im Winter verliebte sich dann einer in sie und der hatte ein angenehmes Organ. Das war ein melancholischer Caféhausmusiker, ein schwermütiger Violinvirtuose mit häuslichen Sorgen. Er erzählte ihr, sein Vater wäre gar nicht sein Vater, seine Stiefmutter sei eine sadistische Säuferin, während seine ehemalige Braut eine bittere Enttäuschung gewesen wäre, denn sie sei eine unheilbare Lesbierin. Sein geliebtes einziges Schwesterlein sei schon vor seiner Geburt gestorben und er selbst sei ein grosser Einsamer, ein verpatztes Genie, ein Kind der ewigen Nacht. Der Dezembertag war trüb und lau und Agnes gab sich ihm aus lauter Mitleid auf einer Bank, denn sonst hätte er sie noch vergewaltigt. Als sie aber erfuhr, dass sein Vater in russischer Kriegsgefangenschaft dem Typhus erlag, dass seine Stiefmutter seine echte Mutter ist, eine arme abgearbeitete Kaminkehrerswittwe, die von seinem einzigen Schwesterlein, der Stenotypistin Frieda, ernährt wird, während er selbst ein Säufer, Kartenspieler und Ehemann ist, da wollte sie ihn nicht wiedersehen und versetzte ihn am nächsten Montag. Er schrieb ihr dann einen Brief, nun werde er sich vergiften, denn ohne ihr Mitleid könne er nicht leben, da sie so angenehm gebaut wäre.  Aber er vergiftete sich nicht, sondern lauerte ihr auf der Strasse auf und hätte sie geohrfeigt, hätte sie nicht der Brunner Karl aus der Schellingstrasse beschützt, indem, dass er dem Virtuosen das Cello in den Bauch rannte. Da begann ihre Liebe zu Brunner Karl , eine richtige Liebe mit fürchterlicher Angst vor einem etwaigen Kinde. Aber der Brunner sagte, dass sei ganz unmöglich, denn das sei ihm noch nie passiert und er bezweifle es mächtig, ob er der Einzige gewesen sei und überhaupt hätte er sie nur aus Mitleid genommen, denn sie sei ja gar nicht sein Typ. Der Brunner hatte recht, es kam kein Kind, aber Agnes kniete auf dem Ölberg. Sie kannte in der Schellingstrasse ein Dienstmädchen, dass brach plötzlich im Korridor zusammen und gebar ein Kind. Es dämmerte bereits, als man sie in irgendein Mutterheim einlieferte. Dort musste sie für ihre unentgeltliche Unterkunft, Verpflegung und Behandlung die Fenster putzen, den Boden scheuern und Taschentücher waschen und sich alle paar Stunden auf paar Stunden in ein verdunkeltes Zimmer legen, um möglichst rasch einschlafen zu können, um wieder kräftige Milch zu produzieren, denn sie musste neben ihrem eigenen Sohn noch zwei fremde Findelssäuglinge stillen. B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Aber ein anderes Dienstmädchen liess sich von einem Elektrotechniker einen strafbaren Eingriff machen und starb an Blutvergiftung. Der Elektrotechniker wurde verhaftet und nach drei Monaten bekam er im Untersuchungsgefängnis einen Tobsuchtsanfall und brüllte: „Ich bin Elektrotechniker! Meine liebe Familie hungert! Liebe Leutl, ich bin Elektrotechniker!“ Aber man schien es ihm nicht zu glauben, denn die lieben Detektive prügelten ihn bloss und die lieben Richter verurteilten ihn ohne einen lieben Verteidiger. Einmal flüchtete sich Agnes in die Frauenkirche, weil es schauerlich regnete. Dort predigte ein päpstlicher Hausprälat , dass eine jede werdende Mutter denken muss, sie werde einen Welterlöser gebären. Und Agnes überlegte nun in ihrem verwanzten Zimmer, diese Geschichte mit  dem grossen weissen Engel dort drüben auf jenem heiligen Bilde sei eine grosse Ungerechtigkeit. Überhaupt sei alles ungerecht, jeder Mensch, jedes Ding. Sicher sei auch der Stuhl ungerecht, der Schrank, der Tisch, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe. Auch die Maria Muttergottes hätte eben Protektion gehabt genau wie die Henny Porten, Lia de Putty , Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. „Wenn man keine Protektion nicht hat, indem, dass man keinen Regisseur nicht kennt, da wirst halt nicht auserwählt,“ konstatierte Agnes. „Auserwählt“ wiederholte sie langsam und sah auf ihrem Hemde noch die Spuren von Eugens linker und rechter Hand. Sie schloss die Augen und glaubte, das Bett wäre Gras. Unter der Ulme. Seine Hand war nicht so eklig knochig, wie jene des Herrn stud. jur. Wolf Beckmann, der die ihre bei jeder Begrüssung fast zerdrückte. Nur wenn er in Couleur war, dann grüsste er sie nicht. Sie war auch nicht so schwammig talgig, wie jene des greisen Meier Goldstein, der ihrer Tante ab und zu uralte Nummern des „La Vie Parisienne“ zum Verkauf in Kommission übergab und der zu ihr jedesmal sagte: „Was ich für Pech hab, dass sie kein Junge sind, gnädiges Fräulein!“ Auch war seine Hand nicht so klebrig und kalt, wie jene ihres Nachbarn Kastner, der mal zu ihrer Tante sagte: „Ich höre, dass Ihre liebe Nichte arbeitslos ist. Ich habe B

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beste Beziehungen zum Film und es hängt also lediglich von Ihrer lieben arbeitslosen Nichte ab.“ Und Agnes hörte, wie der Kastner im Zimmer nebenan auf und ab ging. Er sprach leise mit sich selbst, als würde er etwas auswendig lernen. Plötzlich ging er aufs Klosett. „Piep ,“ sagte der Kanari in der Küche und der \Textverlust\ Bohemenatur und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und  nicht in die Morgue.“ Er wollte wieder Journalist werden, aber er landete beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen homosexuellen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: „Der betlehemitische Kindermord oder Ehre sei Gott in der Höhe.“ Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein betlehemitisches Kind verkörperte, nackt photographierte. Dies Kind war nämlich die Mätresse eines Aufsichtsrates. Der Kastner liess die Photographien durch einen pornographischen Klub vertreiben und dort erkannte eben dieser Aufsichtsrat, durch einen Rittmeister eingeführt, auf einer Serie „Pikante Akte“ seine minderjährige Mätresse und meinte entrüstet: „Also das ist ärger als Zuhälterei! Das ist photographische Zuhälterei!“ Und nun schritt dieser photographische Zuhälter vor Agnes Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik. B

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„Agnes“, deklamierte der Kastner, „Du wirst Dich wundern, dass ich noch mit Dir rede, Du darfst Dich aber nicht wundern, dass ich mich auch wundere. Ich wollte ja eigentlich seit dem Ammersee kein Sterbenswörtchen mehr an Deine Adresse verschwenden und Dich einfach übersehen, Du undankbares Luder.“ „Hörst Du den Kanari?“ fragte das undankbare Luder. „Ich höre das Tier. Es zwitschert. Deine liebe Tante hat einen ausserordentlich gesunden Schlaf. Ein Kanari zwitschert da keine Rolle. Und wenn schon!“ „Wenn sie Dich hört, flieg ich raus!“  „Schreckloch , Lächerloch!“ verwunderte sich gereizt der sonderbare Photograph. „Deine liebe Tante wird sich hüten, solange ich Dich beschirme! Deine liebe Tante halt ich hier auf meiner flachen Hand, ich muss nur zudrücken. Deine B

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liebe Tante verkauft nämlich die unretouschierten künstlerischen Akte, die ich photographiere. Verstanden?“ Agnes schwieg und der Kastner lächelte zufrieden, denn es fiel ihm plötzlich auf, dass er auch Talent zum Tierbändiger hat. Und er fixierte sie, als wäre sie eine Löwin, eine Tigerin oder zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich entsetzt dabei, wie er sich verbeugen wollte. „Was war denn das!“ fuhr er sich an, floh aus dem Zirkus der plötzlich brannte und knarrte los: „Zur Sache! Es geht um Dich! Es geht einfach nicht, was Du in erotischer Hinsicht treibst! Ich verfolge mit zunehmender Besorgnis Deinen diesbezüglichen Lebenswandel. Ich habe den positiven Beweis, dass Du Dich, seit Du arbeitslos bist, vier Männern hingegeben hast. Und was für Männern! Ich weiss alles! Zwei waren verheiratet, der Dritte ledig, der vierte geschieden. Und soeben verliess Dich der fünfte. Leugne nicht! Ich habe es ja gesehen, wie er Dich nachhausegebracht hat!“ „Was geht das Dich an?“ fragte ihn Agnes ruhig und sachlich, denn es freute sie, dass er sich wiedermal über ihr Triebleben zu ärgern schien. Sie gähnte scheinbar gelangweilt und ihre Sachlichkeit erregte sie, ähnlich wie Eugens linke Hand und es tat ihr himmlisch wohl, seine Stiftzähne wiedermal als abscheulich, eckelhaft , widerlich, unverschämt, überheblich und dumm bewerten zu können. „Mich persönlich geht das gar nichts an“, antwortete er traurig, wie ein verprügelter Apostel. „Ich habe nur an Deine Zukunft gedacht, Agnes!“ Zukunft! Da stand nun wieder dies Wort vor ihr, setzte sich auf den Bettrand  und strickte Strümpfe. Es war ein altes verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur, dass es noch älter war, noch schmutziger, noch zahnloser, noch vergrämter, noch verschlagener -- „Ich stricke, ich stricke,“ nickte die Zukunft, „ich stricke Strümpfe für Agnes.“ Und Agnes schrie: „So lass mich doch! Was willst Du denn von mir?!“ „Ich persönlich will nichts von Dir,“ antwortete der Kastner feierlich und die Zukunft sah sie lauernd an. B

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„Du bist natürlich in einer sogenannten Sackgasse, wenn Du Dir etwa einbildest, dass mein Besuch zu dieser allerdings ungewöhnlichen Stunde eine Wiederannäherung bedeutet“, fuhr er nach einer Kunstpause fort und setzte ihr auseinander, dass, als er sie kennen lernte, er sofort erkannt hat, dass sie keine kalte Frau, sondern vielmehr feurig ist, ein tiefes stilles Wasser, eine Messalina, eine Lulu, eine Büchse der Pandorra , eine Ausgeburt. Es gäbe überhaupt keine kalten Frauen, er habe sich nämlich mit diesen Fragen beschäftigt, er „spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung.“ Man solle sich doch nur die Damenmode ansehen! Was zöge sich solch eine „kalte Frau“ an! Stöckelschuhe, damit Busen und Hintern mehr herausträten und sich erotisizierender präsentieren können, ein Decolleté in Dreiecksform, deren Linien das Auge des männlichen Betrachters unfehlbar zum Nabel und darunter hinaus auf den Venusberg führen, sollte er auch gerade an der Lösung noch so vergeistigter Probleme herumgrübeln. Häufig entfache auch eine scheinbar sinnlose, jedoch unbewusst hinterlistig angebrachte Schleife am Popo vielgestaltige männliche Begierden und diese ganze Damenmode stamme aus dem raffinierten Rokoko, das sei die Erfindung der Pompadour und des Sonnenkönigs. Aber nun wolle er seinen kulturgeschichtlichen Vortrag beenden, er wisse ja, dass sie ein richtiges Temperament hat und er wolle ihr nur schlicht versichern, dass sie sich gewaltig täuscht, wenn sie meinen sollte, er sei nun hier wegen ihrem heissen Blut -Nie! Er stünde vor ihr ohne erotische Hintergedanken, lediglich deshalb, weil er ein weiches Herz habe und wisse, dass sie keinen Pfennig hat, sondern zerrissene Schuhe und nirgends eine Stellung findet. Er habe in letzter Zeit viel an sie gedacht, gestern und vorgestern, und endlich habe er ihr eine Arbeitsmöglichkeit verschafft. „Allerdings“, betonte er, „ist diese Arbeitsmöglichkeit keine bürgerliche, sondern  eine künstlerische. Ich weiss nicht, ob Du weisst, dass ich mit dem bekannten Kunstmaler Lothar Maria Achner sehr intim bekannt bin. Er ist ein durchaus künstlerisch veranlagter hochtalentierter Intellektueller, zart in der Farbe und dennoch stark, und sucht zur Zeit krampfhaft ein geeignetes Modell für seine neueste werdende Schöpfung, einen weiblichen blühenden Akt. Auf einem Sofa. Im Trancezustand. Er soll nämlich im Auftrage des hessischen Freistaates eine „Hetäre im Opiumrausch“ für das dortige Museum malen.“ Das war nun natürlich nicht wahr , denn als Auftraggeber dieser werdenden Schöpfung zeichnete nicht der hessische Freistaat, sondern ein kindischer Viehhändler aus Kempten im Allgäu, der einer kultivierten Hausbesitzerswittwe, auf deren Haus er scharf war, zeigen wollte, dass er sogar für die moderne Kunst etwas übrig BN

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hat und, dass er also nicht umsonst vier Jahre lang in der Kunststadt München mit Vieh gehandelt hatte. „Ich dachte sogleich an Dich“, fuhr er nach einer abermaligen Kunstpause fort, „und ich hab es erreicht, dass er Dich als Modell engagieren wird. Du verdienst pro Stunde zwanzig Pfennig und er benötigt Dich sicher fünfzig Stunden lang, er ist nämlich äusserst gewissenhaft. Das wären also zehn Mark, ein durchaus gefundenes Geld. Aber dieses Geld bedeutet nichts in Anbetracht Deiner dortigen Entfaltungsmöglichkeiten. Im Atelier Lothar Maria Achners gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, darunter zahlreiche junge Herren mit eigenem Auto. Das sind Möglichkeiten! Es tut mir nämlich als Mensch persönlich leid, wenn ich sehe, wie ein Mensch persönlich seine Naturgeschenke sinnlos verschleudert. Man muss auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Rationalisation! Rationalisation! Versteh mich recht: ich verlange zwar keineswegs, dass Du Dich prostituierst. -- Agnes, ich bin bloss ein weichherziger Mensch und ohne Hintergedanken. Es ist wohl töricht, dass ich mich für Dich einsetze, denn, dass Du beispielsweise seinerzeit am Ammersee unpässlich warst, das glaube ich Dir nimmer!“ Natürlich war sie damals nicht unpässlich gewesen, aber der Kastner hatte kein  Recht sich zu beschweren, denn es war erstunken und erlogen, dass er ihr derart selbstlos die Stellung als Hetäre im Opiumrausch beschaffte. Er hatte vielmehr zu jenem Kunstmaler gesagt: „Also , wenn Du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich Dir morgen ein tadelloses Modell für zwanzig Pfennig. Gross, schlank, braunblond, und es versteht auch einen Spass. Aber wenn Du mir nur fünf Mark leihen kannst, so musst Du dafür sorgen, dass ich Gelegenheit bekomme, um sie mir nehmen zu können. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Cognak bringe ich mit, Grammophon hast Du.“ Er blieb vor ihr stehen, bemitleidete sich selbst und nickte ihr ergriffen zu: „Ich wollte Du wärest nie geboren. Warum denn nur, frage ich mich und Dich, warum denn nur gibst Du Dich mir nicht? Doch lassen wir dies! Passe !“ Und Agnes dachte: warum denn nur sage ich es ihm nicht, dass er vorn lauter Stiftzähne hat? „Du kannst eben nicht lieben“, meinte er. „Du bist allerdings häufig bereit, Dich mit irgendeinem nächsten Besten ins Bett zu legen, aber wie Du fühlst, Du könntest Dich in jenen nächsten Besten ehrlich mit der Seele verlieben, kneifst Du auf der Stelle. Du würdest ihn nimmer wiedersehen wollen, er wäre aus Dir ausradiert.“ BN B

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Agnes sagte sich, wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so habe er eben diesmal recht. Sie müsse wirklich mehr an sich denken, sie denke zwar eigentlich immer an sich, aber wahrscheinlich zu langsam. Sie müsse sich das alles genau überlegen -B

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was „alles “? Merkwürdig, wie weit nun plötzlich das ganze Oberwiesenfeld hinter ihr liegt, als wäre sie seit vier Wochen nicht mehr dort spaziert. Und es sei doch eigentümlich, dass dieser Eugen sie schon nach zwei Stunden genommen hat und, dass das alles so selbst- verständlich gewesen ist, als hätte es so kommen müssen. Er sei ja sicher ein guter Mensch, aber er könnte ihr wirklich gefährlich werden, denn es stimme schon, dass er zu jenen Männern gehört, denen man sich naturnotwendig gleich ganz ausliefern muss -- Nein! sie wolle ihn niemehr sehen! Sie werde morgen einfach nicht da sein, dort an der Ecke der Schleissheimerstrasse. Es hätte doch auch schon gar keinen Sinn, an das Salzkammergut zu denken und das blöde Afrika all diese dummen Phantasien! Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen und den könne man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht. Der Kastner habe schon sehr recht, sie werde auch die Hetäre markieren, sich für fünfzig Stunden auf das Sofa lege und zehn Mark verdienen und vielleicht wirklich irgendein eigenes Auto kennen lernen, aber man solle nichts verschreien. B

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So näherte sich also Agnes einem einfachen Schluss , während ein ehemaliger Filmstatist, der ursprünglich Zahntechniker war, jedoch eigentlich Journalist werden wollte, die „dunklen Gründe ihrer komplizierten Erotik“ beleuchtete , wie ein schlechtes Feuilleton. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte los: „Auch Du betrachtest den fleischlichen Teil der Liebe als eine angenehme Bewegungsart und den seelischen Teil als den Born mannigfacher Unannehmlichkeiten, Leiden, Qualen , Sorgen, garniert mit Kummer und Verdruss. Auch Du sagst: „Das ginge mir gerade noch ab!“ Diese Angst vor der wahren Liebe ist eine typische Jungmädchenerscheinung im Frühlingsalter des zwanzigsten Jahrhunderts, aber natürlich keine Degenerationserscheinung, wenn man in Deinen wirtschaftlichen Verhältnissen steckt. Es ist dies lediglich eine gesunde Reaktion auf alberne Vorstellungen, wie zum Beispiel, dass der Genuss purer fleischlicher Kost ohne seelischen gemischten Salat schädlich und sündhaft ist oder, dass die fleischliche Vergattung etwas heiligeres ist als eine organische Funktion. Wieviel Unheil richtet diese erhabene Dummheit unter uns armen Menschen an!“ B

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Er hielt plötzlich inne in seinen Definitionen und biss sich auf die Zunge, so überrascht war er, dass er tatsächlich mal recht hatte. Er war ja ein pathologischer Lügner. B

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Doch rasch erholte er sich von der Wahrheit , setzte sich ergriffen über seine Selbstlosigkeit auf den zusammengeleimten Stuhl, vergrub zerknirscht über die menschliche Undankbarkeit den Kopf in den Händen und seufzte: „Ich bin zu gut! Ich bin zu gut!“ „Er ist also wirklich besser, als er aussieht“, dachte Agnes. „Das hängt halt nur von solchen Stiftzähnen ab, dass man meint, das ist ein Schuft. So täuscht man sich. Am End ist auch der Eugen gar nicht so anständig, wie er sich benommen hat. Es gibt wenige gute Leut und die werdn immer weniger.“ Und der Kastner tat ihr plötzlich leid und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die grossen und die kleinen. \Textverlust\ Dieser Instinkt hatte sie auch mit ihrem einzigen Verwandten entzweit , dem  Gatten ihrer verstorbenen Schwester, einem gewissen Studienrat Gustav Adolf Niemeyer aus der Schellingstrasse. Der hatte ihr seinerzeit, da sie von der Unabhängigen Sozialdemokratie begeistert war , folgenden Brief gesandt: An Afra Krumbier. Weiber verstehen nichts von Politik. Das Mass ist voll. Wir sind nichtmehr verwandt. Gustav Adolf Niemeyer. B

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Dieser Studienrat Niemeyer hatte einen hochaufgeschossenen Sohn mit einem etwas krummen Rücken, riesigen Händen und Füssen und einer Brille. Er hiess ebenfalls Gustav Adolf und als er 1914, da der liebe Gott sprach: „Es werde WeltB

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[nämlich] |ja| [\So1/ [N]|n|atürlich4 war2 es3 nicht5 wahr,6 dass7 er Agnes [so] [|derart|] selbstlos die Stellung als Hetäre im Opiumrausch beschaffte[.]|–| Er hatte] [Aber]|Doch1| [der pathologische Lügner] erholte3 \er4/ sich5 rasch2 von6 der7 Wahrheit8 seufzte:[„] |„|Ich korrigiert aus: „ Er korrigiert aus: Agnes.„ Das korrigiert aus: ab,dass [entzweite] |hatte| \entzweit/ [sandte] |hatte| \[sich für] |von| d[ie]|er|/ [u]|U|nabhängig\en/ [s]|S|ozialdemokrati[sch]|e| [wählte] |begeistert war| Brief[:] |gesandt:| \Niemeyer/ [namens [August] |Klaus|] [{k}]|k|rummen [Als [August damals] |der 1914|] |Er hiess [Klaus] |ebenfalls Gustav Adolf| und als er 1914,| gestrichen: ,

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Fragmentarische Fassung

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krieg!“ (und es geschah also und Gott sah, dass er gut getan) einrücken musste, wollte er gerade Chemie studieren und sagte: „Meiner Meinung nach hat die Chemie Zukunft.“ Die Horizonte waren rot von den Flammen der brennenden Dörfer und Wälder, rund zwölf Millionen Menschen wurden zerstückelt und über das Leben kroch das Gas. Es war Hausse in Prothesen und  Baisse in Brot. Immer mehr glich die Erde dem Monde. Der Studienrat sammelte Kriegspostkarten, Kriegsmedaillen, Kriegsbriefmarken, Kriegsscherzartikel und nachts kratzte er diebisch die Kriegsberichte von den Anschlagsäulen. Weihnachten kam, das Fest der Liebe, und die deutschen Leitartikel huldigten dem deutschen Christkind, die französischen dem französischen Christkind, es gab auch eine österreichische Madonna, eine ungarische, englische, belgische, lichtensteinische, bayerische. Alle diese Madonnen waren sich feindlich gesinnt und gar zahlreiche Heilige übernahmen Ehrenprotektorate über schwere und leichte Artillerie, Flammenwerfer und Tanks. 1915 fiel Gustav Adolf junior in Flandern und Gustav Adolf senior verfasste fol gende Trauernotiz: „Es widerfuhr mir die grosse Freude, den einzigen Sohn auf dem Altare des Vaterlandes geopfert zu haben.“ Und er lächelte: „Wenn das die Mutter noch erlebt hätte!“ Dem einzigen Sohne widerfuhr allerdings weniger Freude über sein Opfer. Von einem spanischen Reiter aufgespiesst brüllte er vier Stunden lang auf dem Altar des Vaterlandes. Dann wurde er heiser und starb. Sein Feld der Ehre war ein Pfahl der Ehre, der ihm die Gedärme ehrenvoll heraustrieb. Als eitler Rohling schritt der vaterländische Vater stolz und dumm durch die Schellingstrasse und bildete sich ein, die Leute wichen ihm aus, man sehe es ihm direkt an, dass sein einziger Sohn in Flandern gefallen ist. Ja, er plante sogar, sich selbst freiwillig zu opfern, jedoch dies vereitelten Bismarcks Worte, die er abgöttisch liebte: „Den Krieg gewinnen die deutschen Schulmeister.“ Aber es kam bekanntlich anders. Am Ende ihrer Kraft brachen die Mittelmächte zusammen und fassungslos stammelte Gustav Adolf senior: „Aber die Pazifisten können doch nicht recht haben, denn warum ist denn dann mein Sohn gefallen?“ Erst anlässlich des versailler Diktates atmete er auf. Nun konnte er es sich ja wie der beweisen, dass die Pazifisten nicht recht haben und, dass also sein Sohn nicht umsonst gefallen ist. Als Liebknecht und Luxemburg ermordet wurden, wurde es ihm klar, dass das deutsche Volk seine Ehre verloren hat und, dass es selbe nur dann wiedererringen kann, wenn abermals zwei Millionen junger deutscher Männer fallen. B

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

1 1 2 2 9 9–10 11 16 26

(undN ] getan)N ] BgeradeN ] BChemie studieren N ] BkratzteN ] Bdiebisch f Anschlagsäulen.N ] B B

Liebe,N ] und Tanks.N ] Bund dummN ] B B

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\(/und getan[,]|)| [gerade] [|eigentlich|] |gerade| Chemi[ker]|e| [werden] |studieren| [schlich] [|{ }|] |kratzte| [sich an die Anschlagsäulen und stahl die Kriegsberichte.] |diebisch f Anschlagsäulen.| Liebe\,/ [,] |und| Tanks\./ [und Gas.] \und dumm/

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 3

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

5

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Als Kurt Eisner ermordet wurde, hing er die Photographie seines Mörders neben jene seines Sohnes. Als Gustav Landauer ermordet wurde, stellte er fest: „Die Ordnung steht rechts!“ Als Gareis ermordet wurde, macht er einen Ausflug in das Isartal und zwischen Grünwald und Grosshesselohe sagte er dreimal: „Deutsche Erde!“ Als Erzberger ermordet wurde, betrat er seit langer Zeit wiedermal ein Biercabaret am Sendlingertorplatz. Dort sang ein allseits beliebter Komiker den Refrain: „Gott erhalte Rathenau, Erzberger hat er schon erhalten!“ Es war sehr komisch. Als Rathenau ermordet wurde, traf er einen allseits beliebten Universitätsprofessor, der meinte: „Gottlob, einer weniger!“ Als Haase ermordet wurde, ging er in die Oper und prophezeite in der Pause: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Und der Sturm brach los, das „Volk“ stand auf und warf sich auf dem münchener Odeonsplatz auf den Bauch. Da wurde es windstill in des Schulmeisters Seele. Geistig gebrochen, doch körperlich aufrecht liess er sich von der Republik pensionieren, witterte überall okkulte Mächte und hasste die Gewerkschaften. Er wurde Spiritist. Als er aber entdeckte, dass es auch unter den Jüdinnen Spiri tistinen gibt, wandte er sich ab vom Spiritismus. Er fürchtete weder Frankreich noch die Tschechoslowakei, nur die Freimaurer. Genau so, wie einst seine Urgrossmutter die Preussen gefürchtet hatte. Die war an Verfolgungswahn erkrankt und hatte geglaubt, jeder Preusse hätte an seinem linken Fusse vierzehn Zehen. Von Tag zu Tag sah er seiner Urgrossmutter ähnlicher. Er vertiefte sich in seine abgekratzten Kriegsberichte und wollte es unbedingt ergründen, wieso wir den Krieg verloren haben, obwohl wir ihn nicht verloren haben. Und seine einzige Freude waren seine gesammelten Kriegsscherzartikel. B

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Lesetext

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Das war Afra Krumbiers Schwager. Sie hatte ihn nie recht gemocht, denn seit ihre verstorbene Schwester Frau Studienrat geworden war, hatte sie angefangen Afra von oben herab zu behandeln, weil Afra in ihrer Jugend nur mit einem Kanzleibeamten verlobt gewesen war, der sie obendrein auch noch sitzen gelassen hatte, weil er defraudiert hatte und durchgebrannt war. Und seit nun Afra im Antiquariat der Tante sozusagen lebte, vergass sie ihren Schwager fast ganz, so sehr konzentrierten sich die Tante und sie aufeinander. Diese Konzentration war sogar so stark , dass die beiden Alten es oft selbst nichtmehr zu wissen schienen, wessen Nichte Agnes ist. BN

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allseits beliebtenN ] ] B N] Bkonzentrierten sichN ] Bund sieN ] Baufeinander.N ] BDiese f warN ] BstarkN ] B N] B

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\allseits beliebten/ [der Hochzeit] [eine] [waren sie und] |konzentrierten sich| \und sie/ aufeinander\./ [konzentriert] [Das ging] |Diese f war| [weit] |stark| [nun]

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

So fragte auch heute wieder Afra die Tante, wel- cher Kunstmaler sich die Agnes als Modell gewaehlt haette, ob er eine Beruehmtheit sei oder eine Null, ob noch jung oder schon aelter, ob verheiratet, verwittwet , geschieden oder ob er so im Konkubinat dahinlebe, wie das bei den Kunstmalern meistens der Fall sei. Die Tante meinte, sie kenne den Kunstmaler nicht persoenlich, er wohne zwar nicht weit von hier und sie hoere nur Gutes ueber ihn; zwar habe sie nur gehoert, dass er Achner heisst, aber auf die Kunstmaler sei kein Verlass, und sie habe es der Agnes auch schon erklaert, dass sie sich ja nicht unterstehen soll bei kuenstlichem Lichte als Modell herumzustehen. \Textverlust\ BN

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 6

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 7

Drei Stunden später schlug es dreiviertelfünf. A M L beschäftigte sich bereits seit vier Uhr mit dem Hintergrunde seiner „Hetäre im Opiumrausch“. Der Hintergrund war nämlich seine schwächste Seite. Unter solch einem Hintergrund konnte er unsagbar leiden. Auch jetzt juckte es ihn überall, denn es offenbarten sich ihm nur Hintergründe, die nicht in Frage kamen. So schien ihm also der Dreiviertelfünfuhrschlag als wahre Erlösung, denn da sein Freund Harry Priegler um fünf Uhr erscheinen wollte, konnte er sagen: „Ziehen Sie sich an, Fräulein Pollinger! Für heut sind wir so weit. Dieser Hintergrund, dieser Hintergrund! Dieser ewige Hintergrund!“ Und während Agnes sich vor einem Hintergrunde, der ebenfalls nicht in Frage kam, anzog, knurrte ihr Magen. Sie hatte nämlich an diesem Tage zwei Semmeln gegessen, sonst noch nichts. Ursprünglich hatte sie sich ja Suppe, Fleisch, gemischten Salat und Kompott bestellen wollen, so ein richtiges Menü für neunzig Pfennig, aber da sie erst um halb zwölf erwacht war und dann auch noch zehn Minuten lang gemeint hatte, es wäre erst acht oder höchstens neun, während sie doch um zwölf Uhr bereits als Hetäre im Atelier sein musste, so war ihr eben für jenes Menü keine Zeit übrig geblieben. Abgesehen davon, dass sie ja nur mehr dreiundzwanzig Pfennig besass. B

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] verwittwetN ] BAchnerN ] B22.N ] BUnter f leiden.N ]

17 20 24 25 29 29 30 30

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es f ihmN ] HarryN ] B N] BnochN ] Bwar ihrN ] Bfür jenesN ] Bübrig geblieben.N ] BdreiundzwanzigN ] B

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[Und nun fragte diese Afra Krumbier die Tante, wel] verw\i/ttwet [La]|A|chner [16.] |22.| [Solch \ein/ Hintergr[ü]|u|nd[e] [hatte[n]] [|zerstörte|] |konnte| ihm schon oft [die] |seine| schönste Zukunftsmusik\./ [verleidet.] |zerstören.| Dann lähmten die Akkorde des Minderwertigkeitsgefühls seine schaffenden Pfoten -- kurz: [e]|E|r litt \des öfteren/ unsagbar, [jedesmal,] wenn [\er/] |er| an [den] |einen| Hintergrund geriet.] |Unter f leiden.| [er sah] |es f ihm| [Heinz] |Harry| [rasch nur] [|ers|] [|erst|] [no ch] |noch| [hatte] |war| [sie] |ihr| [zu] |für| jene[m]|s| [gehabt.] |übrig geblieben.| dre\i/undzwanzig

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Die zwei Semmeln kaufte sie sich bei jener Bäckersfrau in der Schellingstrasse, die bekannt war ob ihrer Klumpfüsse . Als Agnes den Laden betrat, las sie gerade die Hausbesitzerszeitung und meinte: „Der Mittelstand wird aufgerieben. Und was wird dann aus der Kultur? Überhaupts aus der Menschheit?“ „Was geht mich die Menschheit an?“ dachte Agnes und ärgerte sich, dass die Semmeln immer kleiner werden. B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 8

Agnes schlüpfte in ihren Schlüpfer. „Es sind halt immer die gleichen Bewegungen,“ überlegte sie. „Nur, dass ich jetzt seit einem Jahr keine Strumpfbänder trag, sondern einen Gürtel. Man kann zwar zum Gürtel auch Strumpfbänder tragn , aber oft habn die Männer schon gar kein Sinn für Schmuck und werdn bloss höhnisch und dann ist die ganze Stimmung zerrissen .“ Und sie erinnerte sich einer Photographie in der „Illustrierten“. Auf der sah man eine lustige Amerikanerin aus New-York, die auf ihrem Strumpfband eine Uhr trug. „Die Strumpfbanduhr“ stand darunter und dann war auch noch vermerkt, dass sie nicht nur einen Sekundenzeiger besitzt, sondern auch ein Läut- und Weckwerk und, dass sie nicht nur die Viertelstunden, sondern auch die Minuten schlägt und, dass sie sich sogar als Stoppuhr verwerten lässt, zum Beispiel bei leichtathletischen Wettbewerben. Sie registriere nämlich genau die Zehntelsekunden und in der Nacht leuchte ihr Zifferblatt und überhaupt könne man von ihr auch die jeweiligen Stellungen der Sonne und des Mondes erkennen -- ein ganzes Stück Weltall – und die glückliche Besitzerin dieser Strumpfbanduhr sei Miss Flora, die Tochter eines Konfektionskönigs, des Enkelkindes braver Berliner aus Breslau. B

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2 2 2 6 8 13 13 13 14 14–15 14–15 19 20 21 22 23 24 24 25 25 26

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bekanntN ] KlumpfüsseN ] B N] B N] B23.N ] BtragnN ] BhabnN ] BkeinN ] BwerdnN ] BzerrissenN ] BzerrissenN ] BWeckwerkN ] BauchN ] BleichtathletischenN ] BZehntelsekundenN ] Bjeweiligen StellungenN ] BundN ] BWeltall –N ] BseiN ] BFlora,N ] Bdes f Breslau.N ] B

EnkelkindesN ]

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[berühmt] |bekannt| [pompösen Plattfüsse] |Klumpfüsse [und Krampfadern]| gestrichen: (kein Absatz) [--] [17.] |23.| trag[en]|n| hab[en]|n| kein[en] werd[en]|n| zerriss[en]|n| korrigiert aus: zerissn Weck\w/erk [sogar] |auch| korrigiert aus: leichtatletischen [z]|Z|ehntelsekunden jeweilige\n/ Stellung\en/ [oder] |und| Weltall \–/ [heisse] |sei| Flora\,/ [und sei] [dessen Vorfahren gute Deutsche [aus] |in| der Gegend von Beslau gewesen seien.] |des f Breslau.| Enkel[s]|kindes|

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)



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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 9

Harry Priegler war pünktlich. Er nahm die vier Treppen, als wären sie gar nicht da und betrat das Atelier ohne Atembeschwerden, denn er war ein durchtrainierter Sportsmann. Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und Dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewussten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu haben, konnte er seine gesunden Muskeln, Nerven und Eingeweide derart rücksichtslos pflegen, dass er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eishokeysportes galt. Er hat die Hoffenden nicht enttäuscht. Allgemein beliebt wurde er gar bald der berühmteste linke Stürmer und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, seinen Verein oder seine Vaterstadt, Südbayern oder Grossdeutschland, immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, dass er sich ein „Foul“ zuschulden kommen liess, denn infolge seiner raffinierten Technik der Stockbehandlung und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er es nicht nötig. Natürlich trieb er nichts als Sport. Das Eishokey war sein Beruf, trotzdem blieb er Amateur, denn seinen nicht gerade bescheidenen Lebensunterhalt bestritten die geschlachteten Schweine. Harrys Arbeit hing in erschreckender Weise vom Wetter ab. Gab es kein Eis, hatte  er nichts zu tun. Spätestens Mitte Februar wurde er arbeitslos und frühestens Mitte Dezember konnte er wieder eingestellt werden. Wenn ihm jemand während dieser Zeit auf der Strasse begegnete, so teilte er dem mit einer gewissen müden Resignation mit, dass er entweder vom Schneider kommt oder zum Schneider geht. Er trug sich recht bunt, kaute Gummi und markierte mit Vorliebe den Nordamerikaner. Kurz: er war eine jener „Spitzen der Gesellschaft, die sich in ihren eigenen Autos bei A M L Rendez-vous geben“, wie sich der Kastner Agnes gegenüber so plastisch ausN

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24.N ] HarryN ] B N] BeinzigerN ] BklassenbewusstenN ] BeinenN ] BEishokeysportesN ] BErN ] Bgar baldN ] BwuchtigenN ] BunhaltbarN ] B„Foul“N ] BGeschwindigkeitN ] BEishokeyN ] BgeschlachtetenN ] BihmN ] BdemN ] BeineN ] BinN ] BeigenenN ] B B

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[18.] |24.| [Heinz] |Harry| [\Harry hiess eigentlich Franz Xaver./] \einziger/ [religiösen] [|dummstolzen|] |klassenbewussten| eine\n/ gemeint ist: Eishockeysportes [Und] [e]|E|r \gar bald/ [unhaltbaren] |wuchtigen| [gut] |unhaltbar| korrigiert aus: „foul“ Geschwindigkeit[,] gemeint ist: Eishockey geschlachte[n]|t|en ih[m]|m| [ihm] |dem| eine[r] [mit] |in| \eigenen/

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 10

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

gedrückt und über die er noch geäussert hat: „Das sind Möglichkeiten! Ich verlange zwar keineswegs, dass Du Dich prostituierst.“ Auch die übrigen Spieler seiner Mannschaft, vom Mittelstürmer bis zum Ersatzmann, waren in gleicher Weise berufstätig. Zwei waren zwar immatrikuliert an der philosophischen Fakultät, erste Sektion, jedoch dies geschah nur so nebenbei, denn alle waren Söhne irgendwelcher Schweinemetzger in Wien, Elberfeld oder Kanada. Nur der rechte Verteidiger liess sich von einer Dame, deren Mann für das Eishokey kein Gefühl hatte , aushalten. Mit diesem rechten Verteidiger vertrug sich Harry ursprünglich recht gut, aber dann trübte eine Liebesgeschichte ihre Zuneigung und seit jener Zeit hasste ihn der rechte Verteidiger. Immerhin besass er aber Charakter genug, um bei Wettkämpfen mit Harry präzis zusammenzuspielen, als wäre nichts geschehen. Der rechte Verteidiger hatte sich nämlich mit Erfolg in die Geliebte des Torman nes verliebt und diese Geliebte hatte plötzlich angefangen, sich für Harry zu interessieren. Der Tormann, ein gutmütiger Riese, hat bloss traurig gesagt: „Frauen sind halt unsportlich“ und der rechte Verteidiger hatte nichts dagegen einzuwenden, solange die Unsportliche auch ihn erhört hatte, denn er war ein grosszügiger Mann. Aber Harry hatte jene Unsportliche nicht riechen können und darüber hatte sie sich so geärgert, dass sie plötzlich den rechten Verteidiger nicht mehr riechen konnte. „Also vom Wintersport hab ich jetzt genug“, hatte sie gesagt und ist nach San Remo gefahren und hat sich dort von einem fascistischen Parteisekretär Statuten beibringen lassen, ist dann zurückgekommen und hat vom Mussolini geschwärmt und konstatiert: „In Italien herrscht Ordnung!“ Harry lernte A M L im „Diana“ kennen. Das „Diana“ und der „Bunte Vogel“ in  der Adalberstrasse zu Schwabing waren während der Inflation sogenannte Künstlerkneipen mit Künstlerkonzert und es trafen sich dort allerhand arme Mädchen , Corpstudenten , Schieber, verkommene Schauspieler, rachsüchtige Feuilletonisten und homosexuelle  Hitlerianer. Hier entstand dies Lied: Wir wollen uns mit Cognak berauschen Wir wollen unsere Weiber vertauschen Wir wollen uns mit Scheisse beschmieren Wir wollen überhaupt ein freies Leben führen! Harry hatte für Kunst nichts übrig, ihn interessierten eigentlich nur die Mädchen, die sich möglichst billig erstehen liessen. Denn trotz seines lebemännischen Äusseren konnte er ab und zu recht geizig werden, wenn es um das Ganze ging. Überhaupt B

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geäussertN ] prostituierst.“N ] Bfür f hatteN ] BEishokeyN ] BZuneigungN ] BjenerN ] Bunsportlich“N ] BUnsportlicheN ] BUnsportlicheN ] Barme MädchenN ] BCorpstudentenN ] BWirN ] Bführen!N ] B B

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[gemeint] |geäussert| prostituierst[,]|.“| [aber --“] [höchst unsportlich empfand] |für das Eishokey [{ }] kein Gefühl hatte| gemeint ist: Eishockey [Freundschaft] |Zuneigung| [dieser] |jener| un[berechenbar“]|sportlich“| [Unberechenbare] |Unsportliche| [Unberechenbare] |Unsportliche| [Prostituierte] |arme Mädchen| gemeint ist: Corpsstudenten [„]Wir führen![“]

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Fragmentarische Fassung

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

bricht bei Kavalieren seiner Art durch die Kruste der Nonchalance gar häufig überraschend primitiv eine ungebändigte Sinneslust, eine Urfreude am Leben. So hat mal der Mittelstürmer seiner Liebe den Nachttopf an den Kopf werfen wollen und ein anderer Mittelstürmer hat es auch getan. Als Harry und A M L sich kennen lernten, fanden sie sich sogleich sympathisch.  Beide waren betrunken, Harry hatte natürlich Valuten , A M L natürlich nur mehr eine Billion, hingegen hatte er ein Mädchen, welches hinwiederum Harry nicht hatte. So bezahlte letzterer die Zeche und A M L improvisierte ein Atelierfest. Kurz nach zwei Uhr übergab sich Harry und bettelte um ein Stück Papier, jedoch A M L meinte: „Ehrensache! Das putz ich auf, das ist Hausherrnrecht! Ehrensache!“ Und er putzte tatsächlich alles fein säuberlich auf und übergab sich dann selbst, während Harry ihn ob seiner Gastfreundschaft dankte. Dann näherte er sich einem Mädchen, das schon so müd war, dass sie ihn mit A M L verwechselte. Aber A M L verzieh Harry und meinte nur, die schönste Musik sei die Musik der Südsee. Dann schmiss er die Müde raus und so entwickelte sich zwischen den beiden Männern eine wahre Freundschaft. Harry bezahlte die Zeche der Mädchen, die A M L einlud. Und so konnte es auch nicht ausbleiben, dass Harry sich anfing, für Kunst zu interessieren. Dumpf pochte in ihm die Pflicht, lebenden Künstlern unter die Arme zu greifen. Er liess sich sein Lexikon prunkvoll einbinden, denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Er las gerne Titel und Kapitelüberschriften , aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreisskalendern. Dort las er am hundertsten Todestage Ludwig van Beethovens: „Kunst ist eigentlich undefinierbar.“ B

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Als Agnes Harry vorgestellt wurde, sagte er: „Angenehm!“ und zu A M L: „Verzeih, wenn ich wiedermal störe!“ „Oh bitte! Du weisst doch, dass ich nicht gestört werden kann! Fräulein Pollinger ist nur mein neues Modell. Ich stehe wiedermal vor dem Hintergrund. Bist Du mit dem Auto da?“ Hätte Agnes etwas Zerbrechliches in der Hand gehalten, dann hätte sie es bei dem Worte „Auto“ wahrscheinlich fallen lassen, so unerwartet tauchte es vor ihr auf, als würde es sie überfahren -- obwohl sie sich doch seit Kastners Besuch darüber im Klaren war, dass sie oben drinnen sitzen will. Und sie überraschte sich dabei, wie gut ihr Harrys grauer Anzug gefiel und, dass sie den Knoten seiner Krawatte fabelhaft fand.

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ValutenN ] A M LN ] B N] BMüdeN ] Blebenden f greifen.N ] BKapitelüberschriftenN ] B N] B25.N ] B B

[Geld] |Valuten| [ihrem Bräutigam] [|Freunde|] |A M L| [[Ihr Bräutigam] |Freund| war A M L.] [Braut] [|Freundin|] |Müde| [die] lebende[n]|n| Künstler\n/ [zu unterstützen.] |unter f greifen.| Kapitelüberschr[o]|i|ften [die] [19.] |25.|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 15

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Die beiden Herren unterhielten sich leise. Nämlich A M L wäre es irgendwie peinlich gewesen, wenn seine Hetäre erfahren hätte , dass er Harry vierzig Mark schuldet und, dass er diese Schuld noch immer nicht begleichen kann und, dass er Harry lediglich fragen wollte, ob er ihm nicht noch zwanzig Mark pumpen könnte. -- „Sie fährt sicher mit“, meinte er und betonte dies „sicher“ so überzeugt, dass es Agnes hören musste, obwohl sie nicht lauschte. Nun wurde sie aber neugierig und horchte, denn sie liebte das Wort „vielleicht“ und gebrauchte nie das Wort „sicher“. Und dies fiel ihr plötzlich auf und sie war mit sich sehr zufrieden. Scheinbar interessiert blätterte sie in den Briefen van Goghs und hörte, wie Harry von zwei Herren sprach, die ihm anlässlich seines fabelhaften Spieles in der Schweiz persönlich gratulieren wollten. Als sie ihm aber ihre Aufwartung machten, da stahlen sie ihm aus seiner Briefmarkensammlung den „schwarzen Einser“ und den „sächsischen Dreier“. Einer von ihnen habe sich an eine Baronin attachiert und diese Baronin sei sehr lebensfreudig, nämlich sie habe sich gleich an drei Männer attachiert. Der Baron sei unerwartet nach Hause gekommen und habe nur gesagt: „Guten abend die Herren!“ und dann sei er gleich wieder fort. Die Herren seien verdutzt gewesen und der  Baron habe sich in der gleichen Nacht auf dem Grabe seiner Mutter erschossen. Harry sagte noch, er verstünde es nicht, wie man sich aus Liebe erschiessen kann. Auch Agnes verstand dies nicht. Sie dachte, was wäre das für eine Überspanntheit, wenn sie sich auf dem Grabe ihrer Mutter erschiessen würde. Oder wenn sich zum Beispiel jetzt der Eugen auf dem Grabe seiner Mutter erschiessen würde. Abgesehen davon, dass seine Mutter vielleicht noch lebt, würde ihr so etwas niemals einfallen und auch dem Eugen wahrscheinlich vielleicht niemals. Zwar hätte es ganz so hergeschaut, als hätte er ein tieferes Gefühl für sie empfunden, denn er hätte schon ziemlich gestottert, wenn er ihr was Erfreuliches hätte sagen wollen. Auch Agnes stotterte einst.  Zur Zeit ihrer einzigen grossen Liebe, damals, da sie mit dem Brunner aus der Schellingstrasse ging, stieg ihr auch jedesmal, wenn sie an ihn dachte, so ein tieferes Gefühl aus dem Magen herauf und blieb in der Gurgel stecken. Und wenn sie ihm gar mal unerwartet begegnete, wurde es ihr jedesmal übel vor lauter Freude, so, dass sie sich am liebsten übergeben hätte. Der Brunner aber lachte jedesmal , nur einmal wurde er plötzlich sehr ernst und streng und meinte, wenn man an nichts anderes zu denken hätte, so wäre ja so eine grosse Liebe recht abwechslungsreich. Darüber war sie dann recht empört, denn sie hatte ja alles andere, an das sie sogar sehr hätte B

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[wollte es nicht, dass] |wäre f wenn| \irgendwie/ sein\e/ [Modell] |Hetäre| [sollte] |hätte| [doch] [das] |dies| [jetzt] [kannte dieses Stottern.] |stotterte einst.| Der1 Brunner2 lachte4 aber3 [\nur5/] [nur] [sehr] |recht| [Agnes war] [d]|D|arüber [sehr empört,] |war sie dann [sehr] |recht| empört,| [vergass alles] |hatte f müssen,|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 17

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

denken müssen, wegen ihrem Brunner vergessen . Sie las ja auch damals bloss solch blöde Bücher über eifersüchtige Männer und leidenschaftliche Weiber. Und als sie dann der Brunner sitzen liess, heulte sie auf ihrer verwanzten Matratze und es fiel ihr tatsächlich ein: was tät er sagen, wenn ich jetzt aus dem Fenster springen tät? Und vielleicht grad ihm auf den Kopf fallen tät? Seinerzeit lief sie sogar in die Kirche und betete: „Lieber Gott! Lass diesen Kelch an mir vorübergehen --“ Sie sprach plötzlich hochdeutsch, nämlich sie fand diesen Satz so wahr und wunderschön. Sie glaubte daran, dass da drinnen eine tiefe Erkenntnis steckt. Heute, wenn ihr dieser Satz einfällt, kriegt sie einen roten Kopf, so komisch kommt sie sich vor. Aus Liebe tun sich ja heut nur noch die Kinder was an! So erhängte sich erst unlängst ein Realgymnasiast wegen einer Realgymnasiastin , weil die sich mit einem Motorradfahrer einliess. Zuerst fühlte sich die Realgymnasiastin geschmeichelt, aber dann fing sie plötzlich an, von lauter erhängten Jünglingen zu träumen und wurde wegen Zerstreutheit zu Ostern nicht versetzt. Sie wollte ursprünglich Kinderärztin werden, verlobte sich dann aber mit jenem Motorradfahrer. Der hiess Heinrich Lallinger. Erst heute begreift Agnes ihren Brunner aus der Schellingstrasse, der da sagte,  dass wenn zwei sich gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das ganze Geschwätz von der Seele in der Liebe, das sei bloss eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch lediglich eine Gefühlsroheit, wenn irgendeine Agnes ausser seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit Schmerzen und warum solle er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja keine Familie gründen, dann allerdings müsste er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammenzuleben, da gehöre schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zu viel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. N

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] vergessenN ] B N] Bauf f Matratze N ] BSie f nämlichN ] BErkenntnisN ] BerhängteN ] B N] BdieN ] Beinliess.N ] BfingN ] Ban,N ] Blauter f Jünglingen N ] BwurdeN ] BZerstreutheitN ] Bversetzt.N ] BKinderärztinN ] BverlobteN ] BMotorradfahrer.N ] BDer f Lallinger.N ] BverlangenN ] BsolleN ] BmüssteN ] B N B

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[aus der Schellingstrasse] \vergessen/ [{Bücher}] [in] |auf| ihre[m]|r| verwan\z/ten [Zimmer] |Matratze| \Sie f hochdeutsch,/ [N]|n|ämlich Erkenn[z]|t|nis [hat] |erhängte| [erhängt] [s]|d|ie ein[gelassen hat.] |liess.| [hat] |fing| [angefangen immer nur] |an,| \lauter/ [E]|e|rhängten \Jünglingen/ [ist] |wurde| [Unachtsamkeit] |Zerstreutheit| versetzt\./ [worden.] [Chemikerin] |Kinderärztin| [hat] |verlobte| Motorradfahrer\./ [verlobt.] \Der f Lallinger./ verl[{ }]|a|ngen soll[te]|e| müss[te]|te|

151

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 18

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Heute würde Agnes antworten: „Was könnt schon aus meim Kind werdn? Es hätt nichtmal eine Tante, bei der es dann später wohnen könnt! Wenn der Mensch im Leben erreicht, dass er in einem Auto fahren kann, da hat er schon sehr viel erreicht.“ 5



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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 19

„Sicher!“ hatte A M L gesagt. „Sicher fährt sie mit.“ Er war so sicher seiner Sache, er betrieb ja nicht nur psychologische Studien, sondern er empfand auch eine gewisse Schadenfreude anlässlich jeder geglückten Kuppelei, denn er durchschritt dann im Geiste immer wieder seinen Weg zu Buddha. Agnes befürchtete bereits, von Harry nicht aufgefordert zu werden und so sagte sie fast zu früh „Ja“ und vergass ihren knurrenden Magen vor Freude über die Fahrt an den Starnbergersee. Harry hatte sie nämlich gefragt: „Fräulein, Sie wollen doch mit mir kommen – nur an den Starnbergersee?“ Unten stand das Auto. Es war schön und neu und als Agnes sich in es setzte , dachte sie einen Augenblick an Eugen, der in einer knappen Stunde an der Ecke der Schleissheimerstrasse stehen wird. Sie erschrack darüber, dass sie ihn höhnisch betrachtete, wie er so dort warten wird, ohne sich setzen zu können -- „Pfui!“ sagte sie sich und fügte hinzu: „Lang wird er nicht warten!“ Dann ging das Auto los. B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 20

Um sechs Uhr wartete aber ausser Eugen noch ein anderer auf Agnes, nämlich der Kastner. Er hatte doch erst vor vierundzwanzig Stunden zu A M L gesagt: „Also, wenn Du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich Dir morgen ein tadelloses Modell für zwanzig Pfennig. Gross, schlank, braunblond und es versteht auch einen Spass. Aber wenn Du mir nur fünf Mark leihen kannst, so musst Du dafür sorgen, dass ich Gelegenheit bekomme, um sie mir nehmen zu können. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Cognak bringe ich mit, Grammophon hast Du.“ A M L hatte dem Kastner zwar nur drei Mark geliehen, hingegen hatte er sich  vom Harry Priegler ausser den vierzig abermals zwanzig Mark leihen lassen, macht zusammen plus sechzig Mark neben minus drei Mark. Es wäre also unverzeihbar töN

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26.N ] geglücktenN ] B N] Bim GeisteN ] Bkommen –N ] BalsN ] BsichN ] Bes setzteN ] BstehenN ] Bdort wartenN ] Bwird, f könnenN ] B27.N ] BerstN ] BMarkN ] B B

N

[20.] |26.| [gelungenen] |geglückten| [im Geiste]f x x im Geiste kommen[,] |–| \als/ \sich/ [ihm Platz nahm] |es [setzen] |setzte|| [warten] |stehen| dort[stehen] |[{ }]warten| wird\, ohne f können/ [21.] |27.| [noch] |erst| korrigiert aus: Merk

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 21

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

richt gewesen, wenn er dem Harry betreffs Agnes nicht entgegengekommen wäre, nur um dem Kastner sein Versprechen halten zu können. Der Kastner war ein korrekter Kaufmann und übersah auch sofort die Situation. Alles sah er ein und meinte nur: „Du hast wiedermal Dein Ehrenwort gebrochen.“ Aber dies sollte nur eine Feststellung sein, beileibe kein Vorwurf, denn der Kastner konnte grosszügig werden, besonders an manchen Tagen. An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja es war gar nicht so hässlich, es war eigentlich nichts. Das einzig unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung.

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 22

Der Vater des Kastner war ursprünglich Offizier. Er hiess Alfons und jedes dritte Wort, das er sprach, schrieb oder dachte, war das Wort „eigentlich“. So hatte er „eigentlich“ keine Lust zum Leutnant, aber er hatte sich seinerzeit „eigentlich“ widerspruchslos dem elterlichen Zwange gebeugt und war in des Königs Rock geschlüpft, weil er „eigentlich“ nicht wusste, was er „eigentlich“ wollte. „Eigentlich“ konnte er sauber zeichnen, aber er wäre kein guter Künstler geworden, denn er war sachlich voller Ausreden und persönlich voller Gewissensbisse, statt umgekehrt. Er war ein linkischer Leutnant, las Gedichte von Lenau, Romane von Tovote, kannte jede Operette und hatte Zwangsvorstellungen. In seinem Tagebuche stand: „Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Oh, warum hat mich Gott eigentlich mit Händen erschaffen!“ B

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Die Mutter des Kastner war ursprünglich Verkäuferin in einer Konditorei und so musste der Vater naturgemäss seinen Abschied nehmen, denn als Offizier konnte er doch keine arbeitende Frau ehelichen, um den Offiziersstand nicht zu beschmutzen. Er wurde von seinem Vater, einem allseits geachteten Honorarkonsul, enterbt. „Mein Sohn hat eine Kellnerin geheiratet“, konstatierte der Honorarkonsul. „Mein Sohn hat eine Angestellte geheiratet. Mein Sohn hat eine Dirne geheiratet. Ich habe keinen Sohn mehr.“ So wurde der Leutnant Alfons Kastner ein Sklave des Kontors und war derart ehrlich, niemals dies Opfer zu erwähnen. Denn, wie gesagt, war ja dies Opfer nur ein scheinbares, da ihm weitaus bedeutsamer für seine Zukunft, als selbst der Feldmarschallrang, eine Frau dünkte, die ihn durch ihre Hilflosigkeit zwang, alles zu „opB

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VentilatorN ] 28.N ] Ber f keineN ] B N]

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KonditoreiN ] und f nehmen,N ]

konnteN ] dochN ] BOffiziersstandN ] BAlfons KastnerN ] B

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korrigiert aus: Ventillator

[22.] |28.| korrigiert aus: er„eigentlich“keine

[Er heiratete eine Verkäuferin aus einer Konditorei und hing seinen Säbel „eigentlich“ als Erinnerung an die Wand] Konditorei[.] [Der Leutnant hing also seinen Säbel „eigentlich“ als Erinnerung über das Sofa,] |und [der Leutnant Alfons Kastner nahm also naturgemäss] |so musste [der] |der| Vater naturgemäss| seinen Abschied nehmen,| [durfte] |konnte| [natürlich] |doch| Offiziers[ts]|s|tand [\Alfons/ Kastner] |Alfons Kastner|

153

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

fern“, um sie beschützen zu können, zu bekleiden, beschuhn, ernähren -- kurz: für die er verantwortlich sein musste, um sich selbst beweisen zu können, dass er doch „eigentlich“ ein regelrechter Mann sei. Er klammerte sich krampfhaft an das erste Zusammentreffen. Damals war sie so blass, klein und zerbrechlich, entsetzt und hilfesuchend hinter all der  Schlagsahne und Schokolade gestanden. Sie hatte sich nämlich mit einer Prinzregententorte überessen, aber da sie dies ihrem Alfons nie erzählt hatte, weil sie es selbst längst vergessen hatte, wurde er ihr hörig. Sie war noch unberührt und wurde von ihrem Alfons erst in der Hochzeitsnacht entjungfert, allerdings erst nach einem Nervenzusammenbruche seinerseits mit Weinen und Selbstmordgedanken. Denn die Frau , die ihn „eigentlich“ körperlich reizen konnte, musste wie das Bild sein, das sie später zufällig in seiner Schublade fand: eine hohe dürre Frau mit männlichen Hüften und einem geschulterten Gewehr. Darunter stand: „Die fesche Jägerin. Wien 1894 . Guido Kratochwill pinx.“ Und obwohl sie klein und rundlich war, blieb sie ihm doch ihr ganzes Leben über treu und unterdrückte jede Regung für einen fremden Mann, weil er ihr eben hündisch hörig war. So wurde sie die Gefangene ihres falschen Pflichtgefühls und bald verabscheute sie ihn auch, verachtete ihn mit dem Urhasse der Kreatur, weil die Treue, die ihr seine Hörigkeit aufzwang, sie hinderte, sich auszuleben. Sie fing an, alle Männer zu hassen, als würde sie keiner befriedigen können und immer mehr glich sie einer Ratte. Es war keine glückliche Ehe. Und sie wurde auch nicht glücklicher, selbst da sie ihm zwei Kinder gebar. Das erste, ein Mädchen, starb nach zehn Minuten, das zweite, ein Sohn, wollte mal später „eigentlich“ Journalist werden. B

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„Ich hab extra Zigaretten mitgebracht“, sagte der Kastner. Er sass bereits sechs Minuten auf dem Bette neben dem Grammophon und stierte auf einen Fettfleck an der spanischen Wand. Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ging eines Tages in der Schellingstrasse spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so, dass diese beiden einst so innig befreundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein ausserordentliches Personengedächtnis besass. „Halloh!“ rief der vierte Fettfleck. „Ihr kennt Euch doch, wir wollen jetzt einen Cognak trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns.“ „Ich hab extra einen Cognak mitgebracht“, sagte der Kastner. „Es wäre sehr leicht  gewesen mit Deinem Grammophon und meinem Cognak, sie war ja ganz gerührt,

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 24

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krampfhaftN ] PrinzregententorteN ] BFrauN ] BgeschultertenN ] B1894N ] BwürdeN ] BSohn, wollteN ] B29.N ] B N] B B

k\r/ampfhaft Prin\z/regententorte [f]|F|rau korrigiert aus: geschultertem 189[9]|4| [hätte] |würde| korrigiert aus: Sohn,wollte [23.] |29.| [bereits]

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 25

Fragmentarische Fassung

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

dass ich ihr hier das beschafft hab. Die Zigaretten kosten fünf Pfennig, ich rauch sonst nur welche zu drei, aber auf die war ich schon lang scharf, sie hat eine schöne Haut. Ich glaub, ich bin nicht wählerisch. Als Kind war ich wählerisch, ich hab es mir auch leisten können, weil ich einen schönen Gang gehabt haben soll. Heut hab ich direkt wieder gehinkt.“ Heute sprach der Kastner gar nicht wählerisch. Heute hinkte sein hochdeutsch und er war nicht stolz, weder auf seine Dialektik noch auf seine deutliche Aussprache. Er murmelte nur vor sich hin, als hätte er es vergessen, dass er „eigentlich“ Journalist werden wollte. Die Sonne sank schon immer tiefer und A M L konnte kein Wort herausbrin gen vor innerer Erregung. Denn plötzlich, wie er den Kastner so dasitzen sah, sah er einen Hintergrund. „Die Stirne dieses Kastners wäre ein prächtiger Hintergrund“, frohlockte sein göttlicher Funke. Nämlich wenn es dämmerte, offenbarten sich A M L die Hintergründe und je dunkler es wurde, umso farbenprächtiger strahlte um ihn die Ewigkeit. Es war sein persönliches Pech, dass man in der Finsternis nicht malen kann. „Es sind mazedonische Zigaretten“, sagte der Kastner. „Bulgarien ist ein fruchtbares Land. Ein Königreich. Ich war dort im Krieg und in Sofia gibt es eine grosse Kathedrale, die dann die Agrarkommunisten in die Luft gesprengt haben. Das hier ist nicht der echte Tabak, denn die Steuern sind zu hoch, wir haben eben den Feldzug verloren. Es war umsonst. Wir haben umsonst verloren.“ „Auch in der Kunst das gleiche Spiel“, meinte A M L . „Die Besten unserer Generation sind gefallen.“ „Stimmt“, philosophierte der Kastner. „Dir gehts gut, Du bist talentiert.“ „Gut?!“ schrie der Talentierte. „Gut?! Was weisst denn Du von einem Hintergrund?!“ „Nichts“, nickte der Philosoph. Und trank seinen Cognak und es dauerte nicht lange, so war er damit einverstanden, dass Agnes mit Harry an den Starnbergersee fuhr. Eine fast fromme Ergebenheit erfüllte seine Seele und es fiel ihm weiter gar nicht auf, dass er zufrieden war. Er kam sich vor, wie ein gutes Gespenst, das sich über seine eigene Harmlosigkeit noch niemals geärgert hat. Selbst da der Cognak alle wurde, war er sich nicht böse. B

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HeuteN ] Heute f erN ] BdeutlicheN ] BA M LN ] B N] BA M LN ] Bstrahlte f Ewigkeit.N ] BA M LN ] BUndN ] B N] Ban denN ] BStarnbergerseeN ] BdasN ] Büber f eigeneN ] B B

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Lesetext

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Heut\e/ [Er] |Heute f er| [schöne] |deutliche| korrigiert aus: L M A [noch immer] korrigiert aus: L M A strahlte1 die4 Ewigkeit5 um2 ihn3. korrigiert aus: L M A [Traurig] [|S{ }|] |Und| [er] [nach] |an den| Starnberg\ersee/ korrigiert aus: dass [ob] |über| seine[r] \eigene/

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 26

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)



5

Lesetext

30.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 27

Als der Kastner an der spanischen Wand den Fettfleck entdeckte, erblickte Agnes aus Harrys Auto den Starnbergersee. Die Stadt mit ihren grauen Häusern war verschwunden, als hätte sie nie in ihr gewohnt und Villen tauchten auf, rechts und links und überall, mit Rosen und grossen Hunden. Der Nachmittag war wunderbar und Agnes fuhr durch eine fremde Welt. Sie hatte die Füsse hübsch artig nebeneinander und den Kopf etwas im Nacken, denn auch der Wind war wunderbar und sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem. Harry war ein blendender Chauffeur.  Er überholte jedes Auto, jedes Pferd und jede Kuh. Er nahm die Kurven, wie sie kamen und fuhr durchschnittlich vierzig, streckenweise sogar hundert Kilometer. Jedoch, betonte er, seien diese hundert Kilometer keineswegs leichtsinnig, denn er fahre ungewöhnlich sicher, er wäre ja auch bereits vier Rennen gefahren und hätte bereits viermal wegen vier Pannen keinen Preis errungen. Er könne tatsächlich von Glück reden, dass er nur mit Hautabschürfungen davongekommen ist, trotzdem er sich viermal überschlagen hätte. Ausnahmsweise sprach Harry nicht über das Eishokey , sondern beleuchtete  Verkehrsprobleme. So erzählte er, dass für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgendein Fussgänger die Schuld trägt. So dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, dass er, falls er solch einen Fussgänger überfahren hätte, einfach abblenden würde. So habe er einen Freund in Berlin und dieser Freund hätte mit seinem fabelhaften Lancia eine Fussgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über die Strasse gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja sogar zum Prozess sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fussgängerin Landgerichtsratswittwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, dass sein Freund zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt wird. „Es käme mir ja auf paar tausend Märker nicht an“, hätte der Freund gesagt, „aber ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen.“ Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fussgängerin nicht leid täte trotz des verbotenen Lichtes. „Nein“, hätte er gesagt, „ prinzipiell nicht!“ Er sei eben auf seinem Recht bestanden. Jedesmal, wenn Harry irgendeinen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusam menstossen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann hasste er diesen Staat, der die Fussgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Überhaupt der deutsche Staat, meinte er, solle sich lieber kümmern, dass mehr gearbeitet wird, damit man endlich mal wieder hochkommen könne, anstatt, dass er für die Fussgänger sorgt! Fussgänger würden so und so überfahren und nun erst B

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SieN ] ] BEishokeyN ] BverbotenenN ] BtrotzN ] BprinzipiellN ] BdiesenN ] B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 29

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 28

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[Das Auto war wunderbar und] [s]|S|ie [getan] gemeint ist: Eishockey korrigiert aus: verbotenem [T]|t|rotz [schon gar] |prinzipiell| d[en]|iesen|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 30

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Auslandes, da er mit seinem Auto jedes Früh jahr, jeden Sommer und jeden Herbst zwecks Erholung von der anstrengenden Eishokeysaison ein Stückchen Welt durchfahre. So sei er erst unlängst durch Dalmatien gefahren und in Salzburg habe er sich das alte Spiel von Jedermann angesehen. Der Reinhardt wäre ja ein berühmter Regisseur und die Religion sei schon etwas sehr mächtiges. In Salzburg hätte er auch seinen berliner Freund getroffen und dessen Frau, eine Ägypterin, eine enorme Schönheit mit Zuckerrohrplantagen. Sie wäre enorm reich und die Ägypter wären enorm genügsame Leute und falls ihnen etwas nicht genügen sollte, schon würden die Engländer schiessen. Ohne Pardon. Die Engländer seien eben enorme Kaufleute. Im Frühjahr habe er in Baden-Baden zwei Engländerinen getroffen und deren  Meinung sei gewesen, es wäre ein Skandal, wie der Staat die Automobilistinen belästige. Der Staat solle doch lieber gegen den drohenden Bolschewismus energisch vorgehen, als gegen Luxusreisende. Und im Sommer habe er sich auf dem Fernpass zwei Französinen genähert, die hätten genau dieselben Worte gebraucht und im Herbst habe er in Ischl zwei Wienerinen gesprochen und die hätten auch genau dieselben Worte gebraucht, obwohl es Jüdinen gewesen seien. Und Harry fuhr fort, der Bolschewismus sei ein Verbrechen und jeder Bolsche wist ein Verbrecher. Er kenne zwar eine Ausnahme, den Sohn eines Justizrates und der wäre ein weltfremder Idealist, aber trotzdem interessiere sich dieser Weltfremde nur für elegante Damen. Dieser Idealist sehe immer enorm ausgemergelt aus und er habe ihm mal erklärt, dass wenn eine Dame nicht elegant wäre, könne er keinen Kontakt zu ihr kriegen und dies sei sein Konflikt. Und er habe noch hinzugefügt: „Wenn das so weitergeht, geh ich noch an meinem Konflikt zugrunde.“ Und Harry erklärte Agnes, dieser Salonkommunist sei nämlich enorm sinnlich. B

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Sie fuhren durch Possenhofen. Hier wurde eine Kaiserin von Österreich geboren und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander verwandt und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloss Berg. Es war eine vornehme Gegend. Vor Feldafing spielten zwei vollschlanke Jüdinen Golf. Eine vollschlanke Majorin fing erst vor kurzem an. B

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ihreN ] unterschreiben,N ] BEishokeysaisonN ] Berst unlängstN ] BeineN ] BihmN ] BvollschlankeN ] B B

ihre[n] [beipflichten,] |unterschreiben,| gemeint ist: Eishockeysaison [im Sommer] |erst unlängst| ein\e/ ih[n]|m| \vollschlanke/

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

„Essen tun wir in Feldafing“, entschied Harry. „In Feldafing ist ein annehmbares Publikum, seit der Golfplatz draussen ist. Ich fahr oft heraus, in der Stadt kann man ja kaum mehr essen, überall sitzt so ein Bowel.“ Und er meinte noch, früher sei er auch oft nach Tutzing gefahren, das liege sechs Kilometer südlich, aber jetzt könne kein anständiger Mensch mehr hin, nämlich dort stünde jetzt eine Fabrik und überall treffe man Arbeiter.

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 35

In Feldafing sitzt man wunderbar am See. Besonders an einem Sommerabend ohne Wind. Dann ist der See still und Du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterscheiden, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend. Agnes kannte keinen einzigen Berg und Harry erklärte ihr, wie die Gipfel und Grate heissen und ob sie gefährlich zu bezwingen wären, langwierig, leicht oder überhaupt nicht. Denn Harry war auch Hochturist, aber schon seit geraumer Zeit wollte er von der Hochturistik nichtsmehr wissen, da er es nicht mitansehen konnte, wie grauenhaft unsportlich sich neunundneunzig Prozent der Hochturisten benehmen. Er verübelte es ihnen, dass sie sich statt einer sportlich einwandfreien Ausrüstung nur Lodenmäntel kaufen können und er verzieh es ihnen nicht, dass sie untrainiert waren, weil sie im Jahre nur vierzehn Tage Urlaub bekommen. Diese neunundneunzig Prozent vereckelten ihm Gottes herrliche Bergwelt und nun besass er nur drei Interessensphären: das Eishokeyspielen , das Autofahren und die Liebe. Manchmal verwechselte er diese Begriffe. Dann liebte er das Eishokey , spielte mit dem Auto und fuhr mit den Frauen. Seine Einstellung Schlittschuhen und Autozubehörteilen gegenüber kann ruhig als pedantisch bezeichnet werden. Hingegen Frauen gegenüber besass er ein bedeutend nachsichtigeres Herz: er zog nur eine ungefähre Grenze zwischen zwanzig und vierzig Jahren und selbst innerhalb dieser Grenze war er nicht besonders wählerisch, bloss ordinär.

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 36

Im Seerestaurant zu Feldafing sassen ausser Harry und Agnes noch elf Damen und elf Herren. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die grösste Mühe gab, anders auszusehen. Die Damen waren durchaus gepflegt und sahen daher sehr neu aus, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett mussten, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal in der Nase bohrte. Die Speisekarte war lang und gross, aber Agnes konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, sondern hochdeutsche, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. B

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EishokeyspielenN ] EishokeyN ] BeineN ] BschienN ] B N] B B

gemeint ist: Eishockeyspielen gemeint ist: Eishockey

[sie] |eine| schien[en] [irgendeine lange zurückgedrängte Blähung losliess oder]

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Königinsuppe?“ hörte sie des Kellners Stimme und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, denn das Knurren kränkte ihn, da er einen schlechten Charakter hatte. Harry bestellte zwei Wienerschnitzel mit Gurkensalat. Bei „Wiener“ fiel Agnes  Eugen ein -- es war sieben Uhr und sie dachte, jetzt stehe jener Österreicher wahrscheinlich nichtmehr an der Ecke der Schleissheimerstrasse. Jetzt spreche jener Österreicher vielleicht gerade eine andere Münchnerin an und gehe dann mit der auf das Oberwiesenfeld und setze sich unter eine Ulme. Und Agnes freute sich auf den Gurkensalat, nämlich sie liebte jeden Salat und sagte sich: „So sind halt die Männer!“ Seit Juni 1927 hatte Agnes keinen Gurkensalat gegessen. Damals hatte sie ein Mediziner zum Abendessen im „Chinesischen Turm“ eingeladen und hernach ist sie mit ihm durch den englischen Garten gegangen. Dieser Mediziner hatte sehr gerne Vorträge gehalten und hatte ihr auseinandergesetzt, dass das Verzehren eines Gurkensalates auch nur eine organische Funktion ist, genau wie das Sitzen unter einer Ulme. Und dann hatte er ihr von einem bedauernswerten Genie erzählt, das den Unterschied zwischen der Mutter- und Dirnennatur entdeckt hatte. Aber schon kurz nach dieser Entdeckung, hatte jenes bedauernswerte Genie diesen Unterschied plötzlich nichtmehr so genau erkennen können und hat sich erschossen, wahrscheinlich weil er sich mit dem Begriff Weib hatte versöhnen wollen. Und dann hatte der Mediziner auch noch gemeint, dass er noch nicht wüsste, ob Agnes eine Mutter- oder Dirnennatur sei. BN

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Die Wiener Schnitzel waren wunderbar, aber Harry liess das seine stehen, weil es ihm zu dick war und bestellte sich russische Eier und sagte: „Prost!“ Auch der Wein war wunderbar und plötzlich fragte Harry: „Wie gefall ich Ihnen?“ „Wunderbar“, lächelte Agnes und verschluckte sich, nicht weil sie immerhin übertrieben hatte, sondern weil sie eben mit einem richtigen Hunger ihren Teil verzehrte. Es schmeckte ihr derart, dass der Direktor des Seerestaurants anfing, sie misstrauisch zu beobachten, als hielte er es für wahrscheinlich, dass sie bald einen Löffel verschwinden lässt. Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich, als hätten sie es nicht nötig zu essen, als wären sie der Materie entwachsen. Als wären sie vergeistigt und sie sind doch nur satt. B

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2 3 9 12 16 16 17 19 19 19 19 20 21 31

] ihn, f hatte.N ] Bsich: „SoN ] B„ChinesischenN ] BbedauernswertenN ] BdasN ] Bhatte.N ] Berkennen könnenN ] BhatN ] B N] BwahrscheinlichN ] BhatteN ] BnochN ] BDirektor f SeerestaurantsN ] B N B

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 37

N

[, zog sich schweigend zurück] ihn[.]|,| \da f hatte./ korrigiert aus: sich:„So korrigiert aus: „ Chinesischen korrigiert aus: bedauernswertem korrigiert aus: dass hat[.]|te.| [gesehen] |erkennen können| [hat] |hat| [dann] [|hierauf|] \wahrscheinlich/ hat\te/ korrigiert aus: nocht [Kellner] |[kaufmännische] Direktor f Seerestaurants|

159

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

„Wissen Sie“, sagte Harry plötzlich, „dass ich etwas nicht ganz verstehe: wieso kommt es, dass ich bei Frauen soviel Glück habe? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sich vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann? Ich kann jede Frau haben, aber das ist nicht das richtige.“ Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: „Wie mach ich es nur, dass ich auf sie naufkomm? Das Beste ist, ich warte, bis es finster ist, dann fahr ich zurück und ich bieg in einen Seitenweg ein. Nach Starnberg und wenn sie nicht will, fliegt sie raus.“ „Es ist nicht das richtige“, fuhr er laut fort. „Die Frauen sagen: ich kann hypnotisieren. Aber ob ich die Liebe finde? Ob ich überhaupt eine Liebe finde? Ob es überhaupt eine wahre Liebe gibt? Wissen Sie, was ich unter „Liebe“ verstehe?“ Er verfinsterte sich noch mehr, denn plötzlich musste er gegen eine Blähung ankämpfen. Er kniff die Lippen zusammen und sah recht unglücklich aus, während Agnes dachte: „Jetzt hat der so ein wunderbares Auto und ist nicht glücklich. Was möcht der erst sagen, wenn er zu Fuss gehn müsst?“

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 39

Als Agnes mit ihrem Gurkensalat und Harry mit seinen russischen Eiern fertig war, beschimpfte er den Kellner mit dem schlechten Charakter , der untertänigst davonhuschte, um das Dessert zu holen. Es war noch immer nicht finster geworden, es dämmerte nur und also musste Harry noch ein Viertelstündchen mit Agnes Konversation treiben. „Sehen Sie jene Dame dort am dritten Tisch links?“ fragte er. „Jene Dame hab ich auch schon mal gehabt. Sie heisst Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstrasse acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, dass sie verheiratet ist und, dass ihr Mann sein Geschäftsfreund ist. Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishokey gespielt hab. Sie heisst Lotte Böhmer und wohnt in der Meinickestrasse vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heisst Weber und wohnt in der Franz-Josef-Strasse , die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: „Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stossen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann so viel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.“ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stossen wollte. Und hinter Ihnen -- schauen Sie sich nicht um! -- sitzt eine grosse Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestossen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heisst Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstrasse zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anB

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Lesetext

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mit f CharakterN ] EishokeyN ] BMeinickestrasseN ] BFranz-Josef-StrasseN ] BFürstenstrasse zwölf.N ] BIhrN ] B B

\mit f Charakter/ gemeint ist: Eishockey gemeint ist: Meinekestrasse korrigiert aus: Franz- Josef-Strasse Fürstenstrasse[.] [{neun}] [|z|] |zwölf.| korrigiert aus: ihr

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

deren ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: „Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, dass Du mich mit meiner Frau betrügst?“ Ich hab gesagt: „Hand aufs Herz! Es ist wahr!“ Ich hab schon gedacht, er will  sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: „Ich danke Dir, lieber Harry!“ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, dass ich ja nichts dafür kann, denn er weiss, dass der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil ist. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein grosser Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heisst Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstrasse bei der Gabelsbergerstrasse.“ „Zahlen!“ rief Harry, denn nun wurde es finster und die Sterne standen droben und ditto der Mond. Auch die Nacht war wunderbar und dann ging das Auto los. B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 40

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 41

Nach Starnberg, im Forstenriederpark, bog Harry in einen Seitenweg, hielt plötzlich und starrte regungslos vor sich hin, als würde er einen grossen Gedanken suchen, den er verloren hat. Agnes wusste, was nun kommen wird, trotzdem fragte sie ihn, was nun kommen würde? Er rührte sich nicht. Sie fragte, ob etwas los wäre? Er antwortete nicht. Sie fragte, ob das Auto kaputt sei? Er starrte noch immer vor sich hin. Sie fragte, ob vielleicht sonst etwas kaputt sei? Er wandte sich langsam ihr zu und sagte, es wäre gar nichts kaputt , doch hätte sie schöne Beine. Sie sagte, das sei ihr bereits bekannt. Er sagte, das sei ihm auch bereits bekannt und das Gras wäre sehr trocken, weil es seit Wochen nicht mehr geregnet hat. Dann schwieg er wieder und auch sie sagte nichtsmehr, denn sie dachte an das gestrige Gras unter der Ulme. Plötzlich warf er sich auf sie, drückte sie nieder, griff ihr zwischen die Schenkel und streckte seine Zunge zwischen ihre Zähne. Weil er aber einen Katarrh hatte, zog er sie wieder zurück , um sich schneuzen zu können. Sie sagte, sie müsse spätestens um neun Uhr in der Schellingstrasse sein. B

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1 14 26 28 29 34 34 34 36 37 37

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ehemaligenN ] Auch dieN ] BkaputtN ] BkaputtN ] BkaputtN ] BdennN ] Bdachte f Ulme.N ] BgestrigeN ] BKatarrhN ] BzogN ] BzurückN ] B B

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\ehemaligen/ \Auch/ [D]|d|ie korrigiert aus: kaput korrigiert aus: kaput korrigiert aus: kaput [als hätte] |denn| [auch einen grossen Gedanken verloren.] |dachte f Ulme.| \gestrige/ korrigiert aus: Kattarh [liess] |zog| [los] |zurück|

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Er warf sich wieder auf sie, denn er hatte sich nun ausgeschneuzt. Sie biss ihm in die Zunge und er sagte: „Au!“ Und dann fragte er, ob sie denn nicht fühle, dass er sie liebt. „Nein“, sagte sie. „Das ist aber traurig“, sagte er und warf sich wieder auf sie.

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 42

Sie wehrte sich nicht. So nahm er sie, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, obwohl er bereits in Feldafing bemerkt hatte, dass sie ihn niemals besonders aufregen könnte, da sie ein Typ war, den er bereits durch und durch kannte, aber er fühlte sich verpflichtet, sich ihr zu nähern, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, ganz abgesehen von seiner kostbaren Zeit zwischen fünf und neuneinhalb Uhr, die er ihr gewidmet hatte. Sie wehrte sich nicht und es war ihr klar, dass sie so tat, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wienerschnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte. Nur seine Zeit fand sie nicht so kostbar, wie er. Er hätte sich verdoppeln dürfen und sie hätte sich nicht gewehrt, als hätte sie nie darüber nachgedacht, dass man das nicht darf. Sie hatte wohl darüber nachgedacht, doch hatte sie es einsehen müssen, dass die Welt, wenn man auch noch soviel nachdenkt, doch nur nach kaufmännischen Gesetzen regiert wird und diese Gesetze sind allgemein anerkannt, trotz ihrer Ungerechtigkeit. Durch das Nachdenken werden sie nicht anders, das Nachdenken tut nur weh. Sie liess sich nehmen, ohne sich zu geben und ihre Gefühllosigkeit tat ihr wohl. Was sonst in ihrer Seele vorging, war nicht von Belang, es war nämlich nichts. Sie sah den Harry über sich, vom Kinn bis zum Bauch, und drei Meter entfernt das Schlusslicht seines Autos und dessen Nummer: IIA 16747. Und über das alles wölbte sich der Himmel, aus dem der grosse weisse Engel kam und verkündete: „Vor Gott ist kein Ding unmöglich!“ Mit unendlichem Gleichmut vernahm sie die Verkündigung und genau so, wie ihr das alles bisher wunderbar schien, erschien ihr nun plötzlich alles komisch. Der Himmel, der Engel, das Auto, der Harry und besonders das karierte Muster seiner fabelhaften Kravatte, deren Ende ihr immer wieder in den Mund hing. Es war sehr komisch und plötzlich gab ihr Harry eine gewaltige Ohrfeige, riss  sich aus ihr und brüllte : „Eine Gemeinheit! Ich streng mich an und Du machst nichts! Eine Gemeinheit! Ich bin da und Du bist nicht da! Jetzt fahr zu Fuss, faules Luder!“ Es war sehr komisch. Entrüstet sprang er in sein Auto und dann ging das Auto los. Sie sah noch die Nummer: IIA 16747. B

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Lesetext

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derN ] ihrN ] Bhing.N ] B N] BbrüllteN ] BJetzt fahrN ] BEntrüstetN ] B B

\der/ [sie] |ihr| [bekam.] |hing.| [los] brü[{ }l]|ll|te [Bild Dir nur ja nicht ein, dass ich Dich mitnehm! Lauf] |Jetzt [fahr] |fahr|| [Wütend] |Entrüstet|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 43

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Dann war das Auto verschwunden. Es war sehr komisch. 

38.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 44

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Agnes ging durch den Forstenriederpark. Dem entschwundenen Schlusslicht nach. Sie wusste weder wo sie war, noch wie weit sie sich von ihrer Schellingstrasse befand. Sie kannte nur die ungefähre Richtung und wusste, dass sie nun nach Hause gehen muss, statt in einem wunderbaren Auto zu sitzen. Erst allmählich wurde es ihr klar, dass sie nun fünf, sechs oder sieben Stunden lang laufen muss, um ihre Schellingstrasse zu erreichen. Die Nacht war still und hinter den alten Bäumen rechts und links lag gross und schwarz der Wald. In diesem Wald jagte einst der königlich bayerische Hof und veranstaltete auch grosse Hoftreibjagden. Nämlich in diesem Walde wohnte viel Wild und all diese Hirsche, Rehe, Hühner und Schweine wurden königlich gehegt, bevor man die Schweine durch eine königliche Meute zerreissen oder die Hirsche durch hunderte königliche Treiber in den Starnbergersee treiben liess, um sie dort vom Kahn aus königlich erschlagen zu können. Heut ist dies alles staatlich und man treibt die Jagd humaner, weil die Treibjagden zu teuer sind. Erst nach zehn Minuten gewöhnte sich Agnes daran, nichtsmehr komisch zu finden, sondern gemein. Es war doch alles leider zu wahr und sie überzeugte sich, dass ihre Schuhe nun bald ganz zerreissen werden und dann fürchtete sie sich auch, denn im Deutschen Reiche wird viel gemordet und geraubt. Zwar sei das Rauben nicht das schlimmste, überlegte sie. Es sei doch bedeutend schlimmer, dass sie nun allein durch den Wald gehen muss, denn wie leicht könnte sie ermordet werden, zum Beispiel aus Lust, aber der Harry würde nie bestraft werden, sondern nur der Mörder. Überhaupt seien die Richter oft eigentümlich veranlagt. So habe ihr erst vor vier  Wochen das Berufsmodell Fräulein Therese Seitz aus der Schellingstrasse erzählt, dass sie 1927 der Motorradfahrer Heinrich Lallinger vom Undosawellenbad in die Schellingstrasse fahren wollte, aber plötzlich sei er in einen Seitenweg eingebogen, um sie dann weiter drinnen im Wald zu vergewaltigen. Sie habe gesagt, er solle sofort halten, da sie sonst abspringen würde, er habe aber nur gelächelt und die Geschwindigkeit verdoppelt, aber trotz der sechzig Kilometer sei sie abgesprungen und hätte sich den Knöchel gebrochen. Sie habe dann den Lallinger angezeigt wegen fahrlässiger Körperverletzung und Freiheitsberaubung, aber der Oberstaatsanwalt habe ihr dann später mitgeteilt, dass er das Verfahren gegen Herrn Heinrich Lallinger eingestellt hat, weil ihm kein Verschulden nachzuweisen sei, da es ja bekannt sei, dass sich junge Mädchen, die sich abends mit einem Motorrad nach Hause fahren liessen, es als selbstverständlich erachteten, dass erst zu gewissen Zwecken ein Umweg geBN

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] nichtsmehrN ] B1927N ] BvomN ] B N B

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[liess] nicht\smehr/ [\{ }/] |1927| [aus dem] |vom|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 45

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

macht werden würde. Freiheitsberaubung liege also nicht vor und sie sei selbst daran Schuld gewesen, dass sie sich den Knöchel gebrochen hat. 

39.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 46

5

Agnes hörte Schritte. Das waren müde schleppende Schritte und bald konnte sie einen kleinen Mann erkennen, der vor ihr herging. Sie hätte ihn fast überholt und übersehen, so dunkel war es geworden. Auch der Mann hörte Schritte, blieb stehen und lauschte. Auch Agnes blieb stehen. Der Mann drehte sich langsam um und legte den Kopf bald her bald hin, als wäre er kurzsichtig. „Guten abend“, sagte der Mann. „Guten abend“, sagte Agnes. „Habens nur keine Angst, Fräulein“ , sagte der Mann. „Ich tu Ihnen nix. Ich wohn in München und geh nachhaus.“ „Habn wir noch weit bis München?“ fragte Agnes. „Ich komm von Kochel“, sagte der Mann. „Den grössten Teil hab ich hinter mir.“ „Ich komm grad von da“, sagte Agnes. „So“, sagte der Mann und schien gar nicht darüber nachzudenken, was dies „von da“ bedeuten könnte. Sie gingen wieder weiter. Es sah aus, als würde er hinken, aber er hinkte nicht, es sah eben nur so aus. „Was klappert denn da?“ fragte Agnes. „Das bin ich“, sagte der Mann und sprach plötzlich hochdeutsch. „Ich hab nämlich eine sogenannte künstliche Ferse und einen hölzernen Absatz seit dem Krieg.“ BN

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40. Agnes hat es nie erfahren, dass der Mann Sebastian Krattler hiess und in der Nähe des Sendlingerberges wohnte. Er hat sich ihr weder vorgestellt, noch hat er es ihr erzählt, dass er von Beruf Schuster war, dass er aber nirgends Arbeit fand und also, obwohl er bereits seit fast dreissig Jahren eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, auf die Walz gehen musste, nachdem er noch vorher im Weltkrieg mit einer künstlichen Ferse ausgezeichnet worden ist. Auch hat er es ihr verschwiegen, dass er einen Neffen in Wallgau bei Mittenwald hatte, einen grossen Bauern, bei dem er irgendeine Arbeit zu finden hoffte. Aber dieser Neffe hatte für ihn wegen seiner Kriegsauszeichnung keine Arbeit, denn die Bauern sind recht verschmitzte Leute. Aber in Tyrol würden die Pfaffen eine Kirche nach der anderen bauen und die höchstgelegenste Kirche stünde am Rande der Gletscher.

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B

] Fräulein“N ] Bmir.“N ] BMann f hochdeutsch.N ]

korrigiert aus: Fräullein“

mir.\“/ [Und Sie Fräulein?“] Mann[.] \und f hochdeutsch./

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 47

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Das seien lauter gottgefällige Werke, denn die Tyroler seien halt genau wie die Nichttyroler recht religiös. Oder vielleicht nur schlecht. Oder blöd. „Dass anders wird, erleb ich nimmer“, sagte der Mann. „Was?“ fragte Agnes. „Sie werdns vielleicht noch erlebn“, sagte der Mann und meinte noch, wenn es jetzt Tag wäre, dann könnte man von hier aus die Frauentürme sehen.

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Lesetext

41.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 48

Um Mitternacht erblickte Agnes eine Bank und sagte, sie wolle sich etwas setzen, weil sie kaum mehr weiter könne und ihre Schuhe wären nun auch schon ganz zerrissen . Der Mann sagte, dann setze er sich auch, die Nächte seien ja noch warm. Sie setzten sich und auf der Banklehne stand: „Nur für Erwachsene.“ Der Mann wollte ihr gerade sagen, es wäre polizeilich verboten, dass sich Kinder auf solch eine Bank setzen oder, dass man auf solch einer Bank schläft, da schlief Agnes ein. Der Mann schlief nicht. Nicht weil es polizeilich verboten war, sondern weil er an etwas ganz anderes dachte. Er dachte einen einfachen Gedanken. „Wenn nur ein anderer einen selbst umbringen könnt“ , dachte der Mann. Und Agnes träumte einen einfachen Traum: Sie fuhr in einem wunderbaren Auto durch eine wunderbare Welt. Auf dieser Welt wuchs alles von allein und ständig. Sie musste nichts bezahlen und alles hatte einen unaussprechlichen Namen, so einen richtig fremdländischen, es war alles anders als hier. „Hier ist es nämlich wirklich nicht schön“, meinte ein Herr. Dieser Herr hatte einen weissen Hut, einen weissen Frack und weisse Hosen, weisse Schuhe und weisse Augen. „Ich bin der Papst der Kellner“, sagte der Herr, „und ich hab in meiner Jugend im Forstenriederpark die königlichsten Agnesse erlegt. Wir trieben sie in den Starnbergersee hinein und gaben ihnen vom Kahn aus gewaltige Ohrfeigen. Eigentlich heiss ich gar nicht Harry, sondern Franz.“ Und Agnes ging durch einen Wald, es war ein Ulmenwald und unter jeder Ulme sass ein Eugen. Es waren da viele hunderte Ulmen und Eugene und sie hatten alle die gleichen Bewegungen. „Agnes“, sprachen die Eugene, „wir haben auf Dich gewartet an der Ecke der Schleissheimerstrasse, aber wir hatten dort keinen Platz, wir sind nämlich zuviel. Übrigens: war der Gurkensalat wirklich so wunderbar?“ Da schwebte der grosse weisse Engel daher und hielt eine Gurke in der Hand. „Vor Gott ist keine Gurke unmöglich“, sagte der Engel. Der Morgenwind ging an der Bank vorbei und der Mann sagte: „Das ist der Morgenwind.“ B

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zerrissenN ] solch eineN ] Bsolch einerN ] BpolizeilichN ] Bkönnt“N ] Bder Mann.N ] B N] BallesN ] Bsagte f Morgenwind.“N ] B B

korrigiert aus: zerissen [die] |solch eine| [der] |solch einer| po[l]|l|izeilich könnt[e“]|“| [er.] |der Mann.| [ganz] [so ganz] |alles| \sagte f Morgenwind.“/

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)



42.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 49

Bevor die Sonne kommt, geht ein Schauer durch die Menschen. Nicht weil sie vielleicht Kinder der Nacht sind, sondern weil das Quecksilber vor Sonnenaufgang um einige Grade sinkt. Das hat seine atmosphärischen Ursachen und physikalischen Gesetze, aber Sebastian Krattler wollte nur festgestellt wissen, dass der Morgenwind, der immer vor der Sonne einherläuft, kühl ist. Er lief über die träumende Agnes quer durch Europa und München und natürlich auch durch die Schleissheimerstrasse, an deren Ecke Eugen auf Agnes gewartet hat.

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43.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 50

Eugen stand bereits um zehn Minuten vor sechs an jener Ecke und wartete bis dreiviertelsieben. Bis sechs Uhr ging er ihr immer wieder etwas entgegen, ihre Schellingstrasse hinab, aber ab punkt sechs hielt er sich peinlich an die verabredete Ecke, denn er dachte, Agnes könne ja auch unerwartet aus irgendeiner anderen Richtung kommen und dann fände sie eine Ecke ohne Eugen. Sie kam jedoch aus keiner Richtung und zehn Minuten nach sechs sagte er sich, Frauen seien halt unpünktlich. Er war den ganzen Tag über wieder herumgelaufen und hatte trotzdem keine Arbeit gefunden. Er hatte bereits seinen Frack versetzen müssen und nahm sich vor, dass er sich heute auf dem Oberwiesenfeld anders benehmen wird, als gestern. Heute wolle er die Agnes nicht körperlich begehren, sondern in Ruhe lassen und bloss mit ihr sprechen. Über irgendetwas sprechen. Er besass noch ganze vier Mark zwanzig und es war ihm auch bekannt, dass er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anspruch hat und er erinnerte sich, dass er 1915 in Wolhynien einen Kalmüken sterben sah, der genauso starb, wie ein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. Agnes kam noch immer nicht und um den Kalmüken zu verscheuchen, rechnete er sich aus, wieviel Schillinge, Franken, Lire und Lei vier Mark zwanzig sind. Er hatte lange nichts mehr addiert und stellte nun resigniert fest, dass er betreffs Kopfrechnen ausser Übung ist. B

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Lesetext

atmosphärischen f physikalischenN ] über f träumende N ] B N] BderenN ] BjenerN ] B N] BBisN ] BUhrN ] BihrN ] Bentgegen,N ] BhatN ] BKalmükenN ] BKalmükenN ] B B

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[physikalischen] |atmosphärischen f physikalischen| [an der] |über die| träumende[n] [vorbei] der\en/ [der] |jener| [der Schleissheimerstrasse] [Vor] |Bis| \Uhr/ [ihr] [|Agnes|] |ihr| entgegen[,]|,| hat[te] gemeint ist: Kalmücken gemeint ist: Kalmücken

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Früher, während der Inflation, da hatte keiner so kopfrechnen können, wie er. Überhaupt ging es ihm vorzüglich während der Geldentwertung, er hatte ja kein Geld und war der beliebteste Kellner in der Bar und auch die Bardame war in ihn verliebt. Sie hiess Kitty Lechleitner und man hätte es ihr gar nicht angesehen, dass sie Paralyse hatte, wenn sie nicht plötzlich angefangen hätte alles was sie von sich gab wieder aufzuessen. Sie  hatte einen grandiosen Appetit und starb im Steinhof bei Wien und war doch immer herzig und freundlich, nur pünktlich konnte sie nicht sein. B

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44.

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Als Agnes den Starnbergersee erblickte, befürchtete Eugen, dass ihr etwas zugestossen ist. Nämlich er hatte einst ein Rendezvous mit einer Kassierin und während er sie erwartete, wurde sie von einem Radfahrer angefahren und zog sich eine Gehirnerschütterung zu. Er wartete ewig lange und schrieb ihr dann einen beleidigenden Brief und erst drei Wochen hernach erfuhr er, dass die Kassierin fünf Tage lang bewusstlos war und, dass sie sehr weinte, als sie seinen beleidigenden Brief las und, dass sie den Radfahrer verfluchte. „Nur nicht ungerecht sein“, dachte Eugen und zählte bis zwanzig. Nämlich wenn Agnes bis zwanzig nicht kommen sollte, dann würde er gehen. Er zählte sechsmal bis zwanzig und sie kam nicht. Er ging aber nicht, sondern sagte sich, dass alle Weiber unzuverlässig sind. Und  verlogen. So verlogen, dass sie gar nicht wissen könnten, wann sie lügen. Sie würden auch lügen, nur um einem etwas angenehmes sagen zu können. So hätte doch diese Agnes gestern ausdrücklich gesagt, dass sie sich auf das Oberwiesenfeld freut. Auch Agnes sei halt eine Sklavennatur, aber dafür könnten ja die Weiber nichts, denn daran wären bloss die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten. Dass ihn Agnes versetzt hatte, dies fiel ihm bereits um punkt sechs ein, doch glaubte er es erst um dreiviertelsieben. „Wenn ich ein Auto hätt“, meinte er, „dann tät mich keine versetzen, vorausgesetzt, dass sie kein Auto hätt, dann müsst ich nämlich ein Flugzeug haben.“ Aber trotzdem er sich dies sagte, wusste er gar nicht, wie recht er hatte. B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 51

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45. Während Harry in Feldafing den Gurkensalat bestellte, ging Eugen langsam die Schellingstrasse entlang und hielt einen Augenblick vor der Auslage des Antiqua-

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kein GeldN ] dassN ] B N] Bist.N ] Bdie KassierinN ] BalleN ] Bunzuverlässig f verlogen.N ] BSo f lügen.N ] Bum punktN ] B B

[nichts zu verlieren] |kein Geld| [ob] |dass| [nicht] [sei.] |ist.| [sie] |die Kassierin| [die] |alle| \unzuverlässig sind./ \Und/ verlogen\./ [sind.] \So f lügen./ [zehn Minuten nach] |um punkt|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 52

Fragmentarische Fassung

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Dann ist der Kriminaler gegangen. Hierauf hat die Krumbier, damit sich die Tante beruhige, eine Geschichte von einem sadistischen Kriminaler erzählt, der sich ihr genähert hatte, als sie sechzehn Jahr alt gewesen ist . Er hatte ihr imponieren wollen und hatte ihr lauter Lustmordphotographien gezeigt. „So Kriminaler werden leicht pervers“, hat die Krumbier gesagt. Aber die Tante hat sich nicht beruhigen lassen und hat gesagt, wie die Agnes nachhause kommt , haut sie ihr eine herunter. B

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46.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 54

Eugen ging auch an dem Hause vorbei, in dessen Atelier der Buddhist A M L als Untermieter malte. Das Atelier hatte er nämlich von einem anderen Untermieter gemietet, der sich aber weigerte, des Buddhisten Untermiete dem Mieter auszuzahlen, weil er sich benachteiligt fühlte, da der Mieter bei der Abfassung des Untermieterkontraktes die offizielle Miete um das Doppelte gefälscht hatte. Der Kastner beschäftigte sich gerade wieder mit einigen Fettflecken und ahnte noch nichts von jenem Kriminaler. Heute hätte ihn jener Kriminaler auch nicht besonders erregt, denn er wusste ja nichtmehr, war er noch besoffen oder schon blöd. B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 53

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Lesetext

riats. Er sah das „Weib vor dem Spiegel“ und dachte, gestern nacht sei er noch dagestanden und jetzt gehe er daran vorbei. Es fiel ihm nicht auf, dass das „Weib auf dem Pantherfell“ aus der Auslage ver schwunden ist . Nämlich am Nachmittag war ein Kriminaler zu der Tante gekommen und hat ihr mitgeteilt, dass sich ein Feinmechaniker aus der Schellingstrasse über das „Weib auf dem Pantherfell“ sittlich entrüstet hat, weil er wegen seiner achtjährigen Tochter auf einen gewissen hochwürdigen Herrn schlecht zu sprechen wäre . Und der Kriminaler hat der Tante auseinandergesetzt, dass solche Pantherfellbilder schon gar nichts mit Kunst zu tun hätten und, dass er eine Antiquariatsdurchsuchung machen müsste. Und dann hat der Kriminaler einen ganzen Koffer voller „Weiber auf dem Pantherfell“ beschlagnahmt und hat dabei fürchterlich getrenzt und sich ganz genau nach dem Kastner erkundigt. Er hat nämlich den Kastner verhaften wollen wegen gewerbsmässiger Verbreitung unzüchtiger Darstellungen und einem fahrlässigen Falscheid. B

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

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istN ] warN ] BwäreN ] B N]

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dieN ] gewesen istN ] BhatteN ] BhatteN ] BwieN ] B N] Bnachhause kommtN ] B N] BdessenN ] BA M LN ] B

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[war] |ist| [ist] [|war|] |war| [ist] [|w|] |wäre| [Hierauf hat Afra Krumbier der Tante eine Geschichte von einem sadistischen Polizeikommissar erzählt] [Afra] |die| [war] |gewesen ist| hat\te/ hat\te/ [wenn] [|wie|] |wie| [sie] [trifft] |nachhause kommt| [dann] korrigiert aus: dessem korrigiert aus: L M A

168

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

An der Türkenstrasse hielt Eugen vor dem Fenster eines rechtschaffenen Photographen. Da hing ein Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie hatten ihre Sonntagskleider an, blickten ihn hinterlistig und borniert an und alle acht waren ausserordentlich hässlich. Trotzdem dachte Eugen, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie haben könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus und das Aussterben sei doch etwas traurig, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen Anspruch auf die reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung habe. Und während Agnes ihren Gurkensalat ass, dachte er an sie. „Also sie hat mich versetzt, das Mistvieh“, dachte er. Aber er war dem Mistvieh nicht böse, denn dazu fühlte er sich zu einsam. Er ging nur langsam weiter, bis dorthin, wo die Schellingstrasse anfängt und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los und er konnte es sich gar nicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei. Es fiel ihm nämlich ein, dass ein Blinder sagt: „Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche. Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!“

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 55

Es wurde Nacht und Eugen wollte nicht nach Hause, denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er müde war. Er wäre am liebsten trotz seiner letzten vier Mark zwanzig in das Schelling-Kino gegangen, wenn dort der Tom Mix aufgetreten wäre, jener Wildwestmann, dem alles gelingt. Als er den das letztemal sah, überholte er gerade zu Pferd einen Expresszug, sprang aus dem Sattel auf die Lokomotive, befreite seine Braut aus dem Schlafwagen, wo sie gerade ein heuchlerischer Brigant vergewaltigen wollte, erlegte zehn weitere Briganten, schlug zwanzig Briganten in die Flucht und wurde an der nächsten Station von seinem treuen Pferde und einem Priester erwartet, der die Trauung sofort vollzog. Eugen liebt nämlich alle Vieher, besonders die Pferde. Wegen dieser Pferdeliebe wäre er im Kriege sogar fast vor das Kriegsgericht gekommen, weil er einem kleinen Pferdchen , dem ein Splitter zwei Hufe weggerissen hatte, den Gnadenschuss gab und durch diesen Gnadenschuss seine ganze Kompagnie in ein fürchterliches Kreuzfeuer brachte. Damals fiel sogar ein Generalstabsoffizier. Im Schelling-Kino gab man keinen Tom Mix, sondern ein Gesellschaftsdrama,  die Tragödie einer jungen schönen Frau. Das war eine Millionärin, die Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, manicüren und pedicüren liess, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in Baden-Baden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge B

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Lesetext

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keinenN ] habe.N ] BdenN ] BnämlichN ] Bkleinen PferdchenN ] BSchelling-KinoN ] Banzog f pedicürenN ] B B

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keine\n/ [haben würde.] |habe.| [ihn] |den| n[a]|ä|mlich \kleinen/ Pferd[e]|chen| korrigiert aus: Schelling- Kino anzog\,/ [und bedienen] |manicüren und pedicüren|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 56

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

sass, im Karneval tanzte und den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten jungen Millionärssohn, der sie dezentsinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie denn auch im Ligurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich. Es war ein sehr tragischer Film und er hatte nur eine lustige Episode: die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein grosses Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure gross aus. Aber der Chauffeur wusste nicht genau, wie die vornehme Welt Messer und Gabel hält und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der vornehmen Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig. B

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48. Es wurde immer später. Eugen ging über den Lenbachplatz und vor den grossen Hotels standen wunderbare Autos. In den Hotelgärten sassen lauter vornehme Menschen und ahnten nicht, dass sie aufreizend lächerlich wirken, sowie man mehrere ihrer Art beisammen sieht. Auch die Kellner waren sehr vornehm und es war nicht das erstemal, dass Eugen seinen Beruf hasste. Er ging nun bereits seit dreiviertelsieben ununterbrochen hin und her und war voll Staub, draussen und drinnen. Er sagte sich: „Also wenn die Welt zusammenstürzt, dreissig Pfennig geb ich jetzt aus und trink ein Bier, weil ich mich auch schon gern setzen möcht.“ Die Welt stürzte nicht zusammen und Eugen betrat ein kleines Cafe in der Nähe des Sendlingertorplatzes. „Heute Künstlerkonzert“ stand an der Türe und als Eugen sich setzte, fing ein Pianist an zu spielen, denn Eugen war der einzige Gast. Es sass zwar noch eine Dame vor ihrer Limonade, aber die schien zum Cafe zu gehören und verschlang ein Magazin. Der Pianist spielte ein rheinisches Potpouri und Eugen las in der „Sonntagspost“, dass es den Arbeitslosen zu gut geht, sie könnten sich ja sogar ein Glas Bier BN

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 57

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alsoN ] LeichnamN ] BChauffeureN ] BBediensteteN ] B N] BDie f lustig.N ]

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] lächerlichN ] BsowieN ] BPotpouriN ] B

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als\o/ Leichna[h]m Chauffeu[ere]re [Hochstapler] [|{Personal}|]|Bedienstete| gestrichen: (kein Absatz!) [Es war sehr lustig. und der Chauffeur wurde sogar zu drei Wochen verurteilt, weil er aus kam sogar noch ins Kittchen, weil der das Auto des Millionärs] [|Sie hat sehr gewei|] |Die f lustig.| [mehr] [|sowohl|] [lächerlich als \auch/] \lächerlich/ [wenn] |sowie| gemeint ist: Potpourri

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Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

leisten. Und in der Witzecke sah er eine arbeitslose Familie, die in einem riesigen Fasse am Isarstrand wohnte , sich sonnte , badete und ihrem Radio lauschte . Die Dame mit der Limonade hatte es gar nicht gehört, dass Eugen eintrat, so sehr war sie in ihr Magazin vertieft. Sie hätte sonst aufgehorcht, weil sie eine Prostituierte war, jedoch das Magazin war zu schön. Sie las und las: Eine mehrwöchige Kreuzfahrt auf komfortabler Luxusyacht unter südlichem  Himmel -- wer hätte nicht davon geträumt? Wochen des absoluten Nichtstuns liegen vor Dir, sonnige Tage und helle Nächte; es gibt kein Telephon, keine Verabredungen, keine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Die Begriffe „Zeit“, „Arbeit“, „Geld“ entschwinden am Horizont wie verdunstende Wölkchen. Einladende Liegestühle stehen unter dem Sonnendeck, kühle Klubsessel erwarten Dich im Rauchzimmer, Radio und Bibliothek sind zur Hand, über Deine Sicherheit beruhigen Dich dreissig tüchtige Matrosen, für Dein leibliches Wohl sorgt ein erstklassiger Barmixer. Nach dem Essen wird das Grammophon aufgezogen, oder eine der Damen spielt Klavier, Du tanzt mit Phyllis oder Dorothy, oder Du spielst ein bisschen  Whist, um Dich bei den älteren Damen beliebt zu machen, im Spielzimmer hast Du Gelegenheit beim Poker oder Bakkarat zu verlieren. Oder aber Du lehnst mit einem blonden „Flapper“ an der Reeling und führst Mondscheingespräche, während der Papa in einem wunderbar komfortablen Deckstuhl liegt und den Rauch seiner Henry Clay zu den Sternen hinaufbläst, gedankenvoll die nächste Transaktion überlegend. -- -- Nichts in der Welt gibt in diesem Masse das Gefühl dem Alltag entrückt zu sein. B

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49. Eugen trank apathisch sein Bier und blätterte apathisch in der Zeitung. „Der Redner sprach formvollendet“, stand in der Zeitung. „Man war froh, wiedermal den Materialismus überwunden zu haben“ -- da fühlte Eugen, dass ihn ein Mensch anstarrt. Der Mensch war die Prostituierte. Sie hatte ihr Magazin ausgelesen und Eugen entdeckt. „Guten abend, Herr Reithofer!“ sagte die Prostituierte. „Haben Sie mich denn vergessen? Ich bin doch -- na Sie wissen doch, wer ich bin, Herr Reithofer!“ Er wusste es nicht, aber da sie ihn kannte, musste er sie ja auch kennen. Sie setzte sich an seinen Tisch und sagte, das sei Zufall, dass sie sich hier getroffen haben, und über so einen Zufall könnte man einen ganzen Roman schreiben. Einen Roman mit lauter Fortsetzungen. Sie las nämlich leidenschaftlich gern.

2 2 2 2 3 5 5 18 21

wohnteN ] sonnteN ] BbadeteN ] BlauschteN ] Beintrat,N ] BjedochN ] B N] BReelingN ] BNichtsN ] B B

wohnte[n] sonnte[n] badete[n] lauschte[n] eintrat[.]|,| [aber] |jedoch| [doch] gemeint ist: Reling Nicht\s/

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 59

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 58

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 60

Fragmentarische Fassung



K2/TS6 (Korrekturschicht)

Sie hiess Margarethe Swoboda und war ein aussereheliches Kind. Als sie geboren wurde, wäre sie fast gleich wieder gestorben. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass damals Gott der Allgütige den Säugling Margarethe Swoboda ganz besonders geliebt haben musste, denn er wollte ihn ja zu sich nehmen. Aber die geschickte Hebamme Frau Wohlmut aus Wiener-Neustadt schlug scharf über die göttlichen Finger, die Margarethchen erwürgen wollten. „Au!“ zischte der liebe Gott und zog seine Krallen hurtig zurück, während die gottlose Hebamme meinte: „So Gott will, kommt das Wurm durch!“ Und Gott der Gerechte wurde ganz sentimental und seufzte: „Mein Gott, sind die Leut dumm! Als ob man es in einem bürgerlichen Zeitalter als aussereheliches Kind gar so angenehm hätt! Na servus!“ BN B

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Ursprünglich war Margarethe Swoboda, genau wie des Kastners Mutter, Verkäuferin in einer Konditorei. In jener Konditorei verkehrten Gymnasiasten, Realschüler, Realgymnasiasten  und höhere Töchter aus beschränkten Bürgerfamilien und böse alte Weiber, die Margarethe Swoboda gehässig hin und her hetzten, schickanierten und beschimpften, weil sie noch jung war. Ein Gymnasiast, der Sohn eines sparsamen Regierungsrates, verliebte sich in sie und kaufte sich jeden Nachmittag um vier Uhr für fünf Pfennig Schokolade, nur um ihren Bewegungen schüchtern folgen zu können. Dann schrieb er mal während der Geographiestunde auf dem Rande der Karte des malayischen Archipels, was er alles mit ihr tun würde, falls er den Mut fände, ihr seine Liebe zu erklären. Hierbei wurde er von einem Studienrat ertappt, der Atlas wurde beschlagnahmt und nach genauer Prüfung durch ein Kollegium von Steisspaukern unter dem Vorsitz eines klerikalen Narren für unsittlich erklärt. Er flog aus der Schule und ist auf Befehl seines Vaters, eines bürokratischen Haustyrannen, in einer Besserungsanstalt verkommen. Einmal ging er dort durch, knapp vor Weihnachten, aber der Polizeihund Cäsar von der Schmittenhöhe stellte ihn auf einem verschneiten Kartoffelacker und dann musste er beichten und kommunizieren und dann verbleuten ihn drei Aufseher mit Lederriemen und ein blonder Katechet mit Stiftenkopf und frauenhaften Händen riss ihm fast die Ohren aus. B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 61

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] ] BdenN ] BjenerN ] BRealgymnasiastenN ] BMargarethe SwobodaN ] B N] BNarrenN ] BfürN ] BbürokratischenN ] B N B N

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[{50}.] [Die Prostituierte] |Sie| korrigiert aus: der [der]|jener| Realgymnas[tiasten]|iasten| [Magdalena]|Margarethe| \Swoboda/ [verkalkten Greises nach der Berichterstattung eines] [Trottels] |Narren| [laut Antrag eines sadistischen Narren für] |für| [bornierten] |bürokratischen|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 62

Fragmentarische Fassung



K2/TS6 (Korrekturschicht)

Margarethe Swoboda hörte davon und obzwar sie doch nichts dafür konnte, da sie ja seine Leidenschaft nie erkannt hatte, weil sie erst siebzehn Jahre alt und überhaupt geschlechtlich unterentwickelt war, fühlte sie sich dennoch schuldbewusst, als hätte sie zumindest jenen Cäsar von der Schmittenhöhe dressiert. Sie wollte fort. Raus aus der Konditorei. Sie sagte sich: „Ach , gäbs nur keine Schokolade, gäbs nur keine Gymnasiasten, es gibt halt keine Gerechtigkeit!“ Und sie kaufte sich das Buch „Stenographie durch Selbstunterricht.“ Nachts, nach ihrer täglichen vierzehnstündigen Arbeitszeit, erlernte sie heimlich Gabelsbergers System. Dann bot sie sich in der meistgelesensten Zeitung Österreichs als Privatsekretärin an. Nach drei Tagen kam folgender Brief: Wertes Fräulein! Teilen Sie mir näheres über Ihren Busen und Ihre sonstigen Formen mit. Wenn Sie einen schönen und vor allem festen Busen haben, kann ich Ihnen sofort höchst angenehme Stellen zu durchweg distinguierten Herren vermitteln. Auch möchte ich wissen, ob Sie einen Scherz verstehen und entsprechend zu erwidern im Stande sind. Hochachtungsvoll! B

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Die Unterschrift war unleserlich und darunter stand: Vermittlerin mit prima Referenzen. Briefe wolle man unter Chiffre 8472 adressieren. Diskretion Ehrensache. Dieses „Diskretion Ehrensache“ ist ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. Kaiser und Knechte, Herren und Hörige, Seit es Götter und Menschen, Beichtväter und Beichtkinder, Adelige und Bürger, Aufsichtsräte und Arbeiter, Abteilungschefs und Verkäuferinnen, Familienväter und Dienstmädchen, Generaldirektoren und Privatsekretärinnen ---- kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ BN

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MargaretheN ] SwobodaN ] Berst f undN ] BzumindestN ] Bfort.N ] Bsich: „AchN ] BGerechtigkeit!“N ] BBuch „StenographieN ] BSelbstunterricht.“N ] BmeistgelesenstenN ] BÖsterreichsN ] BIhreN ] B N] B N] B N] BDieses „DiskretionN ] BEhrensache“N ] B N] B N] BPrivatsekretärinnen ----N ] BSatz: „ImN ] B B

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[Magdalena]|Margarethe| \Swoboda/ [\erst 17/] |erst f und| zu[ ]mindest fort\./ [von Regensburg.] sich:[„] |„|Ach Gerechtigkeit![“]|“| Buch[„] |„|Stenographie Selbstunterricht.[“]|“| [führenden] |meistgelesensten| [Süddeutschlands] |Österreichs| korrigiert aus: ihre [Sitz Breslau. Filialen in Berlin, München und Mainz.] [mit Photographie und genauer Altersangabe] [an die Expedition des Blattes] Dieses[„] |„|Diskretion Ehrensache[“]|“| [Pharaos und Sklaven, Priester [|Priester|] und Laien, Partrizier und Plebejer.] [Ritter und Leibeigene,] korrigiert aus: Privatsekretärinnen---korrigiert aus: Satz:„ Im

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 63

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext



Und seit jener Zeit, da die Herrschenden erkannt hatten, dass es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend erhebender, edler und belustigender rauben, morden und betrügen liess --- seit also jener Gekreuzigte gepredigt hatte, dass auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit wird allgemein herumgetuschelt: „Diskretion Ehrensache!“ Wer wagt es also die heute herrschende Bourgoisie anzuklagen, dass sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhabenen Selbstbetruges entblösst, indem sie schlicht die Frage stellt: „Na was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihr einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tut? Nein, das kann man nicht. Die Bourgoisie ist nämlich überaus ehrlich. Sie spricht ihre Erkenntnis offen aus, dass die wahre Liebe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten Prostitution ist . Dass die Ausgebeuteten unter sich auch ohne jede Prostitution lieben könnten, das bezweifelt die Bourgoisie nicht, denn sie hält die Ausgebeuteten für noch dümmer, da sie sich ja sonst nicht ausbeuten liessen. Die Bourgoisie ist nämlich überaus intelligent. Sie hat auch erkannt, dass es selbst unter Ausbeutern nur Ausbeutung gibt. Nämlich, dass die ganze Liebe nur eine Frage der kaufmännischen Intelligenz ist. Kann man also die Bourgoisie anklagen, weil sie alles auf den Besitzstandpunkt zurückführt? Nein, das kann man nicht. Und so bildete auch die Chiffre 8472 nur ein winziges Steinchen des Kolossal mosaikes in der Kuppel des kapitalistischen Venustempels. Auch Margarethe Swoboda vernahm in jener Konditorei die Stimme: „Du wirst ihnen nicht entrinnen!“ „Wieso?“ fragte Margarethe Swoboda, liess den Brief fallen und lallte geistesabwesend vor sich hin: „Nein, das gibt es doch nicht, nein, das kann es doch nicht geben --“ und die Stimme schloss schadenfroh: „Vielleicht wenn Du Glück hast! Wenn Du Glück hast!“ B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 66

Margarethe Swoboda hatte kein Glück. Zwar stand in ihrem Horoskop, dass sie eine glückliche Hand hat, nämlich was sie auch in die Hand nähme, würde gewissermassen zu Gold. Nur vor dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücksmonat und was sie im April auch beginnen möge, das gelänge alles vorbei. „Da dürft ich halt überhaupt nicht leben“, meinte Margarethe Swoboda, denn sie hatte im April Geburtstag.

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korrigiert aus: liess--korrigiert aus: herumgetuschelt:[„] „ Diskretion korrigiert aus: stellt:„ Na

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 65

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Dies Horoskop stellte ihr die Klosettfrau des Lokales und behauptete, dass sie das Weltall genau kennt bis jenseits der Fixsterne. So hätte sie auch ihrem armen Pintscher Pepperl das Horoskop gestellt und in diesem Horoskop wäre gestanden, dass der arme Pepperl eines fürchterlichen Todes sterben wird. Und das traf ein, denn der arme Pepperl wurde von einem Bahnwärter aufgefressen, nachdem er von einem D-Zug überfahren worden war. Die Klosettfrau hiess Regina Warzmeier und war bei allen Gästen sehr beliebt. Sie wusste immer Rat und Hilfe und alle nannten die liebe Frau „Grossmama“. Die Grossmama muss mal sehr hübsch gewesen sein, denn es war allen Gästen bekannt, dass sich, als sie noch ein junges Ding war, ein polnischer Graf mit ihr eingelassen hatte. Dies ist ein österreich-ungarischer Gesandtschaftsattaché gewesen, ein rutinierter Erotomane und zynisches Faultier, der sich mal zufällig auf der Reise nach seinen galizischen Gütern in München aufgehalten hatte. B

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Damals war Bayern noch Königreich und damals gab es auch noch ein ÖsterreichUngarn . Das war um 1880 herum, da hat er fast nur mit ihr getanzt, auf so einer richtigen  Redoute mit Korsett und Decolleté und der Attache ist mit der Grossmama am nächsten Mittag in einer hohen standesgemässen Kutsche in das Isartal gefahren, dort sind sie dann zu zweien am lauschigen Ufer entlang promeniert. Sie haben von den blauen Bergen gesprochen und von dem, was dahinter liegt. Er hat vom sonnigen Süden erzählt, vom Vesuv und von Sizilien, von römischen Ruinen und den Wellen der Adria. Er hat ihr einen Ring aus Venedig geschenkt, ein Schlänglein mit falschen Rubinaugen und der Inschrift „Memento!“ Und dann hat sie sich ihm gegeben auf einer Lichtung bei Höllriegelskreuth und er hat sie sich genommen. Es war natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Vormärz. Über die nahen Alpen wehte der Frühlingswind und abends hing der Mond über schwarzen Teichen und dem Wald . Nach zwei Wochen blieb bei der Grossmama das aus, das sie mit dreizehn Jahren derart erschreckt hatte, dass sie wimmernd zu ihrer älteren Freundin Helene geB

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(1) Dies Horoskop stellte ihr die Klosettfrau des Lokales. Sie hiess Regina

Warzmeier und war bei allen Gästen sehr beliebt. Sie wusste immer Rat und Hilfe und alle nannten die liebe Frau „Grossmama“. (2) Dies f Grossmama“. gemeint ist: Pinscher \Pepperl/ [Pintscher] |Pepperl| [Pintscher] |Pepperl| \allen Gästen/ [war] |ist| Gesandtschaftsattach[e]|é| gemeint ist: routinierter [O]|Ö|sterreich-Ungarn Decolleté[. Die Grossmutter muss damals einen hübschen Busen gehabt haben, denn] |und| [ihr] |der Grossmama| Inschrift[„] |„|Memento![“]|“| [W]|W|ald Gross[mutter]|mama|

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 67

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

rannt war, denn sie hatte gefürchtet, nun werde sie verbluten müssen. Aber Helene hatte sie umarmt, geküsst und gesagt: „Im Gegenteil, nun bist Du ein Fräulein.“ Nun aber wusste sie, dass sie bald Mutter sein wird. Sie dachte, wenn sie nur wahnsinnig werden könnte, und wollte aus dem Fenster springen. Sie biss sich alle Fingernägel ab und schrieb drei Abschiedsbriefe, einen an ihren Vater und zwei an den polnischen Geliebten. Ihr Vater war ein langsamer melancholischer Färbermeister, der unter dem Pan toffel seiner lauten herrschsüchtigen Gattin stand und alle maschinellen Neuerungen hasste, weil er weder Kapital noch Schlagfertigkeit besass, immerhin aber genug Beobachtungsgabe, um erkennen zu können, wie er von Monat zu Monat konkurrenzunfähiger wird. Diesem schrieb die Grossmama: „Mein Vater! Verzeihe Deiner unsagbar  gefallenen Tochter Regina.“ Und dem Attaché schrieb sie: „Warum lasst Du mich nach einem Worte von Dir verschmachten? Bist Du denn ein Schuft?“ Diesen Brief zerriss sie und begann den zweiten: „Nimmer wirst Du mich sehen, bete für meine sündige Seele. Bald blühen Blümlein auf einem frischen armen Grabe und die verlassene Nachtigall aus dem Isartal singt von einem zerbrochenen Glück --“ Und sie beschrieb ihr eigenes Begräbnis. Sie erlebte ihre eigene Himmelfahrt. Sie sah sich selbst im Schattenreich und tat sich selbst herbstlich leid. Ein heroischer Engel beugte sich über sie und sprach: „Weisst Du, was das ist ein österreich-ungarischer Attaché? Nein, das weisst Du nicht, was das ist, ein österreich-ungarischer Attaché. Ein österreich-ungarischer Attaché verlässt keine werdende Mutter nicht, überhaupt als polnischer Graf, Du kleingläubiges Geschöpf! Schliess das Fenster, es zieht!“ Sie schloss es und glaubte wieder an das verlogene Märchen vom Prinzen und dem spiessbürgerlichen Bettelkind. Dabei wurde sie immer bleicher, hatte selten Appetit und erbrach sich oft heimlich. B

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Fingern[ä]|ä|gel schrie[b]|b| [{Ih}] [An ihren Vater] |Diesem| [ihren Vater schrieb sie: „Mein Vater! Verzeihe Deiner unsagbar] Regina.[“]|“| [an ihn] |dem Attaché| korrigiert aus: sie[:]|:|[„]|„| [W]|W|arum [W]|W|orte Schuft?[“]|“| korrigiert aus: zeriss korrigiert aus: zweiten:[„]|„| Nimmer s[u]|ü|ndige bl[ü]|ü|hen Bl[ü]|ü|mlein korrigiert aus: Glück--[“]|“| [u]|ü|ber korrigiert aus: sprach[:]|:|[„]|„| [W]|W|eisst korrigiert aus: Du , korrigiert aus: österreich- ungarischer korrigiert aus: osterreich- ungarischer korrigiert aus: österreich- ungarischer

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 69

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

An den lieben Gott hatte sie nie so recht geglaubt, nämlich sie konnte ihn sich nicht so recht vorstellen, hingegen um so inniger an den heiligen Antonius von Padua. Und sie betete zu dem himmlischen Jüngling mit der weissen Lilie um einen baldigen Brief von ihrem irdischen Grafen. B

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Natürlich kam keiner, denn freilich war auch auf jener Redoute nicht alles so, wie es die Grossmama gerne sah. Sie ist keineswegs vor allen anderen Holden dem österreich-ungarischen Halunken aufgefallen, sondern dieser hat sich zuerst an eine Bachantin gerieben, aber nachdem deren Kavalier etwas von Watschen sprach, war seine Begeisterung merklich abgekühlt. Aus der ersten Verlegenheit heraus tanzte er mit der Grossmama , die als Mexikanerin maskiert war, und besoff sich aus Wut über den gemeinen Mann, der leider riesige Pratzen hatte. In seinem Rausche fand er die Grossmama ganz poussierlich und versprach ihr den Ausflug in das Isartal. Am nächsten Tage fand er sie allerdings vernichtend langweilig, und nur um nicht umsonst in das Isartal gefahren zu sein, nahm er sie. Hierbei musste er an eine langbeinige Kokotte denken, um den physischen Kontakt mit der kurzbeinigen Grossmama herstellen zu können. BN B

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Als dann im Spätherbst die Grossmama an einem Sonntagvormittag auf der Treppe zusammenbrach und eine Tochter gebar, da verstiessen sie ihre Eltern natürlich nach Sitte und Recht. Die Mutter gab ihr noch zwei Ohrfeigen und der Vater schluchzte, er verstehe das ganze Schicksal überhaupt nicht, was er denn wohl nur verbrochen habe, dass gerade seine Tochter unverheiratet geschwängert worden ist. B

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53.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 72

Selbst die Stammgäste hatten es nie erfahren, was aus Grossmamas Töchterlein geworden ist. Die Grossmama schwieg und man munkelte allerlei. Sie hätte einen rechtschaffenen Hausbesitzer geheiratet oder sie sei eine Liliputanerin vom Oktoberfest, munkelten die einen und die anderen munkelten, sie sei von ihren Pflegeeltern als dreijähriges Kind so geprügelt worden, dass sie erblindet ist und die Pflegemutter ein Jahr Gefängnis bekommen hat, während der Pflegevater freigesprochen worden sei, weil er ja nur zugeschaut hätte. Und wieder andere munB

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4 5 6 6 7 8 9 9 11 13 16 16–17 18 19 23 27

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[galizischen] |irdischen| [bezaubert tun, treten sie ihre nichthochgeborene Auserwählte in den Dreck, indem sie natürlich ihrer denken! „Du bist ja doch nur bürgerlicher Mist!“] B N] gestrichen: (neuer Absatz!) BNatürlich f freilichN ] [\denn/ [F]|f|reilich] |Natürlich f freilich| BGrossmamaN ] Gross[mutter]|mama| Bösterreich-ungarischenN ] [siebenbürgischen] |österreich-ungarischen| BBachantinN ] gemeint ist: Bacchantin BWatschenN ] [W]|W|atschen BGrossmamaN ] Gross[mutter]|mama| BGrossmamaN ] Gross[mutter]|mama| BKokotteN ] [Hure] |Kokotte| BGrossmamaN ] Gross[mutter]|mama| B N] [Palmen an der Riviera.] BGrossmamaN ] Gross[mutter]|mama| Bist.N ] [sei.] |ist.| BTöchterleinN ] [Tochter] |Töchterlein| B

irdischenN ] ]

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 71

Fragmentarische Fassung

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

kelten, sie wäre bloss eine einfache Prostituierte in Hamburg, genau wie die Margarethe Swoboda in München. „Sie erlauben doch, dass ich mich zu Ihnen setz“, sagte Margarethe Swoboda zu Eugen. „Das freut mich aber sehr, dass ich Sie wiedermal seh, Herr Reithofer! Seit wann sind Sie denn in München? Ich bin schon seit Mai da, aber ich fahr bald fort, ich hab nämlich gehört, in Köln soll es für mich besser sein. Dort ist doch heuer die Pressa, das ist eine grosse Journalistenausstellung, hier diese Heim und Technikausstellung war für mich nichts besonderes.“ Eugen wusste noch immer nicht, dass sie Margarethe Swoboda heisst und er konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kennen könnte. Sie schien ihn nämlich genau zu kennen und Eugen wollte sie nicht fragen, woher er sie kenne, denn sie freute sich sehr ihn wiederzusehen und erinnerte sich gerne an ihn. „Nicht jede Ausstellung ist gut für mich“, meinte Margarethe Swoboda. „So hab ich bei der Gesoleiausstellung in Düsseldorf gleich vier Tag lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab in meinem Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei Euerer Gesoleiausstellung und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, dass ich keine Geschäfte mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere anspreche. Da hab ich erst gemerkt, dass ich vier Tag lang in der Gesundheitsabteilung  gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon und da hab ichs freilich verstanden, dass ich vier Tag lang nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hat es mich vor mir selbst gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.“ Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Deutschen  Museum in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine grosse vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau und Eugen dachte: „Vielleicht verwechselt sie mich, es heissen ja auch andere Leut Reithofer und vielleicht sieht mir so ein anderer Reithofer zum verwechseln ähnlich.“ So wurde es immer später und plötzlich bemerkte Eugen, dass Margarethe Swoboda schielt. Zwar nur etwas, aber es fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Kriege in Pressburg im Restaurant Klein gearbeitet hatte. Das ist ein freundlicher Mensch gewesen, ein grosses Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieser B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 73

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 74

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

Lesetext

Kollege geheiratet und zu Eugen gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, zwar nur etwas, aber sie hat ein gutes Herz.“ Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hiess Karl Swoboda. „Als mein Mann in Montenegro fiel“, sagte Margarethe Swoboda, „da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer. Ich hab mir gedacht, ist der jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, dass Sie nicht gefallen sind. Erinnern Sie sich noch an meine Krapfen, Herr Reithofer?“ Jetzt erinnerte sich Eugen auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt und da hatte ihm jener seine Frau vorgestellt und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, dass die beiden Betten nicht zueinander passten, denn das eine war weiss und das andere braun -und nach dem Pferderennen ist der Karl Swoboda sehr melancholisch gewesen, weil er für fünf Gulden verspielt hatte, und hatte traurig zu Eugen gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!“ „Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reithofer“, sagte Karl Swobodas Wittwe.

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 75

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Als Eugen an die beiden Betten in Pressburg dachte, die nicht zueinander passten, näherte sich ihm die Grossmama. Wenn die Grossmama nichts zu tun hatte, stand sie am Buffet und beobachtete die Menschen. So hatte sie auch bemerkt, dass das „Gretchen“ mit Eugen sympathisierte, weil sie sich gar nicht so benahm, wie sie sich Herren gegenüber benehmen musste. Sie sprach ja mit Eugen, wie mit ihrem grossen Bruder und solch grosse Brüder schätzte die Grossmama und setzte sich also an Eugens Tisch. Das Gretchen erzählte gerade, dass im Weltkrieg viele junge Männer gefallen  sind und, dass nach dem Weltkrieg sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Grossmama meinte, für Offiziere sei es schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren geht. So hätten sich viele Offiziere nach dem Kriege total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte sie mal in einer grossen Herrentoilette gedient und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe für ein Fass Bier verkauft hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eiercognaks eingetauscht und dieser Fliegeroffizier sei so versoffen gewesen, dass er statt mit „Guten Tag!“ mit „ Prosit!“ gegrüsst hat. Eugen meinte, der Weltkrieg habe freilich keine guten Früchte getragen und für  Offiziere wäre es freilich besser, wenn ein Krieg gewonnen würde, aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, dass wenn wir den Weltkrieg gewonnen B

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verspieltN ] SoN ] Bdass f jedenN ] BSo f vieleN ] B N] BmitN ] BProsit!“N ] BesN ] BobwohlN ] B

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 76

[verloren] |verspielt| So[e] dass1 sie5 selbst6 nach2 dem3 Weltkrieg4 jeden7 \So f sich/ [V]|v|iele [hätten sich] \mit/ Pros\i/t!“ [ein verlorener Krieg] |es| obwo[h]|h|l

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 77

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)

hätten, dass er auch dann unter derselben allgemeinen wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er jetzt schon wiedermal seit zwei Monate arbeitslos und es bestünde schon nicht die geringste Aussicht, dass es besser werden wird. Hier mischte sich der Pianist ins Gespräch, der sich auch an den Tisch gesetzt  hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, wenn Eugen kein Mann, sondern eine Frau und kein Kellner, sondern eine Schneiderin wäre, so hätte er für diese Schneiderin sofort eine Stelle. Er kenne nämlich einen grossen Schneidergeschäftsinhaber in Ulm an der Donau und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat, aber Eugen dürfte halt auch keine Österreicherin sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher und deshalb engagiere er nur sehr ungern Österreicher. Aber ihm zu liebe würde dieser Kommerzienrat vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch Schneiderin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen und von diesem Kind dürfe die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett in Neu-Ulm, um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei. Er spreche perfekt deutsch, englisch, französisch, italienisch und rumänisch. Auch etwas slowakisch, tschechisch, serbisch, kroatisch und verstehe ungarisch und türkisch. Aber türkisch könne jener Kommerzienrat weder lesen noch schreiben. Der Pianist war sehr geschwätzig und wiederholte sich gerne. So debattierte er jeden Tag mit der Grossmama und kannte keine Grenzen. Er erzählte ihr, dass seinerzeit jener Höhlenmensch, der als erster den ersten Ochsen an die Höhlenwand gezeichnet hatte, von allen anderen Höhlenmenschen als grosser Zauberer angebetet worden ist und so müsste auch heute noch jeder Künstler angebetet werden, auch die Pianisten. Dann stritt er sich mit der Grossmama, ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heisst, worauf die Grossmama jeden Tag erwiederte, auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener grosse Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte und sie könne es sich schon gar nicht vorstellen, wie so etwas angefangen würde, worauf der Pianist meinte, aller Anfang sei schwer und er fügte noch hinzu, dass die Dreissigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewustseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Grossmama und dachte, der Pianist sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen. B

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er1 dann3 auch2 unter4 \seit/ [\{ }/] [gerne mit der Grossmama debattierte.] |sehr f war.| gestrichen: (kein Absatz) korrigiert aus: desshalb geschwätzig[,] |und| [erzählte er der Grossmama jeden Tag,] |debattierte f Grossmama [und]| \Er f ihr,/ grosse[r] wo[ll]|llt|e

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 78

Fragmentarische Fassung

K2/TS6 (Korrekturschicht)



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55.

ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 79

Als der Pianist sagte, dass er für Eugen sofort eine Stelle hätte, wenn -- da dachte Eugen an Agnes. Er sagte sich, das wäre ja eine Stelle für das Mistvieh, das er gestern in der Thalkirchnerstrasse angesprochen und das ihn heute in der Schleissheimerstrasse versetzt habe. Gestern hätte sie ihm ja erzählt, dass sie Schneiderin wäre und bereits seit fünf Monaten keine Stelle finden könnte. Heute könnte er ihr ja sofort eine Stelle verschaffen, es würde ihm vielleicht nur ein Wort kosten, als wäre er der Kaiser von China, den es zwar auch bereits nichtmehr geben würde. Gestern auf dem Oberwiesenfeld hätte er es nicht geglaubt, dass er heute versetzt  wird. „Sie ist halt ein Mistvieh“, sagte er sich und fügte hinzu: „Wahrscheinlich ist auch der Pianist ein Mistvieh!“ Und Eugen warf mit den Mistviehern nur so um sich, alles und jedes wurde zum Mistvieh, die Swoboda, die Grossmama, der Tisch, der Hut, das Bier und das Bierglas -- wie das eben so manchmal geschieht. „Aber es ist doch schön von dem Pianistenmistvieh, dass er mir helfen möcht,“ fiel es ihm plötzlich auf. „Er weiss doch gar nicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh bin. Ich bin doch auch eins, ich hab ja auch schon Mistvieher versetzt.“ „Überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen“, dachte er weiter. „Wenn sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser. Es ist doch direkt unanständig, wenn man einem Mistvieh nicht helfen tät, obwohl man könnt, bloss weil es ein Mistvieh ist.“ Und dann fiel es ihm auch noch auf, dass es sozusagen ein angenehmes Gefühl ist, wenn man sich gewissermassen selbst bestätigen kann, dass man einem Mistvieh geholfen hat. Ungefähr so: Zeugnis. Ich bestätige gerne, dass das Mistvieh Eugen Reithofer ein hilfsbereites Mistvieh ist. Es ist ein liebes gutes braves Mistvieh. Eugen Reithofer Mistvieh. BN

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 81

„Sagen Sie, Herr Pianist“, wandte sich Eugen an das hilfsbereite Mistvieh, „ich kann ja jetzt leider nicht weiblich werden, aber ich weiss ein Mädel für Ihren Kommerzienrat in Ulm. Sie ist eine vorzügliche Schneiderin und Sie täten mir persönlich einen sehr grossen Gefallen, Herr Pianist“, betonte er und das war natürlich gelogen. Der Pianist sagte, das wäre gar nicht der Rede wert , denn das kostete ihm nur einen Telephonanruf, da sich jener Kommerzienrat zufällig seit gestern in München B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 80

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Fragmentarische Fassung

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Lesetext

befände und er könne ihn sofort im Hotel Deutscher Kaiser anrufen -- und schon eilte der hilfsbereite Pianist ans Telephon. „Also das ist ein rührendes Mistvieh“, dachte Eugen und Margarethe Swoboda sagte: „Das ist ein seltener Mensch und ein noch seltenerer Künstler.“ Und die Grossmama sagte: „Er lügt“. Aber ausnahmsweise täuschte sich die Grossmama, denn nach wenigen Minuten  erschien der Pianist, als hätte er den Weltkrieg gewonnen. Der Kommerzienrat war keine Lüge und seine wunderbaren Beziehungen waren nur insofern übertrieben, dass es nicht stimmte, dass sich seine Tochter in Neu-Ulm lediglich der Erziehung ihres kommerzienrätlichen Kindes widmen kann, sondern sie musste als Schneiderin weiterarbeiten und erhielt nur ein kleines kommerzienrätliches Taschengeld. Der Pianist konnte sich vor lauter Siegesrausch nicht sofort wieder setzen, er ging also um den Tisch herum und setzte Eugen auseinander, Agnes könne die Stelle sofort antreten, jedoch müsste sie morgen früh punkt sieben Uhr dreissig im Hotel Deutscher Kaiser sein. Dort solle sie nur nach dem Herrn Kommerzienrat aus Ulm fragen und der nimmt sie dann gleich mit, er fährt nämlich um acht Uhr wieder nach Ulm. Eugen fragte ihn, wie er ihm danken sollte, aber der Pianist lächelte nur: vielleicht würde mal Eugen ihm eine Stelle verschaffen, wenn er kein Pianist wäre, sondern eine Schneiderin. Eugen wollte wenigstens das Telephongespräch bezahlen, aber selbst dies liess er nicht zu. „Man telephoniert doch gern mal für einen Menschen“, sagte er. Selbst die Grossmama war gerührt, aber am meisten war es der brave Pianist. 57.  B

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

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So kam es, dass am nächsten morgen Eugen bereits um sechs Uhr durch die Schellingstrasse ging, damit er sich mit seiner Hilfe nicht verspätet, auf dass er sich ein gutes Zeugnis ausstellen kann. Er wollte gerade bei der Tante im vierten Stock läuten, da sah er Agnes über die Schellingstrasse gehen. Sie kam von ihrer Bank für Erwachsene und war zerknüllt und elend und Eugen dachte: „Schau, schau, bis heut morgen hat mich das Mistvieh versetzt!“ Die Sonne schien in die Schellingstrasse und der Morgenwind überschritt bereits den Ural, als Agnes über Eugen erschrack. Doch er fragte sie nicht, woher sie komme, was sie getan und warum sie ihr Wort gebrochen und ihn versetzt hätte, sondern er teilte ihr lediglich mit, dass er für sie eine Stelle fand, dass sie schon heute BN B

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 82

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 83

Fragmentarische Fassung

Lesetext

früh zu einem richtigen Kommerzienrat gehen muss, der sie dann noch heute früh nach Ulm an der Donau mitnehmen würde. Sie starrte ihn an und sagte, er solle sich doch eine andere Agnes aussuchen für seine blöden Witze und sie bitte sich diese Frozzelei aus und überhaupt diesen ganzen Hohn -- aber er lächelte nur, denn das Mistvieh tat ihm plötzlich leid, weil es ihm den Kommerzienrat nicht glauben konnte. Das Mistvieh murmelte noch etwas von Rohheit und dann weinte es. Er solle es doch in Ruhe und Frieden lassen, weinte das Mistvieh, es sei ja ganz kaputt und auch die Schuhe seien nun ganz kaputt. Eugen schwieg und plötzlich sagte das Mistvieh, das könne  es ja gar nicht geben, dass ihr ein Mensch eine Stelle verschafft, nachdem sie den Menschen versetzt hätte. Dann schwieg auch das Mistvieh. Und dann sagte es: „Ich hätt wirklich nicht gedacht, dass Sie extra wegn mir herkommen, Herr Reithofer.“ „Wissens, Fräulein Pollinger“, meinte der Herr Reithofer , „es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, aber man hat es noch nicht ganz heraussn , was das eigentlich ist. Ich hab halt von einer Stelle gehört und bin jetzt da. Es ist nur gut, wenn man weiss, wo ein Mensch wohnt.“ B

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K2/TS6 (Korrekturschicht)

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58. Und jetzt ist die ganze Geschichte aus.

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ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 84

Fragmentarische Fassung

K2/TS7 (Korrekturschicht)



13.

ÖLA 3/W 138 – BS 5 a [6], Bl. 1

Agnes sagte sich, wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so habe er eben diesmal recht. Sie müsse wirklich mehr an sich denken, sie denke zwar eigentlich immer an sich, aber wahrscheinlich zu langsam. Sie müsse sich das alles genau überlegen -was „alles ?“ Merkwürdig, wie weit nun plötzlich das ganze Oberwiesenfeld hinter ihr liegt, als wäre sie seit vier Wochen nicht mehr dort spaziert. Und es sei doch eigentümlich, dass dieser Eugen sie schon nach zwei Stunden genommen hat und, dass das alles so selbstverständlich gewesen ist, als hätte es so kommen müssen. Er sei ja sicher ein guter Mensch, aber er könnte ihr wirklich gefährlich werden, denn es stimme schon, dass er zu jenen Männern gehört, denen man sich naturnotwendig gleich ganz ausliefern muss -- Nein! sie wolle ihn nie mehr sehen! Sie werde morgen einfach nicht da sein, dort an der Ecke der Schleissheimerstrasse. Es hätte doch auch schon gar keinen Sinn, an das Salzkammergut zu denken und das blöde Afrika all diese dummen Phantasien! Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen und den könne man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht. Der Kastner habe schon sehr recht, sie werde auch die Hetäre markieren, sich für fünfzig Stunden auf das Sofa legen und zehn Mark verdienen und vielleicht wirklich irgendein eigenes Auto kennenlernen, aber man solle nichts verschreien. B

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14. So näherte sich also Agnes einem einfachen Schluss, während sie ein ehemaliger Filmstatist, der ursprünglich Zahntechniker war, jedoch eigentlich Journalist werden wollte, fixierte. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte los wie ein schlechtes Feuilleton: „Diese Angst vor der wahren seelischen Liebe ist eine typische Jungmädchen erscheinung des zwanzigsten Jahrhunderts, aber natürlich keine Degenerationserscheinung, wenn man in Deinen wirtschaftlichen Verhältnissen steckt. Es ist dies lediglich eine gesunde Reaktion auf alberne Vorstellungen, wie zum Beispiel, B

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\sie/ wollte[,]|,| [die dunklen Gründe ihrer komplizierten Erotik beleuchtete,] [|vor ihr hin- und herging.|] |fixierte.| [wie13 ein14 schlechtes15 Feuilleton16]f x gestrichen: . Er1 hörte2 sich3 gerne4 selbst,5 fühlte6 sich7 in8 Form9 und10 legte11 los12 xwie13 ein14 schlechtes15 Feuilleton16[:]|:| [„Auch Du betrachtest den fleischlichen Teil der Liebe als eine angenehme Bewegungsart und den seelischen Teil als den Born mannigfacher Unannehemlichkeiten, Leiden, Qualen, Sorgen || garniert mit Kummer und Verdruss. Auch Du sagst. „Das ginge mir gerade noch ab!“] [„Diese Angst] |„Diese Angst| [\seelischen/] |seelischen| [im Frühlingsalter] [dass der Genuss purer fleischlicher Kost ohne seelischen gemischten Salat schädlich und sündhaft ist oder]

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ÖLA 3/W 138 – BS 5 a [6], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K2/TS7 (Korrekturschicht)

dass die fleischliche Vergattung etwas heiligeres ist, als eine organische Funktion. Wieviel Unheil richtet diese erhabene Dummheit unter uns armen Menschen an!“ Er hielt plötzlich inne in seinen Definitionen und biss sich auf die Zunge, so überrascht war er, dass er tatsächlich mal recht hatte. Er war ja ein pathologischer Lügner. Doch rasch erholte er sich von der Wahrheit, setzte sich ergriffen über seine Selbstlosigkeit auf den zusammengeleimten Stuhl, vergrub zerknirscht über die menschliche Undankbarkeit den Kopf in den Händen und seufzte: „Ich bin zu gut! Ich bin zu gut!“ „Er ist also wirklich besser, als er aussieht“, dachte Agnes. „Das hängt halt nur von solchen Stiftzähnen ab, dass man meint, das ist ein Schuft. So täuscht man sich. Am End ist auch der Eugen garnicht so anständig, wie er sich benommen hat. Es gibt wenige gute Leut und die werdn immer weniger.“ Und der Kastner tat ihr plötzlich leid und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die grossen und die kleinen. BN

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

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Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Eugen kennen lernte, da war es noch Sommer. Sie waren Beide arbeitslos und Eugen knüpfte daran an, als er sie ansprach. Das war in der Thalkirchnerstrasse vor dem städtischen Arbeitsamt und er sagte, er sei bereits zwei Monate ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher. Sie sagte, sie sei bereits fünf Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr schöne Stadt und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wollte, er habe so lange nicht mehr diskuriert, denn er kenne hier nur seine Wirtin und das sei ein pedantisches Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante und schwieg. Er lächelte und sagte, er freue sich sehr, dass er sie nun kennen gelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Hierauf gingen sie spazieren. Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauerstrasse, dann die Augustenstrasse entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld. Als Eugen die ehemaligen Kasernen sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Mächte, die stärker wären als der Mensch, aber so dürfe man nicht denken, denn dann müsste man sich aufhängen. Sie sagte, er solle doch nicht so traurig daherreden, hier sei nun das Oberwiesenfeld und er solle doch lieber sehen, wie weit heut der Horizont wär und wie still die Luft, nur ab und zu kreise über einem ein Flugzeug, denn dort drüben sei der Flughafen. Er sagte, das wisse er schon und die Welt werde immer enger, denn bald wird man von da drüben in zwei Stunden nach Australien fliegen, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn von  Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett gehen wollte und derweil in den Himmel kam. Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich grossartig, dass der menschliche Geist solche Höhen erklimmt und sie werde es ja auch noch erleben, dass, wenn das so weiter geht, Europa zugrunde gehen wird. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse und er habe gestern gelesen, dass sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil sich die Kapitalisten anfangen zu organisieren. Sie sagte, jener amerikanische künstliche Mensch würde sie schon sehr interessieren. Er sagte, auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen. Das war Ende August 1928. Es hatte wochenlang nicht mehr geregnet und man prophezeite einen kurzen trüben Herbst und einen langen kalten Winter. Die Landeswetterwarte konstatierte, dass das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein und auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Am Nachmittag hatte es zwar dreimal gedonnert, aber wieder nicht geregnet und nach Sonnenuntergang war es noch derart drückend schwül, als hätte die Luft Fieber. Erst um Mitternacht setzte sich langsam der Staub auf die verschwitzte Stadt. Agnes fragte Eugen, ob auch er es fühle, wie schwül der Abend sei und dann: sie denke nun schon so lange darüber nach und könne es sich garnicht vorstellen, was er

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für einen Beruf hätte. „Kellner“, sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute sicher in einem ausländischen Grandhotel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Bisra . Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Er hätt zehn Neger unter sich und tät dem Vanderbildt seinem Neffen servieren, er hätt fürstlich verdient und hätt sich mit fünfzig ein kleines Hotel im Salz-kammergut gekauft. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Serajewo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der wo der österreich-ungarische Thronfolger war, erschossen haben. Sie sagte, sie wisse nicht, was dieses Serajewo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, gleich ganz zu Beginn und soviel sie gehört hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an den ganzen Weltkrieg nicht gut erinnern, denn als der seinerzeit ausbrach, da sei sie erst vier Jahr alt gewesen. Sie erinnere sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals sei ihre Mutter an der Kopfgrippe gestorben. Sie habe zwar ihre Mutter nie richtig geliebt, die sei sehr mager gewesen und so streng weiss um den Mund herum und sie hätt oft das Gefühl gehabt, dass die Mutter denke: warum lebt das Mädel? Sie habe noch heut ab und zu Angst, obwohl nun die Mutter seit fünf Jahren tot sei. So habe sie erst neulich geträumt, sie sei wieder ganz klein und ein General mit lauter Orden sei in der Küche erschienen und habe gesagt: „Im Namen seiner Mayestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!“ Und die Mutter habe nur gesagt: „Soso, wenn er nur nicht wieder den Hausschlüssel verliert.“ Und der General habe präsentiert und sei verschwunden und die Mutter habe sich vor sie hingeschlichen und sie entsetzlich gehässig angeglotzt. Dann habe sie das Licht ausgedreht, weil es plötzlich Nacht geworden sei, und den Gashahn aufgedreht und etwas vor sich hingemurmelt, das habe geklungen wie eine Prozession. Aber plötzlich sei es unheimlich licht geworden und das war überirdisch. Und Gottvater selbst sei zur Tür hereingekommen und habe zur Mutter gesagt: „Was tust Du Deinem Kinde? Das ist strengstens verboten Frau Pollinger!“ Dann habe der Gottvater das Fenster aufgerissen und den Gashahn geschlossen. Und Agnes erklärte Eugen: „Solche Dummheiten träumt man oft, aber das war eine blöde Dummheit.“ Und Agnes dachte, wenn sie heut an ihre Kindheit zurückdenkt, so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draussen scheint die Sonne  aber kein Strahl fällt in das Zimmer. Sie hat das Gefühl, als schwebe der Raum ungeheuer hoch über der Erde. Und dann weiss sie, dass draussen tief unten in der Ebene ein breiter Fluss fliessen würde, wenn sie grösser wäre und durch das Fenster sehen könnte. Lautlos fährt ein Zug über die Brücke. Der Abend wartet am Horizont mit violetten Wolken. B

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Aber das ist freilich alles ganz anders gewesen. Der Himmel war verbaut und durch das Fenster jenes Zimmers sah man auf einen trüben Hof mit Kehrrichttonnen und verkrüppelten Fliederbüschen. Hier klopften die Hausfrauen Teppiche und wenn ihre Hündinnen läufig waren, liessen sie sie nur hier unten spazieren, denn draussen auf der Strasse wimmerten die Kavaliere. Kinder durften hier aber nicht spielen, das hat der Hausmeister untersagt, seit sie den Flieder gestohlen und ohne Rücksicht auf die sterbende böse Grossmutter Biedermann im ersten Stock gejohlt und gepfiffen haben, dass irgend ein Tepp die Feuerwehr alarmierte. Dies Haus steht noch heute in Regensburg und im dritten Stock links erlag 1923 Frau Helene Pollinger der Kopfgrippe. Sie war die Witwe des auf dem Felde der Ehre gefallenen Artilleristen und Zigarettenvertreters Martin Pollinger. Und ungefähr fünf Jahre später, Ende August 1928, ging ihre Tochter Agnes mit einem arbeitslosen Kellner aus Österreich über das Münchener Oberwiesenfeld und erzählte: „Als sie meine Mutter begrabn habn, da war es der achtundzwanzigste Oktober und dann bin ich von Regensburg zur Tante nach München gefahrn. Ich war, glaub ich, grad vierzehn Jahr alt und hab im Zug sehr gefroren, weil die Heizung hin war und das Fenster kein Glas nicht gehabt hat, es war nämlich grad Infalation. Die Tante hat mich am Hauptbahnhof erwartet und hat geweint, nun bin ich also ein Waisenkind, ein Doppelwaisenkind, ein Niemandskind, ein ganz bedauernswertes und dann hat die Tante furchtbar geschimpft, weil sie nun garnicht weiss, was sie mit mir anfangen soll, sie hat ja selber nichts und ob ich etwa glaub, dass sie etwas hätt und ob meine Mutter selig vielleicht geglaubt hätt, dass sie etwas hätt und wenn ich auch die Tochter ihrer einzigen Schwester selig bin und diese einzige Schwe-ster selig soebn in Gott verstorbn ist, so muss man halt doch schon wissn, dass ein jeder sterbn muss, keiner lebt ewig nicht, da hilft sich nichts. Und die Tante hat gesagt, auf die Verwandtn ist wirklich kein Verlass nicht. Ich bin dann bald zu einer Näherin gekommen und hab dort nähen gelernt und hab Pakete herumtragn müssen in ganz München, aber die Näherin hat paar Monat drauf einen Postbeamten geheiratet, nach Ingolstadt. Da hat die Tante wieder furchtbar geschimpft und hat mich hinausschmeissn wolln, aber ich bin im letzten Moment zu einer anderen Näherin gekommen, dort hab ich aber ein Kostüm verschnittn und dann bin ich wieder zu einer Näherin gekommen, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn und dann hab ich wirklich Glück gehabt, dass ich gleich wieder zu einer Näherin gekommen bin, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn, ich hab schon wirklich Pech gehabt.“ Und Agnes fuhr fort, im letzten Kriegsjahr sei mal die Tante in Regensburg gewesen und habe gesagt, sie sehe zwar ihrem Vater schon garnicht ähnlich, aber sie hätte genau sein Haar, worauf ihre Mutter gemeint habe: „Gelobt sei Jesus Christus, wenn Du sonst nichts von ihm hast!“ Und dazu habe die Mutter so bissig gegrinst, dass sie sehr böse geworden ist, weil ja der Vater schon tot geschossen gewesen wäre, und sie habe die Mutter sehr geärgert gefragt, was sie denn von ihr hätte. Da sei aber die Mutter plötzlich sehr traurig geworden und habe nur gesagt: „Sei froh, wenn Du B

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nichts von mir hast!“ Sie glaube auch, dass sie schon rein garnichts von der Mutter habe. Sie habe jedoch ein Jugendbildnis der Grossmutter aus Straubing gesehen und da sei sie direkt erschrocken, wie ähnlich sie der sehe. Sie könne ihre Tochter sein oder ihre Schwester. Oder sie selbst. Eugen meinte, dass jeder Mensch Verwandte hat, der eine mehr und der andere weniger, entweder reiche oder arme, boshafte oder liebe, und jeder Verwandte vererbt einem etwas, der eine mehr und der andere weniger, entweder Geld, ein Haus, zwei Häuser oder einen grossen Dreck. Auch Eigenschaften wären erblich,  so würde der eine ein Genie, der zweite Beamter, der Dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloss Nummern, die sich alles gefallen liessen. Nur wenige liessen sich nicht alles gefallen und das wäre sehr traurig. Und Eugen erzählte, er habe vor dem Weltkrieg im Bahnhofscafé in Temesvar den Bahnhofsvorstand bedient, das sei ein ungarischer Rumäne gewesen und hätte angefangen über die Vererbung nachzugrübeln, hätte sich Tabellen zusammengestellt, addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und im Lexikon studiert von A bis Z und wäre endlich dahintergekommen, dass jeder mit jedem irgendwie verwandt ist, mit jedem Räuber, Mörder, General, Minister, sogar mit jedem römisch-katholischen Priester und dem Wunderrabbi von Kolomea. Darüber sei er dann verrückt geworden und hätte aus der Irrenanstalt Briefe an seine Verwandten geschickt. So habe er zu Weihnachten Franz Joseph folgendermassen gratuliert: Liebe Nichte! Ich wünsche Dir einen recht angenehmen Geburtstag. Herzliche Grüsse aus dem K.K. priv. Narrenhaus! Das Wetter ist schön Auf Wiedersehn! Es küsst Dich Deine Mama. Und Eugen erklärte Agnes, obwohl jener Bedauernswerte korrekt verrückt gewesen sei, hätte jener doch recht gehabt, denn jeder Mensch sei tatsächlich mit jedem Menschen verwandt, aber es habe keinen Sinn, sich mit dieser Verwandtschaft zu beschäftigen, denn wenn man sich all das so richtig überlegen würde, müsste man wahrscheinlich auch verrückt werden. Da habe der alte Schuster Breitenberger in Pressburg schon sehr recht gehabt, wie er, bevor er gestorben ist, zu seiner versammelten Familie gesagt hat: „Leutl , wenn ihr mal recht blöd seids, so denkts an mich!“ Agnes sagte, sie denke fast nie an ihre Familienverhältnisse und sie wundere sich schon eine ganze Weile sehr,  wieso, wodurch und warum sie darauf zu sprechen gekommen sei. Eugen sagte, er denke überhaupt nie an seine Vorfahren. Er sei doch kein Aristokrat, der darüber Buch führe, damit er es sich auf den Tag ausrechnen könne, wann er verteppen würde. So endete das Gespräch über die liebe Verwandtschaft. -B

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Der Tag gähnte, er war bereits müde geworden und zog sich schon die Stiefel aus, als Agnes fühlte, dass Eugen bald ihre Hüfte berühren werde. Er tat es auch und sagte „Pardon!“ 2.

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Zehn Minuten später sassen Agnes und Eugen unter einer Ulme. Er hatte sie nämlich gefragt, ob sie sich nicht setzen wollten, er sei zwar nicht müde, aber immerhin hätte er nichts dagegen, wenn er sich setzen könnte. Sie hatte ihn etwas misstrauisch angeschaut, und er hatte ein ganz unschuldiges Gesicht geschnitten, aber sie hatte ihm diese Unschuld schon garnicht geglaubt und gesagt, sie hätte nichts dagegen, dass er sich setzen wollte, er könnte sich ruhig setzen und wenn er sich setzen würde, würde sie sich auch setzen. Es war nirgends eine Bank zu sehen und sie haben sich dann ins Gras gesetzt. Unter einer Ulme. Das war ein grosser alter Baum, und die Sonne ging unter. Im Westen, natürlich. Überhaupt ging alles seine schicksalhafte Bahn, das Grösste und das Kleinste, auch unter der Ulme. \Textverlust\ Bohemenatur und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und  nicht in die Morgue.“ Er wollte wieder Journalist werden, aber er landte beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen homosexuellen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: „Der betlehemitische Kindermord oder Ehre sei Gott in der Höhe“. Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein betlehemitisches Kind verkörperte, nackt photographierte. Dies Kind war nämlich die Mätresse eines Aufsichtsrates. Der Kastner liess die Photographien durch einen pornographischen Klub vertreiben und dort erkannte eben dieser Aufsichtsrat, durch einen Rittmeister eingeführt, auf einer Serie „pikante Akte“ seine minderjährige Mätresse und meinte entrüstet: „Also das ist ärger als Zuhälterei! Das ist photographische Zuhälterei!“ Und nun schritt dieser photographische Zuhälter vor Agnes Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik. B

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„Agnes “, deklamierte der Kastner, „Du wirst Dich wundern, dass ich noch mit Dir rede, Du darfst dich aber nicht wundern, dass ich mich auch wundere. Ich wollte ja eigentlich seit dem Ammersee kein Sterbenswörtchen mehr an Deine Adresse verschwenden und Dich einfach übersehen, Du undankbares Luder.“

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„Hörst Du den Kanari?“ fragte das undankbare Luder. „Ich höre das Tier. Es zwitschert. Deine liebe Tante hat einen ausserordentlich gesunden Schlaf. Ein Kanari zwitschert keine Rolle. Und wenn schon!“ „Wenn sie Dich hört, flieg ich raus!“ „Schreckloch, Lächerloch!“ verwunderte sich gereizt der sonderbare Photograph. „Deine liebe Tante wird sich hüten, solange ich Dich beschirme! Deine liebe Tante halt ich hier auf meiner flachen Hand, ich muss nur zudrücken.  Deine liebe Tante verkauft nämlich die unretouchierten künstlerischen Akte, die ich photographiere. Verstanden?“ Agnes schwieg und der Kastner lächelte zufrieden, denn es fiel ihm plötzlich auf, dass er auch Talent zum Tierbändiger hat. Und er fixierte sie, als wäre sie eine Löwin, eine Tigerin oder zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich entsetzt dabei, wie er sich verbeugen wollte. „Was war denn das!“ fuhr er sich an, floh aus dem Zirkus der plötzlich brannte und knarrte los: „ Zur Sache! Es geht um Dich ! Es geht einfach nicht, was Du in erotischer Hinsicht treibst! Ich verfolge mit zunehmender Besorgnis Deinen diesbezüglichen Lebenswandel. Ich habe den positiven Beweis, dass Du Dich, seit Du arbeitslos bist vier Männern hingegeben hast. Und was für Männern! Ich weiss alles! Zwei waren verheiratet, der dritte ledig, der vierte geschieden. Und soeben verliess Dich der fünfte. Leugne nicht! Ich habe es ja gesehen, wie er Dich nach Hause gebracht hat!“ „Was geht das Dich an?“ fragte ihn Agnes ruhig und sachlich, denn es freute sie, dass er sich wiedermal über ihr Triebleben zu ärgern schien. Sie gähnte scheinbar gelangweilt und ihre Sachlichkeit erregte sie, ähnlich wie Eugens linke Hand und es tat ihr himmlisch wohl, seine Stiftzähne wiedermal als abscheulich, eckelhaft , widerlich, unverschämt , überheblich und dumm bewerten zu können. „Mich persönlich geht das garnichts an“, antwortete er traurig wie ein verprügelter Apostel. „Ich habe nur an Deine Zukunft gedacht, Agnes!“ Zukunft! Da stand nun wieder dies Wort vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Es war ein altes verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur, dass es noch älter war, noch schmutziger, noch zahnloser, noch vergrämter, noch verschlagener ---. „Ich stricke, ich stricke“, nickte  die Zukunft, „ich stricke Strümpfe für Agnes.“ B

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Und Agnes schrie: „So lass mich doch! Was willst Du denn von mir?!“ „Ich persönlich will nichts von Dir,“ antwortete der Kastner feierlich und die Zukunft sah sie lauernd an. B

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„Du bist natürlich in einer sogenannten Sackgasse, wenn Du Dir etwa einbildest, dass mein Besuch zu dieser allerdings ungewöhnlichen Stunde eine Wiederannäherung bedeutet“, fuhr er nach einer Kunstpause fort und setzte ihr auseinander, dass, als er sie kennenlernte, er sofort erkannt hat, dass sie keine kalte Frau, sondern vielmehr feurig ist, ein tiefes stilles Wasser, eine Messalina, eine Lulu, eine Büchse der Pandorra , eine Ausgeburt. Es gäbe überhaupt keine kalten Frauen, er habe sich nämlich mit diesen Fragen beschäftigt, er „spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung“. Man solle sich doch nur die Damenmode ansehen! Was zöge sich solch eine „kalte Frau“ an! Stöckelschuhe, damit Busen und Hintern mehr herausträten und sich erotisizierender präsentieren können, ein Decolleté in Dreiecksform, deren Linien das Auge des männlichen Betrachters unfehlbar zum Nabel und darunter hinaus auf den Venusberg führen, sollte er auch an der Lösung noch so vergeistigter Probleme herumgrübeln. Häufig entfache auch eine scheinbar sinnlose, jedoch unbewusst hinterlistig angebrachte Schleife am Popo vielgestaltige männliche Begierden und diese ganze Damenmode stamme aus dem raffinierten Rokoko, das sei die Erfindung der Pompadour und des Sonnenkönigs. Aber nun wolle er seinen kulturgeschichtlichen Vortrag beenden, er wisse ja, dass sie ein richtiges Temperament hat und er wolle ihr nur schlicht versichern, dass sie sich gewaltig täuscht, wenn sie meinen sollte, er sei nur hier wegen ihrem heissen Blut --- Nie!  Er stünde vor ihr ohne erotische Hintergedanken, lediglich deshalb weil er ein weiches Herz habe und wisse, dass sie keinen Pfennig hat, sondern zerrissene Schuhe und nirgends eine Stellung findet. Er habe in letzter Zeit viel an sie gedacht, gestern und vorgestern, und endlich habe er ihr eine Arbeitsmöglichkeit verschafft. „Allerdings “ betonte er, „ist diese Arbeitsmöglichkeit keine bürgerliche, sondern eine künstlerische. Ich weiss nicht, ob Du weisst, dass ich mit dem bekannten Kunstmaler Lothar Maria Achner sehr intim bekannt bin. Er ist ein durchaus künstlerisch veranlagter hochtalentierter Intellektueller, zart in der Farbe und dennoch B

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stark, und sucht zur Zeit krampfhaft ein geeignetes Modell für seine neueste werdende Schöpfung, einen weiblichen blühenden Akt. Auf einem Sofa. Im Trancezustand. Er soll nämlich im Auftrage des hessischen Freistaates eine „Hetäre im Opiumrausch“ für das dortige Museum malen“. Das war nun natürlich nicht wahr, denn als Auftraggeber dieser werdenden Schöpfung zeichnete nicht der hessische Freistaat, sondern ein kindischer Viehhändler aus Kempten im Allgäu, der einer kultivierten Hausbesitzerswitwe , auf deren Haus er scharf war, zeigen wollte, dass er sogar für moderne Kunst etwas übrig hat, und, dass er also nicht umsonst vier Jahre lang in der Kunststadt München mit Vieh gehandelt hatte. „Ich dachte sogleich an Dich“, fuhr er nach einer abermaligen Kunstpause fort, „und ich habe es erreicht, dass er Dich als Modell engagieren wird. Du verdienst pro Stunde zwanzig Pfennig und er benötigt Dich sicher fünfzig Stunden lang, er ist nämlich äusserst gewissenhaft. Das wären also zehn Mark, ein durchaus gefundenes Geld. Aber dieses Geld bedeutet nichts in Anbetracht Deiner dortigen Entfaltungsmöglichkeiten. Im Atelier Lothar Maria Achners gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, darunter zahlreiche junge Herren im eigenen Auto. Das sind Möglichkeiten! Es tut mir nämlich als Mensch persönlich leid, wenn ich sehe, wie ein Mensch seine Na-turgeschenke sinnlos verschleudert. Man muss auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Rationalisation! Rationalisation! Versteh mich recht: ich verlange zwar keineswegs, dass Du Dich prostituierst --- Agnes , ich bin bloss ein weichherziger Mensch und ohne Hintergedanken. Es ist wohl töricht, dass ich mich für Dich einsetze, denn, dass Du beispielsweise seinerzeit am Ammersee unpässlich warst, das glaube ich Dir nimmer!“ Natürlich war sie damals nicht unpässlich gewesen, aber der Kastner hatte kein Recht sich zu beschweren, denn es war erstunken und erlogen, dass er ihr derart selbstlos die Stellung als Hetäre im Opiumrausch verschaffte. Er hatte vielmehr zu jenem Kunstmaler gesagt: „Also , wenn Du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich Dir morgen ein tadelloses Modell für zwanzig Pfennig. Gross, schlank, braunblond, und es versteht auch einen Spass. Aber wenn Du mir nur fünf Mark leihen kannst, so musst Du dafür sorgen, dass ich Gelegenheit bekomme, um sie mir nehmen zu können. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Cognak bringe ich mit, Grammophon hast Du.“ Er blieb vor ihr stehen, bemitleidete sich selbst und nickte ihr ergriffen zu: „Ich wollte Du wärest nie geboren. Warum denn nur, frage ich mich und Dich, warum denn nur gibst Du Dich mir nicht? Doch lassen wir dies! Passe !“ Und Agnes dachte: warum denn nur sage ich es ihm nicht, dass er vorn lauter Stiftzähne hat? B

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

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„Du kannst eben nicht lieben“, meinte er. „Du bist allerdings häufig bereit, Dich mit irgend einem nächsten Besten ins Bett zu legen, aber wie Du fühlst, Du könntest Dich in jenen nächsten Besten ehrlich mit der Seele verlieben, kneifst Du auf der Stelle. Du würdest ihn nimmer wiedersehen wollen, er wäre aus Dir ausradiert.“ B

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13. Agnes sagte sich, wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so habe er eben diesmal recht. Sie müsse wirklich mehr an sich denken, sie denke zwar eigentlich immer an sich, aber wahrscheinlich zu langsam. Sie müsse sich das alles genau überlegen -was „alles ?“ Merkwürdig, wie weit nun plötzlich das ganze Oberwiesenfeld hinter ihr liegt, als wäre sie seit vier Wochen nicht mehr dort spaziert. Und es sei doch eigentümlich, dass dieser Eugen sie schon nach zwei Stunden genommen hat und, dass das alles so selbstverständlich gewesen ist, als hätte es so kommen müssen. Er sei ja sicher ein guter Mensch, aber er könnte ihr wirklich gefährlich werden, denn es stimme schon, dass er zu jenen Männern gehört, denen man sich naturnotwendig gleich ganz ausliefern muss -- Nein! sie wolle ihn nie mehr sehen! Sie werde morgen einfach nicht da sein, dort an der Ecke der Schleissheimerstrasse. Es hätte doch auch schon gar keinen Sinn, an das Salzkammergut zu denken und das blöde Afrika all diese dummen Phantasien! Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen und den könne man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht. Der Kastner habe schon sehr recht, sie werde auch die Hetäre markieren, sich für fünfzig Stunden auf das Sofa legen und zehn Mark verdienen und vielleicht wirklich irgend ein eigenes Auto kennen lernen, aber man solle nichts verschreien. B

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So näherte sich also Agnes einem einfachen Schluss, während sie ein ehemaliger Filmstatist, der ursprünglich Zahntechniker war, jedoch eigentlich Journalist werden wollte, fixierte. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte los wie ein schlechtes Feuilleton. „Diese Angst vor der wahren seelischen Liebe ist eine typische Jungmädchen erscheinung des zwanzigsten Jahrhunderts, aber natürlich keine Degenerationserscheinung, wenn man in Deinen wirtschaftlichen Verhältnissen steckt. Es ist dies lediglich eine gesunde Reaktion auf alberne Vorstellungen, wie zum Beispiel, dass die fleischliche Vergattung etwas heiligeres ist, als eine organische Funktion. Wieviel Unheil richtet diese erhabene Dummheit unter uns armen Menschen an!“ Er hielt plötzlich inne in seinen Definitionen und biss sich auf die Zunge, so überrascht war er, dass er tatsächlich mal recht hatte. Er war ja ein pathologischer Lügner. B

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Doch rasch erholte er sich von der Wahrheit, setzte sich ergriffen über seine Selbstlosigkeit auf den zusammengeleimten Stuhl, vergrub zerknirscht über die menschliche Undankbarkeit den Kopf in den Händen und seufzte: „Ich bin zu gut! Ich bin zu gut!“ „Er ist also wirklich besser, als er aussieht“, dachte Agnes. „Das hängt halt nur von solchen Stiftzähnen ab, dass man meint, das ist ein Schuft. So täuscht man sich. Am End ist auch der Eugen garnicht so anständig, wie er sich benommen hat. Es gibt wenige gute Leut und die werdn immer weniger.“ Und der Kastner tat ihr plötzlich leid und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die grossen und die kleinen. \Textverlust\ möglichkeiten des Proletariats und hätte natürlich zugegeben, dass Lenin ein Säkularmensch war und dass der Marxismus Schiffbruch erlitten hat. So aber besuchte sie nur eifrig Wahlversammlungen und meldete sich sogar manchmal zur Diskussion. Dann waren die Angehörigen jener Partei, für die sie eintreten wollte, bestürzt, die Opposition begeistert und die Nichtwähler belustigt. Sie wählte 1919 unabhängig sozialdemokratisch, 1920 deutsch-national, 1924 völkisch, 1925 bayerisch volksparteilich und 1928 sozialdemokratisch. Wie alle Kleinbürger zog sie infolge Denkunfähigkeit auch politisch verschrobene Schlüsse, hielt Gemeinplätze für ihre persönlichen Erkenntnisse und diese wieder nicht nur nicht für „graue Theorie“ , sondern sogar für „Praxis “. Aber so einfältig war sie nun dennoch nicht, wie es der Freiherr von Aretin wünschte, der nach den Maiwahlen 1928 in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ behauptet hatte, dass das niederbayerische Bauernweiblein nur in dem Glauben, dass der Kommunismus mit der heiligen Kommunion zusammenhängt , kommunistisch wählt. Und sie glaubte auch nicht, was in der „Münchener Zeitung“ stand , dass nämlich die Herrschaft des Sozialismus eine Orgie der sieben Todsünden bedeutet. Sie besass doch immerhin den unchristlichen Instinkt, ihre Mitbürger in „Grosskopfete“ und „anständige Menschen“ einzuteilen. Dieser Instinkt hatte sie auch mit ihrem einzigen Verwandten entzweit, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester, einem gewissen Studienrat Gustav Adolf Niemeyer aus der Schellingstrasse. Der hatte ihr seinerzeit, da sie von der unabhängigen Sozialdemokratie begeistert war, folgenden Brief gesandt: An Afra Krumbier. Weiber verstehen nichts von Politik. Das Mass ist voll. Wir sind nicht mehr verwandt. Gustav Adolf Niemeyer. B

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Dieser Studienrat Niemeyer hatte einen hochaufgeschossenen Sohn mit einem etwas krummen Rücken, riesigen Händen und einer Brille. Er hiess ebenfalls Gustav Adolf und als er 1914, da der liebe Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“ (und es geschah also und Gott sah, dass er gut getan) einrücken musste wollte er gerade Chemie studieren und sagte: „Meiner Meinung nach hat die Chemie Zukunft.“ Die Horizonte waren rot von den Flammen der brennenden Dörfer und Wälder, rund zwölf Millionen Menschen wurden zerstückelt und über das Leben kroch das Gas. Es war Hausse in Prothesen und Baisse in Brot. Immer mehr glich die Erde dem Monde. Der Studienrat sammelte Kriegspostkarten, Kriegsmedaillen, Kriegsbriefmarken, Kriegsscherzartikel und nachts kratzte er diebisch die Kriegsberichte von den Anschlagsäulen. Weihnachten kam, das Fest der Liebe, und die deutschen Leitartikel huldigten dem deutschen Christkind, die französischen dem französischen Christkind, es gab auch eine österreichische Madonna, eine ungarische, englische, belgische, liechtensteinische, bayerische. Alle diese Madonnen waren sich feindlich gesinnt und gar zahlreiche Heilige übernahmen Ehrenprotektorate über schwere und leichte Artillerie, Flammenwerfer und Tanks. 1915 fiel Gustav Adolf junior in Flandern und Gustav Adolf senior verfasste folgende Trauernotiz: „Es widerfuhr mir die grosse Freude, den einzigen Sohn auf dem Altar des Vaterlandes geopfert zu haben.“ Und er lächelte: „Wenn das die Mutter noch erlebt hätte!“ Dem einzigen Sohn widerfuhr allerdings weniger Freude über sein Opfer. Von einem spanischen Reiter aufgespiesst brüllte er vier Stunden lang auf dem Altar des Vaterlandes.  Dann wurde er heiser und starb. Sein Feld der Ehre war ein Pfahl der Ehre, der ihm die Gedärme ehrenvoll heraustrieb. Als eitler Rohling schritt der vaterländische Vater stolz und dumm durch die Schellingstrasse und bildete sich ein, die Leute wichen ihm aus, man sehe es ihm direkt an, dass sein einziger Sohn in Flandern gefallen ist. Ja, er plante sogar, sich selbst freiwillig zu opfern, jedoch dies vereitelten Bismarcks Worte, die er abgöttisch liebte: „Den Krieg gewinnen die deutschen Schulmeister.“ Aber es kam bekanntlich anders. Am Ende ihrer Kraft brachen die Mittelmächte zusammen und fassungslos stammelte Gustav Adolf senior: „Aber die Pazifisten können doch nicht rechthaben, denn warum ist denn dann mein Sohn gefallen?“ B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Erst anlässlich des Versailler Diktates atmete er auf. Nun konnte er es sich ja wieder beweisen, dass die Pazifisten nicht recht haben und, dass also sein Sohn nicht umsonst gefallen ist. Als Liebknecht und Luxemburg ermordet wurden, wurde es ihm klar, dass das deutsche Volk seine Ehre verloren hat und, dass es selbe nur dann wiedererringen kann, wenn abermals zwei Millionen junger deutscher Männer fallen. Als Kurt Eisner ermordet wurde, hing er die Photographie seines Mörders neben jene seines Sohnes. Als Gustav Landauer ermordet wurde, stellte er fest: „Die Ordnung steht rechts!“ Als Gareis ermordet wurde, macht er einen Ausflug in das Isartal und zwischen Grünwald und Grosshesselohe sagte er dreimal: „Deutsche Erde!“ Als Erzberger ermordet wurde, betrat er seit langer Zeit wiedermal ein Biercabaret am Sendlingertorplatz. Dort sang ein allseits beliebter Komiker den Refrain: „Gott erhalte Rathenau, Erzberger hat er schon erhalten!“ Es war sehr komisch. Als Rathenau ermordet wurde, traf er einen allseits beliebten Universitätsprofes sor, der meinte: „Gottlob, einer weniger!“ Als Haase ermordet wurde, ging er in die Oper und prophezeite in der Pause: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Und der Sturm brach los, das „Volk“ stand auf und warf sich auf dem münchener Odeonsplatz auf den Bauch. Da wurde es windstill in des Schulmeisters Seele. Geistig gebrochen, doch körperlich aufrecht liess er sich von der Republik pensionieren, witterte überall okkulte Mächte und hasste die Gewerkschaften. Er wurde Spiritist. Als er aber entdeckte, dass es auch unter den Jüdinnen Spiritistinnen gibt, wandte er sich ab vom Spiritismus. Er fürchtete weder Frankreich, noch die Tschechoslowakei, nur die Freimauerer. Genau so, wie einst seine Urgrossmutter die Preussen gefürchtet hatte. Die war an Verfolgungswahn erkrankt und hatte geglaubt, jeder Preusse hätte an seinem linken Fusse vierzehn Zehen. Von Tag zu Tag sah er seiner Urgrossmutter ähnlicher. Er vertiefte sich in seine abgekratzten Kriegsberichte und wollte es unbedingt ergründen, wieso wir den Krieg verloren haben, obwohl wir ihn nicht verloren haben. Und seine einzige Freude waren seine gesammelten Kriegsscherzartikel. B

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Das war Afra Krumbiers Schwager. Sie hatte ihn nie recht gemocht , denn seit ihre verstorbene Schwester Frau Studienrat geworden war, hatte sie angefangen Afra von oben herab zu behandeln, weil Afra in ihrer Jugend nur mit einem Kanzleibeamten verlobt gewesen war, der sie obendrein auch noch sitzen gelassen hatte, weil er defraudiert hatte und durchgebrannt war. B

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Fragmentarische Fassung



K2/TS8 (Korrekturschicht)

Und seit nun Afra im Antiquariat der Tante sozusagen lebte, vergass sie ihren Schwager fast ganz, so sehr konzentrierten sich die Tante und sie aufeinander. Diese Konzentration war sogar so stark, dass die beiden Alten es oft selbst nicht mehr zu wissen schienen, wessen Nichte Agnes ist. So fragte auch heute wieder Afra die Tante, welcher Kunstmaler sich die Agnes als Modell gewählt hätte, ob er eine Berühmtheit sei oder eine Null, ob noch jung oder schon älter, ob verheiratet, verwittwet, geschieden oder ob er so im Konkubinat dahinlebe, wie das bei den Kunstmalern meistens der Fall sei. Die Tante meinte, sie kenne den Kunstmaler nicht persönlich, er wohne zwar nicht weit von hier und sie höre nur Gutes über ihn, zwar habe sie nur gehört, dass er Achner heisst, aber auf die Kunstmaler sei kein Verlass, und sie habe es der Agnes auch schon erklärt, dass sie sich ja nicht unterstehen soll bei künstlichem Lichte als Modell herumzustehen. B

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Drei Stunden später schlug es dreiviertelfünf. A M L beschäftigte sich bereits seit vier Uhr mit dem Hintergrunde seiner „Hetäre im Opiumrausch“ . Der Hintergrund war nämlich seine schwächste Seite. Unter solch einem Hintergrund konnte er unsagbar leiden. Auch jetzt juckte es ihn überall, es offenbarten sich ihm nur Hintergründe, die nicht in Frage kamen. So schien ihm also der Dreiviertelfünfuhrschlag als wahre Erlösung, denn da sein Freund Harry Priegler um fünf Uhr erscheinen wollte, konnte er sagen: „Ziehen Sie sich an, Fräulein Pollinger! Für heut sind wir soweit. Dieser Hintergrund! Dieser Hintergrund! Dieser ewige Hintergrund!“ Und während Agnes sich vor einem Hintergrunde, der ebenfalls nicht in Frage kam, anzog, knurrte ihr Magen. Sie hatte nämlich an diesem Tage zwei Semmeln gegessen, sonst noch nichts. Ursprünglich hatte sie sich ja Suppe, Fleisch, gemischten Salat und Kompott bestellen wollen, so ein richtiges Menü für neunzig Pfennig, aber da sie erst um halb zwölf erwacht war und dann auch noch zehn Minuten lang gemeint hatte, es wäre erst acht oder höchstens neun, während sie doch um zwölf Uhr bereits als Hetäre im Atelier sein musste, so war ihr eben für jenes Menu keine Zeit übrig geblieben. Abgesehen davon, dass sie ja nur mehr dreiundzwanzig Pfennig besass. Die zwei Semmeln kaufte sie sich bei jener Bäckersfrau in der Schellingstrasse, die bekannt war ob ihrer Klumpfüsse. Als Agnes den Laden betrat, las sie gerade die Hausbesitzerszeitung und meinte: „Der Mittelstand wird aufgerieben. Und was wird dann aus der Kultur? Überhaupts aus der Menschheit?“ B

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

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„Was geht mich die Menschheit an?“ dachte Agnes und ärgerte sich, dass die Semmeln immer kleiner werden. 

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Agnes schlüpfte in ihren Schlüpfer. „Es sind halt immer die gleichen Bewegungen“, überlegte sie. „Nur , dass ich jetzt seit einem Jahr keine Strumpfbänder trag, sondern einen Gürtel. Man kann zwar zum Gürtel auch Strumpfbänder tragen, aber oft haben die Männer schon gar keinen Sinn für Schmuck und werden bloss höhnisch und dann ist die ganze Stimmung zerrissen.“ Und sie erinnerte sich einer Photographie in der „Illustrierten“. Auf der sah man eine lustige Amerikanerin aus New-York, die auf ihrem Strumpfband eine Uhr trug. Die „Strumpfbanduhr“ stand darunter und dann war auch noch vermerkt, dass sie nicht nur einen Sekundenzeiger besitzt, sondern auch ein Läut- und Weckwerk und, dass sie nicht nur die Viertelstunden, sondern auch die Minuten schlägt und, dass sie sich sogar als Stoppuhr verwerten lässt, zum Beispiel bei leichtathletischen Wettbewerben. Sie registriere nämlich genau die Zehntelsekunden und in der Nacht leuchte ihr Zifferblatt und überhaupt könne man von ihr auch die jeweiligen Stellungen der Sonne und des Mondes erkennen -- ein ganzes Stück Weltall -- und die glückliche Besitzerin dieser Strumpfbanduhr sei Miss Flora, die Tochter eines Konfektionskönigs, des Enkelkindes braver Berliner aus Breslau. B

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Harry Priegler war pünktlich. Er nahm die vier Treppen, als wären sie garnicht da und betrat das Atelier ohne Atembeschwerden, denn er war ein durchtrainierter Sportsmann. Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewussten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu haben, konnte er seine gesunden Muskeln, Nerven und  Eingeweide derart rücksichtslos pflegen, dass er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eishokeysportes galt. Er hatte die Hoffenden nicht enttäuscht. Allgemein beliebt wurde er gar bald der berühmteste linke Stürmer und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, seinen Verein oder seine Vaterstadt, Südbayern oder Grossdeutschland, immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, dass er sich ein „Foul“ zuschulden kommen liess, denn infolge seiner raffinierten Technik der Stockbehandlung und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er es nicht nötig. B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Natürlich trieb er nichts als Sport. Das Eishokey war sein Beruf, trotzdem blieb er Amateur, denn seinen nicht gerade bescheidenen Lebensunterhalt bestritten die geschlachteten Schweine. Harrys Arbeit hing in erschreckender Weise vom Wetter ab. Gab es kein Eis, hatte er nichts zu tun. Spätestens Mitte Februar wurde er arbeitslos und frühestens Mitte Dezember konnte er wieder eingestellt werden. Wenn ihm jemand während dieser Zeit auf der Strasse begegnete, so teilte er dem mit einer gewissen müden Resignation mit, dass er entweder vom Schneider kommt oder zum Schneider geht. Er trug sich recht bunt kaute Gummi und markierte mit Vorliebe den Nordamerikaner. Kurz: er war einer jener „Spitzen der Gesellschaft“, die sich in ihren eigenen Autos bei A M L Rendezvous geben , wie sich der Kastner Agnes gegenüber so plastisch ausgedrückt und über die er noch geäussert hat: „Das sind Möglichkeiten! Ich verlange zwar keineswegs, dass Du Dich prostituierst.“ Auch die übrigen Spieler seiner Mannschaft, vom Mittelstürmer bis zum Ersatzmann, waren in gleicher Weise berufstätig. Zwei waren zwar immatrikuliert an der philosophischen Fakultät, erste Sektion, jedoch dies geschah nur so nebenbei,  denn alle waren Söhne irgend welcher Schweinemetzger in Wien, Elberfeld oder Kanada. Nur der rechte Verteidiger liess sich von einer Dame, deren Mann für das Eishokey kein Gefühl hatte, aushalten. Mit diesem rechten Verteidiger vertrug sich Harry ursprünglich recht gut, aber dann trübte eine Liebesgeschichte ihre Zuneigung und seit jener Zeit hasste ihn der rechte Verteidiger. Immerhin besass er aber Charakter genug, um bei Wettkämpfen mit Harry präzis zusammenzuspielen , als wäre nichts geschehen. Der rechte Verteidiger hatte sich nämlich mit Erfolg in die Geliebte des Tormannes verliebt und diese Geliebte hatte plötzlich angefangen, sich für Harry zu interessieren . Der Tormann, ein gutmütiger Riese, hat bloss traurig gesagt: „Frauen sind halt unsportlich“ und der rechte Verteidiger hatte nichts dagegen einzuwenden, solange die Unsportliche auch ihn erhört hatte, denn er war ein grosszügiger Mann. Aber Harry hatte jene Unsportliche nicht riechen können und darüber hatte sie sich so geärgert, dass sie plötzlich den rechten Verteidiger nicht mehr riechen konnte. „Also vom Wintersport hab ich jetzt genug“, hatte sie gesagt und ist nach San Remo gefahren und hat sich dort von einem fascistischen Parteisekretär Statuten beibringen lassen, ist dann zurückgekommen und hat vom Mussolini geschwärmt und konstatiert: „In Italien herrscht Ordnung!“ Harry lernte A M L im „Diana“ kennen. Das „Diana“ und der „Bunte Vogel“ in der Adalbertstrasse zu Schwabing waren während der Inflation sogenannte Künstlerkneipen mit Künstlerkonzert und es trafen sich dort allerhand arme Mädchen, B

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

Corpsstudenten, Schieber, verkommene Schauspieler, rachsüchtige Feuilletonisten und homosexuelle Hitlerianer. Hier entstand dies Lied: Wir wollen uns mit Cognak berauschen Wir wollen unsere Weiber vertauschen Wir wollen uns mit Scheisse beschmieren Wir wollen überhaupt ein freies Leben führen! Harry hatte für Kunst nichts übrig, ihn interessierten eigentlich nur die Mäd chen, die sich möglichst billig erstehen liessen. Denn trotz seines lebemännischen Äusseren konnte er ab und zu recht geizig werden, wenn es um das Ganze ging. Überhaupt bricht bei Kavalieren seiner Art durch die Kruste der Nonchalance gar häufig überraschend primitiv eine ungebändigte Sinnenlust, eine Urfreude am Leben. So hat mal der Mittelstürmer seiner Liebe den Nachttopf auf den Kopf werfen wollen und ein anderer Mittelstürmer hat es auch getan. Als Harry und A M L sich kennen lernten, fanden sie sich sogleich sympathisch. Beide waren betrunken, Harry hatte natürlich Valuten, A M L natürlich nur mehr eine Billion, hingegen hatte er ein Mädchen, welches hinwiederum Harry nicht hatte. So bezahlte letzterer die Zeche und A M L improvisierte ein Atelierfest. Kurz nach zwei Uhr übergab sich Harry und bettelte um ein Stück Papier, jedoch A M L meinte: „Ehrensache ! Das putz ich auf, das ist Hausherrnrecht! Ehrensache!“ Und er putzte tatsächlich alles fein säuberlich auf und übergab sich dann selbst, während Harry ihm ob seiner Gastfreundschaft dankte. Dann näherte er sich einem Mädchen, das schon so müd war, dass sie ihn mit A M L verwechselte. Aber A M L verzieh Harry und meinte nur, die schönste Musik sei die Musik der Südsee. Dann schmiss er die Müde raus und so entwickelte sich zwischen den beiden Männern eine wahre Freundschaft. Harry bezahlte die Zeche der Mädchen, die A M L einlud. Und so konnte es auch nicht ausbleiben, dass Harry sich anfing, für Kunst zu interessieren. Dumpf pochte in ihm die Pflicht, lebenden Künstlern unter die Arme zu greifen. Er liess sich sein Lexikon prunkvoll einbinden, denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Er las gerne Titel und Kapitelüberschriften, aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreisskalendern. Dort las er am hundertsten Todestag Ludwig von Beethovens: „Kunst ist eigent lich undefinierbar.“ B

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Als Agnes Harry vorgestellt wurde, sagte er: „Angenehm !“ und zu A M L: „Verzeih , wenn ich wiedermal störe!“ „Oh bitte! Du weisst doch, dass ich nicht gestört werden kann! Fräulein Pollinger ist nur mein neues Modell. Ich stehe wiedermal vor dem Hintergrund. Bist Du mit dem Auto da?“ B

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

Hätte Agnes etwas Zerbrechliches in der Hand gehalten, dann hätte sie es bei dem Worte „ Auto“ wahrscheinlich fallen lassen, so unerwartet tauchte es vor ihr auf, als würde es sie überfahren -- obwohl sie sich doch seit Kastners Besuch darüber im Klaren war, dass sie oben drinnen sitzen will. Und sie überraschte sich dabei, wie gut ihr Harrys grauer Anzug gefiel und, dass sie den Knoten seiner Krawatte fabelhaft fand. Die beiden Herren unterhielten sich leise. Nämlich A M L wäre es irgendwie peinlich gewesen, wenn seine Hetäre erfahren hätte, dass er Harry vierzig Mark schuldet und, dass er diese Schuld noch immer nicht begleichen kann und, dass er Harry lediglich fragen wollte, ob er ihm nicht noch zwanzig Mark pumpen könnte -„Sie fährt sicher mit“, meinte er und betonte dies „sicher“ so überzeugt, dass es Agnes hören musste, obwohl sie nicht lauschte. Nun wurde sie aber neugierig und horchte, denn sie liebte das Wort „vielleicht“ und gebrauchte nie das Wort „sicher “. Und dies fiel ihr plötzlich auf und sie war mit sich sehr zufrieden. Scheinbar interessiert blätterte sie in den Briefen van Goghs und hörte, wie Harry von zwei Herren sprach, die ihm anlässlich seines fabelhaften Spieles in der Schweiz persönlich gratulieren wollten. Als sie ihm aber ihre Aufwartung machten, da stahlen sie ihm aus seiner Briefmarkensammlung den „schwarzen Einser“ und den „sächsischen Dreier“. Einer von ihnen  habe sich an eine Baronin attachiert und diese Baronin sei sehr lebensfreudig, nämlich sie habe sich gleich an drei Männer attachiert. Der Baron sei unerwartet nach Hause gekommen und habe nur gesagt: „Guten abend, die Herren!“ und dann sei er gleich wieder fort. Die Herren seien verdutzt gewesen und der Baron habe sich in der gleichen Nacht auf dem Grabe seiner Mutter erschossen. Harry sagte noch, er verstünde es nicht, wie man sich aus Liebe erschiessen kann. Auch Agnes verstand dies nicht. Sie dachte, was wäre das für eine Überspanntheit, wenn sie sich auf dem Grabe ihrer Mutter erschiessen würde. Oder wenn sich zum Beispiel jetzt der Eugen auf dem Grabe seiner Mutter erschiessen würde. Abgesehen davon, dass seine Mutter vielleicht noch lebt, würde ihr so etwas niemals einfallen, und auch dem Eugen wahrscheinlich vielleicht niemals. Zwar hätte es ganz so hergeschaut, als hätte er ein tieferes Gefühl für sie empfunden, denn er hätte schon ziemlich gestottert, wenn er ihr etwas Erfreuliches hätte sagen wollen. Auch Agnes stotterte einst. Zur Zeit ihrer einzigen grossen Liebe, damals, da sie mit dem Brunner aus der Schellingstrasse ging, stieg ihr auch jedesmal, wenn sie an ihn dachte, so ein tieferes Gefühl aus dem Magen herauf und blieb in der Gurgel stecken. Und wenn sie ihm gar mal unerwartet begegnete, wurde es ihr jedesmal übel vor lauter Freude, so, dass sie sich am liebsten übergeben hätte. Der Brunner aber lachte jedesmal, nur einmal wurde er plötzlich sehr ernst und streng und meinte, wenn man an nichts anderes zu B

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denken hätte, so wäre ja so eine grosse Liebe recht abwechslungsreich. Darüber war sie dann recht empört, denn sie hatte ja alles andere, an das sie sogar sehr hätte denken müssen, vergessen. Sie las ja auch damals bloss solch blöde Bücher über eifersüchtige Männer und leidenschaftliche Weiber. Und als sie dann der Brunner sitzen liess, heulte sie auf ihrer verwanzten Matraze und es fiel ihr tatsächlich ein:  was tät er sagen, wenn ich jetzt aus dem Fenster springen tät? Und vielleicht grad ihm auf den Kopf fallen tät? Seinerzeit lief sie sogar in die Kirche und betete: „Lieber Gott! Lass diesen Kelch an mir vorübergehen --“ Sie sprach plötzlich hochdeutsch, nämlich sie fand diesen Satz so wahr und wunderschön. Sie glaubte daran, dass da drinnen eine tiefe Erkenntnis steckt. Heute, wenn ihr dieser Satz einfällt, kriegt sie einen roten Kopf, so komisch kommt sie sich vor. Aus Liebe tun sich ja heut nur noch die Kinder was an! So erhängte sich erst unlängst ein Realgymnasiast wegen einer Realgymnasiastin, weil die sich mit einem Motorradfahrer einliess. Zuerst fühlte sich die Realgymnasiastin geschmeichelt, aber dann fing sie plötzlich an, von lauter erhängten Jünglingen zu träumen und wurde wegen Zerstreutheit zu Ostern nicht versetzt. Sie wollte ursprünglich Kinderärztin werden, verlobte sich dann aber mit jenem Motorradfahrer. Der hiess Heinrich Lallinger. Erst heute begreift Agnes ihren Brunner aus der Schellingstrasse, der da sagte, dass wenn zwei sich gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das ganze Geschwätz von der Seele in der Liebe, das sei bloss eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch lediglich eine Gefühlsroheit, wenn irgend eine Agnes ausser seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit Schmerzen und warum sollte er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja keine Familie gründen, dann allerdings müsste er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammenzuleben, da gehöre schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zu viel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. Heute würde Agnes antworten: „Was könnt schon aus  meim Kind werden? Es hätt nichtmal eine Tante, bei der es dann später wohnen könnt! Wenn der Mensch im Leben erreicht, dass er in einem Auto fahren kann, da hat er schon sehr viel erreicht.“ B

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„Sicher!“ hatte A M L gesagt. „Sicher fährt sie mit.“ Er war so sicher seiner Sache, er betrieb ja nicht nur psychologische Studien, sondern er empfand auch eine gewisse Schadenfreude anlässlich jeder geglückten Kuppelei, denn er durchschritt im Geiste dann immer wieder seinen Weg zu Buddha.

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betete: „LieberN ] vorübergehen --“N ] Bgeschmeichelt, aberN ] Bantworten: „WasN ] Bhat erN ] B B

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korrigiert aus: betete:„Lieber korrigiert aus: vorübergehen--“ korrigiert aus: geschmeichelt,aber korrigiert aus: antworten:„Was korrigiert aus: hatber

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Agnes befürchtete bereits, von Harry nicht aufgefordert zu werden und so sagte sie fast zu früh „ja“ und vergass ihren knurrenden Magen vor Freude über die Fahrt an den Starnbergersee. Harry hatte sie nämlich gefragt: „Fräulein , Sie wollen doch mit mir kommen -nur an den Starnbergersee?“ Unten stand das Auto. Es war schön und neu und als Agnes sich in es setzte, dachte sie einen Augenblick an Eugen, der in einer knappen Stunde an der Ecke der Schleissheimerstrasse stehen wird. Sie erschrack darüber, dass sie ihn höhnisch betrachtete, wie er so dort warten wird, -- ohne sich setzen zu können -- „Pfui!“ sagte sie sich und fügte hinzu: „Lang wird er nicht warten!“ Dann ging das Auto los. B

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Um sechs Uhr wartete aber ausser Eugen noch ein anderer auf Agnes, nämlich der Kastner. Er hatte doch erst vor vierundzwanzig Stunden zu A M L gesagt: „Also , wenn Du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich dir morgen ein tadelloses Modell für zwanzig Pfennig.  Gross, schlank, braunblond und es versteht auch einen Spass. Aber wenn Du mir nur fünf Mark leihen kannst, so musst Du dafür sorgen, dass ich Gelegenheit bekomme, um sie mir nehmen zu können. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Cognak bringe ich mit, Grammophon hast Du.“ A M L hatte dem Kastner zwar nur drei Mark geliehen, hingegen hatte er sich vom Harry Priegler ausser den vierzig abermals zwanzig Mark leihen lassen, macht zusammen plus sechzig Mark neben minus drei Mark. Es wäre also unverzeihbar töricht gewesen, wenn er dem Harry betreffs Agnes nicht entgegengekommen wäre, nur um dem Kastner sein Versprechen halten zu können. Der Kastner war ein korrekter Kaufmann und übersah auch sofort die Situation. Alles sah er ein und meinte nur: „Du hast wiedermal Dein Ehrenwort gebrochen.“ Aber dies sollte nur eine Feststellung sein, beileibe kein Vorwurf, denn der Kastner konnte grosszügig werden, besonders an manchen Tagen. An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja es war gar nicht so hässlich, es war eigentlich nichts. Das einzig unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung. B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

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Der Vater des Kastner war ursprünglich Offizier. Er hiess Alfons und jedes dritte Wort, das er sprach, schrieb oder dachte, war das Wort „eigentlich“. So hatte er „eigentlich“ keine Lust zum Leutnant, aber er hatte sich seinerzeit „eigentlich“ widerspruchslos dem elterlichen Zwange gebeugt und war in des Königs Rock geschlüpft, weil er „eigentlich“ nicht wusste, was er „eigentlich“ wollte. „Eigentlich“ konnte er sauber zeichnen, aber er wäre kein guter Künstler geworden, denn er war sachlich voller Ausreden und persönlich voller Gewissensbisse, statt  umgekehrt. Er war ein linkischer Leutnant, las Gedichte von Lenau, Romane von Tovote, kannte jede Operette und hatte Zwangsvorstellungen. In seinem Tagebuch stand: „Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Oh, warum hat mich Gott eigentlich mit Händen erschaffen!“ Die Mutter des Kastner war ursprünglich Verkäuferin in einer Konditorei und so musste der Vater naturgemäss seinen Abschied nehmen, denn als Offizier konnte er doch keine arbeitende Frau ehelichen, um den Offiziersstand nicht zu beschmutzen. Er wurde von seinem Vater, einem allseits geachteten Honorarkonsul, enterbt. „Mein Sohn hat eine Kellnerin geheiratet“, konstatierte der Honorarkonsul. „Mein Sohn hat eine Angestellte geheiratet. Mein Sohn hat eine Dirne geheiratet. Ich habe keinen Sohn mehr.“ So wurde der Leutnant Alfons Kastner ein Sklave des Kontors und war derart ehrlich, niemals dies Opfer zu erwähnen. Denn, wie gesagt, war ja dies Opfer nur ein scheinbares da ihm weitaus bedeutsamer für seine Zukunft, als selbst der Feldmarschallrang, eine Frau dünkte, die ihn durch ihre Hilflosigkeit zwang, alles zu „opfern“, um sie beschützen zu können zu bekleiden, beschuhn, ernähren -kurz : für die er verantwortlich sein musste, um sich selbst beweisen zu können, dass er doch „eigentlich“ ein regelrechter Mann sei. Er klammerte sich krampfhaft an das erste Zusammentreffen. Damals war sie so blass klein und zerbrechlich, entsetzt und hilfesuchend hinter all der Schlagsahne und Schokolade gestanden. Sie hatte sich nämlich mit einer Prinzregententorte überessen, aber da sie dies ihrem Alfons nie erzählt hatte, weil sie es selbst längst vergessen hatte, wurde er ihr hörig. Sie war noch unberührt und wurde von ihrem Alfons erst in der Hochzeitsnacht entjungfert, allerdings erst nach einem Nervenzusammenbruche seinerseits mit Weinen und Selbstmordgedanken. Denn die Frau, die ihn „eigentlich“ körperlich reizen konnte, musste wie das Bild sein, das sie später zufällig in seiner Schublade fand: eine hohe dürre Frau mit  männlichen Hüften und einem geschulterten Gewehr. Darunter stand: „Die fesche Jägerin. Wien 1894. Guido Kratochwill pinx.“ Und obwohl sie klein und rundlich war, blieb sie ihm doch ihr ganzes Leben über treu und unterdrückte jede Regung für einen fremden Mann, weil er ihr eben hünB

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Fragmentarische Fassung

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

disch hörig war. So wurde sie die Gefangene ihres falschen Pflichtgefühles und bald verabscheute sie ihn auch, verachtete ihn mit dem Urhasse der Kreatur, weil die Treue, die ihr seine Hörigkeit aufzwang, sie hinderte, sich auszuleben. Sie fing an, alle Männer zu hassen, als würde sie keiner befriedigen können und immer mehr glich sie einer Ratte. Es war keine glückliche Ehe. Und sie wurde auch nicht glücklicher, selbst da sie ihm zwei Kinder gebar. Das erste, ein Mädchen, starb nach zehn Minuten, das zweite, ein Sohn, wollte mal später „eigentlich“ Journalist werden.

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„Ich hab extra Zigaretten mitgebracht“, sagte der Kastner. Er sass bereits sechs Minuten auf dem Bette neben dem Grammophon und stierte auf einen Fettfleck an der spanischen Wand. Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ging eines Tages in der Schellingstrasse spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so, dass diese einst so innig befreundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein ausserordentliches Personengedächtnis besass. „Halloh!“ rief der vierte Fettfleck. „Ihr kennt Euch doch, wir wollen jetzt einen Cognak trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns.“ „Ich hab extra einen Cognak mitgebracht“, sagte der Kastner. „Es wäre sehr leicht  gewesen mit Deinem Grammophon und meinem Cognak, sie war ja ganz gerührt, dass ich ihr hier das beschafft hab. Die Zigaretten kosten fünf Pfennig, ich rauch sonst nur welche zu drei, aber auf die war ich schon lang scharf, sie hat eine schöne Haut. Ich glaub, ich bin nicht wählerisch. Als Kind war ich wählerisch, ich hab es mir auch leisten können, weil ich einen schönen Gang gehabt haben soll. Heut hab ich direkt wieder gehinkt.“ Heute sprach der Kastner garnicht wählerisch. Heute hinkte sein hochdeutsch und er war nicht stolz, weder auf seine Dialektik noch auf seine deutliche Aussprache. Er murmelte nur vor sich hin, als hätte er es vergessen, dass er „eigentlich“ Journalist werden wollte. Die Sonne sank schon immer tiefer und A M L konnte kein Wort herausbringen vor innerer Erregung. Denn plötzlich, wie er den Kastner so dasitzen sah, sah er einen Hintergrund. „Die Stirne dieses Kastners wäre ein prächtiger Hintergrund,“ frohlockte sein göttlicher Funke. Nämlich wenn es dämmerte offenbarten sich A M L die Hintergründe und je dunkler es wurde, umso farbenprächtiger strahlte an ihn die Ewigkeit. Es war sein persönliches Pech, dass man in der Finsternis nicht malen kann. „Es sind mazedonische Zigaretten“, sagte der Kastner. „Bulgarien ist ein fruchtbares Land. Ein Königreich. Ich war dort im Krieg und in Sofia gibt es eine grosse B

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korrigiert aus: Fettfleck.„Ihr korrigiert aus: wählerisch,

\Als f wählerisch,/ korrigiert aus: können,weil korrigiert aus: Hintergrund.“

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Kathedrale, die dann die Agrarkommunisten in die Luft gesprengt haben. Das hier ist nicht der echte Tabak, denn die Steuern sind zu hoch, wir haben eben den Feldzug verloren. Es war umsonst. Wir haben umsonst verloren.“ „Auch in der Kunst das gleiche Spiel“, meinte A M L. „Die Besten unserer Generation sind gefallen.“ „Stimmt“, philosophierte der Kastner. „Dir gehts gut, Du bist talentiert.“ „Gut?!“ schrie der Talentierte. „Gut?! Was weisst denn  Du von einem Hintergrund?!“ „Nichts“, nickte der Philosoph. Und trank seinen Cognak und es dauerte nicht lange, so war er damit einverstanden, dass Agnes mit Harry an den Starnbergersee fuhr. Eine fast fromme Ergebenheit erfüllte seine Seele und es fiel ihm weiter garnicht auf, dass er zufrieden war. Er kam sich vor wie ein gutes Gespenst, das sich über seine eigene Harmlosigkeit noch niemals geärgert hat. Selbst da der Cognak alle wurde, war er sich nicht böse. B

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Als der Kastner an der spanischen Wand den Fettfleck entdeckte, erblickte Agnes aus Harrys Auto den Starnbergersee. Die Stadt mit ihren grauen Häusern war verschwunden, als hätte sie nie in ihr gewohnt und Villen tauchten auf, rechts und links und überall, mit Rosen und grossen Hunden. Der Nachmittag war wunderbar und Agnes fuhr durch eine fremde Welt. Sie hatte die Füsse hübsch artig nebeneinander und den Kopf etwas im Nacken, denn auch der Wind war wunderbar und sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem. Harry war ein blendender Chauffeur. Er überholte jedes Auto, jedes Pferd und jede Kuh. Er nahm die Kurven, wie sie kamen und fuhr durchschnittlich vierzig, streckenweise sogar hundert Kilometer. Jedoch, betonte er, seien diese hundert Kilometer keineswegs leichtsinnig, denn er fahre ungewöhnlich sicher, er wäre ja auch bereits vier Rennen gefahren und hätte bereits viermal wegen vier Pannen keinen Preis errungen. Er könne tatsächlich von Glück reden, dass er nur mit Hautabschürfungen davongekommen ist, trotzdem er sich viermal überschlagen hätte. Ausnahmsweise sprach Harry nicht über das Eishokey , sondern beleuchtete Verkehrsprobleme. So erzählte er, dass für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgend ein Fussgänger die Schuld trägt. So dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, dass er falls er solch einen Fussgänger überfahren hätte, einfach abblenden würde. So habe er einen Freund in Berlin und dieser Freund hätte mit seinem fabelhaften Lancia eine Fussgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über B

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korrigiert aus: A M L . korrigiert aus: Kastner.„Dir korrigiert aus: Welt.Sie korrigiert aus: Jedoch,betonte gemeint ist: Eishockey korrigiert aus: Schul korrigiert aus: ablenden korrigiert aus: verbotenem

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die Strasse gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja sogar zum Prozess sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fussgängerin Landgerichtsratswittwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, dass sein Freund zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt wird. „Es käme mir ja auf paar tausend Märker nicht an“, hätte der Freund gesagt, „aber  ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen“. Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fussgängerin nicht leid täte trotz des verbotenen Lichtes. „Nein “, hätte er gesagt, „prinzipiell nicht!“ Er sei eben auf seinem Recht bestanden. Jedesmal, wenn Harry irgend einen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusammenstossen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann hasste er diesen Staat, der die Fussgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Überhaupt der deutsche Staat, meinte er, solle sich lieber kümmern, dass mehr gearbeitet wird, damit man endlich mal wieder hochkommen könne, anstatt, dass er für die Fussgänger sorgt! Fussgänger würden so und so überfahren und nun erst recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Auslandes, da er mit seinem Auto jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst zwecks Erholung von der anstrengenden Eishokeysaison ein Stückchen Welt durchfahre. So sei er erst unlängst durch Dalmatien gefahren und in Salzburg habe er sich das alte Stück von Jedermann angesehen. Der Reinhardt wäre ja ein berühmter Regisseur und die Religion sei schon etwas sehr mächtiges. In Salzburg hätte er auch seinen Berliner Freund getroffen und dessen Frau, eine Ägypterin, eine enorme Schönheit mit Zuckerrohrplantagen. Sie wäre enorm reich und die Ägypter wären enorm genügsame Leute und falls ihnen etwas nicht genügen sollte, schon würden die Engländer schiessen. Ohne Pardon. Die Engländer seien eben enorme Kaufleute. Im Frühjahr habe er in Baden-Baden zwei Engländerinnen getroffen und deren Meinung sei gewesen, es wäre ein  Skandal, wie der Staat die Automobilistinen belästige. Der Staat solle doch lieber gegen den drohenden Bolschewismus energisch vorgehen, als gegen Luxusreisende. Und im Sommer habe er sich auf dem Fernpass zwei Französinen genähert, die hätten genau dieselben Worte gebraucht und im Herbst habe er in Ischl zwei Wienerinen gesprochen und die hätten auch genau dieselben Worte gebraucht, obwohl es Jüdinen gewesen seien. Und Harry fuhr fort, der Bolschewismus sei ein Verbrechen und jeder Bolschewist ein Verbrecher. Er kenne zwar eine Ausnahme, den Sohn eines Justizrates und der wäre ein weltfremder Idealist, aber trotzdem interessiere sich dieser Weltfremde nur für elegante Damen. Dieser Idealist sehe immer enorm ausgemergelt aus und er habe ihm mal erklärt, dass wenn eine Dame nicht elegant wäre, könne er keinen KonB

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

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takt zu ihr kriegen und dies sei sein Konflikt. Und er habe noch hinzugefügt: „Wenn das so weitergeht, gehe ich noch an meinem Konflikt zugrunde.“ Und Harry erklärte Agnes, dieser Salonkommunist sei nämlich enorm sinnlich. 31.

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Sie fuhren durch Possenhofen. Hier wurde eine Kaiserin von Österreich geboren, und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander verwandt und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloss Berg. Es war eine vornehme Gegend. Vor Feldafing spielten zwei vollschlanke Jüdinen Golf. Eine vollschlanke Majorin fing erst vor kurzem an. „Essen tun wir in Feldafing“ , entschied Harry. „In Feldafing ist ein annehmbares Publikum, seit der Golfplatz draussen ist. Ich fahr oft heraus, in der Stadt kann man ja kaum mehr essen, überall sitzt so ein Bowel.“ Und er meinte noch, früher sei er auch oft nach Tutzing gefahren, das liege sechs  Kilometer südlich, aber jetzt könne kein anständiger Mensch mehr hin, nämlich dort stünde jetzt eine Fabrik und überall treffe man Arbeiter. B

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In Feldafing sitzt man wunderbar am See. Besonders an einem Sommerabend ohne Wind. Dann ist der See still und Du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterscheiden, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend. Agnes kannte keinen einzigen Berg und Harry erklärte ihr, wie die Gipfel und Grate heissen und ob sie gefährlich zu bezwingen wären, langwierig, leicht oder überhaupt nicht. Denn Harry war auch Hochtourist, aber schon seit geraumer Zeit wollte er von der Hochtouristik nichts mehr wissen, da er es nicht mitansehen konnte, wie grauenhaft unsportlich sich neunundneunzig Prozent der Hochtouristen benehmen. Er verübelte es ihnen, dass sie sich statt einer sportlich einwandfreien Ausrüstung nur Lodenmäntel kaufen können und er verzieh es ihnen nicht, dass sie untrainiert waren, weil sie im Jahre nur vierzehn Tage Urlaub bekommen. Diese neunundneunzig Prozent vereckelten ihm Gottes herrliche Bergwelt und nun besass er nur drei Interessensphären: das Eishokeyspielen , das Autofahren und die Liebe. Manchmal verwechselte er diese Begriffe. Dann liebte er das Eishokey , spielte mit dem Auto und fuhr mit den Frauen. Seine Einstellung Schlittschuhen und Autozubehörteilen gegenüber kann ruhig als pedantisch bezeichnet werden. Hingegen Frauen gegenüber besass er ein bedeutend nachsichtigeres Herz: er zog nur eine ungefähre Grenze zwischen zwanzig und B

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vierzig Jahren und selbst innerhalb dieser Grenze war er nicht besonders wählerisch, bloss ordinär. 

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Im Seerestaurant zu Feldafing sassen ausser Harry und Agnes noch elf Damen und elf Herren. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die grösste Mühe gab, anders auszusehen. Die Damen waren durchaus gepflegt und sahen daher sehr neu aus, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett musste, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal in der Nase bohrte. Die Speisekarte war lang und gross, aber Agnes konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, sondern hochdeutsche, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. „Königinsuppe?“ hörte sie des Kellners Stimme und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, denn das Knurren kränkte ihn, da er einen schlechten Charakter hatte. Harry bestellte zwei Wiener Schnitzel mit Gurkensalat. Bei „Wiener“ fiel Agnes Eugen ein -- es war sieben Uhr und sie dachte, jetzt stehe jener Österreicher wahrscheinlich nicht mehr an der Ecke der Schleissheimerstrasse. Jetzt spreche jener Österreicher vielleicht gerade eine andere Münchnerin an und gehe dann mit der auf das Oberwiesenfeld und setze sich unter eine Ulme. Und Agnes freute sich auf den Gurkensalat, nämlich sie liebte jeden Salat und sagte sich: „So sind halt die Männer!“ Seit Juni 1927 hatte Agnes keinen Gurkensalat gegessen. Damals hatte sie ein Mediziner zum Abendessen im „Chinesischen Turm“ eingeladen und hernach ist sie mit ihm durch den englischen Garten gegangen. Dieser Mediziner hatte sehr gerne Vorträge gehalten und hatte ihr auseinandergesetzt, dass das Verzehren eines Gurkensalates auch nur eine organische Funktion ist, genau wie das Sitzen unter einer Ulme. Und dann hatte er ihr von einem bedauernswerten Genie erzählt, das den Unterschied  zwischen der Mutter- und Dirnennatur entdeckt hatte. Aber schon kurz nach dieser Entdeckung, hatte jenes bedauernswerte Genie diesen Unterschied plötzlich nicht mehr so genau erkennen können und hat sich erschossen, wahrscheinlich weil er sich mit dem Begriff Weib hatte versöhnen wollen. Und dann hatte der Mediziner auch noch gemeint, dass er noch nicht wüsste, ob Agnes eine Mutter- oder Dirnennatur sei. B

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Die Wiener Schnitzel waren wunderbar, aber Harry liess das seine stehen, weil es ihm zu dick war und bestellte sich russische Eier und sagte: „Prost!“ Auch der Wein war wunderbar und plötzlich fragte Harry: „Wie gefall ich Ihnen?“ „Wunderbar“, lächelte Agnes und verschluckte sich, nicht weil sie immerhin übertrieben hatte, sondern weil sie eben mit einem richtigen Hunger ihren Teil ver19 23

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zehrte. Es schmeckte ihr derart, dass der Direktor des Seerestaurants anfing, sie misstrauisch zu beobachten, als hielte er es für wahrscheinlich, dass sie bald einen Löffel verschwinden lässt. Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich , als hätten sie es nicht nötig zu essen, als wären sie der Materie entwachsen. Als wären sie vergeistigt und sie sind doch nur satt. „Wissen Sie“, sagte Harry plötzlich, „dass ich etwas nicht ganz verstehe: wieso kommt es, dass ich bei Frauen soviel Glück habe? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sich vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann? Ich kann jede Frau haben, aber das ist nicht das richtige.“ Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: „Wie mach ich es nur, dass ich auf sie naufkomm? Das Beste ist, ich warte, bis es finster ist, dann fahr ich  zurück und ich bieg in einen Seitenweg ein. Nach Starnberg und wenn sie nicht will, dann fliegt sie raus.“ „Es ist nicht das richtige,“ fuhr er laut fort. „Die Frauen sagen: ich kann hypnotisieren. Aber ob ich die Liebe finde? Ob ich überhaupt eine Liebe finde? Ob es überhaupt eine wahre Liebe gibt? Wissen Sie, was ich unter „Liebe “ verstehe?“ Er verfinsterte sich noch mehr, denn plötzlich musste er gegen eine Blähung ankämpfen. Er kniff die Lippen zusammen und sah recht unglücklich aus, während Agnes dachte: „Jetzt hat der so ein wunderbares Auto und ist nicht glücklich. Was möcht der erst sagen, wenn er zu Fuss gehen müsst?“ B

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Als Agnes mit ihrem Gurkensalat und Harry mit seinen russischen Eiern fertig war, beschimpfte er den Kellner mit dem schlechten Charakter, der untertänigst davonhuschte, um das Dessert zu holen. Es war noch immer nicht finster geworden, es dämmerte nur und also musste Harry noch ein Viertelstündchen mit Agnes Konversation treiben. „Sehen Sie jene Dame dort am dritten Tisch links?“ fragte er. „Jene Dame hab ich auch schon mal gehabt. Sie heisst Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstrasse acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, dass sie verheiratet ist und, dass ihr Mann sein Geschäftsfreund ist. Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishokey gespielt hab. Sie heisst Lotte Böhmer und wohnt in der Meinickestrasse vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heisst Weber und wohnt in der Franz-Josef- Strasse , die Nummer hab ich vergessen. Die hat imB

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Lesetext

mer zu mir gesagt: „Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stossen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.“ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stossen wollte. Und hinter Ihnen -- schauen Sie sich nicht um! -- sitzt eine grosse Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestossen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heisst Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstrasse zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: „Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, dass Du mich mit meiner Frau betrügst?“ Ich hab gesagt: „Hand aufs Herz! Es ist wahr!“ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: „Ich danke Dir, lieber Harry!“ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, dass ich ja nichts dafür kann, denn er weiss, dass der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil ist. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein grosser Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heisst Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstrasse bei der Gabelsbergerstrasse.“ „Zahlen!“ rief Harry, denn nun wurde es finster und die Sterne standen droben und ditto der Mond. Auch die Nacht war wunderbar und dann ging das Auto los. B

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Nach Starnberg, im Forstenriederpark, bog Harry in einen Seitenweg, hielt plötzlich und starrte regungslos vor sich hin, als würde er einen grossen Gedanken suchen, den er  verloren hat. Agnes wusste, was nun kommen wird, trotzdem fragte sie ihn, was nun kommen würde? Er rührte sich nicht. Sie fragte, ob etwas los wäre? Er antwortete nicht. Sie fragte, ob das Auto kaputt sei? Er starrte noch immer vor sich hin. Sie fragte, ob vielleicht sonst etwas kaputt sei? Er wandte sich langsam ihr zu und sagte, es wäre garnichts kaputt , doch hätte sie schöne Beine. Sie sagte, das sei ihr bereits bekannt. B

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korrigiert aus: Ihnen--schauen korrigiert aus: um!--sitzt Korrektur von fremder Hand: starr\t/e korrigiert aus: eien korrigiert aus: ihn , korrigiert aus: kaput korrigiert aus: kaput gestrichen: i korrigiert aus: kaput

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 114

Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er sagte, das sei ihm auch bereits bekannt und das Gras wäre sehr trocken, weil es seit Wochen nicht mehr geregnet hat. Dann schwieg er wieder und auch sie sagte nichts mehr, denn sie dachte an das gestrige Gras. Plötzlich warf er sich auf sie, drückte sie nieder, griff ihr zwischen die Schenkel und steckte seine Zunge zwischen ihre Zähne. Weil er aber einen Katarrh hatte, zog er sie wieder zurück, um sich schneuzen zu können. Sie sagte, sie müsse spätestens um neun Uhr in der Schellingstrasse sein. Er warf sich wieder auf sie, denn er hatte sich nun ausgeschneuzt. Sie biss ihm in die Zunge und er sagte: „Au!“ Und dann fragte er, ob sie denn nicht fühle, dass er sie liebt. „Nein“, sagte sie. „Das ist aber traurig“, sagte er und warf sich wieder auf sie. BN

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37. 15

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Sie wehrte sich nicht. So nahm er sie, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, obwohl er bereits in Feldafing bemerkt hatte, dass sie ihn niemals besonders aufregen könnte,  da sie ein Typ war, den er bereits durch und durch kannte, aber er fühlte sich verpflichtet, sich ihr zu nähern, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, ganz abgesehen von seiner kostbaren Zeit zwischen fünf und neuneinhalb Uhr, die er ihr gewidmet hatte. Sie wehrte sich nicht und es war ihr klar, dass sie so tat, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte. Nur seine Zeit fand sie nicht so kostbar, wie er. Er hätte sich verdoppeln dürfen und sie hätte sich nicht gewehrt, als hätte sie nie darüber nachgedacht, dass man das nicht darf. Sie hätte wohl darüber nachgedacht, doch hatte sie es einsehen müssen, dass die Welt, wenn man auch noch soviel nachdenkt, doch nur nach kaufmännischen Gesetzen regiert wird und diese Gesetze sind allgemein anerkannt, trotz ihrer Ungerechtigkeit. Durch das Nachdenken werden sie nicht anders, das Nachdenken tut nur weh. Sie liess sich nehmen, ohne sich zu geben und ihre Gefühllosigkeit tat ihr wohl. Was sonst in ihrer Seele vorging, war nicht von Belang, es war nämlich nichts. Sie sah den Harry über sich, vom Kinn bis zum Bauch, und drei Meter entfernt das Schlusslicht seines Autos und dessen Nummer: IIA 16747. Und über das alles wölbte sich der Himmel, aus dem der grosse weisse Engel kam und verkündete: „Vor Gott ist kein Ding unmöglich!“ Mit unendlichem Gleichmut vernahm sie die Verkündigung und genau so, wie ihr das alles bisher wunderbar schien, erschien ihr nun plötzlich alles komisch. Der Himmel, der Engel, das Auto, der Harry und besonders das karierte Muster seiner fabelhaften Krawatte, deren Ende ihr immer wieder in den Mund hing. B

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 115

Fragmentarische Fassung

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Agnes ging durch den Forstenriederpark. Dem entschwundenen Schlusslicht nach. Sie wusste weder wo sie war, noch, wie weit sie sich von ihrer Schellingstrasse befand. Sie kannte nur die ungefähre Richtung und wusste, dass sie nun nach Hause gehen muss, statt in einem wunderbaren Auto zu sitzen. Erst allmählich wurde es ihr klar, dass sie nun fünf, sechs oder sieben Stunden lang laufen muss, um ihre Schellingstrasse zu erreichen. Die Nacht war still und hinter den alten Bäumen rechts und links lag gross und schwarz der Wald. In diesem Wald jagte einst der königlich bayerische Hof und veranstaltete auch grosse Hoftreibjagden. Nämlich in diesem Walde wohnte viel Wild und all diese Hirsche, Rehe, Hühner und Schweine wurden königlich gehegt, bevor man die Schweine durch eine königliche Meute zerreissen oder die Hirsche durch hunderte königliche Treiber in den Starnbergersee treiben liess, um sie dort vom Kahn aus königlich erschlagen zu können. Heut ist dies alles staatlich und man treibt die Jagd humaner, weil die Treibjagden zu teuer sind. Erst nach zehn Minuten gewöhnte sich Agnes daran, nichts mehr komisch zu finden, sondern gemein. Es war doch alles leider zu wahr und sie überzeugte sich, dass ihre Schuhe nun bald ganz zerreissen werden und dann fürchtete sie sich auch, denn im deutschen Reich wird viel gemordet und geraubt. Zwar sei das Rauben nicht das schlimmste, überlegte sie. Es sei doch bedeutend schlimmer, dass sie nun allein durch den Wald gehen muss, denn wie leicht könnte sie ermordet werden, zum Beispiel aus Lust, aber der Harry würde nie bestraft werden, sondern nur der Mörder. Überhaupt seien die Richter oft eigentümlich veranlagt. So habe ihr erst vor vier  Wochen das Berufsmodell Fräulein Therese Seitz aus der Schellingstrasse erzählt, dass sie 1927 der Motorradfahrer Heinrich Lallinger vom Undosawellenbad in die Schellingstrasse fahren wollte, aber plötzlich sei er in einen Seitenweg eingebogen, um sie dann weiter drinnen im Wald zu vergewaltigen. Sie habe gesagt, er solle sofort halten, da sie sonst abspringen würde, er habe aber nur gelächelt und die Geschwindigkeit verdoppelt, aber trotz der sechzig Kilometer sei sie abgesprungen und hätte sich den Knöchel gebrochen. Sie habe dann den Lallinger angezeigt wegen fahrlässiger Körperverletzung und Freiheitsberaubung, aber der Oberstaatsanwalt habe ihr dann später mitgeteilt, dass er das Verfahren gegen Herrn Heinrich Lallinger einge38

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SeitzN ]

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Korrektur von fremder Hand: Se\i/tz

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 116

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Lesetext

Es war sehr komisch und plötzlich gab ihr Harry eine gewaltige Ohrfeige, riss sich aus ihr und brüllte: „Eine Gemeinheit! Ich streng mich an und Du machst nichts!  Eine Gemeinheit! Ich bin da und Du bist nicht da! Jetzt fahr zu Fuss, faules Luder!“ Es war sehr komisch. Entrüstet sprang er in sein Auto und dann ging das Auto los. Sie sah noch die Nummer: IIA 16747. Dann war das Auto verschwunden. Es war sehr komisch.

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 118

Fragmentarische Fassung

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

stellt hat, weil ihm kein Verschulden nachzuweisen sei, da es ja bekannt sei, dass sich junge Mädchen, die sich abends mit einem Motorrad nach Hause fahren liessen, es als selbstverständlich erachteten, dass erst zu gewissen Zwecken ein Umweg gemacht werden würde. Freiheitsberaubung liege also nicht vor und sie sei selbst daran schuld gewesen, dass sie sich den Knöchel gebrochen hat. 39.

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Agnes hörte Schritte. Das waren müde schleppende Schritte und bald konnte sie einen kleinen Mann erkennen, der vor ihr herging. Sie hätte ihn fast überholt und übersehen, so dunkel war es geworden. Auch der Mann hörte Schritte, blieb stehen und lauschte. Auch Agnes blieb stehen. Der Mann drehte sich langsam um und legte den Kopf bald her bald hin, als wäre er kurzsichtig. „Guten Abend“, sagte der Mann. „Guten Abend“, sagte Agnes.  „Habens nur keine Angst, Fräulein “, sagte der Mann. „Ich tu Ihnen nix. Ich wohn in München und geh nachhaus.“ „Habn wir noch weit bis München?“ fragte Agnes. „Ich komm von Kochel“, sagte der Mann. „Den grössten Teil hab ich hinter mir.“ „Ich komm grad von da“, sagte Agnes. „So“, sagte der Mann und schien garnicht darüber nachzudenken, was dies „von da“ bedeuten könnte. Sie gingen wieder weiter. Es sah aus, als würde er hinken, aber er hinkte nicht, es sah eben nur so aus. „Was klappert denn da?“ fragte Agnes. „Das bin ich“, sagte der Mann und sprach plötzlich hochdeutsch. „Ich hab nämlich eine sogenannte künstliche Ferse und einen hölzernen Absatz seit dem Krieg.“ B

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Agnes hat es nie erfahren, dass der Mann Sebastian Krattler hiess und in der Nähe des Sendlingerberges wohnte. Er hat sich ihr weder vorgestellt, noch hat er ihr erzählt, dass er von Beruf Schuster war, dass er aber nirgends Arbeit fand und also, obwohl er bereits seit fast dreissig Jahren eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, auf die Walze gehen musste, nachdem er noch vorher im Weltkrieg mit einer künstlichen Ferse ausgezeichnet worden ist. Auch hat er es ihr verschwiegen, dass er einen Neffen im Wallgau bei Mittenwald hatte, einen grossen Bauern, bei dem er irgend eine Arbeit zu finden hoffte. Aber dieser Neffe hatte für ihn wegen seiner Kriegsauszeichnung keine Arbeit, denn die Bauern sind recht verschmitzte Leute. B

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 119

Fragmentarische Fassung

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

Aber in Tyrol würden die Pfaffen eine Kirche nach der anderen bauen und die höchstgelegenste Kirche stünde am Rande der Gletscher. Das seien lauter gottgefällige Werke, denn die Tyroler seien halt genau wie die  Nichttyroler recht religiös. Oder vielleicht nur schlecht. Oder blöd. „Dass anders wird, erleb ich nimmer“, sagte der Mann. „Was?“ fragte Agnes. „Sie werdens vielleicht noch erlebn“, sagte der Mann und meinte noch, wenn es jetzt Tag wäre, dann könnte man schon von hier aus die Frauentürme sehen.

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Um Mitternacht erblickte Agnes eine Bank und sagte, sie wolle sich etwas setzen, weil sie kaum mehr weiter könne und ihre Schuhe wären nun auch schon ganz zerrissen. Der Mann sagte, dann setze er sich auch, die Nächte seien ja noch warm. Sie setzten sich und auf der Banklehne stand: „Nur für Erwachsene“. Der Mann wollte ihr gerade sagen, es wäre polizeilich verboten, dass sich Kinder auf solch eine Bank setzen oder, dass man auf solch einer Bank schläft, da schlief Agnes ein. Der Mann schlief nicht. Nicht weil es polizeilich verboten war, sondern weil er an etwas ganz anderes dachte. Er dachte einen einfachen Gedanken. „Wenn nur ein anderer einen selbst umbringen könnt“, dachte der Mann. Und Agnes träumte einen einfachen Traum: Sie fuhr in einem wunderbaren Auto durch eine wunderbare Welt. Auf dieser Welt wuchs alles von allein und ständig. Sie musste nichts bezahlen und alles hatte einen unaussprechlichen Namen, so einen richtig fremdländischen, es war alles anders als hier. „Hier ist es nämlich wirklich nicht schön“, meinte ein Herr. Dieser Herr hatte einen weissen Hut, einen weissen Frack und weisse Hosen, weisse Schuhe und weisse Augen.  „Ich bin der Papst der Kellner“, sagte der Herr, „und ich hab in meiner Jugend im Forstenriederpark die königlichsten Agnesse erlegt. Wir trieben sie in den Starnbergersee hinein und gaben ihnen vom Kahn aus gewaltige Ohrfeigen. Eigentlich heiss ich garnicht Harry, sondern Franz.“ Und Agnes ging durch einen Wald, es war ein Ulmenwald und unter jeder Ulme sass ein Eugen. Es waren da viele hunderte Ulmen und Eugene und sie hatten alle die gleichen Bewegungen. „Agnes“, sprachen die Eugene , „wir haben auf Dich gewartet an der Ecke der Schleissheimerstrasse, aber wir hatten dort keinen Platz, wir sind nämlich zuviel. Übrigens: war der Gurkensalat wirklich so wunderbar?“ Da schwebte der grosse weisse Engel daher und hielt eine Gurke in der Hand. „Vor Gott ist keine Gurke unmöglich“, sagte der Engel. Der Morgenwind ging an der Bank vorbei und der Mann sagte: „Das ist der Morgenwind“. B

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Korrektur von fremder Hand: heiss[e] korrigiert aus: Eugne korrigiert aus: sagte:Das

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 121

Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)



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Lesetext

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 122

Bevor die Sonne kommt, geht ein Schauer durch die Menschen. Nicht weil sie vielleicht Kinder der Nacht sind, sondern weil das Quecksilber vor Sonnenaufgang um einige Grade sinkt. Das hat seine atmosphärischen Ursachen und physikalischen Gesetze, aber Sebastian Krattler wollte nur festgestellt wissen, dass der Morgenwind, der immer vor der Sonne einherläuft, kühl ist. Er lief über die träumende Agnes quer durch Europa und München und natürlich auch durch die Schleissheimerstrasse, an deren Ecke Eugen auf Agnes gewartet hat. 43.

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Eugen stand bereits um zehn Minuten vor sechs an jener Ecke und wartete bis dreiviertelsieben. Bis sechs Uhr ging er ihr immer wieder etwas entgegen, ihre Schellingstrasse hinab, aber ab Punkt sechs hielt er sich peinlich an die verabredete Ecke, denn er dachte, Agnes könne ja auch unerwartet aus irgend einer anderen Richtung kommen und dann fände sie eine Ecke ohne Eugen. Sie kam jedoch aus keiner Richtung und zehn Minuten nach sechs sagte er sich, Frauen seien halt unpünktlich. Er war den ganzen Tag über wieder herumgelaufen und hatte trotzdem keine Arbeit gefunden. Er hatte bereits seinen Frack versetzen müssen und nahm sich vor, dass er sich heute auf dem Oberwiesenfeld anders benehmen wird, als gestern. Heute wolle er die Agnes nicht körperlich begehren, sondern in Ruhe lassen und bloss mit ihr sprechen. Über irgendetwas sprechen. Er besass noch ganze vier Mark zwanzig und es war ihm auch bekannt, dass er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anspruch hat und er erinnerte sich, dass er 1915 in Wolhynien einen Kalmüken sterben sah, der genauso starb, wie ein österreichi-scher Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. Agnes kam noch immer nicht und um den Kalmüken zu verscheuchen, rechnete er sich aus, wieviel Schillinge, Franken, Lire und Lei vier Mark zwanzig sind. Er hatte lange nichts mehr addiert und stellte nun resigniert fest, dass er betreffs Kopfrechnen ausser Übung ist. Früher, während der Inflation, da hatte keiner so kopfrechnen können wie er. Überhaupt ging es ihm vorzüglich während der Geldentwertung, er hatte ja kein Geld und war der beliebteste Kellner in der Bar und auch die Bardame war in ihn verliebt. Sie hiess Kitty Lechleitner und man hätte es ihr garnicht angesehen, dass sie Paralyse hatte, wenn sie nicht plötzlich angefangen hätte alles was sie von sich gab wieder aufzuessen. Sie hatte einen grandiosen Appetit und starb im Steinhof bei Wien und war doch immer herzig und freundlich, nur pünktlich konnte sie nicht sein. B

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 123

Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

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Als Agnes den Starnbergersee erblickte, befürchtete Eugen, dass ihr etwas zugestossen ist. Nämlich er hatte einst ein Rendezvous mit einer Kassierin und während er sie erwartete, wurde sie von einem Radfahrer angefahren und zog sich eine Gehirnerschütterung zu. Er wartete ewig lange und schrieb ihr dann einen beleidigenden Brief und erst drei Wochen hernach erfuhr er, dass die Kassierin fünf Tage lang bewusstlos war und, dass sie sehr weinte, als sie seinen beleidigenden Brief las und, dass sie den Radfahrer verfluchte. „Nur nicht ungerecht sein“, dachte Eugen und zählte bis zwanzig. Nämlich wenn Agnes bis zwanzig nicht kommen sollte, dann würde er gehen. Er zählte sechs mal bis zwanzig und sie kam nicht. Er ging aber nicht, sondern sagte sich, dass alle Weiber unzuverlässig sind und verlogen. So verlogen, dass sie garnicht wissen könnten, wann sie lügen. Sie würden auch lügen, nur um einem etwas angenehmes sagen zu können. So hätte  doch diese Agnes gestern ausdrücklich gesagt, dass sie sich auf das Oberwiesenfeld freut. Auch Agnes sei halt eine Sklavennatur, aber dafür könnten ja die Weiber nichts, denn daran wären nur die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten. Dass ihn Agnes versetzt hatte, dies fiel ihm bereits um Punkt sechs ein, doch glaubte er es erst um dreiviertelsieben. „Wenn ich ein Auto hätt“, meinte er, „dann tät mich keine versetzen, vorausgesetzt, dass sie kein Auto hätt, dann müsst ich nämlich ein Flugzeug haben.“ Aber trotzdem er sich dies sagte, wusste er garnicht, wie recht er hatte. B

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Während Harry in Feldafing den Gurkensalat bestellte, ging Eugen langsam die Schellingstrasse entlang und hielt einen Augenblick vor der Auslage des Antiquariats. Er sah das „Weib vor dem Spiegel“ und dachte, gestern nacht sei er noch dagestanden und jetzt gehe er daran vorbei. Es fiel ihm nicht auf, dass das „Weib auf dem Pantherfell“ aus der Auslage verschwunden ist. Nämlich am Nachmittag war ein Kriminaler zu der Tante gekommen und hat ihr mitgeteilt, dass sich ein Feinmechaniker aus der Schellingstrasse über das „Weib auf dem Pantherfell“ sittlich entrüstet hat, weil er wegen seiner achtjährigen Tochter auf einen gewissen hochwürdigen Herrn schlecht zu sprechen wäre. Und der Kriminaler hat der Tante auseinandergesetzt, dass solche Pantherfellbilder schon garnichts mit Kunst zu tun hätten und, dass er eine Antiquariatsdurchsuchung machen müsste. Und dann hat der Kriminaler einen ganzen Koffer voller „Weiber auf dem Pantherfell“ beschlagnahmt und hat dabei fürchterlich getrenzt und sich ganz genau nach dem Kastner erkundigt. Er hat nämlich den Kastner verhaften wollen wegen gewerbsmässiger Verbreitung unzüchtiger Darstellungen und einem fahrlässigen Falscheid. B

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 124

Fragmentarische Fassung

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

Dann ist der Kriminaler gegangen.  Hierauf hat die Krumbier, damit sich die Tante beruhige, eine Geschichte von einem sadistischen Kriminaler erzählt, der sich ihr genähert hatte, als sie sechzehn Jahre alt gewesen ist. Er hatte ihr imponieren wollen und hatte ihr lauter Lustmordphotographien gezeigt. „So Kriminaler werden leicht pervers“, hat die Krumbier gesagt. Aber die Tante hat sich nicht beruhigen lassen und hat gesagt, wie die Agnes nach Hause kommt, haut sie ihr eine herunter.

ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 125

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Eugen ging auch an dem Hause vorbei, in dessem Atelier der Buddhist A M L als Untermieter malte. Das Atelier hatte er nämlich von einem anderen Untermieter gemietet, der sich aber weigerte, des Buddhisten Untermiete dem Mieter auszuzahlen, weil er sich benachteiligt fühlte, da der Mieter bei der Abfassung des Untermietekontraktes die offizielle Miete um das Doppelte gefälscht hatte. Der Kastner beschäftigte sich gerade wieder mit einigen Fettflecken und ahnte noch nichts von jenem Kriminaler. Heute hätte ihn jener Kriminaler auch nicht besonders erregt, denn er wusste ja nicht mehr, war er noch besoffen oder schon blöd. An der Türkenstrasse hielt Eugen vor dem Fenster eines rechtschaffenen Photographen. Da hing ein Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie hatten ihre Sonntagskleider an, blickten ihn hinterlistig und borniert an und alle acht waren ausserordentlich hässlich. Trotzdem dachte Eugen, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie haben könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus und das Aussterben sei doch etwas traurig, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen Anspruch auf die reichsdeutsche  Arbeitslosenunterstützung habe. Und während Agnes ihren Gurkensalat ass, dachte er an sie. „Also sie hat mich versetzt, das Mistvieh“, dachte er. Aber er war dem Mistvieh nicht böse, denn dazu fühlte er sich zu einsam. Er ging nur langsam weiter, bis dorthin, wo die Schellingstrasse anfängt und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los und er konnte es sich garnicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei. Es fiel ihm nämlich ein, dass ein Blinder sagt: „Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche. Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!“ B

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Es wurde Nacht und Eugen wollte nicht nach Hause, denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er müde war. Er wäre am liebsten trotz seiner letzten vier Mark zwanzig in das Schelling-Kino gegangen, wenn dort der Tom Mix aufgetreten wäre, jener Wildwestmann, dem alles gelingt. Als er den das letztemal sah, überholte er gerade zu Pferd einen Expresszug, sprang aus dem Sattel auf die Lokomotive, befreite seine Braut aus dem Schlafwagen, wo sie gerade ein heuchlerischer Brigant vergewaltigen wollte, erlegte zehn B

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 126

Fragmentarische Fassung

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

weitere Briganten, schlug zwanzig Briganten in die Flucht und wurde an der nächsten Station von seinem treuen Pferde und einem Priester erwartet, der die Trauung sofort vollzog. Eugen liebte nämlich alle Vieher, besonders die Pferde. Wegen dieser Pferdeliebe wäre er im Krieg sogar fast vor das Kriegsgericht gekommen, weil er einem kleinen Pferdchen dem ein Splitter zwei Hufe weggerissen hatte, den Gnadenschuss gab und durch diesen Gnadenschuss seine ganze Kompagnie in ein fürchterliches Kreuzfeuer brachte. Damals fiel sogar ein Generalstabsoffizier. Im Schelling-Kino gab man keinen Tom Mix, sondern ein Gesellschaftsdrama, die Tragödie einer jungen schönen Frau. Das war eine Millionärin, die  Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren liess, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in Baden-Baden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge sass, im Karneval tanzte und den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten jungen Millionärssohn, der sie dezentsinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie denn auch im Ligurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich . Es war ein sehr tragischer Film und er hatte nur eine lustige Episode: die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein grosses Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure gross aus. Aber der Chauffeur wusste nicht genau, wie die vornehme Welt Messer und Gabel hält und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der vornehmen Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig. B N

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 127

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Es wurde immer später. Eugen ging über den Lenbachplatz und vor den grossen Hotels standen wunderbare Autos. In den Hotelgärten sassen lauter vornehme Menschen und ahnten nicht, dass sie aufreizend lächerlich wirken, sowie man mehrere ihrer Art beisammen sieht. Auch die Kellner waren sehr vornehm und es war nicht das erstemal, dass Eugen  seinen Beruf hasste. Er ging nun bereits seit dreiviertelsieben ununterbrochen hin und her und war voll Staub, draussen und drinnen. Er sagte sich: „Also wenn die Welt zusammenstürzt, B

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 128

Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

dreissig Pfennig geb ich jetzt aus und trink ein Bier, weil ich mich auch schon gern setzen möcht.“ Die Welt stürzte nicht zusammen und Eugen betrat ein kleines Café in der Nähe des Sendlingertorplatzes. „Heute Künstlerkonzert“ stand an der Türe und als Eugen sich setzte, fing ein Pianist an zu spielen, denn Eugen war der einzige Gast. Es sass zwar noch eine Dame vor ihrer Limonade, aber die schien zum Café zu gehören und verschlang ein Magazin. Der Pianist spielte ein rheinisches Potpouri und Eugen las in der „Sonntagspost“, dass es den Arbeitslosen zu gut geht, sie könnten sich ja sogar ein Glas Bier leisten. Und in der Witzecke sah er eine arbeitslose Familie, die in einem riesigen Fasse am Isarstrand wohnte, sich sonnte, badete und ihrem Radio lauschte. Die Dame mit der Limonade hatte es garnicht gehört, dass Eugen eintrat, so sehr war sie in ihr Magazin vertieft. Sie hätte sonst aufgehorcht, weil sie eine Prostituierte war, jedoch das Magazin war zu schön. Sie las und las: Eine mehrwöchige Kreuzfahrt auf komfortabler Luxusyacht unter südlichem Himmel -- wer hätte nicht davon geträumt? Wochen des absoluten Nichtstuns liegen vor Dir, sonnige Tage und helle Nächte, es gibt kein Telephon, keine Verabredungen, keine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Die Begriffe „Zeit“, „Arbeit“ , „Geld“ entschwinden am Horizont wie verdunstende Wölkchen. Einladende Liegestühle stehen unter dem Sonnendeck, kühle Klubsessel erwarten Dich im Rauchzimmer , Radio und Bibliothek sind  zur Hand, über Deine Sicherheit beruhigen sich dreissig tüchtige Matrosen, für Dein leibliches Wohl sorgt ein erstklassiger Barmixer. Nach dem Essen wird das Grammophon aufgezogen, oder eine der Damen spielt Klavier, Du tanzt mit Phyllis oder Dorothy , oder Du spielst ein bisschen Whist, um Dich bei den älteren Damen beliebt zu machen, im Spielzimmer hast Du Gelegenheit beim Poker oder Bakkarat zu verlieren. Oder aber Du lehnst mit einem blonden „Flapper“ an der Reeling und führst Mondscheingespräche, während der Papa in einem wunderbar komfortablen Deckstuhl liegt und den Rauch seiner Henry Clay zu den Sternen hinaufbläst, gedankenvoll die nächste Transaktion überlegend. ---- Nichts in der Welt gibt in diesem Masse das Gefühl dem Alltag entrückt zu sein. B

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Eugen trank apathisch sein Bier und blätterte apathisch in der Zeitung. „Der Redner sprach formvollendet“, stand in der Zeitung. „Man war froh, wiedermal den Materialismus überwunden zu haben“ -- da fühlte Eugen, dass ihn ein Mensch anstarrt. Der Mensch war die Prostituierte. Sie hatte ihr Magazin ausgelesen und Eugen entdeckt. 4 8 16 18–19 21 21 21 24–25 27 30

Sendlingertorplatzes. „HeuteN ] PotouriN ] BHimmel --N ] B„Zeit“, „Arbeit“N ] BRauchzimmerN ] BsindN ] B N] BDorothyN ] BReelingN ] Büberlegend. ---- NichtsN ] B B

korrigiert aus: Sendlingertorplatzes.„Heute gemeint ist: Potpourri korrigiert aus: Himmel-korrigiert aus: „Zeit“,„Arbeit“ korrigiert aus: Rauch zimmer Korrektur von fremder Hand: si\nd/ gestrichen: sind Korrektur von fremder Hand: Dor\o/thy gemeint ist: Reling korrigiert aus: überlegend.----Nichts

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 129

Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

„Guten Abend, Herr Reithofer!“ sagte die Prostituierte. „Haben Sie mich denn vergessen? Ich bin doch -- na Sie wissen doch, wer ich bin, Herr Reithofer!“ Er wusste es nicht, aber da sie ihn kannte, musste er sie ja auch kennen. Sie setzte sich an seinen Tisch und sagte, das sei Zufall, dass sie sich hier getroffen haben, und über so einen Zufall könnte man einen ganzen Roman schreiben. Einen  Roman mit lauter Fortsetzungen. Sie las nämlich leidenschaftlich gern. Sie hiess Margarethe Swoboda und war ein aussereheliches Kind. Als sie geboren wurde, wäre sie fast gleich wieder gestorben. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass damals Gott der Allgütige den Säugling Margarethe Swoboda ganz besonders geliebt haben musste, denn er wollte ihn ja zu sich nehmen. Aber die geschickte Hebamme Frau Wohlmut aus Wiener-Neustadt schlug scharf über die göttlichen Finger, die Margarethchen erwürgen wollten. „Au!“ zischte der liebe Gott und zog seine Krallen hurtig zurück, während die gottlose Hebamme meinte: „So Gott will, kommt das Wurm durch!“ Und Gott der Gerechte wurde ganz sentimental und seufzte: „Mein Gott, sind die Leut dumm! Als ob man es in einem bürgerlichen Zeitalter als aussereheliches Kind gar so angenehm hätt! Na servus!“ B

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Ursprünglich war Margarethe Swoboda, genau wie des Kastners Mutter, Verkäuferin in einer Konditorei. In jener Konditorei verkehrten Gymnasiasten, Realschüler, Realgymnasiasten und höhere Töchter aus beschränkten Bürgerfamilien und böse alte Weiber, die Margarethe Swoboda gehässig hin und her hetzten, schickanierten und beschimpften, weil sie noch jung war. Ein Gymnasiast, der Sohn eines sparsamen Regierungsrates, verliebte sich in sie und kaufte sich jeden Nachmittag um vier Uhr für fünf Pfennig Schokolade, nur um ihren Bewegungen schüchtern folgen zu können. Dann schrieb er mal während der Geographiestunde auf dem Rande der Karte des malayischen Archipels, was er alles mit ihr tun würde, falls er den Mut fände, ihr seine Liebe zu erklären. Hierbei wurde er von einem  Studienrat ertappt, der Atlas wurde beschlagnahmt und nach genauer Prüfung durch ein Kollegium von Steisspaukern unter dem Vorsitz eines klerikalen Narren für unsittlich erklärt. Er flog aus der Schule und ist auf Befehl seines Vaters, eines bürokratischen Haustyrannen, in einer Besserungsanstalt verkommen. Einmal ging er dort durch, knapp vor Weihnachten, aber der Polizeihund Cäsar von der Schmittenhöhe stellte ihn auf einem verschneiten Kartoffelacker und dann musste er beichten und kommunizieren und dann verbleuten ihn drei Aufseher mit Lederriemen und ein blonder Katechet mit Stiftenkopf und frauenhaften Händen riss ihm fast die Ohren aus. B

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korrigiert aus: haben , korrigiert aus: Kind, korrigiert aus: ermal gestrichen: Studienrat ertappt,

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Fragmentarische Fassung

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Margarethe Swoboda hörte davon und obzwar sie doch nichts dafür konnte, da sie ja seine Leidenschaft nie erkannt hatte, weil sie erst siebzehn Jahre alt und überhaupt geschlechtlich unterentwickelt war, fühlte sie sich dennoch schuldbewusst, als hätte sie zumindest jenen Cäsar von der Schmittenhöhe dressiert. Sie wollte fort. Raus aus der Konditorei. Sie sagte sich: „Ach, gäbs nur keine Schokolade, gäbs nur keine Gymnasiasten, es gibt halt keine Gerechtigkeit!“ Und sie kaufte sich das Buch „Stenographie durch Selbstunterricht“. Nachts, nach ihrer täglichen vierzehnstündigen Arbeitszeit, erlernte sie heimlich Gabelsbergers System. Dann bot sie sich in der meistgelesensten Zeitung Österreichs als Privatsekretärin an. Nach drei Tagen kam folgender Brief: Wertes Fräulein! Teilen Sie mir näheres über Ihren Busen und über Ihre sonstigen Formen mit. Wenn Sie einen schönen und vor allem festen Busen haben, kann ich Ihnen sofort höchst angenehme Stellen zu durchweg distinguierten Herren vermitteln. Auch möchte ich wissen, ob Sie einen Scherz verstehen und entsprechend zu erwidern im Stande sind. Hochachtungsvoll! Die Unterschrift war unleserlich und darunter stand:  Vermittlerin mit prima Referenzen. Briefe wolle man unter Chiffre 8472 adressieren. Diskretion Ehrensache. Dieses „Diskretion Ehrensache“ ist ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. Seit es Götter und Menschen, Kaiser und Knechte, Herren und Hörige, Beichtväter und Beichtkinder, Adelige und Bürger, Aufsichtsräte und Arbeiter, Abteilungschefs und Verkäuferinnen, Familienväter und Dienstmädchen, Generaldirektoren und Privatsekretärinnen -- kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ Und seit jener Zeit, da die Herrschenden erkannt hatten, dass es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend erhebender, edler und belustigender rauben, morden und betrügen liess -- seit also jener Gekreuzigte gepredigt hatte, dass auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit wird allgemein herumgetuschelt: „Diskretion Ehrensache!“ Wer wagt es also die heute herrschende Bourgoisie anzuklagen, dass sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhabenen Selbstbetruges entblösst, indem sie schlicht die Frage stellt: „Na was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihr einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tut? Nein, das kann man nicht. Die Bourgoisie ist nämlich überaus ehrlich. Sie spricht ihre Erkenntnis offen aus, dass die wahre Liebe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten Prostitution ist. Dass die Ausgebeuteten unter sich auch ohne B

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

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Selbstunterricht“.N ] IhreN ] BEhrensache“N ] BPrivatsekretärinnen f HerrscherN ] BSatz: „ImN ] Bliess -- seitN ] Bherumgetuschelt: „DiskretionN ] BBourgoisieN ] BBourgoisieN ] B B

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Fragmentarische Fassung

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Prostitution lieben könnten, das bezweifelt die Bourgeoisie nicht, denn sie hält die Ausgebeuteten für noch dümmer, da sie sich ja sonst nicht ausbeuten liessen. Die Bourgoisie ist nämlich überaus intelligent. Sie hat auch erkannt, dass es selbst unter Ausbeutern nur Ausbeutung gibt. Nämlich, dass die ganze Liebe nur eine Frage der kaufmännischen Intelligenz ist. Kann man also die Bourgoisie anklagen, weil sie alles auf den Besitzstandpunkt  zurückführt? Nein, das kann man nicht. Und so bildete auch die Chiffre 8472 nur ein winziges Steinchen des Kolossalmosaiks in der Kuppel des kapitalistischen Venustempels. Auch Margarethe Swoboda vernahm in jener Konditorei die Stimme: „Du wirst ihnen nicht entrinnen!“ „Wieso?“ fragte Margarethe Swoboda, liess den Brief fallen und lallte geistesabwesend vor sich hin: „Nein, das gibt es doch nicht, nein, das kann es doch nicht geben --“ und die Stimme schloss schadenfroh: „Vielleicht, wenn du Glück hast! Wenn du Glück hast!“ B

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Margarethe Swoboda hatte kein Glück. Zwar stand in ihrem Horoskop, dass sie eine glückliche Hand hat, nämlich was sie auch in die Hand nähme, würde gewissermassen zu Gold. Nur vor dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücksmonat und was sie im April auch beginnen möge, das gelänge alles vorbei. „Da dürft ich halt überhaupt nicht leben“, meinte Margarethe Swoboda, denn sie hatte im April Geburtstag. Dies Horoskop stellte ihr die Klosettfrau des Lokals und behauptete, dass sie das Weltall genau kennt bis jenseits der Fixsterne. So hätte sie auch ihrem armen Pintscher Pepperl das Horoskop gestellt und in diesem Horoskop wäre gestanden, dass der arme Pepperl eines fürchterlichen Todes sterben wird. Und das traf ein, denn der arme Pepperl wurde von einem Bahnwärter aufgefressen, nachdem er von einem D-Zug überfahren worden war. Die Klosettfrau hiess Regina Warzmeier und war bei allen Gästen sehr beliebt. Sie wusste immer Rat und  Hilfe und alle nannten die liebe Frau „Grossmama“. Die Grossmama muss mal sehr hübsch gewesen sein, denn es war allen Gästen bekannt, dass sich, als sie noch ein junges Ding war, ein polnischer Graf mit ihr eingelassen hatte. Dies ist ein österreich-ungarischer Gesandtschaftsattaché gewesen, ein rutinierter Erotomane und zynisches Faultier, der sich mal zufällig auf der Reise nach seinen galizischen Gütern in München aufgehalten hatte. B

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ProstitutionN ] BourgoisieN ] BBourgoisieN ] Bentrinnen!“N ] BPintscherN ] BHilfeN ] BrutinierterN ] B B

Korrektur von fremder Hand: Prost\it/ution gemeint ist: Bourgeoisie gemeint ist: Bourgeoisie korrigiert aus: entrinnen !“ gemeint ist: Pinscher Korrektur von fremder Hand: H[l]i\l/fe gemeint ist: routinierter

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

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Damals war Bayern noch Königreich und damals gab es auch noch ein ÖsterreichUngarn. Das war um 1880 herum, da hat er fast nur mit ihr getanzt, auf so einer richtigen Redoute mit Korsett und Decolleté und der Attaché ist mit der Grossmama am nächsten Mittag in einer hohen standesgemässen Kutsche in das Isartal gefahren , dort sind sie dann zu zweien am lauschigen Ufer entlang promeniert. Sie haben von den blauen Bergen gesprochen und von dem, was dahinterliegt. Er hat vom sonnigen Süden erzählt, vom Vesuv und von Sizilien, von römischen Ruinen und den Wellen der Adria. Er hat ihr einen Ring aus Venedig geschenkt, ein Schlänglein mit falschen Rubinaugen und der Inschrift „Memento!“ Und dann hat sie sich ihm gegeben auf einer Lichtung bei Höllriegelskreuth und er hat sie sich genommen. Es war natürlich Nacht, so eine richtig kleinbürgerlich-romantische Nacht und Vormärz. Über die nahen Alpen wehte der Frühlingswind und abends hing der Mond über schwarzen Teichen und dem Wald. Nach zwei Wochen blieb bei der Grossmama das aus, das sie mit dreizehn Jahren derart erschreckt hatte, dass sie wimmernd zu ihrer älteren Freundin Helene gerannt war, denn sie hatte gefürchtet, nun werde sie verbluten müssen. Aber Helene hatte sie umarmt, geküsst und gesagt: „Im Gegenteil, nun bist Du ein Fräulein.“ Nun aber wusste sie, dass sie bald Mutter sein wird. Sie dachte, wenn sie nur  wahnsinnig werden könnte, und wollte aus dem Fenster springen. Sie biss sich alle Fingernägel ab und schrieb drei Abschiedsbriefe, einen an ihren Vater und zwei an den polnischen Geliebten . Ihr Vater war ein langsamer melancholischer Färbermeister, der unter dem Pantoffel seiner lauten herrschsüchtigen Gattin stand und alle maschinellen Neuerungen hasste, weil er weder Kapital noch Schlagfertigkeit besass, immerhin aber genug Beobachtungsgabe, um erkennen zu können, wie er von Monat zu Monat konkurrenzunfähiger wird. Diesem schrieb die Grossmama: „Mein Vater! Verzeih Deiner unsagbar gefallenen Tochter Regina.“ Und dem Attaché schrieb sie: „Warum lasst Du mich nach einem Worte von Dir verschmachten? Bist Du denn ein Schuft?“ Diesen Brief zerriss sie und begann den zweiten: „Nimmer wirst Du mich sehen, bete für meine sündige Seele. Bald blühen Blümlein auf einem frischen armen Grabe und die verlassene Nachtigall aus dem Isartal singt von einem zerbrochenen Glück --“ Und sie beschrieb ihr eigenes Begräbnis. Sie erlebte ihre eigene Himmelfahrt. Sie sah sich selbst im Schattenreich und tat sich selbst herbstlich leid. Ein heroischer Engel beugte sich über sie und sprach: „Weisst Du, was das ist ein österreich-ungarischer Attaché? Nein, das weisst Du nicht, was das ist ein österreich-ungarischer Attaché. Ein österreich-ungarischer Attaché verlässt keine werdende Mutter nicht, überhaupt als polnischer Graf, Du kleingläubiges Geschöpf! Schliess das Fenster, es zieht!“ B

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korrigiert aus: Mi tag korrigiert aus: gefah en korrigiert aus: Gebiebten korrigiert aus: Glück--“

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Fragmentarische Fassung

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

Sie schloss es und glaubte wieder an das verlogene Märchen vom Prinzen und dem spiessbürgerlichen Bettelkind. Dabei wurde sie immer bleicher, hatte selten Appetit und erbrach sich oft heimlich. An den lieben Gott hatte sie nie so recht geglaubt, nämlich sie konnte ihn sich nicht so recht vorstellen hingegen um so inniger an den heiligen Antonius von Padua. Und  sie betete zu dem himmlischen Jüngling mit der weissen Lilie um einen baldigen Brief von ihrem irdischen Grafen. Natürlich kam keiner, denn freilich war auch auf jener Redoute nicht alles so, wie es die Grossmama gerne sah. Sie ist keineswegs vor allen anderen Holden dem österreich-ungarischen Halunken aufgefallen, sondern dieser hat sich zuerst an eine Bachantin gerieben, aber nachdem deren Kavalier etwas von Watschen sprach, war seine Begeisterung merklich abgekühlt. Aus der ersten Verlegenheit heraus tanzte er mit der Grossmama, die als Mexikanerin maskiert war, und besoff sich aus Wut über den gemeinen Mann, der leider riesige Pratzen hatte. In seinem Rausche fand er die Grossmama ganz poussierlich und versprach ihr den Ausflug in das Isartal. Am nächsten Tage fand er sie allerdings vernichtend langweilig, und nur um nicht umsonst in das Isartal gefahren zu sein, nahm er sie. Hierbei musste er an eine langbeinige Kokotte denken, um den physischen Kontakt mit der kurzbeinigen Grossmama herstellen zu können. Als dann im Spätherbst die Grossmama an einem Sonntagvormittag auf der Treppe zusammenbrach und eine Tochter gebar, da verstiessen sie ihre Eltern natürlich nach Sitte und Recht. Die Mutter gab ihr noch zwei Ohrfeigen und der Vater schluchzte, er verstehe das ganze Schicksal überhaupt nicht, was er denn wohl nur verbrochen habe, dass gerade seine Tochter unverheiratet geschwängert worden ist. Selbst die Stammgäste hatten es nie erfahren, was aus Grossmamas Töchterlein  geworden ist. Die Grossmama schwieg und man munkelte allerlei. Sie hätte einen rechtschaffenen Hausbesitzer geheiratet oder sie sei eine Liliputanerin vom Oktoberfest, munkelten die einen und die anderen munkelten, sie sei von ihren Pflegeeltern als dreijähriges Kind so geprügelt worden, dass sie erblindet ist und die Pflegemutter ein Jahr Gefängnis bekommen hat, während der Pflegevater freigesprochen worden sei, weil er ja nur zugeschaut hätte. Und wieder andere munkelten, sie wäre bloss eine einfache Prostituierte in Hamburg, genau wie die Margarethe Swoboda in München. „Sie erlauben doch, dass ich mich zu Ihnen setz“, sagte Margarethe Swoboda zu Eugen. „Das freut mich aber sehr, dass ich Sie wiedermal seh, Herr Reithofer! Seit wann sind Sie denn in München? Ich bin schon seit Mai da, aber ich fahr bald fort, ich hab nämlich gehört, in Köln soll es für mich besser sein. Dort ist doch heuer die Pressa, das ist eine grosse Journalistenausstellung, hier diese Heim und Technikausstellung war für mich nichts besonderes.“ Eugen wusste noch immer nicht, dass sie Margarethe Swoboda heisst und er konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kennen könnte. Sie schien ihn nämlich geB

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vorstellenN ] himmlischenN ] BBachantinN ] BIsartalN ] BSonntagvormittagN ] BhabN ] B B

korrigiert aus: vorstelle korrigiert aus: himmlichen gemeint ist: Bacchantin Korrektur von fremder Hand: Isarta[g] l korrigiert aus: Sonntag-vormittag korrigiert aus: ahb

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K2/TS8 (Korrekturschicht)

nau zu kennen und Eugen wollte sie nicht fragen, woher er sie kenne, denn sie freute sich sehr ihn wiederzusehen und erinnerte sich gerne an ihn. „Nicht jede Ausstellung ist gut für mich“, meinte Margarethe Swoboda. „So hab ich bei der Gesoleiausstellung in Düsseldorf gleich vier Tage lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab in meinem Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei Euerer Gesoleiausstellung und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, dass ich keine Geschäfte mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere anspreche. Da hab ich erst gemerkt, dass ich vier Tag  lang in der Gsundheitsabteilung gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon und da hab ichs freilich verstanden, dass ich vier Tag lang nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hat es mich vor mir selbst gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen , Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.“ Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Deutschen Museum in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine grosse vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau und Eugen dachte: „Vielleicht verwechselt sie mich, es heissen ja auch andere Leut Reithofer und vielleicht sieht mir so ein anderer Reithofer zum verwechseln ähnlich.“ So wurde es immer später und plötzlich bemerkte Eugen, dass Margarethe Swoboda schielt. Zwar nur etwas, aber es fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Krieg in Pressburg im Restaurant Klein gearbeitet hatte. Das ist ein freundlicher Mensch gewesen, ein grosses Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieser Kollege geheiratet und zu Eugen gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, zwar nur etwas, aber sie hat ein guts Herz.“ Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hiess Karl Swoboda. „Als mein Mann in Montenegro fiel“, sagte Margarethe Swoboda, „da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer. Ich hab mir gedacht, ist der jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, dass Sie nicht gefallen sind. Erinnern Sie sich noch an meine Krapfen, Herr Reithofer?“ Jetzt erinnerte sich Eugen auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt und da hatte ihm jener seine Frau vorgestellt und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, dass die  beiden Betten nicht zueinander passten, denn das eine war weiss und das andere braun -- und nach dem Pferderennen ist der Karl Swoboda sehr melancholisch gewesen, weil er fünf Gulden verspielt hatte, und hatte traurig zu Eugen gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!“ B

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reithofer“, sagte Karl Swobodas Wittwe. 54. 5

Als Eugen an die beiden Betten in Pressburg dachte, die nicht zueinander passten, näherte sich ihm die Grossmama. Wenn Grossmama nichts zu tun hatte, stand sie am Buffet und beobachtete die Menschen. So hatte sie auch bemerkt, dass das „Gretchen“ mit Eugen sympathisierte, weil sie sich garnicht so benahm, wie sie sich Herren gegenüber benehmen musste. Sie sprach ja mit Eugen, wie mit ihrem grossen Bruder und solch grosse Brüder schätzte die Grossmama und setzte sich also an Eugens Tisch. Das Gretchen erzählte gerade, dass im Weltkrieg viele junge Männer gefallen sind und, dass nach dem Weltkrieg sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Grossmama meinte, für Offiziere sei es schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren geht. So hätten sich viele Offiziere nach dem Krieg total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte die mal in einer grossen Herrentoilette gedient und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe für ein Fass Bier verkauft hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eierkognaks eingetauscht und dieser Fliegeroffizier sei so versoffen gewesen, dass er statt mit „Guten Tag!“ mit „Prost!“ gegrüsst hat. Eugen meinte, der Weltkrieg habe freilich keine guten Früchte getragen und für Offiziere wäre es freilich besser,  wenn ein Krieg gewonnen würde, aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, dass wenn wir den Weltkrieg gewonnen hätten, dass er auch dann unter derselben allgemeinen wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er jetzt schon wieder mal seit zwei Monaten arbeitslos und es bestünde schon nicht die geringste Aussicht, dass es besser werden wird. Hier mischte sich der Pianist ins Gespräch, der sich auch an den Tisch gesetzt hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, wenn Eugen kein Mann, sondern eine Frau und kein Kellner , sondern eine Schneiderin wäre, so hätte er für diese Schneiderin sofort eine Stelle. Er kenne nämlich einen grossen Schneidergeschäftsinhaber in Ulm an der Donau und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat , aber Eugen dürfte halt auch keine Österreicherin sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher und deshalb engagiere er nur sehr ungern Österreicher. Aber ihm zu Liebe würde dieser Kommerzienrat vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch SchneiB

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Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

derin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen und von diesem Kind dürfe die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett in Neu-Ulm um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei. Er spreche perfekt deutsch, englisch, französisch, italienisch und rumänisch. Auch etwas slowakisch, tschechisch, serbisch, kroatisch und verstehe ungarisch und türkisch. Aber türkisch könne jener Kommerzienrat weder lesen noch schreiben. Der Pianist war sehr geschwätzig und wiederholte sich gerne. So debattierte er jeden Tag mit der Grossmama und kannte keine Grenzen. Er erzählte ihr, dass seinerzeit jener Höhlenmensch, der als erster den ersten Ochsen an die Höhlenwand gezeichnet hatte, von allen anderen Menschen als grosser Zauberer angebetet worden ist und so müsste auch heute noch je-der Künstler angebetet werden, auch die Pianisten. Dann stritt er sich mit der Grossmama , ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heisst, worauf die Grossmama jeden Tag erwiderte, auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener grosse Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte und sie könne es sich schon garnicht vorstellen, wie so etwas angefangen würde, worauf der Pianist meinte, aller Anfang sei schwer und er fügte noch hinzu, dass die Dreissigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewusstseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Grossmama und dachte, der Pianist sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen. B

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Als der Pianist sagte, dass er für Eugen sofort eine Stelle hätte, wenn -- da dachte Eugen an Agnes. Er sagte sich, das wäre ja eine Stelle für das Mistvieh, das er gestern in der Thalkirchnerstrasse angesprochen und das ihn heute in der Schleissheimerstrasse versetzt habe. Gestern hätte sie ihm ja erzählt, dass sie Schneiderin wäre und bereits seit fünf Monaten keine Stelle finden könnte. Heute könnte er ihr ja sofort eine Stelle verschaffen, es würde ihm vielleicht nur ein Wort kosten, als wäre er der Kaiser von China, den es zwar auch bereits nicht mehr geben würde. Gestern auf dem Oberwiesenfeld hätte er es nicht geglaubt, dass er heute versetzt wird. „Sie ist halt ein Mistvieh“, sagte er sich und fügte hinzu: „Wahrscheinlich ist auch der Pianist ein Mistvieh!“ Und Eugen warf mit den Mistviehern nur so um sich, alles und jedes wurde zum Mistvieh, die Swoboda, die Grossmama, der Tisch, der Hut, das Bier und das Bierglas -- wie das eben so manchmal geschieht. „Aber es ist doch schön von dem Pianistenmist-vieh, dass er mir helfen möcht“, fiel es ihm plötzlich auf. „Er weiss doch garnicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh bin. Ich bin doch auch eins, ich hab ja auch schon Mistvieher versetzt.“ „Überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen“, dachte er weiter. „Wenn sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser. Es ist doch direkt B

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unanständig, wenn man einem Mistvieh nicht helfen tät, obwohl man könnt, bloss weil es ein Mistvieh ist.“ Und dann fiel es ihm auch noch auf, dass es sozusagen ein angenehmes Gefühl ist, wenn man sich gewissermassen selbst bestätigen kann, dass man einem Mistvieh geholfen hat. Ungefähr so: Zeugnis. Ich bestätige gerne, dass das Mistvieh Eugen Reithofer ein hilfsbereites Mistvieh ist. Es ist ein liebes gutes braves Mistvieh. Eugen Reithofer Mistvieh.

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„Sagen Sie, Herr Pianist“, wandte sich Eugen an das hilfsbereite Mistvieh, „ich kann ja jetzt leider nicht weiblich werden, aber ich weiss ein Mädel für Ihren Kommerzienrat in Ulm. Sie ist eine vorzügliche Schneiderin und Sie täten mir persönlich einen sehr grossen Gefallen, Herr Pianist“, betonte er und das war natürlich gelogen. Der Pianist sagte, das wäre garnicht der Rede wert, denn das kostete ihm nur einen Telephonanruf, da sich jener Kommerzienrat zufällig seit gestern in München befände und er könne ihn sofort im Hotel Deutscher Kaiser anrufen -- und schon eilte der hilfsbereite Pianist ans Telephon. „Also das ist ein rührendes Mistvieh“, dachte  Eugen und Margarethe Swoboda sagte: „Das ist ein seltener Mensch und ein noch seltenerer Künstler.“ Und die Grossmama sagte: „Er lügt.“ Aber ausnahmsweise täuschte sich die Grossmama, denn nach wenigen Minuten erschien der Pianist, als hätte er den Weltkrieg gewonnen. Der Kommerzienrat war keine Lüge und seine wunderbaren Beziehungen waren nur insofern übertrieben, dass es nicht stimmte, dass sich seine Tochter in Neu-Ulm lediglich der Erziehung ihres kommerzienrätlichen Kindes widmen kann, sondern sie musste als Schneiderin weiterarbeiten und erhielt nur ein kleines kommerzienrätliches Taschengeld. Der Pianist konnte sich vor lauter Siegesrausch nicht sofort wieder setzen, er ging also um den Tisch herum und setzte Eugen auseinander , Agnes könne die Stelle sofort antreten, jedoch müsste sie morgen früh Punkt sieben Uhr dreissig im Hotel Deutscher Kaiser sein. Dort solle sie nur nach dem Herrn Kommerzienrat aus Ulm fragen und der nimmt sie dann gleich mit, er fährt nämlich um acht Uhr wieder nach Ulm. Eugen fragte ihn, wie er ihm danken sollte, aber der Pianist lächelte nur: vielleicht würde mal Eugen ihm eine Stelle verschaffen, wenn er kein Pianist wäre, sondern eine Schneiderin. Eugen wollte wenigstens das Telephongespräch bezahlen, aber selbst dies liess er nicht zu. „Man telephoniert doch gern mal für einen Menschen“, sagte er. Selbst die Grossmama war gerührt, aber am meisten war es der brave Pianist. B

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 143

Fragmentarische Fassung

K2/TS8 (Korrekturschicht)

Lesetext

57.

5

So kam es, dass am nächsten morgen Eugen bereits um sechs Uhr durch die Schellingstrasse ging, damit er sich mit seiner Hilfe nicht verspätet, auf dass er sich ein gutes Zeugnis ausstellen kann. Er wollte gerade bei der Tante im vierten Stock läuten, da sah er Agnes über die  Schellingstrasse gehen. Sie kam von ihrer Bank für Erwachsene und war zerknüllt und elend und Eugen dachte: „Schau, schau, bis heut morgen hat mich das Mistvieh versetzt!“ Die Sonne schien in die Schellingstrasse und der Morgenwind überschritt bereits den Ural, als Agnes über Eugen erschrack. Doch er fragte sie nicht, woher sie komme, was sie getan und warum sie ihr Wort gebrochen und ihn versetzt hätte, sondern er teilte ihr lediglich mit, dass er für sie eine Stelle fand, dass sie schon heute früh zu einem richtigen Kommerzienrat gehen muss, der sie dann noch heute früh nach Ulm an der Donau mitnehmen würde. Sie starrte ihn an und sagte, er solle sich doch eine andere Agnes aussuchen für seine blöden Witze und sie bitte sich diese Frozzelei aus und überhaupt diesen ganzen Hohn -- aber er lächelte nur, denn das Mistvieh tat ihm plötzlich leid, weil es ihm den Kommerzienrat nicht glauben konnte. Das Mistvieh murmelte noch etwas von Rohheit und dann weinte es. Er solle es doch in Ruhe und Frieden lassen, weinte das Mistvieh, es sei ja ganz kaputt und auch die Schuhe seien nun ganz kaputt. Eugen schwieg und plötzlich sagte das Mistvieh, das könne es ja garnicht geben, dass ihr ein Mensch eine Stelle verschafft, nachdem sie den Menschen versetzt hätte. Dann schwieg auch das Mistvieh. Und dann sagte es: „Ich hätt wirklich nicht gedacht dass Sie extra wegen mir herkommen, Herr Reithofer.“ „Wissens, Fräulein Pollinger“, meinte der Herr Reithofer, „es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, aber man hat es noch nicht ganz heraus, was das eigentlich ist. Ich hab halt von einer Stelle gehört und bin jetzt da. Es ist nur gut, wenn man weiss, wo ein Mensch wohnt.“ B

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58. Und jetzt ist die ganze Geschichte aus.

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viertenN ] MistviehN ] Bes.N ] BSieN ] B B

korrigiert aus: Vierten korrigiert aus: MIstvieh korrigiert aus: es . korrigiert aus: sie

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 144

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ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 145

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)



B

Lesetext

1. N

ÖLA 3/W 134 – BS 5 a [2], Bl. 1

Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Eugen kennen lernte, da war es noch Sommer. Sie waren Beide arbeitslos und Eugen knüpfte daran an, als er sie ansprach. Das war in der Thalkirchnerstrasse vor dem städtischen Arbeitsamt und er sagte, er sei bereits zwei Monate ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher. Sie sagte, sie sei bereits fünf Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr schöne Stadt und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wollte, er habe so lange nicht mehr diskuriert, denn er kenne hier nur seine Wirtin und das sei ein pedantisches Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante und schwieg. Er lächelte und sagte, er freue sich sehr, dass er sie nun kennen gelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Nun zog eine Reichswehrkompagnie an ihnen vorbei und zwar mit Musik. Als der Reit die Reichswehr sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Mächte, die stärker wären als der Mensch, aber so dürfe man nicht denken, denn dann müsste man sich aufhängen. Sie sagte, er solle doch nicht so traurig daherreden, er solle lieber in den Himmel schauen, denn dort oben fliege gerade ein schöner Doppeldecker . Er sagte, das wisse er schon und die Welt werde immer enger, denn bald wird man von da droben in zwei Stunden nach Australien fliegen, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn von \Textverlust\

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ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 3

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Agnes fragte Eugen, ob auch er das fühle, wie schwül der Abend sei und dann: sie denke nun schon so lange darüber nach und könne es sich garnicht vorstellen,

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[1]|1| war[r] [Hierauf gingen sie spazieren. Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauerstrasse, dann die Augustenstrasse entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld.] |Nun f Musik.| [Eugen]|der Reit| [ehemaligen Kasernen] |Reichswehr| daherreden[,]|,| [hier sei nun das Oberwiesenfeld und er solle doch lieber sehen, wie weit heut der Horizont wär und wie still die Luft, nur ab und zu kreise über einem ein Flugzeug, denn dort drüben sei der Flughafen] |er f Doppeldecker| dr[üb]|ob|en [Das war Ende August 1928. Es hatte wochenlang nicht mehr geregnet und man prophezeite einen kurzen trüben Herbst und einen langen kalten Winter. Die Landeswetterwarte konstatierte, dass das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein und auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Am Nachmittag hatte es zwar dreimal gedonnert, aber wieder nicht geregnet und nach Sonnenuntergang war es noch derart drückend schwül, als hätte die Luft Fieber. Erst um Mitternacht setzte sich langsam der Staub auf die verschwitzte Stadt.]

232

Fragmentarische Fassung

5

K2/TS9 (Korrekturschicht)

was er für einen Beruf hätte. „Kellner“, sagte er, und hätte es keinen Weltkriege gegeben \Textverlust\ \Textverlust\ dass die Mutter denke: warum lebt das Mädel? Sie habe noch heut ab  und zu Angst, obwohl nun die Mutter seit fünf Jahren tot sei. So habe sie erst neulich geträumt, sie sei wieder ganz klein und ein General mit lauter Orden sei in der Küche erschienen und habe gesagt: „Im Namen seiner Majestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!“ Und die Mutter habe nur gesagt: „Soso, wenn er nur nicht wieder den Hausschlüssel verliert.“ Und der General habe präsentiert und sei verschwunden und die Mutter habe sich vor sie hingeschlichen und sie entsetzlich gehässig angeglotzt. Dann habe sie das Licht ausgedreht, weil es plötzlich Nacht geworden sei, und den Gashahn aufgedreht und etwas vor sich hingemurmelt, das habe geklungen wie eine Prozession. Aber plötzlich sei es unheimlich licht geworden und das war überirdisch. Und Gottvater selbst sei zur Tür hereingekommen und habe zur Mutter gesagt: „Was tust Du Deinem Kinde? Das ist strengstens verboten Frau Pollinger!“ Dann habe der Gottvater das Fenster aufgerissen und den Gashahn geschlossen. B

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ÖLA 3/W 134 – BS 5 a [2], Bl. 2

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Lesetext

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Und Agnes dachte, wenn sie heut an ihre Kindheit zurückdenkt, so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draussen scheint die Sonne, \Textverlust\ Aber auch das ist freilich alles ganz anders gewesen.  Dies Haus steht noch heute in Regensburg, und im dritten Stock links erlag 1923 Frau Helene Pollinger der Kopfgrippe. Sie war die Witwe des auf dem Felde der Ehre gefallenen Artilleristen und Zigarettenvertreters Martin Pollinger. Und ungefähr fünf Jahre später, Ende August 1928, ging ihre Tochter Agnes mit einem arbeitslosen Kellner aus Österreich über das Münchener Oberwiesenfeld und erzählte: „Als sie meine Mutter begrabn habn, da war es der achtundzwanzigste Oktober und dann bin ich von Regensburg zur Tante nach München gefahrn. Ich war, glaub ich, grad vierzehn Jahr alt und hab im Zug sehr gefroren, weil die Heizung hin war und das Fenster kein Glas nicht gehabt hat, es war nämlich grad Infalation. Die Tante hat B

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[Und Agnes erklärte Eugen: „Solche Dummheiten träumt man oft, aber das war eine blöde Dummheit.“] Korrektur von fremder Hand: an\ /ihre \auch/ [Der Himmel war verbaut und durch das Fenster jenes Zimmers sah man auf einen trüben Hof mit Kehrrichttonnen und verkrüppelten Fliederbüschen. Hier klopften die Hausfrauen Teppiche und wenn ihre Hündinnen läufig waren, liessen sie sie nur hier unten spazieren, denn draussen auf der Strasse wimmerten die Kavaliere. Kinder durften hier aber nicht spielen, das hat der Hausmeister untersagt, seit sie den Flieder gestohlen und ohne Rücksicht auf die sterbende böse Grossmutter Biedermann im ersten Stock gejohlt und gepfiffen haben, dass irgend ein Tepp die Feuerwehr alarmierte.] Korrektur von fremder Hand: Regensburg\,/ [D]|d|ritten

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ÖLA 3/W 134 – BS 5 a [2], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

5

K2/TS9 (Korrekturschicht)

mich am Hauptbahnhof erwartet und hat geweint, nun bin ich also ein Waisenkind, ein Doppelwaisenkind, ein Niemandskind, ein ganz bedauernswertes und dann hat die Tante furchtbar geschimpft, weil sie nun garnicht weiss, was sie mit mir anfangen soll, sie hat ja selber nichts und ob ich etwa glaub, dass sie etwas hätt und ob meine Mutter selig vielleicht geglaubt hätt, dass sie etwas hätt und wenn ich auch die Tochter ihrer einzigen Schwester selig bin und diese einzige Schwe-ster selig soebn in Gott verstorbn ist, so muss man halt doch schon wissn, dass ein jeder sterbn muss, keiner lebt ewig nicht, da hilft sich nichts. Und die Tante hat gesagt, auf die Verwandtn ist wirklich kein Verlass nicht. Ich bin dann bald zu einer Näherin gekommen und hab dort nähen gelernt und hab Pakete herumtragn müssen in ganz München, aber die Näherin hat paar Monat drauf einen Postbeamten geheiratet, nach Ingolstadt. Da hat die Tante wieder furchtbar geschimpft und hat mich hinausschmeissn wolln , aber ich bin im letztn Moment zu einer anderen Näherin gekommen, dort hab ich aber ein Kostüm verschnittn und dann bin ich wieder zu einer anderen Näherin gekommen, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn und dann hab ich wirklich Glück gehabt, dass ich gleich wieder zu einer Näherin gekommen bin, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn, ich hab schon wirklich Pech gehabt.“ Und Agnes fuhr fort, im letzten Kriegsjahr sei mal die Tante in Regensburg gewesen und habe gesagt, sie sehe zwar ihrem Vater schon garnicht ähnlich, aber sie hätte genau sein Haar, worauf ihre Mutter gemeint habe: „Gelobt sei Jesus Christus, wenn Du sonst nichts von ihm hast!“ Und dazu habe die Mutter so bissig gegrinst, dass sie sehr böse geworden ist, weil ja der Vater schon tot geschossen gewesen wäre, und sie habe die Mutter sehr geärgert gefragt, was sie denn von ihr hätte. Da sei aber die Mutter plötzlich sehr traurig geworden und habe nur gesagt: „Sei froh, wenn Du nichts von mir hast!“ Sie glaube auch, dass sie schon rein garnichts von der Mutter habe. Sie habe jedoch ein Jugendbildnis der Grossmutter aus Straubing gesehen und da sei sie direkt erschrocken, wie ähnlich sie der sehe. Sie könnte ihre Tochter sein oder ihre Schwester. Oder sie selbst. Und Eugen erzählte, er habe vor dem Weltkrieg im Bahnhofscafé in Temesvar  den Bahnhofsvorstand bedient, das sei ein ungarischer Rumäne gewesen und hätte plötzlich angefangen über die Vererbung nachzugrübeln, hätte sich Tabellen zusammengestellt, addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und im Lexikon studiert von A bis Zz und wäre endlich dahintergekommen, dass jeder mit jedem irgendwie verwandt ist, mit jedem Räuber, Mörder, General, Minister, sogar mit jedem römischkatholischen Priester und dem Wunderrabbi von Kolomea. Darüber sei er dann verrückt geworden und hätte aus der Irrenanstalt Briefe an seine Verwandten geschickt. So habe er zu Weihnachten Franz Joseph folgendermassen gratuliert: B

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ÖLA 3/W 134 – BS 5 a [2], Bl. 4

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Lesetext

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könn\t/e h[a]|ä|tte \plötzlich/ Z\z/

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ÖLA 3/W 134 – BS 5 a [2], Bl. 5

Fragmentarische Fassung

5

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K2/TS9 (Korrekturschicht)

Liebe Nichte! Ich wünsche Dir einen recht angenehmen Geburtstag. Herzliche Grüsse aus dem K.K. priv. Narrenhaus! Das Wetter ist schön Auf Wiedersehn! Es küsst Dich Deine Mama. Und Eugen erklärte Agnes, obwohl jener Bedauernswerte korrekt verrückt gewesen sei, hätte jener doch recht gehabt, denn jeder Mensch sei tatsächlich mit jedem Menschen verwandt, aber es habe keinen Sinn, sich mit dieser Verwandtschaft zu beschäftigen, denn wenn man sich all das so richtig überlegen würde, müsste man wahrscheinlich auch verrückt werden. Da habe der alte Schuster Breitenberger in Pressburg schon sehr recht gehabt, wie er, bevor er gestorben ist, zu seiner versammelten Familie gesagt hat: „Leutl , wenn ihr mal recht blöd seids, so denkts an mich!“ Agnes sagte, sie denke fast nie an ihre Familienverhältnisse und sie wundere sich schon eine ganze Weile sehr,  wieso, wodurch und warum sie darauf zu sprechen gekommen sei. Eugen sagte, er denke überhaupt nie an seine Vorfahren, er sei doch kein Aristokrat, der darüber Buch führe, damit er es sich auf den Tag ausrechnen könne, wann er verteppen würde. So endete das Gespräch über die liebe Verwandtschaft. Der Tag gähnte, er war bereits müde geworden und zog sich schon die Stiefel aus, als Agnes fühlte, dass Eugen bald ihre Hüfte berühren werde. Er tat es auch und sagte „Pardon!“ B

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Lesetext

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Zehn Minuten später sassen Agnes und Eugen unter einer Ulme. Er hatte sie nämlich gefragt, ob sie sich nicht setzen wollten, er sei zwar nicht müde, aber immerhin hätte er nichts dagegen, wenn er sich setzen könnte. Sie hatte ihn etwas misstrauisch angeschaut, und er hatte ein ganz unschuldiges Gesicht geschnitten, aber sie hatte ihm diese Unschuld schon garnicht geglaubt und gesagt, sie hätte nichts dagegen, dass er sich setzen wollte, er könnte sich ruhig setzen und wenn er sich setzen würde, würde sie sich auch setzen. Es war nirgends eine Bank zu sehen und sie haben sich dann ins Gras gesetzt. Unter einer Ulme. Das war ein grosser alter Baum, und die Sonne ging unter. Im Westen, natürlich. Überhaupt ging alles seine schicksalhafte Bahn, das Grösste und das Kleinste, auch unter der Ulme. \Textverlust\

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werden.N ] hat: „LeutlN ] BVorfahren, erN ] BwannN ] BVerwandtschaft.N ] B2N ] B B

korrigiert aus: werden korrigiert aus: hat:„Leutl

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ÖLA 3/W 134 – BS 5 a [2], Bl. 6

Fragmentarische Fassung



K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigentlich wollte er Journalist werden, jedoch damals war seine Mutter anderer Meinung. Sie hatte nämlich viel mit den Zähnen zu tun und konstatierte: „Die Zahntechniker sind die Wohltäter der Menschheit. Ich will, dass mein Sohn ein Wohltäter wird!“ Er hing sehr an seiner Mutter und wurde also Zahntechniker, aber leider kein Wohltäter, denn er hatte bloss Phantasie statt Präzision. Es war sein Glück, dass kurz nach seiner Praxiseröffnung der Krieg ausbrach. Er stellte sich freiwillig und wurde Militärzahntechniker. Nach dem Waffenstillstand fragte er sich: „Bin ich ein Wohltäter? Nein, ich bin kein Wohltäter. Ich bin die typische Bohemenatur und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und nicht in die Morgue.“ Er wollte wieder Journalist werden, aber er landte beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: „Der betlehemitische Kindermord oder Ehre sei Gott in der Höhe“. Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein betlehemi- \Textverlust\ \Textverlust\ Ich kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab  kein Mizzilein in den Kanal gestossen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Ich hab ja nur an den Waedelchen getaetschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!“ Und dann schlug er wild um sich und heulte: „Auf dem Divan sitzt der Satan! Auf dem Divan sitzt noch ein Satan!“ Dann wimmerte er, eine Strassenbahn ueberfahre ihn mit Raedern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: „Es ist strengstens verboten mit dem Wagenfuehrer zu sprechen!“ B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 49

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 58

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Aber am meisten aergerte sie sich ueber die Glypthotek , in der die Leute alte Steintruemmer beglotzen, so andaechtig, als stuenden sie vor der Auslage eines Delikatessengeschaeftes. \Textverlust\

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eigentlichN ] nämlichN ] B„DieN ] Bwird!“ ErN ] B N] BEsN ] BdassN ] Bsich: „BinN ] BWohltäter. IchN ] BMorgue.“ ErN ] B N] B„DerN ] BbetlehemitischeN ] BHöhe“. DerN ] Bbetlehemi-N ] BIchN ] Bgestossen, MizzileinN ] Ballein!N ] BIchN ] Bheulte: „AufN ] B„EsN ] Bsprechen!“N ] BsieN ] B N] BGlypthotekN ] BGlypthotek,N ] B B

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[ursprünglich] |eigentlich| näml\i/ch korrigiert aus: „ Die korrigiert aus: wird!“Er [Seine Gebisse waren lauter gute Witze.] E[r]|s| \d/ass korrigiert aus: sich:„Bin korrigiert aus: Wohltäter.Ich korrigiert aus: Morgue.“Er [homosexuellen] korrigiert aus: „ Der gemeint ist: bethlehemitische korrigiert aus: Höhe“.Der gemeint ist: bethlehemi korrigiert aus: Jch korrigiert aus: gestossen,Mizzilein allein[.]|!| korrigiert aus: Jch heulte:[„] |„|Auf [„] |„|Es sprechen![“]|“| \sie/ [Agnes] [|Anna|] gemeint ist: Glyptothek Glypthotek\,/ [auf dem Koenigsplatze.]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 60

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

Einmal war sie in der Glypthotek , denn es hat sehr geregnet und sie ging gerade ueber den Koenigsplatz. Drinnen fuehrte einer mit einer Dienstmuetze eine Gruppe von Saal zu Saal und vor einer Figur sagte er, das sei die Goettin der Liebe. Die Goettin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte und sie musste direkt laecheln und einer aus der Gruppe laechelte auch und loeste sich von der Gruppe und naeherte sich ihr. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar und er fragte sie , ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wolle, und sie trafen sich dann auf dem Sendlingertorplatz. Er kaufte zwei Logenplaetze, aber da es ein nasser und kalter Sonntag war, war keine Loge ganz leer und das verstimmte ihn und er sagte, haette er das geahnt, so haette er zweites Parkett gekauft, naemlich er sei sehr kurzsichtig . Und er wurde ganz melancholisch und meinte, wer weiss, wann sie sich wiedersehen würden , er sei naemlich aus Augsburg und muesse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren und eigentlich liebe er das Kino garnicht und die Logenplaetze waeren verrueckt teuer. Hernach begleitete ihn Anna an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, da sie sich trennten und sagte: „Fraeulein , ich bin verflucht. Ich hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Soehne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau sechsundfuenfzig. Ich war immer Idealist . Fraeulein, Sie werden noch an mich denken. Ich bin Kaufmann. Ich hab Talent zum Bildhauer.“ B

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Drei Stunden später schlug es dreiviertelfünf. L M A beschäftigte sich bereits seit vier Uhr mit dem Hintergrunde seiner „Hetäre im Opiumrausch“ . Der Hintergrund war nämlich seine schwächste Seite. Unter solch einem Hintergrund konnte er unsagbar leiden. B

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würdenN ] Hernach f AnnaN ] Bsagte: „FraeuleinN ] BIchN ] BIchN ] BIdealistN ] BIchN ] BIchN ] BBildhauer.“N ] B23.N ] BL M AN ] B„Hetäre f Opiumrausch“N ] B

gemeint ist: Glyptothek [Agnes] |sie| [Agnes vor einer Figur ohne Feigenblatt.] |ihr.| [vor dem Kriege haetten auf Befehl des Zentrums die Saaldiener aus Papier Feigenblaetter schneiden und diese auf die unsterblichen Kunstwerke haengen muessen und das waere wider die Kunst gewesen.Und] [Agnes] |sie| wolle\,/ [Agnes] |sie| traf\en/ sich [mit ihm] |dann| [es Sonntag war und] |ein| nass\er/ und kalt\er Sonntag war,/ gekauft,1 [denn dort sehe man besser,] er3 sei4 naemlich2 sehr5 kurzsichtig6 w[e]|ü|rden [Agnes][|Anna|] [|Anna|] begleitete2 ihn3 [h]|H|ernach1 \Anna4/ korrigiert aus: sagte:„ Fraeulein korrigiert aus: Jch korrigiert aus: Jch korrigiert aus: Jdealist korrigiert aus: Jch korrigiert aus: Jch Bildhauer. [\––/] |“| [22.] |23.| [A]|L| M [L]|A| korrigiert aus: „ Hetäre im Opiumrausch “

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

Auch jetzt juckte es ihn überall, denn es offenbarten sich ihm nur Hintergründe, die nicht in Frage kamen. So schien ihm also der Dreiviertelfünfuhrschlag als wahre Erlösung, denn da sein Freund Harry Priegler um fünf Uhr erscheinen wollte, konnte er sagen: „Ziehen Sie sich an, Fräulein Pollinger! Für heut sind wir soweit. Dieser Hintergrund! Dieser Hintergrund! Dieser ewige Hintergrund!“ Und während Agnes sich vor einem Hintergrunde, der ebenfalls nicht in Frage kam, anzog, knurrte ihr Magen. Sie hatte nämlich an diesem Tage zwei Semmeln gegessen, sonst noch nichts. Ursprünglich hatte sie sich ja Suppe, Fleisch, gemischten Salat und Kompott bestellen wollen, so ein richtiges Menü für neunzig Pfennig, aber da sie erst um halb zwölf erwacht war und dann auch noch zehn Minuten lang gemeint hatte, es wäre erst acht oder höchstens neun, während sie doch um zwölf Uhr bereits als Hetäre im Atelier sein musste, so war ihr eben für jenes Menu keine Zeit übrig geblieben. Abgesehen davon, dass sie ja nur mehr dreiundzwanzig Pfennig besass. Die zwei Semmeln kaufte sie sich bei jener Bäckersfrau in der Schellingstrasse, die bekannt war ob ihrer Klumpfüsse. Als Agnes den Laden betrat, las sie gerade die Hausbesitzerszeitung und meinte: „Der Mittelstand wird aufgerieben. Und was wird dann aus der Kultur? Überhaupts aus der Menschheit?“ „Was geht mich die Menschheit an?“ dachte Agnes und ärgerte sich, dass die Semmeln immer kleiner werden. B

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Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewussten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu haben, konnte er seine gesunden Muskeln Nerven und Eingeweide derart rücksichtslos pflegen, dass er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eishokeysportes galt. Und er entäuschte die Hoffenden nicht. Allgemein beliebt, wurde er gar bald der berühmteste linke Stürmer und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, dass er sich ein „Foul“ zuschulden kommen liess, denn infolge seiner raffinierten Technik und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er dies nicht nötig. \Textverlust\

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[konnte] [|hatte|] |konnte| Muskeln[,] gemeint ist: Eishockeysportes [\A/] |Und| Absatz vom Autor getilgt [Er]|er| [hatte] |entäuschte| nicht\./ [enttäuscht.] beliebt\,/ [seinen Verein oder seine Vaterstadt, Südbayern oder Grossdeutschland,] korrigiert aus: vor,dass korrigiert aus: „ Foul “ ra[-]|f|[f]finierten [der Stockbehandlung] [es] |dies|

238

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 61

Fragmentarische Fassung



K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

Erst heute begreift sie ihren Brunner ehrlich, der da sagte, dass wenn zwei sich gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das Geschwätz von der Seele in der Liebe, das sei bloss eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch lediglich eine Gefühlsroheit, wenn irgend eine Anna ausser seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit Schmerzen und warum sollte er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja keine Familie gründen, dann allerdings müsste er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammenzuleben, da gehöre schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zu viel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. – B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 63

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Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ging eines Tages in der Schellingstrasse spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so, dass diese einst so innig befreundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein ausserordentliches Personengedächtnis besass. „Halloh!“ rief der vierte Fettfleck. „Ihr kennt Euch doch, wir wollen jetzt einen Cognak trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns!“

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 65

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Aber Eugen stand bereits zehn Minuten vor sechs an jener Ecke und wartete bis dreiviertelsieben. Bis sechs Uhr ging er ihr immer wieder etwas entgegen, ihre Schellingstrasse hinab, aber ab Punkt sechs hielt er sich peinlich an die verabredete Ecke, denn er dachte, Agnes könne ja auch unerwartet aus irgend einer anderen Richtung kommen und dann fände sie eine Ecke ohne Eugen. Sie kam jedoch aus keiner Richtung und zehn Minuten nach sechs sagte er sich, Frauen seien halt unpünktlich. Er war den ganzen Tag über wieder herumgelaufen und hatte trotzdem keine Arbeit gefunden. Er hatte bereits seinen Frack versetzen müssen und nahm sich vor, dass er sich heute auf dem Oberwiesenfeld anders benehmen wird, als gestern. Heute B

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sieN ] ehrlich,N ] B N] B N] BAnnaN ] Bhätten. –N ] B N] BFettfleck. „IhrN ] Buns!“N ] B28N ] BAberN ] B N] BPunktN ] B B

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[Agnes] |sie| [\so voll und ganz/] |ehrlich,| [aus der Schellingstrasse,] [ganze] [Agnes] [|Anna|] |Anna| hätten. \–/ [Heute würde [Agnes] |Anna| antworten: „Was könnt schon aus] korrigiert aus: Fettfleck.„Ihr [uns“] |uns!“| [43.] |28| \Aber/ [um] korrigiert aus: punkt

239

ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

5

K2/TS9 (Korrekturschicht)

wolle er die Agnes nicht körperlich begehren, sondern in Ruhe lassen und bloss mit ihr sprechen. Über irgendetwas sprechen. Er besass noch ganze vier Mark zwanzig und es war ihm auch bekannt, dass er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anspruch habe und er erinnerte sich, dass er 1915 in Wolhynien einen Kalmüken sterben sah, der genauso starb, wie ein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. Agnes kam noch immer nicht und um den Kalmüken zu verscheuchen, rechnete er sich aus, wieviel Schillinge, Franken, Lire und Lei vier Mark zwanzig sind. Er hatte lange nichts mehr addiert und stellte nun resigniert fest, dass er betreffs Kopfrechnen ausser Übung sei . Früher, während der Inflation, da hatte keiner so kopfrechnen können wie er. Überhaupt ging es ihm vorzüglich während der Geldentwertung, er hatte ja kein Geld und war der beliebteste Kellner in der Bar und auch die Bardame war in ihn verliebt. Sie hiess Kitty Lechleitner und man hätte es ihr garnicht angesehen, dass sie Paralyse hatte, wenn sie nicht plötzlich angefangen hätte alles was sie von sich gab wieder aufzuessen. Sie hatte einen grandiosen Appetit und starb im Steinhof bei Wien und war doch immer herzig und freundlich, nur pünktlich konnte sie nicht sein. \Textverlust\ Ausnahmsweise sprach er nicht über das Eishokey , sondern beleuch tete Verkehrsprobleme. So erklärte er ihr , dass für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgendein Fussgänger die Schuld trägt und darum dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, dass er, falls er solch einen Fussgänger überfahren hätte, einfach abblenden würde. In diesem Sinne habe er einen Freund in Berlin und dieser Freund hätte mal mit seinem fabelhaften Lancia eine Fussgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über die Strasse gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja sogar zum Prozess sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fussgängerin Landgerichtsratswitwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, seinen Freund zur Zahlung einer B

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Lesetext

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habeN ] KalmükenN ] BKalmükenN ] BKalmükenN ] BseiN ] BBar undN ] Bverliebt.N ] BsprachN ] BerN ] BEishokeyN ] BerklärteN ] BihrN ] BirgendeinN ] Bträgt f darumN ] BabblendenN ] BIn f SinneN ] BmalN ] BverbotenenN ] BverbotenenN ] BdiesesN ] BLandgerichtsratswitweN ] B N] BseinenN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: ha[t] be gemeint ist: Kalmücken

Kalm[u]|ü|ken gemeint ist: Kalmücken Korrektur von fremder Hand: [ist] sei Korrektur von fremder Hand: Bar\ /und korrigiert aus: verliebt .

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[sprach] |sprach| [Harry] |er| gemeint ist: Eishockey [erzählte] |erklärte| \ihr/ irgend[ ]ein trägt[.] \und darum/ [So]

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Korrektur von fremder Hand: a[bl] bbl enden

[So] |In f Sinne| \mal/

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Korrektur von fremder Hand: verbotene[m] n

verbotene[n]|n| di[e]|e|ses Landgerichtsratswit[t]we [dass] sein\en/

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 67

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Entschädigung zu verurteilen – „es käme mir ja auf paar tausend Märker nicht an“, hätte der Freund gesagt, „aber  ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen“. Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fussgängerin nicht leid tun würde trotz des verbotenen Lichtes. „Nein “, hätte er gesagt, „prinzipiell nicht!“ Er sei eben auf seinem Recht bestanden. Jedesmal, wenn Harry irgend einen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusammenstossen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann hasste er diesen Staat, der die Fussgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Überhaupt der deutsche Staat, meinte er, sollte sich lieber kümmern, dass mehr gearbeitet würde , damit wir endlich mal wieder hochkommen könnten! Fussgänger würden so und so überfahren und nun erst recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Auslandes, da er mit seinem Auto jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst zwecks Erholung von der anstrengenden Eishokeysaison ein Stückchen Welt durchfahre. Jetzt fuhren sie durch Possenhofen.  Hier wurde eine Kaiserin von Österreich geboren, und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander verwandt und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloss Berg. Es war eine vornehme Gegend. \Textverlust\  In Feldafing sitzt man wunderbar am See. Besonders an solch einem milden Herbstabend. Dann ist der See still und Du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterscheiden, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend. B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 68

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zuN ] verurteilen – „esN ] B N] B N] BhätteN ] Btun würdeN ] BverbotenenN ] BLichtes. „NeinN ] B N] BsollteN ] BwürdeN ] BwirN ] Bkönnten!N ] B N] BEishokeysaisonN ] Bdurchfahre.N ] BJetztN ] BsieN ] B N] BsolchN ] Bmilden Herbstabend.N ] B B

\zu/ verurteil\en/ [w[i]|e|rd\e/.] \– „/[E]|e|s Korrektur von fremder Hand: \ein/ [ein] h[ä]|ä|tte [täte] |tun würde| Korrektur von fremder Hand: verbotene[m]|n| korrigiert aus: Lichtes.„Nein Absatz vom Autor getilgt

soll\t/e w[i]|ü|rd\e/ [man] |wir| [könn\t/e[,]|!|] |könnten!| [anstatt, dass er für die Fussgänger sorgt!] Absatz vom Autor getilgt gemeint ist: Eishockeysaison

durchfahre[[.]|n| \würde/]|.| [Sie] |Jetzt| \sie/ [32.] [|39|] \solch/ [Sommerabend ohne Wind] |[lauen] [|lauen|] [|lauen|] [|windst|] |milden| Herbstabend.|

241

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 69

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 70

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

Im Seerestaurant zu Feldafing sassen lauter vornehme Menschen. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die grösste Mühe gab, anders auszusehen und die Damen waren durchaus gepflegt, wirkten daher sehr neu, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett musste, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal heimlich in der Nase bohrte oder sonst irgendetwas unartiges tat. Die Speisekarte war lang und breit , aber Anna konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. „Königinsuppe?“ hörte sie des Kellners Stimme und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, nämlich das Knurren kränkte \Textverlust\ B

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 4

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Als Agnes den Starnbergersee erblickt hatte , hatte Eugen befürchtet, dass ihr etwas zugestossen sei . Nämlich er hatte einst ein Rendezvous mit einer Kassierin und während er sie erwartete, wurde sie von einem Radfahrer angefahren und zog sich eine Gehirnerschütterung zu. Er wartete ewig lange und schrieb ihr dann einen beleidigenden Brief und erst drei Wochen hernach erfuhr er, dass die Kassierin fünf Tage lang bewusstlos war und, dass sie sehr weinte, als sie seinen beleidigenden Brief las und, dass sie den Radfahrer verfluchte. „Nur nicht ungerecht sein“, dachte Eugen und zählte bis zwanzig. Nämlich wenn Agnes bis zwanzig nicht kommen sollte, dann würde er gehen. Er zählte sechs mal bis zwanzig und sie kam nicht. Er ging aber nicht, sondern sagte sich, dass alle Weiber unzuverlässig sind. Und verlogen. So verlogen, dass sie garnicht wissen könnten, wann sie lügen. Sie würden auch lügen, nur um einem etwas angenehmes sagen zu können. So hätte doch diese Agnes gestern ausdrücklich gesagt, dass sie sich auf das Oberwiesenfeld B

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lauter f Menschen.N ] auszusehen f dieN ] Bgepflegt, wirktenN ] Bneu,N ] BheimlichN ] Bbohrte f tat.N ] BbreitN ] BAnnaN ] B N] B N] BnämlichN ] B N] B36N ] Berblickt hatteN ] Bhatte f befürchtet,N ] BseiN ] BseiN ] BGehirnerschütterungN ] Bunzuverlässig f UndN ] Blügen. SieN ] BeinemN ] BOberwiesenfeldN ] B B

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[ausser Harry und Agnes noch elf Damen und elf Herren.] |lauter f Menschen.| auszusehen[.] |und| Absatz vom Autor getilgt [D]|d|ie gepflegt\,/ [und sahen] |wirkten| neu\,/ [aus,] \heimlich/ bohrte[.] |oder f tat.| [gross] |breit| [Agnes] |Anna| [sondern hochdeutsche,] Absatz vom Autor getilgt

[denn] |nämlich| [ihn, da er einen schlechten Charakter hatte.] [44.] |36| erblickt[e] \hatte/ \hatte Eugen/ befürchtet[e]|,| [Eugen,] Korrektur von fremder Hand: [ist] |sei| [sei]|sei| Korrektur von fremder Hand: Gehirnersch[u]|ü|tterung unzuverlässig[\./] sind\./ [u]|U|nd korrigiert aus: lügen.Sie eine[n]|m| Korrektur von fremder Hand: Oberwi\e/senfeld

242

Fragmentarische Fassung

Lesetext

freue . Auch Agnes sei halt eine Sklavennatur, aber dafür könnten ja die Weiber nichts, denn daran wären nur die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten. Dass ihn Agnes versetzt hatte, dies fiel ihm bereits um Punkt sechs ein, doch glaubte er es erst um dreiviertelsieben. „Wenn ich ein Auto hätt“, meinte er, „dann tät mich keine versetzen, vorausgesetzt, dass sie kein Auto hätt, dann müsst ich nämlich ein Flugzeug haben.“ Aber trotzdem er sich dies sagte, wusste er garnicht, wie recht er hatte. \Textverlust\ \Textverlust\ Sie heisst Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstrasse acht.  Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, dass sie verheiratet ist und, dass ihr Mann sein Geschäftsfreund sei . Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishokey gespielt hab. Sie heisst Lotte Böhmer und wohnt in der Meinickestrasse vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heisst Weber und wohnt in der Franz-Josef- Strasse , die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: „Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stossen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.“ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stossen wollte. Und hinter Ihnen -- schauen Sie sich nicht um! -- sitzt eine grosse Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestossen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heisst Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstrasse zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: „Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, dass Du mich mit meiner Frau betrügst?“ Ich hab gesagt: „Hand aufs Herz! Es ist wahr!“ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: „Ich danke Dir, lieber Harry!“ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, dass ich ja nichts dafür könnte, denn er wüsst es genau , dass der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil wäre. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein grosser Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftB

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K2/TS9 (Korrekturschicht)

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freueN ] WeiberN ] BmüsstN ] BMauerkircherstrasseN ] BseiN ] BEishokeyN ] BMeinickestrasseN ] BistN ] BStrasseN ] BIhnen -- schauenN ] Bum! -- sitztN ] Bbetrügst?“N ] Bkönnte,N ] Bwüsst f genauN ] Bwäre.N ]

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 71

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Korrektur von fremder Hand: m[u] ü sst Korrektur von fremder Hand: Mauerkircherstra[a] s se Korrektur von fremder Hand: [ist] sei gemeint ist: Eishockey gemeint ist: Meinekestrasse Korrektur von fremder Hand: [s]i\s/t korrigiert aus: Srasse korrigiert aus: Ihnen--schauen korrigiert aus: um!--sitzt

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betrügst?\“/ k[a]|ö|nn\te/[,]|,| [weiss] |wüsst es genau| [ist.] [|sei|] |wäre.|

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 72

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

stellerisch was. Er heisst Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstrasse bei der Gabelsbergerstrasse.“ „Zahlen!“ rief Harry, denn nun wurd es Nacht. B

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Überhaupt seien die Richter oft eigentümlich veranlagt. So habe ihr erst vor vier Wochen das Berufsmodell Fräulein Therese Seitz aus der Schellingstrasse erzählt, dass sie 1927 der Motorradfahrer Heinrich Lallinger vom Undosawellenbad in die Schellingstrasse fahren wollte, aber plötzlich sei er in einen Seitenweg eingebogen, um sich dann weiter drinnen im Wald auf sie werfen zu können . Sie habe gesagt, er solle sofort halten, da sie sonst abspringen würde, er habe aber nur gelächelt und die Geschwindigkeit verdoppelt, aber trotz der sechzig Kilometer sei sie abgesprungen und hätte sich den Knöchel gebrochen. Sie habe dann den Lallinger angezeigt wegen fahrlässiger Körperverletzung und Freiheitsberaubung, aber der Oberstaatsanwalt habe ihr dann später mitgeteilt, dass er das Verfahren gegen Herrn Heinrich Lallinger eingestellt habe, weil ihm kein Verschulden nachzuweisen wäre , da es ja bekannt sei, dass sich junge Mädchen, die sich abends mit einem Motorrad nach Hause fahren liessen, es als selbstverständlich erachteten, dass erst zu gewissen Zwecken ein Umweg gemacht werden würde. Freiheitsberaubung liege also nicht vor und sie sei selbst daran schuld gewesen, dass sie sich den Knöchel gebrochen habe. B

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 5

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Agnes hörte Schritte. Das waren müde schleppende Schritte und bald konnte sie einen kleinen Mann erkennen, der vor ihr herging. Sie hätte ihn fast überholt und übersehen, so dunkel war es geworden. Auch der Mann hörte Schritte, blieb stehen und lauschte. Auch Agnes blieb stehen. Der Mann drehte sich langsam um und legte den Kopf bald her bald hin, als wäre er kurzsichtig. „Guten Abend“, sagte der Mann. „Guten abend “, sagte Agnes.  „Habens nur keine Angst, Fräulein “, sagte der Mann. „Ich tu niemand nix. Ich wohn in München und geh nachhaus.“ „Habn wir noch weit bis München?“ fragte Agnes. B

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wurdN ] Nacht.N ] BSeitzN ] BsichN ] Bauf f könnenN ] Bhabe,N ] BwäreN ] Bhabe.N ] B43N ] BabendN ] BFräuleinN ] BMann. „IchN ] BniemandN ] BgehN ] B B

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wurd[e] [finster und die Sterne standen droben und ditto der Mond.] |Nacht.| Korrektur von fremder Hand: Se\i/tz si[e]|ch| [zu [vergewaltigen] |nehmen|] |auf f können| Korrektur von fremder Hand: ha[t,]|be,| [sei] |wäre| Korrektur von fremder Hand: ha[t.]|be.| [39.] |43| Korrektur von fremder Hand: [A]|a|bend korrigiert aus: Fräullein korrigiert aus: Mann.„Ich [Ihnen] |niemand| [geh]|geh|

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 6

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

„Ich komm von Kochel“, sagte der Mann. „Den grössten Teil hab ich hinter mir.“ „Ich komm grad von da“, sagte Agnes. „So“, sagte der Mann und schien garnicht darüber nachzudenken, was dies „von da“ bedeuten könnte. Sie gingen wieder weiter. Es sah aus, als würde er hinken, aber er hinkte nicht, es sah eben nur so aus. „Was klappert denn da?“ fragte Agnes. „Das bin ich“, sagte der Mann und sprach plötzlich hochdeutsch. „Ich hab nämlich eine sogenannte künstliche Ferse und einen hölzernen Absatz seit dem Krieg.“ B

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Agnes hat es nie erfahren, dass der Mann Sebastian Krattler hiess und in der Nähe des Sendlingerberges wohnte. Er hat sich ihr weder vorgestellt, noch hat er es ihr erzählt, dass er von Beruf Schuster war, dass er aber nirgends Arbeit fand und also, obwohl er bereits seit fast dreissig Jahren eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, auf die Walze gehen musste, nachdem er noch vorher im Weltkrieg mit einer künstlichen Ferse ausgezeichnet worden sei. Auch hat er es ihr verschwiegen, dass er einen Neffen im Wallgau bei Mittenwald hatte, einen grossen Bauern, bei dem er irgendeine Arbeit zu finden hoffte. Aber dieser Neffe hatte für ihn wegen seiner Kriegsauszeichnung keine Arbeit, denn die Bauern sind recht verschmitzte Leute. Aber in Tirol würden die Pfaffen eine Kirche nach der anderen bauen und die höchstgelegenste Kirche stünde am Rande der Gletscher. Das seien lauter gottgefällige Werke, denn die Tiroler seien halt genau wie die  Nichttiroler recht religiös. Oder vielleicht nur schlecht. Oder blöd. „Dass anders wird, erleb ich nimmer“, sagte der Mann. „Was?“ fragte Agnes. „Sie werdns vielleicht noch erlebn“, sagte der Mann und meinte noch, wenn es jetzt Tag wäre, dann könnte man schon von hier aus die Frauentürme sehen. B

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dar[u]|ü|ber [„]|„W|as \„/Ich [F]|F|erse [40.] |44| korrigiert aus: musste , Korrektur von fremder Hand: [ist.] sei.

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Korrektur von fremder Hand: T[y] i rol Korrektur von fremder Hand: w[ü] ü rden Korrektur von fremder Hand: T[y] i roler Korrektur von fremder Hand: Nichtt[y] i roler

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Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

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Um Mitternacht erblickte Agnes eine Bank und sagte, sie wolle sich etwas setzen, weil sie kaum mehr weiter könne und ihre Schuhe wären nun auch schon ganz zerrissen. Der Mann sagte, dann setze er sich auch, die Nächte seien ja noch warm. Sie setzten sich und auf der Banklehne stand: „Nur für Erwachsene“. Der Mann wollte ihr gerade sagen, es wäre polizeilich verboten, dass sich Kinder auf solch eine Bank setzen oder, dass man auf solch einer Bank schläft, da schlief Agnes ein. Der Mann schlief nicht. Nicht weil es polizeilich verboten war, sondern weil er an etwas ganz anderes dachte. Er dachte einen einfachen Gedanken. „Wenn nur ein anderer einen selbst umbringen könnt“, dachte der Mann. Und Agnes träumte einen einfachen Traum: Sie fuhr in einem wunderbaren Auto durch eine wunderbare Welt. Auf dieser Welt wuchs alles von allein und ständig. Sie musste nichts bezahlen und alles hatte einen unaussprechlichen Namen, so einen richtig fremdländischen, es war alles anders als hier. „Hier ist es nämlich wirklich nicht schön“, meinte ein Herr. Dieser Herr hatte einen weissen Hut, einen weissen Frack und weisse Hosen, weisse Schuhe und weisse Augen. „Ich bin der Papst der Kellner“, sagte der Herr, „und ich hab in meiner Jugend im  Forstenriederpark die königlichsten Agnesse erlegt. Wir trieben sie in den Starnbergersee hinein und gaben ihnen vom Kahn aus gewaltige Ohrfeigen. Eigentlich heiss ich garnicht Harry, sondern Eugen .“ Und Agnes ging durch einen Wald, es war ein Ulmenwald und unter jeder Ulme sass ein Eugen. Es waren da viele hunderte Ulmen und Eugene und sie hatten alle die gleichen Bewegungen. „Agnes“, sprachen die Eugene , „wir haben auf Dich gewartet an der Ecke der Schleissheimerstrasse, aber wir hatten dort keinen Platz, wir sind nämlich zuviel. Übrigens: war der Gurkensalat wirklich so wunderbar?“ Da schwebte der grosse weisse Engel daher und hielt eine Gurke in der Hand. „Vor Gott ist keine Gurke unmöglich“, sagte der Engel. Der Morgenwind ging an der Bank vorbei und der Mann sagte: „Das ist der Morgenwind“. B

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Bevor die Sonne kommt, geht ein Schauer durch die Menschen. Nicht weil sie vielleicht Kinder der Nacht sind, sondern weil das Quecksilber vor Sonnenaufgang um einige Grade sinkt. Das hat seine atmosphärischen Ursachen und physikalischen Gesetze, aber Sebastian Krattler wollte nur festgestellt wissen, dass der Morgenwind, der immer vor der Sonne einherläuft, kühl ist. 1 6 23 23 26 31 34

45N ] BanklehneN ] BheissN ] BEugenN ] BEugeneN ] Bsagte: „DasN ] B46N ] B B

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[41.] |45| Banklehn[e]|e| heiss[e] [Franz] |Eugen| Eug\e/ne sagte: \„/Das [42.] |46|

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Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er lief über die träumende Agnes quer durch Europa und München und natürlich auch durch die Schleissheimerstrasse, an deren Ecke Eugen auf Agnes gewartet hat.

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Während Harry in Feldafing den Gurkensalat bestellte, ging Eugen langsam die Schellingstrasse entlang und hielt einen Augenblick vor der Auslage des Antiquariats. Er sah das „Weib vor dem Spiegel“ und dachte, gestern nacht sei er noch dagestanden und jetzt gehe er daran vorbei. Es fiel ihm nicht auf, dass das „Weib auf dem Pantherfell“ aus der Auslage verschwunden sei . Nämlich am Nachmittag war ein Kriminaler zu der Tante gekommen und hat ihr mitgeteilt, dass sich ein Feinmechaniker aus der Schellingstrasse über das „Weib auf dem Pantherfell“ sittlich entrüstet habe, weil er wegen seiner achtjährigen Tochter auf einen gewissen hochwürdigen Herrn schlecht zu sprechen wäre. Und der Kriminaler hat der Tante auseinandergesetzt, dass solche Pantherfellbilder schon garnichts mit Kunst zu tun hätten und, dass er eine Antiquariatsdurchsuchung machen müsste. Und dann hat der Kriminaler einen ganzen Koffer voller „Weiber auf dem Pantherfell“ beschlagnahmt und hat dabei fürchterlich getrenzt und sich ganz genau nach dem Kastner erkundigt. Er hat nämlich den Kastner verhaften wollen wegen gewerbsmässiger Verbreitung unzüchtiger Darstellungen und einem fahrlässigen Falscheid. Dann ist der Kriminaler gegangen. Hierauf hat die Krumbier, damit sich die Tante beruhige, eine Geschichte von  einem sadistischen Kriminaler erzählt, der sich ihr genähert hatte, als sie kaum sechzehn Jahre alt gewesen ist. Er hatte ihr imponieren wollen und hatte ihr lauter Lustmordphotographien gezeigt. „So Kriminaler werden leicht pervers“, hat die Krumbier gesagt. Aber die Tante hat sich nicht beruhigen lassen und hat gesagt, wie die Agnes nach Hause kommt, haut sie ihr eine herunter. B

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Eugen ging auch an dem Hause vorbei, in dessem Atelier der Buddhist L M A als Untermieter malte. Das Atelier hatte er nämlich von einem anderen Untermieter gemietet, der sich aber weigerte, des Buddhisten Untermiete dem Mieter auszuzahlen, B

5 10 11 12 14 14 17 25 25 27 33 35

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[45.] |47|

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korrigiert aus: gehener korrigiert aus: das„Weib Korrektur von fremder Hand: [ist] sei Korrektur von fremder Hand: entr[ü] ü stet Korrektur von fremder Hand: h[at,] be,

47N ] gehe erN ] Bdas „WeibN ] BseiN ] BentrüstetN ] Bhabe,N ] BhättenN ] BKriminalerN ] BkaumN ] Bpervers“,N ] B48N ] Ban demN ]

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h[ä]|ä|tten [K]|K|riminaler \kaum/ perver\s“,/ [46.] |48| an\ /dem

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 10

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

weil er sich benachteiligt fühlte, da der Mieter bei der Abfassung des Untermieterkontraktes die offizielle Miete um das Doppelte gefälscht hatte. Der Kastner beschäftigte sich gerade wieder mit einigen Fettflecken und ahnte noch nichts von jenem Kriminaler. Heute hätte ihn jener Kriminaler auch nicht besonders erregt, denn er wusste ja nicht mehr, war er noch besoffen oder schon blöd. An der Türkenstrasse hielt Eugen vor dem Fenster eines rechtschaffenen Photographen. Drinnen hing ein Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie stacken in ihren Sonntagskleidern , blickten ihn hinterlistig und borniert an und alle acht waren ausserordentlich hässlich. Trotzdem dachte Eugen, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie sein eigen nennen könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus und das Aussterben sei doch etwas traurig, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen Anspruch auf die reichsdeutsche  Arbeitslosenunterstützung habe. Und während Agnes ihren Gurkensalat ass, dachte er an sie. „Also sie hat mich versetzt, das Mistvieh“, dachte er. Aber er war dem Mistvieh nicht böse, denn dazu fühlte er sich zu einsam. Er ging nur langsam weiter, bis dorthin, wo die Schellingstrasse anfängt und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los und er konnte es sich garnicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei. Es fiel ihm nämlich ein, dass ein Blinder sagt: „Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche . Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!“ B

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Es wurde Nacht und Eugen wollte nicht nach Hause, denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er müde war. Er wäre am liebsten trotz seiner letzten vier Mark zwanzig in das Schelling-Kino gegangen, wenn dort der Tom Mix aufgetreten wäre, jener Wildwestmann, dem alles gelingt. Als er den das letztemal sah, überholte er gerade zu Pferd einen Expresszug, sprang aus dem Sattel auf die Lokomotive, befreite seine Braut aus dem Schlafwagen, wo sie gerade ein heuchlerischer Brigant vergewaltigen wollte, erlegte zehn weitere Briganten, schlug zwanzig Briganten in die Flucht und wurde an der nächsten Station von seinem treuen Pferde und einem Priester erwartet, der die Trauung sofort vollzog. Eugen liebte nämlich alle Vieher, besonders die Pferde. Wegen dieser Pferdeliebe wäre er im Krieg sogar fast vor das Kriegsgericht gekommen, weil er einem kleinen Pferdchen, dem ein Splitter zwei Hufe weggerissen hatte, den Gnadenschuss gab und B

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1–2 5 5 8 9 9 12 22 25 31

UntermieterkontraktesN ] nichtN ] BnichtN ] BDrinnenN ] Bstacken f Sonntagskleidern,N ] BSonntagskleidernN ] Bsein f nennenN ] BsprecheN ] B49N ] Ber geradeN ]

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Untermiete\r/kontraktes

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Korrektur von fremder Hand: nich\t/

nich[t]|t| [Da] |Drinnen| [hatten] |stacken in| ihre\n/ Sonntagskleidern\,/ [an,] Korrektur von fremder Hand: Sonntagskleider\n/ [haben] |sein f nennen| sprec[jhe]|he| [47.] |49| Korrektur von fremder Hand: er\ /gerade

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 11

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

durch diesen Gnadenschuss seine ganze Kompagnie in ein fürchterliches Kreuzfeuer brachte. Damals fiel sogar ein Generalstabsoffizier. Im Schelling-Kino gab man keinen Tom Mix, sondern ein Gesellschaftsdrama, die Tragödie einer jungen schönen Frau. Das war eine Millionärin, die  Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren liess, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in Baden-Baden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge sass, im Karneval tanzte und überaus unglücklich den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten, jungen Millionärssohn, der sie dezent-sinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie denn auch im Ligurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich . Es war ein sehr tragischer Film und er hatte nur eine lustige Episode: die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein grosses Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure gross aus. Aber der Chauffeur wusste nicht genau, wie die vornehme Welt Messer und Gabel hält und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der vornehmen Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig.

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 81

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 12

Es wurde immer später. Eugen ging über den Lenbachplatz und vor den grossen Hotels standen lauter wunderbare Autos. In den Hotelgärten sassen lauter vornehme Menschen und ahnten nicht, dass sie aufreizend lächerlich wirken, sowie man mehrere ihrer Art beisammen sieht. Auch die Kellner waren sehr vornehm und es war nicht das erstemal, dass Eugen  seinen Beruf hasste. B

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manikürenN ] pedikürenN ] Ban derN ] Büberaus unglücklichN ] Bden SektN ] Beleganten,N ] Bwollte. EsN ] BimN ] BimN ] BunglücklichN ] Bnicht f lustig.N ]

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Korrektur von fremder Hand: manik[u] ü ren Korrektur von fremder Hand: pedik[u] ü ren

an\ /der \überaus unglücklich/ [d]|d|en [S]|S|ekt Korrektur von fremder Hand: eleganten\,/ korrigiert aus: wollte.Es Korrektur von fremder Hand: i[k] m

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i[m]|m| ungl[u]|ü|cklich korrigiert aus: n\Textverlust\rade ei\Textverlust\telligentes G\Textverlust\icht geschnitte\Textverlust\ Es war sehr lust\Textverlust\ vgl. K2/TS8 [48.] |50| \lauter/

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 13

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Er ging nun bereits seit dreiviertelsieben ununterbrochen hin und her und war voll Staub, draussen und drinnen. Er sagte sich: „Also wenn die Welt zusammenstürzt, jetzt geb ich noch dreissig Pfennig aus und trink ein Glas Bier!“ Aber die Welt stürzte nicht zusammen, als der Herr Reithofer das Lokal betrat – „Heute Künstlerkonzert“ stand an der Türe und als er sich setzte, fing ein Pianist an zu spielen, denn er war der einzige Gast. Zwar sass noch eine Dame vor ihrer Limonade, aber die schien zum Café zu gehören. B

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Sie hatte es garnicht gehört, dass er eintrat, so sehr war sie in ihr Magazin vertieft. Nämlich sonst hätte sie aufgehorcht, jedoch das Magazin war zu schön. Sie las und las: Eine mehrwöchige Kreuzfahrt auf komfortabler Privatyacht unter südlichem Himmel -- wer hätte nicht davon geträumt? Wochen des absoluten Nichtstuns liegen vor Dir, sonnige Tage und helle Nächte, es gibt kein Telephon, keine Verabredung, keine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Die Begriffe „ Zeit“, „Arbeit “, „Geld“ entschwinden am Horizont wie verdunstende Wölkchen. Einladende Liegestühle stehen unter dem Sonnendeck, kühle Klubsessel erwarten Dich im Rauchzimmer , Radio und Bibliothek sind  zur Hand, über Deine Sicherheit beruhigen Dich dreissig tüchtige Matrosen, für Dein leibliches Wohl sorgt ein erstklassiger Küchenchef und ein verständnisvoller Barmixer. Nach dem Essen wird das Grammophon aufgezogen, oder eine der Damen spielt Klavier, Du tanzt mit Phyllis oder Dorothy , oder Du spielst ein bisschen Whist, um Dich bei den älteren Damen beliebt zu machen, im Spielzimmer hast Du GeB

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sich: „AlsoN ] jetzt f Bier!“N ]

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korrigiert aus: sich:„Also

\noch4/ dreissig5 Pfennig6 geb2 ich[3] |3| jetzt1 aus7 und8 trink[2] |9| ein[4] Bier[5] |12|[,]|!“| [weil ich mich auch schon gern setzen möcht.“] BAber dieN ] \Aber/ [D]|d|ie Bzusammen, f betrat –N ] zusammen\,/ [und Eugen betrat ein kleines Café in der Nähe des Sendlingertorplatzes.] |als f betrat –| BerN ] [Eugen] |er| BeinN ] [ein][|der|] |ein| BerN ] [Eugen] |er| BZwar f nochN ] [Es2] sass2 [z]|Z|war1 noch3 Bgehören.N ] gehören\./ [und verschlang ein Magazin.] B N] [Der Pianist spielte ein rheinisches Potpouri und Eugen las in der „Sonntagspost“, dass es den Arbeitslosen zu gut geht, sie könnten sich ja sogar ein Glas Bier leisten. Und in der Witzecke sah er eine arbeitslose Familie, die in einem riesigen Fasse am Isarstrand wohnte, sich sonnte, badete\,/ und ihrem Radio lauschte.] BSieN ] [Die Dame mit der Limonade] |Sie| BerN ] [Eugen] |er| BNämlich f aufgehorcht,N ] [Sie hätte] |Nämlich| [sonst] \hätte sie/ [aufgehorcht, weil sie eine Prostituierte war,] BPrivatyachtN ] [Luxusyacht] |Privatyacht| BHimmel --N ] korrigiert aus: Himmel-BZeit“, „ArbeitN ] korrigiert aus: Zeit“,„Arbeit BRauchzimmerN ] Rauch[ ]zimmer B N] [sind] BDichN ] [s]|D|ich BKüchenchef f verständnisvollerN ] \Küchenchef f verständnisvoller/ BDorothyN ] Korrektur von fremder Hand: Dor\o/thy BDorothyN ] Dor[o]|o|thy B

|10|\Glas11/

4 4 5 5 6 7 7–8 9

10 10 11 13 14 16 19 19 20 21 23 23

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 14

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

legenheit beim Poker oder Bakkarat zu verlieren. Oder aber Du lehnst mit einem blonden „Flapper“ an der Reeling und führst Mondscheingespräche, während der Papa in einem wunderbar komfortablen Deckstuhl liegt und den Rauch seiner Henry Clay zu den Sternen hinaufbläst, gedankenvoll die nächste Transaktion überlegend. ---- Nichts in der Welt gibt in diesem Masse das Gefühl dem Alltag entrückt zu sein. B

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Eugen trank apathisch sein Bier und blätterte apathisch in der Zeitung. „Der Redner sprach formvollendet“, stand in der Zeitung. „Man war froh, wiedermal den Materialismus überwunden zu haben“ -- da fühlte Eugen, dass ihn ein Mensch anstarrt. Der Mensch war die einzige Dame mit dem Magazin. B

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„Guten Abend, Herr Reithofer!“ sagte sie . Er wusste es nicht, aber da sie ihn kannte, musste er sie ja auch kennen. Sie setzte sich an seinen Tisch und sagte, das sei Zufall, dass sie sich hier getroffen haben, und über so einen Zufall könnte man einen ganzen Roman schreiben. Einen  Roman mit lauter Fortsetzungen. Sie las nämlich leidenschaftlich gern. Sie hiess Margarethe Swoboda und war ein aussereheliches Kind. Als sie geboren wurde, wäre sie fast gleich wieder gestorben. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass damals Gott der Allgütige den Säugling Margarethe Swoboda ganz besonders geliebt haben musste, denn er wollte ihn ja zu sich nehmen. Aber die geschickte Hebamme Frau Wohlmut aus Wiener-Neustadt schlug scharf über die göttlichen Finger, die Margarethchen erwürgen wollten. „Au!“ zischte der liebe Gott und zog seine Krallen hurtig zurück, während die gottlose Hebamme meinte: „So Gott will, kommt das Wurm durch!“ Und Gott der Gerechte wurde ganz sentimental und seufzte: „Mein Gott, sind die Leut dumm! Als ob man es in einem bürgerlichen Zeitalter als aussereheliches Kind gar so angenehm hätt! Na servus!“ B N

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Ursprünglich war Margarethe Swoboda, genau wie des Kastners Mutter, Verkäuferin in einer Konditorei. 2 5 8 13 14 15 15

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ReelingN ] überlegend. ---- NichtsN ] B51N ] Beinzige f Magazin.N ] B N] B N] BsieN ]

gemeint ist: Reling korrigiert aus: überlegend.----Nichts

haben,N ] ] BKind.N ] B52N ]

[49.] |51| [Prostituierte.] [|D|] |einzige f Magazin.| [Sie hatte ihr Magazin ausgelesen und Eugen entdeckt.] [\S. 103/] [die Prostituierte] |sie| [„Haben Sie mich denn vergessen? Ich bin doch -- na Sie wissen doch, wer ich bin, Herr Reithofer!“] korrigiert aus: haben , [R] korrigiert aus: Kind, [50.] |52|

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 15

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

In jener Konditorei verkehrten Gymnasiasten, Realschüler, Realgymnasiasten und höhere Töchter aus beschränkten Bürgerfamilien und böse alte Weiber, die Margarethe Swoboda gehässig hin und her hetzten, schikanierten und beschimpften, weil sie noch jung war. Ein Gymnasiast, der Sohn eines sparsamen Regierungsrates, verliebte sich in sie und kaufte sich jeden Nachmittag um vier Uhr für fünf Pfennig Schokolade, nur um ihren Bewegungen schüchtern folgen zu können. Dann schrieb er mal während der Geographiestunde auf dem Rande der Karte des malayischen Archipels, was er alles mit ihr tun würde, falls er den Mut fände, ihr seine Liebe zu erklären. Hierbei wurde er von einem  Studienrat ertappt, der Atlas wurde beschlagnahmt und nach genauer Prüfung durch ein Kollegium von Steisspaukern unter dem Vorsitz eines klerikalen Narren für unsittlich erklärt. Er flog aus der Schule und ist auf Befehl seines Vaters, eines bürokratischen Haustyrannen, in einer Besserungsanstalt verkommen. Einmal ging er dort durch, knapp vor Weihnachten, aber der Polizeihund Cäsar von der Schmittenhöhe stellte ihn auf einem verschneiten Kartoffelacker und dann musste er beichten und kommunizieren und dann verbleuten ihn drei Aufseher mit Lederriemen und ein blonder Katechet mit Stiftenkopf und frauenhaften Händen riss ihm fast die Ohren aus. Margarethe Swoboda hörte davon und obzwar sie doch nichts dafür konnte, da sie ja seine Leidenschaft nie erkannt hatte, weil sie erst siebzehn Jahre alt und überhaupt geschlechtlich unterentwickelt war, fühlte sie sich dennoch schuldbewusst, als hätte sie zumindest jenen Cäsar von der Schmittenhöhe dressiert. Sie wollte fort. Raus aus der Konditorei. Sie sagte sich: „Ach, gäbs nur keine Schokolade, gäbs nur keine Gymnasiasten, es gibt halt keine Gerechtigkeit!“ Und sie kaufte sich das Buch „Stenographie durch Selbstunterricht“. Nachts, nach ihrer täglichen vierzehnstündigen Arbeitszeit, erlernte sie heimlich Gabelsbergers System. Dann bot sie sich in der meistgelesensten Zeitung Österreichs als Privatsekretärin an. Nach drei Tagen kam folgender Brief: Wertes Fräulein! Teilen Sie mir näheres über Ihren Busen und über Ihre sonstigen Formen mit. Wenn Sie einen schönen und vor allem festen Busen haben, kann ich Ihnen sofort höchst angenehme Stellen zu durchweg distinguierten Herren vermitteln. Auch möchte ich wissen, ob Sie einen Scherz verstehen und entsprechend zu erwidern im Stande sind. Hochachtungsvoll! B

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 16

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Dieses „Diskretion Ehrensache“ ist ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. B

schikaniertenN ] er malN ] B N] BSelbstunterricht“.N ] BIhreN ] B N]

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Korrektur von fremder Hand: schi[c]kanierten

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er\ /mal [S]

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korrigiert aus: Selbstunterricht“ korrigiert aus: ihre

[Die Unterschrift war unleserlich und darunter stand: Vermittlerin mit prima Referenzen. Briefe wolle man unter Chiffre 8472 adressieren. Diskretion Ehrensache.] Ehrensache\“/

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 17

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Seit es Götter und Menschen, -- kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ Und seit jener Zeit, da die Herrschenden erkannt hatten, dass es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend erhebender , edler und belustigender rauben, morden und betrügen liess -- seit also jener Gekreuzigte gepredigt hatte, dass auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit wird allgemein herumgetuschelt: „Diskretion Ehrensache!“ Wer wagt es also die heute herrschende Bourgoisie anzuklagen, dass sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhabenen Selbstbetruges entblösst, indem sie schlicht die Frage stellt: „Na was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihr einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tut? Nein, das kann man nicht. Die Bourgoisie ist nämlich überaus ehrlich. Sie spricht ihre Erkenntnis offen aus, dass die wahre Liebe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten Prostitution ist. Dass die Ausgebeuteten unter sich auch ohne Prostitution lieben könnten, das bezweifelt die Bourgoisie nicht, denn sie hält die Ausgebeuteten für noch dümmer, da sie sich ja sonst nicht ausbeuten liessen. Die Bourgoisie ist nämlich überaus intelligent. Sie hat auch erkannt, dass es selbst unter Ausbeutern nur Ausbeutung gibt. Nämlich, dass die ganze Liebe nur eine Frage der kaufmännischen Intelligenz ist. Kann man also die Bourgoisie anklagen, weil sie alles auf den Besitzstandpunkt  zurückführt? Nein, das kann man nicht. – B N B

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-- kurz: HerrscherN ] Satz: „ImN ] BerhebenderN ] Bliess -- seitN ] Bherumgetuschelt: „DiskretionN ] BBourgoisieN ] BmanN ] BBourgoisieN ] BProstitutionN ] BProstitutionN ] BBourgoisieN ] BBourgoisieN ] B N] BBourgoisieN ] Bnicht. –N ] B N] B B

[Kaiser und Knechte, Herren und Hörige, Beichtväter und Beichtkinder, Adelige und Bürger, Aufsichtsräte und Arbeiter, Abteilungschefs und Verkäuferinnen, Familienväter und Dienstmädchen, Generaldirektoren und Privatsekretärinnen] korrigiert aus: --kurz:Herrscher korrigiert aus: Satz:„Im Korrektur von fremder Hand: erheben[s]|d|er korrigiert aus: liess--seit korrigiert aus: herumgetuschelt:„Diskretion gemeint ist: Bourgeoisie [man] |man| gemeint ist: Bourgeoisie Korrektur von fremder Hand: Prost\it/ution Prost[it]|it|ution gemeint ist: Bourgeoisie gemeint ist: Bourgeoisie Absatz vom Autor getilgt gemeint ist: Bourgeoisie

nicht. \–/ [[Und so bildete] [a]|A|uch die Chiffre 8472 \bildete/ nur ein winziges Steinchen [des] [|im|] [Kolossalmosaiks in der Kuppel] |im Kuppelmosaik| des kapitalistischen Venustempe[s]|l|s[.] |und so vernahm| Absatz vom Autor getilgt [A]|a|uch Margarethe Swoboda [vernahm] in jener Konditorei die Stimme: „Du wirst ihnen nicht entrinnen!“ „Wieso?“ fragte Margarethe Swoboda, liess den Brief fallen und lallte geistesabwesend vor sich hin: „Nein, das gibt es doch nicht, nein, das kann es doch nicht geben --“ und die Stimme schloss schadenfroh: „Vielleicht, wenn Du Glück hast! Wenn Du Glück hast!“]

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 18

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

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Zwar stand in ihrem Horoskop, dass sie eine glückliche Hand habe, nämlich was sie auch in die Hand nähme, würde gewissermassen zu Gold. Nur vor dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücksmonat und was sie im April auch beginnen möge, das gelänge alles vorbei . „Da dürft ich halt überhaupt nicht leben“, meinte Margarethe Swoboda, denn sie hatte im April Geburtstag. Dies Horoskop stellte ihr die Klosettfrau des Lokales und behauptete, dass sie das Weltall genau kenne bis jenseits der Fixsterne. So hätte sie auch ihrem armen Pintscher Pepperl das Horoskop gestellt und in diesem Horoskop wäre gestanden, dass der arme Pepperl eines fürchterlichen Todes sterben wird. Und das traf ein, denn der arme Pepperl wurde von einem Bahnwärter aufgefressen, nachdem er von einem D-Zug überfahren worden war. Die Klosettfrau hiess Regina Warzmeier und war bei allen Gästen sehr beliebt. Sie wusste immer Rat und  Hilfe und alle nannten die liebe Frau „Grossmama“. Die Grossmama muss mal sehr hübsch gewesen sein, denn es war allen Gästen bekannt, dass sich, als sie noch ein junges Ding war, ein polnischer Graf mit ihr eingelassen hatte. Dies ist ein österreich-ungarischer Gesandtschaftsattaché gewesen, ein rutinierter Erotomane und zynisches Faultier, der sich mal zufällig auf der Reise nach seinen galizischen Gütern in München aufgehalten hatte. B

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Damals war Bayern noch Königreich und damals gab es auch noch ein ÖsterreichUngarn. Das war um 1880 herum, da hat er fast nur mit ihr getanzt, auf so einer richtigen Redoute mit Korsett und Decolleté und der Attaché ist mit der Grossmama am nächsten Mittag in einer hohen standesgemässen Kutsche in das Isartal gefahren, dort sind sie dann zu zweien am lauschigen Ufer entlang promeniert. Sie haben von den blauen Bergen gesprochen und von dem, was dahinter liegt. Er hat vom sonnigen Süden erzählt, vom Vesuv und von Sizilien, von römischen Ruinen und den Wellen der Adria. Er hat ihr einen Ring aus Venedig geschenkt, ein Schlänglein mit falschen Rubinaugen und der Inschrift „Memento!“ Und dann hat sie sich ihm gegeben auf einer Lichtung bei Höllriegelskreuth und er hat sie sich genommen. Es war natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Vormärz. Über die nahen Alpen wehte der Frühlingswind und abends hing der Mond über schwarzen Teichen und dem Wald.

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53N ] ] Bhabe,N ] BvorbeiN ] BkenneN ] BPintscherN ] BReginaN ] BHilfeN ] BrutinierterN ] B54N ] B

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[51.] |53| [Margarethe Swoboda hatte kein Glück.] Korrektur von fremder Hand: ha[t,]|be,| vorbe[u]|i| Korrektur von fremder Hand: kenn[t]|e| [P\i/]|Pi|ntscher gemeint ist: Pinscher [R]|R|egina H[lif]|ilf|e gemeint ist: routinierter [52.] |54|

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 19

Fragmentarische Fassung

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Nach zwei Wochen blieb bei der Grossmama das aus, das sie mit dreizehn Jahren derart erschreckt hatte, dass sie wimmernd zu ihrer älteren Freundin Helene gerannt war, denn sie hatte gefürchtet, nun werde sie verbluten müssen. Aber Helene hatte sie umarmt, geküsst und gesagt: „Im Gegenteil, nun bist Du ein Fräulein.“ Nun aber wusste sie, dass sie bald Mutter sein werde . Sie dachte, wenn sie nur  wahnsinnig werden könnte, und wollte aus dem Fenster springen. Sie biss sich alle Fingernägel ab und schrieb drei Abschiedsbriefe, einen an ihren Vater und zwei an den polnischen Geliebten . Ihr Vater war ein langsamer melancholischer Färbermeister, der unter dem Pantoffel seiner lauten, herrschsüchtigen Gattin stand und alle maschinellen Neuerungen hasste, weil er weder Kapital noch Schlagfertigkeit besass, immerhin aber genug Beobachtungsgabe, um erkennen zu können, wie er von Monat zu Monat konkurrenzunfähiger werde . Diesem schrieb die Grossmama: „Mein Vater! Verzeih Deiner unsagbar gefallenen Tochter Regina.“ Und dem Attaché schrieb sie: „Warum lasst Du mich nach einem Worte von Dir verschmachten? Bist Du denn ein Schuft?“ Diesen Brief zerriss sie und begann den zweiten: „Nimmer wirst Du mich sehen, bete für meine sündige Seele. Bald blühen Blümlein auf einem frischen armen Grabe und die verlassene Nachtigall aus dem Isartal singt von einem zerbrochenen Glück --“ Und sie beschrieb ihr eigenes Begräbnis. Sie erlebte ihre eigene Himmelfahrt. Sie sah sich selbst im Schattenreich und tat sich selbst herbstlich leid. Ein heroischer Engel beugte sich über sie und sprach: „Weisst Du, was das ist ein österreich-ungarischer Attaché? Nein, das weisst Du nicht, was das ist ein österreich-ungarischer Attaché. Ein österreich-ungarischer Attaché verlässt keine werdende Mutter nicht, überhaupt als polnischer Graf, Du kleingläubiges Geschöpf! Schliess das Fenster , es zieht!“ Sie schloss es und glaubte wieder an das verlogene Märchen vom Prinzen und dem spiessbürgerlichen Bettelkind. Dabei wurde sie immer bleicher, hatte selten Appetit und erbrach sich oft heimlich. An den lieben Gott hatte sie nie so recht geglaubt, nämlich sie konnte ihn sich nicht so recht vorstellen, hingegen um so inniger an den heiligen Antonius von Padua. Und  sie betete zu dem himmlischen Jüngling mit der weissen Lilie um einen baldigen Brief von ihrem irdischen Grafen. Natürlich kam keiner, denn freilich war auch auf jener Redoute nicht alles so, wie es die Grossmama gerne sah. Sie ist keineswegs vor allen anderen Holden dem österreich-ungarischen Halunken aufgefallen, sondern dieser hat sich zuerst an eine Bachantin gerieben, aber nachdem deren Kavalier etwas von Watschen sprach, war seine Begeisterung merklich abgekühlt. Aus der ersten Verlegenheit heraus tanzte er mit der Grossmama, die als Mexikanerin maskiert war, und besoff sich aus Wut über den gemeinen Mann, der leider riesige Pratzen hatte. In seinem Rausche fand er die B

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K2/TS9 (Korrekturschicht)

werdeN ] polnischenN ] BGeliebtenN ] Blauten,N ] BwerdeN ] BGlück --“N ] BFensterN ] BhimmlischenN ] BBachantinN ]

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Korrektur von fremder Hand: w[i] e rd\e/

B

[p]|p|olnischen korrigiert aus: Gebiebten

Korrektur von fremder Hand: lauten\,/ Korrektur von fremder Hand: w[i] e rd\e/ korrigiert aus: Glück--“

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[F]|F|enster korrigiert aus: himmlichen gemeint ist: Bacchantin

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 21

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Grossmama ganz poussierlich und versprach ihr den Ausflug in das Isartal. Am nächsten Tage fand er sie allerdings vernichtend langweilig, und nur um nicht umsonst in das Isartal gefahren zu sein, nahm er sie. Hierbei musste er an eine langbeinige Kokotte denken, um den physischen Kontakt mit der kurzbeinigen Grossmama herstellen zu können. Als dann im Spätherbst die Grossmama an einem Sonntagvormittag auf der Treppe zusammenbrach und eine Töchterlein gebar, da verstiessen sie ihre Eltern natürlich nach Sitte und Recht. Die Mutter gab ihr noch zwei Ohrfeigen und der Vater schluchzte, er verstehe das ganze Schicksal überhaupt nicht, was er denn wohl nur verbrochen habe, dass gerade seine Tochter unverheiratet geschwängert worden sei . B

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 22

Selbst die Stammgäste hatten es nie erfahren, was aus Grossmamas Töchterlein geworden ist. Die Grossmama schwieg und man munkelte allerlei. Sie hätte einen rechtschaffenen Hausbesitzer geheiratet oder sie sei eine Liliputanerin vom Oktoberfest, munkelten die einen und die anderen munkelten, sie sei von ihren Pflegeeltern als dreijähriges Kind so geprügelt worden, dass sie erblindet ist und die Pflegemutter ein Jahr Gefängnis bekommen hat, während der Pflegevater freigesprochen worden sei, weil er ja nur zugeschaut hätte. Und wieder andere munkelten, sie wäre bloss eine einfache Prostituierte in Hamburg, genau wie die Margarethe Swoboda in München. „Sie erlauben doch, dass ich mich zu Ihnen setz“, sagte die Dame zu Eugen. „Das freut mich aber sehr, dass ich Sie wiedermal seh, Herr Reithofer! Seit wann sind Sie denn in München? Ich bin schon seit Mai da, aber ich fahr bald fort, ich hab nämlich gehört, in Köln soll es für mich besser sein. Dort war doch erst unlängst die grosse Journalistenausstellung. Eugen wusste noch immer nicht, dass sie Margarethe Swoboda heisse, und er konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kennen könnte. Sie schien ihn nämlich genau zu kennen und Eugen wollte sie nicht fragen, woher er sie kenne, denn sie freute sich sehr, ihn wiederzusehen und erinnerte sich gerne an ihn. B

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IsartalN ] SonntagvormittagN ] BTöchterleinN ] BseiN ] B55N ] BgeprügeltN ] Bdie DameN ] BhabN ] BwarN ] Berst unlängstN ] Bgrosse Journalistenausstellung.N ]

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heisse,N ] sehr,N ] B N] B

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Korrektur von fremder Hand: Isarta[g] l korrigiert aus: Sonntag-vormittag

T[o]|ö|chter\lein/

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Korrektur von fremder Hand: [ist] sei

[\53./] |55| gepr[ü]|ü|gelt [Margarethe Swoboda] |die Dame| korrigiert aus: ahb [ist] |war| [heuer] |erst unlängst| [Pressa, [das ist eine grosse Journalistenausstellung,] [|die grosse| hier diese Heim und Technikausstellung war für mich nichts besonderes.“] |grosse Journalistenausstellung.| Korrektur von fremder Hand: heiss[t]|e,| sehr\,/ gestrichen: \(S. 99)/

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Fragmentarische Fassung

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K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Nicht jede Ausstellung ist gut für mich“, meinte Margarethe Swoboda. „So hab ich bei der Gesoleiausstellung in  Düsseldorf gleich vier Tage lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab in meinem Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei Euerer Gesoleiausstellung und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, dass ich keine Geschäfte mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere anspreche. Da hab ich erst gemerkt, dass ich vier Tag  lang in der Gsundheitsabteilung gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon und da hab ichs freilich verstanden, dass ich vier Tag lang nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hat es mich vor mir selbst gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen , Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.“ Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Deutschen Museum in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine grosse vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau und der Herr Reithofer dachte: „Ist das aber eine geschwätzige Person! Vielleicht verwechselt sie mich, es heissen ja \Textverlust\ fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Krieg in Pressburg im Restaurant Klein gearbeitet hatte. Das ist ein kollegialer Charakter gewesen, ein grosses Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieser Kollege geheiratet und zu ihm gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, zwar nur ein bisserl , aber sie hat ein gutes Herz.“ Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hiess Karl Swoboda. „Als mein Mann in Montenegro fiel“, sagte jetzt die geschwätzige Person, „ da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer . Ich hab mir gedacht, ist der jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, dass Sie nicht gefallen sind. Erinnern Sie sich noch an meine Krapfen, Herr Reithofer?“ Jetzt erinnerte er sich auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt und da hatte ihm jener seine Frau vorgestellt und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, dass und nach dem Pferderennen ist die  beiden Betten nicht zueinander passten,

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 85

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 86

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VeranstaltungenN ] HeimatkundgebungN ] Bder f ReithoferN ] Bdachte f Person!N ] BimN ] Bkollegialer CharakterN ] BihmN ] Bein bisserlN ] BgutesN ] Bjetzt f Person,N ] Bda habN ] BSieN ] BReithoferN ] BhabN ] BSieN ] BSieN ] BerN ] B N] BselbstgebackenenN ] B N] B B

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Ver[na]|an|staltungen Heima[t]|t|kundgebung [Eugen] |der f Reithofer| dachte\: „Ist f Person!/ [I]|i|m [freundlicher Mensch] |kollegialer Charakter| [Eugen] |ihm| [etwas] |ein bisserl| gut[s]|es| [Margarethe Swoboda,] |jetzt die \geschwätzige/ Person,| da\ /hab korrigiert aus: sie Reith[e]|o|fer [ah]|ha|b korrigiert aus: sie korrigiert aus: sie \er/ [Eugen] korrigiert aus: selbstgebacken [denn das eine war weiss und das andere braun --]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 87

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

der Swoboda sehr melancholisch gewesen, weil er fünf Gulden verspielt hatte, und hatte traurig gesagt: „ Glaubs mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!“ „Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reit-hofer“, sagte Karl Swobodas Witwe . B N

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Als Eugen an die beiden Betten in Pressburg dachte, die nicht zueinander passten, näherte sich ihm die Grossmama. Wenn die Grossmama nichts zu tun hatte, stand sie am Buffet und beobachtete die Menschen. So hatte sie auch bemerkt, dass das „ Gretchen“ mit Eugen sympathisierte, weil sie sich garnicht so benahm, wie sie sich Herren gegenüber benehmen musste. Sie sprach ja mit Eugen, wie mit ihrem grossen Bruder und solch grosse Brüder schätzte die Grossmama und setzte sich also an Eugens Tisch. Das Gretchen erzählte gerade, dass im Weltkrieg viele junge Männer gefallen  sind und, dass nach dem Weltkrieg sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Grossmama meinte, für Offiziere sei es schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren ginge . So hätten sich viele Offiziere nach dem Kriege total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte sie mal in einer grossen Herrentoilette gedient und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe für ein Fass Bier verkauft hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eierkognaks eingetauscht und dieser Fliegeroffizier sei so versoffen gewesen, dass er statt mit „Guten Tag!“ mit „Prost!“ gegrüsst hätte. Und der Herr Reithofer meinte, der Weltkrieg hätte freilich keine guten Früchte getragen und für Offiziere wäre es freilich besser, wenn ein Krieg gewonnen würde , aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, dass er persönlich auch als Sieger unter derselben wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er nun B

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] ] B N] BGlaubsN ] BWitweN ] B56N ] BGretchen“N ] BmitN ] BdieN ] BgingeN ] BSo f KriegeN ] BmitN ] BmitN ] Bhätte.N ] BUnd f ReithoferN ] BhätteN ] BwürdeN ] B N] BpersönlichN ] Bals SiegerN ] B N] BnunN ] B N B N

ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 4

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[Karl] [für] [zu Eugen] Glaub\s/ [es] Korrektur von fremder Hand: Wi[t]twe

[54.] |56| Gretchen\“/ mi[r]|t| [s]|d|ie [geht] |ginge| So1 hätten2 sich3 nach6 dem7 Krieg\e/8 viele4 Offiziere5 Korrektur von fremder Hand: mi[r]|t| mi[t]|t| h[a]|ä|t[.]|te.| [Eugen] |Und f Reithofer| h[a]|ä|[b]|tt|e Korrektur von fremder Hand: w[ü]|ü|rde [dass wenn wir den Weltkrieg gewonnen hätten,] \persönlich/ [dann] |als Sieger| [allgemeinen] [jetzt] |nun|

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 88

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

schon ewig lang arbeitslos und es bestünde aber nicht die geringste Aussicht, dass es besser werden wollte. Hier mischte sich ein älterer Herr ins Gespräch, der sich auch an den Tisch ge setzt hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, wenn Eugen kein Mann, sondern eine Frau und kein Kellner, sondern eine Schneiderin wäre, so hätte er für diese Schneiderin sofort eine Stelle. Er kenne nämlich einen grossen Schneider-geschäftsinhaber in Ulm an der Donau und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat, aber der Herr Reithofer dürfte halt auch keine Österreicherin sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher und deshalb engagiere er nur sehr ungern Österreicher. Aber ihm zu Liebe würde dieser Kommerzienrat vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch Schneiderin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen und von diesem Kind dürfe die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett in Neu-Ulm, um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei.  Er spreche perfekt deutsch, englisch, französisch, italienisch und rumänisch. Auch etwas slowakisch, tschechisch, serbisch, kroatisch und verstehe ungarisch und türkisch. Aber türkisch könne jener Kommerzienrat weder lesen noch schreiben. Dieser ältere Herr war hier Stammgast und wiederholte sich gerne. So debattierte er jeden Tag mit der Grossmama und kannte keine Grenzen. Er erzählte ihr, dass seinerzeit jener Höhlenmensch, der als erster den ersten Ochsen an die Höhlenwand gezeichnet hatte, von allen anderen Menschen als grosser Zauberer angebetet worden ist und so müsste auch heute noch je-der Künstler angebetet werden, auch die Pianisten. Dann stritt er sich mit der Grossmama , ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heisse (er sammelte nämlich Briefmarken) , worauf die Grossmama jeden Tag erwider-te, auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener grosse Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte, und sie könne es sich schon garnicht vorstellen, wie so etwas angefangen würde, worauf er meinte, aller Anfang sei halt schwer und er fügte noch hinzu, dass die Dreissigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewusstseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Grossmama und dachte, der rechthaberische Mensch sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen. B

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ewig langN ] aberN ] Bwollte.N ] Bein f HerrN ] BSchneidergeschäftsinhaberN ] Bder f ReithoferN ] BdürfeN ] BDieser f HerrN ]

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hier StammgastN ] GrossmamaN ] BheisseN ] B(er f Briefmarken)N ] Bwollte,N ] BerN ] BhaltN ] Brechthaberische MenschN ] B

ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 5

ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 8

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[wieder mal seit zwei Monaten] |ewig lang| [schon] |aber| [wird.] [|könnte.|] |wollte.| [der Pianist] |ein f Herr| Schnei\der/geschäft[sinh] |inh|aber [Eugen] |der f Reithofer| dürf[e]|e| (1) Der Pianist (2) Dieser f Herr [sehr geschwätzig] |hier Stammgast| korrigiert aus: Groossmama Korrektur von fremder Hand: heiss[t]|e| \(er [war] |sammelte| nämlich Briefmarken)/ wollte\,/ [der Pianist] |er| \halt/ [Pianist] [|recht|] |rechthaberische Mensch|

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 90

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)



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ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 6

Als der Pianist sagte, dass er für Eugen sofort eine Stelle hätte, wenn -- da dachte Eugen an Agnes. Er sagte sich, das wäre ja eine Stelle für das Mistvieh, das er gestern in der Thalkirchnerstrasse angesprochen und das ihn heute in der Schleissheimerstrasse versetzt habe. Gestern hätte sie ihm ja erzählt, dass sie Schneiderin wäre und bereits seit fünf Monaten keine Stelle finden könnte. Heute könnte er ihr ja sofort eine Stelle verschaffen, es würde ihm vielleicht nur ein Wort kosten, als wäre er der Kaiser von China, den es zwar auch bereits nicht mehr geben würde. Gestern auf dem Oberwiesenfeld hätte er es nicht geglaubt, dass er heute versetzt werde . „Sie ist halt ein Mistvieh “, sagte er sich und fügte hinzu: „Wahrscheinlich ist auch der Pianist ein Mistvieh!“ Und Eugen warf mit den Mistviehern nur so um sich, alles und jedes wurde zum Mistvieh, die Swoboda, die Grossmama, der Tisch, der Hut, das Bier und das Bierglas -- wie das eben so manchmal geschieht. „Aber es ist doch schön von dem Pianistenmist-vieh, dass er mir helfen möcht“, fiel es ihm plötzlich auf. „Er weiss doch garnicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh bin. Ich bin doch auch eins, meiner Seel!“ „Überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen“, dachte er weiter. „Wenn  sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser. Es ist doch direkt unanständig, wenn man einem Mistvieh nicht helfen tät, obwohl man könnt, bloss weil es ein Mistvieh ist.“ Und dann fiel es ihm auch noch auf, dass es sozusagen ein angenehmes Gefühl ist, wenn man sich gewissermassen selbst bestätigen kann, dass man einem Mistvieh geholfen hat. Ungefähr so: Zeugnis. Ich bestätige gerne, dass das Mistvieh Josef Reithofer ein hilfsbereites Mistvieh ist. Es ist ein liebes gutes braves Mistvieh. Josef Reithofer Mistvieh. B

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„Sagen Sie“, wandte sich der Herr Reithofer an das freundliche Mistvieh, „ich kann ja jetzt leider nicht weiblich werden, aber ich wüsst eine für Ihren KommerB

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Korrektur von fremder Hand: w[i] e rd\e/

57N ] werdeN ] BMistviehN ] Beins f Seel!“N ] BJosefN ] BJosefN ] B58N ] BSie“,N ] Bder f ReithoferN ] BfreundlicheN ] BwüsstN ] BeineN ] BIhrenN ] BKommerzienrat,N ]

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M[i]|i|stvieh eins[!]|,| [ich [ah]|ha|b ja auch schon Mistvieher versetzt.“] |meiner Seel!“| [Eugen] |Josef| [Eugen] |Josef| [56.] |58| Sie\“/, [Herr\,“/ [Pianist,]] [Eugen] |der f Reithofer| [hilfsbereite] |freundliche| [weiss] |wüsst| ein\e/ [Mädel] korrigiert aus: ihren Kommerzienrat\,/ [in Ulm. Sie ist]

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Fragmentarische Fassung

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zienrat, eine erstklassige Schneiderin, und Sie täten mir persönlich einen sehr grossen Gefallen“, betonte er und das war natürlich gelogen. Der Pianist sagte, das wäre garnicht der Rede wert, denn das kostete ihm nur einen Telephonanruf, da sich jener Kommerzienrat zufällig seit gestern in München befände und er könne ihn sofort im Hotel Deutscher Kaiser anrufen -- und schon eilte der hilfsbereite Pianist ans Telephon. „Also das ist ein rührendes Mistvieh“, dachte  Eugen und die Swoboda sagte: „Das ist ein seltener Mensch und ein noch seltenerer Künstler .“ Und die Grossmama sagte: „Er lügt.“ Aber ausnahmsweise täuschte sich die Grossmama, denn nach wenigen Minuten erschien der Pianist, als hätte er den Weltkrieg gewonnen. Der Kommerzienrat war keine Lüge und seine wunderbaren Beziehungen waren nur insofern übertrieben, dass es nicht stimmte, dass sich seine Tochter in Neu-Ulm lediglich der Erziehung ihres kommerzienrätlichen Kindes widmen kann, sondern sie musste als Schneiderin weiterarbeiten und erhielt nur ein kleines kommerzienrätliches Taschengeld. Der Pianist konnte sich vor lauter Siegesrausch nicht sofort wieder setzen, er ging also um den Tisch herum und setzte Eugen auseinander , Agnes könne die Stelle sofort antreten, jedoch müsste sie morgen früh Punkt sieben Uhr dreissig im Hotel Deutscher Kaiser sein. Dort solle sie nur nach dem Herrn Kommerzienrat aus Ulm fragen und der nimmt sie dann gleich mit, er fährt nämlich um acht Uhr wieder nach Ulm. Eugen fragte ihn, wie er ihm danken sollte, aber der Pianist lächelte nur: vielleicht würde mal Eugen ihm eine Stelle verschaffen, wenn er kein Vertreter wäre, sondern eine Schneiderin. wollte wenigstens das Telephongespräch bezahlen, aber selbst dies liess er nicht zu. „Man telephoniert doch gern mal für einen Menschen“, sagte er. Selbst die Grossmama war gerührt, aber am meisten war es der brave Pianist persönlich. N

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erstklassigeN ] Schneiderin,N ] BGefallen“,N ] BistN ] BdieN ] BKünstlerN ] BGrossmama,N ] BauseinanderN ] BPunktN ] B N] BwürdeN ] BVertreterN ] B N] BamN ] BPianist persönlich.N ] B B

[vorzügliche] |erstklassige| Schneiderin\,/ Gefallen\„/, [Herr Pianist“,] Korrektur von fremder Hand: [sit] |ist| [Margarthe] |die| K[ü]|ü|nstler Grossmama\,/ korrigiert aus: auseinader korrigiert aus: punkt [H] Korrektur von fremder Hand: w[ü]|ü|rde [Pianist] [|Reisend|] [|Buchhalt|] |Vertreter| [Eugen] [ma]|am| Pianist[.] |persönlich.|

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So kam es, dass am nächsten morgen Eugen bereits um sechs Uhr durch die Schellingstrasse ging, damit er sich mit seiner Hilfe nicht verspäte , auf dass er sich ein gutes Zeugnis ausstellen könne. Er wollte gerade bei der Tante im vierten Stock läuten, da sah er Agnes über die  Schellingstrasse gehen. Sie kam von ihrer Bank für Erwachsene und war zerknüllt und elend und Eugen dachte: „Schau, schau, bis heut morgen hat mich das Mistvieh versetzt!“ Die Sonne schien in der Schellingstrasse und der Morgenwind überschritt bereits den Ural, als Agnes über Eugen erschrack. Doch er fragte sie nicht, woher sie komme, was sie getan und warum sie ihr Wort gebrochen und ihn versetzt hätte, sondern er teilte ihr lediglich mit, dass er für sie eine Stelle fand, dass sie schon heute früh zu einem richtigen Kommerzienrat gehen müsse , der sie dann noch heute früh nach Ulm an der Donau mitnehmen würde. Und das wäre doch ein direkter Rettungsring für sie. Sie starrte ihn noch immer an und sagte, er solle sich doch eine andere aussuchen für seine blöden Witze und sie bitte sich diese Frozzelei aus und überhaupt diesen ganzen Hohn -- aber er lächelte nur, denn das Mistvieh tat ihm richtig leid, weil es ihm den Kommerzienrat nicht glauben konnte. Das Mistvieh murmelte noch etwas von Rohheit und plötzlich fing es an zu weinen . Er solle es doch in Ruhe und Frieden lassen, weinte es unvermittelt , es sei ja eh schon ganz kaputt. Aber der H. R. schwieg noch immer und auf einmal fing das Mistvieh wieder an, sehr leise und in einer ganz anderen Art, das könne es ja garnicht geben, dass ihr ein Mensch eine Stelle verschaffe , nachdem sie den Menschen wirklich gemein ausgenutzt hatte. Dann schwieg auch das Mistvieh. Es hatte ja niemals an das Reine in der Welt geglaubt, als sie antwortete, „Ich B

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Korrektur von fremder Hand: verspäte[t] Korrektur von fremder Hand: k[a] ö nn[.] e.

59N ] verspäteN ] Bkönne.N ] BviertenN ] BmüsseN ] BUnd f sie.N ] Bnoch immerN ] B N] BMistviehN ] BrichtigN ] Bplötzlich f weinenN ] Bes unvermitteltN ] Beh f ganzN ] Bkaputt.N ] BAber f R.N ] Bnoch immerN ] Bauf f fingN ] Bwieder f Art,N ] BverschaffeN ] Bwirklich f hatte.N ] BEs f antwortete,N ]

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[V]|v|ierten

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\Und f sie./ \noch immer/ [Agnes] M[I]|i|stvieh [plötzlich] |richtig| [dann weinte es \plötzlich/] |plötzlich f weinen| [das Mistvieh] |es unvermittelt| [ganz] |eh [gan]|schon| ganz| kaputt\./ [und auch die Schuhe seien nun ganz kaputt.] [Eugen] |Aber f R.| \noch immer/ [plötzlich sagte] |auf einmal fing| [,] |wieder an, \sehr/ leise f Art,| Korrektur von fremder Hand: verschaff[t]|e| [versetzt hätte.] |wirklich f hatte.| [Und dann sagte es:] |Es f antwortete,|

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ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 24

Fragmentarische Fassung

K2/TS9 (Korrekturschicht)

Lesetext

hätt wirklich nicht gedacht, dass Sie extra wegen mir herkommen“, sagt sie und weint nichtmehr. „Wissens, Fräulein“, meinte der Herr Reithofer, „es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, und das ist die menschliche Solidarität. Ich hab halt von einer Stelle gehört und bin jetzt da. Es ist nur gut, wenn man weiss, wo ein Mensch wohnt.“ Dann liess er sie stehen. B

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SieN ] herkommen“, f nichtmehr.N ] BFräulein“,N ] Bund f Solidarität.N ]

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Dann f stehen.N ]

korrigiert aus: sie herkommen\“/, [Herr Reithofer.“] |sagt f nichtmehr.| Fräulein\“,/ [Pollinger“,] (1) aber man [hat es noch nicht ganz heraus], was das eigentlich ist. (2) und f Solidarität. \Dann f stehen./

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Fassung

K2/TS10 (Korrekturschicht)



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Roman-Anfang / Von Oedön von Horváth Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Eugen kennenlernte, da war es noch Sommer. Sie waren beide arbeitslos, und Eugen knüpfte daran an, als er sie ansprach. Das war in der Thalkirchner Straße vor dem städtischen Arbeitsamt, und er sagte, er sei bereits zwei Monate ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Oesterreicher. Sie sagte, sie sei bereits fünf Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht, und sie sagte, sie kenne Oesterreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr schöne Stadt, und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte, und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wolle, er habe so lang nicht mehr diskutiert, denn er kenne hier nur seine Wirtin, und das sei ein pedantes Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante, und schwieg. Er lächelte und sagte, er freue sich sehr, daß er sie nun kennengelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Hierauf gingen sie spazieren. Als Eugen die ehemaligen Kasernen sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Ueberhaupt gäbe es viele Mächte, die stärker wären als der Mensch, aber so dürfe man nicht denken, denn dann müßte man sich aufhängen. Sie sagte, er solle doch nicht so traurig daherreden, hier sei nun das Oberwiesenfeld, und er solle doch lieber sehen, wie weit heut der Horizont wär und wie still die Luft, nur ab und zu kreise über einem ein Flugzeug, denn dort drüben sei der Flughafen. Er sagte, das wisse er schon und die Welt werde immer enger, denn bald wird man von dort drüben in zwei Stunden nach Australien fliegen, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft austreten wollte und derweil in den Himmel kam. Ueberhaupt entwickle sich die Technik kolossal, neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich großartig, daß der menschliche Geist solche Höhen erklimmt, und sie werde es ja auch noch erleben, daß, wenn das so weiter geht, Europa zugrunde gehen wird. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse. und er habe gestern gelesen, daß sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwendet, weil die Kapitalisten anfangen, sich zu organisieren. Das war Ende August 1928. Es hatte wochenlang nicht mehr geregnet und man prophezeite einen kurzen trüben Herbst und einen langen kalten Winter. Die Landeswetterwarte konstatierte, daß das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein, und auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Agnes fragte Eugen, ob auch er es fühle, wie schwül der Abend sei, und dann: sie denke nun schon so lange darüber nach und könne es sich gar nicht vorstellen, was er für einen Beruf hätte. „Kellner,“ sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute sicher in einem ausländischen Grandhotel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Bisra . Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Er hätt zehn Neger unter sich und tät dem Vanderbildt seinem Neffen servieren, er hätt fürstlich verdient und hätt B

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Lesetext

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BisraN ] VanderbildtN ]

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gemeint ist: Biskra gemeint ist: Vandberbilt

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Das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, 4. Januar 1929

Fassung

K2/TS10 (Korrekturschicht)

sich mit fünfzig ein kleines Hotel im Salzkammergut gekauft. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Serajewo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der, wo der österreich-ungarische Thronfolger war, erschossen haben. Sie sagte, sie wisse nicht, was dieses Serajewo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, gleich ganz zu Beginn, und soviel sie gehört hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an den ganzen Weltkrieg nicht gut erinnern, denn als der seinerzeit ausbrach, da sei sie erst vier Jahre alt gewesen. Sie erinnere sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals sei ihre Mutter an der Kopfgrippe gestorben. Sie habe zwar ihre Mutter nie richtig geliebt, die sei sehr mager gewesen und so streng weiß um den Mund herum, und sie hätt oft das Gefühl gehabt, daß die Mutter denke: warum lebt das Mädel? Sie habe noch heut ab und zu Angst, obwohl nun die Mutter seit fünf Jahren tot sei. So habe sie erst neulich geträumt, sie sei wieder ganz klein, und ein General mit lauter Orden sei in der Küche erschienen und habe gesagt: „Im Namen Seiner Majestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!“ Und die Mutter habe nur gesagt: „Soso, wenn er nur nicht wieder den Hausschlüssel verliert.“ Und der General habe präsentiert und sei verschwunden, und die Mutter habe sich vor sie hingeschlichen und sie entsetzlich gehässig angeglotzt. Und Agnes erklärte Eugen: „Solche Dummheiten träumt man oft, aber das war eine blöde Dummheit.“ Und Agnes dachte, wenn sie heut an ihre Kindheit zurückdenkt, so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draußen scheint die Sonne, aber kein Strahl fällt in das Zimmer. Sie hat das Gefühl, als schwebe der Raum ungeheuer hoch über der Erde. Und dann weiß sie, daß draußen tief unten in der Ebene ein breiter Fluß fließen würde, wenn sie größer wäre und durch das Fenster sehen könnte. Lautlos fährt ein Zug über die Brücke. Der Abend wartet am Horizont mit violetten Wolken. Aber das ist freilich alles ganz anders gewesen. Der Himmel war mit Brandmauern verbaut, und durch das Fenster jenes Zimmers sah man auf einen trüben Hof mit Kehrichttonnen und verkrüppelten Fliederbüschen. Hier klopften die Hausfrauen Teppiche, und wenn ihre Hündinnen läufig waren, ließen sie sie nur hier unten spazieren, denn draußen auf der Straße wimmerten die Kavaliere. Kinder durften hier aber nicht spielen, das hat der Hausmeister untersagt, seit sie den Flieder gestohlen und ohne Rücksicht auf die sterbende böse Großmutter Biedermann im ersten Stock gejohlt und gepfiffen haben, daß irgendein Tepp die Feuerwehr alarmierte. Dies Haus steht noch heute in Regensburg und im dritten Stock links erlag 1923 Frau Helene Pollinger der Kopfgrippe. Sie war die Witwe des auf dem Felde der Ehre gefallenen Artilleristen und Zigarettenvertreters Martin Pollinger. Und ungefähr fünf Jahre später, Ende August 1928, ging ihre Tochter Agnes mit einem arbeitslosen Kellner aus Oesterreich über das Münchener Oberwiesenfeld und erzählte: „Als sie meine Mutter begrabn habn, da war es der achtundzwanzigste Oktober, und dann bin ich von Regensburg zur Tante nach München gefahrn. Ich war, glaub B

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SerajewoN ] SerajewoN ]

gemeint ist: Sarajewo gemeint ist: Sarajewo

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K2/TS10 (Korrekturschicht)

Lesetext

ich, grad vierzehn Jahre alt und hab im Zug sehr gefroren, weil die Heizung hin war und das Fenster kein Glas nicht gehabt hat, es war nämlich grad Inflation. Die Tante hat mich am Hauptbahnhof erwartet und hat geweint, nun bin ich also ein Waisenkind, ein Doppelwaisenkind, ein Niemandskind, ein ganz bedauernswertes, und dann hat die Tante furchtbar geschimpft, weil sie nun gar nicht weiß, was sie mit mir anfangen soll, sie hat ja selber nichts und ob ich etwa glaub, daß sie etwas hätt und ob meine Mutter selig vielleicht geglaubt hätt, daß sie etwas hätt und wenn ich auch die Tochter ihrer einzigen Schwester selig bin und diese einzige Schwester selig soebn in Gott verstorbn ist, so muß man halt doch schon wissn, daß ein jeder sterben muß, keiner lebt ewig nicht, da hilft sich nichts. Und die Tante hat gesagt, auf die Verwandtn ist wirklich kein Verlaß nicht. Ich bin dann bald zu einer Näherin gekommen und hab dort nähen gelernt und hab Pakete herumtragn müssen in ganz München, aber die Näherin hat paar Monat drauf einen Postbeamten geheiratet, nach Ingolstadt. Da hat die Tante wieder furchtbar geschimpft und hat mich hinausschmeißen wolln, aber ich bin im letzten Moment zu einer anderen Näherin gekommen, dort hab ich aber ein Kostüm verschnittn und dann bin ich wieder zu einer anderen Näherin gekommen, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn und dann hab ich wirklich Glück gehabt, daß ich gleich wieder zu einer Näherin gekommen bin, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn, ich hab schon wirklich Pech gehabt.“ Und Agnes fuhr fort, im letzten Kriegsjahr sei mal die Tante in Regensburg gewesen und habe gesagt, sie sehe zwar ihrem Vater schon gar nicht ähnlich, aber sie hätte genau sein Haar, worauf ihre Mutter gemeint habe: „Gelobt sei Jesus Christus, wenn du sonst nichts von ihm hast!“ Und dazu habe die Mutter so bissig gegrinst, daß sie sehr böse geworden ist, weil ja der Vater schon tot geschossen gewesen wäre, und sie habe die Mutter sehr geärgert gefragt, was sie denn von ihr hätte. Da sei aber die Mutter plötzlich sehr traurig geworden und habe nur gesagt: „Sei froh, wenn du nichts von mir hast!“ Sie glaube auch, daß sie schon rein gar nichts von der Mutter habe. Sie habe jedoch ein Jugendbildnis der Großmutter aus Straubing gesehen, und da sei sie direkt erschrocken, wie ähnlich sie der sehe. Sie könne ihre Tochter sein oder ihre Schwester. Oder sie selbst. Eugen meinte, daß jeder Mensch Verwandte hat, der eine mehr und der andere weniger, entweder reiche oder arme, boshafte oder liebe, und jeder Verwandte vererbt einem etwas, der eine mehr und der andere weniger, entweder Geld, ein Haus, zwei Häuser oder einen großen Dreck. Auch Eigenschaften wären erblich, so würde der eine ein Genie, der zweite Beamte, der dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloß Nummern, die sich alles gefallen ließen. Nur wenige ließen sich nicht alles gefallen, und das wäre sehr traurig. Und Eugen erzählte, er habe vor dem Weltkrieg im Bahnhofscafé in Temesvar den Bahnhofsvorstand bedient, das sei ein ungarischer Rumäne gewesen und hätte angefangen über die Vererbung nachzugrübeln, hätte sich Tabellen zusammengestellt, addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und im Lexikon studiert von A bis Zz und wäre endlich dahintergekommen daß jeder mit jedem irgendwie verwandt ist, mit jedem Räuber, Mörder, General, Minister, sogar mit jedem römisch-katholischen Priester und dem Wunderrabbi von Kolomea. Darüber sei er dann verrückt geworden und hätte aus der Irrenanstalt Briefe an seine Verwandten geschickt. So habe er zu Weihnachten Franz Joseph folgendermaßen gratuliert:

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Fassung

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K2/TS10 (Korrekturschicht)

Lesetext

Liebe Nichte! Ich wünsche Dir einen recht angenehmen Geburtstag. Herzliche Grüße aus dem K. K. priv. Narrenhaus! Das Wetter ist schön, Auf Wiedersehn! Es küßt Dich Deine Mama. Und Eugen erklärte Agnes, obwohl jener Bedauernswerte korrekt verrückt gewesen sei, hätte jener doch recht gehabt, denn jeder Mensch sei tatsächlich mit jedem Menschen verwandt, aber es habe keinen Sinn, sich mit dieser Verwandtschaft zu beschäftigen, denn wenn man sich all das so richtig überlegen würde, müßte man wahrscheinlich auch verrückt werden. Da habe der alte Schuster Breitenberger in Preßburg schon sehr recht gehabt, wie er, bevor er gestorben ist, zu seiner versammelten Familie gesagt hat: „Leutl, wenn ihr mal recht blöd seids, so denkts an mich!“ Agnes sagte, sie denke fast nie an ihre Familienverhältnisse und sie wundere sich schon eine ganze Weile sehr, wieso, wodurch und warum sie darauf zu sprechen gekommen sei. Eugen sagte, er denke überhaupt nie an seine Vorfahren, er sei doch kein Aristokrat, der darüber Buch führe, damit er es sich auf den Tag ausrechnen könne, wann er verteppen würde. So endete das Gespräch über die liebe Verwandtschaft. Der Tag gähnte, er war bereits müde geworden und zog sich schon die Stiefel aus, als Agnes fühlte, daß Eugen bald ihre Hüfte berühren werde. Er tat es auch und sagte „Pardon!“

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Begleitende Einzeltexte

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Einzeltext 1: Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München

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Fragmentarische Fassung

ET1/TS1 (Korrekturschicht)



Lesetext

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ÖLA 3/W 213 – BS 65 b, Bl. 1

Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München. (in dritter Person erzählt) N

5

Als ich tanzen lernte, war der Weltkrieg noch kaum vorbei. Ich ging damals in die Oberrealschule in Budapest. Unsere Schule lag in einer Seitenstrasse, gegenüber lag das Gefängnis, und weiter vorn der Justizpalast, es war also eine Strasse der Gerechtigkeit. Ich erinnere mich noch an meinen Tanzmeister, er hatte eine Perücke auf seinem Sattelkopf. Mit mir gab er sich wenig ab. Sein Sohn ist im Krieg gefallen und mir sagte er, ich sehe seinem Sohne ähnlich, und deshalb war ich ihm unsympathisch, weil ich ihn immer an seinen einzigen Sohn erinnerte. Er wollte mich auch deshalb immer in einen anderen Kurs stecken, das war ein Anfängerkurs, aber ich protestierte dagegen. Trotzdem gelang es ihm, mich zu degradieren. „Sie lahmen ja!“ schrie er mich an, „Eins zwei drei. Eins zwei drei!“ Ich bin nur froh, dass der Krieg vorbei ist, was glauben Sie, was der Erzherzog Josef sein Wort halten wird, eins zwei drei eins zwei drei? Er hat doch auf die Republik geschworen (der Erzherzog Josef hat natürlich sein Ehrenwort gebrochen). In Budapest erschien damals eine Zeitung namens „Budapester Misthaufen“. Der Redakteur war ein verkommenes Subjekt, aber er hatte entschieden Humor. „Erscheint wenns nötig ist“ stand auf dem Blatt. Der Redakteur schnüffelte überall herum nach privaten Geheimnissen, ging dann auf die Redaktionen in die Familien und gab es preis. Was zahlen Sie, wenn ichs nicht bringe? B

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1 2 5 5 6 10 15 16 17 18 19 22 23

] Aus f erzählt)N ]

BN B

WeltkriegN ] noch f vorbei.N ] BeinerN ] BSattelkopf. MitN ] BschrieN ] BEinsN ] Bdrei einsN ] BzweiN ] Bgebrochen).N ] BnötigN ] BFamilienN ] B B

N

N

[\Erinnerungen/] (1) Tanzstunde (2) \Aus f erzählt)/ \Welt/[K]|k|rieg [gerade] |noch kaum| vorbei[,]|.| [es war [\ger/] Revolution] korrigiert aus: eeiner korrigiert aus: Sattelkopf. Mit korrigiert aus: chrie korrigiert aus: eins korrigiert aus: drei eins korrigiert aus: zwe korrigiert aus: gebrochen) korrigiert aus: nötiig korrigiert aus: Famili en

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Einzeltext 2: Das Märchen vom Fräulein Pollinger

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Fassung

ET2/TS1 (Korrekturschicht)



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Das Märchen vom Fräulein Pollinger von Ödön Horváth.

Es war einmal ein Fräulein, das hiess Anna Pollinger und fiel bei den besseren Herren nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur hundertundzehn RM und hatte nur eine Durchschnittsfigur und ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett. Sie arbeitete im Kontor einer Autoreparaturwerkstätte, doch konnte sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie ab und zu auf einem Motorrad hinten mitfahren, aber dafür erwartete man auch meistens was von ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und verschloss sich den Herren nicht. Oft liebte sie zwar gerade ihren einen nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte, im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen und wenn sie dies trotzdem tat, wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade mal mussten. Oft wurde sie dann in den Anfangssätzen boshaft und tückisch, aber bald liess sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in ihrem Leben einerlei, denn das musste es ja sein. Nur wenn sie unpässlich war, dachte 얍 sie intensiver an sich. Einmal ging sie mit einem Herrn beinahe über das Jahr, der hiess Fritz. Ende Oktober sagte sie: „Wenn ich ein Kind bekommen tät, das wär das grösste Unglück.“ Dann erschrack sie über ihre Worte. „Warum weinst Du?“ fragte Fritz. „Ich hab es nicht gern, wenn Du weinst! Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag und wir machen eine Bergtur .“ Und er setzte ihr auseinander, dass bekanntlich die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, dass sie kein Kind kriegt. Sie stieg dann mit Fritz auf die Westliche Wasserkarspitze, 2037 meter hoch über dem fernen Meer. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon ganz Nacht, aber droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt und Anna sagte: „Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.“ Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein. Seit dieser Bergtur hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch nie wieder ganz gesund und ab und zu tat ihrs im Unterleib schon sehr verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch. B

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Lesetext

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BergturN ] dieser BergturN ] BBergturN ] B B

gemeint ist: Bergtour diese[m]|r| [Aufstieg] |Bergtur| gemeint ist: Bergtour

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ÖLA 3/W 207 – BS 4 b, Bl. 1

ÖLA 3/W 207 – BS 4 b, Bl. 2

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Einzeltext 3: Das Fräulein wird bekehrt

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Fragmentarische Fassung

ET3/TS1 (Korrekturschicht)

얍mütterlein blieb aber immer die einfache Frau aus der Biedermeierzeit. Sie hatte ein Gebetbuch und darin lag eine gepresste Rose. Sie sass in einem hohen Lehnstuhl und erzählte Bihren EnkelnN Märchen. Und die Märchen endeten, keiner solle sich seines Standes überheben. Und dann starb die Grossmutter. Das Gebetbuch mit der Rose kam in den Sarg unter ihren Kopf und noch heute zieht eine Wehmut durch ihre Enkelkinder, die heute als Koofmichs und hohe Beamte leben in der grossen Stadt Berlin. Einzelne gingen in der Inflation zu Grunde und nur einer rettete sein Vermögen. Die anderen wurden proletarisiert. Der eine gab den anderen nichts, er war geizig, gefrässig, hatte eine ungebildete hochmütige Frau und ein hässliches Kind. Er lebte in einer ehemaligen BResidenzstadtN, in einer sterbenden BAtmosphäreN und spielte am Stammtisch die Rolle des BMittelstandführersN. Er hielt den Mittelstand für den Kulturträger, las nie ein Buch und schimpfte auf die Juden. Als Ziel der Politik erklärte er die politische Ausschaltung der Arbeiter, schwärmte für Mussolini, nannte sich aber selbst Arbeiter, glaubte die Arbeiter zu übertölpeln, schimpfte auf das Kapital und verehrte den Reichverband der Industrie. Er war der Vertreter des Mittelstandes, jener Klasse, die stirbt. Sie kann nur noch nörgeln und den Gang der Befreiung der Menschheit aufhalten. Sie leistet nichtsmehr und BstehtN nur der dritten Klasse im Wege in der Erringung der Macht. Mittelstandspolitik ist Verbrechen an der BMenschheitN. Auch unseres Fräuleins Grosseltern waren noch Mittelständler. Sie selbst ist aber Beamtin, weil der Vater in der BInflationN zu Grunde gegangen ist, so dass er gleich ins Wasser gegangen ist. Die Mutter war schon früher tot eines natürlichen Todes mit Empfang der heiligen Sterbesakramente. Sie sitzt sicher im Himmel, sie hat das nämlich schon bei Lebzeiten gewusst, weil sie von ihrem Manne betrogen worden ist. Das Fräulein glaubte an keinen Himmel, sie sass täglich neun Stunden BimN Büro bei Katz et Co. und verdiente 130 Mark. Aber B N 얍 sie zählte sich nicht zum Proletariat, weil ihre Eltern mal zu Grunde gegangen sind. Sie leugnete die Solidarität der Arbeitenden, hatte romantische Rosinen im Kopf, war zerfahren, sah allmählich kein Ziel und erschrack vor dem Gedanken an den Strich. B Aber das war nur so ein kleiner Stolz, eine verkappte Sehnsucht, eine Reaktion auf das Gefühl in der grossen Stadt. Das hat mal ihr gegenüber ein Herr sehr gut ausgedrückt: „In der Stadt wird man so zum nichts“, sagte der Herr. „Ich bin lieber draussen auf dem Lande auf meinem Gute“. Und dann fügte er hinzu: „Wolln ma mal ne Tasse Cafe?“ Das Fräulein ging mit, es war ein Dachgarten. Und der Herr schämte sich plötzlich, weil der Kellner über den Mantel des Fräuleins gelächelt hat, und dann wurde der Herr immer Bunhöflicher,N BdennN es ist ihm gleich alle Lust vergangen. \Textverlust\

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Lesetext

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ihren EnkelnN ] Residenzstadt] BAtmosphäreN ] BMittelstandführersN ] BstehtN ] BMenschheitN ] BInflationN ] BimN ] B N] BAber f daran.N ] Bunhöflicher,N ] BdennN ] B B

[den Kindern] |ihren Enkel[kindern]|n|| [R]|R|esidenzstadt Atmo\s/phäre Mitte\l/standführers [d]steht korrigiert aus: Mehschheit Inflati\o/n korrigiert aus: in [\sie zählte sich nicht zum Proletariat,/] x Aber f daran. unhöflicher\,/ [und] |denn|

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ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 1

ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung

ET3/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

An diesem abend dachte das Fräulein, sie sei doch auch als Arbeitende ärger als eine Hur daran. Aber dann fiel es ihr halt wieder ein, dass ihre Eltern zu Grunde gegangen sind und sie klammerte sich daran. Aber das dauerte nicht lange, beteiligte sich an keiner Betriebsratwahl, so dachte sie anders und daran war ein gewisser Wiedmann schuld. Er war Buchhalter bei Has et Co, und sie gingen zusammen spazieren. Er hatte ein Padellboot und sie fuhr mal mit. Er klärte sie auf politisch und nahm sie. Es war ein Sommerabend und er sprach über das Schicksal der Welt. Er war zwölf Jahre älter als sie und war schon mal verheiratet, aber seine Frau verstand seine politischen Ideen nicht und betrog ihn mit dem Eisenbahnkassier. Und nun entwickelte sich zwischen beiden eine Liebe, eine ganz sanfte Sache. Sie waren beide nicht besonders sinnlich und es war auch sonst nicht viel da. Aber es tat ihnen wohl, wenn sie beisammen waren. Sie gingen zusammen zu Versammlungen und spielten zusammen in der Arbeiterwohlfahrtslotterie und das war das einzig bürgerliche an ihnen. N

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In dieser Arbeiterwohlfahrtslotterie gewann nun das Fräulein zweihundert Mark. Es ist klar, dass sie sehr froh war und das kann sich ja jeder vorstellen, und deshalb ist es auch nicht nötig ihre Freude näher zu beschreiben. Wichtig ist aber, dass sie sich entschloss um diese zweihundert Mark während ihres Urlaubes in die Alpen zu fahren, weil sie noch nie einen Berg gesehen hatte. Und sie liebte die Berge aus dem Kino her. Die Fahrt hin und zurück kostete achtzig Mark und der Buchhalter Schulz brachte sie an die Bahn. Es fiel ihm auf, dass sie sehr aufgeregt war, fast etwas schnippisch und dann winkte er ihr noch nach. Dann ging er nachhause und gab acht, dass er nicht überfahren wird. Und dann fiel es ihm plötzlich ein, dass das Fräulein einen Eindruck gemacht hätte, als dachte sie daran, sich während der acht Tage ein sogenanntes Abenteuer zu haben. Und das stimmte auch. Aber der Buchhalter Schulz verstand das und war dem Fräulein weiter nicht bös. Er war nur traurig. Er legte sich in sein Bett und las Parteinachrichten. Und darüber vergass er das Fräulein und schlief ein. Und während das Fräulein durch die Nacht fuhr, träumte Schulz vom Zukunftstaat. Da kamen alle gleich daher und sie sagten vor einem Monument: „Hier liegt der Schulz. Er hatt ein bürgerliches Mädchen bekehrt und und er kann aber nichts dafür, dass sie plötzlich wieder eine Wandlung bekam nach dem Bürgertum, kaum, dass sie 200 Mark in der Arbeiterwohlfahrtslotterie gewonnen hatt“. Und das Fräulein fuhr in die Alpen, mitten in die Alpen, dort wo sie am höchsten sind. B

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Betriebsratwahl,N ] WiedmannN ] BPadellbootN ] BundN ] Bdem Eisenbahnkassier.N ] BN] BsehrN ]

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traurig. ErN ] und f dafür,N ] woN ]

korrigiert aus: Betriebsratwahl [Schultz] |Wiedmann| gemeint ist: Paddelboot korrigiert aus: uns korrigiert aus: dem Eisenbahnkassier. [Aber f daran.]f x (1) sich (2) sehr korrigiert aus: traurig. Er (1) und dies Mädchen (2) und f dafür, korrigiert aus: w

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ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 3

Fragmentarische Fassung

ET3/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext



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Die Fahrt hin und zurück kostete 80 Mark und ein Herr im Cupe, ein Reisender, der sich ihr nähern wollte, erklärte ihr, dass daran die Reparationslasten schuld seien, er wollte sich ihr nämlich nähern. Er war ein netter gesprächiger Mann, aber leider stieg er bereits nach zwei Stunden aus, wünschte ihr eine gute Reise. Sie sah ihm aus dem Fenster nach und er schlich traurig mit seinem Musterkoffer aus der Halle, denn er dachte, ich möchte auch mal wieder in die Berge, aber soviel Füllfederhalter kann ich ja gar nicht verkaufen. Man müsste es zwangsweise einführen, dass jeder Deutsche einen Füllfederhalter haben müsste, dachte er. Der Zug war immer überfüllt und die Schaffner 얍 sperrten sich in die Klosette ein. Das Fräulein hatte Glück, dass sie die Nacht über sitzen konnte. Sie war sehr aufgeregt, weil sie noch nie einen Berg gesehen hat. Die Nacht war schwarz und in der Frühe, da fuhren sie gerade an einem Berg vorbei. Der stand schön da, gross und breit und beruhigend, und oben war eine Zacke, ein Fels. Und dahinter kam noch ein Berg. Und dann nochmehr Berge. Und dann waren es plötzlich lauter Berge. Das Fräulein hatte sich privat eingemietet und es hiess, das Zimmer kostet vier Mark mit dem Essen. Sie hatte geantwortet, ja und dachte, das wäre preiswert und sagte, sie wolle viel in die Natur. Das Haus lag auf einer Wiese und auf ihr gab es Liegestühle. Als das Fräulein sie erblickte, dachte sie, wie schön haben es doch die Leut auf dem Lande! Als die Leute auf dem Lande das Fräulein erblickten, sagten sie, wie schön haben es doch die Leut in der Stadt, denn sie hatte schöne Strümpfe und Schuhe an. Sie wussten nicht wie schön sie es haben. Besonders , wenn der Sommer rum war, dann lauschten sie dem Radio aus Toulozse und die alten Militärmärsch aus München. Das Fräulein zog sich auf ihr Zimmer zurück und ging spazieren. Sie las im Baedecker, dass die Bevölkerung knorrig sei, wie ihre Tannen, schlicht und traut, Stolz gepaart mit Scheu und man konnte es auch lesen, dass sie unverdorben sei, weil sie ihre Heimat liebe. Aber das war freilich alles gelogen, denn die Leute sind hinterlistig, geizig, habgierig, boshaft religiös und sinnlich geil. Der Stolz des Dorfes war eine prächtige Villa mit vielen Rosen, sie gehörte einem Generaldirektor, der sagte: „Ich liebe die Heimat, ich will in meiner Heimat begraben sein. Die Heimat gibt uns Kraft zum Wirken für das Vaterland.“ Er spendete auch dem Verschönerungsverein Geld und der liess auf dem schön얍 sten Aussichtspunkte des Dorfes ein Kruzifix aufstellen, zur Belebung des Fremdenverkehrs. B

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ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 5

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schöneN ] haben. BesondersN ] BTouloszeN ] BMilitärmärschN ] BzurückN ] BdassN ] BN] Bboshaft religiösN ] Bsein.N ] BKraftN ] B

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(1) schliefen (2) sperrten (1) doh (2) doch korrigiert aus: schone korrigiert aus: haben. Besonders gemeint ist: Toulouse korrigiert aus: Militärärsch korrigiert aus: zurck korrigiert aus: ndass gestrichen: d korrigiert aus: boshaftreligiös korrigiert aus: sein“ korrigiert aus: karft

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ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 6

ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 4

Fragmentarische Fassung

ET3/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Von dieser Stelle aus unter diesem Kruzifixe äusserte sich mal ein ordentlicher Professor der Nationalökonomie, dass er in warmen Sommernächten auf den arkadisch weichen Wiesen die Elfen tanzen sieht. Bei dem Gastwirt wohnte noch, dessen Frau an Krebs litt, und alle Kurpfuscher besuchte mit offener Tuberkulose, wohnte noch ein junger Student des Rechtes. Der Sohn eines Kommerzienrates. Der war liberal und der Sohn völkisch, der Alte war fortschrittlicher als sein Sohn und das ist recht so. Im übrigen kümmerte er sich aber nicht viel um Politik, sondern nur um Sport. Weil er sagte, dass Deutschland nur durch den Sport wieder hochkommen könne. Im übrigen lebte er daher mässig, nur das Lieben hatte er sich noch nicht ganz abgewöhnen können. Er fand es aber nicht unangenehm, wie Kant, und auch nützlich, wie zum Beispiel das Verspeisen eines Apfels. Also interessierte er sich auch nicht um die Probleme Adams und Evas, sondern um Wotan und hätte am liebsten Judenknäblein im Walde geopfert. Die Frau gehört in die Küche, sagte er. Aber das sagte er dem Fräulein nicht, sondern er meinte: „Gnädiges Fräulein haben noch nie einen Berg gesehen? Ich war bereits auf jeden Berg.“ Und er erzählte ihr die Schwierigkeiten und das Fräulein lauschte ganz andächtig und es imponierte ihr. Es fiel ihr gar nicht auf, dass sie kein einzigesmal an den Buchhalter Schulz dachte. Sie dachte nur, wie schön wär es, wenn man alle 8 Tage 200 Mark hätte. Der Vater des Studenten sagte, dass er sich sehr für Theater interessiere und, dass 얍 als er noch hübsch und jung war, den halben Faust erster Teil auswendig konnte. Er sei für die berufstätige Frau im Gegensatz zu seinem Sohne. Sein Sohn sei nämlich ein idealistischer Manntyp und wollte noch eine Frau und ein Daheim und vergesse dabei in seiner jugendlichen Schwärmerei, dass dazu Geld gehört und das Geld wird bekanntlich immer weniger wegen den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Er sei sehr für die berufstätige Frau und am liebsten würde seine Frau hinausschmeissen und sich schon früher von ihr scheiden lassen. Der alte Herr scheitelte sich und sah rasch mal nach im Spiegel, ob er noch alle Schmisse hat. „Wahre Kultur gedeiht nur ohne Arbeit“, sagte der Student. „Spitze der Gesellschaft, die Nichtstuer.“ Und dann machte er mit dem Fräulein eine Tour aus. Sie wollen auf die Hütte und am nächsten morgen auf den Gipfel mit dem Kreuz, das sei nicht mühsam nur schwierig. Schwierigkeitsgrade. Am nächsten Tage stiegen sie zur Hütte empor. Zuerst durch den Wald, dann durch Wiesen, Latschen, Fels und kurzes hellgrünes Gras und weiches Moos. Am Himmel zogen einige weisse Wolken dahin und warfen ihre Schatten, ansonsten war der Himmel oben tiefblau. BN

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ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 7

Fragmentarische Fassung

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ET3/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Die Kühe standen auf der Weide und sahen das Fräulein mit grossen Augen an. Und dann die Bergschafe blickten melancholisch in den Abgrund. Kurz vor der Hütte strich ein kühler Wind daher. Beide schwitzten. Dann wurde es abend und sie legten sich schlafen. Und der Student näherte sich dem Fräulein und sagte: Es flammte in ihm auch die Romantik, so mitten in der Natur. Aber wir wollen nicht ironisch sein, es war ein armes Fräulein. Dem Fräulein war der Student nicht sympathisch, trotzdem erwartete sie, dass er sich ihr nähern wird. Und das Fräulein dachte, 얍 jetzt ist der Buchhalter Schulz so klein, dass man ihn von hier oben aus gar nichtmehr sehen kann. „Wenn er nur abstürzen tät,“ dachte das Fräulein. Aber der Student rührte sie nicht an die ganze Nacht und am nächsten morgen sagte er, er müsse unbedingt auf den Gipfel. Es war aber schlechtes Wetter, doch er sagte, er pfeiffe auf die Aussicht, er tus der Sache wegen. Das Fräulein ging mit um der Sache wegen. Es kam ein Regen und das Fräulein kam durchnässt unten an. Lag vier Tage im Bette und dann war der Urlaub aus. Draussen war das herrlichste Wetter. Sie kam wieder zu ihrem Buchhalter, der sie erwartete. Nein, wir wollen ohne Ironie darüber sprechen. Es ist wahr in beiden war nichts besonderes los. „Kaputt“, fiel es dem Fräulein ein und dann dachte sie weiter: „Und derweil ist es doch nicht ganz hin in mir.“ Besser konnte sie es nicht formulieren. Und sie sagte dem Buchhalter es war sehr schön und diese kleine Notlüge soll dem Fräulein verziehen sein. Sie spielte nichtmehr in der Arbeiterwohlfahrtslotterie und machte keinen Ausflug mehr in kleinbürgerliche Romantik. BN B

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Es f Fräulein.N ] B„Wenn f Fräulein.N ] Bweiter: „UndN ] Bmir.“N ] BUnd f sein.N ] BsollN ] Bkleinbürgerliche Romantik.N ] B

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gestrichen: „[Eigentlich soll man ja sowas nicht machen vor einer Tour,

wo ich doch morgen noch] die direkte Nordwand ersteigen muss.” \Es f Fräulein./ \„Wenn f Fräulein./ korrigiert aus: weiter:„Und korrigiert aus: mir“ \Und f sein./ [wollen w] |soll| (1) bürgerliche Gefilde. (2) kleinbürgerliche Romantik.

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ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 8

Fragmentarische Fassung

ET3/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\ 얍 Zwei Tage später lernte sie einen gewissen Wiedmann kennen, einen Rei-

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senden für Füllfederhalter. Als sie sich kennen lernten, sagte der Wiedmann: „Entschuldigen Sie, aber sie kommen mir so bekannt vor, doch ist es möglich, dass ich Sie verwechsel.“ „Das tun Sie auch“, sagte das Fräulein und fügte hinzu: „Ich kenne Sie nämlich nicht.“ Und dann gingen sie spazieren, es war ein warmer Sommerabend und die Stadt stank aus allen Löchern. Der Wiedmann sagte, ob sie in einem Büro wäre und sie sagte ja und er sagte, heute müsse jeder Mensch arbeiten und sie sagte, sie möchte lieber nicht arbeiten, worauf er meinte, das sei eine sehr unmoralische Ansicht und verwerfliche und asoziale. Jeder anständige Mensch muss arbeiten und die Drohnen gehören vertilgt. Und das Fräulein sagte, das ist sehr richtig, aber es sei halt doch schön das Nichtstun. Und der Wiedmann erzählte, dass es kein Vaterland gibt nur Klassen und das Fräulein sagte, die Berge sind sehr schön. Und der Wiedmann sagte, der Imperialismus sei die jüngste Ettape des Kapitalismus. Und dann sah er, dass er sie nicht bekehren kann und wurde sehr traurig und sie fragte ihn, warum er so traurig sei und er sagte, weil es so schwer sei die Menschen den rechten Weg zu führen.

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Und wie das Fräulein nun bekehrt wurde, das ist eine etwas verwickelte Angelegenheit, aber ich will sie nun versuchen einfach zu erzählen, es ist ja alles im Leben verwickelt.

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schönN ] EttapeN ]

korrigiert aus: schö gemeint ist: Etappe

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ÖLA 3/W 131 – BS 4 c [2], Bl. 1

Fassung

ET3/TS3 (Grundschicht)



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Ödön Horvath: Das Fräulein wird bekehrt

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ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 1

Als sich das Fräulein und der Herr Reithofer kennen lernten, fielen sie sich zuerst gar nicht besonders auf. Jeder dachte nämlich gerade an etwas wichtigeres. So dachte der Herr Reithofer, dass sich der nächste Weltkrieg wahrscheinlich in Thüringen abspielen wird, weil er gerade in der Zeitung gelesen hatte, dass die rechten Kuomintang wiedermal einhundertdreiundvierzig Kommunisten erschlagen haben. Und das Fräulein dachte, es sei doch schon sehr schade, dass sie monatlich nur hundertzehn Mark verdient, denn sie hätte ja jetzt bald Urlaub und wenn sie zwohundertzehn Mark verdienen würde, könnte sie in die Berge fahren. Bis dorthin, wo sie am höchsten sind. Gesetzlich gebührten nämlich dem Fräulein jährlich sechs bezahlte Arbeitstage -jawohl, das Fräulein hatte ein richtiggehendes Recht auf Urlaub und es ist doch noch gar nicht so lange her, da hatte solch Fräulein überhaupt nichts zu fordern, sondern artig zu kuschen und gegebenenfalls zu kündigen, sich zu verkaufen oder drgl. , was zwar auch heute noch vorkommen soll. Aber heute beschützen uns ja immerhin einige Paragraphe, während noch vor zwanzig Jahren die Gnade höchst unkonstitutionell herrschte und infolgedessen konnte man es sich gar nicht vorstellen, dass auch Lohnempfänger Urlaub haben dürfen. Es oblag allein in des Brotherrn Ermessen, ob solch Fräulein zu Weihnachten oder an einem anderen christlichen Doppelfeiertage auch noch den zweiten Tag feiern durfte. Aber damals war ja unser Fräulein noch kaum geboren -- eigentlich beginnt ihr Leben mit der sozialen Ge-얍setzgebung der Weimarer Republik. Wie schön war doch die patriarchalische Zeit! Wie ungefährdet konnte Grossmama ihre Mägde kränken, quälen und davonjagen, wie war es doch selbstverständlich, dass Grosspapa seine Lehrlinge um den Lohn prellte und durch Prügel zu fleissigen Charakteren erzog. Noch lebte Treu und Glauben zwischen Maas und Memel und Grosspapa war ein freisinniger Mensch. Grosszügig gab er seinen Angestellten Arbeit, von morgens vier bis Mitternacht. Kein Wunder, dass das Vaterland immer mächtiger wurde! Und erst als sich der weitblickende Grosspapa auf maschinellen Betrieb umstellte, da erst ging es empor zu höchsten Zielen, denn er liess ja die Maschinen nur durch Kinder bedienen, die waren nämlich billiger als ihre Väter, massen das Volk gesund und ungebrochen war. Also kam es nicht darauf an, dass mannigfache Kinder an der Schwindsucht krepierten, kein Nationalvermögen wächst ohne Opfersinn! Und während Bismarck, der eiserne Kanzler, erbittert das Gesetz zum Schutze der Kinderarbeit bekämpfte, wuchs Grosspapas einfache Werkstatt zur Fabrik. Schlot stand an Schlot, als ihn der Schlag traf. Er hatte sich überarbeitet. Künstler, Gelehrte, Richter und hohe Beamte, ja sogar ein Leutnant a.D. gaben ihm das letzte Geleite. Trotzdem blieb aber Grossmama immer die bescheidene tiefreligiöse Frau. B

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korrigiert aus: drgl [arbeitsamen] |fleissigen| freis[s]|i|nniger [verschiedene] |mannigfache|

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ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 2

Fassung

ET3/TS3 (Grundschicht)

Nämlich als Grossmama geboren wurde, war es natürlich Nacht , so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. Alles stand blau am Horizont und der Mond hing über schwarzen Teichen und dem Wald. Natürlich hatte Grossmama auch ein Gebetbuch mit einer gepressten Rose mittendrin. Wenn sie in ihrem gemütlichen Sorgenstuhl sass, betrachtete sie die Rose und dann trat ihr je eine Thräne in das rechte und das linke Auge, denn die Rose hatte ihr einst der nunmehr 얍 längst verstorbene Grosspapa gepflückt und dieser tote Mann tat ihr nun leid, denn als er noch lebendig gewesen ist, hatte sie ihn oft heimlich gehasst, weil sie sich nie von einem anderen Grosspapa hatte berühren lassen. Und Grossmama erzählte Märchen und dann schlief sie ein und wachte nimmer auf. Das Gebetbuch mit der Rose wurde ihr in den Sarg gelegt, Grossmama liess sich nicht verbrennen, weil sie unbedingt wiederauferstehen wollte. Und beim Anblick einer Rose zieht noch heute eine sanfte Wehmut durch ihrer Enkelkinder Gemüt, die heute bereits Regierungsrat, Sanitätsratsgattin, Diplomlandwirt, Diplomingenieur und zwo Hausbesitzersgattinen sind. Auch unseres Fräuleins Grossmama hatte solch Rose in ihrem Gebetbuch, aber ihre Kinder gingen in der Inflation zugrunde und sieben Jahre später treffen wir das Fräulein im Kontor einer Eisenwarenhandlung in der Schellingstrasse mit einem monatlichen Verdienst von hundertundzehn Mark. Aber das Fräulein zählte sich nicht zum Proletariat, weil ihre Eltern mal zugrunde gegangen sind. Sie war überzeugt, dass die Masse nach Schweiss riecht, sie leugnete jede Solidarität und beteiligte sich an keiner Betriebsratwahl. Sie tat sehr stolz, weil sie sich nach einem Sechszylinder sehnte. Sie war wirklich nicht glücklich und das hat mal ein Herr, der sie in der Schellingstrasse angesprochen hatte, folgendermassen formuliert: „In der Stadt wird man so zur Null“, meinte der Herr und fuhr fort: „Ich bin lieber draussen auf dem Lande auf meinem Gute. Mein Vetter ist Diplomlandwirt. Wenn zum Beispiel, mit Verlaub zu sagen, die Vögel zwitschern --“ und er fügte rasch hinzu: „Wolln ma mal ne Tasse Cafe?“ Das Fräulein wollte und er führte sie auf einen Dachgarten. Es war dort sehr vornehm und plötzlich schämte sich der Herr, weil der Kellner über das Täschchen des Fräuleins lächelte und dann wurde der Herr unhöflich, zahlte und liess das Fräulein allein auf dem Dachgarten sitzen. Da dachte das 얍 Fräulein, sie sei halt auch nur eine Proletarierin, aber dann fiel es ihr wieder ein, dass ihre Eltern zugrunde gegangen sind und sie klammerte sich daran. Das war am vierten Juli und zwei Tage später begegnete das Fräulein zufällig dem Herrn Reithofer in der Schellingstrasse. „Guten abend“, sagte der Herr Reithofer. „Haben Sie schon gehört, dass England in Indien gegen Russland ist? Und, dass der Reichskanzler operiert werden muss?“ „Ich kümmere mich nicht um Politik“, sagte das Fräulein. „Das ist aber Staatsbürgerpflicht“, sagte der Herr Reithofer. „Ich kanns doch nicht ändern“, meinte das Fräulein. „Oho!“ meinte der Herr Reithofer. „Es kommt auf jeden einzelnen an, zum Beispiel bei den Wahlen. Mit Ihrer Ansicht, Fräulein, werden Sie nie in die Berge fahren, obwohl diese ganzen Wahlen ja eigentlich nur eine kapitalistische Mache sind.“ B

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NachtN ] AllesN ] BverstorbeneN ] B B

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[Nacht] |Nacht| [W] |Alles| verstor[g]|b|ene

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ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 3

ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 4

Fassung

ET3/TS3 (Grundschicht)

Der Herr Reithofer war durchaus Marxist, gehörte aber keiner Partei an, teils wegen Noske, teils aus Pazifismus. „Vielleicht ist das letztere nur Gefühlsduselei“, dachte er und wurde traurig. Er sehnte sich nach Moskau und war mit einem sozialdemokratischen Parteifunktionär befreundet. Er spielte in der Arbeiterwohlfahrtslotterie und hoffte mal etwas zu gewinnen und das war das einzig Bürgerliche an ihm. „Geben Sie acht, Fräulein“, fuhr er fort, „wenn ich nicht vor drei Jahren zweihundert Mark gewonnen hätt, hätt ich noch nie einen Berg gesehen. Vom Urlaub allein hat man noch nichts, da gehört noch was dazu, ein anderes Gesetz, ein ganz anderes Gesetzbuch. Es ist schön in den Bergen und still.“ Und dann sagte er dem Fräulein, dass er für die Befreiung der Arbeit kämpft. 얍 Und dann klärte er sie auf und das Fräulein dachte: er hat ein angenehmes Organ. Sie hörte ihm gerne zu und er bemerkte es, dass sie ihm zuhört. „Langweilt Sie das?“ fragte er. „Oh nein!“ sagte sie. Da fiel es ihm auf, dass sie so rund war rundherum und er musste direkt achtgeben, dass er nicht an sie ankommt. „Herr Reithofer“, sagte plötzlich das Fräulein, „Sie wissen aber schon sehr viel und Sie können es einem so gut sagen“ -- aber der Herr Reithofer liess sich nicht stören, weil er gerade über den Apostel Paulus sprach und darüber ist es sehr schwer zu sprechen. „Man muss sich schon sehr konzentrieren“, dachte der Herr Reithofer und ging über zur französischen Revolution. Er erzählte ihr, wie Marat ermordet wurde und das Fräulein überraschte sich dabei, wie sehr sie sich anstrengen musste, wenn sie an einen Sechszylinder denken wollte. Es war ihr plötzlich, als wären nicht ihre Eltern, sondern bereits ihre Urureltern zugrunde gegangen. Sie sah so plötzlich alles anders, dass sie einen Augenblick stehen bleiben musste. Der Herr Reithofer ging aber weiter und sie betrachtete ihn von hinten. Es war ihr, als habe der Herr Reithofer in einem dunklen Zimmer das Licht angeknipst und nun könne sie den Reichswehrminister, den Prinz von Wales und den Poincare , den Mussolini und zahlreiche Aufsichtsräte sehen. Auf dem Bette sass ihr Chef, auf dem Tische stand ein Schupo, vor dem Spiegel ein General und am Fenster ein Staatsanwalt -- als hätten sie immer schon in ihrem Zimmer gewohnt. Aber dann öffnete sich die Türe und hereintrat ein mittelgrosser stämmiger Mann, der allen Männern ähnlich sah. Er ging feierlich auf den Herrn Reithofer zu, drückte ihm die Hand und sprach: „Genosse Reithofer, Du hast ein bürgerliches Mädchen bekehrt. Das ist sehr 얍 schön von Dir.“ Und das Fräulein dachte: „Ich glaub gar, dieser Herr Reithofer ist ein anständiger Mensch.“ „Die Luft ist warm heut abend“, sagte der anständige Mensch. „Wollen Sie schon nachhaus oder gehen wir noch etwas weiter?“ „Wohin?“ „Dort drüben ist die Luft noch besser, das ist immer so in den Anlagen“, sagte er und dann fügte er noch hinzu, der Imperialismus sei die jüngste Etappe des Kapitalismus und dann sprach er kein Wort. B

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ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 5

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MoskauN ] zuN ] BerN ] BPoincareN ] BstämmigerN ] B B

[Parteinachrichten] |Moskau| zu[ge] [de]|er| gemeint ist: Poincaré [untersetzter] |stämmiger|

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ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 6

Fassung

ET3/TS3 (Grundschicht)

Warum er denn kein Wort mehr sage, fragte das Fräulein. Weil es so schwer sei, die Menschen auf den rechten Weg zu bringen, sagte der Herr Reithofer. Hierauf konnte man beide nichtmehr sehen, denn es war sehr dunkel in den Anlagen. Wollen wir ihnen folgen? Nein. Es ist doch hässlich, zwei Menschen zu belauschen, von denen man doch schon weiss, was sie voneinander wollen. Kaufen wir uns lieber eine Zeitung, die Sportnachrichten sind immer interessant. Ich liebe den Fussball -- und Sie? Wie? Sie wollen, dass ich weitererzähle? Sie finden, dass das kein Schluss ist? Sie wollen wissen, ob sich das Fräulein wirklich bekehrt hat? Sie behaupten, es sei unfassbar, dass solch ein individualistisches Fräulein so rasch eine andere Weltanschauung bekommt? Sie sagen, das Fräulein wäre katholisch ? Hm. Also wenn Sie es unbedingt hören wollen, was sich das Fräulein dachte, nachdem sich der Herr Reithofer von ihr verabschiedet hatte, so muss ich es Ihnen wohl sagen, Frau Kommerzienrat. Entschuldigen Sie, dass ich weitererzähle. Es war ungefähr dreiundzwanzig Uhr, als das Fräulein ihr Zimmer betrat. Sie setzte sich und zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund. Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: ein grosser weisser Engel 얍 schwebte in einem Zimmer und verkündete der knieenden Madonna: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ Und das Fräulein dachte, der Herr Reithofer hätte wirklich schön achtgegeben und sei überhaupt ein anständiger Mensch, aber leider kein solch weisser Engel, dass man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonderes geleistet, dass sie so fürstlich belohnt wurde? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen und das hätten ja alle mal gehabt. Auch sie selbst hätte das mal gehabt. Die Muttergottes hätte eben Protektion gehabt genau wie die Henny Porten, Lia de Putty , Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. „Wenn man keine Protektion hat, indem dass man keinen Regisseur kennt, so wird man halt nicht auserwählt“, konstatierte das Fräulein. „Auserwählt“, wiederholte sie und es tat ihr alles weh. „Bei Gott ist kein Regisseur unmöglich“, lächelte der grosse weisse Engel und das Fräulein meinte: „Sei doch nicht so ungerecht!“ Und bevor sie einschlief, fiel es ihr noch ein, eigentlich sei alles ungerecht, jeder Mensch, jedes Ding. Sicher sei auch der Stuhl ungerecht, der Schrank, der Tisch, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe. Vielleicht sei auch der Herr Reithofer trotzdem ungerecht, obwohl er wahrscheinlich gar nichts dafür kann. Gute Nacht, Frau Kommerzienrat! BN

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[„] [nichtsmehr] |kein Wort| korrigiert aus: Ihnen [Am meisten lieb ich] |Ich f den| [religiös] |katholisch| [wie der H] |sich f Herr| ge[h]|n|au gemeint ist: Lya de Putti alles[{h}]

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Ödön Horváth Das Fräulein wird bekehrt Als sich das Fräulein und der Herr Reithofer kennenlernten, fielen sie sich zuerst gar nicht besonders auf. Jeder dachte nämlich gerade an etwas Wichtigeres. So dachte der Herr Reithofer, daß sich der nächste Weltkrieg wahrscheinlich in Thüringen abspielen wird, weil er gerade in der Zeitung gelesen hatte, daß die rechten Kuomintang wieder mal einhundertdreiundvierzig Kommunisten erschlagen haben. Und das Fräulein dachte, es sei doch schon sehr schade, daß sie monatlich nur hundertzehn Mark verdient, denn sie hätte ja jetzt bald Urlaub und wenn sie zwohundertzehn Mark verdienen würde, könnte sie in die Berge fahren. Bis dorthin, wo sie am höchsten sind. Gesetzlich gebührten nämlich dem Fräulein jährlich sechs bezahlte Arbeitstage – jawohl, das Fräulein hatte ein richtiggehendes Recht auf Urlaub und es ist doch noch gar nicht so lange her, da hatte solch Fräulein überhaupt nichts zu fordern, sondern artig zu kuschen und gegebenenfalls zu kündigen, sich zu verkaufen oder dgl., was zwar auch heute noch vorkommen soll. Aber heute beschützen uns ja immerhin einige Paragraphen, während noch vor zwanzig Jahren die Gnade höchst unkonstitutionell herrschte und infolgedessen konnte man es sich gar nicht vorstellen, 얍 daß auch Lohnempfänger Urlaub haben dürfen. Es oblag allein in des Brotherrn Ermessen, ob solch Fräulein zu Weihnachten oder an einem anderen christlichen Doppelfeiertage auch noch den zweiten Tag feiern durfte. Aber damals war ja unser Fräulein noch kaum geboren – eigentlich beginnt ihr Leben mit der sozialen Gesetzgebung der Weimarer Republik. Wie schön war doch die patriarchalische Zeit! Wie ungefährdet konnte Großmama ihre Mägde kränken, quälen und davonjagen, wie war es doch selbstverständlich, daß Großpapa seine Lehrlinge um den Lohn prellte und durch Prügel zu fleißigen Charakteren erzog. Noch lebten Treu und Glauben zwischen Maas und Memel, und Großpapa war ein freisinniger Mensch. Großzügig gab er seinen Angestellten Arbeit, von morgens vier bis Mitternacht. Kein Wunder, daß das Vaterland immer mächtiger wurde! Und erst als sich der weitblickende Großpapa auf maschinellen Betrieb umstellte, da erst ging es empor zu höchsten Zielen, denn er ließ ja die Maschinen nur durch Kinder bedienen, die waren nämlich billiger als ihre Väter, maßen das Volk gesund und ungebrochen war. Also kam es nicht darauf an, daß mannigfache Kinder an der Schwindsucht krepierten, kein Nationalvermögen wächst ohne Opfersinn. Und während Bismarck, der eiserne Kanzler, erbittert das Gesetz zum Schutze der Kinderarbeit bekämpfte, wuchs Großpapas einfache Werkstatt zur Fabrik. Schlot stand an Schlot, als ihn der Schlag traf. Er hatte sich überarbeitet. Künstler, Gelehrte, Richter und hohe Beamte, ja sogar ein Oberstleutnant a.D. gaben ihm das letzte Geleite. Trotzdem blieb aber Großmama immer die bescheidene tiefreligiöse Frau. Nämlich als Großmama geboren wurde, war es natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. Alles stand blau am Ho-얍rizont und der Mond hing über schwarzen Teichen und dem Wald. Natürlich hatte Großmama auch ein Gebetbuch mit einer gepreßten Rose mittendrin. Wenn sie in ihrem gemütlichen Sorgenstuhl saß, betrachtete sie die Rose und dann trat ihr je eine Träne in das rechte und das linke Auge, denn die Rose hatte ihr einst der nunmehr längst verstorbene Großpapa gepflückt und dieser tote Mann tat ihr

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nun leid, denn als er noch lebendig gewesen ist, hatte sie ihn oft heimlich gehaßt, weil sie sich nie von einem anderen Großpapa hatte berühren lassen. Und Großmama erzählte Märchen und knapp vor dem Weltkrieg zog sie sich in ein besseres Jenseits zurück. Auch unseres Fräuleins Großmama hatte solche Rose in ihrem Gebetbuch, aber ihre Kinder gingen in der Inflation zugrunde und sieben Jahre später treffen wir das Fräulein im Kontor einer Alteisenwarenhandlung in der Schellingstraße mit einem monatlichen Verdienst von hundertundzehn Mark. Aber das Fräulein zählte sich nicht zum Proletariat, weil ihre Eltern mal zugrunde gegangen sind. Sie war überzeugt, daß die Masse nach Schweiß riecht, sie leugnete jede Solidarität und beteiligte sich an keiner Betriebsratswahl. Sie tat sehr stolz, weil sie sich nach einem Sechszylinder sehnte. Sie war wirklich nicht glücklich und das hat mal ein Herr, der sie in der Schellingstraße angesprochen hatte, folgendermaßen formuliert: „In der Stadt wird man so zur Null“, meinte der Herr und fuhr fort: „Ich bin lieber draußen auf dem Lande auf meinem Gute. Mein Vetter ist Diplomlandwirt. Wenn zum Beispiel, mit Verlaub zu sagen, die Vögel zwitschern – –“ und er fügte rasch hinzu: „Wolln ma mal ne Tasse Kaffee?“ Das Fräulein wollte und er führte sie auf einen Dachgarten. Es war dort sehr vornehm und plötzlich schämte sich der Herr, weil der Kellner 얍 über das Täschchen des Fräuleins lächelte und dann wurde der Herr unhöflich, zahlte und ließ das Fräulein allein auf dem Dachgarten sitzen. Da dachte das Fräulein, sie sei halt auch nur eine Proletarierin, aber dann fiel es ihr wieder ein, daß ihre Eltern zugrunde gegangen sind, und sie klammerte sich daran. Das war am vierten Juli und zwei Tage später begegnete das Fräulein zufällig dem Herrn Reithofer in der Schellingstraße. „Guten Abend“, sagte der Herr Reithofer. „Haben Sie schon gehört, daß England in Indien gegen Rußland ist? Und, daß der Reichskanzler operiert werden muß“ „Ich kümmere mich nicht um Politik“, sagte das Fräulein. „Das ist aber Staatsbürgerpflicht“, sagte der Herr Reithofer. „Ich kann’s doch nich ändern“, meinte das Fräulein. „Oho!“ meinte der Herr Reithofer. „Es kommt auf jeden einzelnen an, zum Beispiel bei den Wahlen. Mit Ihrer Ansicht, Fräulein, werden Sie nie in die Berge fahren, obwohl diese ganzen Wahlen eigentlich nur kapitalistische Machenschaften sind.“ Der Herr Reithofer war durchaus Marxist, gehörte aber keiner Partei an, teils wegen Noske, teils aus Pazifismus. „Vielleicht ist das letztere nur Gefühlsduselei“, dachte er und wurde traurig. Er sehnte sich nach Moskau und war mit einem sozialdemokratischen Parteifunktionär befreundet. Er spielte in der Arbeiterwohlfahrtslotterie und hoffte mal sehr viel zu gewinnen und das war das einzig Bürgerliche an ihm. „Geben Sie acht, Fräulein“, fuhr er fort, „wenn ich nicht vor drei Jahren zweihundert Mark gewonnen hätt, 얍 hätt ich noch nie einen Berg gesehen. Vom Urlaub allein hat man noch nichts, da gehört noch was dazu, ein anderes Gesetz, ein ganz anderes Gesetzbuch. Es ist schön in den Bergen und still.“ Und dann sagte er dem Fräulein, daß er für die Befreiung der Arbeit kämpft. Und dann klärte er sie auf, und das Fräulein dachte: er hat ein angenehmes Organ. Sie hörte ihm gerne zu, und er bemerkte es, daß sie ihm zuhört. „Langweilt Sie das?“ fragte er. „Oh nein!“ sagte sie. Da fiel es ihm auf, daß sie so rund war rundherum, und er mußte direkt achtgeben, daß er nicht an sie ankommt.

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ET3/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Herr Reithofer“, sagte plötzlich das Fräulein, „Sie wissen aber schon sehr viel und Sie können es einem so gut sagen“ – aber der Herr Reithofer ließ sich nicht stören, weil er gerade über den Apostel Paulus sprach und darüber ist es sehr schwer zu sprechen. „Man muß sich schon sehr konzentrieren“, dachte der Herr Reithofer und ging über zur französischen Revolution. Er erzählte ihr, wie Marat ermordet wurde, und das Fräulein überraschte sich dabei, wie sehr sie sich anstrengen mußte, wenn sie an einen Sechszylinder denken wollte. Es war ihr plötzlich, als wären nicht ihre Eltern, sondern bereits ihre Urureltern zugrunde gegangen. Sie sah so plötzlich alles anders, daß sie einen Augenblick stehen bleiben mußte. Der Herr Reithofer ging aber weiter, und sie betrachtete ihn von hinten. Es war ihr, als habe der Herr Reithofer in einem dunklen Zimmer das Licht angeknipst und nun könne sie den Reichswehrminister, den Prinz von Wales und den Poincaré, den Mussolini und zahlreiche Aufsichtsräte sehen. Auf dem Bette saß ihr Chef, auf dem Tische stand ein Schupo, vor dem Spiegel ein General 얍 und am Fenster ein Staatsanwalt – als hätten sie immer schon in ihrem Zimmer gewohnt. Aber dann öffnete sich die Türe und hereintrat ein mittelgroßer stämmiger Herr, der dem Herrn Reithofer sehr ähnlich sah. Er ging feierlich auf den Herrn Reithofer zu, drückte ihm die Hand und sprach: „Genosse Reithofer, du hast ein bürgerliches Fräulein bekehrt. Das ist sehr schön von dir.“ Und das Fräulein dachte: „Ich glaub gar, dieser Herr Reithofer ist ein anständiger Mensch.“ „Die Luft ist warm heut abend“, sagte der anständige Mensch. „Wollen Sie schon nach Haus oder gehen wir noch etwas weiter?“ „Ja“, meinte sie. „Dort drüben ist nämlich die Luft noch besser, das ist immer so in den Anlagen“, sagte er und dann fügte er noch hinzu, der Imperialismus sei die jüngste Etappe des Kapitalismus und dann sprach er kein Wort. Warum er denn kein Wort mehr sage, fragte das Fräulein. Weil es so schwer sei, die Menschen auf den rechten Weg zu bringen, sagte der Herr Reithofer. Hierauf konnte man beide nicht mehr sehen, denn es war sehr dunkel in den Anlagen. Wollen wir ihnen folgen? Nein. Es ist doch häßlich, zwei Menschen zu belauschen, von denen man doch schon weiß, was sie voneinander wollen. Kaufen wir uns lieber eine Zeitung, die Sportnachrichten sind immer interessant. Ich liebe den Fußball – und Sie? Wie? Sie wollen, daß ich weitererzähle? Sie finden, daß das kein Schluß ist? Sie wollen wissen, ob sich das Fräulein wirklich bekehrt hat? Sie behaupten, es sei unfaßbar, daß solch ein individualistisches Fräulein so rasch eine andere Weltanschauung bekommt? Sie sagen, das Fräulein wäre katholisch? Hm. Also wenn Sie es unbedingt hören wollen, was sich das Fräulein dachte, nachdem 얍 sich der Herr Reithofer von ihr verabschiedet hatte, so muß ich es Ihnen wohl sagen. Entschuldigen Sie, daß ich weitererzähle. Es war ungefähr dreiundzwanzig Uhr, als das Fräulein ihr Zimmer betrat. Sie setzte sich und zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund. Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: ein großer weißer Engel schwebte in einem Zimmer und verkündete der knienden Madonna: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ Und das Fräulein dachte, der Herr Reithofer hätte wirklich schön acht gegeben und sei überhaupt ein anständiger Mensch, aber leider kein solch weißer Engel, daß man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria,

293

Kesten, S. 401

Kesten, S. 402

Endfassung

5

ET3/TS4 (Korrekturschicht)

warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonderes geleistet, daß sie so fürstlich belohnt wurde? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen und das hätten ja alle mal gehabt. Auch sie selbst hätte das mal gehabt. Die Mutter Gottes hätte eben Protektion gehabt genau wie die Henny Porten, Lia de Putty , Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. „Wenn man keine Protektion hat, indem daß man keinen Regisseur kennt, so wird man halt nicht auserwählt“, konstatierte das Fräulein. „Auserwählt“, wiederholte sie, und es tat ihr alles weh. „Bei Gott ist kein Regisseur unmöglich“, lächelte der große weiße Engel, und das Fräulein meinte: „Sei doch nicht so ungerecht!“ Und bevor sie einschlief, fiel es ihr noch ein, eigentlich sei alles ungerecht, jeder Mensch, jedes Ding. Sicher sei auch der Stuhl ungerecht, der Schrank, der Tisch, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe. Vielleicht sei auch der Herr Reithofer trotzdem ungerecht, obwohl er wahrscheinlich gar nichts dafür kann. B

N

10

15

Lesetext

5–6

B

Lia de PuttyN ]

gemeint ist: Lya de Putti

294

Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer

295

Strukturplan in vier Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 1

296

Strukturplan in vier Kapiteln

K3/E1

297

Lesetext

Strukturplan in vier Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 4

298

Strukturplan in vier Kapiteln (Fortsetzung)

K3/E1

299

Lesetext

Skizzen zum 1. und 2. Kapitel

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 1v

300

Skizzen zum 1. und 2. Kapitel

K3/E2

301

Lesetext

Notizen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 4v

302

Notizen

K3/E3

303

Lesetext

Skizzen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 6

304

Skizzen

K3/E4

305

Lesetext

Notiz (Zugfahrplan)

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 8

306

Notiz (Zugfahrplan)

K3/E5

307

Lesetext

Strukturplan in zwölf Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 9

308

Strukturplan in zwölf Kapiteln

K3/E6

309

Lesetext

Strukturplan in zwölf Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 10

310

Strukturplan in zwölf Kapiteln (Fortsetzung)

K3/E6

311

Lesetext

Werkverzeichnis, Strukturplan in drei Teilen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 11

312

Werkverzeichnis, Strukturplan in drei Teilen

K3/E7–E8

313

Lesetext

Strukturpläne in fünf Kapiteln, sieben Teilen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 11v, 12

314

Strukturpläne in fünf Kapiteln, sieben Teilen

K3/E9–E10

315

Lesetext

Replik

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 13

316

Replik

K3/E11

317

Lesetext

Strukturplan in acht Teilen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 14

318

Strukturplan in acht Teilen

K3/E12

319

Lesetext

Strukturpläne in fünf und zwei Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 14v, 15

320

Strukturpläne in fünf und zwei Kapiteln

K3/E13–E14

321

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 16

322

Strukturplan in sieben Kapiteln

K3/E15

323

Lesetext

Strukturpläne in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 17

324

Strukturpläne in sieben Kapiteln

K3/E16–E17

325

Lesetext

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

326

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 18

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

327

K3/E16–E17

Lesetext

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

328

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 19

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

329

K3/E16–E17

Lesetext

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

330

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 20

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

331

K3/E16–E17

Lesetext

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

332

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 19v

Strukturpläne in sieben Kapiteln (Fortsetzung)

333

K3/E16–E17

Lesetext

Strukturplan in drei Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 20v, 21

334

Strukturplan in drei Kapiteln

K3/E18

335

Lesetext

Strukturplan in drei Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 22

336

Strukturplan in drei Kapiteln (Fortsetzung)

K3/E18

337

Lesetext

Strukturplan in neun Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 24

338

Strukturplan in neun Kapiteln

K3/E19

339

Lesetext

Strukturplan in neun Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 25

340

Strukturplan in neun Kapiteln (Fortsetzung)

K3/E19

341

Lesetext

Strukturplan in neun Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 28

342

Strukturplan in neun Kapiteln

K3/E20

343

Lesetext

Strukturplan in neun Kapiteln (Fortsetzung)

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 29

344

Strukturplan in neun Kapiteln (Fortsetzung)

K3/E20

345

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln, Werktitel, Werkverzeichnis

346

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 30

Strukturplan in sieben Kapiteln, Werktitel, Werkverzeichnis

347

K3/E21–E23

Lesetext

Werkverzeichnis

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 30v

348

Werkverzeichnis

K3/E24

349

Lesetext

Werkverzeichnis mit Notizen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 31

350

Werkverzeichnis mit Notizen

K3/E25

351

Lesetext

Werkverzeichnis

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 31v

352

Werkverzeichnis

K3/E26

353

Lesetext

Notizen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 32

354

Notizen

K3/E27

355

Lesetext

Werkverzeichnis mit Notizen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 33

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Werkverzeichnis mit Notizen

K3/E28

357

Lesetext

Strukturplan in drei Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 34

358

Strukturplan in drei Kapiteln

K3/E29

359

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln, Werkverzeichnis

360

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 34v

Strukturplan in sieben Kapiteln, Werkverzeichnis

361

K3/E30-E31

Lesetext

Strukturpläne in sieben Teilen, sieben Kapiteln

362

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 35

Strukturpläne in sieben Teilen, sieben Kapiteln

363

K3/E32–E33

Lesetext

Strukturplan in sieben Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 37

364

Strukturplan in sieben Kapiteln

K3/E34

365

Lesetext

Werkverzeichnis

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 37v

366

Werkverzeichnis

K3/E35

367

Lesetext

Strukturplan in zwei Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 40v

368

Strukturplan in zwei Kapiteln

K3/E36

369

Lesetext

Strukturplan in dreizehn Kapiteln

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 41

370

Strukturplan in dreizehn Kapiteln

K3/E37

371

Lesetext

372

Fragmentarische Fassung

5

10

15

K3/TS2 (Grundschicht)

얍 „BDasN ist ein feines Lied. Kennen Sie es?“ „Nein“, sagte Kobler. „Schade, schade!“ sagte Inge. „Ich lieb nämlich solche seelische Lieder, lieber als etwas anderes. Man kommt halt nicht über sein Blut hinaus. Drum mag ich auch die Juden nicht, die sind mir zu sinnlich.“ Hier kam nun die Madame wieder heran und sagte, es wäre ein Herr drüben, der Inge haben wollte BInge ging „Grüss Gott!“ sagte sieN und fragte Schmitz ob er überhaupt eine Dame wolle, und wenn nicht, ob er was anderes wolle. Sie hätte ein Kino. „Das ist total ungefährlich, sogar am Meer“, sagte Schmitz und die Madame bat die beiden Herren, sich in den dritten Stock hinaufzubegeben.

Die beiden wurden in ein Zimmer geführt, in dem es einige Sofas gab und eine kleine weisse Leinwand. Sie mussten eine ganze Weile warten. „Ob die hier nicht was mit uns vorhaben?“ fragte Kobler. „Seien Sie nur beruhigt, in offiziellen Bordellen kommt nie etwas vor, weil die Leute ihr glänzendes Auskommen haben, die Unternehmer, nicht die Dirnen. Es ist doch die gemeinste Ausbeutung, dürfen Sie nicht vergessen, die Mädeln müssen doch alles bezahlen! Ich kannte einen, der hat einige Villen, ein ehemaliger Fliessenleger, aber die Fliessen hat er sich alle selber gelegt.“ „Wie lang wird das noch dauern hier bis es losgeht ?“ fragte Kobler. „Wir müssen auf den Operateur warten“, sagte Schmitz. Es verging wieder eine Zeit. „So ein Bordell die Atmosphäre regt mich immer an“, sagt Schmitz. „Es wirkt auf mich irgendwie künstlerisch. Haben Sie die kleine Blonde unten gesehen mit dem vermatschten Gesicht und den blassen Vergissmeinichtaugen, eine Dänin war das. Wissen Sie was das für ein Gesicht war. Ein Lustmordgesicht. Haben Sie noch nicht bemerkt, 얍 dass die Opfer von Lustmördern alle eine geheime Ähnlichkeit haben? Mir erzählte mal eine ein Zusammentreffen, das fällt mir jetzt ein und darüber werd ich morgen ein Feuilleton schreiben: Der Mond hat einen Hof, die Bäume sind kahl, November. Die Fabrikarbeiterin Elisabeth Bissinger geht nachhause durch eine leere Strasse, plötzlich löst sich von der Mauer eine Frau los, eine grosse Frau mit schwarzem Kleid und grossen Schuhen, ein verkleideter Mann. Die Frau spricht sie an, ob sie sie begleiten dürfe? Elisabeth sagt nein und die Frau ist ihr sehr unheimlich. Die Frau verfolgt sie und sagt: „Es geht ein kalter Wind, ein Nordwind.“ Elisabeth lauft, die Schwarze hintendrein: „Sie haben schöne Beine, sagt sie, aber auch ich kann rasch gehen, ich kann Sie auch einholen --“ So ähnlich werd ich das Feuilleton machen.“ Jetzt hörten sie ein sonderbares Geräusch, ein schnarrendes, gleitendes. Kobler ging vorsichtig aus dem Zimmer und sah, dass die Treppen herauf ein Mann getragen B

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1 7 15 19 23 24 26 30–31 33 33 34

B

korrigiert aus: DAs

B

DasN ] Inge f sieN ] BihrN ] BlosgehtN ] Bunten gesehenN ] BDäninN ] BÄhnlichkeitN ] BschwarzemN ] BsieN ] B„EsN ] BauchN ]

\Inge f sie/

ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 4

N

B

20

Lesetext

korrigiert aus: i r korrigiert aus: losg ht korrigiert aus: untengesehen

Dän[e]|i|n korrigiert aus: Ahnlichkeit korrigiert aus: schwarzen

s[u]|i|e korrigiert aus: Es

[ic]|au|ch

373

N

ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 5

Fragmentarische Fassung

5

K3/TS2 (Grundschicht)

wird, der vollkommen gelähmt war, das heisst nur die Beine, der Oberkörper war intakt. Es war der Kinooperateur, er trug eine schwarze Brille. „Verzeihen Sie sagte er zu Schmitz, dass ich mich verspätet hab, aber ich hab so lang auf mein Abendessen warten müssen.“ Und er bat Schmitz den beiden Männern, die ihn heraufgetragen hatten, ein Trinkgeld zu geben. Dann ging der Film los. Es waren zumeist Abenteuer galante zwischen Damen und Herren und zwar historische, kriminelle und moderne. Da sah wie ein Einbrecher maskiert eine Dame überrascht, aber es löst sich in Wohlgefallen auf und wie ein anderer Faust zum Gretchen kommt, und wie ein Polizist verführt wird und dann kam die Geisha und das alles löste sich in Wohlgefallen auf. Als die Geisha dran war, summte der Operateur : „Wie eiskalt ist dies Händchen --“ B

10

Lesetext

B

8 12

B B

einN ] OperateurN ]

korrigiert aus: eikorrigiert aus: Operatuer

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N

N

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)



Lesetext

In der Schellingstrasse

ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 1

BN

5

Mitte September 1929 verdiente Herr Alfons Kobler aus der Schellingstrasse sechshundert RM. Es gibt viele Leut, die sich soviel Geld gar nicht vorstellen können. Auch Herr Kobler hatte noch niemals soviel Geld so ganz auf einmal verdient, aber diesmal war ihm das Glück hold. Es zwinkerte ihm zu und Herr Kobler hatte plötzlich einen elastischeren Gang. An der Ecke der Schellingstrasse kaufte er sich bei der guten alten Frau Stanzinger eine Schachtel Achtpfennigzigaretten, direkt aus Mazedonien. Er liebte nämlich dieselben sehr, weil sie so überaus mild und aromatisch waren. „Jessas Mariandjosef!“ schrie die brave Frau Stanzinger, die , seitdem ihr Fräulein Schwester gestorben war einsam zwischen ihren Tabakwaren und Rauchutensilien sass und aussah, als wäre sie jeden Tag um ein Stückchen kleiner geworden. „Seit wann rauchens denn welche zu acht, Herr Kobler? - Woher habens denn des vie-얍le Geld? Habns denn wen umbracht oder habn Sie sich gar mit der Frau Hofopernsänger wieder versöhnt?“ „ Nein“, sagte der Herr Kobler. „Ich hab bloss endlich den Karren verkauft.“ Dieser Karren war ein ausgeleierter Sechszylinder, ein Kabriolett mit Notsitz. Es hatte bereits vierundachtzigtausend Kilometer hinter sich, drei Dutzend Pannen und zwei lebensgefährliche Verletzungen. Ein Greis. Trotzdem fand Kobler einen Käufer. Das war ein Käsehändler aus Rosenheim, namens Portschinger, ein begeisterungsfähiger grosser dicker Mensch. Der hatte bereits Mitte August dreihundert RM angezahlt und hatte ihm sein Ehrenwort gegeben, jenen Greis spätestens Mitte September abzuholen und dann auch die restlichen sechshundert RM sofort in Bar mitzubringen. So sehr war er über diesen ausserordentlich billigen Gelegenheitskauf Feuer und Flamme. Und drum hielt er auch sein Ehrenwort. Pünktlich erschien er Mitte September in der Schellingstrasse und meldete sich bei Kobler. In seiner Gesellschaft befand sich sein Freund Adam Mauerer, den er sich aus Rosenheim extra mitgebracht hatte, da er ihn als Sachverständiger achtete, weil dieser Adam bereits seit 1925 ein steuerfreies Leichtmotorrad besass. Der Herr Portschinger hatte nämlich erst seit vorgeB

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] Leut, dieN ] Bverdient, aberN ] BAchtpfennigzigaretten, direktN ] Bsehr, weilN ] BStanzinger, dieN ] Bdie,N ] Baussah, alsN ] Bacht, HerrN ] BKobler? -N ] BdesN ] BNein“, sagteN ] Bsich, dreiN ] BRosenheim f ein N ] BN] BMauerer, denN ] BSachverständigerN ] Bachtete, weilN ]

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BN

[\{1.}/]

B

korrigiert aus: Laut,die korrigiert aus: verdient,aber korrigiert aus: Achtpfennigzigaretten,direkt korrigiert aus: sehr,weil korrigiert aus: Stanzinger,die

die\,/ korrigiert aus: aussah,als korrigiert aus: acht,Herr korrigiert aus: Kobler?-

d[a]|e|s korrigiert aus: Nein“,sagte korrigiert aus: sich,drei korrigiert aus: Rosenheim,namens Portschinger,ein

[eben] korrigiert aus: Mauerer,den gemeint ist: Sachverständigen korrigiert aus: achtete,weil

375

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

stern einen Führerschein und weil er überhaupt kein eingebildeter Mensch war, war er sich auch jetzt darüber klar, dass er noch nicht genügend in die Ge-얍heimnisse des Motors eingedrungen ist. Der Sachverständige besah sich das Kabriolett ganz genau und war dann auch schlechthin begeistert. „Das ist ein Notsitz!“ rief er. „Ein wunderbarer Notsitz! Ein gepolsterter Notsitz! Der absolute Notsitz! Kaufs, Du Rindvieh!“ Das Rindvieh kaufte es auch sogleich, als wären die restlichen sechshundert RM Lappalien -und, während der Kobler die Scheine auf ihre Echtheit prüfte, verabschiedete es sich von ihm: „ Alsdann, Herr Kobler, wanns mal nach Rosenheim kommen, besuchens mich mal. Meine Frau wird sich freuen, Sie müssen ihr nacher auch die Geschichte von dem Prälaten erzähln, der wo mit die jungen Madln herumgstreunt is wie ein läufigs Nachtkastl. Meine Frau ist nämlich noch liberaler als ich. Heil!“ Hierauf nahmen die beiden rosenheimer Herren im Kabriolett Platz und fuhren beglückt nach Rosenheim zurück, das heisst: sie hatten dies vor. „Der Karren hat an schönen Gang“, meinte der Sachverständige. Sie fuhren über den Bahnhofsplatz. „Es is scho schöner so im eignen Kabriolett, als auf der stinkerten Bahn“, meinte der Herr Portschinger. Er strengte sich nicht mehr an, hochdeutsch zu sprechen, denn er war sehr mit sich zufrieden. Sie fuhren über den Marienplatz. „Schliessen Sie doch den Auspuff!“ brüllte sie ein Schutzmann an. „Is ja scho zu!“ brüllte der Herr Portschinger und der Sachverständige fügte noch hinzu, das Kabriolett hätte 얍 halt schon eine sehr schöne Aussprache und nur kein Neid . Nach fünf Kilometern hatten sie die erste Panne. Sie mussten das linke Vorderrad wechseln. „Das kimmt beim bestn Kabriolett vor“, meinte der Sachverständige. Nach einer weiteren Stunde fing der Ventilator an zu zwitschern wie eine Lerche und knapp vor Rosenheim überschlug sich das Kabriolett infolge Achsenbruchs, nachdem kurz vorher sämtliche Bremsen versagt hatten. Die beiden Herren flogen im hoB

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 3

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1 2 5 6 6 7 8 9 9 9–10 12 15 16 17 18 18–19 19 19 19 22 23 25 25 27–28

war, warN ] klar, dassN ] Bbegeistert. „DasN ] BNotsitz!N ] BKaufs, DuN ] Bals f LappalienN ] Bund, währendN ] BAlsdann, HerrN ] BKobler, wannsN ] Bkommen, besuchensN ] BisN ] Bzurück, dasN ] BGang“, meinteN ] BKabriolett, alsN ] BBahn“, meinteN ] Ban, hochdeutschN ] Ber warN ] Bmit sich zufrieden.N ] BN] Bhinzu, dasN ] BNeidN ] BbestnN ] Bvor“, meinte N ] BAchsenbruchs, nachdemN ] B B

korrigiert aus: war,war korrigiert aus: klar,dass korrigiert aus: begeistert.„Das korrigiert aus: Notsitz ! korrigiert aus: Kaufs,Du

[es zahlte] die3 restlichen4 sechshundert5 RM6 als1 wären[s]2 Lappalien7 korrigiert aus: und,während korrigiert aus: Alsdann,Herr korrigiert aus: Kobler,wanns korrigiert aus: kommen,besuchens

is[t] korrigiert aus: zurück,das korrigiert aus: Gang“,meinte korrigiert aus: Kabriolett,als korrigiert aus: Bahn“,meinte korrigiert aus: an,hochdeutsch

er\ /war \mit sich/ [befriedigt] |zufrieden.| gestrichen: . korrigiert aus: hinzu,das [Geld] |Neid| best[en]|n| korrigiert aus: vor“,meinte korrigiert aus: Achsenbruchs,nachdem

376

ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

hen Bogen raus, blieben aber wie durch ein sogenanntes Wunder unverletzt, während das Kabriolett einen dampfenden Trümmerhaufen bildete. „Es is bloss gut, dass uns nix passiert is“, meinte der Sachverständige. Der Portschinger aber lief wütend zum nächsten Rechtsanwalt, jedoch der Rechtsanwalt zuckte nur mit den Schultern. „Der Kauf geht in Ordnung“, sagte er. „Sie hätten eben vor Abschluss genauere Informationen über die Leistungsfähigkeit des Kabrioletts einholen müssen. Beruhigen Sie sich, Herr Portschinger! Sie sind halt betrogen worden, da kann man nichts machen!“ B

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Seinerzeit als dieser Karren noch fabrikneu war, kaufte ihn sich jene Hofopernsängerin, die wo die Frau Stanzinger im Verdacht hatte, dass sie den Herrn Kobler aushält. Aber das stimmte nicht in dieser Form. Zwar gewann 얍 sie den Kobler sogleich auf den ersten Blick recht lieb, das geschah in der Firma „Gebrüder Bär“, also in eben jenem Laden, wo sie sich den fabrikneuen Karren kaufte. Der Kobler ging dann bei ihr ein und aus von Anfang Oktober bis Ende August, aber dieses ganze Verhältnis war in pekuniärer Hinsicht direkt platonisch. Er ass, trank und badete lediglich bei ihr, aber niemals hätte er auch nur eine Mark von ihr angenommen. Sie hätte ihm ja sowas auch niemals angeboten, denn sie war eine feine gebildete Dame, eine ehemalige Hofopernsängerin, die seit dem Umsturz nurmehr in Wohltätigkeitskonzerten sang. Sie konnte sich all diese Wohltäterei ungeniert leisten, denn sie nannte u.a. eine schöne Villa mit parkähnlichem Vorgarten ihr eigen, aber sie würdigte es nicht, zehn Zimmer allein bewohnen B

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raus, bliebenN ] WunderN ] Bunverletzt, währendN ] BeinenN ] Bgut, dassN ] Bis“, meinteN ] BRechtsanwalt, jedochN ] BOrdnung,“ sagteN ] Bsich,N ] Bworden, daN ] BN] Bdieser KarrenN ] Bwar, kaufteN ] BihnN ] BN] BHofopernsängerin, dieN ] Bhatte, dassN ] Blieb, dasN ] BFirma f alsoN ] BLaden, woN ] BKarrenN ] BAugust, aberN ] BpekuniärerN ] Bass, trankN ] Bihr, aberN ] Bangeboten, dennN ] BDame, eineN ] BHofopernsängerin, dieN ] Bleisten, dennN ] Beigen, aberN ] Bnicht, zehnN ] B B

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korrigiert aus: raus,blieben korrigiert aus: Wunter korrigiert aus: unverletzt,während korrigiert aus: einem korrigiert aus: gut,dass korrigiert aus: is“,meinte korrigiert aus: Rechtsanwalt,jedoch korrigiert aus: Ordnung“,sagte

sich\,/ [nur,] korrigiert aus: worden,da [\2./] diese[s]|r| [Kabriolett mit Notsitz] |Karren| korrigiert aus: war,kaufte \ihn/ [es] korrigiert aus: Hofopernsängerin,die korrigiert aus: hatte,dass korrigiert aus: lieb,das korrigiert aus: Firma„Gebrüder Bär“,also korrigiert aus: Laden,wo [Greis] |Karren| korrigiert aus: August,aber pekun\i/ärer korrigiert aus: ass,trank korrigiert aus: ihr,aber korrigiert aus: angeboten,denn korrigiert aus: Dame,eine korrigiert aus: Hofopernsängerin,die korrigiert aus: leisten,denn korrigiert aus: eigen,aber korrigiert aus: nicht,zehn

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 5

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

zu können, denn oft in der Nacht fürchtete sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten, einem dänischen Honorarkonsul. Der hatte knapp vor dem Weltkrieg mit seinem Blinddarm an die Himmelspforte geklopft und hatte ihr all sein Geld hinterlassen und das ist sehr viel gewesen. Sie hatte ehrlich um ihn getrauert und erst 1918, als beginnende Vierzigerin, hatte sie wiedermal Sehnsucht nach irgendeinem Mannsbild empfunden. Und 1927 blickte sie auf ein halbes Jahrhundert zurück. Der Kobler hingegen befand sich 1929 erst im siebenundzwanzigsten Lenze und war weder auffallend gebildet noch be-얍sonders fein. Auch ist er immer schon ziemlich ungeduldig gewesen -- drum hielt er es auch bei „Gebrüder Bär“ nur knapp den Winter aus, obwohl der eine Bär immer wieder sagte: „Sie sind ein tüchtiger Verkäufer, lieber Kobler!“ Er verstand ja auch was vom Autogeschäft, aber er hatte so seine Schrullen, die ihm auf die Dauer der andere Bär nicht verzeihen konnte. So unternahm er u.a. häufig ausgedehnte Probefahrten mit Damen, die er sich im Geheimen extra dazu hinbestellt hatte. Diese Damen traten dann vor den beiden Bären ungemein selbstsicher auf, so ungefähr, als könnten sie sich aus purer Laune einen ganzen Autobus kaufen. Einmal jedoch erkannte der andere Bär in einer solchen Dame eine Prostituierte -- und als dann gegen Abend der Herr Kobler zufrieden von seiner Probefahrt zurückfuhr, erwartete ihn dieser Bär bereits auf der Strasse vor dem Laden, riss die Türe auf und roch in die Limousine hinein. „Sie machen da sonderbare Probefahrten, lieber Kobler“, sagte er malitiös. Und der liebe Kobler musste sich dann wohl oder übel selbständig machen. Zwar konnte er sich natürlich keinen Laden mieten und betrieb infolgedessen den Kraftfahrzeughandel in bescheidenen Grenzen, aber er war halt sein eigener Herr. Er hatte jedoch diese höhere soziale Stufe nur erklimmen können , weil er mit jener Hofopernsängerin befreundet war. Darüber ärgerte er sich manchmal sehr. Recht lange währte ja diese Freundschaft nicht. Sie zerbrach Ende August aus zwei Gründen. Die Hofopernsängerin fing plötzlich an widerlich rasch zu altern. Dies war der eine Grund. Aber der ausschlaggebende Grund war eine geschäftliche 얍 Differenz. Nämlich die Hofopernsängerin ersuchte den Kobler, ihr kaputes Kabriolett mit Notsitz möglichst günstig an den Mann zu bringen. Als nun Kobler von dem Herrn Portschinger die ersten dreihundert RM erhielt, lieferte er der Hofopernsängerin in B

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können, dennN ] Gatten, einemN ] B1918, alsN ] BVierzigerin, hatteN ] BUndN ] BVerkäufer, lieberN ] BSchrullen, dieN ] BDamen, dieN ] Bauf f alsN ] Bzurückfuhr, erwarteteN ] BihnN ] BLaden, rissN ] BProbefahrten f sagteN ] BGrenzen, aberN ] BhatteN ] BkönnenN ] Berhielt, lieferteN ] B B

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korrigiert aus: können,denn korrigiert aus: Gatten,einem korrigiert aus: 1918,als korrigiert aus: Vierzigerin,hatte

[u]|U|nd korrigiert aus: Verkäufer,lieber korrigiert aus: Schrullen,die korrigiert aus: Damen,die korrigiert aus: auf,so ungefähr,als korrigiert aus: zurückfuhr,erwartete korrigiert aus: in korrigiert aus: Laden,riss korrigiert aus: Probefahrten,lieber Kobler“,sagte korrigiert aus: Grenzen,aber

[konnte] |hatte| \können/ korrigiert aus: erhielt,lieferte

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 7

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

einer ungezogenen Weise lediglich fünfzig RM ab, worüber die sich derart aufregte, dass sie ihn sogar anzeigen wollte. Sie unterliess dies aber aus Angst, ihr Name könnte in die Zeitungen geraten, denn dies hätte sie sich nicht leisten dürfen, da sie mit der Frau eines Ministerialrates aus dem Kultusministerium, die sich einbildete singen zu können, befreundet war. Also schrieb sie ihrem Kobler lediglich, dass sie ihn für einen glatten Schurken halte, dass er eine Enttäuschung für sie bedeute und dass sie mit einem derartigen Subjekte als Mensch nichts mehr zu tun haben wolle. Und dann schrieb sie ihm einen zweiten Brief, in dem sie ihm auseinandersetzte, dass man eine Liebe nicht so einfach zerreissen könne wie ein Seidenpapier, denn als Weib bleibe doch immer ein kleines Etwas unauslöschlich in einem drinnen stecken. Der Kobler sagte sich: „Ich bin doch ein guter Mensch“ und telephonierte mit ihr. Sie trafen sich dann zum Abendessen draussen im Ausstellungsrestaurant. „ Peter“, sagte die Hofopernsängerin. Sonst sagte sie die erste Viertelstunde über nichts. Kobler hiess zwar nicht Peter, sondern Alfons, aber „Peter klingt besser“ hatte die Hofopernsängerin immer schon konstatiert. Auch ihm selbst gefiel es besser, besonders wenn es die Hofopernsängerin aussprach, dann konnte 얍 man nämlich direkt meinen, man sei zumindest in Chikago. Für Amerika schwärmte er zwar nicht, aber er achtete es. „Das sind Kofmichs!“ pflegte er zu sagen. Die Musik spielte sehr zart im Ausstellungsrestaurant und die Hofopernsängerin wurde wieder ganz weich. „Ich will Dir alles verzeihen, Darling , behalt nur getrost mein ganzes Kabriolett“ -- so lächelte sie ihm zu. Der Darling aber dachte: „Jetzt fällts mir erst auf, wie alt dass die schon ist“. Er brachte sie dann nachhaus, ging aber nicht mit hinauf. Die Hofopernsängerin warf sich auf das Sofa und stöhnte: „Ich möcht mein Kabriolett zurück!“ -- und plötzlich fühlte sie, dass ihr verstorbener Gatte hinter ihr steht. „Schau mich nicht so an!“ brüllte sie. „Pardon! Du hast B

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ab, worüberN ] dieN ] Baufregte, dassN ] BAngst, ihrN ] Bgeraten, dennN ] Bdürfen, daN ] BKultusministerium, dieN ] Bkönnen, befreundetN ] Blediglich,N ] Bhalte, dassN ] Bauseinandersetzte, dassN ] BSeidenpapier, dennN ] Bein kleinesN ] BPeter“, sagteN ] BHofopernsängerin.N ] BPeter f aberN ] Bbesser, besondersN ] Baussprach, dannN ] Bmeinen, manN ] Bnicht, aberN ] Bverzeihen, DarlingN ] Bauf, wieN ] BdieN ] Bnachhaus, gingN ] BN] Bsie, dassN ] B B

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korrigiert aus: ab,worüber

[s]|d|ie korrigiert aus: aufregte,dass korrigiert aus: Angst,ihr korrigiert aus: geraten,denn korrigiert aus: dürfen,da korrigiert aus: Kultusministerium,die korrigiert aus: können,befreundet

lediglich\,/ [,] korrigiert aus: halte,dass korrigiert aus: auseinandersetzte,dass korrigiert aus: Seidenpapier,denn korrigiert aus: einekleines korrigiert aus: Peter“,sagte

Hofopernsänger[n]|in.| korrigiert aus: Peter,sondern Alfons,aber korrigiert aus: besser,besonders korrigiert aus: aussprach,dann korrigiert aus: meinen,man korrigiert aus: nicht,aber korrigiert aus: verzeihen,Darling korrigiert aus: auf,wie [s]|d|ie korrigiert aus: nachhaus,ging [wieder] korrigiert aus: sie,dass

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 8

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

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Krampfadern“, sagte der ehemalige Honorarkonsul und zog sich zurück in die Ewigkeit. B

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An der nächsten Ecke der Schellingstrasse traf Kobler den Herrn Kakuschke. „Ich weiss schon,“ begrüsste ihn der Herr Kakuschke, „Sie haben den Karren verkauft.“ „Sie irren sich“, antwortete Kobler zurückhaltend, damit ihn der Kakuschke nicht um zehn Mark anhaut. „Ich irre mich nur äusserst selten“, lächelte Kakuschke wehmütig. Kobler bot ihm eine Achtpfennigzigarette an. „Das sind mazedonische Zigaretten!“ rief Kakuschke und fügte resigniert hinzu: „Rauchen Sie die auch so gern?“ Albert Kakuschke war Architekt, aber er musste seinen Lebensunterhalt durch 얍 allerlei Vermittlungen verdienen, weil er kein Stilgefühl besass. „Ich hab halt kein Glück!“ war sein Refrain. Besonders seit er sich das Horoskop hat stellen lassen, konnte man es oft kaum mit ihm aushalten vor lauter Pessimismus. Er sah alles schwarz umrändert. Er wusste es nun, dass sein Planet der Saturn ist und, dass er sich sehr hüten muss vor den Hämmorhoiden . „Das auch noch!“ seufzte er und betrank sich. Um die Jahrhundertwende hatte er eine pikante Französin aus Metz geheiratet, die aber nach dem Weltkrieg so bedenklich in die Breite zu gehen begann, dass er anfing sich vor der romanischen Rasse zu ekeln. „Soweit ich die Franzosen kenne“, sagte er, „werden sie niemals das Rheinland räumen. Freiwillig nie, es sei denn wir zwingen sie mit Gewalt.“ Kobler kannte ihn seit der Stabilisierung. Sie hatten sich zufällig kennen gelernt und nun wusste keiner mehr wie und wo. Kakuschke fasste sogleich Vertrauen zu Kobler. Es war dies eine tiefe Sympathie, eine väterliche Rührung. „Sehen Sie“, sagte er 1924, „Sie sind doch nicht älter als dreiundzwanzig. Wenn ich wieder so alt wär und so aussehen tät, dann würd ich mich in den feinsten Kreisen bewegen. Sie kennen doch den Grafen Blanquez?“ BN

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Krampfadern“, sagteN ] und zogN ] BN] BN] BKakuschke, „SieN ] Bzurückhaltend, damitN ] Bselten“, lächelteN ] BKakuschkeN ] Ban. „DasN ] BZigaretten!“N ] BArchitekt, aberN ] Blassen, konnteN ] Bnun, dassN ] BPlanetN ] Bund, dassN ] BHämmorhoidenN ] BseufzteN ] Bgeheiratet, dieN ] Bbegann, dassN ] Ber, „werdenN ] Bwo.N ] BSympathie, eineN ] B1924, „SieN ] Btät, dannN ]

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korrigiert aus: Krampfadern“,sagte

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un\d/ [d]zog [\3./] [Herr] korrigiert aus: Kakuschke,„Sie korrigiert aus: zurückhaltend,damit korrigiert aus: selten“,lächelte korrigiert aus: Kakuchke korrigiert aus: an.„Das

Zigaretten[“,]| !“| korrigiert aus: Architekt,aber korrigiert aus: lassen,konnte korrigiert aus: nun,dass Plan[te]|et| korrigiert aus: und,dass gemeint ist: Hämorrhoiden seuf\z/te korrigiert aus: geheiratete,die korrigiert aus: begann,dass korrigiert aus: er,„werden wo[,]|.| korrigiert aus: Sympathie,eine korrigiert aus: 1924,„Sie korrigiert aus: tät,dann

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 9

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Natürlich kannte Kobler den Grafen Blanquez, eine elegante Erscheinung und verpatzte Persönlichkeit. Seine Ahnen waren Huge-얍notten, er selbst wurde im bayerischen Walde geboren. Erzogen wurde er teils von Piaristen, teils von einem homosexuellen Stabsarzt in einem der verzweifelten Kriegsgefangenenlager Sibiriens. Mit seiner Familie vertrug er sich nicht, weil er vierzehn Geschwister hatte. Trotzdem schien er meist guter Laune zu sein, ein grosser Junge, ein treuer Gefährte, jedoch leider ohne Hemmungen. Er liebte Musik, ging aber nie in die Oper, weil ihn jede Oper an die Hugenotten erinnerte und wenn er an die Hugenotten dachte, wurde er melancholisch. Diesen Grafen Blanquez brauchte seinerzeit der Kakuschke zu einer Scheinheirat. Nämlich ein gewisses Fräulein Nelly Leskinowitsch wurde auf einem Faschingsball „Eine Nacht im Wunderlande Indien“ von einem gewissen Brunner umschwirrt, mit dem sie sich hinterdrein vergangen hat. Diese indische Wundernacht wurde von einer Pressevereinigung zu Gunsten ihrer Pensionskasse veranstaltet und jener Brunner sagte seiner Nelly, er sei verantwortlicher Redakteur. Natürlich war das nicht wahr und der Brunner hiess auch gar nicht Brunner, sondern Radlmacher. Und dieser Radlmacher war ein ganz unmögliches Subjekt, ein Chauffeur, der sich selbständig gemacht hatte und nun ein eigenes Mietauto besass. Das Geld zu dem Autokauf hatte er sich von einigen Kellnerinnen zusammengeliehen. Er wirkte sehr stark auf Frauen. Durch Vermittlung Koblers und Kakuschkes wurden also aus einem Fräulein Leskinowitsch eine Gräfin Nelly Blanquez 얍 und aus dem kleinen Radlmacher ein Graf Horst Blanquez. Für diese beiden Namen bekam der Graf insgesamt Zweitausenddreihundertzehn holländische Gulden. Hievon gab er Kobler hundert und dem Kakuschke versprach er dreihundert, gab ihm dann aber nur fünfzig, worüber sich der Kakuschke ungemein aufregte. „Das ist das Hugenottenblut!“ zischte er. Dann stürmte er wütend nachhaus und beschimpfte seine dicke französische Frau. Die Dicke lag bereits im Bett. Sie reagierte nur apathisch und freute sich heimlich über den Versailler Vertrag. – B

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NatürlichN ] KoblerN ] BBlanquez, eineN ] BHugenotten, erN ] BPiaristen, teilsN ] BeinemN ] Bnicht, weilN ] Bsein, einN ] BGefährte, jedochN ] BOper, weilN ] BihnN ] Bdachte, wurdeN ] Bumschwirrt, mitN ] BhinterdreinN ] BBrunner, sondernN ] BSubjekt, einN ] Bdreihundert, gabN ] Bfünfzig, worüberN ] Baufregte. „DasN ] BN] BfranzösischeN ] BVertrag. –N ] B B

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[Kobler] |Natürlich| \Kobler/ korrigiert aus: Blanquez,eine korrigiert aus: Hugenotten,er korrigiert aus: Piaristen,teils korrigiert aus: einer korrigiert aus: nicht,weil korrigiert aus: sein,ein korrigiert aus: Gefährte,jedoch korrigiert aus: Oper,weil korrigiert aus: ihm korrigiert aus: dachte,wurde korrigiert aus: umschwirrt,mit [nachher auf dem Heimwege] [|hernach|] |hinterdrein| korrigiert aus: Brunner,sondern korrigiert aus: Subjekt,ein korrigiert aus: dreihundert,gab korrigiert aus: fünfzig,worüber korrigiert aus: aufregte.„Das [„Das welsche Blut!“] \französische/ korrigiert aus: Vertrag.[-]|–|

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Mit diesem Kakuschke ging nun Kobler die Schellingstrasse hinab. Letzterer hatte noch immer Angst, dass ihn Ersterer anpumpt. „Wenn ich Sie wär“, sagte Ersterer, „würde ich die sechshundert RM arbeiten lassen. Sie haben Glück, ich weiss nämlich wen, der dringend gerade sechshundert braucht. Es dreht sich um eine Erfindung. Um einen Erfinder dreht es sich. Dabei dreht es sich auch noch um eine vaterländische Tat.“ Kobler dachte: „Hier dreht es sich um einen grossen Haufen Dreck, Du blödes Luder!“ Das blöde Luder fuhr fort: „Der Erfinder hat nämlich ein neues Gas erfunden, ein Giftgas. Man muss nur gewissermassen auf einen Knopf drücken und schon ist alles ringsherum vergast, dass auf dreihundert Jahr nichts mehr wächst. Das ist doch eine fabelhafte Erfindung, besonders für uns Deutsche!“ „Besonders für Dich!“ dachte Kobler. „Das tät Dir 얍 so passen, wenn ich jetzt plötzlich verrückt werden tät und Dir meine sechshundert nachwerfen tät und mich dann selber vergasen tät mit Deinem Gas, Saukopf miserabler!“ Der Miserable fuhr fort: „Der Erfinder ist ein mir persönlich bekannter junger Mann, ein genialer Schachspieler. Und dabei erst fünfzehn Jahre alt, also eigentlich ein Wunderkind. Und sehr altklug. So denkt er den ganzen Tag nur an Gas. Er hat nichts im Kopf als wie Gas und Gas und wieder Gas. Er ist mit der Seele bei seinem Gas -- es dreht sich nur noch um eine Kleinigkeit an dem Knopfsystem, damit die Vergasung total zufriedenstellend funktioniert.“ Kobler dachte: „Das ist zuviel! So dumm bin ich ja garnicht, Du arrogantes Schwein!“ -- Kakuschke hielt plötzlich mit einem Ruck. „Oder glauben Sie denn, dass das so weitergeht?!“ rief er aus. („Geh halt weiter!“ dachte Kobler) „Ja glauben Sie denn nicht, dass wir einem neuen Weltbrand entgegentaumeln?!“ („Brüll nicht!“ dachte Kobler verstimmt, denn er hatte nichts übrig für Pathos und Ekstase) Kakusche schien ganz fanatisiert. „Schauen Sie doch gefälligst nurmal nach Afghanistan!“ brüllte er. „Wissen Sie was das heisst: Amanullah und Habibullah?! Denken Sie mal an Sinowjew! Herr, schauen Sie nach Angora! Vergessen Sie nicht Palästina und die Buren! Und was macht denn dort hinten gefälligst der christliche General Feng?!“ („Was er gegessen hat!“ dachte Kobler wütend) Er fixierte ihn hasserfüllt, denn das fanatische Getue war ihm schon sehr zuwider. 얍 Kakuschke geriet immer mehr ausser sich. „Oh ich kenne die Franzosen!“ schrie er und dachte an seine dicke Frau. „Jeder Franzose und jede Französin gehören vergast! Ich mach auch vor den Weibern nicht halt, ich nicht! Oder glauben Sie gar an Paneuropa?!“ „Ich hab jetzt keine Zeit für Ihre Blödheiten“, sagte der Kobler höflich und liess den Kakuschke stehen. -B

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Angst, dassN ] wär“ f „würdeN ] BRMN ] BGlück, ichN ] Bwen, derN ] Bdachte: „HierN ] BDreck, DuN ] Berfunden, einN ] Bvergast, dassN ] BErfindung, besondersN ] Bhalt, ichN ] Bstehen. --N ] B B

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korrigiert aus: Angst,dass korrigiert aus: wär“,sagte Ersterer,„würde korrigiert aus: Em korrigiert aus: Glück,ich korrigiert aus: wen,der korrigiert aus: dachte:„Hier korrigiert aus: Dreck,Du korrigiert aus: erfunden,ein korrigiert aus: vergast,dass korrigiert aus: Erfindung,besonders korrigiert aus: halt,ich korrigiert aus: stehen.--

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er ging nun wieder allein die Schellingstrasse hinab und beschäftigte sich bis zur übernächsten Ecke mit weltpolitischen Problemen. „Mein lieber Kobler“ sagte er sich, „dieser aufgstellte Mausdreck Kakuschke, dieses heruntergekommene Subjekt, ist ein nationaler Idealist, ein Idiot, ein Hitler, ein Gefühlspolitiker, ein Fanatiker und das hat alles keinen Sinn. Man muss die Politik nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes, nüchtern und nach Geschäftsprinzipien betreiben -- mit dieser ganzen Politik ist es so, wie mit dem Kabriolett. Der eine kauft dem anderen sein Kabriolett ab, Deutschland, Frankreich, Österreich und was weiss ich -- alle kaufen sich gegenseitig ihre England , Kabrioletts ab. Ja, wenn das alles streng reel vor sich ging , dann wär das ein ideales Paneuropa, aber zurzeit werden wir Deutschen von den übrigen Nationen bloss betrogen, genau so, wie ich zuvor den Portschinger betrogen hab. In dieser Weise lässt sich Paneuropa nicht realisieren. Das ist kein richtiger 얍 Geist von Locarno. Unter diesen Umständen müsst man sich schon sehr freuen, wenn man alles vergasen könnt. Aber nur nicht mit meinen Sechshundert! Zwar wenn man ein richtiges Gas hätt und das richtige Knopfsystem dazu, das wär ein Geschäft, dann könnt man schon wieder einen Krieg erklären, auf dass wir Deutsche unsere alte Vormachtstellung zurückeroberten. Dann könnten wir Deutsche leicht der ganzen Welt unsere alten Kabrioletts verkaufen, à la Portschinger! Das wär ja entschieden das Günstigste! Aber so ohne Waffen gehört das halt leider in das Reich der Utopie.“ B

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Kobler wohnte möbliert im zweiten Stock links bei Frau Perzl, einer Wienerin, die zur Generation der Hofopernsängerin gehörte. Auch sie war Witwe, aber ansonsten konnte man sie schon in gar keiner Weise mit jener vergleichen. Nie kam es u.a. vor, dass sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten gefürchtet hätte, nur ab und zu träumte sie von Ringkämpfern. So hat sich mal so ein Ringkämpfer vor ihr verbeugt, der hat B

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Kakuschke, diesesN ] Idiot f einN ] BMenschenverstandes, nüchternN ] Bso, wieN ] Bab f EnglandN ] BN] BN] BJa,N ] BgingN ] BPaneuropa, aberN ] Bbetrogen, genauN ] Bfreuen, wennN ] BmeinenN ] BN] Bdazu, dasN ] BGeschäft, dannN ] Bverkaufen,N ] Bdas f inN ] BN] BPerzl f dieN ] BWitwe, aberN ] Bvor, dassN ] Bhätte, nurN ] Bverbeugt, derN ] B B

korrigiert aus: Kakuschke,dieses korrigiert aus: Idiot,ein Hitler,ein Gefühlspolitiker,ein korrigiert aus: Menschenverstandes,nüchtern korrigiert aus: so,wie korrigiert aus: ab,Deutschland,Frankreich,England

[Italien,] [, die Schweiz] Ja\,/ [--] gin\g/ korrigiert aus: Paneuropa,aber korrigiert aus: betrogen,genau korrigiert aus: freuen,wenn [dem Kakuschke seinem Gas!] [M]|m|eine\n/ [Ein Selbstmord!] korrigiert aus: dazu,das korrigiert aus: Geschäft,dann verkaufen\,/ das1 leider3 halt2 in4 [\4./] korrigiert aus: Perzl,einer Wienerin,die korrigiert aus: Witwe,aber korrigiert aus: vor,dass korrigiert aus: hätte,nur korrigiert aus: verbeugt,der

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

dem Kobler sehr ähnlich gesehen und hat gesagt: „Es ist gerade 1904. Bitte halt mir den Daumen Josephin! Ich will jetzt auf der Stelle Weltmeister werden, du Hur!“ Sie sympathisierte mit dem Kobler, denn sie liebte u.a. sein angenehmes Organ so sehr, dass er ihr die Miete auch 14 Tag und länger schuldig bleiben konnte. Besonders seine 얍 Kragenpartie, wenn er ihr den Rücken zuwandte, erregte ihr Gefallen. Oft klagte sie über Rückenschmerzen. Der Arzt sagte, sie hätte einen Hexenschuss und ein anderer Arzt sagte, sie hätte eine Wanderniere und ein dritter Arzt sagte, sie müsse sich vor ihrer eigenen Verdauung hüten. Was ein vierter Arzt sagte, das sagte sie niemanden. Sie ging gern zu den Aerzten. Zu den groben und zu den artigen. Auch ihr seliger Mann ist ja Mediziner gewesen, ein Frauenarzt in Wien. Er stammte aus einer angesehenen leichtverblödelten christlich-sozialen Familie und hatte sich im Laufe der Vorkriegsjahre sechs Häuser zusammengeerbt. Eines stand in Prag. Sie hingegen hatte bloss den dritten Teil einer Windmühle bei Brescia in Oberitalien mit in die Ehe gebracht, aber das hatte er ihr nur ein einzigesmal vorgeworfen. Ihre Grossmutter war eine gebürtige Mailänderin gewesen. Der Doktor Perzl ist anno domini 1907 ein Opfer seines Berufes geworden. Er hatte sich mit der Leiche einer seiner Patientinnen infiziert. Wie er die nämlich auseinandergeschnitten hat, um herauszubekommen, was ihr denn eigentlich gefehlt hätte, hat er sich selbst einen tiefen Schnitt beigebracht, so unvorsichtig hat er mit dem Seziermesser herumhantiert, weil er wieder mal besoffen gewesen ist. Es hat allgemein geheissen, dass wenn er kein Quartalssäufer gewesen wär, so hätt er eine glänzende Zukunft gehabt. Ferdinand Perzl, das einzige Kind, hatte die Kadettenschule absolvieren müs얍 sen, weil er als Gymnasiast nichts Vernünftiges hatte werden wollen. Er ist dann ein aktiver K.u.K. Oberleutnant geworden und es ist ihm auch gelungen, den Weltkrieg in der Etappe zu verhuren. Aber nachdem Österreich-Ungarn alles verspielt hatte und auch er selbst allmählich alles, was er erben sollte, die sechs Häuser und das DritBN

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] Kobler, dennN ] Bsehr, dassN ] Bkonnte.N ] BKragenpartie, wennN ] Bzuwandte, erregteN ] Bsagte, sieN ] Bsagte, sieN ] Bsagte, sieN ] Bsagte, dasN ] Bgebracht, aberN ] Bhat f wasN ] Bhätte, hatN ] Bbeigebracht, soN ] Bherumhantiert, weilN ] Bgeheissen, dassN ] Bwär, soN ] BPerzl, dasN ] BKind, hatteN ] Bmüssen, weilN ] Bgelungen, denN ] Balles, wasN ] Bsollte, dieN ] BsechsN ]

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konnte[,] |.| korrigiert aus: Kragenpartie,wenn korrigiert aus: zuwandte,erregte korrigiert aus: sagte,sie korrigiert aus: sagte,sie korrigiert aus: sagte,sie korrigiert aus: sagte,das korrigiert aus: gebracht,aber korrigiert aus: hat,um herauszubekommen,was korrigiert aus: h[a] ä tte,hat korrigiert aus: beigebracht,so korrigiert aus: herumhantiert,weil korrigiert aus: geheissen,dass korrigiert aus: wär,so korrigiert aus: Perzl,das korrigiert aus: Kind,hatte korrigiert aus: müssen,weil korrigiert aus: gelungen,den korrigiert aus: alles,was korrigiert aus: sollte,die

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sech\s/

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 16

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

tel der Windmühle, verloren hatte, ist er in sich gegangen und hat nicht mehr herumgehurt, sondern hat bloss zähneknirschend und mit der Faust in der Tasche zugeschaut, wie dies die Valutastarken taten. Er ist in ein Kontor gekommen und hatte seine liederliche Haltung während des grossen Völkerringens in seinen Augen ausradiert, ist Nationalsozialist geworden und hat die Stenotypistin Frieda Klovac geheiratet, eine Blondine mit zwei linke Füss. Solche kleine Abnormitäten konnten ihn seit seiner Etappenzeit ganz wehmütig stimmen. Über diese Heiraterei hatte sich jedoch seine Mutter sehr aufgeregt, denn sie hatte ja immer schon gehofft, dass der Nandl mal ein anständiges Mädl aus einem schwerreichen Hause heiraten würde. Eine Angestellte war in ihren Augen keine ganz einwandfreie Persönlichkeit, besonders als Schwiegertochter nicht. Sie titulierte sie also nie anders, als „das Mensch“, „die Sau“, „das Mistvieh“ und drgl. Und je ärmer sie wurde, umso stärker betonte sie ihre gesellschaftliche Herkunft, mit anderen Worten: je härter sie 얍 ihre materielle Niederlage empfand, umso bewusster wurde sie ihrer ideellen Überlegenheit. Diese ideelle Überlegenheit bestand vor allem aus Unwissenheit. Und aus der natürlichen Beschränktheit des mittleren Bürgertums. Wie alle ihresgleichen hasste sie nicht die uniformierten und zivilen Verbrecher, die sie durch Krieg, Inflation, Deflation und Stabilisierung begaunert hatten, sondern ausschliesslich das Proletariat, weil sie ahnte, ohne sich darüber klar werden zu wollen, dass dieser Klasse die Zukunft gehört. Sie wurde neidig, leugnete es aber ab. Sie fühlte sich zutiefst gekränkt und in ihren heiligsten Gefühlen verletzt, wenn sie sah, dass sich ein Arbeiter ein Glas Bier leisten konnte. Sie wurde schon rabiat, wenn sie einen demokratischen Leitartikel las. Es war kaum mit ihr auszuhalten am 1. Mai . B

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Windmühle,N ] hatte, istN ] Bherumgehurt, sondernN ] Bzugeschaut, wieN ] BliederlicheN ] Bausradiert, istN ] Bgeheiratet, eineN ] Baufgeregt, dennN ] Bgehofft, dassN ] BPersönlichkeit, besondersN ] Banders, alsN ] BMensch“ f „dasN ] Bwurde, umsoN ] BHerkunft, mitN ] Bempfand, umsoN ] BÜberlegenheit bestandN ] BVerbrecher, dieN ] BInflation, DeflationN ] Bhatten, sondernN ] BProletariat, weilN ] Bahnte, ohneN ] Bwollen, dassN ] Bneidig, leugneteN ] Bverletzt, wennN ] Bsah, dassN ] B1. MaiN ]

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Windmühle\,/ [in Brescia,]

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korrigiert aus: hatte,ist korrigiert aus: herumgehurt,sondern korrigiert aus: zugeschaut,wie Korrektur von fremder Hand: li\e/derliche korrigiert aus: ausradiert,ist korrigiert aus: geheiratete,eine korrigiert aus: aufgeregt,denn korrigiert aus: gehofft,dass korrigiert aus: Persönlichkeit,besonders korrigiert aus: anders,als korrigiert aus: Mensch“,„die Sau“,„das korrigiert aus: wurde,umso korrigiert aus: Herkunft,mit korrigiert aus: empfand,umso korrigiert aus: Überlegenheitbestand korrigiert aus: Verbrecher,die korrigiert aus: Inflation,Deflation korrigiert aus: hatten,sondern korrigiert aus: Proletariat,weil korrigiert aus: ahnte,ohne korrigiert aus: wollen,dass korrigiert aus: neidig,leugnete korrigiert aus: verletzt,wenn korrigiert aus: sah,dass korrigiert aus: 1.Mai

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 17

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Sowie sie aber dem Kobler oder einem ähnlichen jungen Herrn begegnete, war sie sofort in der Kaiserstadt, eine jener sagenhaften Altwienerinnen mit dem gschlamperten, aber feschen Temperament, die angeblich durch nichts auf der Welt umgebracht werden können -- doch hatte sie dabei immer so aufgerissene Augen, als hätte sie gerade geweint. Nur einmal hatte sie acht Jahre lang einen Hausfreund, einen Zeichenlehrer von der Oberrealschule im achten Bezirk. Der ist immer schon etwas nervös gewesen und hatte schon immer so seltsame Aussprüche getan, wie : „Na wer ist denn schon der 얍 Tizian? Ein Katzlmacher!“ Endlich wurde er eines Tages korrekt verrückt, so wie sichs gehört. Das begann mit einem übertriebenen Reinlichkeitsbedürfnis. Er rasierte sich den ganzen Körper, schnitt sich peinlich die Härchen aus den Nasenlöchern und zog sich täglich zehnmal um, obwohl er nur einen Anzug besass. Später trug er dann auch ständig ein Staubtuch mit sich herum und staubte alles ab, die Kandelaber, das Pflaster, die Trambahn, den Sockel des Maria-Theresiendenkmals -- und zum Schluss wollte er partout die Luft abstauben. Dann wars aus. Schliesslich nannte Josephine Perzl nurmehr die paar altmodischen Möbel in der Schellingstrasse ihr eigen. B

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Knapp zehn Minuten bevor der Kobler nachhause kam, läutete jener Graf Blanquez, der Januar 25 die Nelly Leskinowitsch scheinbar geheiratet hatte, bei der Frau Perzl. Er sagte ihr, er wolle in Koblers Zimmer auf seinen Freund Kobler warten. Die Perzl liess ihn ziemlich unfreundlich hinein, denn er war ihr nicht gerade sympathisch, da sie ihn im Verdacht hatte, dass er sich nur für junge Mädchen interessiert. „Woher hat der nur seine eleganten Krawatten her?“ überlegte sie misstrauisch und beobachtete ihn durchs Schlüsselloch. Sie sah, wie er sich aufs Sofa setzte und in 얍 der Nase bohrte, das Herausgeholte aufmerksam betrachtete und es dann gelangweilt an die Tischkante schmierte. B

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begegnete, warN ] Kaiserstadt, eineN ] Bgschlamperten, aberN ] BTemperament, dieN ] BHausfreund, einenN ] Bgetan, wieN ] Bverrückt, soN ] BKörper, schnittN ] BHärchenN ] Bum, obwohlN ] BKandelaber f denN ] BN] BBlanquez, derN ] Bhatte, beiN ] BPerzl. ErN ] Bihr, erN ] Bhinein, dennN ] Bsympathisch, daN ] Bhatte, dassN ] BbeobachteteN ] Bsah, wieN ] Bbohrte, dasN ] BbetrachteteN ] B B

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korrigiert aus: begegnete,war korrigiert aus: Kaiserstadt,eine korrigiert aus: [ge] g schlamperten,aber korrigiert aus: Temperament,die korrigiert aus: Hausfreund,einen korrigiert aus: getan,wie korrigiert aus: verrückt,so korrigiert aus: Körper,schnitt korrigiert aus: Häärchen korrigiert aus: um,obwohl korrigiert aus: Kandelaber,das Pflaster,die Trambahn,den

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[\5./] korrigiert aus: Blanquez,der korrigiert aus: hatte,bei korrigiert aus: Perzl.Er korrigiert aus: ihr,er korrigiert aus: hinein,denn korrigiert aus: sympathisch,da korrigiert aus: hatte,dass

beobachtet\e/ korrigiert aus: sah,wie korrigiert aus: bohrte,das betrachtet\e/

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 19

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Dann starrte er Koblers Bett an und lächelte zynisch. Hierauf kramte er in Koblers Schubladen, durchflog dessen Korrespondenz und ärgerte sich, dass er nirgends Cigaretten fand, worauf er sich aus Koblers Schrank ein Taschentuch nahm und sich vor dem Spiegel seine Mitesser ausdrückte. Er war eben, wie bereits gesagt, leider hemmungslos. Er kämmte sich gerade mit Koblers Kamm, als dieser die Perzl am Schlüsselloch überraschte. „Der Herr Graf sind da“, flüsterte sie. „Aber ich an Ihrer Stell würd ihm das schon verbieten . Denken Sie sich nur, kommt er da gestern nicht herauf mit einem Mensch, legt sich einfach in Ihr Bett damit, gebraucht Ihr Handtuch und ist wieder weg damit. Das geht doch entschieden zu weit, ich tät das dem Herrn Grafen mal sagen.“ „Das ist gar nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen“, meinte Kobler. „Der Graf ist nämlich leicht gekränkt, er könnt das falsch auffassen und ich muss mich mit ihm vertragen, weil ich oft geschäftlich mit ihm zusammenarbeiten muss. An dem Handtuch ist mir zwar schon etwas aufgefallen, wie ich mir heute das Gesicht abgewischt hab, aber eine Hand wäscht die andere.“ Die Perzl zog sich gekränkt in ihre Küche zurück und murmelte was Ungünstiges über die heutigen Kavaliere. Als der Graf den Kobler erblickte, gurgelte er gerade mit dessen Mundwasser 얍 und liess sich nicht stören. „A servus!“ rief er ihm zu. „ Verzeih, aber ich hab grad so einen miserablen Geschmack im Mund -- apropos : ich weiss schon, Du hast den Karren verkauft. Man gratuliert!“ „Danke“, sagte Kobler kleinlaut und wartete verärgert, dass man ihn anpumpt. „Woher weiss denn das schon jeder Gauner, dass ich den Portschinger betrogen hab?“ fragte er sich verzweifelt. Er überlegte: „Pump mich nur an, aber dann schlag ich Dir auf Dein unappetitliches Maul!“ B

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Schubladen, durchflogN ] fand, woraufN ] Beben, wieN ] Bgesagt, leiderN ] BKamm, alsN ] Bda“, flüsterteN ] BverbietenN ] BDenkenN ] Bnur, kommtN ] BMensch, legtN ] BIhrN ] Bdamit, gebrauchtN ] BIhrN ] Bweit, ichN ] Beinfach, wieN ] Bvertragen, weilN ] Baufgefallen, wieN ] Bhab, aberN ] Berblickte, gurgelteN ] BVerzeih, aberN ] BaproposN ] Bverärgert, dassN ] Ban, aberN ] BunappetitlichesN ] B B

korrigiert aus: Schubladen,durchflog korrigiert aus: fand,worauf korrigiert aus: eben,wie korrigiert aus: gesagt,leider korrigiert aus: Kamm,als korrigiert aus: da“,flüsterte

verbiet[e]|en| Denk[en]|en| korrigiert aus: nur,kommt korrigiert aus: Mensch,legt korrigiert aus: ihr korrigiert aus: damit,gebraucht korrigiert aus: ihr korrigiert aus: weit,ich korrigiert aus: einfach,wie korrigiert aus: vertragen,weil korrigiert aus: aufgefallen,wie korrigiert aus: hab,aber korrigiert aus: erblickte,gurgelte korrigiert aus: Verzeih,aber

[übrigens] |apropos| korrigiert aus: verärgert,dass korrigiert aus: an,aber korrigiert aus: unappetittliches

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2 3 4 4 6 7 8 8 8 9 9 9 9 10 12 14 15 16 19 20 21 23 26 26–27

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Aber es kam ganz im Gegenteil. Der Graf legte mit einer chevaleresken Geste zehn RM auf den Tisch. „Mit vielem Dank zurück“, lächelte er verbindlich und gurgelte weiter, als wäre nichts besonderes passiert. „Du hast es scheints vergessen“, bemerkte der Graf so nebenbei, „dass Du mir mal zehn Mark geliehen hast .“ „Was für ein Tag!“ dachte Kobler. „Ich kann es Dir heut leicht zurückzahlen“, fuhr der Graf fort, „weil ich heut nacht eine Erbschaft machen werd. Mein Grossonkel, der um zehn Monat jünger ist als ich, liegt nämlich im Sterben. Er hat den Krebs. Der Aermste leidet fürchterlich, Krebs ist bekanntlich unheilbar, wir wissen ja noch gar nicht, ob das ein Bazillus ist oder eine Wucherung. Er wird die Nacht nicht überleben, das steht fest. Wie er von seinem Leiden erlöst ist, 얍 fahr ich nach Zoppot. Nein, nicht durch Polen, oben rum.“ „Gehört Zoppot noch zu Deutschland?“ erkundigte sich Kobler. „ Nein, Zoppot liegt im Freistaat Danzig, der direkt dem Völkerbund untergeordnet ist“, belehrte ihn der Graf. „Übrigens wenn ich Du wär , würd ich jetzt auch wegfahren, Du kannst Deine sechshundert gar nicht besser anlegen. Wenn Du mir folgst, fährst Du einfach auf zehn Tag in ein Luxushotel, lernst dort eine reiche Frau kennen und alles weitere wird sich dann sehr legere abspielen, Du hast ja ein gutes Auftreten. Du kannst für Dein ganzes Leben die märchenhaftesten Verbindungen bekommen, garantiert ! Du kennst doch den langen Kammerlocher, der wo früher bei den Ulanen war? Ja, den Kadettaspiranten, der wo in der Maxim-Bar die Zech geprellt hat. Jawohl, der mit dem Rossgfriss! Der ist mit ganzen zwahundert Schilling nach Meran gefahren, hat sich dort in ein Luxushotel einlogiert, hat noch am gleichen abend eine Aegypterin mit a paar Pyramiden zum Boston engagiert, hat mit ihr geflirtet und hat sie dann heiratn müssn , weil er sie kompromittiert hat. Jetzt B

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lächelteN ] weiter, alsN ] BhastN ] Bzurückzahlen“, fuhrN ] BGrossonkel, derN ] Bich, liegtN ] Bunheilbar, wirN ] Bein BazillusN ] Büberleben, dasN ] BPolen, obenN ] BNein, ZoppotN ] BDanzig, derN ] Bist“, belehrteN ] BwärN ] Bwär, würdN ] Bwegfahren, DuN ] Bfolgst, fährstN ] BLuxushotel, lernstN ] Bbekommen, garantiertN ] BKammerlocher, derN ] BJa, f derN ] Bhat.N ] BJawohl, derN ] Bgefahren, hatN ] Beinlogiert, hatN ] Bengagiert, hatN ] Bheiratn müssnN ] Bmüssn, weilN ]

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lächelte[r]

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korrigiert aus: weiter,als korrigiert aus: hats korrigiert aus: zurückzahlen“,fuhr korrigiert aus: Grossonkel,der korrigiert aus: ich,liegt korrigiert aus: unheilbar,wir korrigiert aus: eineBazillus korrigiert aus: überleben,das korrigiert aus: Polen,oben korrigiert aus: Nein,Zoppot korrigiert aus: Danzig,der korrigiert aus: ist“,belehrte

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wär[e] korrigiert aus: wär,würd korrigiert aus: wegfahren,Du korrigiert aus: folgst,fährst korrigiert aus: Luxushotel,lernst korrigiert aus: bekommen,garantiert korrigiert aus: Kammerlocher,der korrigiert aus: Ja,den Kadettaspiranten,der

hat[!] |.| korrigiert aus: Jawohl,der korrigiert aus: gefahren,hat korrigiert aus: einlogiert,hat korrigiert aus: engangiert,hat

heirat[e]|n| müss[en]|n| korrigiert aus: müssn,weil

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 21

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

ghört ihm halb Aegypten. Und was hat er ghabt ? Nix hat er ghabt. Und was ist er gwesen? Pervers ist er gwesen! Lange Seidenstrümpf hat er sich angzogen und hat seine Haxen im Spiegel betrachtet. Ein Narziss!“ „Das muss ich mir noch durch den Kopf gehen lassen, wie ich am besten mein Geld ausgib“, meinte Kobler nachdenklich. 얍 „Ich bin kein Narziss“, fügte er hinzu. Die langen Haxen des Kammerlocher, das Luxushotel und die Pyramiden hatten ihn etwas verwirrt. Mechanisch bot er dem Grafen eine Achtpfennigzigarette an. „Das sind Mazedonier“, sagte der Graf. „Ich nehm mir gleich zwei.“ Sie rauchten. „Ich fahr bestimmt nach Zoppot“, wiederholte der Graf. Es schlug elf. „Es ist schon zwölf“, sagte der Graf, denn er war sehr verlogen. Dann wurde er plötzlich nervös. „Also ich fahr nach Zoppot“, wiederholte er sich abermals. „Ich werd dort spielen, ich hab nämlich ein Spielsystem, das basiert auf den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Du setzt immer auf die Zahl, die am wahrscheinlichsten herauskommt. Du musst wahrscheinlich gewinnen. Das ist sehr wahrscheinlich. Apropos wahrscheinlich: gib mir doch Deine zehn Mark wieder retour, es ist mir gerade eingefalln, dass ich sie Dir lieber morgen retour gib . Ich krieg sonst meine Wäsch nicht raus. Ich hab mir schon zuvor ein Taschentuch von Dir borgn müssn.“ ---------------------------------------------------------------------------------------------------Kobler rasierte sich gerade, und die Perzl brachte ihm das neue Handtuch. „Ende gut, alles gut“, triumphierte sie. „Ich bin Ihnen direkt dankbar, dass Sie diesen Grafen endlich energisch hinauskomplimentiert habn! Ich freu mich wirklich sehr, dass ich den Strizzi nimmer zu sehn brauch!“ „Halts Maul, Perzl!“ dachte Kobler und setzte ihr spitz auseinander, dass sie den Grafen total verkenne, man müsse es ihm nur manchmal sagen, dass er ein unmöglicher Mensch sei, sonst würde er sich ja mit sich selber nichtmehr auskennen. Im Moment sei er freilich gekränkt, aber hernach danke er einem dafür. -- „So und jetzt bringens mir etwas heisses Wasser!“ sagte er und schien keinen Widerspruch zu dulden. B

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Sie brachte es ihm, setzte sich dann auf den kleinsten Stuhl und sah ihm aufmerksam zu. Sich rasierenden Männern hatte sie schon immer vieles verzeihen müssen. Das lag so in ihrem Naturell. B

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[ge]|g|habt Sei[d]|d|enstrümpf [h]|H|axen Mechanisch1 Er3 bot2 dem4 korrigiert aus: retourgib [diesen] |den| jetzt\t/ [diesen Strizzi nimmer zu sehen brauch!” „Kusch!“ [d]|d|achte Kobler und antwortete spitz: „[S]|s|ie5 verkennen6 den7 Grafen8 total9, man10 muss11 es12 ihm13 nur14 manchmal15 sagen16, „Sie1 irren2 Frau3 Perzl4, dass17 er ein unmöglicher Mensch ist, sonst kennt er sich ja mit sich selber nichtmehr aus. Im Moment ist er freilich gekränkt, aber hernach dankt er einem dafür. Am Freitag holt er mich ab. So und jetzt bringens mir etwas heisses Wasser!“] korrigiert aus: ihm,setzte rasieren[d]|d|en

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 23

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Er hingegen beachtete sie kaum, da er es schon gar nicht mochte, dass sie mit ihrem Rüssel in seinem Privatleben herumwühlt, wie eine Wildsau im Morast. „Also einen Grossonkel hab ich nie gehabt“, liess sie sich schüchtern wieder vernehmen, „aber wie mein Stiefbruder gestorben ist -- “ Kobler unterbrach sie ungeduldig: „Das mit dem sterbenden Grossonkel war doch nur Stimmungsmache, damit ich ihm leichter was leih! Der Graf ist nämlich sehr raffiniert. Er ist aber auch sehr vergesslich, bedenken Sie, dass er im Krieg verschüttet war. Er ist doch nichtmehr der Jüngste. Heutzutag muss man über Leichen gehen, wenn man was erreichen will. Ich geh aber nicht über Leichen, weil ich nicht kann. So und jetzt bringens mir etwas kaltes Wasser!“ Sie brachte ihm auch das kalte Wasser und betrachtete treuherzig seinen Rük얍 ken. „Darf man ein offenes Wort sagen, Herr Kobler?“ -- Kobler stutzte und fixierte sich selbst im Spiegel. „Offen?“ überlegte er. „ Offen ? Aber dann kündig ich zum ersten Oktober!“ -- Langsam wandte er sich ihr zu. „Bitte!“ sagte er offiziell. „Sie wissens ja jetzt, wie hoch ich den Herrn Grafen einschätz, aber trotzdem hat er zuvor in einem Punkt rechtghabt, nämlich was das Reisen betrifft. Wenn ich jetzt Ihr Geld hätt, liess ich sofort alles liegn, wies grad liegt, nur naus in die Welt!“ „Also das ist der ihr offenes Wort“, dachte Kobler beruhigt und wurde auffallend überlegen: „Sagen Sie Frau Perzl, warum horchen Sie denn immer, wenn ich Besuch empfange?“ „Ich hab doch nicht gehorcht!“ protestierte die Perzl und gestikulierte sehr. „Ich war doch grad am Radio, aber ich hab schon kein Ton ghört von dem klassischen Quartett, so laut haben sich die beidn Herren die Meinung gsagt! Könnens mir glaubn, ich hätt mich lieber an der Musik erbaut, als Ihr B

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kaum, daN ] mochte, dassN ] Bherumwühlt, wieN ] Bgehabt“, liessN ] Bvernehmen, „aberN ] Bist --N ] BStimmungsmache, damitN ] Bvergesslich f dassN ] BLeichen, weilN ] BbringensN ] BN] BbetrachteteN ] Bsagen, HerrN ] Ber. „OffenN ] BOffen?N ] BkündigN ] Bzu.N ] Bjetzt, wieN ] Beinschätz, aberN ] Brechtghabt, nämlichN ] BIhrN ] Bhätt, liessN ] Bliegn, wiesN ] Bliegt, nurN ] BPerzl, warumN ] Bimmer, wennN ] BRadio, aberN ] BQuartett, soN ] BbeidnN ] Bglaubn, ichN ] Berbaut f IhrN ] B

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korrigiert aus: kaum,da korrigiert aus: mochte,dass korrigiert aus: herumwühlt,wie korrigiert aus: gehabt“,liess korrigiert aus: vernehmen,„aber korrigiert aus: ist-korrigiert aus: Stimmungsmache,damit korrigiert aus: vergesslich,bedenken Sie,dass korrigiert aus: Leichen,weil

bringen[d]|s| gestrichen: (Absatz)

betrachtet\e/ korrigiert aus: sagen,Herr korrigiert aus: er.„Offen

Offen[?]|?|[“] kündig[e] korrigiert aus: zu korrigiert aus: jetzt,wie korrigiert aus: einschätz,aber korrigiert aus: rechtghabt,nämlich korrigiert aus: ihr korrigiert aus: hätt,liess korrigiert aus: liegn,wies korrigiert aus: liegt,nur korrigiert aus: Perzl,warum korrigiert aus: immer,wenn korrigiert aus: Radio,aber korrigiert aus: Quartett,so beid[en]|n| korrigiert aus: glaubn,ich korrigiert aus: erbaut,als ihr

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

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urdanäres Gschimpf mitanghört!“ „Schon gut, Frau Perzl, so war es ja nicht gemeint“, trat Kobler den Rückzug an, während sie sich als verfolgte Unschuld sehr gefiel. „Wenn ich an all die fremden Länder denk“ sagte sie, „so hebts mich direkt von der Erdn weg, so sehr sehn ich mich nach Abbazzia .“ Kobler ging auf und ab . „Was Sie da über die weite Welt reden“, sagte er, „interessiert mich schon sehr. Nämlich ich hab mir schon oft ge-얍dacht, dass man das Ausland kennen lernen soll, um seinen Horizont zu erweitern. Besonders für mich als jungen Kaufmann wärs schon sehr arg, wenn ich hier nicht rauskommen tät, denn man muss sich mit den Verkaufsmethoden des Auslands vertraut machen. Also wie zum Beispiel ein Kabriolett mit Notsitz in Polen und wie das gleiche Kabriolett in Griechenland verkauft wird. Das werden zwar oft nur Nuancen sein, aber auf solche Nuancen kommts halt oft an. Es wird ja immer schwerer mit dem Dienst am Kunden. Die Leut werden immer anspruchsvoller und“ -- er stockte, denn plötzlich durchzuckte es ihn schaurig: „Wer garantiert mir, ob ich noch einen Portschinger find?“ „Niemand garantiert Dir Alfons Kobler, kein Gott und kein Schwein“, so ging es in ihm zu. Er starrte bekümmert vor sich hin. „Nichts ist der Kundschaft gut und billig genug“, meinte er traurig und lächelte resigniert. „Sie werden im Ausland sicher viel lernen, was Sie dann opulent verwertn können“, tröstete ihn die Perzl. „Was Sie nur allein an Kunstschätzn sehn werdn ! In Paris den Louvre und im Dogenpalast hängt das Portrait eines altn Dogen, der schaut einen immer an, wo man auch grad steht. Aber besonders Florenz! Und das Forum romanum in Rom! Überhaupt die Antike!“ Doch Kobler wehrte ab: „Also B

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urdanäresN ] Perzl, soN ] Bgemeint“, tratN ] Bsie, „soN ] Bweg, soN ] BAbbazziaN ] Bund abN ] Breden“, sagteN ] Bgedacht, dassN ] Bsoll, umN ] BwärsN ] Barg, wennN ] Btät, dennN ] Bsein, aberN ] BjaN ] Bmir, obN ] BDirN ] BKobler, keinN ] BinN ] Bist derN ] Blernen, wasN ] BopulentN ] BverwertnN ] Bkönnen“, trösteteN ] BKunstschätzn f werdnN ] BaltnN ] BDogen, derN ] Ban, woN ] BgradN ] BdieN ] B B

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[o] u rd[i] a näres möglicherweise bewusst gesetzte Dialketalform korrigiert aus: Perzl,so korrigiert aus: gemeint“,trat korrigiert aus: sie,„so korrigiert aus: weg,so gemeint ist: Abbazia und\ /ab korrigiert aus: reden“,sagte korrigiert aus: gedacht,dass korrigiert aus: soll,um

wär[e]|s| korrigiert aus: arg,wenn korrigiert aus: tät,denn korrigiert aus: sein,aber

[a/j]|ja| korrigiert aus: mir,ob

Di\r/ korrigiert aus: Kobler,kein

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[nützlich] |opulent| verwert[en]|n| korrigiert aus: können“,tröstete Kunstschätz[en]|n| seh[en]|n| werd[en]|n| alt[en]|n| korrigiert aus: Dogen,der korrigiert aus: an,wo \grad/ die[se]

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 25

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

für die Kunst hab ich schon garnichts übrig! Haltens mich denn für weltfremd? Dafür interessieren sich doch nur die Weiber von den reichen Juden, wie die Frau Autobär, 얍 die von der Gotik ganz weg war und sich von einem Belletristen hat bearbeiten lassen!“ Die Perzl nickte deprimiert. „Früher war das anders“, sagte sie. „Bei mir muss alles einen Sinn haben“, konstatierte Kobler. „Habens das gehört, was der Graf über die Aegypterin mit den Pyramiden gewusst hat? Sehens, das hätt einen Sinn!“ Die Perzl wurde immer deprimierter. „Ihnen tät ichs von Herzen gönnen, lieber Herr! Hätt doch nur auch mein armer Sohn einen Sinn ghabt und hätt sich so eine reiche Aegypterin ausgsucht, statt das Mistvieh von einer Tippmamsell, Gott verzeih ihr die Sünd!“ Sie schluchzte. „Kennen Sie Zoppot?“ fragte Kobler. „Ich kenn ja nur alles von vor dem Krieg! Mein Mann selig ist viel mit mir rumgefahren. Sogar auf den Vesuv hat er mich hinauf. O wie möcht ich mal wieder hinauf!“ Sie weinte. „Beruhigen Sie sich“, sagte Kobler. „Was nicht geht, geht nicht!“ „Damit tröst ich mich auch“, wimmerte die Perzl. Sie nahm sich zusammen. „ Pardon, dass ich Sie molestiert hab“, lächelte sie geschmerzt. „Aber wenn ich Sie wär, würd ich morgen nach Barcelona fahrn, dort ist doch jetzt grad Weltausstellung. Da müssns in gar 얍 kein Luxushotel, da könnens solche Aegypterinnen leicht in den Pavillonen kennen lernen, das ist immer so in Weltausstellungen. In der Pariser Weltausstellung hab ich mal meinen Selign verlorn und schon spricht mich ein eleganter Herr an und wie ich ihn anschau macht er seinen Ulster auf und hat nichts darunter an, ich erwähn das nur nebenbei.“ B

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Juden, wieN ] anders“, sagteN ] Bgehört, wasN ] BSehens, dasN ] Bgönnen, lieberN ] Bausgsucht, stattN ] BTippmamsell, GottN ] Bsich“, sagteN ] Bgeht, gehtN ] Bauch“,N ] BPardon, dassN ] BN] Bwär,N ] Bfahrn, dortN ] BmüssnsN ] BLuxushotel, daN ] Blernen, dasN ] BSelignN ] BeleganterN ] Ban, ichN ] BN] B B

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korrigiert aus: Juden,wie korrigiert aus: anders“,sagte korrigiert aus: gehört,was korrigiert aus: Sehens,das korrigiert aus: gönne,lieber korrigiert aus: ausgsusht,statt korrigiert aus: Tippmamsell,Gott korrigiert aus: sich“,sagte korrigiert aus: geht,geht

auch\“,/ korrigiert aus: Pardon,dass

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Selig[en]|n| [el]|el|eganter korrigiert aus: an,ich [\6./]

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 27

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Kobler betrat ein amtliches Reisebüro, denn er wusste, dass einem dort umsonst geantwortet wird. Er wollte sich über Barcelona erkundigen und wie man es am einfachsten erreichen tät. Zoppot hatte er nämlich fallen lassen, da er von der Perzl überzeugt worden ist, dass an einem Orte, wo die ganze Welt ausstellt, wahrscheinlich eine bedeutend grössere Auswahl Aegypterinnen anzutreffen wären , als in dem luxuriösesten Luxushotel. Ausserdem würde er dabei auch die ganzen Luxushotelkosten sparen und wenn es nichts werden sollte mit den Aegypterinnen, (was er zwar nicht befürchtete, aber er rechnete mit jeder Eventualität) so könnte er seine Kenntnisse im Automobilpavillon vervollständigen und das Automobilverkaufswesen der ganzen Welt auf einmal überblicken. „Ich werd das Geschäftliche mit dem Nützlichen verbinden“, sagte er sich. -In dem amtlichen Reisebüro hingen viele Plakate mit Palmen und Eisbergen und man hatte das Gefühl, als wäre man schon nicht mehr in der Schellingstrasse. Fast jeder Beamte schien mehrere Sprachen zu sprechen und Kobler horchte an얍 dächtig. Er stand an dem Schalter „Ausland“. Vor ihm standen bereits zwei vornehme Damen und ein alter Herr mit einem alten Bart. Die Damen sprachen russisch, sie waren Emigrantinnen. Auch der Beamte war ein Emigrant. Die Damen nahmen ihn sehr in Anspruch. Er musste ihnen sagen wo gegenwärtig die Sonne scheint, am Lido, in Cannes oder in Deauville. Sie würden zwar auch nach Dalmatien fahren, meinten die Damen, auf die Preise käms ja nicht an, auch wenn es in Dalmatien billiger wäre. Der alte Herr mit dem gepflegten weissen Bart war ein ungarischer Abgeordneter. Er nannte sich Demokrat und las gerade in seiner ungarischen Zeitung, dass die Demokratie Schiffbruch erleidet und nickte beifällig. Die eine Dame streifte Kobler mit dem Blick. Sie streifte ihn sehr schön und Kobler ärgerte sich, dass er kein Emigrant ist, während sich der bärtige Demokrat über Macdonald ärgerte. „Man sollte jeden Demokraten ausrotten“, dachte er. B

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Reisebüro, dennN ] wusste, dassN ] Blassen, daN ] Bist, dassN ] BOrte, woN ] BAegypterinnenN ] BwärenN ] B(wasN ] BEventualität)N ] Bverbinden“, sagteN ] Bsich. --N ] BGefühl, alsN ] Bscheint f inN ] Bfahren, meintenN ] BDamen, aufN ] BPreiseN ] BkämsN ] BjaN ] Ban, auchN ] BZeitung, dassN ] Bsich, dassN ] Bist, währendN ] Bausrotten“, dachteN ] B B

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korrigiert aus: Reisebüro,denn korrigiert aus: wusste,dass korrigiert aus: lassen,da korrigiert aus: ist,dass korrigiert aus: Orte,wo korrigiert aus: Eegypterinnen

[sind] |wären| [/]|(|was Eventualität[/]|)| korrigiert aus: verbinden“,sagte korrigiert aus: sich.-korrigiert aus: Gefühl,als korrigiert aus: scheint,am Lido,in korrigiert aus: fahren,meinten korrigiert aus: Damen,auf korrigiert aus: [R]|P|eise käm[e]|s| [es] |ja| korrigiert aus: an,auch korrigiert aus: Zeitung,dass korrigiert aus: sich,dass korrigiert aus: ist,während korrigiert aus: ausrotten“,dachte

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 28

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Endlich gingen die beiden Damen. Der Beamte schien sie sehr gut zu kennen, denn er küsste der einen die Hand. Sie kamen ja auch jede Woche und erkundigten sich nach allerhand Routen. Gefahren sind sie aber noch nirgends hin, denn sie kamen mit ihrem 얍 Geld grad nur aus. Sie holten sich also jede Woche bloss die Prospekte und das genügte ihnen. Mit der, deren Hand der Beamte küsste, paddelte er manchmal am Wochenend. „Ich möchte endlich nach Hajduszoboszló mit Schlafwagen“, sagte der mit dem Bart ungeduldig und sah den Kobler kriegerisch an. „Was hat er nur?“, dachte Kobler. „Ob das auch ein Demokrat ist?“ dachte der Demokrat. „Nach Hajduszoboszló kann ich Ihnen leider keine Karte geben“ sagte der Beamte. „Ich hab sie nur bis Budapest hier.“ „Skandal“! entrüstete sich der Bart. „Ich werde mich bei meinem guten Freunde, dem königlich ungarischen Handelsminister beschweren!“ „Ich bin Beamter“, sagte der Beamte. „Ich tu meine Pflicht und kann nichts dafür. Welche Klasse wollen Sie?“ Der mit dem Bart sah ihn unsagbar wehmütig und gekränkt an. „Erster natürlich“, nickte er traurig. „Armes Ungarn!“ fiel es ihm ohne jeden Zusammenhang ein. Da trat ihm Kobler zufällig auf das Hühnerauge. „Was machen Sie da?!“ brüllte der Bart. „ Verzeihung!“ sagte Kobler. „Also das ist sicher ein Demokrat“, brummte der Bart auf ungarisch. „Bitte gedulden Sie sich einige Augenblicke, ich muss erst nachfragen lassen, ob es noch Budapester Schlafwagenplätze gibt“, sagte der Beamte und wandte sich dann an Kobler: „Wohin?“ „Nach Barcelona“, sagte Kobler als wär das in der Nachbarschaft. Der Bart horchte auf. „ Barcelona“, überlegte er, „war vor Primo die Rivera ei-얍ne Zentrale der anarchistischen Bewegung. Er ist mir auf die Hühneraugen getreten. Und dritter Klasse fährt er auch!“ „Barcelona ist weit“, sagte der Beamte, und Kobler nickte, auch der Bart nickte unwillkürlich und ärgerte sich darüber. „Barcelona ist sehr weit“, sagte der Beamte. „Wie wollen sie fahren? Über Schweiz oder Italien? Sie fahren zur Weltausstellung? B

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kennen, dennN ] hin, dennN ] Bder, derenN ] Bküsste, paddelteN ] BHajduszoboszlóN ] BSchlafwagen“, sagteN ] BkriegerischN ] Bnur?“, dachteN ] BHajduszoboszlóN ] BFreunde, demN ] BBeamter“, sagteN ] Bnatürlich“, nickteN ] BzufälligN ] BHühnerauge.N ] BVerzeihung!“N ] BDemokrat“, brummteN ] BBart f ungarisch.N ] BAugenblicke, ichN ] Blassen, obN ] BBarcelona“, sagteN ] BBarcelona“, überlegteN ] Bweit“, sagteN ] Bnickte, auchN ] Bweit“, sagteN ] BBeamte. „WieN ] B B

korrigiert aus: kennen,denn korrigiert aus: hin,denn korrigiert aus: der,deren korrigiert aus: küsste,paddelte gemeint ist: Hajdúszoboszló korrigiert aus: Schlafwagen“,sagte

[K]|k|riegerisch korrigiert aus: nur?“,dachte gemeint ist: Hajdúszoboszló korrigiert aus: Freunde,dem korrigiert aus: Beamter“,sagte korrigiert aus: natürlich“,nickte

\zufällig/ Hühnerauge[,]|.| [zufällig aber schon derart, dass es nur so zischte.] Verzeihung[“]|! “| korrigiert aus: Demokrat“,brummte Bart[.]|auf ungarisch.| korrigiert aus: Augenblicke,ich korrigiert aus: lassen,ob korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: Barcelona“,überlegte korrigiert aus: weit“,sagte korrigiert aus: nickte,auch korrigiert aus: weit“,sagte korrigiert aus: Beamte.„Wie

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 30

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Dann passen Sie auf: fahren Sie hin durch Italien und retour durch die Schweiz. Preis und Entfernung sind egal, ja. Sie fahren hin und her dreiundneunzig Stunden, D-Zug natürlich. Sie brauchen das Visum nach Frankreich und Spanien. Wird besorgt! Nach Österreich , Italien und Schweiz brauchen Sie kein Visum, wird besorgt! Wenn Sie hier abfahren, sind Sie an der deutschen Grenze um 10.32 und in Innsbruck um 13.05. Ich schreibe Ihnen auf. Ab Innsbruck 13.28. An Brennero 14.23. Ab Brennero 15.30. An Verona 20.50. Ab Verona 21.44. An Milano 0.13. Ab Milano 3.29. Ab Genova 7.04. An Ventimiglia 11.27. An Marseille 18.40. An spanische Grenze Portbou 5.16. An Barcelona 10.00. Ab Barcelona 11.00. Und so schrieb ihm der Beamte auch noch alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Rückfahrt auf: Cerbéres, Tarascon, Lyon, Genf , Bern, Basel , Lindau -- und zwar hatte er diese Zahlen alle im Kopf. „Er ist ein Gedächtniskünstler“, dachte Kobler. „Ein Zahlengenie. Ein Zirkus“. „Und das kostet dritter Klasse hin und her nur einhundertsiebenundzwanzig Mark vierundfünfzig Pfennig“, sagte der Zirkus. Hin und her?! Kobler war begeistert. 얍 „Nur? Nicht möglich!“ staunte er. „ Doch“, versicherte ihm der Beamte. „Deutschland ist bekanntlich mit das teuerste europäische Land, weil es den Krieg verloren hat. Frankreich und Italien sind bedeutend billiger, weil sie eine Inflation haben. Nur Spanien und die Schweiz sind noch teurer als Deutschland.“ „Sie vergessen Rumpfungarn“, mischte sich der Bart plötzlich ins Gespräch. „Rumpfungarn ist auch billiger als Deutschland, obwohl es alles im Krieg verloren hat. Es ist zerstückelt worden, meine Herren! Serbien und Kroatien dagegen sind noch billiger als Rumpfungarn, weil Amerika den Krieg gewonnen hat, obwohl militärisch wir den Krieg gewonnen haben!“ B

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egal, ja.N ] WirdN ] BÖsterreichN ] Babfahren, sindN ] B15.30.N ] BMilano 0.13.N ] B10.00.N ] BUndN ] BCerbéres f GenfN ] BGenf,N ] BBern, BaselN ] BN] BN] BKobler.N ] BZahlengenie. EinN ] BPfennig“, sagteN ] Bher?!N ] BDoch“, versicherteN ] BLand, weilN ] Bbilliger, weilN ] BDeutschland.“N ] BDeutschlad, obwohlN ] Bworden, meineN ] BKroatienN ] BRumpfungarn, weilN ] Bhat, obwohlN ] B B

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Am End ist es anscheinend ganz wurscht, wer so einen Krieg gewinnt“, sagte Kobler. Der Bart blitzte ihn empört an. „ Hát das ist ein Bolschewik!“ dachte er. „Die Neutralen sind am besten dran, das sind heut die teuersten Länder“, schloss der Beamte die Debatte. Kobler tat es aufrichtig leid, dass nicht auch Spanien und die Schweiz in den Weltkrieg verwickelt worden waren. B

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Am Abend bevor Kobler zur Weltausstellung fuhr, betrat er nochmal sein Stammlokal in der Schellingstrasse, das war ein 얍 Cafè-Restaurant und nannte sich „Schellingsalon“. Er betrat es um zu imponieren und bestellte sich einen Schweinebraten mit gemischtem Salat. „Sonst noch was?“ fragte die Kellnerin. „Ich fahr nach Barcelona“, sagte er. „Geh wer werde denn so blöd sein!“ meinte sie und liess ihn sitzen. Da ging der Herr Kastner an seinem Tisch vorbei. „Ich fahr nach Barcelona!“ rief ihm der Kobler zu, aber der Herr Kastner war schon längst vorbei. Der Kakuschke ging an ihm vorbei. „Sie fahren nach Barcelona?“ fragte der Kakuschke bissig. „In diesen ernsten Zeiten, junger Mann -- “ „Kusch!“ unterbrach ihn der Kobler verstimmt. Auch Graf Blanquez gingen vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, sagte Kobler. „Seit wann denn?“ erkundigten sich der Graf. „Seit heut“. „Also dann leckst mich noch heut im Arsch“, sagten der Graf. Auch der Herr Reithofer ging vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, meinte Kobler. „Glückliche Reise!“ sagte der brave Herr Reithofer und setzte sich an einen anderen Tisch. Kobler war erschüttert, denn er wollte ja imponieren und es ging unter keinen Umständen. Geduckt schlich er ins Klosett. „Zu zehn oder fünfzehn?“ fragte ihn die zuvorkommende alte Rosa. „Ich fahr nach Barcelona“, murmelte er. „Was fehlt Ihnen?!“ entsetzte sich die gute Alte, aber Kobler schwieg be-얍harrlich und die Alte machte sich so ihre Gedanken. Als er dann wieder draussen war, schielte sie sorgenvoll durch den Türspalt, ob er sich auch ein Bier bestellt hätte. Ja, er hatte sich sogar bereits das zweite Glas Bier bestellt, so B

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wurscht, werN ] HátN ] BHátN ] Bdran, dasN ] BLänder“, schlossN ] Bleid, dassN ] BwordenN ] BN] Bfuhr, betratN ] BSchellingstrasse, dasN ] BCafè-RestaurantN ] BSchweinebratenN ] Bzu, aberN ] BZeiten f Mann --N ] Berschüttert, dennN ] BAlte, aberN ] Bwar, schielteN ] BJa, erN ] Bbestellt, soN ] B B

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H[alt]|át| gemeint ist: ungarisch für also, halt (ugs.) korrigiert aus: dran,das korrigiert aus: Länder“,schloss korrigiert aus: leid,dass

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Caf[e]|è|-Restaurant Schwein[s]|e|braten korrigiert aus: zu,aber korrigiert aus: Zeiten,junger Mann-korrigiert aus: erschüttert,denn korrigiert aus: Alte,aber korrigiert aus: war,schielte korrigiert aus: Ja,er korrigiert aus: bestellt,so

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

hastig hatte er das erste heruntergeschüttet, weil er niemandem imponieren konnte. „Es ist schon alles wie verhext!“ sagte er sich. Da kam sie: Anna, das Mädchen. „Ich fahr nach Barcelona“, begrüsste sie der Kobler. „Wieso?“ fragte sie und sah ihn erschrocken an. Er sonnte sich in ihrem Blick. „Dort ist jetzt eine internationale Weltausstellung“, lächelte er gemein, und das tat ihm sogar wohl, obzwar er sonst immer anständig zu ihr gewesen ist. Er half ihr überaus aufmerksam aus dem Mantel und legte ihn ordentlich über einen Stuhl, dabei hatte er jedoch einen sehr höhnischen Gesichtsausdruck. Sie nahm neben ihm Platz und beschäftigte sich mit einem wackelnden Knöpfchen auf ihrem Aermel. Das Knöpfchen war nur zur Zierde da. Sie riss es ab. Dann erst sah sich Anna in dem Lokal um und nickte ganz in Gedanken dem Herrn Reithofer zu, der sie gar nicht kannte. „Nach Barcelona“, sagte sie, „da tät ich schon auch gern hinfahren.“ „Und warum fährst Du nicht?“ protzte Kobler. „Frag doch nicht so dumm“, sagte sie. ---------------------------------------------------------------------------------------------------Kennt Ihr das Märchen von Anna, dem Mädchen? 얍 Vielleicht ist noch einer unter Euch, der es nicht kennt und dann zahlt sichs ja schon aus, dass Ihrs alle nochmal hört. Also: Es war einmal ein Mädchen, das fiel nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur hundertzehn Mark und hatte nur eine Durchschnittsfigur und ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett. Sie arbeitete im Kontor einer Autoreparaturwerkstätte, doch konnte sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie ab und zu hinten auf einem Motorrad mitfahren, aber dafür erwartete man auch meistens was von ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und verschloss sich den Herren nicht. Sie liess aber immer nur einen drüber, das hatte ihr das Leben bereits beigebracht. Oft liebte sie zwar gerade diesen einen nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte, im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen und wenn sie B

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heruntergeschüttet. weilN ] niemandemN ] B„EsN ] Bsie:N ] BAnna, dasN ] BBarcelona“, begrüssteN ] Bwohl, obzwarN ] BStuhl, dabeiN ] Bzu, derN ] BBarcelona“, sagteN ] Bdumm“, sagteN ] BEuch, derN ] Baus, dassN ] BMädchen, dasN ] Bauf, dennN ] BmonatlichN ] Bunangenehm, aberN ] Bhübsch, nurN ] BAutoreparaturwerkstätte, dochN ] Bmitfahren, aberN ] Bdrüber, dasN ] Bnicht, aberN ] Baus, wennN ] Bkonnte, imN ] B B

korrigiert aus: heruntergeschüttet,weil korrigiert aus: niemanden korrigiert aus: „ Es

sie[.]|:| korrigiert aus: Anna,das korrigiert aus: Barcelona“,begrüsste korrigiert aus: wohl,obzwar korrigiert aus: Stuhl,dabei korrigiert aus: zu,der korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: dumm“,sagte korrigiert aus: Euch,der korrigiert aus: aus,dass korrigiert aus: Mädchen,das korrigiert aus: auf,denn

mon[a]|a|tlich korrigiert aus: unangenehm,aber korrigiert aus: hübsch,nur korrigiert aus: Autoreparaturwerkstätte,doch korrigiert aus: mitfahren,aber korrigiert aus: drüber,das korrigiert aus: nicht,aber korrigiert aus: aus,wenn korrigiert aus: konnte,im

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 34

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

dies trotzdem tat wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade mal mussten. Oft wurde sie dann in den Anfangssätzen boshaft und tückisch, aber bald liess sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in ihrem Leben einerlei, denn das musste es ja sein, sonst hätt sies nicht ausgehalten. Nur wenn sie unpässlich war, dachte sie intensiver an sich. Einmal ging sie mit einem Herrn fast über das Jahr, der hiess Fritz. Ende Okto얍 ber sagte sie: „Wenn ich ein Kind bekommen tät, das wär das grösste Unglück“. Dann erschrack sie über ihre Worte. „Warum weinst Du?“ fragte Fritz. „Ich hab es nicht gern dass Du weinst! Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag und wir machen eine Bergtour.“ Und er setzte ihr auseinander, dass bekanntlich besonders die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, dass sie kein Kind kriegt. Sie stieg dann mit Fritz auf die westliche Wasserkarspitze, 2037 meter hoch über dem fernen Meere. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon ganz Nacht, aber droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt und Anna sagte: „Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.“ Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein. -Seit diesem Ausflug hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch nie wieder ganz gesund und ab und zu tat ihrs im Unterleib schon ganz verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch. ---------------------------------------------------------------------------------------------------B

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selten, sieN ] zu, wasN ] BDann machteN ] Blustig, dennN ] Bwenig, meistensN ] Btückisch, aberN ] Beinerlei, dennN ] Bsein, sonstN ] Bwar, dachteN ] BJahr, derN ] Bsie: „WennN ] Btät, dasN ] BerschrackN ] BN] BSamstag, dasN ] Bauseinander, dassN ] BErschütterungen beimN ] Bwären, dassN ] BWasserkarspitze, 2037N ] Bstanden, warN ] BNacht, aberN ] BimN ] Baus, alsN ] Bein. --N ] Bnach, sieN ] BLeut, dieN ] Bist, soN ] B B

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Dann\ /machte korrigiert aus: lustig,denn korrigiert aus: wenig,meistens korrigiert aus: tückisch,aber korrigiert aus: einerlei,denn korrigiert aus: sein,sonst korrigiert aus: war,dachte korrigiert aus: Jahr,der korrigiert aus: sie:„Wenn korrigiert aus: tät,das korrigiert aus: erscharck

[-] korrigiert aus: Samstag,das korrigiert aus: auseinander,dass

Erschütterungen\ /beim korrigiert aus: wären,dass korrigiert aus: Wasserkarspitze,2037 korrigiert aus: standen,war korrigiert aus: Nacht,aber korrigiert aus: ihm korrigiert aus: aus,als korrigiert aus: ein.-korrigiert aus: nach,sie korrigiert aus: Leut,die korrigiert aus: ist,so

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 35

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Mitte September sass sie also neben Kobler 얍 im Schellingsalon. Sie bestellte sich lediglich ein kleines dunkles Bier, ihr mit Butter belegtes Abendbrot hatte sie bereits in der Autoreparaturwerkstätte zu sich genommen, denn sie hatte dort an diesem Tage ausnahmsweise bis abends neun Uhr zu tun. Sie musste dies durchschnittlich viermal wöchentlich ausnahmsweise tun. Für diese Überstunden bekam sie natürlich nichts bezahlt, denn sie hatte ja das Recht, jeden ersten zu kündigen, wenn sie arbeitslos werden wollte. „Gib mir was von Deinem Kartoffelsalat“, sagte sie plötzlich, denn sie hatte noch Appetit. „Bitte!“ meinte Kobler, und es war ihm unvermittelt, als müsste er sich eigentlich anstandshalber schämen, dass er so nur aus Vergnügen nach Barcelona fährt. „Es wird sehr anstrengend werden“, sagte er. „Dann wird es also heute Nacht nichts“ sagte sie. „ Nein“, sagte er. B

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Altbayern und das heilige Land Tirol

ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 6

Der D-Zug, der den Kobler bis über die deutsche Grenze bringen sollte, fuhr pünktlich ab, denn der Herr mit der roten Dienstmütze hob pünktlich seinen Befehlsstab. „Das ist die deutsche Pünktlichkeit!“ hörte er jemanden sagen mit hannöverschem Accent. Da stand auf dem Bahnsteig u.a. eine junge Frau und winkte begeistert einer kümmerlichen Blondine im vorderen Wagen, für die sie eine tiefe Sympathie empfand, ohne sich darüber klar zu sein, dass die kümmerliche Blondine bewusst gleichgeschlechtlich orientiert war. Kobler drängte sich dazwischen. Er beugte sich aus dem Fenster und nickte der jungen Frau gnädig zu. Die verzog aber das Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jetzt ärgert sie sich“, freute sich Kobler und musste an Anna denken. „Auch Anna wird sich jetzt ärgern,“ dachte er weiter, „es ist nämlich grad acht Uhr und da beginnt ihr Büro. Ich würd mich auch ärgern, wenn jetzt mein Büro beginnen tät, es geht doch nichts über die Selbstständigkeit. Was wär das für ein Unglück, wenn alle Leut Angestellte wären, wie sich das der Marxismus ausmalt -- 얍 oder könnt ich denn jetzt nach Barcelona, wenn ich ein Angestellter wär? Als Angestellter hätt ich mich doch schon gar nie so angestrengt, den Portschinger zu betrügen. Wenn das Kabriolett Staatseigentum gewesen wär, dann hätt ichs einfach B

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genommen, dennN ] bezahlt, dennN ] BRecht, jedenN ] Bkündigen, wennN ] BKartoffelsalat“, sagteN ] Bplötzlich, dennN ] Bunvermittelt, alsN ] Bschämen, dassN ] Bwerden“, sagteN ] BNein“, sagteN ] BMarxismusN ] BN] BBarcelona, wennN ] Bangestrengt, denN ] Bwär, dannN ] B B

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korrigiert aus: genommen,denn korrigiert aus: bezahlt,denn korrigiert aus: Recht,jeden korrigiert aus: kündigen,wenn korrigiert aus: Kartoffelsalat“,sagte korrigiert aus: plötzlich,denn korrigiert aus: unvermittelt,als korrigiert aus: schämen,dass korrigiert aus: werden“,sagte korrigiert aus: Nein“,sagte korrigiert aus: Mrxismus Absatz vom Autor getilgt korrigiert aus: Barcelona,wenn korrigiert aus: angestrengt,den korrigiert aus: wär,dann

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 38

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

einschmelzen lassen, wie sichs eigentlich gehört hätt. Aber durch diese drohende Sozialisierung würden halt viele Werte brach liegen, die sich noch verwerten liessen. Das wär nicht anders, weil halt die persönliche Initiative zerstört wär.“ Der D-Zug fuhr aus der Halle. In der Halle hätte man noch leicht neben ihm herlaufen können, aber jetzt gings immer rapider vorwärts. Kobler setzte sich schadenfroh auf seinen Fensterplatz und fuhr stolz durch die tristen Vorortsbahnhöfe, an den Vorortsreisenden vorbei, die ohne jede Bewegung auf die Vorortszüge warteten. Dann hörte die Stadt allmählich auf. Die Landschaft wurde immer langweiliger und Kobler betrachtete gelangweilt sein Gegenüber, einen Herrn mit einem energischen Zug, der sehr in seine Zeitung vertieft war. In der Zeitung stand unter der Überschrift „Nun erst recht!“, dass ein Deutscher, der sagt, er sei stolz, dass er ein Deutscher sei, denn wenn er nicht stolz wäre, wär er doch trotzdem auch nur ein Deutscher, also sei er natürlich stolz, dass er ein Deutscher wäre -- „ein solcher Deutscher“, stand in der Zeitung, „ist kein Deutscher, sondern ein Asphaltdeutscher.“ Auch Kobler hatte sich mit Reiselektüre versorgt, nämlich mit einem Magazin. Da schulterten im Schatten photomontierter 얍 Wolkenkratzer zwei Dutzend Mädchen ihre Beine, als wärens Gewehre, und darunter stand: Der Zauber des Militarismus und, dass es also eigentlich gespenstisch wirke, dass Girls auch Köpfe hätten. Und dann erfuhr er auch noch durch das Magazin, dass im Sommer sogar in Hollywood die Sonne zu scheinen pflegt. Und dann sah er einen ganzen Rudel weiblicher Schönheiten -- die eine stand auf einer dressierten Riesenschildkröte und lächelte sinnlich, die Übrigen hatten sich ihren nackerten Popo fotografieren lassen, denn das war das interessanteste an ihnen. Sonst hatte Kobler keine Lektüre bei sich. Nur noch einige Wörterbücher, ganz winzigbedruckte mit je zwölftausend Wörtern. Deutsch-Italienisch, Français-Allemand, Deutsch-Französisch, Espanol-AleB

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lassen, wieN ] liegen, dieN ] Bkönnen, aberN ] Bvorbei, dieN ] BGegenüber, einenN ] BZug, derN ] Brecht!“, dassN ] BDeutscher f erN ] Bstolz, dassN ] Bsei, dennN ] Bwäre, wärN ] BDeutscher, alsoN ] Bstolz, dassN ] BDeutscher, sondernN ] BBeine, alsN ] Bund, dassN ] Bwirke, dassN ] BN] BMagazin, dass] Bsinnlich, dieN ] BnackertenN ] Blassen, dennN ] BWörterbücher, ganzN ] BEspanol-Aleman f UndN ] B B

korrigiert aus: lassen,wie korrigiert aus: liegen,die korrigiert aus: können,aber korrigiert aus: vorbei,die korrigiert aus: Gegenüber,einen korrigiert aus: Zug,der korrigiert aus: recht!“,dass korrigiert aus: Deutscher,der sagt,er korrigiert aus: stolz,dass korrigiert aus: sei,denn korrigiert aus: wäre,wär korrigiert aus: Deutscher,also korrigiert aus: stolz,dass korrigiert aus: Deutscher,sondern korrigiert aus: Beine,als korrigiert aus: und,dass korrigiert aus: wirke,dass gestrichen: . korrigiert aus: Magazin,dass korrigiert aus: sinnlich,die korrigiert aus: nakcerten korrigiert aus: lassen,denn korrigiert aus: Wörterbücher,ganz korrigiert aus: Espanol-Aleman,usw. Und

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 39

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

man, usw. Und auch eine Broschüre hatte er sich zugelegt mit Redensarten für den Reisegebrauch in Spanien /mit genauer Angabe der Aussprache/, herausgegeben von einem Studienrat in Erfurt, dessen Tochter immer noch hoffte, von einem reichen Deutschargentinier geheiratet zu werden, der ihr dies in der Inflation mal versprochen hatte. Nun beklagte der Studienrat in der Einleitung, es sei tief betrüblich, dass man in deutschen Landen so wenig spanisch lerne, wo doch die spanische Welt arm an Industrie sei, während sie uns Deutschen die mannigfachsten Naturprodukte liefere. Diese Tatsachen würden von der jungen Handelswelt noch lange nicht genügend gewürdigt. Und dann zählte der Studienrat die Länder auf, in denen Spanisch gesprochen wird: zum Beispiel in Spanien. Und in Lateinamerika, ohne Brasilien. Kobler las: „ich bin hungrig, durstig . Tengo hambre, sed. Aussprache: tengo 얍 ambrre, ssed . Wie heisst das auf spanisch? Gomo se llama eso en castellano? Aussprache: komo sse ljama ehsso en kasteljano? Wollen Sie freundlichst langsamer sprechen? Tenga ustén la bondád de ablárr máss despászio. Wiederholen Sie bitte das Wort. Sie müssen etwas lauter sprechen. Er führt eine stolze Sprache, aber er drückt sich gut aus. Kofferträger besorgen Sie mir mein Gepäck. Ich habe einen grossen Koffer, einen Handkoffer, ein Plaid und einen Bund Stöcke und Regenschirme. Ist das dort der richtige Zug nach Figueras? Geben Sie mir trockene Bettwäsche. Bitte Zwiebeln. Jetzt ist sie richtig. Seit längerer Zeit entbehren wir Ihre Aufträge. Was bin ich schuldig? Sehr wohl, mein Herr, ich bleibe alles schuldig. Was haben Sie? Nichts. Wollen Sie zahlen? Nein. Sie wollen nicht zahlen? Nein. Es scheint, dass Sie mich verstanden haben. Auf Wiedersehen also! Grüssen Sie Ihre Frau Gemahlin / Ihren Herrn Gemahl/! Tausend Dank! Glückliche Reise! Gott beschütze Sie!“ „Was lesens denn da?“ hörte er plötzlich seinen Nachbar fragen, der dem Herrn Portschinger ähnlich sah. Er hatte bereits seit einiger Zeit misstrauisch in das Werk des Erfurter Studienrats geschielt. Er hiess Korbinian Bschorr. N

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Erfurt, dessenN ] hoffte, vonN ] Bwerden, derN ] BEinleitung, esN ] Bbetrüblich, dassN ] Blerne, woN ] Bsei, währendN ] BDeutschenN ] Bauf, inN ] BLateinamerika, ohneN ] Bhungrig, durstigN ] Bambrre, ssedN ] BGomoN ] BusténN ] BführtN ] BSprache, aberN ] BKoffer f einN ] BIhreN ] Bschuldig f ichN ] Bscheint, dassN ] BIhrenN ] Bfragen, derN ] B B

korrigiert aus: Erfurt,dessen korrigiert aus: hoffte,von korrigiert aus: werden,der korrigiert aus: Einleitung,es korrigiert aus: betrüblich,dass korrigiert aus: lerne,wo korrigiert aus: sei,während korrigiert aus: deutschen korrigiert aus: auf,in korrigiert aus: Lateinamerika,ohne korrigiert aus: hungrig,durstig korrigiert aus: ambrre,ssed gemeint ist: Como gemeint ist: usted korrigiert aus: fürht korrigiert aus: Sprache,aber korrigiert aus: Koffer,einen Handkoffer,ein korrigiert aus: ihre korrigiert aus: schuldig?Sehr wohl,mein Herr,ich korrigiert aus: scheint,dass korrigiert aus: ihren korrigiert aus: fragen,der

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 40

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

„Ich fahr nach Barcelona“, erwiderte Kobler lakonisch und wartete gespannt auf den Erfolg dieser Worte. Sein Gegenüber mit dem energischen Zug hob ruckartig den Kopf, starrte ihn hasserfüllt an und las dann zum zwanzigstenmal die Definition des Asphaltdeutschen . In der Ecke sass noch ein dritter Herr, aber auf den schienen Koblers Reisepläne gar keinen Eindruck zu machen. 얍 Er lächelte nur müde, als wäre er bereits einigemale um die Erde gefahren. Der Kragen war ihm zu weit. „Alsdann fahrens nach Italien“, konstatierte der Herr Bschorr phlegmatisch. „Barcelona liegt bekanntlich in Spanien“, meinte Kobler überlegen. „Bekanntlich is gar net wahr, bekanntlich liegt des gar net in Spanien, des is gar net so bekanntlich, Sie! “ ereiferte sich der Herr Bschorr. „Bekanntlich is ganz was anders, bekanntlich hätt i gschworn, dass das Barcelona bekanntlich in Italien liegt!“ „Ich fahr durch Italien nur lediglich durch“, sagte Kobler und strengte sich an genau nach der Schrift zu sprechen, um den Korbinian Bschorr zu reizen. Aber der liess sich nicht. „Da werdns lang brauchen nach Barcelona hinter“, meinte er stumpf. „Sehr lang. Da beneid ich Sie schon gar net. Überhaupts muss Spanien recht drecket sein. Und eine heisse Zone. Was machens denn in Madrid?“ „Madrid werde ich links liegen lassen“, erklärte Kobler. „Ich möchte zumal lediglich das Ausland sehen.“ Bei diesen Worten zuckte sein Gegenüber wieder furchtbar zusammen und mischte sich ins Gespräch, klar, kurz und bündig: „Ein Deutscher sollte sein ehrlich erworbenes Geld in diesen wirtschaftlich depressiven Zeiten unter keinen Umständen ins Ausland tragen!“ Dabei fixierte er Kobler strafend, denn er hatte ein Hotel in Partenkirchen, das immer leer stand, weil es wegen seiner verrückt hohen Preise allgemein gemieden wurde. „Aber Spanien war ja im Krieg neutral“, kam der 얍 dritte Herr in der Ecke Kobler zu Hilfe. Er lächelte noch immer. „Egal!“ schnarrte der Hotelier. „Spanien ist uns sogar sehr freundlich gesinnt“, liess der in der Ecke nicht locker. B

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Barcelona“, erwiderteN ] Kopf, starrteN ] BAsphaltdeutschenN ] BHerr, aberN ] Bmüde, alsN ] BErdeN ] BItalien“, konstatierteN ] BSpanien“, meinteN ] Bwahr, bekanntlichN ] BSpanien, desN ] Bbekanntlich, Sie!N ] Banders, bekanntlichN ] Bgschworn, dassN ] Bsprechen, umN ] Bhinter“, meinteN ] Bstumpf. „SehrN ] Blassen“, erklärteN ] BGespräch f kurzN ] Bstrafend, dennN ] BPartenkirchen, dasN ] Bstand, weilN ] B B

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korrigiert aus: Barcelona“,erwiderte korrigiert aus: Kopf,starrte korrigiert aus: Asphaldeutschen korrigiert aus: Herr,aber korrigiert aus: müde,als korrigiert aus: Erede korrigiert aus: Italien“,konstatierte korrigiert aus: Spanien“,meinte korrigiert aus: wahr,bekanntlich korrigiert aus: Spanien,des korrigiert aus: bekanntlich,Sie ! korrigiert aus: anders,bekanntlich korrigiert aus: gschworn,dass korrigiert aus: sprechen,um korrigiert aus: hinter“,meinte korrigiert aus: stumpf.„Sehr korrigiert aus: lassen“,erklärte korrigiert aus: Gespräch,klar,kurz korrigiert aus: strafend,denn korrigiert aus: Partenkirchen,das korrigiert aus: stand,weil

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 42

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

„Uns is überhaupts niemand freundlich gesinnt!“ entgegnete ihm erregt der Herr Bschorr. „Es wäre ja ein Wunder, wenn uns jemand freundlich gesinnt wär!! Oder wars kei Wunder, Leutl ?!“ Der Hotelier nickte: „Ich wiederhole: ein Deutscher soll sein ehrlich erworbenes Geld in der Heimat lassen!“ Kobler wurde allmählich wütend. „Was geht Dich dem Portschinger sein Kabriolett an, Du Hund!“ dachte er und wies den Hotelier in seine Schranken zurück: „Sie irren sich! Wir jungen deutschen Handelsleute müssten noch bedeutend innigere Beziehungen mit dem uns wohlgesinnten Ausland anknüpfen. Zuguterletzt müssen wir dabei natürlich die nationale Ehre hochhalten --“ „ Das mit dem Hochhalten der Ehre sind Redensarten!“ unterbrach ihn der Hotelier unwirsch. „Wir Deutschen sind eben einfach nicht fähig, kommerzielle Beziehungen zum Ausland ehrenvoll anzuknüpfen!“ „Aber die Völker!“ meinte der Dritte und lächelte plötzlich nicht mehr. „Die Völker sind doch aufeinander angewiesen, genau wie Preussen auf Bayern und Bayern auf Preussen.“ „Sie wanns mir Bayern schlecht machn!“ brüllte der Herr Bschorr. „Wer is angewiesen? Was is angewiesen? Die Schnappspreissn solln halt nach der Schweiz fahrn! Zuwas brauchn denn mir an Fremdenverkehr, bei mir kauft ka Fremder was, i hab a Ziegelei und war früher Metzger!“ „Oho!“ fuhr der Hotelier auf. „ Oho, Herr ! Ohne Fremdenverkehr dürfte die 얍 bayerische Eigenstaatlichkeit beim Teufel sein! Wir brauchen die norddeutschen Kurgäste, wir bräuchten auch die ausländischen Kurgäste, besonders die angelsächsischen Kurgäste, aber bei uns fehlt es leider noch häufig an der entgegenkommenden Behandlung des ausländischen Fremdenstromes, wir müssten uns noch viel stärker der ausländischen Psyche anpassen -- jedoch natürlich, wenn der Herr Reichsfinanzminister erklärt -- “ „Des san do kane Minister, des san do lauter Preissn!“ tobte der Herr Bschorr. „Lauter Lumpn sans! Wer geht denn zugrund? Der Mittelstand! Und wer kriegt des ganz Geld vom Mittelstand? Der Arbater! Der Arbater raucht schon sechspfennig Zigaretten -- Meine Herren! I sag bloss allweil: Berlin!“ „Bravo!“ sagte der Hotelier und memorierte den Satz vom Asphaltdeutschen. Der Herr in der Ecke erhob sich und verliess rasch das Abteil. Er stellte sich an das Fenster und sah traurig hinaus auf das schöne bayerische Land. Es tat ihm aufrichtig leid um dieses Land. B

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entgegneteN ] Wunder, wennN ] BWunder, LeutlN ] BDas mitN ] Bfähig, kommerzielleN ] Bangewiesen, genauN ] BfuhrN ] BOho, HerrN ] BKurgäste, wirN ] BKurgäste, besondersN ] BKurgäste, aberN ] BFremdenstromes, wirN ] Bnatürlich, wennN ] BMinister, desN ] Ballweil:N ] B B

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korrigiert aus: entgenete korrigiert aus: Wunder,wenn korrigiert aus: Wunder,Leutl korrigiert aus: Dasmmit korrigiert aus: fähig,kommerzielle korrigiert aus: angewiesen,genau

fu!r"!h" korrigiert aus: Oho,Herr korrigiert aus: Kurgäste,wir korrigiert aus: Kurgäste,besonders korrigiert aus: Kurgäste,aber korrigiert aus: Fremdenstromes,wir korrigiert aus: natürlich,wenn korrigiert aus: Minister,des korrigiert aus: allweil :

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 43

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

„Der is draussen“, stellte der Herr Bschorr befriedigt fest. „Ich verfolge mit Aufmerksamkeit die Heimstättenbewegung“, antwortete der Hotelier. „Ihr Quadratidioten!“ dachte Kobler und wandte sich seinem Fenster zu. Auf den Feldern wurde gearbeitet, auf den Weiden stand das Vieh, am Waldrand das Reh und nur die apostolischen Doppelkreuze der Überlandleitungen erinnerten an das zwanzigste Jahrhun-얍dert. Der Himmel war blau, die Wolken weiss und bayerisch barock. In Huglfing hielt der D-Zug unfahrplanmässig, um auf einen Gegenzug zu warten. Es war eine stille kleine Station und der Stationsvorsteher war sehr stolz und nervös, weil er es mit einem D-Zug zu tun hatte. Der Gegenzug war ein Güterzug. Seine Ladung bestand aus Bier und zwar nur aus Bier. Dunkel und hell, Bock und Export und hinten etwas weiss. Und wie dieser Bierzug so schier endlos und gemütlich an dem haltenden D-Zug vorüber fuhr, das stimmt den Herr Bschorr ganz weich und versöhnlich. „Die ganz Politik kann mich am Arsch leckn“, murmelte er gerührt vor sich hin. „Gott mit Dir Du Land der Bayern!“ ---------------------------------------------------------------------------------------------------So näherte sich der D-Zug der südlichen Grenze der Deutschen Republik. Zuerst ist er an grossen Seen vorbeigerollt, da sind die Berge am Horizont noch klein gewesen. Aber jetzt wurden die Berge immer grösser, die Seen immer kleiner und der Horizont immer enger. Und dann hörten die Seen ganz auf, und ringsherum gabs nur mehr Berge. Das war das Werdenfelser Land. In Partenkirchen stieg der Hotelier aus und würdigte Kobler keines Blickes. Auch der Herr Bschorr stieg aus und stolperte dabei über ein vierjähriges Kind. „Eha!“ meinte er und das Kind brüllte fürchterlich, denn der Herr Bschorr hätt es fast zertreten. Der Hotelier wurde von seiner Frau erwartet, die sah recht abgearbeitet aus und passte nicht zu seinem gutangezogenen 얍 Aeusseren. Es war auch keine glückliche Ehe, sondern eine Kriegsehe. Er hatte sie als ihn sein Kaiser zu den Waffen gerufen hatte, im Lager Lechfeld kennen gelernt, dort ist sie Köchin in einer Kantine gewesen und er Rechnungsfeldwebel. Dort hatten beide, jeder in seinem Revier mächtig gestohlen und hatten sich kriegstrauen lassen. Und obwohl es vor dieser grossen Zeit nur ein kleiner Buchhalter gewesen war, hatte er sich in der Inflation ein partenkirchner Hotel kaufen können und markierte hernach den ehemaligen KampfflieB

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bearbeitet, aufN ] Vieh, amN ] Bblau, dieN ] Bnervös, weilN ] Bhell, BockN ] Bfuhr, dasN ] Bhin. „GottN ] Bvorbeigerollt, daN ] Bgrösser, dieN ] Bfürchterlich, dennN ] Berwartet, dieN ] BEhe, sondernN ] Bhatte, imN ] Bgelernt, dortN ] Bbeide, jederN ] Bwar, hatteN ] BpartenkirchnerN ] B B

korrigiert aus: gearbeitet,auf korrigiert aus: Vieh,am korrigiert aus: blau,die korrigiert aus: nervös,weil korrigiert aus: hell,Bock korrigiert aus: fuhr,das korrigiert aus: hin.„Gott korrigiert aus: vorbeigerollt,da korrigiert aus: grösser,die korrigiert aus: fürchterlich,denn korrigiert aus: erwartet,die korrigiert aus: Ehe,sondern korrigiert aus: hatte,im korrigiert aus: gelernt,dort korrigiert aus: beide,jeder korrigiert aus: war,hatte korrigiert aus: partenkichner

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

ger. Aber, wie gesagt, es war keine glückliche Ehe, denn er wollte nur immer repräsentieren und sie war sehr eifersüchtig, weil er mit einer Kassiererin aus Augsburg eine ständige Liebschaft hatte. Auch jetzt kam er wieder von seiner Kassiererin nach Hause und Kobler sah, dass er von seiner Frau unangenehm berührt war. Dann fuhr der D-Zug wieder weiter. Richtung Mittenwald. Der Herr, der in der Ecke gesessen hatte, betrat nun wieder das Abteil, weil Kobler allein war. Er setzte sich ihm gegenüber und sagte: „Dort sehen Sie die Zugspitze!“ Bekanntlich ist die Zugspitze Deutschlands höchster Berg, obwohl die Hälfte der Zugspitze zu Österreich gehört. Also bauten die Österreicher vor einigen Jahren eine Schwebebahn auf die Zugspitze, obwohl dies die Bayern schon seit zwanzig Jahren tun wollten. Also ärgerten sie die Bayern über die österreichische 얍 Zugspitzbahn so sehr, dass sie es endlich fertigbrachten, eine zweite Zugspitzbahn zu bauen und zwar eine rein bayerische, keine luftige Schwebebahn, sondern eine solide Zahnradbahn. Beide Zugspitzbahnen sind unstreitbar grandiose Spitzenleistungen moderner Bergbahnbautechnik und es sind dabei bis Mitte September 29 schon rund fünf Dutzend Arbeiter tödlich verunglückt. Jedoch bis zur Inbetriebnahme der Bayerischen Zugspitzbahn werden natürlich noch zahlreiche Arbeiter daran glauben müssen, versicherte die Betriebsleitung. „Ich hab dies mal einer Dame erzählt“, sagte der Herr zu Kobler, „aber die Dame sagte, das waeren bloss Erfindungen der Herren Arbeiter, um einen höheren Tarif zu erpressen.“ Dabei lächelte der Herr sehr sonderbar, dass sich der Kobler schon gar nicht mit ihm auskannte. „Diese Dame“ fuhr der Herr fort, „ist die Tochter eines Düsseldorfer Aufsichtsrates und hat schon 1913 nach Kuba geheiratet, sie hat also den Weltkrieg in Kuba durchgemacht.“ Und wieder lächelte der Herr so sonderbar und Kobler verwirrte das fast. „In Kuba wird der Krieg angenehmer gewesen sein“, sagte er und das gefiel dem B

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gesagt, esN ] Ehe, dennN ] Beifersüchtig, weilN ] Bsah, dassN ] BHerr, derN ] Bhatte, betratN ] BAbteil, weilN ] Bsagte: „DortN ] BBerg, obwohlN ] BZugspitze, obwohlN ] Bsehr, dassN ] Bfertigbrachten, eineN ] Bbayerische, keineN ] BSchwebebahn, sondernN ] BtödlichN ] Bmüssen, versicherteN ] Berzählt“, sagteN ] BKobler, „aberN ] Bsagte, dasN ] BArbeiter, umN ] Bsonderbar, dassN ] BfuhrN ] Bgeheiratet, sieN ] B B

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korrigiert aus: gesagt,es korrigiert aus: Ehe,denn korrigiert aus: eifersüchtig,weil korrigiert aus: sah,dass korrigiert aus: Herr,der korrigiert aus: hatte,betrat korrigiert aus: Abteil,weil korrigiert aus: sagte:„Dort korrigiert aus: Berg,obwohl korrigiert aus: Zugspitze,obwohl korrigiert aus: sehr,dass korrigiert aus: fertigbrachten,eine korrigiert aus: bayerische,keine korrigiert aus: Schwebebahn,sondern korrigiert aus: tötlich korrigiert aus: müssen,versicherte korrigiert aus: erzählt“,sagte korrigiert aus: Kobler,„aber korrigiert aus: sagte,das korrigiert aus: Arbeiter,um korrigiert aus: sonderbar,dass

fu!r"!h" korrigiert aus: geheiratet,sie

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Herrn. „Sie werden jetzt ein schönes Stückchen Welt sehen“, nickte er ihm freundlich zu. „Stückchen ist gut“, dachte Kobler gekränkt. Und der Herr meinte, Barcelona sei sehr schön, er kenne es zwar leider nicht, nämlich er kenne nur jene europäischen Länder, die mit uns Krieg geführt hätten, ausser Grossbritanien und Portugal, also fast ganz Europa. Es sein höchste Zeit, sagte der Herr, 얍 dass sich dieses ganze Europa endlich verständige, trotz aller historischer Blödheiten und feindseliger Gefühlsduselein, die immer wieder die Atmosphäre zwischen den Völkern vergiften würden, wie zum Beispiel zwischen Bayern und Preussen. Zwar sei das Paneuropa, das heute angestrebt würde, noch keineswegs das richtige, aber es würde doch eine Plattform sein, auf der sich das richtige Paneuropa entwickeln könnte. Bei dem Worte „richtig“ lächelte der Herr ganz besonders sonderbar und dann meinte er, mit diesem Wort stünde es akkurat so, wie mit dem Ausdruck „sozialer Aufstieg“. Nämlich auch diesen Ausdruck wäre man häufig gezwungen zu gebrauchen statt „Herrschaft des Proletariats“. Aber Kobler verstand ihn nicht und fragte: „Sind Sie auch Kaufmann?“ „Nein!“ sagte der Herr sehr knapp, als wollt er kein Wort mehr mit ihm sprechen. „Was kann der nur sein?“ überlegte Kobler. „Ich war früher Lehrer“, sagte der Herr plötzlich. „Ich weiss nicht, ob Sie die Weimarer Verfassung kennen, aber wenn Sie Ihre politische Überzeugung mit dem Einsatz Ihrer ganzen Persönlichkeit, mit jeder Faser Ihres Seins vertreten, dann nützen Ihnen auch Ihre verfassungsmässig verankerten Freiheitsrechte einen grossen Dreck. Ich zum Beispiel hab eine Protestantin geheiratet und hab nun meine Stelle verloren, das verdanke ich dem bayerischen Konkordat. Jetzt vertrete ich eine Zahnpaste, die niemand kauft, weil sie miserabel ist. Meine Familie muss bei meinen Schwiegereltern in Mittenwald wohnen 얍 und die Alte wirft den B

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gut“, dachteN ] meinte, BarcelonaN ] Bnicht, nämlichN ] BLänder, dieN ] Bhätten, ausserN ] BPortugal, alsoN ] BZeit, sagteN ] Bverständige, trotzN ] BhistorischerN ] BGefühlsduselein, dieN ] Bwürden, wieN ] BPaneuropa, dasN ] Bwürde, nochN ] Brichtige, aberN ] Bsein, aufN ] BWorte f lächelteN ] Ber, mitN ] Bso, wieN ] Bknapp, alsN ] BLehrer“, sagteN ] Bnicht, obN ] Bkennen, aberN ] Bvertreten, dannN ] Bverloren, dasN ] BZahnpaste, dieN ] Bkauft, weilN ] B B

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korrigiert aus: gut“,dachte korrigiert aus: meinte,Barcelona korrigiert aus: nicht,nämlich korrigiert aus: Länder,die korrigiert aus: hätten,ausser korrigiert aus: Portugal,also korrigiert aus: Zeit,sagte korrigiert aus: verständige,trotz korrigiert aus: historische korrigiert aus: Gefühlsduselein,die korrigiert aus: würden,wie korrigiert aus: Paneuropa,das korrigiert aus: würde,noch korrigiert aus: richtige,aber korrigiert aus: sein,auf korrigiert aus: Worte„richtig“lächelte korrigiert aus: er,mit korrigiert aus: so,wie korrigiert aus: knapp,als korrigiert aus: Lehrer“,sagte korrigiert aus: nicht,ob korrigiert aus: kennen,aber korrigiert aus: vertreten,dann korrigiert aus: verloren,das korrigiert aus: Zahnpaste,die korrigiert aus: kauft,weil

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 48

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Kindern jeden Bissen vor. -- -- Dort sehen Sie Mittenwald! Es liegt lieblich, nicht ?“ ---------------------------------------------------------------------------------------------------Mittenwald ist deutsch-österreichische Grenzstation mit Pass- und Zollkontrolle. Einige thüringische Kleinstädter auf Ferienreisen regte die Grenze mächtig auf. Der Grenzübertritt mit seinen behördlichen Zeremonien erschien ihnen als etwas seltsam feierliches . Es schauderte sie. Mit scheuer Bewunderung betrachteten sie die Gendarmen, die sich auf dem Bahnsteig langweilten. Bereits eine halbe Stunde vor Mittenwald hielten sie ihre Pässe erwartungsvoll in Händen, mancher hatte auch seinen Taufschein dabei oder gar ein Leumundszeugnis. All ihre Koffer, Rucksäcke und Kartons lagen weitaufgerissen auf den Bänken. „Bitte nicht schiessen, denn wir sind brav!“ sollte das heissen. Sie zuckten zusammen als der Finanzer im Wagen erschien. „Hat wer was zu verzollen?“ rief der Finanzer ahnungslos. „Hier!“ schrien die Kleinstädter und hielten ihm überstürzt ihr Gepäck unter die Nase. Aber der Finanzer nahm keine Notiz von ihrer Loyalität, er sah gar nicht hin. „Hat wer was zu verzollen?!“ überbrüllte er sie entsetzt und raste aus dem Waggon, denn er hatte Angst, dass ausahmsweise jemand wirklich was zu verzollen hätte, nämlich dann hätte er ausnahmsweise wirklich was zu tun. Bei der Passkontrolle ging es schon schärfer zu, denn das war das bessere Ge얍 schäft. Es sass ja in jedem Zug meist eine Person, deren Pass gerade abgelaufen war und der konnte man dann einen Grenzschein für einige Mark respektive Schilling verkaufen. Eine solche Person sagte mal dem Passbeamten: „Erlauben Sie, ich bin aber schon sehr für den Anschluss!“ Aber der Passbeamte verbat sich energisch jede Beamtenbeleidigung. ---------------------------------------------------------------------------------------------------B

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In Mittenwald betrat eine neuer Mann Koblers Abteil, das heisst: er betrat es nicht, sondern torkelte herein, denn er war sinnlos betrunken. Wie es sich später herausstellte war er der Mitinhaber einer Speditionsfirma, ein Chauffeur aus Innsbruck. „Ich hab grad eine Karambolage hinter mir!“ begrüsste er Kobler und rülpste wie ein Hausprälat. Die Karambolage bestand darin, dass er mit seinem Lastkraftwagen nahe der Grenze einen Motorradfahrer überrannte, weil dieser auf der falschen Seite vorfahB

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lieblich, nichtN ] ZeremonienN ] Bseltsam feierlichesN ] BGendarmen, dieN ] BHänden, mancherN ] BKoffer, RucksäckeN ] BWaggon, dennN ] BAngst, dassN ] Bhätte, nämlichN ] Bzu, dennN ] BPerson, derenN ] BSie, ichN ] BAbteil, dasN ] Bnicht, sondernN ] Bherein, dennN ] BSpeditionsfirma, einN ] Bdarin, dassN ] Büberrante, weilN ] B B

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korrigiert aus: lieblich,nicht korrigiert aus: Zeromi!n"!e" korrigiert aus: seltsammfeierliches korrigiert aus: Gendarmen,die korrigiert aus: Händen,mancher korrigiert aus: Koffer,Rucksäcke korrigiert aus: Waggon,denn korrigiert aus: Angst,dass korrigiert aus: hätte,nämlich korrigiert aus: zu,denn korrigiert aus: Person,deren korrigiert aus: Sie,ich korrigiert aus: Abteil,das korrigiert aus: nicht,sondern korrigiert aus: herein,denn korrigiert aus: Söeditionsfirma,ein korrigiert aus: darin,dass korrigiert aus: überrante,weil

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 49

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

ren wollte, da er die Grenze vergessen hatte. Der Motorradfahrer war sofort tot, während er mit dem Schrecken davongekommen ist, obwohl sein Lastkraftwagen abgeschleppt werden musste. Da aber dieser Lastkraftwagen sehr schön versichert war, kaufte er sich vor lauter Glück im Unglück einen Schnappsrausch. Nun fuhr er nach Innsbruck zurück. Er hasste die Motorradfahrer und äusserte Kobler gegenüber sein lebhaftes Be얍 dauern, dass nicht noch einer am Soziussitz gesessen sei, dann wären nämlich bei seinem gesunden Tempo gleich zwei auf einmal krepiert und ihm hätte ja auch so nichts passieren können, denn die Schuld trügen lediglich immer und überhaupt nur die Motorradfahrer nämlich er selbst sei sich darüber genau klar, dass man in Bayern rechts fahren müsse, in Tirol links und in Voralberg wieder rechts, er kenne die Verkehrvorschriften aus dem ff, denn er selbst sei ja früher bei der Verkehrspolizei gewesen, aber leider hätte er sich durch die Verführungskünste eines temperamentvollen Schandweibes zu einer Amtsunterschlagung verleiten lassen. „Ich hab das absolute Gefühl, dass ich Ihnen das erzähln kann“, sagte er treuherzig und Kobler lächelte verlegen. Der Chauffeur liess einen Donnernden fahren und wurde dann sentimental. Er war eben ein Stimmungsmensch. „Es ist halt a Kreuz auf der Welt“ seufzte er. „Wird unser Zug jetzt auch links fahren?“ erkundigte sich Kobler um das Gespräch auf etwas anderes zu bringen, denn er befürchtete der Stimmungsmensch könnte ihm plötzlich eine runterhauen. Dieser war ehrlich geknickt. „Wie sind eingleisig, lieber Herr“, lallte er. Er wurde immer sentimentaler und setzte Kobler auseinander, auch ein Motorradfahrer sei halt nur ein Mensch und daran 얍 könne leider nicht gerüttelt werden und was das Auto beträfe wären solche Landesgrenzen schon ein immenser Nonsens, aber man müsse halt Landesgrenzen haben, sonst könnte man ja nichts schmuggeln, obwohl es sich in diesem Falle um Brudervölker drehe. „Es is alles verdraht!“ B

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wollte, daN ] tot, währendN ] Bist, obwohlN ] Bwar, kaufteN ] BBedauern, dassN ] Bsei, dannN ] Bkönnen, dennN ] Bklar, dassN ] Bmüsse, inN ] Brechts, erN ] Bff, dennN ] BVerkehrspolizei f aberN ] BGefühl, dassN ] Bkann“, sagteN ] BWelt“ seufzteN ] Bbringen, dennN ] BHerr“, lallteN ] Bauseinander, auchN ] BbeträfeN ] BNonsens, aberN ] Bhaben, sonstN ] Bschmuggeln, obwohlN ] B B

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korrigiert aus: wollte,da korrigiert aus: tot,während korrigiert aus: ist,obwohl korrigiert aus: war,kaufte korrigiert aus: Bedauern,dass korrigiert aus: sei,dann korrigiert aus: können,denn korrigiert aus: klar,dass korrigiert aus: müsse,in korrigiert aus: rechts,er korrigiert aus: ff,denn korrigiert aus: Verkehrspolizeit gewesen,aber korrigiert aus: Gefühl,dass korrigiert aus: kann“,sagte korrigiert aus: Welt“seufzte korrigiert aus: bringen,denn korrigiert aus: Herr“,lallte korrigiert aus: auseinander,auch korrigiert aus: beträffe korrigiert aus: Nonsens,aber korrigiert aus: haben,sonst korrigiert aus: schmuggeln,obwohl

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 51

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

stöhnte er und erwähnte dann nur noch, dass er heute Mitinhaber einer alteingesessenen Innsbrucker Firma sei. Dann weinte er. Langsam verliess der D-Zug die Deutsche Republik. Er fuhr an zwei Schildern vorbei: B

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Königreich Bayern Rechts fahren!

Bundesstaat Österreich Links fahren!

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Und nun gings durch die nördlichen Kalkalpen und zwar entlang der alten Römerstrasse zwischen Wetterstein und Karwendel. Der D-Zug musste auf 1160 meter empor, um das rund 600 meter tiefer gelegene Inntal erreichen zu können. Es war dies für D-Züge eine komplizierte Landschaft. Das Karwendel ist ein mächtiger Gebirgsstock und seine herrlichen Hochtäler zählen unstreitbar zu den ödesten Gebieten der Alpen. Von brüchigen Graten ziehen grandiose Geröllhalden meist bis auf die Talsohle hinab und treffen sich dort mit dem Schutt von der anderen Seite. Dabei gibts fast nirgends Wasser und also kaum was lebendiges. 1928 wurde es zum Naturschutzgebiet erklärt, damit 얍 es in seiner Ursprünglichkeit erhalten bleibt. Rechts über Seefeld wuchs aus einem lyrischen Lärchenwalde die Kuppe der hohen Munde empor und nun sah man auch die Zugspitze von hinten. Und wer ihn bereits kannte, der konnte auch den Öfelekopf sehen, einen untergeordneten Gipfel im Kranze alpiner Majestäten, wie der Kitsch die seinerzeit geborstene Erdkruste nennt. Hinter Seefeld wankte der Chauffeur auf die Toilette, um sich zu erbrechen. Er kam nicht wieder, denn er schlief draussen ein. Kobler war ganz weg von Gottes herrlicher Bergwelt, denn er hatte noch niemals soviel hochalpine Gipfel auf einmal erschaut. „Was ist ein Mensch neben einem Berg?“ fiel es ihm plötzlich ein und dieser Gedanke ergriff ihn sehr. „Ein grosses Nichts ist ein Mensch neben einem Berg. Also ständig möcht ich nicht in den Bergen wohnen. Da wohn ich schon lieber im Flachland. Oder auch im Hügelland.“ Und nun kam eine grosse Kurve -- und Kobler sah 600 meter unter sich das Inn얍 tal, von Ötz bis Zirl, all die grossen und grösseren Kirchen und Klöster, dazwischen kleine Dörfer und einsame Weiler und wieder Kirchen und Klöster und auch eine malerische Ruine und abermals Kirchen und Klöster -- da lag es unten: das heilige Land Tirol. Und darüber standen noch viel mächtigere Berge als zuvor, nämlich die Zentralalpen, Ötztal und Stubei . Das waren finstere schwarzgrüne Herrschaften und hatten wilde Gletscher. B

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noch, dassN ] empor, umN ] B1928N ] Berklärt, damitN ] BInntal, vonN ] BZirl, allN ] BKlöster, dazwischenN ] BheiligeN ] BZentralalpen, ÖtztalN ] BStubeiN ] B B

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korrigiert aus: noch,dass korrigiert aus: empor,um korrigiert aus: L928 korrigiert aus: erklärt,damit korrigiert aus: Inntal,von korrigiert aus: Zirl,all korrigiert aus: Klöster,dazwischen

heili!e"!g" korrigiert aus: Zentralalpen,Ötztal gemeint ist: Stubai

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 52

ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 53

Fragmentarische Fassung

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

So rollte der D-Zug an fürchterlichen Abgründen entlang über kühnkonstruierte Viadukte und durch viele viele Tunelle. Der längste durchbohrte die Martinswand. In dieser Wand hatte sich mal ein mittelalterlicher Kaiser bei der Jagd verstiegen und diese seine Tat verkündet eine Gedenktafel. Aber kein Stein kündet die Namen der Toten dieser Tunelle und Viadukte, die Namen jener Menschen, die auf dem Felde der Arbeit fielen. -Jetzt erblickte Kobler eine schmutzige Dunstwolke über dem Inntal. Unter dieser Dunstwolke lag Innsbruck, die Hauptstadt Tirols. Kobler wusste nichts weiter von ihr, als dass sie ein berühmtes goldenes Dachl hat, einen preiswerten Tirolerwein und dass der Reisende, der von Westen ankommt, zur linken Hand einige grosse Bordelle sehen kann. Das hat ihm mal der Graf Blanquez erzählt. B

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---------------------------------------------------------------------------------------------------얍 In Innsbruck musste er umsteigen und zwar in den Schnellzug nach Bologna. Dieser Schnellzug kam aus Kufstein und hatte Verspätung. „Das ist die berühmte österreichische Unpünktlichkeit!“ hörte er eine Dame sagen mit norddeutschem Accent. Aber die Österreicher, die sich das auf dem Bahnsteig mitanhören mussten, lächelten nur verschämt. „Du ormer preissischer Regimentstrottel“, dachten sie. Nämlich man konnte es schon an der Dame ihrem Tonfall merken, dass ihr Mann bei der Reichswehr ist. Ihr Mann war ein Reichswehrmajor und hatte zwei Ideale. Das politische war die konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild. Hingegen war sein erotisches Ideal ein bedeutend fortschrittlicheres, nämlich: Kameradschaftsehe. Und drum hatte auch die Stimme seiner Gattin jenen feldwebelhaften Klang. Die Österreicher sind sehr gemütliche Leute. Endlich kam der Schnellzug. Bis Steinach am Brenner, also fast bis zur neuen italienischen Grenze, also kaum fünfzig Minuten lang sassen in Koblers Abteil ein altösterreichischer Hofrat und ein sogenannter Mann aus dem Volke, der dem Hofrat sehr schön tat, weil er von ihm eine Protektion haben wollte. Dieser Mann war ein charakterloser Werkmeister, der der B N 얍 Heimwehr beigetreten Bist, umN seine Arbeitskollegen gründlicher übervorteilen zu können. Nämlich sein leitender Ingenieur war Gauleiter der Heimwehr. Der Hofrat hatte einen altmodischen goldenen Zwicker und ein hinterlistiges Geschau. Sein Aeusseres war sehr gepflegt besonders sein weisser Scheitel -- er schien überhaupt ein sehr eitler Mensch zu Bsein, dennN er schwätzte in einer BTour, nurN um den Beifall des Mannes hören zu können.

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Viadukte, dieN ] Menschen, dieN ] Bfielen. --N ] BInnsbruck, dieN ] Bihr, alsN ] Bein berühmtesN ] Bhat, einenN ] BReisende, derN ] Bankommt, zurN ] B N] Bist, umN ] Bsein, dennN ] BTour, nurN ] B B

korrigiert aus: Viadukte,die korrigiert aus: Menschen,die korrigiert aus: fielen.-korrigiert aus: Innsbruck,die korrigiert aus: ihr,als

ein\ /berühmtes korrigiert aus: hat,einen korrigiert aus: Reisende,der korrigiert aus: ankommt,zur Absatz vom Autor getilgt korrigiert aus: ist,um korrigiert aus: sein,denn korrigiert aus: Tour,nur

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 54

ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 55

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Der Schnellzug wandte sich ab von Innsbruck und schon fuhr er durch den BergIsel-Tunnel. „Jetzt ist es finster“, sagte der Hofrat. „Sehr finster“ sagte der Mann. „Es ist so finster geworden, weil wir durch den Tunnel fahren“, sagte der Hofrat. „Vielleicht wirds noch finsterer“, sagte der Mann. „Kruzitürken ist das aber finster!“ sagte der Hofrat. „Kruzitürken!“ sagte der Mann. Die Österreicher sind sehr gemütliche Leute. „Hoffentlich erlaubts mir unser Herrgott noch, dass ichs erleb, wie alle Sozis aufghängt werdn“, sagte der Hofrat. „Verlassen Sie sich auf den dort droben“, sagte der Mann. „Über uns ist jetzt der Berg Isel“, sagte der Hofrat. „Andreas Hofer“, sagte der Mann und fügte hinzu: „Die Juden werdn zu frech.“ Der Hofrat klapperte mit dem Gebiss. „Den Halsmann sollns nur tüchtig einsperren, bei Wasser und Brot !“ krähte er. „Ob der Judenbengel nämlich seinen Judentate erschlagen hat oder nicht, das ist wurscht. Da gehts um 얍 das Prestige der österreichischen Justiz, man kann sich doch nicht alles von den Juden gefallen lassen!“ „Neulich habn wir einen Juden ghaut“, sagte der Mann. „A geh wirklich?“ freute sich der Hofrat. „Der Jud war allein“, sagte der Mann, „und wir waren zehn, da hats aber Watschen ghagelt! Heimwehrwatschen!“ Der Hofrat kicherte. „Ja, die Heimwehr!“ sagte er. „Heil!“ rief der Mann. „Und Sieg!“ sagte der Hofrat. „Und Tod!“ rief der Mann. -Die österreichische Heimwehr ist eine sogenannte Selbstschutzorganisation des österreichischen Bürgertums. Dieses Bürgertum fühlt sich nämlich sehr bedroht, weil sich die österreichischen Arbeiter dagegen sträuben, dass mit dem primitivsten Bedürfnis des Menschen Spekulation getrieben wird. Mit anderen Worten: die Wohnungsmieten sind recht niedrig, so dass sich der Besitz einer Zinskaserne bei weitem nicht so gut rentiert, wie in der guten alten Zeit. Und obendrein hat auch noch die rote Gemeinde Wien viele neue Häuser mit Wohnungen voll Licht und Luft, denn sie steht auf dem Standpunkte, dass das Recht auf ein Dach B

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finster“, sagteN ] finster“ sagteN ] Bgeworden, weilN ] Bfahren“, sagteN ] Berleb, wieN ] Bwerdn“, sagteN ] Bdroben“, sagteN ] BIsel“, sagteN ] BHofer“, sagteN ] BBrotN ] Bnicht, dasN ] BJustiz, manN ] Bghaut“, sagteN ] BMann. --N ] Bbedroht, weilN ] Bsträuben, dassN ] BrechtN ] B

niedrig, soN ] rentiert, wieN ] BLuft, dennN ] BStandpunkte, dassN ] B

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korrigiert aus: finster“,sagte korrigiert aus: finster“sagte korrigiert aus: geworden,weil korrigiert aus: fahren“,sagte korrigiert aus: erleb,wie korrigiert aus: werdn“,sagte korrigiert aus: droben“,sagte korrigiert aus: Isel“,sagte korrigiert aus: Hofer“,sagte korrigiert aus: Bort korrigiert aus: nicht,das korrigiert aus: Justiz,man korrigiert aus: ghaut“,sagte korrigiert aus: Mann.-korrigiert aus: bedroht,weil korrigiert aus: sträuben,dass (1) relativ (2) recht korrigiert aus: niedrig,so korrigiert aus: rentiert,wie korrigiert aus: Luft,denn korrigiert aus: Standpunkte,dass

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 56

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

über dem Kopfe für jeden arbeitenden Menschen eine Selbstverständlichkeit bedeutet. Das Bürgertum hingegen vertritt den Standpunkt, dass es die Gemeinde Wien einen grossen Schmarrn angeht, ob und wie ihre Bürger wohnen. „Wer sich halt nicht leisten kann, der soll halt unter Gottes Sternenhimmel wohnen oder im Asyl. Was braucht der Mensch a 얍 Wohnung, wenn ers nicht bezahlen kann!“ so argumentiert das Bürgertum. Wer von den beiden Klassen recht hat, das wird und kann nur die Zeit entscheiden. Vorerst rüstet das Bürgertum gegen das rote Wien und hat dabei den Wunschtraum, jeden Austromarxisten zu vierteilen. Die Armee dieser sympathischen Hausbesitzer ist eben jene Heimwehr, die sich verlogen und feig Selbstschutz taufte. Die Soldaten rekurierten sich aus ewigen Subalternen, ungebildeten Kleinbürgern, ehemaligen Unteroffizieren, Hausbesitzersöhnen, schurkischen oder terrorisierten oder saudummen Arbeitern, arrogantem Studentengesindel und drgl. Aber vor allem aus armen missbrauchten Bauern, die mit Hilfe gewissenloser verleumdungssüchtiger Pfaffen mobilisiert worden sind. Aus den finstersten Tälern hatte man sie herausgeholt -- und mit ihnen all die tiroler, voralberger, salzburger und die weltberühmten steiermärkischen Cretins. Rechtens müssten diese Cretins die verlässlichste und tapferste Kerntruppe der Heimwehr bilden, gewissermassen die Garde. Manche sind dabei, die haben nur neun Zehen aber dafür elf Finger und wissen nicht, wie sie heissen. „In hoc signo vinces!“ rief neulich ein Erzabt, als er eine Heimwehrfahne segnete. Das sind die Schaaren , die das arbeitsame ehrliche Proletariat Österreichs voll und ganz entrechten wollen ad maiorem bürgerliche Produktionsweise gloriam. B

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---------------------------------------------------------------------------------------------------얍 Als der Schnellzug den Berg-Isel-Tunnel verliess, trat Kobler auf den Korridor, denn er konnte es in seinem Abteil nicht mehr aushalten, weil ihn das ewige Geschwätz im Denken störte. Denn er musste mal nachdenken -- das war so ein Bedürfnis, als hätte er dringend austreten müssen. Es war ihm nämlich plötzlich die Aegypterin, sein eigentB

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angeht, obN ] haltN ] Bkann, derN ] BWohnung, wennN ] Bhat, dasN ] BWunschtraum, jedenN ] BHeimwehr, dieN ] BSubalternen f schurkischenN ]

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Arbeitern, arrogantemN ] BBauern, dieN ] Bvorarlberger, salzburgerN ] Bbilden, gewissermassenN ] Bnicht, wieN ] BErzabt, alsN ] BSchaarenN ] Bverliess, tratN ] BKorridor, dennN ] BihnN ] BBedürfnis, alsN ] BAegypterin, seinN ]

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korrigiert aus: angeht,ob

ha!t"!l" korrigiert aus: kann,der korrigiert aus: Wohnung,wenn korrigiert aus: hat,das korrigiert aus: Wunschtraum,jeden korrigiert aus: Heimwehr,die korrigiert aus: Subalternen,ungebildeten Kleinbürgern,ehemaligen Un-

teroffizieren,Hausbesitzerssöhnen,schurkisc hen korrigiert aus: Arbeitern,arrogantem korrigiert aus: Bauern,die korrigiert aus: vorarlberger,salzburger korrigiert aus: bilden,gewissermassen korrigiert aus: nicht,wie korrigiert aus: Erzabt,als gemeint ist: Scharen korrigiert aus: verliess,trat korrigiert aus: Korridor,denn korrigiert aus: ihm korrigiert aus: Bedürfnis,als korrigiert aus: Aegypterin,sein

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 58

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

liches Reiseziel, eingefallen und er ist sehr darüber erschrocken, dass er nun einige Stunden lang nicht an Aegypten gedacht hatte. Er versuchte sich zu sammeln. „Da draussen stehen lauter Gletscher und da drinnern sitzen lauter Vieher, es stürzen da zuviel Eindrücke auf einen“, sagte er sich. „Unverhofft“, fügte er noch hinzu und dieses Wort kam ihm sehr vornehm vor. „Jetzt hab ich diese ganzen Pyramiden fast vergessen“, fuhr er fort und hatte dabei ein unangenehmes Gefühl. Es war ihm wie jenem Manne zumute, der am Donnerstag vergass, was er am Mittwoch getan hatte. Er ging im Korridor auf und ab. In dem einen Abteil sassen sechs Damen. Es war ein Damenabteil. „Wenn das jetzt sechs Aegypterinnen wären!“ phantasierte Kobler. „Und wenn die nicht so alt wären und wenn die nicht so mies wären und wenn die Geld hätten -- “ „Wenn!“ wiederholte er. „Wenn ich nicht der Kobler 얍 wär, sondern der Generaldirektor der I.G. Farben, dann könnt ich zwanzig Aegypterinnen haben, aber dann hätt ich ja wieder nichts davon.“ Er wurde ganz melancholisch. „Erster Klasse sollt man halt reisen können“, dachte er. „Mir tut von dem Holz schon der Hintern weh. Meiner Seel, ich glaub, ich bin wund!“ B

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---------------------------------------------------------------------------------------------------Seit dem Frieden von Saint-Germain zieht sich die österreichisch-italienische Grenze über die Passhöhe des Brenners zwischen Nord- und Südtirol. Die Italiener haben nämlich ihre Brüder im Trento von dem habsburgischen Joche erlöst und sowas kann man als anständiger Mensch nur lebhaft begrüssen. Die Italiener waren ja nicht in den Weltkrieg gezogen, um fremde Völker zu unterjochen, sie wollten keine Annektionen, ebensowenig wie Graf Berchtold, Wilhelm zwo und Ludendorf . Aber aus militärisch strategischen Gründen waren die Italiener eben leider gezwungen, das ganze deutsche Südtirol zu annektieren, genau wie etwa Ludendorf gezwungen gewesen wäre aus rein strategischen Gründen Polen, Finnland, Kurland, Estland, Littauen , Belgien usw. zu annektieren. „Der B

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Reiseziel, eingefallenN ] erschrocken, dassN ] BVieher, esN ] Bzumute, derN ] Bvergass, wasN ] Bhätten --N ] Bwär, sondernN ] BFarben, dannN ] Bglaub, ichN ] BItalienerN ] Bgezogen, umN ] Bunterjochen, sieN ] BLudendorfN ] BItalienerN ] Bgezwungen, dasN ] Bannektieren, genauN ] BLudendorfN ] BFinnland f BelgienN ] BLittauenN ] B B

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korrigiert aus: Reiseziel,eingefallen korrigiert aus: erschrocken,dass korrigiert aus: Vieher,es korrigiert aus: zumute,der korrigiert aus: vergass,was korrigiert aus: hätten-korrigiert aus: wär,sondern korrigiert aus: Farben,dann korrigiert aus: glaub,ich korrigiert aus: Iatliener korrigiert aus: gezogen,um korrigiert aus: unterjochen,sie gemeint ist: Ludendorff

I!a"!t"liener korrigiert aus: gezwungen,das korrigiert aus: annektieren,genau gemeint ist: Ludendorff korrigiert aus: Finnland,Kurland,Estland,Littauen,Belgien gemeint ist: Litauen

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ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 59

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

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Friede von Saint-Germain ist ein glattes Verbrechen!“ hatte mal ein Innsbrucker Universitätsprofessor gesagt und er hätte schon sehr recht gehabt, wenn er kein Chauvinist gewesen wäre. -Bekanntlich will nun der Mussolini das deutsche 얍 Südtirol durch und durch italianisieren. Genau so rücksichtslos, wie seinerzeit Preussen das polnische Posen germanisieren wollte. So hat der Mussolini u.a. auch verfügt, dass möglichst alle deutschen Namen / Ortsnamen, Familiennamen, usw. / ins italienische übersetzt werden müssen, auf dass sie nur italienisch ausgesprochen werden dürften. Und zwar sollen sie ihrem Sinne nach übersetzt werden. Hat nun aber ein Name keinen übersetzbaren Sinn, so hängt der Mussolini einfach ein o an. Wie z.B. Merano . So auch Brennero. -Als nun Kobler den Brennero erblickte, fiel es ihm sogleich auf, dass dort droben ungemein viel gebaut wird und zwar lauter Kasernen. Im Bahnhof Brennero wurde der Schnellzug von den fascistischen Behörden bereits erwartet. Da standen ungefähr dreissig Männer und fast jeder war anders uniformiert. Da hatten welche Napoleonshüte und weite lange Mäntel oder kurze enge oder weite kurze oder enge lange. Einige trugen prächtige Hahnenfedern, die ihnen fast bis auf die Schultern herabwallten. Andere wieder trugen Adlerfedern, Wildgansfedern, Wildentenfedern , und wieder andere trugen gar keine Federn, höchstens etwas Flaum. Die meisten waren feldgrau oder feldbraun, aber es waren auch welche da in stahlblau, violett, lila und grünlich mit Aufschlägen in rot, gelb, ocker , silber, gold und hellblau. Viele hatten schwarze Hemden -- Das waren die bekannten Schwarzhemden. Sie boten ein farbenfrohes Bild. Alle schienen sehr zu frieren, denn knapp hun얍 dert meter über ihnen hing der herbstliche Nebel Nordtirols. Keiner der Reisenden durfte den Schnellzug verlassen, denn hier gings viel strenger zu als wie zwischen Bayern und Österreich in Mittenwald. Und dies nicht B

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er hätteN ] gehabt, wennN ] BChauvinistN ] Brücksichtslos, wieN ] BpolnischeN ] Bverfügt, dassN ] BOrtsnamen f usw.N ] Bmüssen, aufN ] BSinn, soN ] Bz.B. MeranoN ] Berblickte, fielN ] Bauf, dassN ] BSchnellzugN ] BHahnenfedern, dieN ] BWildgansfedern, WildentenfedernN ] BFedern, höchstensN ] Bfeldbraun, aberN ] Bstahlblau f lilaN ] Brot, gelb, ockerN ] Bsilber, goldN ] Bfrieren, dennN ] Bverlassen, dennN ]

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er\ /hätte

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korrigiert aus: gehabt,wenn korrigiert aus: chauvinist korrigiert aus: rücksichtslos,wie korrigiert aus: polni che korrigiert aus: verfügt,dass korrigiert aus: Ortsnamen,Familiennamen,usw. korrigiert aus: müssen,auf korrigiert aus: Sinn,so korrigiert aus: z.B.Merano korrigiert aus: erblickte,fiel korrigiert aus: auf,dass

Sch!e"!n"llzu g korrigiert aus: Hahnenfedern,die korrigiert aus: Wildgansfeder,Wildentenfedern korrigiert aus: Federn,höchstens korrigiert aus: feldbraun,aber korrigiert aus: stahlblau,violett,lila korrigiert aus: rot,gelb,ocker korrigiert aus: silber,gold korrigiert aus: frieren,denn korrigiert aus: verlassen,denn

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

nur deshalb, weil die Italiener eine fremde Sprache sprechen und zur romanischen Rasse gehören, sondern weil sie obendrein noch den Mussolini haben, der in permanenter Wut ist, dass es bloss vierzig Millionen Italiener gibt. Neunundzwanzig von den dreissig Uniformierten waren mit den Grenzübertrittsangelegenheiten schon sehr beschäftigt. Der Dreissigste schien der Anführer zu sein, er tat nämlich nichts. Er stand auf dem Bahnsteig etwas im Hintergrunde unter einer kolorierten Photografie des Duce und hatte sehr elegante Schuhe. Er war vielleicht 1.40 hoch und forschend glitt sein Blick über den Schnellzug. Er forschte nach wo eine blonde Frau sass, eine Deutsche oder eine Skandinavierin. „Prego den Pass!“ sagte der italienische Passbeamte. Er sprach gebrochen deutsch, höflich aber bestimmt. „Wohin fahren Sie Signor Kobler?“ fragte er. „Nach Barcelona“, sagte der Signor. „Sie fahren also nach Italien“, meinte der Passbeamte. „Ja“ sagte der Signor. Und nun geschah etwas mysteriöses. Der Passbeamte wandte sich ernst seinem Begleiter zu, einem Passunterbeamten, und sagte auf italienisch: „Er fährt nach Italien“. Der Passunterbeamte nickte würdevoll: „Soso nach Italien fährt er“, meinte er gedehnt und kam sich wichtiger vor als Mussolini 얍 persönlich, während sich der Oberpassbeamte bereits mit dem nächsten Reisenden beschäftigte. „Sie fahren nach Italien“ fragte er. „Jawohl!“ sagte der nächste Signor. Er hiess Albert Hausmann. „Und warum fahren Sie nach Italien?“ fragte der Oberpassbeamte. „Ich will mich in Italien erholen“, sagte der Signor Hausmann. „Sie werden sich in Italien erholen!“ sagte der Oberpassbeamte stolz. „ Hoffentlich!“ meinte der Erholungsbedürftige, worauf sich der Oberpassbeamte wieder seinem Begleiter zuwandte: „Er will sich in Italien erholen“, sagte er. „Vielleicht auch nicht!“ meinte der Passunterbeamte lakonisch und blickte den Erholungsbedürftigen misstrauisch an, denn er erinnerte ihn an einen gewissen Isidore Niederthaler in Brixen, dessen Weib als politisch verdächtig auf der fascistischen schwarzen Liste stand. „Das Weib hat einen prächtigen Hintern“, dachte der Passunterbeamte. B

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deshalb, weilN ] gehören, sondernN ] Bhaben, derN ] Bist, dassN ] Bsein, erN ] BSchuhe. ErN ] Bsass, eineN ] Bdeutsch, höflichN ] BBarcelona“, sagteN ] BItalien“, meinteN ] Bzu, einemN ] B„Er fährtN ] Bwürdevoll: „SosoN ] Ber“ f gedehntN ] Bpersönlich, währendN ] BItalien?“ fragteN ] BHoffentlich!“ meinteN ] BErholungsbedürftige, woraufN ] BOberpassbeamteN ] Berholen“ f „VielleichtN ] Ban, dennN ] BBrixen, dessenN ] BHintern“, dachteN ] B B

korrigiert aus: deshalb,weil korrigiert aus: gehören,sondern korrigiert aus: haben,der korrigiert aus: ist,dass korrigiert aus: sein, er korrigiert aus: Schuhe.Er korrigiert aus: sass,eine korrigiert aus: deutsch,höflich korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: Italien“,meinte korrigiert aus: zu,einem korrigiert aus: Erfährt korrigiert aus: würdevoll:„Soso korrigiert aus: er“,meinte er gedehnt korrigiert aus: persönlich.während korrigiert aus: Italien?“fragte korrigiert aus: Hoffentlich!“meinte korrigiert aus: Erholungsbedürftige ,worauf

Oberpassbe!m"!a"te korrigiert aus: erholen“,sagte er.„Vielleicht korrigiert aus: an,denn korrigiert aus: Brixen,dessen korrigiert aus: Hintern“,dachte

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Inzwischen hatte sich der Passoberbeamte bereits wieder an einen dritten Reisenden gewandt. Der hiess Franz Karl Zeisig. „Sie fahren nach Italien?“ fragte der Oberpassbeamte. „Zu blöd!“ murmelte Kobler. „Wir fahren doch alle nach Italien!“ „Unterschätzen Sie nicht Benito Mussolini“, flüsterte ihm der Erholungsbedürftige zu. „Mit dieser scheinbar ungereimten Fragerei verfolgen die Passbeamten einen ganz bestimmten Zweck. Das sind alles besonders hervorragende Detektive von der politischen Polizei in Rom. Wissen sie was ein Kreuzverhör ist?“ Kobler blieb ihm die Antwort schuldig, denn plötzlich standen drei Fascisten vor ihm. „Haben Sie Zeitungen?“ fragte der erste Fascist. „ Österreichische, sozialistische, kommunistische , anarchistische, syndikalistische und nihilistische dürfen Sie nicht mit 얍 nach Italien nehmen, weil das strengstens verboten ist!“ „Ich bin kein Nihilist“, sagte Kobler, „ich hab bloss ein Magazin bei mir.“ Und dann durchwühlten noch einige italienische Finanzer seinen Koffer. „Was ist das?“ fragte der Eine und hielt ihm eine Kravatte vor die Nase. „Das ist eine Kravatte“, sagte Kobler. Der Finanzer nickte befriedigt, lächelte ihm freundlich zu und verschwand mit seinem Kollegen. Endlich wars vorbei mit den Grenzübertrittsschwierigkeiten und der Schnellzug setzte sich als „diretto“ südwärts in Bewegung. Hinab vom Brenner -- durch das neue Italien. B

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Durch das neue Italien

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Nun waren aber plötzlich alle Aufschriften italienisch. Kobler konnte sich kaum mehr vom Fenster trennen, so kindisch faszinierte ihn jede Aufschrift, obwohl oder weil er nicht wusste, was sie bedeuten sollte. „Albergo Luigi, Uscita, Tabacco, Olio sasso, Donne, Uomine“, las er. „Das hat halt alles einen Klang“, dachte er. „Schad, dass ich nicht Koblero heiss!“ Im ehemaligen Franzensfeste hatten sie etwas Aufenthalt. „Erlauben Sie, wo sind wir jetzt?“ fragte ihn ein nervöser deutscher Italienreisender, der ihm nicht über die Schulter schauen konnte. „In Latrina“, antwortete Kobler. „Machen Sie da gefälligst keine schlechten Witze!“ schrie der Nervöse. Kobler war sehr verdutzt. Da hing ja direkt vor 얍 ihm das Schild: B

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LATRINA „Brüllen Sie nicht mit mir!“ brüllte er den Nervösen, der sehr zappelte. „Bedauere Herr“, kreischte der Nervöse, „Ich bin zu solchen Spässen nicht aufgelegt!“ B

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Mussolini“, flüsterteN ] Rom. WissenN ] Bschuldig, dennN ] BZeitungen?“ fragteN ] BÖsterreichische f kommunistischeN ] Banarchistische, syndikalistischeN ] BvorN ] BNervösen, derN ] BSpässenN ] B B

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korrigiert aus: Mussolini“,flüsterte korrigiert aus: Rom.“Wissen korrigiert aus: schuldig,denn korrigiert aus: Zeitungen?“ fragte korrigiert aus: Österreichische,sozialistische,kommunistische korrigiert aus: anarchistische,syndikalistische

vo\r/ korrigiert aus: Nervösen,der korrigiert aus: Pässen

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

„Jetzt kommt der feierliche Moment“, dachte Kobler, „wo ich Dir eine schmier“ -- aber hier mischte sich jener erholungsbedürftige Herr Albert Hausmann überaus freundlich in die Auseinandersetzung, um den Streit im Keime zu ersticken, denn er war sehr ängstlich. „Irrtum meine Herren!“ meinte er. „Latrina bedeutet soviel wie Abort. Sie reden aneinander vorbei, meine Herren!“ Der Erholungsbedürftige sprach nämlich perfekt italienisch und war überhaupt ein sehr intelligenter und belesener Mann, der besonders in der Weltgeschichte bewandert war. „Das alles war früher Südtirol“, sagte er. Und dann gab er Kobler den Rat, sich ja nur vor den fascistischen Spitzeln zu hüten, die wären nämlich äusserst raffiniert und brutal. „Dort drüben am dritten Fenster zum Beispiel“, wisperte er geheimnisvoll und deutete verstohlen auf einen Mann, der wie ein Bauer aussah, „Dort dieser Kerl ist sicher ein Spitzel. Der wollte mich nämlich gerade in ein verfängliches Gespräch verwickeln, er wird auch Sie verwickeln wollen, er trachtet ja nur darnach, jeden zu 얍 verwickeln -- und bei der ersten abfälligen Aeusserung über Mussolini, Nobile oder überhaupt das System werden Sie sofort aus dem Zuge heraus verhaftet. Geben Sie acht!“ Kobler gab acht. Knapp vor Bolzano näherte sich ihm der Spitzel. „Bolzano hiess früher Bozen“, sagte der Spitzel. „ Aha !“ dachte Kobler. „In Bozen bauen jetzt die Italiener ein riesiges Elektrizitätswerk“, sagte der Spitzel. „Nur zu!“ dachte Kobler. „Die Italiener“, fuhr der Spitzel fort, „haben die Wassermassen von ganz weit weg nach Bozen geleitet. Sie haben durch diese ganze Bergkette da draussen einen Schacht gebohrt und zwar haben sie dort droben unterhalb der Kuppe angefangen zu bohren und haben sich so zusammenbohren wollen, aber sie haben gleich dreimal aneinander vorbeigebohrt, anstatt, dass sie sich zusammengebohrt hätten. Sie mussten sich erst reichsdeutsche Ingenieure engagieren“, grinste der Spitzel. B

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Auseinandersetzung, umN ] ersticken, dennN ] Bvorbei, meineN ] BMann, derN ] BSüdtirol“, sagteN ] BRat, sichN ] Bhüten, dieN ] BBeispiel“, wisperteN ] BMann, derN ] Baussah, „DortN ] BDerN ] Bverwickeln, erN ] Bwollen, erN ] Bdarnach, jedenN ] BMussolini,N ] BBozen“, sagteN ] BAhaN ] BElektrizitätswerk“, sagteN ] BfuhrN ] Bwollen, aberN ] Bvorbeigebohrt f dassN ] Bengagieren“, grinsteN ] B B

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korrigiert aus: Auseinandersetzung,um korrigiert aus: ersticken,denn korrigiert aus: vorbei,meine korrigiert aus: Mann,der korrigiert aus: Südtirol“,sagte korrigiert aus: Rat,sich korrigiert aus: hüten,die korrigiert aus: Beispiel“,wisperte korrigiert aus: Mann,der korrigiert aus: aussah,„Dort korrigiert aus: der korrigiert aus: verwickeln,er korrigiert aus: wollen,er korrigiert aus: darnach,jeden korrigiert aus: Mussolino korrigiert aus: Bozen“,sagte korrigiert aus: AHa korrigiert aus: Elektrizitätswerk“,sagte korrigiert aus: führ korrigiert aus: wollen,aber korrigiert aus: vorbeigebohrt,anstatt,dass korrigiert aus: engagieren“,grinste

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Fragmentarische Fassung

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„Die Reichsdeutschen werden sich schon auch nicht zusammengebohrt haben“, meinte Kobler. „Doch und zwar haargenau!“ ereiferte sich der Spitzel. „Zufall!“ meinte Kobler. Pause. „Kennen Sie Bozen?“ fragte der Spitzel. 얍 „ Nein“, sagte Kobler. „Dann schauen Sie sich doch Bozen an!“ rief der Spitzel. „Die Bozener sind ja ganz weg über die reichsdeutschen Gäste!“ „Ich bin ein reichsdeutscher Fascist“, sagte Kobler. Der Spitzel sah ihn erschrocken an. „Dort drüben ist jetzt der Rosengarten“, meinte er kleinlaut. „Vielleicht!“ sagte Kobler und liess ihn stehen. Der Spitzel sah ihm noch lange nach. Er war ja gar kein Spitzel. ---------------------------------------------------------------------------------------------------B

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Befriedigt darüber, dass er Mussolinis vermeintlichn Schergen ein Schnippchen geschlagen hatte, betrat Kobler den Speisewagen. „Jetzt hab ich mir meinen Cafè verdient“, sagte er sich und war so glücklich, als hätte er gerade einen Prozess gewonnen, den er rechtens hätte verlieren müssen. Es war nur noch ein Platz frei im Speisewagen. „Prego?“ fragte Kobler und das war sein ganzes italienisch. „Aber bitte!“ sagte der Gast in deutscher Sprache. Das war ein kultivierter Herr aus Weimar, der Stadt Goethes und der Verfassung. Überhaupt fiel es auf, dass trotz des italienischen im ganzen Zuge, ausser von den Schaffnern und einigen Schwarzhemden, lediglich deutsch gesprochen wurde. Besonders im Speisewagen hörte man 얍 allerhand deutsche Dialekte. Allein vom Personal sprach der Oberkellner wienerisch, der zweite Kellner schwäbisch und der Dritte fast platt. Der Koch sprach jiddisch und das Küchenmädchen meranerisch. Der kultivierte Herr an Koblers Tisch hatte ein schwammiges Aeusseres und schien ungemein verfressen zu sein. Ein Gourmand. Als Sohn eines ehemaligen Pforzheimer Stadtbaumeisters, der in der wilhelminischen Epoche eine schwerreiche weimarer Patrizierstochter geheiratet hatte, konnte er sich seine fünf SchinkenB

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Nein“, sagteN ] Fascist“, sagteN ] BRosengarten“, meinteN ] Bdarüber, dassN ] Bhatte, betratN ] Bverdient“, sagteN ] Bglücklich, alsN ] Bgewonnen, denN ] Bitalienisch. „AberN ] BWeimar, derN ] BfielN ] Bauf, dassN ] BZuge, ausserN ] Bwienerisch, derN ] BAeusseresN ] BwilhelminischenN ] Bhatte, konnteN ] BSchinkenbrötchen f zweiN ] B B

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korrigiert aus: Nein“,sagte korrigiert aus: Fascist“,sagte korrigiert aus: Rosengarten“,meinte korrigiert aus: darüber,dass korrigiert aus: hatte,betrat korrigiert aus: verdient“,sagte korrigiert aus: glücklich,als korrigiert aus: gewonnen,denn korrigiert aus: italienisch.„Aber korrigiert aus: Weimar,der korrigiert aus: viel korrigiert aus: auf,dass korrigiert aus: Zuge,ausser korrigiert aus: wienerisch,der korrigiert aus: Aeussere

wil!e"!h"lminischen korrigiert aus: hatte,konnte korrigiert aus: Schinkenbrötchen,drei Lachsbrötchen,vier Ölsardinen. zwei

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

brötchen, drei Lachsbrötchen, vier Ölsardinen, zwei Paar Frankfurter und drei Eier im Glas ungeniert leisten. Von seinem Vater, dem Stadtbaumeister, hatte er die Einbildung geerbt, dass er einen regen Sinn für architektonische Linienführung besitze, und von der Mutter hatte er trotz der Inflation einen Haufen Geld geerbt und die gesammelten Werke der Klassiker. Er war sechsundvierzig Jahre alt. „Ich bin ein Renaissancemensch“, erklärte er Kobler und sprach sehr gewählt. „Mein Ideal ist der Süditaliener , der sich Tag und Nacht am Meeresstrand sonnt, nie etwas tut und überaus genügsam ist. Sie können es mir glauben, auch unsere deutschen Arbeiter wären glücklicher, wenn sie genügsam wären. Herr Ober! Bringen Sie mir noch ein Tatarbefsteak !“ Dieser Renaissancemensch hatte natürlich noch nie etwas gearbeitet und litt infolgedessen an einer schier pathologischen Hypochondrie. Er hatte eben nichts zu tun, als sich vor dem 얍 Sterben zu fürchten. Und obendrein war er auch noch verwegen dumm. So hatte er des öfteren behauptet, dass ihm das Schicksal des deutschen Reiches ganz egal wäre, wenn nur die Dividenden steigen würden. „Sowas sagt man doch nicht!“ hatte sich sein Vetter, ein scharf rechtsstehender Realpolitiker, entrüstet und hatte ihn unter Kuratel stellen lassen wollen, aber das ist ihm vorbeigelungen. „Er ist doch normal und denkt scharf logisch“, hatte der Gerichtsarzt gemeint. „Also Sie fahren nach Barcelona“, sagte nun der total Normale zu Kobler und fügte scharf logisch hinzu: „Primo ist ein tüchtiger Mann. Ein Kavalier. Wenn Sie nach Barcelona kommen, so grüssen Sie mir bitte die Stierkämpfe, Sie werden da etwas prachtvoll Traditionelles erleben. Und dann überhaupt dieser ganze spanische konservative Geist! Es ist eben immer dasselbe! Ich habe es ja immer schon gesagt: das konservative Element müsste sich international zusammenschliessen, um sich stärker konservieren zu können -- wir deutschen Konservativen sollten die französischen Konservativen einfach in das Land hereinrufen, auf dass sie diese Republik züchtigen -- Frankreich hat ja die militärische Macht, um jeden deutschen Arbeiter N

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Vater f hatteN ] geerbt, dassN ] BRenaissancemensch“, erklärteN ] BSüditalienerN ] Bsonnt, nieN ] Bist.N ] Bglauben, auchN ] Bglücklicher, wennN ] BTatarbefsteakN ] Btun, alsN ] Bbehauptet, dassN ] Bwäre, wennN ] BVetter, einN ] BRealpolitiker, entrüstetN ] Bwollen, aberN ] Blogisch“, hatteN ] BBarcelona“, sagteN ] Bhinzu: „PrimoN ] BStierkämpfe, SieN ] Bzusammenschließen, um] BKonservativenN ] BKonservativenN ] Bhereinrufen, aufN ] B B

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korrigiert aus: Vater,dem Stadtbaumeister,hatte korrigiert aus: geerbt,dass korrigiert aus: Renaissancemensch“,erklärte korrigiert aus: Südiatliener korrigiert aus: sonnt,nie korrigiert aus: ist, korrigiert aus: glauben,auch korrigiert aus: glücklicher,wenn gemeint ist: Tartarbeefsteak korrigiert aus: tun,als korrigiert aus: behauptet,dass korrigiert aus: wäre,wenn korrigiert aus: Vetter,ein korrigiert aus: Realpolitiker,entrüstet korrigiert aus: wollen,aber korrigiert aus: logisch“,hatte korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: hinzu:„Primo korrigiert aus: Stierkämpfe,Sie korrigiert aus: zusammenschliessen,um

Konservativen[,] korrigiert aus: Koservativen korrigiert aus: herainrufen,auf

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

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an die Wand stellen zu können -- und après sollten wir Kulis aus China einführen, die nicht mehr brauchen als täglich eine handvoll Reis.“ Und er fügte lachend hinzu: „Das ist natürlich nur ein Witz!“ B

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Verona sei eine uralte Stadt, die irgendwie mit dem Dietrich von Bern zusammenhänge, hatte ihm der Renaissancemensch erzählt, und angeblich lägen in ihr auch noch obendrein Romeo und Julia, das berühmteste Liebespaar der Welt, begraben. Die veronesischen Bordelle seien zwar nicht berühmt, jedoch immerhin. Auf dem Bahnsteig ging ein Herr in einer braunen Uniform auf und ab. Er hatte eine Armbinde auf dem rechten Oberarm und auf der stand in vier Sprachen geschrieben, dass er ein amtlicher Dolmetscher sei und also kein Trinkgeld nehmen dürfe. Er war überaus zuvorkommend und gab Kobler fliessend deutsch Auskunft. „Der direto aus Venezzia nach Milano“, sagte er, „kommt an auf dem 얍 dritten Bahnsteig und fährt ab auf dem dritten Bahnsteig, das ist dort drüben, wo jene lächerliche Frau steht.“ Diese lächerliche Frau war des Dolmetschers Frau, mit der er sich gerade wiedermal gezankt hatte. Nämlich sie hatte es noch nie haben wollen, dass er den Beruf eines amtlichen Dolmetschers ausübt und nächtelang mit allerhand Ausländerinnen auf dem Bahnhof herumlungert. Aber der Dolmetscher pflegte immer nur zu sagen: „Soviel Sprachen jemand spricht, so oft ist dieser jemand ein Mensch.“ Auch an diesem Abend hatte er ihr dies wiedermal gesagt, worauf sie aber ganz ausser sich geraten ist. „Mit soviel Menschen will ich garnichts zu tun haben!“ hatte sie auf dem Korso geschrien. „Ich will ja bloss Dich! Oh wenn Du nur taubstumm wärest, Giovanni! So und jetzt fahr ich zu meinem Bruder nach Brescia!“ Dies war jenes Brescia, wo einst die Frau Perzl aus der Schellingstrasse ein Drittel Windmühle geerbt hatte. „In Italien soll man möglichst zweiter Klasse fahren“, erinnerte sich Kobler an 얍 die Ratschläge der Perzl. „Besonders wenn man schlafen will, soll man es tun, weil die Reisenden in Italien, besonders die in der dritten Klasse, meistens laut vor sich hinsingen, als möchte man garnicht schlafen wollen.“ Und Kobler wollte schlafen, denn er war plötzlich sehr müde geworden -- „entweder ist das die Luftveränderung“, dachte er, „oder wahrscheinlich die vielen neuen Eindrück.“ Vor seinem geistigen Auge tauchten sie wieder alle auf, mit denen er während der letzten zwölf Stunden in Berührung gekommen war. Aber diesmal hatte jeder nur eine Geste -- trotzdem wollt es kaum ein Ende nehmen mit den Erscheinungen. Und als die Gestalt des Herrn Bschorr gar zum zweitenmal daherkommen wollte, stolperte Kobler. \Textverlust\

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après solltenN ] einführen, dieN ] BdiretoN ] BVenezziaN ] BItalien,N ] BKlasse,N ] Bwährend derN ] Bwar.N ] BKobler.N ] B B

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korrigiert aus: après sollten korrigiert aus: einführen,die

[Schnellzug] |direto| gemeint ist: Venezia

Italien\,/ Klasse\,/ [in diesen] |während der| [ist.] |war.| Kobler\./ [über einen verlorenen Hammer \drüben/ auf dem dritten Bahnsteig\./ [in Verona.]] [|seine eigenen Füss|]

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Und dann gingen viele Berge, Viadukte und fremde Dörfer um ihn herum und das Inntal blieb vor ihm stehen. Auch die italienische Sprache sah ihn an, aber etwas von oben herab. „Also wenn das so weitergeht“, dachte er , „dann werd ich meine Ägypterin 얍 noch ganz vergessen, an die ausländischen Kabrioletts denk ich ja überhaupt nichtmehr, ich hab mich ja schon fast selber vergessen, hoffentlich kann ich jetzt schlafen bis Milano, das ist der italienische Name für Mailand -- dort darf ich dann wieder herumhocken, bis ich den Anschluss nach Ventimiglia krieg. Das wird eine weite Reise werden. Und derweil ist die Welt eigentlich klein. Und wird auch noch immer kleiner. Im-\Textverlust\ Aber Kobler ärgerte sich, dass ihn der Herr nicht einschlafen liess, und er 얍 war infolgedessen kurzangebunden. „Ich komm durch die Tür herein“, sagte er. „Das vermut ich“, sagte der Herr. „Das vermut ich sogar sehr. Durch das Fenster werden Sie wohl nicht hereingeflogen sein. Hab ich denn so fest geschlafen? Ja ich hab so fest geschlafen.“ B

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„Ich kenn das am Kopf“, meinte der Herr. „Ich kenn das sofort am Kopf. Die Deutschen haben nämlich alle dicke Köpf, natürlich nur im wahren Sinne des Wortes. Ich bin ja selbst so halb Deutscher. Was bin ich nicht halb? Alles bin ich halb! So ist das Leben! Da sitzen wir uns gegenüber und fahren durch die Poebene. Ich komm aus Venedig, während Sie?“ „Zuletzt komm ich aus Verona“, sagte Kobler. „Verona hat eine herrliche Piazza“, meinte der Herr. „Die Piazza d’Erbe ist ein Mittelpunkt des Volkslebens . Und viel Militär liegt in Verona, es ist halt sehr befestigt. Es bildete ja mit den Befestigungen von Peschiera, Mantua und Legnago das vielgenannte Festungsviereck. Gegen wen? Gegen Österreich-Ungarn. Und warum gegen Österreich-Ungarn? Weil es mit Italien verbündet war. Aber was war ein Bündnis im Zeitalter der Geheimdiplomatie? Die Rüstungsindustrie liess sich versichern. Und was ist ein Bündnis heute? Oder glauben Sie, dass wir keine Geheimdiplomatie haben? Wir haben n u r Geheimdiplomatie!“ (Ist das aber ein Schwätzer! dachte Kobler grimmig) 얍 „Es tut mir direkt wohl, ein bisserl plauschen zu können, weil ich jetzt fast drei Tag lang kaum was Gescheites geredet hab“, sagte der Herr und lächelte freundlich. (Das auch noch! durchzuckte es Kobler und er hasste den Herrn. Also in DeiB

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korrigiert aus: „ dann [vor lauter fremde Eindrück] \Aber/ sich\,/ [sehr,] liess\,/ \er/ Venedig[.]|,| [Und] |während| korrigiert aus: des Volkslebens [„]|(|Ist Schwätzer![“] Kobler[.][|)|] |grimmig)| [“]|(|Das noch![“] [dachte] |durchzuckte es| \er/ [“]Also

erN ] „dannN ] BN] BAberN ] Bsich,N ] Bliess,N ] BerN ] BVenedig, währendN ] Bdes VolkslebensN ] B(IstN ] BSchwätzer!N ] BKobler grimmig)N ] B(DasN ] Bnoch! f esN ] BerN ] BAlsoN ]

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

ner Gesellschaft, Du Mistvieh , dachte er weiter, werd ich ja kaum zum schlafen kommen, eigentlich gehört Dir eine aufs Maul. Aber ich weiss schon, was ich mach!) Und er sagte: „Dürfte ich etwas in Ihren Zeitungen blättern?“ „Natürlich dürfen Sie!“ rief der Herr. „Sie dürfen sogar sehr, ich kann eh keine Zeitung mehr sehen! Brauchen Sie nur die deutschen oder wollen Sie auch die italienischen, französischen, tschechischen -- meiner Seel! A polnische ist auch dabei! Wie kommt hier das rumänische Zeug her? Ich werds mir wahrscheinlich gekauft haben. Schad fürs Geld! Naus damit!“ Er öffnete das Fenster und warf alle seine nichtdeutschen Zeitungen in die brausende Finsternis hinaus. Kaum hatte er jedoch das Fenster wieder geschlossen, erschien ein Angehöriger 얍 der fascistischen Miliz, ein sogenanntes Schwarzhemd. Das Schwarzhemd betrat feierlich das Abteil und sprach mit dem Herrn ruhig, aber unfreundlich. Der Herr machte abwehrende Gebärden und sprach perfekt italienisch. Hierauf zog sich das Schwarzhemd wieder zurück und war verstimmt. „Was hat denn der Fascist von Ihnen wollen?“ fragte Kobler. „Das frag ich mich auch!“ rief der Herr und versuchte sich zu winden. Dann fuhr er fort: „Ich werde es Ihnen übersetzen, was er von mir gewollt hat. Er wollte wissen, ob ich da zuvor meine Zeitungen hinausgeworfen hab, denn diese Zeitungen sind ihm weiter hinten durch ein offenes Fenster auf das Maul geflogen und zwar mit Wucht. Ich hab ihm B

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„Das bin ich“, sagte der gewandte Reisende. „Es wird Sie wohl hoffentlich nicht stören, Herr! Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich zwanzig Jahre älter als Sie. Sagen Sie, waren Sie eigentlich noch Soldat?“ „Ich fahr jetzt bis Milano“, antwortete Kobler ausweichend, er war nämlich kein Soldat gewesen, weil er sich während des Weltkrieges gerade in den Flegeljahren befunden hatte -- und dieses Niemals-Soldat-gewesen-sein störte ihn manchmal, wenn er mit älteren Herren zusammenkam, von denen er annahm, dass sie im Weltkrieg wahrscheinlich verwundet worden waren. „Ich fahr jetzt nach Milano“, wiederholte er sich hartnäckig, „und dann fahr ich weiter nach Marseille, weil ich nach Barcelona fahr.“ B

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MistviehN ] werdN ] Bmach!)N ] Bblättern?“N ] Bsehr,N ] Bsehen!N ] BN] BperfektN ] BN] BKobler.N ] BdaN ] BN] Bauf f MaulN ] Btäuscht,N ] BN]

Mistvieh[“] [„]werd mach![“]|)| [lesen?“] |blättern?“| sehr[!] |,| [Sie können alle lesen,] sehen[.]|!| [serbischen,] [sehr rasch] |[sehr] perfekt| [sehr] korrigiert aus: Kobler\,/ [den Herrn.] [\{da}/] |da| [durch das offene Fenster] [in die Augen] |auf f Maul| täuscht\,/ [„Ich war auch kein Soldat“, sagte der Herr. „Ich war unabkömmlich, weil ich unter anderem einen Senkfuss hab.“ \Aber Kobler hörte kaum hin./] Absatz vom

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erN ] B N]

\er/ [Kobler]

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„Und ob das ein Zufall ist!“ ereiferte sich die Konkurenz. „Nur, dass ich nicht in einer Tur nach Barcelona fahr, weil ich in Marseille auf zwei Tag aussteigen will, um Marseille kennen zu lernen. Das ist nämlich eine überaus farbenprächtige und vor allem völkerkundlich sehr interessante Hafenstadt und bietet instruktive Einblicke.“ „Das hab ich schon gehört“, sagte Kobler. „Dieses Marseille muss ja eine grandiose Hurenstadt sein und ich habs mir auch schon überlegt, ob ichs mir nicht anschauen sollt, aber vielleicht rentiert es sich doch nicht, ich bin nämlich sehr misstrauisch.“ „Da tun Sie aber Marseille bitter unrecht! \Textverlust\ und das ist es ja gerade. Der Zufall, das ist die Hand einer höheren \Textverlust\ 얍 Macht, im Zufall offenbart sich der liebe Gott. Gäbs keinen Zufall, hätten wir keinen lieben Gott! Nämlich das Durchdenken und Durchorganisieren, das sind menschliche Eigenschaften, aber das völlig Sinnlose des Zufalls ist göttlich.“ Er tat seine Beine auf den gegenüberliegenden Polstersitz, denn in dieser Stellung tat ihm das Philosophieren am wohlsten. Da erschien aber sofort wieder jenes Schwarzhemd von zuvor und forderte ihn barsch auf, eine Zeitung unter seine Schuhe zu breiten. „Jetzt grad nicht!“ dachte der Herr Schmitz geärgert, tat seine Beine herab und hörte auf zu philosophieren. Das Schwarzhemd verliess das Abteil und war schon \Textverlust\ wenn alle menschlichen Werte ehrlich und offen vom kaufmänni\Textverlust\ 얍 schen Weltbild aus gewertet werden, dann werden die Kaufleut ihren Höhepunkt erreicht haben. Aber dann wirds auch wieder abwärtsgehen mit die Kaufleut und dann wird das Zeitalter einer anderen Gesellschaftsschicht heraufdämmern. Das ist die ewige Elipse. Ein Kreis ist das nämlich nicht.“ „Ich seh keine Gesellschaftsschicht, die hinter uns Kaufleuten heraufdämmern könnt“, meinte Kobler düster. „Das Proletariat.“ „ Aber das geht doch nicht!“ „Warum soll das nicht gehen?“ staunte Schmitz. „Wenn Sie seinerzeit dem Alexander dem Grossen gesagt hätten, dass heut die Kaufleut regieren werden, hätt er Sie lebendig begraben lassen. Ich warne Sie vor der Rolle Alexanders des Grossen!“ Hier wurde das Gespräch durch den Schaffner unterbrochen, der das Abteil betrat, um die Fahrkarten kontrollieren zu können. Kobler musste nachzahlen und auch Schmitz musste nachzahlen, denn auch er hatte nur dritte Klasse. B

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ereiferte f Konkurenz.N ] TurN ] BbitterN ] Bunrecht!N ] BN]

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] ] Bmit f KaufleutN ] BKobler düster.N ] BProletariat.“N ] BAber dasN ] Bnicht!“N ] BheutN ] BN

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[meinte der Herr.] [|{ }|] |ereiferte f Konkurenz.| gemeint ist: Tour \bitter/ unrecht![“] [verwahrte sich der Herr. „Ich bleib totsicher zwei Tag in Marseille. Ich an Ihrer Stell[e] würd[e] auch zwei Tag in Marseille bleiben. Wenn\s/ [Sie wollen,] |Ihnen recht ist,|] [ist] [„Und ob ich das glaub!“ meinte Schmitz. „Hören Sie her: erst] \mit d[en]|ie| Kaufleut[en]/ Kobler[.]|düster.| Proletariat[.“,]|.“| [sagte Schmitz[.]|so offen hin.|] \Aber/ [D]|d|as nicht[!“]|!“| [sagte Kobler.] \heut/

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Der Schaffner sprach gebrochen deutsch, und während er das Geld wechselte unterhielt er sich mit den beiden Herren. Er sagte, dass er Deutschland sehr schätze und achte, denn er kenne eine deutsche Familie und das wären ausserordentlich anständige und zuvorkommende Menschen. Zwar wären das eigentlich keine reinen Deutschen, sondern Deutsche aus Russland, sogenannte Emigranten. Sie seien aus Russland geflohen, weil sie wegen der bolschewistischen Verbrecher arbeiten hätten müssen und das könnte man doch nicht, wenn man noch nie etwas gearbeitet hätte. Sie hätten also all ihr Hab und Gut zurücklassen müssen und seien nur mit dem, was sie am Leibe gehabt hätten, bei Nacht und Nebel geflohen. Sie hätten sich dann ein Hotel am Gardasee gekauft, ein wunderbares Hotel.

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„Das war ein verschmitzter Bursche“, liess sich Schmitz wieder vernehmen. „Auch ein Beitrag zur philosophisch-metaphysischen Mentalität unterdrückter Klassen.“ „Sie sind anscheinend kein Kaufmann?“ meinte Kobler. „Nein“, sagte Schmitz. „Ich bin ein Mann der Feder und fahr jetzt als Sonderkorrespondent zur Weltausstellung.“ Nun entstand abermals eine Pause. Während dieser Pause dachte jeder über den anderen. „Ich hab bisher eigentlich nur einen einzigen Mann der Feder gekannt“, dachte Kobler, „das war ein Poet, der nie bei sich war, wenn man nicht gerad über Hyazinthen gesprochen hat. Ein unpraktischer Mensch. Der hätt mir nur schaden können, sonst nichts. Aber dieser Schmitz scheint ein belesener und hilfsbereiter Mensch zu sein -- man soll halt nur mit Menschen verkehren, von denen man was hat. Das tun zwar alle , aber die 얍 meisten wissen nicht, was sie tun. Vielleicht kann mir dieser Mann der Feder was nützen, vielleicht kann ich ihn sogar ausnützen -- als Mann der Feder hat er sicher viel weibliche Verehrerinnen, auch in Ägypten wird er wahrscheinlich welche haben. O ich glaub schon daran, dass es eine Vorsehung gibt! Wenn er nur nicht so stinken tät!“ Und Schmitz dachte: „Vielleicht war es sogar blöd von mir, dass ich mich dem gleich angeboten hab als Reisebegleiter. Sicher war es blöd. Oh wie bin ich blöd! Und warum bin ich blöd? Weil ich ein weicher Mensch bin. Ich kann aber auch energisch sein. Vielleicht ist das gar ein Schnorrer und pumpt mich an. Ich bin sehr energisch. Kaufmann ist er, hat er gesagt. Wer ist heut kein Kaufmann? Und was werden Sie schon für ein Kaufmann sein, lieber Herr? Es geht mich ja \Textverlust\ B

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philosophisch-metaphysischenN ] meinteN ] BeinN ] BFeder f Weltausstellung.“N ]

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philosophisch[en]|-metaphysischen| [fragte] |meinte| [Journalist. Ein] |ein| Feder[.“][|und fahr als Korrespondent nach Barcelona.|] |und fahr \jetzt/ als [Korrespondent] |Sonderkorrespondent| [{ }]|zur| Weltausstellung.“| gerad[e] [Ich glaub, er hat viel onaniert.] \halt/ tu[t]|n| [ja jeder] |zwar alle| ih[m]|n| \O/ [I]|i|ch \schon/ gibt[.]|!| heut[e]

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Fragmentarische Fassung



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Lesetext

Milano umsteigen Als der Schnellzug Milano erreichte, war es zehn Minuten nach Mitternacht, obwohl der Schnellzug fahrplanmässig erst um dreizehn Minuten nach Mitternacht Milano erreichen sollte. „Das nenn ich Ordnung!“ rief Schmitz. Er führte Kobler in das Bahnhofsrestaurant, wo sie sich bis zur Weiterfahrt nach Ventimiglia (3.29 Uhr) aufhalten wollten. Schmitz kannte sich gut aus. „Ich kenn mich in Milano aus wie in Paris“, sagte er. „Das beste ist, wir bleiben am Bahnhof.“ „Es hat nämlich keinen Sinn, in die Stadt zu fahren “, fuhr er fort, „denn erstens ist es ja jetzt stockfinster und so hätten wir absolut nichts von dem gotischen mailänder Dom und zweitens ist hier architektonisch nicht viel los, es ist halt eine moderne Grossstadt. Sie werden noch genug Gotik sehen!“ „Ich bin auf die Gotik gar nicht so scharf“, sagte Kobler. „Mir sagt ja das Barock auch mehr“, sagte Schmitz. „Mir sagt auch das Barock nichts“, sagte Kobler. „Ja verglichen mit den Wunderwerken Ostasiens können wir Europäer freilich nicht mit!“ sagte Schmitz. Kobler sagte nichtsmehr. (Jetzt halt aber endlich dein Maul! dachte er.) „Jetzt wollen wir aber einen Chianti trinken!“ rief Schmitz und leuchtete. „Das ist der Wein mit dem Stroh unten herum. Oder sind Sie gar Abstinenzler?“ „Wieso kommen Sie darauf?“ verwahrte sich Kobler entschieden. „Ich kann enorm viel saufen und sogar durcheinander!“ „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz und lächelte glücklich. Schmitz war nämlich ganz verliebt in den Chianti und auch Kobler fühlte sich sehr zu ihm hingezogen, als er ihn nun im Bahnhofrestaurant kennen lernte. Wohlig rann er durch ihre Gedärme und bald stand die zweite Flasche vor ihnen. Dabei unterhielten sie sich über den Weltkrieg und den Krieg an sich. Sie hatten schon im Zuge davon angefangen, denn da Schmitz auch kein Soldat gewesen war, hatte Kobler nichts dagegen gehabt, mal über die Idee des 얍 Krieges zu plaudern. Der Chianti löste ihre Zungen und Kobler erzählte, er wäre ja politisch immer schon rechts gestanden, allerdings nur bis zum Hitlerputsch. Gegenwärtig stünde er so ziemlich in der Mitte, obwohl er eigentlich kein Pazifist sein könne, da sein einziger Bruder auf dem Felde der Ehre gefallen sei. „Wie hiess denn Ihr Herr Bruder?“ fragte Schmitz. B

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und drüber und Kobler bot sich die Gelegenheit, die politische Konjunktur auszunützen. Er hatte ja nichts zu beissen und als Mittelstandssprössling stand er bereits und überzeugt politisch rechts und wusste nicht, was die Linke wollte -- aber so sehr rechts stand er innerlich doch nie, wie seine neuen Bekannten, denn er besass doch immerhin ein Gefühl für das Mögliche. „Es ist eigentlich alles möglich“, sagte er sich. B

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

Einer seiner neuen Bekannten gehörte sogar einem politischen Geheimbund an, mit dem seinerzeit die politische Polizei sehr sympathisierte, weil dieser Geheimbund noch rechtsradikaler war, als sie selbst. Er hiess Wolfgang und verliebte sich in Kobler, aber dieser liess ihn nicht ran. Trotzdem verschaffte ihm Wolfgang eine Stelle, denn er war nicht nur leidenschaftlich, sondern auch zu einer aufopferungsvollen Liebe durchaus fähig. So geriet Kobler in eine völkische Inflationsbank und als der Bankier verhaftet wurde, wechselte Kobler in ein Fahrradgeschäft, hielt es aber nicht lange aus und wurde Reisender für eine württembergische Hautcreme und Scherzartikel. Dann hausierte er mit Briefmarken und endlich landete er durch Vermittlung eines anderen Wolfgangs in der Autobranche. Wenn er heute an diese Zeit zurückdenkt, muss er sich direkt anstrengen, um sich erinnern zu können, wovon er meistens eigentlich gelebt hatte. Meistens ist er ja nur gerade noch durchgerutscht durch die Schlingen, die uns das Leben stellt. „Du musst einen guten Schutzengel haben“, hatte ihm mal eine Prostituierte ge- 얍sagt. Er dachte nicht gerne an seine Vergangenheit, aber noch ungerner sprach er über sie. Er hatte nämlich häufig das Gefühl, als müsste er etwas vertuschen, als ob er etwas verbrochen hätte -- und er hatte doch nichts verbrochen, was nicht in den Rahmen der geltenden Gesellschaftsordnung gepasst hätte. Drum sprach er auch jetzt beim Chianti lieber über die Zukunft. „Der Weltkrieg der Zukunft wird noch schauerlicher werden“, erklärte er Schmitz, „aber es ist halt nicht zu verwundern, dass es bei uns in Deutschland Leute gibt, die wieder einen Krieg wollen. Sie können sich halt nicht daran gewöhnen, dass wir zum Beispiel unsere Kolonien verloren haben. Ein Bekannter von mir hat zum Beispiel in seinem Briefmarkenalbum die ehemals deutschen Kolonien schwarz umrändert. Er sieht sie sich jeden Tag an -- alle anderen Kolonien, englischen, italienischen, portugiesischen undsoweiter hat er abgestossen, noch dazu zu Schleuderpeisen und die französischen Kolonien hat er glaub ich verbrannt.“ Schmitz hörte aufmerksam zu. „Ich Rudolf Schmitz“, betonte er, „bin überzeugt, dass Ihr Deutschen alle Euere verlorenen Gebiete ohne Schwertstreich zurückbekommen werdet und auch wir Deutsch-Österreicher werden uns ebenso an Euch anschliessen -- ich sage nur eines: heilige Allianz ist gleich Völkerbund. Napoleon ist gleich Stalin.“ „Das weiss ich noch nicht“, antwortete Kobler skeptisch, weil er nicht wusste, was die heilige Allianz bedeuten sollte. „Wer ist denn Stalin?“ fragte er. „Das lässt sich nicht so einfach erklären“, meinte Schmitz zurückhaltend. „Kehren wir lieber zum Thema zurück: ich Rudolf Schmitz bin überzeugt, dass es zwischen den europäischen bürger- \Textverlust\ B

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Er f WolfgangN ]

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[Koblers neuer Bekannter war ein Unterführer und hiess Wolfgang. Er befasste sich fast ausschließlich mit Politik, hauptsächlich mit Vorbereitungsarbeiten [zur] |zwecks| Ermordung politischer Gegner.] |Er f Wolfgang| [Wolfgang] |und| \völkische/ [deutsche] |württembergische| Hautcreme[, Füllfederhalter, Schuhfett] ge-[sagt und fügte hinzu] [war freilich nichts schönes“,] |der f werden“,|

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Fragmentarische Fassung



K3/TS3 (Korrekturschicht)

Der Kellner brachte die fünfte Flasche und Kobler wurde immer wissbegieriger. „Was bedeutet eigentlich ‚Pan’?“ fragte er. „Das Universum zuguterletzt“, dozierte Schmitz. „Und im Falle Paneuropa bedeutet es die Vereinigten Staaten von Europa.“ „Das weiss ich“, unterbrach ihn Kobler. Schmitz schlug mit der Faust auf den Tisch. „Aber ohne Grossbritannien gefälligst!“ brüllte er und musste dann plötzlich gähnen. „Pardon!“ riss er sich zusammen. „Ich hab jetzt gegähnt, aber ich bin noch gar nicht müd, das sind nur so Magengase, die sich bei mir besonders stark entwickeln, wenn ich etwas angeheitert bin. Apropos: kennen Sie meine Kriegsnovelle? Sie ist leider kein pekuniärer Erfolg, weil ich die grausige Realistik des Krieges mit meiner grausigen Phantastik verband, gewissermassen ein KriegsEdgar Allan Poe. Ist Ihnen dieser Name ein Begriff?“ „ Nein“. „Ja die Kunst hört allmählich auf“, murmelte Schmitz, liess einen Donnernden fahren und wurde wieder sentimental. Er war eben ein Stimmungsmensch. „Ich les ja schon lieber wahre Geschichten als wie erfundene, wenn ich was les“, sagte Kobler. „Zwischen uns ist halt eben eine Generation Unterschied“, nickte Schmitz und lächelte väterlich. „Oft versteh ich Ihre Generation überhaupt nicht. Oft wieder scheinen mir Ihre Thesen schaal, dürftig, a-dyonisisch in einem höheren Sinne. In meiner Jugend hab ich den halben Faust auswendig hersagen können und den ganzen Rimbaud. Kennen Sie das trunkene Schiff? Pardon auf einen Moment! Ich muss jetzt mal naus.“ Und Kobler sah, dass Schmitz, wie er so hinausschritt, die Zähne zusammenbiss 얍 und die Fäuste krampfhaft ballte, so sehr nahm er sich zusammen, um nicht umzufallen. „Bin ich denn auch schon so voll?“ fragte er sich bekümmert. „Auf alle Fäll ist das ein interessanter Mensch“. Und als der interessante Mensch wieder an den Tisch zurücktaumelte, wurde es allmählich Zeit, denn draussen auf dem Geleise standen bereits die durchgehenden Waggons nach Ventimiglia. Die beiden Herren sprachen noch etwas über die Politik an sich, über die Kunst an sich und Schmitz beklagte sich noch besonders wegen der europäischen Zerfahrenheit an sich. Aber es wollte kein richtiges Gespräch mehr aufkommen, denn beide Herren konnten sich nichtmehr richtig konzentrieren. Kobler schrieb noch rasch eine Postkarte an die Perzl: „Bin soeben an Ihrer gewesenen B

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[dritte] |fünfte| Flasche[.] |und| Absatz vom Autor getilgt [gesprächiger und] Absatz vom Autor getilgt Absatz vom Autor getilgt Absatz vom Autor getilgt Absatz vom Autor getilgt Absatz vom Autor getilgt

[„Gute Nacht!“ rief Kobler.] Absatz vom Autor getilgt \er/ [Schmitz] [Übrigens jetzt fällts mir ein:] |Apropos:| „Nein“[,] |.| [sagte Kobler und kam sich überaus ehrlich vor.] Schmitz\,/ [deprimiert.] |[und] liess f Stimmungsmensch.| a-[erotisch] |dyonisisch| Mensch“[,] |.| [konstatierte er.] Zeit[.]|,| \denn/ [D]|d|raussen europäische\n/

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Windmühle in Brescia vorbeigefahren. Gruss Kobler.“ Und darunter schrieb Schmitz: „Unbekannterweise Handküsse Ihr sehr ergebener Rudolf Schmitz.“ Dann zahlten die beiden Herren und beide wurden vom Kellner betrogen, der sich hernach mit einem altrömischen Gruss empfahl. Und Schmitz hob den Arm zum Fascistengruss und auch Kobler tat so. Und auch die Bufettdame tat ebenso.

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얍 \Textverlust\ B N Fusses und beschwingten Sinnes über arkadische Sommerwiesen. Es ist um das Bfin de siecleN herum und er belauscht in einem heiligen Hain eine Gruppe sich tummelnder bildhübscher Helleninen. „Paneuropa!“ ruft er und das ist die klassisch Schönste. Aber Paneuropa weist ihn schnippisch in seine Schranken zurück. „Wer weitergeht wird erschossen!“ ruft sie ihm übermütig zu und lacht silbern. Doch da wird ihm die Sache zu dumm, er verwandelt sich in einen Stier und zwar in einen Panstier und der gefällt der Paneuropa. Keuchend wirft sie sich um seinen Panstiernacken und bedeckt seine Panstiernüstern mit den hingebungsvollsten Küssen -- aber während sie ihn also küsst verwandelt sich die klassisch schöne Paneuropa leider Gottes in die miese Frau Helene Glanz aus BSalzburg.N

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\Textverlust\ Milano von seinem armen Bruder Alois, der im Weltkrieg von einer feindlichen Granate zerrissen worden war. Nun trat dieser Alois als toter Soldat in einem weltstädtischen Cabaret auf und demonstrierte einem exklusiven Publikum, wie ihn seinerzeit jene Granate zerrissen hatte. Dann legte er sich selber wieder artig zusammen und das tat er voll Anmut. Und das Publikum sang den Refrain mit: „Die Glieder Finden sich wieder!“

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얍 \Textverlust\ Als die beiden Herren erwachten, ging es schon gegen Mittag. Sie hatten Genua glatt verschlafen und nun näherten sie sich San Remo. Draussen lag das Meer, unsere Urmutter. Nämlich das Meer soll es gewesen sein, in dem vor vielen hundert Millionen Jahren das Leben entstand, um später auch auf das Land BherauszukriechenN, auf dem es sich in jener wunderbar komplizierten Weise höher und höher entwickelt, weil es gezwungen ist, sich anzupassen, um nicht aufzuhören. Schmitz fiel es plötzlich ein, dass Kobler jetzt zum erstenmal das Meer sieht. „Was sagen Sie eigentlich zum Meer?“ fragte er. „Ich hab mir das Meer nicht anders gedacht“, BantworteteN Kobler apathisch. Er lag noch immer und sah noch sehr mitgenommen aus. „Beruhigen Sie sich, lieber Herr!“ tröstete ihn Schmitz. „Mir tut der Schädel genau so weh wie Ihnen, aber ich beherrsch mich halt. Wir hätten uns halt in Mila- \Textverlust\ So fuhren sie nun am Meer entlang und hatten eigentlich nichts davon, trotzdem 얍 dass es zuerst die italienische Riviera BdiN Ponente war und hernach sogar die franzö8 9 17 32 37 42

] fin de siecleN ] BSalzburg.N ] BherauszukriechenN ] BantworteteN ] BdiN ] BN B

[ten] gemeint ist: Fin de siècle [der Piaristengasse im achten Bezirk.] |Salzburg.| [hinaus]|heraus|zukriechen [meinte] |antwortete| korrigiert aus: die

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sische Cote d’Azur . Zwischen diesen beiden mussten sie wiedermal so eine amtliche Pass- und Zollkontrolle über sich ergehen lassen, nämlich im Grenzort Ventimiglia. Hier war es Kobler am übelsten, aber selbst Schmitz vertrödelte hier fast eine volle Stunde auf der Toilette. Sie mussten halt für ihren mailänder Chianti bitter büssen und das Bittere dieser Busse stand, wie häufig im Leben, im krassestem Missverhältnis zur Süsse des genossenen Vergnügens . Besonders Kobler konnte die weltberühmte Landschaft überhaupt nicht geniessen, er konnte auch nichts essen, übergab sich bei jeder schärferen Kurve und sah düster in die Zukunft. „Jetzt bin ich noch gar nicht am Ziel meiner Reise und schon bin ich tot“, dachte er deprimiert. „Warum fahr ich eigentlich ?“ Schmitz versuchte ihn immer wieder auf andere Gedanken zu bringen. „Sehens nur“, sagte er in Monte Carlo, „hier wachsen die Palmen sogar am Perron! Ich werd halt das Gefühl nicht los, dass Westeuropa noch bedeutend bürgerlicher ist, weil es den Weltkrieg gewonnen hat. Ich möcht aber nicht wissen, was sein wird, wenn die Westeuropäer mal dahinterkommen, dass sie den Weltkrieg zuguterletzt auch nur verloren haben! Wissens was dann sein wird? Dann werden auch hier die Sozialdemokraten Minister.“ Und in Nizza konstatierte Schmitz, dass man hier rechtens die Uhr nicht nur um eine Stunde, sondern gleich um vierzig Jahre zurückdrehen müsste -- und hiebei lächelte er sarkastisch, aber wenn er allein war, fühlte er sich manchmal sauwohl in der Atmosphäre von 1890, obwohl er sich dann immer selbst widersprechen musste. Und in Cap d’Antibes musste Schmitz u.a. an Bernard Shaw denken und er dachte, das sei ein geistreicher Irländer und von dem 얍 alten Nobel wär es schon eine sehr noble Geste gewesen, dass er den Nobelpreis gestiftet hätt, als er mitansehen musste, wie sich die Leut mit seinem Dynamit gegenseitig in die Luft sprengen. – Nun verliess der Zug das Meer und erreichte es erst wieder in Toulon. „Wir sind jetzt bald in Marseille“, sagte Schmitz. Es war bereits spät am Nachmittag und die Luft war dunkelblau. Draussen lag Toulon, ein Kriegshafen der französischen Republik. Und beim Anblick der grauen Torpedoboote und Panzerkreuzer stiegen in Schmitz allerhand Jugenderinnerungen empor. So erinnerte er sich auch, wie er einst als Kind mit der feschen Tante Natalie einen Panzerkreuzer der K. u. K. österreich-ungarischen Flotte in Pola hatte besichtigen dürfen. Die Tante hatte sich aber bald mit einem Deckoffizier unter Deck zurückgezogen und er hatte droben fast eine halbe Stunde lang allein auf die Tante warten müssen. Und da hatte er sich sehr gefürchtet, weil sich die Kanonenrohre auf einmal angefangen haben von selber zu bewegen. „Ich versteh die französische Demokratie nicht“, dachte er nun in Toulon melancholisch. „Bei den Fascisten ist dieser Rüstungswahn nur natürlich, wenn man ihren verbrecherischen Egoismus in Betracht zieht, aber bei der französischen Demokratie mit ihrer europäischen Sendung? Sie werden sagen, dass la France halt gegen Mussolini rüsten muss, denn dieser Mussolini strebt ja nach Nizza und Corsica und sogar den grossen Napoleon will er für sich annektieren, und leider ist das halt logisch, was Sie da sagen, liebe Marianne!“ – B

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

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Cote d’AzurN ] VergnügensN ] BeigentlichN ] BSchmitz,N ] Bsprengen. –N ] BMarianne!“ –N ] B B

gemeint ist: Côte d’Azur korrigiert aus: Vergügens

ei[h]|g|entlich Schmitz\,/ [sarkastisch,] sprengen. \–/ Marianne!“ \–/

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Fragmentarische Fassung



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Endlich erreichten sie Marseille. Es ist bekannt, dass sich jede grössere Hafenstadt durch ein farbiges Leben auszeichnet. Aber ganz besonders Marseille. In Marseille ist der Mittelpunkt des farbigen Lebens der alte Hafen und der Mittelpunkt dieses alten Hafens ist das Bordellviertel. Wir werden darauf noch zurückkommen. -Als nun die beiden Herren die breite Treppe vom Gare St. Charles herabstiegen, ging es Schmitz schon deutlich besser, während Kobler sich noch immer recht matt fühlte. Auch war es ihm, als könnte er noch immer nicht wieder korrekt denken. „Wie gebildet hier die Leut sind, hier sprechen ja schon die kleinsten Kinder französisch“, sagte er. „Hier in Marseille entstand die Marseillaise“, antwortete Schmitz. „Nur nichtsmehr wissen!“ wehrte sich Kobler mit schwacher Stimme. Bald hinter Toulon war es bereits Nacht geworden und nun hatten die beiden Herren keinen sehnlicheren Wunsch, als möglichst bald in einem breiten weichen französischen Bett einschlafen zu können. Sie stiegen in einem kleinen Hotel am Boulevard Dugommier ab, das Schmitz als äusserst gediegen und preiswert empfohlen worden war. Aber der ihm das empfohlen hatte musste ein äusserst boshafter Mensch gewesen sein, denn das Hotel war nicht gediegen, sondern ein Stundenhotel und infolgedessen auch nicht preiswert. Jedoch den beiden Herren fiel das bei ihrer Ankunft nicht auf, denn sie schliefen ja schon halb, als sie das Hotelbüro betraten. Sie gingen ganz stumm auf ihr Zimmer und zogen sich automatisch aus. „Hoffentlich sind Sie nicht mondsüchtig“, jammerte Schmitz. „Das wär ja noch das geringste!“ lallte Kobler. B

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얍 Die Nacht tat den beiden Herren sehr wohl. Befreit von der Monotonie der Schienen und Eisenbahnräder träumten sie diesmal nichts. „Heut bin ich neugeboren!“ meinte Schmitz Bam nächsten morgenN und band sich fröhlich die Kravatte. Und auch Kobler war lustig. „Ich freu mich schon direkt auf Marseille“, meinte er. Als die beiden Herren angezogen waren, bummelten sie über die BCanebiereN, jene weltberühmte Hauptverkehrsader. BDannN fuhren sie mit einem Autobus über den Prado hinaus nach der Corniche, einer zufriedenen Strasse, die immer am freien Meer entlang laufen darf. Hierauf fuhren sie mit dem Motorboot an alten unbrauchbaren BBefestigungenN vorbei nach dem Inselchen des romantischen Grafen von Monte Christo. Hierauf fuhren sie mit einem kühnen Aufzug auf jenen BunheimlichN steilen Felsen, auf dem Notre Dame de la Garde steht. Von hier aus bot sich ihnen ein umfassendes Panorama. „Da unten liegt Marseille“, erklärte Schmitz die Situation. Hierauf fuhren sie mit der eisernen Spinne des Pont Transbordeurs und zwar einmal 5 11–12

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darauf nochN ] „Nur f Stimme.N ]

] ] BautomatischN ] BjammerteN ] BlallteN ] Bam f morgenN ] BCanebiereN ] BDannN ] BBefestigungenN ] BunheimlichN ] BN

noch2 darauf1 \„Nur nichtsmehr wissen[,]|!“| [meinte] |wehrte sich| Kobler [apathisch.] |mit schwacher Stimme.|/ [friedlich] [\„Nur nichtsmehr wissen,“ meinte Kobler apathisch./] [apathisch] |automatisch| [murmelte] |jammerte| [stöhnte] [|{ }|] [|{ }|] |lallte| \am f morgen/ Can[a]|e|biere gemeint ist: Canebiére [Hierauf] |Dann| B\e/festigungen unheimlich[en]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 8

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

hin und einmal zurück. Hierauf gingen sie essen in eines der populären Restaurants am alten Hafen und zwar in das Restaurant zum Kometen. Da gab es allerhand zu essen und alles war billiger als in Deutschland und Österreich. Infolgedessen überfrassen 얍 sich die beiden Herren fast. Besonders die Vorspeisen, von denen man um dasselbe Geld nehmen konnte, soviel man wollte, taten es ihnen an. Und auch das weiche weisse Brot. Mit dem Wein gingen sie diesmal misstrauischer um, trotzdem wurde Schmitz wieder recht gesprächig. Er erinnerte Kobler an das treffende Sprichwort vom lieben Gott in Frankreich, und fragte ihn hernach, ob es ihm schon aufgefallen wäre, dass hier zahlreiche Lokale, oft wahre Prachtcafes, keine Klosette hätten, und das wäre halt so eine südfranzösische Spezialität. Hierauf zählte er ihm die Spezialitäten der marseiller Küche auf und bestellte sich eine Art Fischsuppe. „Das ist aber eine eigenartige Speise“, meinte Kobler vorsichtig und schnupperte. „Ich glaub, dass da viel exotische Zutaten drinnen sind.“ „Erinnern Sie sich an das Kolonialdenkmal auf der Corniche?“ erkundigte sich Schmitz mit vollem Munde. „Das war jenes Monumentaldenkmal für die im Kampf gegen die französischen Kolonialvölker gefallenen Franzosen -- natürlich stammt hier vieles aus den Kolonien, aber das stammt es überall. Auch unser berühmter wiener schwarze Kaffee wächst bei den Schwarzen. Hätten wir keine Kolonialprodukte, lieber Herr, könnten wir ja unsere primitivsten Bedürfnisse nicht befriedigen. Und glaubens mir, wenn man die armen Neger nicht so schamlos ausbeuten tät, wär das der Fall, denn dann wären ja alle Kolonialprodukte unerschwinglich teuer, weil dann halt die Plantagenbesitzer auch gleich das tausendfache verdienen wollten -- glaubens mir, mein Sehrverehrter, wir Weissen sind die grössten Bestien!“ Jetzt musste er plötzlich stark husten, weil er sich einen zu grossen Bissen in den Rachen geschoben hatte. Als er sich ausgehustet hatte, fuhr er dozierend fort: „Wenn wir weissen Bestien ehrliche Leut wären, müssten wir unsere Zivilisation auf die Bedürfnislosen aufbauen, deren Bedürfnisse auch ohne Negerprodukte befriedigt werden könnten, also gewissermassen Waldmenschen -- das wären also dann Staaten, die kaum ein Bedürfnis befriedigen könnten, aber wo blieb dann unsere abendländische Kultur?“ „Das weiss ich nicht“, antwortete Kobler und sah gelangweilt auf seine Uhr. „Wann gehen wir denn ins Bordellviertel?“ fragte er besorgt. „Jetzt rentiert sichs noch nicht, es ist noch zu hell“, meinte Schmitz. „Wir könnten ja bis dahin vielleicht noch einige alte Kirchen anschaun. Garcon, bringen Sie mir encore eine Banane!“ B

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얍 Gleich hinter dem schönen Rathaus von Marseille beginnt das berühmte BBordellviertel, düster und dreckig. Das ist ein wahres Labyrinth -- als hörte es nirgends aufN. Je weiter man sich vom Rathaus entfernt, umso inoffizieller wird die Prostitution und umso vertierter gebärdet sie sich. Die Strassen werden immer enger, die hohen Häuser immer morscher und auch die Luft scheint zu verfaulen. 3 9 14 23 37–38

DeutschlandN ] wahreN ] Berkundigte sichN ] Bmein Sehrverehrter,N ] BBordellviertel, f aufN ] B B

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D\e/utschland korrigiert aus: wahr [fragte] |erkundigte sich| \mein Sehrverehrter,/ Bordellviertel[.]|,|1 Das5 ist6 ein7 wahres8 Labyrinth9[.] [D]|d|üster2 und3 drekkig[,]|.|4 [kreuz und quer und rauf und runter] --10 als11 hörte12 es13 nirgends14 auf.15

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Der Gott und die Bayadere“, fiel es Schmitz plötzlich ein, denn er war halt ein Literat. „Sehens dort jene Bayader?“ fragte er Kobler. „Jene fette Gelbe, die sich dort grad ihre schwarzen Füss wascht, ist das aber unappetitlich! Meiner Seel, jetzt fangt sie sich auch noch zu pediküren an! Das nennt sich Gottes Ebenbild!“ „Zum abgewöhnen“, meinte Kobler. „Passens auf“, schrie Schmitz, denn er sah, dass sich ein anderes Ebenbild Kobler nähert. Dieses Ebenbild hatte einen verkrusteten Ausschlag um den Mund herum und wollte Kobler partout einen Kuss geben. Aber Kobler wehrte sich ganz ängstlich, während ein drittes Ebenbild Schmitz den Hut vom Kopf riss und sehr neckisch tat, worüber eine Gruppe singhalesischer Matrosen sehr lachen musste. „Ein interessantes Völkergemisch ist das auf alle Fäll“, konstatierte Schmitz, als er nach langwierigen Verhandlungen seinen Hut für fünf Zigaretten wieder zurückbekommen hatte. „Habens auch die japanische Hur gesehen?“ „Ich hab auch die chinesische gesehen“, antwortete Kobler. „Man kann ja hier allerhand sehen. Ich versteh nur die Männer nicht, die sich mit sowas einlassen.“ „Das ist halt der Trieb“, meinte Schmitz, „und die Matrosen sollen oft einen ganz ausgefallenen Trieb haben.“ „Ich versteh die Matrosen nicht!“ unterbrach ihn Kobler mürrisch. Und dann 얍 fluchte er sogar und beschwerte sich ungeduldig darüber, dass es in Marseille anscheinend keine netten Huren gibt, sondern bloss grausam abscheuliche. Er hätte sich diese Hafenstadt schon ganz anders vorgestellt. „Beruhigen Sie sich nur!“ beschwichtigte ihn Schmitz. „Ich werd Sie jetzt in ein vornehmes hochoffizielles Puff führen, ich hab die Adresse aus Wien vom Ober im Bristol. Dort werden die Weiber sicher sehr gepflegt sein und man soll dort allerhand erleben, auch wenn man sich nicht einlässt. In Hafenstädten soll man ja sowas überhaupt nicht machen wegen der gesteigerten Ansteckungsgefahr. Hier ist doch alles krank.“ „Ich hab noch nie was erwischt“, meinte Kobler so nebenbei und das war gelogen. „Ich hab auch noch nie was erwischt“, nickte Schmitz und das war auch gelogen. Dann wurde er wieder melancholischer. „Zuguterletzt ist halt diese ganze Prostitution etwas sehr trauriges, aber man kann sie halt nicht abschaffen“, lächelte er traurig. „Das ist auch meine Meinung“, pflichtete ihm Kobler rasch bei. „Ich kenn einen Prokuristen, dem sein höchsts Ideal ist, mit der Frau, die er liebt, obszöne Photographien zu betrachten. Aber seine eigene Frau wehrt sich dagegen und behauptet, dass sie durch solche Photographien direkt lebenüberdrüssig werden tät. Also was bleibt jetzt dem Prokuristen übrig? Der Strich. Und wo eine Nachfrage ist, ist auch ein Angebot da. Das sind halt so Urtriebe!“ \Textverlust\ „Was gibts doch für Viecher auf der Welt!“ dachte Schmitz und wurde wieder 얍 philosophisch. „Ich betracht auch die Prostitution von einem höheren Standpunkt aus“, erklärte er Kobler. „Ich hab mir jetzt gerade überlegt, dass wir Menschen, seit wir da sind, eigentlich nur drei Triebe, nämlich Inzest, Kanibalismus und Mordgier unterdrückt haben, und nicht einmal diese drei haben wir total unterdrückt, wie uns das ja in letzter Zeit wiedermal der Weltkrieg bewiesen hat. Das sind so Probleme, lieber Herr! Sehen Sie sich zum Beispiel mich an! Ich hab in meiner Jugend mit dem kommunistischen Manifest sympathisiert. Man muss durch Marx unbedingt hinB

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dieN ] HurenN ] BgibtsN ] BKanibalismusN ] B B

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korrigiert aus: sie [Mädchen] |Huren| gib[t]|ts| [es] gemeint ist: Kannibalismus

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Fragmentarische Fassung

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

durchgegangen sein. Marx behauptet zum Beispiel, dass mit der Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse auch die Prostitution verschwindet. Das glaub ich nicht. Ich glaub, dass man da nur reformieren kann. Und das gehört sich auch so.“ „Wie?“ „Das hat man eben noch nicht heraussen, wie sich das gehört, man weiss nur, dass es sich marxistisch nicht gehört, denn wir erlebens ja gerade, dass der Kommunismus weit darüber hinausgeht und unsere ganze europäische Zivilisation vernichten will!“ Er hielt plötzlich ruckartig. „So und jetzt haben wirs erreicht“, sagte er. „Das dort drüben ist jenes Puff!“ – B

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Der Ober im Bristol hatte wirklich nicht übertrieben, als er Schmitz seinerzeit sein Ehrenwort gegeben hatte, dass das Haus „chez Madelaine“ in jeder Hinsicht vorbildlich geführt wird, solid und reell. „Er hat ausnahmsweise nicht gelogen“, dachte Schmitz, „ich werd ihm noch heut eine Ansichts-얍karte schreiben.“ Die Pförtnerin, eine freundliche Alte, führte die beiden Herren in den Empfangssalon, bot ihnen Platz an und bat sie, sich nur wenige Augenblicke zu gedulden. Der Empfangssalon war im Louis XVI Stil gehalten, doch keineswegs protzig, eher schlicht. An den Wänden hingen Stiche nach Watteau und Fragonard, für die sich Schmitz rein mechanisch sofort interessierte. „Ob das nicht sehr teuer sein wird?“ fragte Kobler misstrauisch, aber Schmitz konnte ihn nichtmehr beruhigen, denn in diesem Augenblick betrat die Madame den Salon. Die Madame war eine ältere Dame mit wunderbar weissem Haar und sprechenden Augen, eine vornehme Erscheinung . Sie hatte etwas königliches an sich und einen natürlichen Charme. Aber auch etwas Strenges hatte sie um den Mund herum und das musste so sein, wenn sie den guten Ruf ihres Bordells hochhalten wollte. „Also das wird sehr viel kosten“, dachte Kobler besorgt, während sich die Madame taktvoll an Schmitz wandte, weil dieser der Ältere war. Sie begrüsste ihn sofort auf englisch, aber Schmitz unterbrach sie sofort, er sei kein Amerikaner und sein Freund sei auch kein Amerikaner, sondern im Gegenteil. Der Madame schien das sehr zu gefallen, sie entschuldigte sich vielmals, lächelte überaus zuvorkommend und war nun nichtmehr reserviert, eher übermütig. „Habens den Tonwechsel bemerkt?“ flüsterte Schmitz dem Kobler zu, als sie der Madame in die Bar folgten. „Habens es bemerkt, wie verhasst die Amerikaner in Frankreich sind? Hier möcht man halt auch keine amerikanische Kolonie werden!“ „Das ist mir jetzt ganz wurscht!“ unterbrach ihn Kobler unruhig. „Ich beschäftig mich jetzt nur damit, dass es hier sehr viel kosten wird!“ „Was kann das schon kosten? Wir gehen jetzt einfach in die Bar und bestellen uns einfach zwei Whisky Soda und sonst tun 얍 wir halt einfach nichts.“ B

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haben wirsN ] Puff!“ –N ] BN] Bsein f gegebenN ] B„chezN ] Bvornehme ErscheinungN ] BsoN ] BlächelteN ] B B

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haben[s] wir\s/ Puff!“ \–/ [+++++++] [auseinandergesetzt] |sein f gegeben| korrigiert aus: „ chez [v]|v|ornehme Ersch[ie]|ei|nung \so/ l[äce]|äche|lte

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 14

Fragmentarische Fassung

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

Nun betraten sie die Bar. In der Bar sah man fast ausschliesslich uniformierte Menschen, Soldaten und Matrosen, die sich mit den halbnackten Mädchen mehr oder minder ordinär unterhielten. Auch sassen in einer Ecke zwei Gäste aus Indien und in einer anderen Ecke sassen drei nordamerikanische Sportstudenten, letztere mit hochroten Köpfen, aber puritanischem Getue. Und dann sassen noch zwei Herren da, um die sich die Mädchen aber nicht kümmerten: der eine war ein eingefleischter Junggeselle und der andere war bloss gekommen, um der Madame Turftyps zu geben. Es war ein lebhafter Betrieb. Der Pianist spielte sehr talentiert, teils sentimental und teils für das Knie, er sah aus wie ein Regierungsrat. Und der Kellner sah aus wie Adolf Menjou und war sehr distinguiert. Alles war scharf parfümiert und das musste wohl so sein. Als die Madame den Salon betrat, riss es die Dirnen etwas zusammen, denn sie hatten eine eiserne Disziplin im Leibe, trotz ihres ausgelassenen Gebarens. Sie bildeten sofort einen regelmässigen Halbkreis um Schmitz und Kobler, streckten ihre Zungen heraus und bewegten selbe je nach Veranlagung rascher oder langsamer hin und her \Textverlust\ sich, ob die beiden Herren nicht vielleicht eine Dame bloss zum Diskurieren haben wollten, sie hätte auch sehr intelligente Damen hier, mit denen man auch über Problematisches reden könnte. Insgesamt sprächen ihre Damen vierzehn Sprachen und eine Deutsche wäre auch unter ihnen und sie wolle mal die Deutsche an den Tisch der beiden Herren dirigieren und das würde natürlich absolut nichts kosten -solange es nämlich beim Diskurieren bleiben würde. Die Madame ging, um die Deutsche herbeizuholen, die gerade verschwunden war -- da schritt eine Negerin durch die Bar. Sie hatte einen grellroten Turban und einen ganz anderen Gang als ihre weissen Kolleginen, und dies gab dem Schmitz wiedermal Gelegenheit, sich über die gemeinsame Note der Europäerinnen zu äussern und darüber hinaus zu bedauern, dass man das typisch Europäische bisher \Textverlust\ \Textverlust\ Nun trat die Deutsche an ihren Tisch. „Die Herren sind Deutsche?“ 얍 fragte sie deutsch und beugte sich über Schmitz. „Ich bin auch eine Deutsche, na wer will mal als Erster?“ „Das muss ein Irrtum sein!“ wehrte sich Schmitz. „Wir dachten, Du willst mit uns hier auf unser Wohl anstossen und sonst nichts!“ „Wie mich die Herren haben wollen!“ meinte die Deutsche und setzte sich artig, denn sie konnte auch wohlerzogen sein. Es stellte sich nun bald heraus, dass sie Irmgard heisst und aus Schlesien stammt. Sie kannte auch die Reichshauptstadt, dort wollte sie nämlich Verkäuferin werden, aber sie wurde Fabrikarbeiterin und das war Schicksal. Denn die Maschinen gingen ihr sehr auf die Nerven, weil sie halt ein Landkind war. Ostern 1926 lernte sie einen gewissen Karl Zeschcke kennen, und der und die Maschinen wurden ihr wieder ein B

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TurftypsN ] Adolf MejouN ] BmussteN ] BKobler,N ] BselbeN ] BihnenN ] Bund derN ]

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wurden ihrN ]

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gemeint ist: Turftips gemeint ist: Adolphe Menjou

[sollte] |musste| Kobler\,/ [und] [sie] |selbe| i[n]|h|nen [und der] [|ein|] [|und der war eine Zuhälternatur. Sie {lernte} ihn trotzdem lieben, weil er auch lieber auf dem Lande gelebt hätte, als in der Stadt – und so wurden ihr dieser Zeschcke|] |und der| [wurden ihr] |wurden ihr|

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 15

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Schicksal. Sie bekam es bald im Kopf und über Nacht fing sie an zu zeichnen und zu malen, und zwar lauter Hermaphroditen. Die Madame hatte recht, man konnte mit Irmgard tatsächlich amüsant diskurieren -- und als sie nach einem Weilchen von einem der uniformierten Herren verlangt wurde und sich also verabschieden musste, lächelte Schmitz direkt gerührt: „Du bist schon richtig, Irmgard! Nämlich ich bin Schriftsteller und wenn Du Schreibmaschine schreiben könntest, dann wärst Du das richtige Weiberl für mich!“ B

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Durch die Pyrenäen

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Noch in derselben Nacht verliessen die beiden Herren Marseille, um nun über Tarascon, Sette und die spanische Grenze Port Bou ohne jede Fahrtunterbrechung direkt nach Barcelona zu fahren. Sie fuhren durch Arles. „Hier malte van Gogh, “ erzählte Schmitz. „Wer war das?“ fragte Kobler. „Ein grosser Maler war das“, antwortete Schmitz und sperrte sich traurig ins Klosett. „Hoffentlich werd ich jetzt endlich was machen können“, murmelte er vor sich hin, aber bald musste er einsehen, dass er vergebens gehofft hatte. „Also das ist schon ein fürchterlicher Idiot!“ konstatierte er wütend. „Jetzt kennt der nichtmal meinen geliebten van Gogh! Jetzt probier ichs aber nochmal!“ Gesagt getan, aber er konnte und konnte nichts machen. „Auch van Gogh ist verkannt worden“, resignierte er, „es versteht bald keiner den anderen mehr, es ist halt jeder für sich sehr einsam.“ So blieb er noch lange sitzen und stierte grübelnd auf das Klosettpapier. Dann öffnete er plötzlich das Fenster, um auf andere Gedanken zu kommen. Die kühle Nachtluft tat ihm wohl. Neben dem Bahndamm stand das Schilf mannshoch und das rauschte ganz romantisch gespenstisch, wie der Express so daran vorüberbrauste. „Wie schön habens hier die Leut!“ dachte Schmitz verzweifelt. „Was haben die hier für eine prachtvolle Nacht! Man sollt ein Poem über diese südfranzösischen Herbstnächt verfassen, aber ich bin halt kein Lyriker. Wenn ich zwanzig Jahr jünger wär ja, aber jetzt bin ich schon zu bewusst dazu.“ In Tarascon, der Vaterstadt Tartarins, des französischen Oberbayern, mussten sie 얍 auf den Pariser Express warten, weil aus diesem viele Reisende in ihren Express umsteigen wollten, teils nach Spanien und teils nur nach Nimes . Bald erschien auch der Pariser Express und bald darauf erschien in ihrer Abteiltüre eine Dame und wollte gerade fragen, ob noch was für sie frei wäre, aber Schmitz liess sie gar nicht zu Wort kommen, sondern rief sofort, alle Plätze wären frei! Und er riss ihr direkt den Koffer aus der Hand, verstaute ihn fachmännisch im Gepäcknetz und überliess der Dame höchst beflissen seinen Eckplatz. B

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Sie f baldN ] zuN ] BSetteN ] BGogh,N ] BerzählteN ] BGesagt getan,N ] BmannshochN ] BHerbstnächtN ] BNimesN ] Bfrei!N ] B B

[S][|s|]|S|ie[3] bekam[2] es[4] bald[1] \zu/ gemeint ist: Sète Gogh[!]|,| [sagte] |erzählte| [Er probierte es nocht zweimal,] |Gesagt getan,| mannsho[h]|ch| [H]|H|erbstnächt gemeint ist: Nîmes frei[.]|!|

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 17

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Es dürfte also überflüssig sein, zu bemerken, dass diese Dame sehr gut aussah, das heisst: sie war jung, schlank und dabei doch schön rund, hatte Beine, die an nichts anderes zu denken schienen als an das, und einen seltsam verschleierten Blick, als tät sie gerade das und zwar überaus gern und immer noch nicht genug. Dabei duftete sie mit einer gewissen Zurückhaltung, aber umso raffinierter, vorn und hinten, rauf und runter -- und bald duftete das ganze Abteil bloss mehr nach ihr, trotz der beiden Herren. Sie hatte also das bestimmte Etwas an sich, was man landläufig sex-apeal nennt. Die Dame nickte Schmitz einen freundlichen Dank, jedoch trotzdem einen reservierten, und liess sich auf seinen ehemaligen Eckplatz nieder und zwar in einer derart wollüstigen Art, als hätte sie was mit dem Eckplatz. Das regte den Schmitz natürlich sehr auf. Und auch Kobler war natürlich fasziniert. „Ägypten!“ durchzuckte es ihn plötzlich, als er dahinterkam, dass alles an dieser Frau sehr teuer gewesen sein muss. „Ich hab ja schon immer an die Vorsehung geglaubt!“ durchzuckte es ihn abermals. „Und wenn dieser Schmitz noch so glotzt, gegen mich kommt der --“ Er stockte mitten in seiner Kom-얍bination und wurde ganz blass, denn nun durchzuckte es ihn zum drittenmal und das war direkt zerknirschend. „Ich kann ja kein französisch, also kann ich sie ja gar nicht ansprechen und ohne reden geht doch sowas nicht,“ -- so lallte es in ihm. Mit einer intensiven Wut betrachtete er den glücklichen Schmitz, wie dieser seine Ägypterin siegesgewiss nicht aus den Augen liess -- „jetzt wird er gleich parlieren mit ihr und ich werd dabei sitzen wie ein taubstummer Aff! Solangs halt soviel Sprachen auf der Welt gibt, solang wirds halt auch Dein Paneuropa nicht geben, Du Hund,“ -- so fixierte er grimmig den paneuropäischen Schmitz. Aber die Ägypterin schien sich mit Schmitz nicht einlassen zu wollen, denn sie reagierte in keiner Weise. Plötzlich schien ihr sein stereotypes Lächeln sogar peinlich zu werden -- sie stand rasch auf und ging aufs Klosett. „Eine Vollblutpariserin!“ flüsterte Schmitz hastig und tat sehr begeistert. „Ich kenn das an den Bewegungen!“ (Geh leck mich doch am Arsch! dachte Kobler verstimmt.) „Wie sie vom Klosett kommt, sprich ich sie an!“ fuhr Schmitz fort und kämmte sich rasch. „Sie werden ja leider nicht mit ihr reden können“, fügte er schadenfroh hinzu. Kobler dachte abermals dasselbe. Kaum sass die Vollblutpariserin wieder ihm gegenüber, nahm Schmitz seinen ganzen Charme zusammen und sprach sie an und zwar perfekt französisch -- sie hörte lächelnd zu und erklärte dann leise, sie könne nur äusserst gebrochen französisch. „You speak english?“ fragte Schmitz. „Nein, Allemagne“, sagte die Vollblutpariserin, und da gab es Kobler einen Riesenruck, während Schmitz ganz seltsam unsicher wurde -- „Also gibts doch eine Vorsehung!“ dachte Kobler triumphierend und Schmitz wurde ganz klein und hässlich. B

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gemeint ist: sex-appeal korrigiert aus: seinen

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schönN ] sex-apealN ] BseinerN ] Bfranzösisch,N ] BSolangs f Hund,“N ]

paneuropäischenN ] (GehN ] BArsch!N ] Bverstimmt.)N ] B

französisch\,/ [Warum gibts denn auch] |Solang\s/ [es] halt| soviel Sprachen auf der Welt[, Du \schlampiger/ Paneuropäer“,] [\solang es soviel Sprachen gibt, ist auch Dein Paneuropa {ge }!“/] [|gibt|] |gibt, solang wirds halt auch Dein Paneuropa nicht geben[“], Du Hund,“| [unschuldigen] |paneuropäischen| [“]|(|Geh Arsch![“] verstimmt.\)/

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

„Ich bin zwar in Köln geboren“, sagte Allemagne , „aber ich lebe viel im Ausland. Im Sommer war ich in Biarritz und im Winter 얍 war ich in St. Moritz.“ „Die absolute Ägypterin!“ dachte Kobler und Schmitz riss sich wieder zusammen: „Köln ist eine herrliche Stadt!“ rief er. „Eine uralte Stadt!“ „Oh wir haben aber auch schöne neue Viertel!“ verteidigte die Ägypterin ihre Vaterstadt, und dies berührte Schmitz sehr sympathisch, denn er war auch der Ansicht, dass dumme Frauen eine akrobatische Sinnlichkeit besässen. Und er liebte ja an den Frauen in erster Linie die leibhaftige Sinnlichkeit, besonders seit er mal ein seelisches Verhältnis hatte. Nämlich das war eine recht unglückliche Liebe, die sehr metaphysisch begann, aber mit Urkundenfälschungen seitens der Frau endete. Er schonte die Frau bis zum letzten Augenblick, als sie aber eine Apanage von ihm haben wollte, schonte er sie nichtmehr, und als ihr dann die Bewährungsfrist versagt wurde, sagte er: „Ich bin halt ein Kind der Nacht!“ B

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Es ist also nur verständlich, dass er jeder derartigen Erschütterung peinlichst aus dem Wege ging, beileibe nicht aus Bequemlichkeit, sondern infolge gesteigerter Sensibilität und einer sexuellen Neurasthenie. Er wollte nichts anderes als das Bett und ertappte sich daher oft dabei, wie er es gerade bedauert, dass Frauen auch Menschen sind und sogar sogenannte Seelen haben -- trotzdem konnte er das Bett nur durch seinen Geist erreichen, entweder unmittelbar oder indem er den Geist zuerst in Geld umgesetzt hatte, denn er hatte eben kein sex-apeal . Mit andern Worten: er gelangte ins Bett nur durch seinen Geist, und sowas ist natürlich direkt tragisch. Auch jetzt versuchte er dieser Rheinländerin mit seinem Intellekt zu imponieren: er zählte ihr seine zwanzig speziellen Dufreunde auf und das waren lauter prominente Namen, einer 얍 prominenter wie der andere, und sie fing schon an, ein ganz kleinlautes Gesicht zu schneiden -- „Jetzt wirds aber höchste Zeit!“ dachte Kobler und unterbrach Schmitz brutal: „Kennen Sie Marseille?“ fuhr er seine Ägypterin an, die ihn desshalb ganz überrascht betrachtete, und als sie ihn eingehender überblickt hatte, schien er ihr nicht zu missfallen -- „Nein“, lächelte sie und das ermunterte den Kobler sehr. „Marseille sollten Sie sich aber unbedingt ansehen, Gnädigste!“ ereiferte er sich. „Es muss ja dort toll zugehen“, meinte die Gnädigste. „Das ist noch gar nichts, aber ich hab dort in einem verrufenen Hause Filme gesehen, die eigentlich verboten gehörten Gnädigste!“ „Erzählen Sie bitte!“ sagte die Gnädigste hastig und sah ihn dann still an, während sie Schmitz samt seinen prominenten Bekannten links liegen liess. Und Kobler erzählte: zuerst wurden er und Schmitz in den dritten Stock geführt, in ein geräumiges Zimmer, in dem eine weisse Leinwand aufgespannt war. Es stanB

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AllemagneN ] metaphysischN ] BErN ] BwieN ] BgeradeN ] Bbedauert,N ] Bsex-apealN ] BerN ] BRheinländerinN ] Bmit f IntellektN ] BfuhrN ] Bin demN ] B B

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[sie] |Allemagne| [romantisch-melancholis ch] |metaphysisch| E[s]|r| [dass] |wie| \gerade/ bedauert[x], gemeint ist: sex-appeal \er/ [r]|R|hein[ischen Ägypterin]|länderin| [unter allen Umständen] |mit f Intellekt| korrigiert aus: führ [an dessen Wand] |in dem|

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Fragmentarische Fassung

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

den da zirka zehn Stühle, sonst nichts, und man liess ihn und Schmitz mutterseelenallein und tröstete sie damit, dass der Operateur jeden Augenblick erscheinen müsse und dann ginge es sofort los. Aber es verging eine geraume Zeit, und es kam noch immer keine Seele, so, dass es ihnen schon unheimlich wurde, weil man ja nicht wissen kam, ob man nicht etwa umgebracht werden soll, gelustmordet oder usw. Hier wurde aber Kobler von Schmitz energisch unterbrochen, denn es missfiel ihm im höchsten Grade, dass diese Rheinländerin, dem Kobler seine schweinischen Filme seinen prominenten Freunderln vorzog -- er hatte schon eine ganze Weile gehässig Koblers hochmoderne Socken betrachtet, und nun schlug sein soziales Gewissen elementar durch. Er betonte jedes Wort, als er ihr nun auseinandersetzte, dass in keinem offiziellen Bordell der Welt jemals etwas Unrechtes vorkommen könnte, weil die offiziellen Bordellunternehmer sich einer Gesetzesübertretung nimmermehr aussetzen würden , weil sie 얍 es eben nicht nötig hätten, da sie ja die Prostituierten in einer derart verbrecherisch schamlosen Weise ausbeuteten, dass sie auch im Rahmen der Gesetze einen glatten Riesengewinn ausweisen könnten. Und dann wandte er sich an Kobler und fragte ihn gereizt, ob er sich denn nicht daran erinnern könne, dass im ersten Stock zufällig eine Türe offenstand, durch die man den zuchthausmässig einfachen gemeinsamen Speisesaal der Prostituierten sehen konnte, und ob er es denn schon vergessen hätte, wie furchtbar es im zweiten Stock nach Medikamenten gestunken hätte, trotz des aufdringlichen Parfüms, denn dort sei das Zimmer des untersuchenden Arztes gewesen. Aber nun liess ihn die Gnädigste nicht weiter reden, denn das sei nämlich furchtbar desillusionierend, protestierte sie. Worauf Kobler sofort sagte: „Also endlich erschien der Operateur und dann gings endlich los“ -- aber Schmitz gab sich noch nicht geschlagen und er bemerkte bissig, das hätte solange gedauert mit dem Operateur, weil nämlich dieser Operateur gelähmt gewesen sei, zwar nur die Beine und nicht der Oberkörper, aber er hätte halt von zwei Männern die Treppen herauf getragen werden müssen -- „Pfui!“ rief die Gnädigste. „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz korrekt und verliess wütend das Abteil. „Woher haben nur diese Deutschen das Geld als verarmte Nation so zum Vergnügen herumzufahren?“ fragte er sich verzweifelt vor Wut. Er ging im Gang auf und ab. „Hab ich das notwendig, dass ich jetzt so zerknirscht bin?“ grübelte er zerknirscht. „Ja, ich hab das notwendig! Denn was ist der Grund zur grössten Wut? Wenn man ein lebendes Wesen an der Ausübung des Geschlechtsverkehrs hindert, das ist halt eine Urwut!“ B

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얍 So ging er noch oft auf und ab -- plötzlich überraschte er sich dabei, dass er stehengeblieben war und verstohlen in das Abteil glotzte, in welchem sich seine Vollblutpariserin den Inhalt einiger pornographischer Filme erzählen liess, die natürlich immer auf dasselbe Motiv hinausgingen, ob sie nun auch in einem historischen, kriminellen oder zeitlosen Rahmen spielten. „Die gehört schon jenem, sie hängt ja di-

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nimmermehr f würdenN ] ebenN ] BjaN ] BverbrecherischN ] Bweil f gelähmtN ] Bnotwendig f bin?“N ] B B

nimmerme[h]|h|r aussetz[an]|en| [würden] |würden| [\halt/] |eben| \ja/ \verbrecherisch/ weil1 dieser3 Operateur4 nämlich2 gelähmt5 notwendig[?“]|,| [\dass ich jetzt so zerknirscht bin/] |dass f bin?“|

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

rekt an seinen Lippen“, dachte er. „Er ist ja auch zwanzig Jahr jünger als ich, was soll ich also machen? Die ganze Nacht kann ich wohl nicht da heraussenstehen , ich werd mich also wieder hineinsetzen müssen, die beiden da drinnen sind ja zusammen noch nicht so alt, wie ich allein, die haben noch viel vor sich, was ich hinter mir hab, Jugend kennt halt keine Tugend“ -- und wie er so diese beiden Menschen, die sich gefielen, durch die Glastür beobachtete, kamen sie ihm allmählich immer entfernter vor, als lebten sie hundert Jahre später, und mit dieser Distanzierung wandelte sich auch allmählich seine Urwut in ahnungsvolle Erkenntnis ewiger Gesetze, natürlich nicht zuletzt auch infolge seines theoretischen Verständnisses der ganzen geschichtlichen Bewegung. „Die 얍 beiden jungen Leut da drin bestehen halt auch nur aus einzelnen Zellen“, dachte er, „aus Zellen, die sich halt schon zu einem grandios organisierten Zellenstaat durchgerungen haben, in dem das Zellenindividuum schon aufgehört hat -- und das steht halt jetzt auch unseren menschlichen Staaten bevor , siehe Entwicklung der ebenfalls staatenbildenden Termiten, die akkurat um hundert Millionen Jahr älter sind, als wir, wir sind halt grad erst geboren als wir“ -- so dachte er und plötzlich musste er stark gähnen. „Jetzt wirds aber höchste Zeit, dass ich mich wieder setz!“ fuhr er fort. Er betrat also wieder das Abteil in einer väterlich verständnisvollen Stimmung, und kaum hatte er sich gesetzt, hörte er den weiblichen Zellenstaat folgendes sagen: „Ja ich fahr auch nach Barcelona! Nein das ist aber interessant! Ja ich bin noch gar nicht orientiert, wo man dort wohnen kann! Nein Paris ist das Schönste und was mir besonders dort gefällt ist das, dass man sich dort elegant kleiden kann, was man bei uns in Duisburg ja kaum mehr kann, weil die Arbeiter so verhetzt sind und wenn man elegant über die Strasse geht, schauen sie einem fanatisch nach!“ „Da haben Sie schon sehr recht! “ sagte Kobler. „Wer? Die Arbeiter?“ fragte Schmitz. „Nein, die Gnädigste“, sagte Kobler. (Hör ich recht? dachte Schmitz.) „Ja die Juden machen die Arbeiter ganz gehässig“ , liess sich der weibliche Zellenstaat wieder vernehmen. „Nein ich kann die Juden nicht leiden, sie sind mir zu widerlich sinnlich, überhaupt stecken die Juden überall drinnen! Ja es ist sehr schad, dass wir kein 얍 Militär mehr haben, besonders für diese halbwüchsigen Arbeiter und das Pack! Nein also diese Linksparteien verwerf ich radikal, weil sie immer wieder das Vaterland verraten! Ja ich war noch ein Kind als sie den Erzberger erschossen haben! Nein und das hat mich schon damals sehr gefreut! Ja!“ BN

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2 2 4–5 13 13 18 21 22 22 24 24 25 28 28 28 29

] heraussenstehenN ] Bhab, f Tugend“N ] BhatN ] Bjetzt f bevorN ] BverständnisvollenN ] BNeinN ] BdortN ] BdortN ] BStrasseN ] BfanatischN ] Brecht!N ] B(HörN ] Brecht?N ] BSchmitz.)N ] Bgehässig“N ] BN B

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[so] heraussen[ s]|s|tehen hab[,]|,| [Jugend f Tugend“] |Jugend f Tugend“| hat[te] jetzt1 unseren3 menschlichen4 Staaten5 auch2 bevor6 korrigiert aus: verständnissvollen [Ja] |Nein| \dort/ \dort/ [S]|S|trasse [neidisch] |fanatisch| recht[?]|!| [„]|(|Hör recht?[“] Schmitz.\)/ [fanatisch“] |gehässig“|

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Fragmentarische Fassung

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

„Ich bin auch sehr gegen jede Verständigungspolitik“, antwortete Kobler. Aber nun konnte sich Schmitz nichtmehr zurückhalten. „Was?“ unterbrach er ihn und sah ihn stechend an. „Ja“, lächelte Kobler. „Nein!“ brüllte Schmitz und verliess entrüstet das Abteil. Aber diesmal lief ihm Kobler nach. „Sie müssen mich doch verstehen!“ sagte er. „Ich versteh Sie nicht!“ brüllte Schmitz und zitterte direkt. „Sie sind mir einer! A das ist empörend! Na das ist a Affenschand! Wie könnens denn so daherreden, wo wir jetzt drei Tag lang eigentlich nur über Paneuropa geredet haben?!“ „Im Prinzip haben Sie natürlich recht!“ beschwichtigte ihn Kobler. „Aber ich muss doch so reden, weil das doch meine reiche Ägypterin ist, ihr Vater ist mehrfacher Aufsichtsrat und Grossindustrieller, das hab ich schon herausbekommen, sie heisst Rigmor Erichsen und wohnt in Duisburg -- Ägypten ist natürlich nur ein Symbol! Und was geht denn übrigens Ihr Paneuropa die Weiber an!?“ „Sehr viel, Herr Kobler! Denken Sie nur mal an den Krieg und die Rolle der Mütter im Krieg! Haben Sie denn schon mal über die Frauenfrage nachgedacht?“ „Die Frauenfrage interessiert mich nicht, mich interessiert bloss die Frau!“ sagte Kobler ungeduldig und wurde dann sehr ernst. „Übrigens Herr Schmitz“, fuhr er fort, „möcht ich Sie nur bitten, mich jetzt ruhig emporarbeiten zu lassen, ich hab mir schon einen Plan zurechtgelegt: ich werd diese Dame da drinnen in Barcelona kompromittieren, begleit sie dann nach Duisburg, kompromittier sie dort noch einmal und dann heirat ich ein in Papas 얍 Firma. Und ob diese Dame da drinnen für Paneuropa ist oder nicht, das kann doch Paneuropa ganz wurscht sein!“ „Auf das reden sich alle naus!“ sagte Schmitz und liess ihn stehen. B

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Sie fuhren bereits durch Montpellier und Schmitz stand noch immer draussen am Gang, während sich Kobler und Rigmor noch immer über die marseiller Filme unterhielten und sich dabei menschlich näher kamen. „Und wegen so was ist der arme Alois gefallen!“ dachte Schmitz deprimiert. „Was tät es schon schaden, wenn man diesen Kobler samt seiner Rigmor erschiessen tät? Nichts tät das schaden, es tät wahrscheinlich nur was nützen!“ „Armer Alois!“ seufzte er. „Ist es Dir armer toter Alois schon aufgefallen, dass der Pazifismus infolge der grossen russischen Revolution plötzlich wieder ein Problem geworden ist? Ich meine, dass der Bolschewismus uns, die wir uns die geistige Schicht nennen, zwingt, unsere Stellungnahme zum Pazifismus einer gründlichen Revision zu unterziehen -- denn hätts keinen Lenin gegeben, wär doch der Pazifismus für uns geistige Menschen kein Problem mehr. Er ist es aber nun plötzlich wieder geworden infolge der Idee des revolutionären Krieges -- Meiner Seel, ich schwank umher, es gibt halt schon sehr schwierige Probleme auf dieser Malefizwelt! Ich sympathisier, ich muss halt immer wieder auf mich persönlich zurückkommen, mit Paneuropa , obwohl ich ja weiss, dass die Sowjets insofern recht haben, dass die BN

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Ihr PaneuropaN ] ] BN] BN] BhaltN ] BPaneuropaN ] BdieN ] B

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[diese Politik] [|Paneurop|] |Ihr Paneuropa| [(Seite 13)] [immer] [\(Grab{anlage} in Cap {Nad})/] \halt/ Paneur\o/pa [s]|d|ie

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 25

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

paneuropäische Idee jeden Tag aufs neue verfälscht wird von unserer Bourgoisie , wie halt jede Idee -- und ich weiss auch, dass wir hier bloss eine Scheinkultur haben, aber ich freu mich halt über den Boticelli ! Wenn die Sowjets nur nicht so puritanisch wären -- Meiner Seel, ich bin aus purem Pessimismus manchmal direkt reaktionär! 얍 Skeptisch sein ist halt eine Selbstqual -- aber was hab ich denn auf der Welt noch zu suchen, wenn mal die Skepsis verboten ist?“ Nun hielt der Express überaus plötzlich auf freier Strecke und Schmitz sah, dass er so gebremst hat, weil das Signal geschlossen war. B

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얍 Aber noch vor Spanien versöhnte sich Schmitz abermals mit den beiden jungen Menschen, teils weil er draussen im Gang immer schläfriger wurde, teils weil er halt schon überaus gerne entsagungsvoll tat. Also konnte er sich nun wieder schön weich setzen und schlummern, jedoch leider nur bis zur spanischen Grenze. Diese hiess Port Bou und hier musste man abermals umsteigen und zwar mitten in der Nacht -- -- heute hat Kobler nur eine verschlafene Erinnerung an auffallend gekleidete Gendarmen und an einige höfliche Agenten der BExposicionN de Barcelona 1929, die ihm Prospekte und Kataloge ganz umsonst in die Hand drückten und hiebei auf gut deutsch bemerkten, dass die angegebenen Preise natürlich keine Gültigkeit hätten. Schmitz jedoch erinnert sich noch genau, dass der spanische Anschlusszug nur erster und dritter Klasse hatte, da er im Gegensatz zu Kobler, der nachzahlen musste, weil Rigmor natürlich Erster fuhr, als Protest gegen diesen staatlichen Nepp allein in der Dritten fuhr und hiebei unhöfliche Gedanken über die spanischen Habsburger hatte. \Textverlust\

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ehemaliger Ölreisender aus Prag. Auch zwei Portiers verbeugten sich vor ihnen. „Die Senorita hat zwei Rohrplattenkoffer, drei grössere und vier kleinere Handkoffer“, sagte der Dolmetscher zu den beiden Portiers auf spanisch. „Der ältere Caballero ist sicher ein Redakteur und der jüngere Caballero ist entweder der Sohn reicher Eltern oder ein Nebbich. Entweder zahlt er alles oder nichts.“ Hierauf stritten sich noch die beiden Portiers miteinander, ob sie dem Caballero Schmitz acht oder zwölf Peseten abknöpfen sollten -- sie einigten sich auf zehn, denn eigentlich war das ja kein Zimmer, sondern eine Kammer ohne Fenster, ohne Schrank, ohne Stuhl, nur mit einem eisernen Bett und einem eisernen Waschtisch. Daneben war Koblers Zimmer das absolute Apartement . Es hatte sogar zwei Fenster, durch die man die Weltausstellung von hinten sehen konnte. Aber Kobler BN

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1 3 4 4 4–5 7 8 10 17 31 31 35 35

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BourgoisieN ] BoticelliN ] BpuremN ] BmanchmalN ] Breaktionär!N ] BN] BN] BN] BExposicionN ] BN] BCaballeroN ] BDanebenN ] BApartementN ] B B

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gemeint ist: Bourgeoisie gemeint ist: Botticelli

\purem/ man[vh]|ch|mal reaktionär\!/ gestrichen: \S. 12/ [Und nun dachte er an den Tod.] [Endlich in Barcelona] gemeint ist: Exposición [für] \Caballero/ Da[gegen]|neben| gemeint ist: Appartement

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

sah kaum hin, sondern konzentrierte sich ganz auf sich, er zog sich ganz um, wusch und rasierte sich. „Sie gehört schon mir“, dachte er, während er sich die Zähne putzte. „Das ist jetzt nurmehr eine Frage der Gelegenheit, wo und wann ich sie kompromittier.“ Er war seiner Sache schon sehr sicher. Bereits in Montpellier hatte er sich ja einen Plan zurechtgelegt, kalt und hart, jede Möglichkeit erwägend und vor keinem sentimentalen Hindernis zurückschreckend, einen fast anatomisch genauen Plan zur raschen Niederwerfung Ägyptens. „Was hat doch dieser Schmitz in Milano gesagt?“ fiel es ihm ein, als er sich kämmte. „Ihr junge Generation habt keine Seele, hat er gesagt. Quatsch! Was ist das schon: Seele?“ Er knöpfte sich die Hosen zu. „Man muss immer nur ehrlich sein!“ fuhr er fort. „Ehrlich gegen sich selbst, ich weiss ja, dass ich nicht gerade fein bin, denn ich bin halt ehrlich. Ich verschleier mich nicht vor mir, ich kanns schon ertragen, die Dinge so zu sehen, wie sie halt sind!“ B

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\Textverlust\ „Unter dem Schutze SM des Königs von Spanien und der Mitwirkung der Kgl. spanischen Regierung, organisiert die Stadt Barcelona eine grosse Weltausstellung mit einem Kostenaufwand von hundert Millionen Goldmark.“ (Hundert Millionen! dachte Schmitz. Also das ist das nicht wert!) Rigmor las weiter: „Barcelona ist die grösste und bedeutendste Handels- und Fabrikstadt Spaniens; die Zahl ihrer Einwohner beträgt eine Million und ist dieselbe somit die grösste Stadt des Mittelmeeres.“ „Das ganze ist halt eine politische Demonstration“, unterbrach sie Schmitz, „damit wirs sehen, dass Spanien aus seiner Lethargie erwacht.“ Rigmor las weiter: „Barcelona will durch dieses grossartige Unternehmen der Welt den Aufschwung der Stadt und des Landes zeigen. Zweifelsohne dürfte nach Beendigung des Weltkrieges von keinem Lande eine in so grosszügiger Weise angelegte Ausstellung organisiert worden sein, wozu sich die Stadt Barcelona veranlasst gefühlt hat, von dem Wunsche beseelt, sich die vielseitigen und dauernden Fortschritte der Neuzeit anzueignen.“ „ Voilà !“ sagte Schmitz. Zuerst betraten sie den Autopalast, in dem es nur Autos gab. Vor einem Kabriolett mit Notsitz musste Kobler plötzlich an den Herrn Portschinger aus Rosenheim denken -- „und so ist es auch mit dieser ganzen Politik“, dachte er, „der eine verkauft dem andern sein Kabriolett, Deutschland Frankreich Spanien England und was weiss ich -- alle kaufen sich gegenseitig ihre Kabrioletts ab. Ja wenn das alles streng reell vor sich ging, dann wär das ein ideales Paneuropa, aber zurzeit werden wir Deutschen von den übrigen Nationen bloss betrogen, genau so, wie ich den Portschinger betrogen hab. In dieser Weise lässt sich Paneuropa nicht realisieren. Das ist kein richtiger Geist von Locarno!“ Und im Palast des Kgl. spanischen Kriegsministeriums dachte Kobler weiter: „Wenn halt Deutschland auch noch eine solche Armee hätt mit solchen Kanonen Tanks und U-Bootgeschwadern, dann könnten wir freilich leicht unsere alte VorB

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wo f ichN ] ] Bhundert MillionenN ] B(Hundert Millionen!N ] BAlsoN ] BN] Bwert!)N ] Bgrösste StadtN ] BViolàN ] BDeutschland f SpanienN ] B

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[dass ich] [|{ }|] |wo f ich| [\–/] [100 000 000] |hundert Millionen| [“]|(|Hundert Millionen![“] [„]Also [hier] wert![“]|)| korrigiert aus: grösste Stadt Viol[a]|à| Deutschland[,] Frankreich[,] Spanien[,]

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Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

machtstellung zu-얍rückerobern und dann könnten wir Deutsche leicht der ganzen Welt unsere alten Kabrioletts verkaufen, à la Portschinger! Das wär ja entschieden das Günstigste, aber so ohne Waffen gehört das halt leider in das Reich der Utopie. Am End hat halt der Schmitz doch wahrscheinlich recht mit seiner paneuropäischen Idee!“ Und dann betraten sie den Flugzeugpalast, in dem es nur Flugzeuge gab. Dann den Seidenpalast, in dem es nur Seide gab, was Rigmor sehr angriff. Und dann auch den italienischen Palast, in dem es eigentlich nur den Mussolini gab. Hierauf den rumänischen, den schwedischen und hinter dem Stadion den Meridionalpalast, in dem es allerhand gab. Und dann betraten sie den riesigen spanischen Nationalpalast, in dem es eigentlich nichts gab -- nur einen leeren Saal für zwanzig-\TextverB

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lust\

Der Missionspalast war sehr interessant, nämlich das war eine original vatikanische Ausstellung. Man musste extra Eintritt zahlen , aber ausserdem wurde man auch noch auf Schritt und Tritt in sinniger Weise angebettelt , wie dies halt bei allen Vertretern des Jenseits üblich ist. Aber man konnte auch was sehen für sein Geld, nämlich was die Missionäre von den armen Primitiven zusammengestohlen und herausgeschwindelt haben ad maiorem bürgerlicher Produktionsweise gloriam. Nach dieser heiligen Schau fuhren sie mit einem Autobus nach dem Restaurant 얍 Miramare auf dem Mont Juich mit prachtvoller Aussicht auf Stadt und Meer. Das war ein sehr vornehmes Etablissement und Rigmor schien sich wie zuhause zu fühlen. Schmitz dagegen schien es peinlich, dass ihm gleich vier Kellner den Stuhl unter den Hintern schieben wollten, und Kobler wurde direkt blass, als er die Preise auf der Speisekarte erblickte. „lm Katalog steht“, sagte Rigmor, „dass nach der Legende hier jener Ort gewesen sein soll, wohin Satan den Herrn geführt hatte, als er ihn mit den Herrlichkeiten der Erde verführen wollte.“ Jedoch Kobler gab ihr keine Antwort, sondern dachte etwas sehr Unhöfliches, und Schmitz erriet, was er dachte, und sagte bloss: „Bestellen Sie was Sie wollen!“ B

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In diesem himmlischen Etablissement liessen sich ausser ihnen noch etwa zwölf vornehme Gäste neppen, denn es war ja auch zu schön. Am Horizont grüssten die Berge der Gralsburg herüber und links unten grüsste aus dem Trubel der Grossstadt die Säule des Kolumbus empor -- und wenn man gerade Lust hatte, konnte man auch zusehen, wie emsig im Hafen gearbeitet wird. Und alle diese arbeitenden Menschen, tausend und abertausend, wurden von hier oben gesehen, so winzig, als wär man schon der liebe Gott persönlich. Als es dämmerte wollte Rigmor unter allen Umständen mal mit der Achterbahn fahren. Also wandten sich die drei Herrschaften dem Vergnügungspark zu, sie schritten durch einen lachenden Park, den die Kunst der Gärtner, begünstigt durch das milde Klima hatte entstehen lassen. Rasch wurde es Nacht. Und durch die fast exotischen Büsche sahen die drei Herrschaften in der Ferne vor dem Nationalpalast die 2 10 14 15 17 17–18 20 22

à laN ] spanischenN ] BzahlenN ] BangebetteltN ] BN] Bund herausgeschwindeltN ] BMont JuichN ] BihmN ] B B

[System] |à la| \spanischen/ [be]zahlen angebe[t]|tt|elt [alles] [, geraubt und \heraus/geschwindelt] |und herausgeschwindelt| gemeint ist: Montjuïc i[n]|hm|

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 31

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

herrlichen Wasserspiele und das waren nun tatsächlich Fortschritte der Neuzeit. Vor den Toren der Weltausstellung stand das Volk, das sich den Eintritt nicht zahlen konnte, und sah von hier aus diesen Fortschritten zu, aber es wurde immer wieder von der Polizei vertrieben, weil es den Autos im Wege stand. BN

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\Textverlust\ Die Stierkampfarena hatte riesige Dimensionen und sie war noch grösser, wenn man bedenkt, dass allein Barcelona drei solch gigantische Arenas besitzt. Trotzdem war alles ausverkauft, es dürften ungefähr zwanzigtausend Menschen dabei gewesen sein, und Schmitz erhielt nurmehr im Schleichhandel drei Karten im Schatten. B

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Drinnen in der Arena musizierte eine starke Kapelle, Walzer, Märsche und Potpouris -- und um Punkt sechzehn Uhr tat sich das Portal auf und nun begann der feierliche Einzug der Herren Stierkämpfer. „Sie werden da etwas prachtvoll historisches erleben“, erinnerte sich Kobler an die Worte des Renaissancemenschen vor Verona. Und das war nun auch ein farbenprächtiges Bild. An der Spitze des Zuges ritten zwei Herolde und liessen ihre feurigen Rappen tänzeln, was den Zuschauern sehr gefiel, denn sie taten begeistert. Die Herren Stierkämpfer traten vor das Präsidium, das droben auf der zweiten Galerie trohnte , und begrüssten es streng zeremoniell . Hierauf verliessen sie wieder die Arena, während die beiden Herolde abermals vor das Präsidium trabbten und es um eine grosse Gnade zu bitten schienen. Einen Augenblick war alles still, dann erhob sich der Präsident und warf den Herolden ein winziges Ding zu, der eine fing es auf, hielt es hoch, und nun gallopierten die beiden nach der gegenüberliegenden Seite, während die spanischen Zuschauer wieder ausser sich gerieten. Dort übergaben sie es einem robusten Herren und nun stellte es sich heraus, dass es der Schlüssel zum Stierzwinger war. Der Herr Präsident hatte die Erlaubnis erteilt, sechs Stiere und einige Pferde totzuquälen. Über dem Zwinger sassen drei Herren, zwei Trompeter und ein Trommler. Mit ihren Instrumenten gaben sie das letzte Zeichen zum Beginn und leiteten auch späterhin die offiziellen Phasen der Kämpfe und zwar immer mit demselben Akkord. B

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] TrotzdemN ] BzwanzigtausendN ] BPotpourisN ] BRenaissancemenschenN ] BtatenN ] BDie f dasN ]

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trohnteN ] und f zeremoniellN ] BsieN ] BdasN ] BtrabbtenN ] BHeroldenN ] BN] BN] BoffiziellenN ] Bder KämpfeN ] BAkkord.N ] B

[dauernde] [Fast jeden Tag gibt es Stierkämpfe und] [t]|T|rotzdem [dreiss]|zwanz|igtausend gemeint ist: Potpourris Rena\i/ssance[äe s]|mens|chen [gröhlten] |taten| [Aber das Gröhlen wuchs zum Orkan, als nun die] |Die| Herren1 Stierkämpfer2 vor4 das5 Präsidium6 traten3, das7 gemeint ist: thronte und1 [es] streng4 zeremoniell5 begrüssten2 \es3/ [die Herren Stierkämpfer] |sie| d[em]|as| [erschienen] |trabbten| Her\o/lden [Herren] [des Kampfes] [einzelnen] |offiziellen| de[s]|r| K[a]|ä|mpfe[s] Akkord[,]|.| [-- schwach und doch durchdringend.]

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Fragmentarische Fassung



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K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

Schmitz war empört. „Das ist ja der reinste Lustmord!” entrüstete er sich. „Diese Spanier begeilen sich ja an dem Todeskampfe eines edlen nützlichen Tieres! Höchste Zeit, dass ich meinen Artikel gegen die Vivisektion schreib! Recht geschiehts uns, dass wir den Weltkrieg gehabt haben, was sind wir doch für Bestien! Na das ist ja widerlich, da sollt aber der Völkerbund einschreiten!“ Aber auf Kobler wirkte der Stierkampf wieder ganz anders. „So ein Torero ist ein sehr angesehener Mann und ein rentabler Beruf“, dachte er. „Es ist zwar natürlich eine Schweinerei, aber er wird ja sogar vom König empfangen und alle Weiber laufen ihm nach!“ Und auf Rigmor wirkte der Stierkampf wieder anders: sie hatte eine Angst, dass einem der Herrn Stierkämpfer was zustossen könnte -- sie konnte kaum hinsehen, als wär sie auch ein armes verfolgtes Tier, immer öfter sah sie infolgedessen den Kobler an, um nicht hinabsehen zu müssen, und kam dabei auf ganz andere Gedanken. „Möchtest Du, dass ich Torero wär?“ fragte er. „Nein!“ rief sie ängstlich, aber dann lächelte sie plötzlich graziös und schmiegte sich noch mehr an ihn, denn es fiel ihr was Ungehöriges ein. B

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얍 Am nächsten Morgen sass Schmitz bereits um sieben Uhr beim BMorgencafèN und während er frühstückte schrieb er BeinenN Artikel BgegenN die Vivisektion und einen anderen Artikel für Paneuropa -- es sah aber aus, als würde er an etwas ganz anderes denken, während er schrieb, so gross war seine Routine. Als Kobler ihm „Guten Morgen!“ wünschte, hatte er den zweiten Artikel noch nicht ganz beendet. „Ich arbeit gerad an der Völkerverständigung!“ begrüsste ihn Schmitz. „Ich bin gleich fertig damit!“ \Textverlust\

25

„Lassen Sie sich nur ja nicht aufhalten“, sagte Kobler und setzte sich. Plötzlich sagte er so nebenbei: „Wenns nur nach der Vernunft ging, dann könnt man sich ja leicht verständigen, aber es spielen da noch einige Gefühlsmomente eine Rolle und zwar eine entscheidende Rolle.“ Schmitz sah ihn überrascht an. (Wo hat der das her? dachte er. Ich hab ihn anscheinend unterschätzt.) Und laut fügte er hinzu: „Natürlich! Wir Verstandesmenschen sind bereits alle für die Verständigung, jetzt wird die Agitation in die grosse Masse der Gefühlsmenschen hineingetragen -- das sind jene, die den historischen Prozess weder analysieren noch kapieren können, weil sie halt nicht denken können. Auf diese jene kommts an! Da habens natürlich recht, lieber Herr!“ „Trotzdem!“ antwortete Kobler. B

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1 9 10 11 11 17 18 18 25–26 30 30 30 30 30

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Lustmord!”N ] ] BN] BTier, immer N ] BinfolgedessenN ] BMorgencafèN ] BeinenN ] BgegenN ] BsagteN ] B(WoN ] BderN ] Bher?N ] BIchN ] Bunterschätzt.)N ] B

BN

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korrigiert aus: „Lust-[mord!”] [nervöse] [schmiegte sich an Kobler,] Tier[.]|,| [I]|i|mmer [\infolgedessen/] |infolgedessen| Morgencaf[e]|è| [s]einen [über] |gegen| [meinte] |sagte| [„]|(|Wo[her] \d/er \her/?[“] [“]Ich unterschätzt.[“]|) |

445

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 36

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

„Wieso?“ fragte ihn Schmitz höchst interessiert. „Wenn ich jetzt an Polen denk, speziell an den polnischen Korridor“, meinte Kobler düster, „so kann ich halt kein Friedensgefühl aufbringen, da streikt das Herz, obwohl ich mit dem Verstand absolut nichts gegen Paneuropa hätt. So aber jetzt reden wir von was Interessanterem!“ -- und er teilte Schmitz mit, dass er die soeben verflossene Nacht mit Rigmor verbracht hätte. „Sie können mir unberufen gratulieren!“ sagte er und sah recht boshaft aus. „Ich hab halt die richtige Taktik gehabt! Sie ist sehr temperamentvoll!“ „Also das hab ich bis zu mir hinübergehört“, winkte Schmitz ab. „Aber über mir waren welche, die waren anscheinend noch temperamentvoller, weil mir der ganze Mörtel vom Plafond ins Gefriss gefallen ist. Der Dolmetscher sagt mir grad, das sei ein Herr von Stingl und eine italienische Komtess. Aber auf das Körperliche allein kommts ja bekanntlich nicht an, hat sie sich denn überhaupt in Sie ernstlich verliebt? Ich mein das mit der Seele.“ „Ich bin meiner Sache sicher!“ triumphierte Kobler. „Herr Alfons Kobler“, sagte Schmitz und betonte feierlich jede Silbe, „glaubens 얍 mir, das Weib ist halt doch noch eine Sphinx, trotz der Psychoanalyse!“ Und dann fügte er rasch hinzu: „Jetzt müssens mich aber entschuldigen, ich hab nur noch rasch was fürs Feuilleton zu tun!“ Er schrieb: Die kleine Rigmor läuft mir nach Eine humoristische Schnurre von unserem Sonderkorespondenten R. Schmitz (Barcelona) Motto: Und grüss mich nicht unter den Linden! B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 37

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얍 Der Sonderkorrespondent schrieb gerade: „nur Interesses halber folgte ich meiner rassigen Partnerin, denn ich bin mit Leib BundN Seele Literat“ -- da betrat der Dolmetscher rasch das Lokal und bat Kobler, er möge sofort ins Konversationszimmer kommen, denn dort würde die Senorita auf ihn warten. „Warum denn dort, warum nicht hier?“ fragte Kobler und war sehr überrascht. „Woher soll ich das wissen?“ meinte der Dolmetscher. „Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Senorita sehr nervös ist.“ „Jetzt kommt die Sphinx“, dachte Schmitz und Kobler tat ihm plötzlich leid, trotz der geweissagten Sphinx. Im Konversationszimmer ging Rigmor auf und ab, sie war tatsächlich sehr nervös und ihr Rock hatte eine interessante unregelmässige Linie. Als sie Kobler erblickte, ging sie rasch auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Stirne. „Was soll das?“ dachte Kobler und wurde direkt unsicher. „Wie gehts?“ fragte er sie mechanisch. „Sag ob Du mir verzeihen kannst?“ fragte sie und sah dabei sehr geschmerzt aus. „BEs wird ihr doch nichts fehlen?“N dachte er misstrauisch und dann fragte er sie: „Was soll ich Dir denn verzeihen, Kind?“ -- aber da fing sie an zu weinen Bund diesN tat sie vor 2 11 11 16 17 23 27 38–39 40

polnischenN ] PlafondN ] BdasN ] BfeierlichN ] BN] BR.N ] BundN ] BEs f fehlen?“N ] Bund diesN ] B B

p[lo]|ol|nischen Plafon\d/ korrigiert aus: dass [väterlich] [|feierlich|] |feierlich| [immer] [Rudolf] |R.| korrigiert aus: ubd [Sie] |Es| wird \ihr/ doch [keinen Tripper haben!“] |nichts fehlen?“| korrigiert aus: undvdies

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 38

Fragmentarische Fassung

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Kobler war ganz weg. Da sah er sich nun, seine Schlacht verlieren und zwar eine Entscheidungsschlacht. Die U. S. A. kamen über das Meer und schlugen ihn, schlugen ihn vernichtend mit ihrer rohen Übermacht, trotz seiner überlegenen Taktik und kongenialen Strategie. „Das ist gar kein Kunststück!“ dachte er wütend, da erschienen U. S. A. persönlich im Konversationszimmer. Das war ein Herr mit noch breiteren Schultern und Kobler lächelte bloss sauer, obwohl er Rigmor gerade grob antworten wollte. „Halloh Rigmor!“ rief der Herr und umarmte sie in seiner albernen amerikanischen Art. „Der Professor sagt, ich bin gesund und kann absolut künstlerisch malen, wir fahren noch heut nach Sevilla und dann nach Athen! Wer ist dieser Mister?“ B

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2 8 8–9 9 10 12 15 23 28 31 32 35

wert!N ] A.N ] Bamerikanischer MillionärN ] BMillionärN ] Bdeshalb wäreN ] BseiN ] BseiN ] BN] Bwütend,N ] BantwortenN ] Bseiner albernenN ] BN] B B

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 39

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Lesetext

lauter Nervosität. „Ich kann Dir doch alles verzeihen“, tröstete er sie, „das bist Du mir schon wert! “ Sie trocknete ihre Thränen und putzte sich die Nase mit einem derart winzigen 얍 Taschentuche, dass sich Kobler unwillkürlich darüber Gedanken machte. Dann zog sie ihn zu sich herab und wurde ganz monoton. Es sei gerade vor einer halben Stunde etwas Unerwartetes passiert, beichtete sie, und dies Unerwartete sei ein Telegramm gewesen und zwar aus Avignon. Der Absender des Telegramms sei ein Herr und zwar ein gewisser A. Kaufmann aus Milwaukee, ein Kunstmaler und amerikanischer Millionär . Dieser Millionär hätte aber wegen seiner Hemmungen nicht künstlerisch genug malen können und deshalb wäre er nach Zürich gefahren, um seine Libido kurieren zu lassen und er hätte sie mindestens vier Wochen lang kurieren lassen wollen, aber anscheinend sei er nun unerwartet rasch mit seiner Libido in Ordnung gekommen. So würde er nun statt in vierzehn Tagen bereits heute früh unerwartet in Barcelona ankommen und zwar könnte er jeden Moment hier im Hotel eintreffen und das wäre ihr ganz entsetzlich grauenhaft peinlich, denn dieser Amerikaner sei ja ihr offizieller Bräutigam, ein sympathischer Mensch, aber trotzdem hätte sie lieber was mit einem Deutschen. Und dann weinte sie wieder ein bisschen, sie hätte sich jetzt schon so sehr gefreut auf diese vierzehn liebverlebte Tage mit ihm (Kobler), aber sie müsse halt den Mister Kaufmann heiraten, schon wegen ihres Papas, der dringend amerikanisches Kapital benötige, trotz der Grösse seiner Firma, aber Deutschland sei eben ein armes Land, und besonders unter der Sozialversicherung litte ihr Papa unsagbar. 얍 B

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

wert[.]|!| [Arthur] |A.| [steinreicher] [A]|a|merikan[er]|ischer Millionär| [Kunstmaler] |Millionär| [h]|d|eshalb [sei] |wäre| [wäre] |sei| [wäre]|sei| [Kobler war erschlagen. Da sah er sich nun] wütend\,/ [und wollte Rigmor gerade grob antworten,] ant[e]|w|orten \s/einer [dummen] |albernen| [Rigmor stellte vor. „Ein Jugendfreund aus Deutschland“, log sie. „Was macht Deutschland?“ fragte der Amerikaner. „Was weiss ich“, antwortete Kobler mürrisch, aber der Amerikaner liess nicht locker]

447

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 40

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Rigmor stellte vor. „Ein Jugendfreund aus Deutschland“, log sie. Der Amerikaner fixierte Kobler kameradschaftlich. „Sie sind auch Maler?“ fragte er. „Ich hab nichts mit der Kunst zu tun!“ verwahrte sich Kobler und es lag eine tiefe Verachtung in seiner Stimme. „Was macht Deutschland?“ fragte der Amerikaner. „Es geht uns sehr schlecht“, antwortete Kobler mürrisch, aber der Amerikaner liess nicht locker. „Wie denken Sie über Deutschland?“ fragte er. „Wie denken Sie über Kunst? Wie denken Sie über Liebe? Wie denken Sie über Gott?“ Kobler sagte, heut könne er überhaupt nichts denken, nämlich er hätte fürchterliche Kopfschmerzen. Und als er die Tür hinter sich zumachte, hörte er noch Rigmor sagen: „Er ist ein sympathischer Mensch!“ B

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Lesetext

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얍 Noch am selben Tage fuhr Kobler wieder nachhaus und zwar ohne Unterbrechung. Er wollte eben nichtsmehr sehen. „Jetzt hab ich fast meine ganzen sechshundert ausgegeben und für was? Für einen grossen Dreck!“ so lamentierte er. „Jetzt komm ich dann wieder zurück und was erwartet mich dort? Lauter Sorgen!“ Er war schon sehr deprimiert. Schmitz, der ihn väterlich an die Bahn begleitet hatte, versuchte ihn zu trösten: „Mit Amerika kann man halt nicht konkurrieren!“ konstatierte er düster. Und dann setzte er ihm noch rasch auseinander, dass er sich an seiner (Koblers) Stelle eigentlich nicht beklagen würde, denn er (Kobler) hätte ja nun sein ehrlich erworbenes Geld nicht nur für einen grossen Dreck ausgegeben, sondern er wäre ja jetzt auch um eine bedeutsame Erfahrung reicher geworden, und er würde es wahrscheinlich erst später merken, was das für ein tiefes Erlebnis gewesen sei, ein Erlebnis, das ganz dazu angetan wäre, jemanden total umzumodeln. Nämlich er hätte doch soeben den schlagenden Beweis BfürN Amerikas BbrutaleN Vorherrschaft erhalten, am eigenen Leibe hätte er nun diese unheilvolle Hegemonie verspürt.

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 41

\Textverlust\

„Und nun“, fuhr er fort und zwinkerte, „nun wird sich vielleicht auch Ihr Gefühl umstellen, nachdem Sie ja mit dem Verstand nichts gegen Paneuropa haben, wie Sies mir heute früh erklärt haben. Grosse Wirkungen haben halt kleine Ursachen , und auch die grössten Ideen --“ -- so warb Schmitz um Koblers Seele. Und dann vertraute er ihm, dass er persönlich sich niemals für eine Amerikanerin interessieren könnte. Er wollte ihm auch noch einiges über den Völkerbund sagen, doch da fuhr der Zug ab. „Sie fahren doch über Genf?“ rief er ihm nach. „Also grüssen Sie mir in Genf den Mont Blanc!“ Kobler fuhr über Genf, aber den Mont Blanc konnte er nicht grüssen, denn es war gerade Nacht. B

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Der Herr hörte ihm andächtig zu und dann meinte er, Barcelona sei sehr schön, er kenne es zwar leider nicht, nämlich er kenne nur jene europäischen Länder, die mit uns Krieg geführt hätten, ausser Grossbritannien und Portugal, also fast ganz Europa. 3 9 10 25 25 30 32

verwahrte sichN ] Und alsN ] Bsympathischer Mensch!“N ] BfürN ] BbrutaleN ] BUrsachenN ] BpersönlichN ] B B

[antwortete] |verwahrte sich| \Und/ [A]|a|ls sympat\hischer Mensch!“/ [über]|für| [unbedingte] |brutale| [U]|U|rsachen \persönlich/

448

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 44

Fragmentarische Fassung

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Es sei allerdings höchste Zeit, sagte der Herr, dass sich dieses ganze Europa endlich verständige, trotz aller historischen Blödheiten und feindseliger Gefühlsduselein, die immer wieder die Atmosphäre zwischen den Völkern vergiften würden, wie zum Beispiel zwischen Bayern und Preussen. Zwar wäre das Paneuropa, das heute angestrebt würde, noch keineswegs das richtige, aber es würde doch eine Plattform sein, auf der sich das richtige Paneuropa entwickeln könnte. Bei dem Worte „richtig“ lächelte der Herr ganz besonders sonderbar und dann meinte er, mit diesem Worte stünde es akkurat so, wie mit dem Ausdruck „sozialer Aufstieg“. Nämlich auch diesen Ausdruck wäre man häufig gezwungen zu gebrauchen statt \Textverlust\ B

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allerdingsN ] ] Bverständige, trotzN ] BhistorischenN ] BGefühlsduselein, dieN ] Bwürden, wieN ] BwäreN ] BPaneuropa, dasN ] Bwürde, nochN ] Brichtige, aberN ] Bsein, aufN ] BWorte f lächelteN ] BganzN ] Ber, mitN ] Bso, wieN ] B

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\allerdings/ [dass sich dieses ganze] korrigiert aus: verständige,trotz historische\n/ korrigiert aus: Gefühlsduselein,die korrigiert aus: würden,wie [sei] |wäre| korrigiert aus: [B]|P|aneuropa,das korrigiert aus: würde,noch korrigiert aus: richtige,aber korrigiert aus: sein,auf korrigiert aus: Worte„richtig“lächelte [ganz] [|sehr|] |ganz| korrigiert aus: er,mit korrigiert aus: so,wie

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Lesetext

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Strukturplan in 67 Teilen

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 36v

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Strukturplan in 67 Teilen

K3/E38

451

Lesetext

Konzeption 4: Der ewige Spießer

453

Werkverzeichnisse

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 4v, 5

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Werkverzeichnisse

K4/E1–E2

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Lesetext

Werkverzeichnis, Notizen

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 7

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Werkverzeichnis, Notizen

K4/E3–E4

457

Lesetext

Strukturplan

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 11v

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Strukturplan

K4/E5

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Lesetext

Werkverzeichnis

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 13

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Werkverzeichnis

K4/E6

461

Lesetext

462

Fassung

K4/TS1 (Grundschicht)



Lesetext

Marianne oder: Das Verwesen Eine Novelle.

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 16

5

Nach dem Tode löst sich der Körper auf: er verwest. Die Verwesung gebärt neues Leben – die Seele schwebt in den Schoos eines mächtigen guten Vaters, behauptet der Aberglaube. Es gibt aber nun einen Tod, der eintritt und der Körper lebt noch einige Jahre weiter, man verwest bei lebendigem Leibe. Von einem solchen Fall will ich hier berichten. Seine klinische Diagnose lautete auf beginnende dementia praecox. Mit Recht werden viele fragen, was geht dieser Einzelfall mich an? Aber er ist 얍 ein typisches Beispiel für den Kampf der Triebe gegen die Kultur. – Ich hab Marianne vier Jahre lang nicht gesehen. Vor vier Jahren hatte ich mit ihr etwas. Sie war nervös und einmal hatte ich sie verprügelt. Nun sah ich sie wieder. Sie wusch sich nichtmehr, roch übel aus dem Munde, stank nach Schwein, verwahrloste sich. Sie starb vor drei Jahren. An ihren Tod kann sie sich nicht genau erinnern. B

N B

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Nach f auf:N ] er verwest.N ] BinN ] BSie f erinnern.N ] B B

[Es gibt eine langsames] |Nach f auf:| [und ve] |er verwest.| korrigiert aus: ihn [Nun kommt bald der Augenblick, wo es] |Sie f erinnern.|

463

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 17

Werkverzeichnis mit Strukturplan

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 17v

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Werkverzeichnis mit Strukturplan

K4/E7

465

Lesetext

Werktitel

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 22v

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Werktitel

K4/E8

467

Lesetext

468

Fragmentarische Fassung

5

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20

K4/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 BDer erste Bekannte, den der Herr Kobler nach seiner Rückkehr in der Schellingstrasse traf war derN BHerrN Kakuschke. „Ich weiss schon,“ begrüsste ihn der Herr BKakuschke, „SieN Bkommen aus Barcelona.“N B„Ist ja garnicht wahr,“N antwortete Kobler B ausweichendN, damit ihn der Kakuschke nicht um zehn Mark anhaut. „Ich irre mich nur äusserst Bselten“, lächelteN BKakuschkeN wehmütig. B N III. Teil: Inzwischen hat der Graf Blanquez das grosse Los gezogen. Scheinheirat. ({Paris} lebt er jetzt B(das erzählt ihm der Kakuschke)N mit dem Vorschuss) 얍 Albert Kakuschke war BArchitekt, aberN er musste seinen Lebensunterhalt durch allerlei Vermittlungen verdienen, weil er kein Stilgefühl besass. „Ich hab halt kein Glück!“ war sein Refrain. Besonders seit er sich das Horoskop hat stellen Blassen, konnteN man es oft kaum mit ihm aushalten vor lauter Pessimismus. Er sah alles schwarz umrändert. Er wusste es Bnun, dassN sein BPlanetN der Saturn ist Bund, dassN er sich sehr hüten muss vor den BHämmorhoidenN. „Das auch noch!“ seufzte er und betrank sich. Um die Jahrhundertwende hatte er eine pikante Französin aus Metz Bgeheiratet, N die aber nach dem Weltkrieg so bedenklich in die Breite zu gehen Bbegann, dassN er anfing sich vor der romanischen Rasse zu ekeln. „Soweit ich die Franzosen kenne“, sagte Ber, „werdenN sie niemals das Rheinland räumen. Freiwillig nie, es sei denn wir zwingen sie mit Gewalt.“ Kobler kannte ihn seit der Stabilisierung. Sie hatten sich zufällig kennen gelernt und nun wusste keiner mehr wie und Bwo.N B„Wenn ich Sie wär“, sagte ihm nun der KakuschkeN B N

1–2

2 2–3 3 3 4 5 5 5

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[An der nächsten Ecke der] |Der erste [Mensch] |Bekannte|, den der Herr Kobler nach seiner Rückkehr in der| [Schellingstrasse] traf [Herr Kobler den] |war der [Herr]| BHerrN ] korrigiert aus: Herrn BKakuschke, „SieN ] korrigiert aus: Kakuschke,„Sie Bkommen f Barcelona.“N ] [haben den Karren verkauft.“] kommen f Barcelona.“ | | B„Ist f wahr,“N ] [„Sie irren sich“,] |„Ist f wahr,“| BausweichendN ] [zurückhaltend] |ausweichend| Bselten“, lächelteN ] korrigiert aus: selten“,lächelte BKakuschkeN ] korrigiert aus: Kakuchke B N] [Kobler bot ihm eine Achtpfennigzigarette an.“Das sind mazedonische Zigaretten[“]|!“|, rief \der/ Kakuschke und fügte resigniert hinzu: „Rauchen Sie die auch so gern?“] B(das f Kakuschke)N ] \(das f Kakuschke)/ BArchitekt, aberN ] korrigiert aus: Architekt,aber Blassen, konnteN ] korrigiert aus: lassen,konnte Bnun, dassN ] korrigiert aus: nun,dass BPlanetN ] Plan[te]|et| Bund, dassN ] korrigiert aus: und,dass BHämmorhoidenN ] gemeint ist: Hämorrhoiden Bgeheiratet, dieN ] korrigiert aus: geheiratet,die Bbegann, dassN ] korrigiert aus: begann,dass Ber, „werdenN ] korrigiert aus: er,„werden Bwo.N ] wo[,] |.| B„Wenn f KakuschkeN ] [Kakuschke fasste sogleich Vertrauen zu Kobler.] |„Wenn f Kakuschke| B N] [Es war dies eine tiefe Sympathie,eine väterliche Rührung. „Sehen Sie“, sagte er 1924,„Sie sind doch nicht älter als dreiundzwanzig. Wenn ich wieder so alt wär und so aussähen tät,dann würd ich mich in den feinsten Kreisen bewegen. Sie kennen doch den Grafen Blanquez?“] B

Der f derN ]

469

ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 3

ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 1

Fragmentarische Fassung

K4/TS2 (Korrekturschicht)

Kobler kannte den Grafen Blanquez, eine elegante Erscheinung und verpatzte Persönlichkeit. Seine Ahnen waren Huge-\Textverlust\ Kakuschke geriet immer mehr ausser sich. „Oh ich kenne die Franzosen!“ schrie 얍 er und dachte an seine dicke Frau. „Jeder Franzose und jede Französin gehören vergast! Ich mach auch vor den Weibern nicht halt, ich nicht! Oder glauben Sie gar an Paneuropa?!“ „Ich habe jetzt keine Zeit für Ihre Blödheiten“, sagte der Kobler höflich und liess den Kakuschke stehen. -- Er lief nachhaus und beschimpfte seine französische Frau. B

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Lesetext

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„Mein lieber Kakuschke“ beruhigte ihn Kobler , Sie sind halt ein nationaler Idealist, ein Gefühlspolitiker und das hat alles keinen Sinn. Man muss die Politik nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes, nüchtern und nach Geschäftsprinzipien betreiben -- mit dieser ganzen Politik ist es so, wie mit dem Kabriolett. Der eine verkauft dem anderen sein Kabriolett, Deutschland, Frankreich, England, Österreich und was weiss ich -- alle kaufen sich gegenseitig ihre Kabrioletts ab. Ja, wenn das alles streng reell vor sich ging , dann wär das ein ideales Paneuropa, aber zurzeit werden wir Deutschen von den übrigen Nationen bloss betrogen, genau so, wie ich zuvor den Portschinger betrogen hab. In dieser Weise lässt sich Paneuropa nicht realisieren. Das ist kein richtiger \Textverlust\ B

N B

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B N B

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B

Blanquez, eineN ] halt, ichN ] B„Ich f stehen. --N ] Bstehen. --N ] BEr f Frau.N ] B N] B B

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korrigiert aus: Blanquez,eine korrigiert aus: halt,ich

[„Ich f stehen. --] korrigiert aus: stehen.-\Er f Frau./ [Er ging nun wieder die Schelligstrasse hinab und beschäftigte sich bis zur übernächsten Ecke mit weltpolitischen Poblemen.] BKakuschke“N ] [Kobler“] |Kakuschke“| Bberuhigte f KoblerN ] [sagte er sich] |beruhigte f Kobler| B N] gestrichen: „dieser aufBSie f haltN ] [gstellte Mausdreck Kakuschke,dieses heruntergekommene Subjekt, ist] |Sie f halt| B N] [ein Idiot,ein Hitler,] B N] [,ein Fanatiker] BMenschenverstandes, nüchternN ] korrigiert aus: Menschenverstandes,nüchtern Bso, wieN ] korrigiert aus: so,wie BverkauftN ] [kauft] |verkauft| BKabriolett,N ] Kabriolett\,/ [--] BDeutschland f ÖsterreichN ] korrigiert aus: Deutschland,Frankreich,England,[Italien,] Österreich[,die Schweiz] BJa,N ] Ja\,/ [--] BreellN ] reel\l/ BgingN ] gin\g/ Bging, dannN ] korrigiert aus: ging,dann BPaneuropa, aberN ] korrigiert aus: Paneuropa,aber Bbetrogen, genauN ] korrigiert aus: betrogen,genau

470

ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 2

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

: Der Spiesser ist bekanntlich ein hypochondrischer Egoist und so trachtet er darnach, sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet. Wenn ich mich nicht irre, hat es sich allmählich herumgesprochen, dass wir aus5 gerechnet zwischen zwei Zeitaltern leben. Auch der alte Typ des Spiessers ist es nichtmehr wert, lächerlich gemacht zu werden, wer ihn heute noch verhöhnt, ist bestenfalls ein Spiesser der Zukunft. Ich sage „Zukunft“, denn der neue Typ des Spiessers ist erst im Werden, er hat sich noch nicht herauskristallisiert. Verfasser versucht nun ab Seite 4 in Form eines Romanes einige Beiträge zur 10 Biologie dieses werdenden Spiessers zu liefern. Er wagt natürlich nicht zu hoffen, dass er durch diese Seiten ein gesetzmässiges Weltgeschehen beeinflussen könnte, jedoch immerhin.

Erster Teil: H e r r K o b l e r w i r d P a n e u r o p ä e r.

: 15

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 2; MAT8

: BI.N

20

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 3; MAT4

Mitte September 1929 verdiente Herr Alfons Kobler aus der Schellingstrasse sechshundert RM. Es gibt viele Leut, die sich soviel Geld gar nicht vorstellen können. Auch Herr Kobler hatte noch niemals soviel Geld so ganz auf einmal verdient, aber diesmal war ihm das Glück hold. Es zwinkerte ihm zu und Herr Kobler hatte plötzlich einen elastischeren Gang. An der Ecke der Schellingstrasse kaufte er sich bei der guten alten Frau Stanzinger eine Schachtel Achtpfennigzigaretten, direkt aus Mazedonien. Er liebte nämlich dieselben sehr, weil sie so überaus mild und aromatisch waren. „Jessas Mariandjosef!“ schrie die brave Frau Stanzinger, die seitdem ihr Fräulein Schwester gestorben war einsam zwischen ihren Tabakwaren und Rauchutensilien sass und aussah, als wäre sie jeden Tag um ein Stückchen kleiner geworden. „Seit wann rauchens denn welche zu acht, Herr Kobler? Woher habens denn das vie-얍le Geld? Habens denn wen umbracht oder haben Sie sich gar mit der Frau Hofopernsänger wieder versöhnt?“ „ Nein“, sagte der Herr Kobler. „Ich hab bloss endlich den Karren verkauft.“ Dieser Karren war ein ausgeleierter Sechszylinder, ein Kabriolett mit Notsitz. Es hatte bereits vierundachtzigtausend Kilometer hinter sich, drei Dutzend Pannen und zwei lebensgefährliche Verletzungen. Ein Greis. B

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 1; MAT12

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I.N ] Leut, dieN ] Bverdient, aberN ] BAchtpfennigzigaretten, direktN ] Bsehr, weilN ] BStanzinger, dieN ] Baussah, alsN ] Bacht, HerrN ] B N] BHabensN ] BhabenN ] BNein“, sagteN ] Bsich, dreiN ] B B

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[In der Schellingstrasse] |I.| korrigiert aus: Laut,die korrigiert aus: verdient,aber korrigiert aus: Achtpfennigzigaretten,direkt korrigiert aus: sehr,weil korrigiert aus: Stanzinger,die korrigiert aus: aussah,als korrigiert aus: acht,Herr [-] Hab\e/ns hab[n]|en| korrigiert aus: Nein“,sagte korrigiert aus: sich,drei

471

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 4

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Trotzdem fand Kobler einen Käufer. Das war ein Käsehändler aus Rosenheim, namens Portschinger, ein begeisterungsfähiger grosser dicker Mensch. Der hatte bereits Mitte August dreihundert RM angezahlt und hatte ihm sein Ehrenwort gegeben, jenen Greis spätestens Mitte September abzuholen und dann auch die restlichen sechshundert RM sofort in Bar mitzubringen. So sehr war er über diesen ausserordentlich billigen Gelegenheitskauf Feuer und Flamme. Und drum hielt er auch sein Ehrenwort. Pünktlich erschien er Mitte September in der Schellingstrasse und meldete sich bei Kobler. In seiner Gesellschaft befand sich sein Freund Adam Mauerer, den er sich aus Rosenheim extra mitgebracht hatte, da er ihn als Sachverständiger achtete, weil dieser Adam bereits seit 1925 ein steuerfreies Leichtmotorrad besass. Der Herr Portschinger hatte nämlich erst seit vorgestern einen Führerschein und weil er überhaupt kein eingebildeter Mensch war, war er sich auch jetzt darüber klar, dass er noch nicht genügend in die Ge-얍heimnisse des Motors eingedrungen ist. Der Sachverständige besah sich das Kabriolett ganz genau und war dann auch schlechthin begeistert. „Das ist ein Notsitz!“ rief er. „Ein wunderbarer Notsitz! Ein gepolsterter Notsitz! Der absolute Notsitz! Kaufs, Du Rindvieh!“ Das Rindvieh kaufte es auch sogleich, als wären die restlichen sechshundert RM Lappalien -und, während der Kobler die Scheine auf ihre Echtheit prüfte, verabschiedete es sich von ihm: „ Alsdann, Herr Kobler, wanns mal nach Rosenheim kommen, besuchens mich mal. Meine Frau wird sich freuen, Sie müssen ihr nacher auch die Geschichte von dem Prälaten erzähln, der wo mit die jungen Madln herumgestreunt is wie ein läufigs Nachtkastl. Meine Frau is nämlich noch liberaler als ich. Heil!“ Hierauf nahmen die beiden Rosenheimer Herren im Kabriolett Platz und fuhren beglückt nach Rosenheim zurück, das heisst: sie hatten dies vor. „Der Karren hat an schönen Gang“, meinte der Sachverständige. Sie fuhren über den Bahnhofsplatz. „Es is scho schöner so im eignen Kabriolett, als auf der stinkerB

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Rosenheim, namensN ] Portschinger, einN ] B N] BMauerer, denN ] BSachverständigerN ] Bachtete, weilN ] Bwar, warN ] Bklar, dassN ] Bbegeistert. „DasN ] BNotsitz!N ] BKaufs, DuN ] Bals f LappalienN ] Bund, währendN ] BAlsdann, HerrN ] BKobler, wannsN ] Bkommen, besuchensN ] BisN ] BisN ] BRosenheimerN ] Bzurück, dasN ] BGang“, meinteN ] BKabriolett, alsN ] B B

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korrigiert aus: Rosenheim,namens korrigiert aus: Portschinger,ein

[eben] korrigiert aus: Mauerer,den gemeint ist: Sachverständigen korrigiert aus: achtete,weil korrigiert aus: war,war korrigiert aus: klar,dass korrigiert aus: begeistert.„Das korrigiert aus: Notsitz ! korrigiert aus: Kaufs,Du

[es zahlte] die3 restlichen4 sechshundert5 RM6 als1 wären[s]2 Lappalien7 korrigiert aus: und,während korrigiert aus: Alsdann,Herr korrigiert aus: Kobler,wanns korrigiert aus: kommen,besuchens is[t] is[t] [r]|R|osenheimer korrigiert aus: zurück,das korrigiert aus: Gang“,meinte korrigiert aus: Kabriolett,als

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 5

Fragmentarische Fassung

Lesetext

ten Bahn“, meinte der Herr Portschinger. Er strengte sich nicht mehr an, hochdeutsch zu sprechen, denn er war sehr befriedigt. Sie fuhren über den Marienplatz. „Schliessen Sie doch den Auspuff!“ brüllte sie ein Schutzmann an. „Is ja scho zu!“ brüllte der Herr Portschinger und der Sachverständige fügte noch hinzu, das Kabriolett hätte 얍 halt schon eine sehr schöne Aussprache und nur kein Neid . Nach fünf Kilometern hatten sie die erste Panne. Sie mussten das linke Vorderrad wechseln. „Das kommt beim besten Kabriolett vor“, meinte der Sachverständige. Nach einer weiteren Stunde fing der Ventilator an zu zwitschern wie eine Lerche und knapp vor Rosenheim überschlug sich das Kabriolett infolge Achsenbruchs, nachdem kurz vorher sämtliche Bremsen versagt hatten. Die beiden Herren flogen im hohen Bogen raus, blieben aber wie durch ein sogenanntes Wunder unverletzt, während das Kabriolett einen dampfenden Trümmerhaufen bildete. „Es is bloss gut, dass uns nix passiert is“, meinte der Sachverständige. Der Portschinger aber lief wütend zum nächsten Rechtsanwalt, jedoch der Rechtsanwalt zuckte nur mit den Schultern. „Der Kauf geht in Ordnung“, sagte er. „Sie hätten eben vor Abschluss genauere Informationen über die Leistungsfähigkeit des Kabrioletts einholen müssen. Beruhigen Sie sich, Herr Portschinger! Sie sind halt betrogen worden, da kann man nichts machen! “ B

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II. Seinerzeit als dieser Karren noch fabrikneu war, kaufte ihn sich jene Hofopernsängerin, die wo die Frau Stanzinger im Verdacht hatte, dass sie den Herrn Kobler aushält. Aber das stimmte nicht in dieser Form. Zwar gewann 얍 sie den Kobler soB

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Bahn“, meinteN ] korrigiert aus: Bahn“,meinte an, hochdeutschN ] korrigiert aus: an,hochdeutsch Bsprechen, dennN ] korrigiert aus: sprechen,denn Ber warN ] er\ /war Bhinzu, dasN ] korrigiert aus: hinzu,das BNeidN ] [Geld] |Neid| BkommtN ] k[i]|o|mmt Bvor“, meinteN ] korrigiert aus: vor“,meinte BAchsenbruchs, nachdemN ] korrigiert aus: Achsenbruchs,nachdem Braus, bliebenN ] korrigiert aus: raus,blieben BWunderN ] korrigiert aus: Wunter Bunverletzt, währendN ] korrigiert aus: unverletzt,während BeinenN ] korrigiert aus: einem Bgut, dassN ] korrigiert aus: gut,dass Bis“, meinteN ] korrigiert aus: is“,meinte BRechtsanwalt, jedochN ] korrigiert aus: Rechtsanwalt,jedoch BOrdnung,“ sagteN ] korrigiert aus: Ordnung“,sagte Bsich,N ] sich\,/ [nur] Bworden, daN ] korrigiert aus: worden,da Bmachen!N ] machen[.]|!| BII.N ] \II./ BdieserN ] diese[s]|r| [Kabriolett mit Notsitz] |Karren| Bwar, kaufteN ] korrigiert aus: war,kaufte BihnN ] \ihn/ B N] [es] BHofopernsängerin, dieN ] korrigiert aus: Hofopernsängerin,die Bhatte, dassN ] korrigiert aus: hatte,dass B B

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

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gleich auf den ersten Blick recht lieb, das geschah in der Firma „Gebrüder Bär“, also in eben jenem Laden, wo sie sich den fabrikneuen Karren kaufte. Der Kobler ging dann bei ihr ein und aus von Anfang Oktober bis Ende August, aber dieses ganze Verhältnis war in pekunärer Hinsicht direkt platonisch. Er ass, trank und badete lediglich bei ihr, aber niemals hätte er auch nur eine Mark von ihr angenommen. Sie hätte ihm ja sowas auch niemals angeboten, denn sie war eine feine gebildete Dame, eine ehemalige Hofopernsängerin, die seit dem Umsturz nurmehr in Wohltätigkeitskonzerten sang. Sie konnte sich all diese Wohltäterei ungeniert leisten, denn sie nannte u.a. eine schöne Villa mit parkähnlichem Vorgarten ihr eigen, aber sie würdigte es nicht, zehn Zimmer allein bewohnen zu können, denn oft in der Nacht fürchtete sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten, einem dänischen Honorarkonsul. Der hatte knapp vor dem Weltkrieg mit seinem vereiterten Blinddarm an die Himmelspforte geklopft und hatte ihr all sein Geld hinterlassen und das ist sehr viel gewesen. Sie hatte ehrlich um ihn getrauert und erst 1918, als beginnende Vierzigerin, hatte sie wiedermal Sehnsucht nach irgendeinem Mannsbild empfunden. Und 1927 blickte sie auf ein halbes Jahrhundert zurück. Der Kobler hingegen befand sich 1929 erst im siebenundzwanzigsten Lenze und war weder auffallend gebildet noch be-얍sonders fein. Auch ist er immer schon ziemlich ungeduldig gewesen -- drum hielt er es auch bei „Gebrüder Bär“ nur knapp den Winter aus, obwohl der eine Bär immer wieder sagte: „Sie sind ein tüchtiger Verkäufer, lieber Kobler!“ Er verstand ja auch was vom Autogeschäft, aber er hatte so seine Schrullen, die ihm auf die Dauer der andere Bär nicht verzeihen konnte. So unternahm er u.a. häufig ausgedehnte Probefahrten mit Damen, die er sich im Geheimen extra dazu hinbestellt hatte. Diese Damen traten dann vor den beiden Bären ungemein selbstsicher auf, so ungefähr, als könnten sie sich aus purer Laune einen ganzen Autobus kaufen. Einmal jedoch erkannte der andere Bär in einer solchen Dame eine Prostituierte -- und als dann gegen Abend der Herr Kobler zufrieden von seiner B

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lieb, dasN ] Firma f alsoN ] BLaden, woN ] BKarrenN ] BAugust, aberN ] BpekunärerN ] Bass, trankN ] Bihr, aberN ] Bangeboten, dennN ] BDame, eineN ] BHofopernsänerin, dieN ] Bleisten, dennN ] Beigen, aberN ] Bnicht, zehnN ] Bkönnen, dennN ] BGatten, einemN ] BvereitertenN ] B1918, alsN ] BVierzigerin, hatteN ] BUndN ] BVerkäufer, lieberN ] BSchrullen, dieN ] BDamen, dieN ] Bauf f als N ] B B

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korrigiert aus: lieb,das korrigiert aus: Firma„Gebrüder Bär“,also korrigiert aus: Laden,wo

[Greis] |Karren| korrigiert aus: August,aber gemeint ist: pekuniärer korrigiert aus: ass,trank korrigiert aus: ihr,aber korrigiert aus: angeboten,denn korrigiert aus: Dame,eine korrigiert aus: Hofopernsängerin,die korrigiert aus: leisten,denn korrigiert aus: eigen,aber korrigiert aus: nicht,zehn korrigiert aus: können,denn korrigiert aus: Gatten,einem \vereiterten/ korrigiert aus: 1918,als korrigiert aus: Vierzigerin,hatte [u]|U|nd korrigiert aus: Verkäufer,lieber korrigiert aus: Schrullen,die korrigiert aus: Damen,die korrigiert aus: auf,so ungefähr,als

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Probefahrt zurückfuhr, erwartete ihn dieser Bär bereits auf der Strasse vor dem Laden, riss die Türe auf und roch in die Limousine hinein. „Sie machen da sonderbare Probefahrten, lieber Kobler“, sagte er malitiös. Und der liebe Kobler musste sich dann wohl oder übel selbständig machen. Zwar konnte er sich natürlich keinen Laden mieten und betrieb infolgedessen den Kraftfahrzeughandel in bescheidenen Grenzen, aber er war halt sein eigener Herr. Er hatte jedoch diese höhere soziale Stufe nur erklimmen können , weil er mit jener Hofopernsängerin befreundet war. Darüber ärgerte er sich manchmal sehr. Recht lange währte ja diese Freundschaft nicht. Sie zerbrach Ende August aus zwei Gründen. Die Hofopernsängerin fing plötzlich an widerlich rasch zu altern. Dies war der eine Grund. Aber der ausschlaggebende Grund war eine geschäftliche 얍 Differenz. Nämlich die Hofopernsängerin ersuchte den Kobler, ihr kaputtes Kabriolett mit Notsitz möglichst günstig an den Mann zu bringen. Als nun Kobler von dem Herrn Portschinger die ersten dreihundert RM erhielt, lieferte er der Hofopernsängerin in einer ungezogenen Weise lediglich fünfzig RM ab, worüber die sich derart aufregte, dass sie ihn sogar anzeigen wollte. Sie unterliess dies aber aus Angst, ihr Name könnte in die Zeitungen geraten, denn dies hätte sie sich nicht leisten dürfen, da sie mit der Frau eines Ministerialrates aus dem Kultusministerium, die sich einbildete singen zu können, befreundet war. Also schrieb sie ihrem Kobler lediglich, dass sie ihn für einen glatten Schurken halte, dass er eine Enttäuschung für sie bedeute und dass sie mit einem derartigen Subjekte als Mensch nichts mehr zu tun haben wolle. Und dann schrieb sie ihm einen zweiten Brief, in dem sie ihm auseinandersetzte, dass man eine Liebe nicht so einfach zerreissen könne wie ein Seidenpapier, denn als Weib bleibe doch immer ein kleines Etwas unauslöschlich in einem drinnen stecken. Der Kobler sagte sich: „Ich bin doch ein guter Mensch“ und telephonierte mit ihr. Sie trafen sich dann zum Abendessen draussen im Ausstellungsrestaurant. „ Peter“, sagte die Hofopernsängerin . Sonst sagte sie die erste B

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zurückfuhr, erwarteteN ] ihnN ] BLaden, rissN ] BProbefahrten f sagteN ] BGrenzen, aberN ] BhatteN ] BkönnenN ] BkaputtesN ] Berhielt, lieferteN ] Bab, worüberN ] BdieN ] Baufregte, dassN ] BAngst, ihrN ] Bgeraten, dennN ] Bdürfen, daN ] BKultusministerium, dieN ] Bkönnen, befreundetN ] Blediglich, dassN ] Bhalte, dassN ] Bauseinandersetzte, dassN ] BSeidenpapier, dennN ] Bein kleinesN ] BPeter“, sagteN ] BHofopernsängerinN ] BHofopernsängerin.N ] B B

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korrigiert aus: zurückfuhr,erwartete korrigiert aus: in korrigiert aus: Laden,riss korrigiert aus: Probefahrten,lieber Kobler“,sagte korrigiert aus: Grenzen,aber

[konnte] |hatte| \können/ korrigiert aus: kaputes korrigiert aus: erhielt,lieferte korrigiert aus: ab,worüber [s]|d|ie korrigiert aus: aufregte,dass korrigiert aus: Angst,ihr korrigiert aus: geraten,denn korrigiert aus: dürfen,da korrigiert aus: Kultusministerium,die korrigiert aus: können,befreundet korrigiert aus: lediglich ,dass korrigiert aus: halte,dass korrigiert aus: auseinandersetzte,dass korrigiert aus: Seidenpapier,denn korrigiert aus: einekleines korrigiert aus: Peter“,sagte Hofopernsänger\i/n korrigiert aus: Hofopernsängerin

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 9

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Viertelstunde über nichts. Kobler hiess zwar nicht Peter, sondern Alfons, aber „Peter klingt besser“ hatte die Hofopernsängerin immer schon konstatiert. Auch ihm selbst gefiel es besser, besonders wenn es die Hofopernsängerin aussprach, dann konnte 얍 man nämlich direkt meinen, man sei zumindest in Chikago. Für Amerika schwärmte er zwar nicht, aber er achtete es. „Das sind Kofmichs!“ pflegte er zu sagen. Die Musik spielte sehr zart im Ausstellungsrestaurant und die Hofopernsängerin wurde wieder ganz weich. „Ich will Dir alles verzeihen, Darling , behalt nur getrost mein ganzes Kabriolett“ -- so lächelte sie ihm zu. Der Darling aber dachte: „Jetzt fällts mir erst auf, wie alt dass die schon ist“. Er brachte sie dann nachhaus, ging aber nicht mit hinauf. Die Hofopernsängerin warf sich auf das Sofa und stöhnte: „Ich möcht mein Kabriolett zurück!“ -- und plötzlich fühlte sie, dass ihr verstorbener Gatte hinter ihr steht. „Schau mich nicht so an!“ brüllte sie. „Pardon! Du hast Krampfadern“, sagte der ehemalige Honorarkonsul und zog sich zurück in die Ewigkeit. B

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An der übernächsten Ecke der Schellingstrasse wohnte Kobler möbliert im zweiten Stock links bei einer gewissen Frau Perzl, einer Wienerin, die zur Generation der Hof-;opernsängerin gehörte. Auch sie war Witwe, aber ansonsten konnte man sie schon in gar keiner Weise mit jener vergleichen. Nie kam es u.a. vor, dass sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten gefürchtet hätte, nur ab und zu träumte sie von Ringkämpfern. So hat sich mal so ein Ringkämpfer vor ihr verbeugt, der hat dem Kobler sehr ähnlich gesehen und hat gesagt: „Es ist gerade 1904. Bitte halt mir den Daumen Josephin! Ich will jetzt auf der Stelle Weltmeister werden, du Hur!“ Sie sympathisierte mit dem Kobler, denn sie liebte u.a. sein angenehmes Organ so sehr, dass er ihr die Miete auch 14 Tag und länger schuldig bleiben konnte. Besonders seine 얍 Kragenpartie, wenn er ihr den Rücken zuwandte, erregte ihr Gefallen. B

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Peter f aber N ] besser, besondersN ] Baussprach, dannN ] Bmeinen, manN ] Bnicht, aberN ] Bverzeihen, DarlingN ] Bauf, wieN ] BdieN ] Bnachhaus, gingN ] B N] Bsie, dassN ] BKrampfadern“ ,sagteN ] Bund zogN ] BWitwe, aberN ] Bvor, dassN ] Bhätte, nurN ] Bverbeugt, derN ] B N] BKobler, dennN ] Bsehr, dassN ] Bkonnte.N ] BKragenpartie, wennN ] Bzuwandte, erregteN ] B B

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korrigiert aus: Peter,sondern Alfons,aber korrigiert aus: besser,besonders korrigiert aus: aussprach,dann korrigiert aus: meinen,man korrigiert aus: nicht,aber korrigiert aus: verzeihen,Darling korrigiert aus: auf,wie

[s]|d|ie korrigiert aus: nachhaus,ging

[wieder] korrigiert aus: sie,dass korrigiert aus: Krampfadern“,sagte

un\d/ [d]zog korrigiert aus: Witwe,aber korrigiert aus: vor,dass korrigiert aus: hätte,nur korrigiert aus: verbeugt,der

[--] korrigiert aus: Kobler,denn korrigiert aus: sehr,dass

konnte[,] |.| korrigiert aus: Kragenpartie,wenn korrigiert aus: zuwandte,erregte

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Oft klagte sie über Schmerzen . Der Arzt sagte, sie hätte einen Hexenschuss und ein anderer Arzt sagte, sie hätte eine Wanderniere und ein dritter Arzt sagte, sie müsse sich vor ihrer eigenen Verdauung hüten. Was ein vierter Arzt sagte, das sagte sie niemandem . Sie ging gern zu den Aerzten. Zu den groben und zu den artigen. Auch ihr seliger Mann ist ja Mediziner gewesen, ein Frauenarzt in Wien. Er stammte aus einer angesehenen leichtverblödelten christlich-sozialen Familie und hatte sich im Laufe der Vorkriegsjahre sechs Häuser zusammengeerbt. Eines stand in Prag. Sie hingegen hatte bloss den dritten Teil einer Windmühle bei Brescia in Oberitalien mit in die Ehe gebracht, aber das hatte er ihr nur ein einzigesmal vorgeworfen. Ihre Grossmutter war eine gebürtige Mailänderin gewesen. Der Doktor Perzl ist anno domini 1907 ein Opfer seines Berufes geworden. Er hatte sich mit der Leiche einer seiner Patientinen infiziert. Wie er die nämlich auseinandergeschnitten hat, um herauszubekommen, was ihr denn eigentlich gefehlt hätte , hat er sich selbst einen tiefen Schnitt beigebracht, so unvorsichtig hat er mit dem Seziermesser herumhantiert, weil er halt wiedermal besoffen gewesen ist. Es hat allgemein geheissen, wenn er kein Quartalssäufer gewesen wär, so hätt er eine glänzende Zukunft gehabt. Ferdinand Perzl, das einzige Kind, hatte die Kadettenschule absolvieren müs얍 sen, weil er als Gymnasiast nichts Vernünftiges hatte werden wollen. Er ist dann ein aktiver K.u.K. Oberleutnant geworden und es ist ihm auch gelungen, den Weltkrieg in der Etappe zu verhuren. Aber nachdem Österreich-Ungarn alles verspielt hatte und auch er selbst allmählich alles, was er erben sollte, die sechs Häuser und das Drittel der Windmühle, verloren hatte, ist er in sich gegangen und hat nicht mehr herumgehurt, sondern hat bloss zähneknirschend und mit der Faust in der Tasche zugeschaut, wie dies die Valutastarken taten. Er ist in ein Kontor gekommen und hatte B

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SchmerzenN ] sagte, sieN ] Bsagte, sieN ] Bsagte, sieN ] Bsagte, dasN ] BniemandemN ] BsechsN ] Bgebracht, aberN ] Bhat f wasN ] BhätteN ] Bhätte, hatN ] Bbeigebracht, soN ] Bherumhantiert, weilN ] BhaltN ] BwiedermalN ] B N] Bwär, soN ] BPerzl, dasN ] BKind, hatteN ] Bmüssen, weilN ] Bgelungen, denN ] Balles, wasN ] Bsollte, dieN ] BsechsN ] BWindmühle,N ] Bhatte, istN ] Bherumgehurt, sondernN ] Bzugeschaut, wieN ] B B

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[Rückens]|S|chmerzen korrigiert aus: sagte,sie korrigiert aus: sagte,sie korrigiert aus: sagte,sie korrigiert aus: sagte,das korrigiert aus: niemanden sech\s/ korrigiert aus: gebracht,aber korrigiert aus: hat,um herauszubekommen,was h[a]|ä|tte korrigiert aus: hätte,hat korrigiert aus: beigebracht,so korrigiert aus: herumhantiert,weil \halt/ wieder[ ][m]|m|al [dass] korrigiert aus: wär[e],so korrigiert aus: Perzl,das korrigiert aus: Kind,hatte korrigiert aus: müssen,weil korrigiert aus: gelungen,den korrigiert aus: alles,was korrigiert aus: sollte,die sec[h]|hs| Windmühle\,/ [in Brescia,] korrigiert aus: hatte,ist korrigiert aus: herumgehurt,sondern korrigiert aus: zugeschaut,wie

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

seine liederliche Haltung während des grossen Völkerringens in seinen Augen ausradiert, ist Nationalsozialist geworden und hat die Kontoristin Friede Klovac geheiratet, eine Blondine mit zwei linke Füss. Solche kleine Abnormitäten konnten ihn seit seiner Etappenzeit ganz wehmütig stimmen. Über diese Heiraterei hatte sich jedoch seine Mutter sehr aufgeregt, denn sie hatte ja immer schon gehofft, dass der Nandl mal ein anständiges Mädl aus einem schwerreichen Hause heiraten würde. Eine Angestellte war in ihren Augen keine ganz einwandfreie Persönlichkeit, besonders als Schwiegertochter nicht. Sie titulierte sie also nie anders, als „das Mensch“, „die Sau“, „das Mistvieh“ und drgl. Und je ärmer sie wurde, umso stärker betonte sie ihre gesellschaftliche Herkunft, mit anderen Worten: je härter sie 얍 ihre materielle Niederlage empfand, umso bewusster wurde sie ihrer ideellen Überlegenheit. Diese ideelle Überlegenheit bestand vor allem aus Unwissenheit. Und aus der natürlichen Beschränktheit des mittleren Bürgertums. Wie alle ihresgleichen hasste sie nicht die uniformierten und zivilen Verbrecher, die sie durch Krieg, Inflation, Deflation und Stabilisierung begaunert hatten, sondern ausschliesslich das Proletariat, weil sie ahnte, ohne sich darüber klar werden zu wollen, dass dieser Klasse die Zukunft gehört. Sie wurde neidig, leugnete es aber ab. Sie fühlte sich zutiefst gekränkt und in ihren heiligsten Gefühlen verletzt, wenn sie sah, dass sich ein Arbeiter ein Glas Bier leisten konnte. Sie wurde schon rabiat, wenn sie nur einen demokratischen Leitartikel las. Es war kaum mit ihr auszuhalten am 1. Mai . – Nur einmal hatte sie acht Jahre lang einen Hausfreund, einen Zeichenlehrer von 얍 der Oberrealschule im achten Bezirk. Der ist immer schon etwas nervös gewesen und hatte schon immer so seltsame Aussprüche getan, wie : „Na wer ist denn schon der Tizian? Ein Katzlmacher!“ Endlich wurde er eines Tages korrekt verrückt, so wie B

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liederlicheN ] ausradiert, istN ] BKontoristinN ] Bgeheiratet, eineN ] Baufgeregt, dennN ] Bgehofft, dassN ] BPersönlichkeit, besondersN ] Banders, alsN ] BMensch“ f „dasN ] Bwurde, umsoN ] BHerkunft, mitN ] Bempfand, umsoN ] BÜberlegenheit bestandN ] BVerbrecher, dieN ] BInflation, DeflationN ] Bhatten, sondernN ] BProletariat, weilN ] Bahnte, ohneN ] Bwollen, dassN ] Bneidig, leugneteN ] Bverletzt, wennN ] Bsah, dassN ] BnurN ] B N] B1. MaiN ] B1. Mai. –N ] BHausfreund, einenN ] Bgetan, wieN ] Bverrückt, soN ]

korrigiert aus: ausradiert,ist [Stenotypistin] |Kontoristin| korrigiert aus: geheiratete,eine korrigiert aus: aufgeregt,denn korrigiert aus: gehofft,dass korrigiert aus: Persönlichkeit,besonders korrigiert aus: anders,als korrigiert aus: Mensch“,„die Sau“,„das korrigiert aus: wurde,umso korrigiert aus: Herkunft,mit korrigiert aus: empfand,umso korrigiert aus: Überlegenheitbestand korrigiert aus: Verbrecher,die korrigiert aus: Inflation,Deflation korrigiert aus: hatten,sondern korrigiert aus: Proletariat,weil korrigiert aus: ahnte,ohne korrigiert aus: wollen,dass korrigiert aus: neidig,leugnete korrigiert aus: verletzt,wenn korrigiert aus: sah,dass \nur/ [\{ }/] korrigiert aus: 1.Mai 1. Mai. \–/ korrigiert aus: Hausfreund,einen korrigiert aus: getan,wie korrigiert aus: verrückt,so

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 15

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

sichs gehört. Das begann mit einem übertriebenen Reinlichkeitsbedürfnis. Er rasierte sich den ganzen Körper, schnitt sich peinlich die Härchen aus den Nasenlöchern und zog sich täglich zehnmal um, obwohl er nur einen Anzug besass. Später trug er dann auch beständig ein Staubtuch mit sich herum und staubte alles ab, die Kandelaber, das Pflaster, die Trambahn, den Sockel des Maria-Theresiendenkmals -- und zum Schluss wollte er partout die Luft abstauben. Dann wars aus. Schliesslich nannte Josephine Perzl nurmehr die paar altmodischen Möbel in der Schellingstrasse ihr eigen. B

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IV.

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 16; MAT8

Doch lassen wir nun diese soziologischen Skizzen und kehren wir zurück in die Gegenwart und zwar in die Schellingstrasse. Knapp zehn Minuten bevor der Kobler nachhause kam, läutete ein gewisser Graf 15 Blanquez bei der Frau Perzl. Er sagte ihr, er wolle in Koblers Zimmer auf seinen Freund Kobler warten. Dieser Graf Blanquez war eine elegante Erscheinung und eine verpatzte Persönlichkeit. Seine Ahnen waren Hugenotten, ; er selbst wurde im bayerischen Walde geboren. Erzogen wurde er teils von Piaristen, teils von einem homosexuellen 20 Stabsarzt in einer der verzweifelten Kriegsgefangenenlager Sibiriens. Mit seiner Familie vertrug er sich nicht, weil er vierzehn Geschwister hatte. Trotzdem schien er meist guter Laune zu sein, ein grosser Junge, ein treuer Gefährte, jedoch leider ohne Hemmungen. Er liebte Musik, ging aber nie in die Oper, weil ihn jede Oper an die Hugenotten erinnerte und wenn er an die Hugenotten dachte, wurde er melan25 cholisch. Die Perzl liess ihn ziemlich unfreundlich hinein, denn er war ihr nicht gerade : sympathisch, da sie ihn im Verdacht hatte, dass er sich nur für junge Mädchen interessiert. „Wo hat der nur seine eleganten Kravatten her?“ überlegte sie misstrauisch und beobachtete ihn durchs Schlüsselloch. 30 Sie sah, wie er sich aufs Sofa setzte und in ; der Nase bohrte, das Herausgeholte aufmerksam betrachtete und es dann gelangweilt an die Tischkante schmierte. Dann starrte er Koblers Bett an und lächelte zynisch. Hierauf kramte er in Koblers Schubladen, durchflog dessen Korrespondenz und ärgerte sich, dass er nirgends Cigaretten fand, worauf er sich aus Koblers Schrank ein Taschentuch nahm und sich vor dem B N

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2 2 3 4–5 18 19 20 21 22 22 23 24 30 31 32–33 34

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Körper, schnittN ] HärchenN ] Bum, obwohlN ] BKandelaber f denN ] B N] BPiaristen, teilsN ] BeinemN ] Bnicht, weilN ] Bsein, einN ] BGefährte, jedochN ] BOper, weilN ] Bdachte, wurdeN ] Bbohrte, dasN ] BbetrachteteN ] BSchubladen, durchflogN ] Bfand, woraufN ] B B

MAT4

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korrigiert aus: Körper,schnitt korrigiert aus: Häärchen korrigiert aus: um,obwohl korrigiert aus: Kandelaber,das Pflaster,die Trambahn,den

[notten,] korrigiert aus: Piaristen,teils korrigiert aus: einer korrigiert aus: nicht,weil korrigiert aus: sein,ein korrigiert aus: Gefährte,jedoch korrigiert aus: Oper,weil korrigiert aus: dachte,wurde korrigiert aus: bohrte,das

betrachtet\e/ korrigiert aus: Schubladen,durchflog korrigiert aus: fand,worauf

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 17; MAT8

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Spiegel seine Mitesser ausdrückte. Er war eben, wie bereits gesagt, leider hemmungslos. Er kämmte sich gerade mit Koblers Kamm, als dieser die Perzl am Schlüsselloch überraschte. „Der Herr Graf sind da“, flüsterte sie. „Aber ich an Ihrer Stell würd ihm das schon verbieten. Denken Sie sich nur, kommt er da gestern nicht herauf mit einem Mensch, legt sich einfach in Ihr Bett damit, gebraucht Ihr Handtuch und ist wieder weg damit. Das geht doch entschieden zu weit, ich tät das dem Herrn Grafen mal sagen.“ „Das ist gar nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen“, meinte Kobler. „Der Graf ist nämlich leicht gekränkt, er könnt das falsch auffassen und ich muss mich mit ihm vertragen, weil ich oft geschäftlich mit ihm zusammenarbeiten muss. An dem Handtuch ist mir zwar schon etwas aufgefallen, wie ich mir heut das Gesicht abgewischt hab, aber eine Hand wäscht die andere.“ Die Perzl zog sich gekränkt in ihre Küche zurück und murmelte was Ungünstiges über die heutigen Kavaliere. Als der Graf den Kobler erblickte, gurgelte er gerade mit dessen Mundwasser 얍 und liess sich nicht stören. „A servus!“ rief er ihm zu. „ Verzeih, aber ich hab grad so einen miserablen Geschmack im Mund -- apropos : ich weiss schon, Du hast den Karren verkauft. Man gratuliert!“ „Danke“, sagte Kobler kleinlaut und wartete verärgert, dass man ihn anpumpt. „Woher weiss denn das schon jeder Gauner, dass ich den Portschinger betrogen hab?“ fragte er sich verzweifelt. Er überlegte: „Pump mich nur an, aber dann schlag ich Dir auf Dein unappetitliches Maul!“ Aber es kam ganz im Gegenteil. Der Graf legte mit einer chevaleresken Geste zehn RM auf den Tisch. „Mit vielem Dank zurück“, lächelte er verbindlich und gurgelte weiter, als wäre nichts besonderes passiert. „Du hast es scheints vergessen“, B

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eben, wieN ] gesagt, leiderN ] BKamm, alsN ] Bda“, flüsterteN ] Bnur, kommtN ] BMensch, legtN ] BIhrN ] Bdamit, gebrauchtN ] BIhrN ] Bweit, ichN ] Beinfach, wieN ] Bvertragen, weilN ] BweilN ] Baufgefallen, wieN ] BheutN ] Bhab, aberN ] Berblickte, gurgelteN ] BVerzeih, aberN ] BaproposN ] Bverärgert, dassN ] Ban, aberN ] BunappetitlichesN ] BlächelteN ] Bweiter, alsN ] B B

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korrigiert aus: eben,wie korrigiert aus: gesagt,leider korrigiert aus: Kamm,als korrigiert aus: da“,flüsterte korrigiert aus: nur,kommt korrigiert aus: Mensch,legt korrigiert aus: ihr korrigiert aus: damit,gebraucht korrigiert aus: ihr korrigiert aus: weit,ich korrigiert aus: einfach,wie korrigiert aus: vertragen,weil

wei\l/ korrigiert aus: aufgefallen,wie

heut[e] korrigiert aus: hab,aber korrigiert aus: erblickte,gurgelte korrigiert aus: Verzeih,aber

[übrigens] |apropos| korrigiert aus: verärgert,dass korrigiert aus: an,aber korrigiert aus: unappetittliches lächelte[t] korrigiert aus: weiter,als

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 18

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

bemerkte er dann noch so nebenbei, „dass Du mir mal zehn Mark geliehen hast .“ (Was für ein Tag! dachte Kobler) „Ich kann es Dir heut leicht zurückzahlen“, fuhr der Graf fort, „weil ich heut nacht eine Erbschaft machen werd. Mein Grossonkel, der um zehn Monat jünger ist als ich, liegt nämlich im Sterben. Er hat den Krebs. Der Aermste leidet fürchterlich, Krebs ist bekanntlich unheilbar, wir wissen ja noch gar nicht, ob das ein Bazillus ist oder eine Wucherung. Er wird die Nacht nicht überleben, das steht fest. Wie er von seinem Leiden erlöst ist, 얍 fahr ich nach Zoppot. Nein, nicht durch Polen, oben rum.“ „Gehört Zoppot noch zu Deutschland?“ erkundigte sich Kobler. „ Nein, Zoppot liegt im Freistaat Danzig, der direkt dem Völkerbund untergeordnet ist“, belehrte ihn der Graf. „Übrigens wenn ich Du wär, würd ich jetzt auch wegfahren, Du kannst Deine sechshundert gar nicht besser anlegen. Wenn Du mir folgst, fährst Du einfach auf zehn Tag in ein Luxushotel, lernst dort eine reiche Frau kennen und alles weitere wird sich dann sehr legere abspielen, Du hast ja ein gutes Auftreten. Du kannst für Dein ganzes Leben die märchenhaftesten Verbindungen bekommen, garantiert ! Du kennst doch den langen Kammerlocher, der wo früher bei den Ulanen war, den Kadettaspiranten, der wo in der Maxim-Bar die Zech geDer ist mit ganzen zwahundert Schilling nach Meran gefahren, hat prellt hat? sich dort in ein Luxushotel einlogiert, hat noch am gleichen abend eine Aegypterin mit a paar Pyramiden zum Boston engagiert, hat mit ihr geflirtet und hat sie dann heiratn müssn, weil er sie kompromittiert hat. Jetzt ghört ihm halb Aegypten. Und was hat er ghabt? Nix hat er ghabt. Und was ist er gewesen? Pervers ist er gwesen! B

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er f nochN ] hastN ] B(WasN ] BTag!N ] BKobler)N ] Bzurückzahlen“, fuhrN ] BGrossonkel, derN ] Bich, liegtN ] Bunheilbar, wirN ] Bein BazillusN ] Büberleben, dasN ] BPolen, obenN ] BNein, ZoppotN ] BDanzig, derN ] Bist“, belehrteN ] Bwär, würdN ] Bwegfahren, DuN ] Bfolgst, fährstN ] BLuxushotel, lernstN ] Bbekommen, garantiertN ] BKammerlocher, derN ] Bwar,N ] BKadettaspiranten, derN ] Bhat?N ] B N] Bgefahren, hatN ] Beinlogiert, hatN ] Bengagiert, hatN ] BheiratnN ] Bmüssn, weilN ] Bgewesen?N ] B B

[der Graf] |er f noch| ha[ts]|st| [„]|(|Was Tag![“] Kobler[.]|)| korrigiert aus: zurückzahlen“,fuhr korrigiert aus: Grossonkel,der korrigiert aus: ich,liegt korrigiert aus: unheilbar,wir korrigiert aus: ein[e]Bazillus korrigiert aus: überleben,das korrigiert aus: Polen,oben korrigiert aus: Nein,Zoppot korrigiert aus: Danzig,der korrigiert aus: ist“,belehrte korrigiert aus: wär[e],würd korrigiert aus: wegfahren,Du korrigiert aus: folgst,fährst korrigiert aus: Luxushotel,lernst korrigiert aus: bekommen,garantiert korrigiert aus: Kammerlocher,der war[?] |,| [Ja,] korrigiert aus: Kadettaspiranten,der hat[!] |?| [Jawohl, der mit dem Rossgfriss!] korrigiert aus: gefahren,hat korrigiert aus: einlogiert,hat korrigiert aus: engangiert,hat heirat[en]|n| korrigiert aus: müss[en]|n|,weil [gwesen?] |gewesen?|

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 19

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Lange Seidenstrümpf hat er sich angzogen und hat seine Haxen im Spiegel betrachtet. Ein Narziss!“ „Das muss ich mir noch durch den Kopf gehen lassen, wie ich am besten mein Geld ausgib“, meinte Kobler nachdenklich. : „Ich bin kein Narziss“, fügte er hinzu. Die langen Haxen des Kammerlocher, das Luxushotel und die Pyramiden hatten ihn etwas verwirrt. Mechanisch bot er dem Grafen eine Achtpfennigzigarette an. „Das sind Mazedonier“, sagte der Graf. „Ich nehm mir gleich zwei.“ Sie rauchten. „Ich fahr bestimmt nach Zoppot“, wiederholte der Graf. Es schlug elf. „Es ist schon zwölf“, sagte der Graf, denn er war sehr verlogen. Dann wurde er plötzlich nervös. „Also ich fahr nach Zoppot“, wiederholte er sich abermals. „Ich werd dort spielen, ich hab nämlich ein Spielsystem, das basiert auf den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Du setzt immer auf die Zahl, die am wahrscheinlichsten herauskommt. Du musst wahrscheinlich gewinnen. Das ist sehr wahrscheinlich. Apropos wahrscheinlich: gib mir doch Deine zehn Mark wieder retour, es ist mir gerade eingefalln, dass ich sie Dir lieber morgen retourgib. Ich krieg sonst meine Wäsch nicht raus. Ich hab mir schon zuvor ein Taschentuch von Dir borgn müssn.“ B

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; Kobler rasierte sich gerade und die Perzl brachte ihm das neue Handtuch. „Ende gut, alles gut“, triumphierte sie. „Ich bin Ihnen direkt dankbar, dass Sie diesen Grafen endlich energisch hinauskomplimentiert habn! Ich freu mich wirklich sehr, dass ich B denN Strizzi nimmer zu sehn brauch!“ 25 „Halts Maul, Perzl!“ dachte Kobler und setzte ihr spitz auseinander, dass sie den Grafen total verkenne, man müsse es ihm nur manchmal sagen, dass er ein unmöglicher Mensch sei, sonst würde er sich ja mit sich selber nichtmehr auskennen. Im Moment sei er freilich gekränkt, aber hernach danke er einem dafür. -- „So und BjetztN bringens mir etwas heisses Wasser!“ sagte er und schien keinen Widerspruch zu dulden. 30 ; Sie brachte es Bihm, setzteN sich dann auf den kleinsten Stuhl und sah ihm aufmerksam zu. Sich BrasierendenN Männern hatte sie schon immer vieles verzeihen müssen. Das lag so in ihrem Naturell. Er hingegen beachtete sie Bkaum, daN er es schon gar nicht Bmochte, dassN sie mit ihrem Rüssel in seinem Privatleben Bherumwühlt, wieN eine Wildsau im Morast. 35 „Also einen Grossonkel hab ich nie Bgehabt“, liessN sie sich schüchtern wieder B vernehmen, „aberN wie mein Stiefbruder gestorben Bist --“N Kobler unterbrach sie un1 1 6 19 24 28 30 31 33 33 34 35 36 36

SeidenstrümpfN ] HaxenN ] BMechanisch f demN ] BV.N ] BdenN ] BjetztN ] Bihm, setzteN ] BrasierendenN ] Bkaum, daN ] Bmochte, dassN ] Bherumwühlt, wieN ] Bgehabt“, liessN ] Bvernehmen, „aberN ] Bist --“N ] B B

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 20; MAT5b

Sei[d]|d|enstrümpf [h]|H|axen Mechanisch1 er3 bot[2]|2| dem4 \V./ [diesen] |den| jetzt\t/ korrigiert aus: ihm,setzte rasieren[d]|d|en korrigiert aus: kaum,da korrigiert aus: mochte, dass korrigiert aus: herumwühlt,wie korrigiert aus: gehabt“,liess korrigiert aus: vernehmen,„aber korrigiert aus: ist--“

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 21; MAT11 MAT5b

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

geduldig: „Das mit dem sterbenden Grossonkel war doch nur Stimmungsmache, damit ich ihm leichter was leih! Der Graf ist nämlich sehr raffiniert. Er ist aber auch sehr vergesslich, bedenken Sie, dass er im Krieg verschüttet war. Er ist doch nichtmehr der Jüngste. Heutzutag muss man über Leichen gehen, wenn man was erreichen will. Ich geh aber nicht über Leichen, weil ich nicht kann. So und jetzt bringens mir etwas kaltes Wasser!“ Sie brachte ihm auch das kalte Wasser und betrachtete treuherzig seinen 얍 Rücken. „Darf man ein offenes Wort sagen, Herr Kobler?“ -- Kobler stutzte und fixierte sich selbst im Spiegel. „Offen?“ überlegte er. „ Offen ? Aber dann kündig ich zum ersten Oktober!“ -- Langsam wandte er sich ihr zu. „Bitte!“ sagte er offiziell. „Sie wissens ja jetzt, wie hoch ich den Herrn Grafen einschätz, aber trotzdem hat er zuvor in einem Punkt rechtghabt, nämlich was das Reisen betrifft. Wenn ich jetzt Ihr Geld hätt, liess ich sofort alles liegn, wies grad liegt, nur naus in die Welt!“ „Also das ist der ihr offenes Wort“, dachte Kobler beruhigt und wurde auffallend überlegen: „Sagen Sie Frau Perzl, warum horchen Sie denn immer, wenn ich Besuch empfange?“ „Ich hab doch nicht gehorcht!“ protestierte die Perzl und gestikulierte sehr. „Ich war doch grad am Radio, aber ich hab schon kein Ton gehört von dem klassischen Quartett, so laut haben sich die beiden Herren die Meinung gesagt ! Könnens mir glaubn, ich hätt mich lieber an der Musik erbaut, als Ihr urdanäres Gschimpf mitanghört!“ „Schon gut, Frau Perzl, so war es ja nicht gemeint“, trat Kobler den Rückzug an, während sie sich als verfolgte Unschuld sehr B

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Stimmungsmache, damitN ] vergesslich f dassN ] BLeichen, weilN ] BbringensN ] B N] BbetrachteteN ] Bsagen, HerrN ] Ber. „OffenN ] BOffen?N ] BkündigN ] Bjetzt, wieN ] Beinschätz, aberN ] Brechtghabt, nämlichN ] BIhrN ] Bhätt, liessN ] Bliegn, wiesN ] Bliegt, nurN ] BPerzl, warumN ] Bimmer, wennN ] BRadio, aberN ] BgehörtN ] BQuartett, soN ] BbeidenN ] BgesagtN ] Bglaubn, ichN ] Berbaut, alsN ] BIhrN ] BurdanäresN ] BPerzl, soN ] Bgemeint“, tratN ] B B

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korrigiert aus: Stimmungsmache,damit korrigiert aus: vergesslich,bedenken Sie,dass korrigiert aus: Leichen,weil

bringen[d]|s| gestrichen: (neuer Absatz) korrigiert aus: betrachtet korrigiert aus: sagen, Herr korrigiert aus: er.„Offen

Offen[?\“/]|?| kündig[e] korrigiert aus: jetzt,wie korrigiert aus: einschätz,aber korrigiert aus: rechtghabt,nämlich korrigiert aus: ihr korrigiert aus: hätt,liess korrigiert aus: liegn,wies korrigiert aus: liegt,nur korrigiert aus: Perzl,warum korrigiert aus: immer,wenn korrigiert aus: Radio,aber

[ghört] |gehört| korrigiert aus: Quartett,so

[beiden] |beiden| g\e/sagt korrigiert aus: glaubn,ich korrigiert aus: erbaut,als korrigiert aus: ihr [o]|u|rd[i]|a|näres möglicherweise bewusst gesetzte Dialektalform korrigiert aus: Perzl,so korrigiert aus: gemeint“,trat

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gefiel. „Wenn ich an all die fremden Länder denk“, sagte sie, „so hebts mich direkt von der Erdn weg, so sehr sehn ich mich nach Abbazzia .“ Kobler ging auf und ab . „Was Sie da über die weite Welt reden“, sagte er, „interessiert mich schon sehr. Nämlich ich hab mir schon oft ge- 얍 dacht, dass man das Ausland kennen lernen soll, um seinen Horizont zu erweitern. Besonders für mich als jungen Kaufmann wärs schon sehr arg, wenn ich hier nicht rauskommen tät, denn man muss sich mit den Verkaufsmethoden des Auslands vertraut machen. Also wie zum Beispiel ein Kabriolett mit Notsitz in Polen und wie das gleiche Kabriolett in Griechenland verkauft wird. Das werden zwar oft nur Nuancen sein, aber auf solche Nuancen kommts halt oft an. Es wird ja immer schwerer mit dem Dienst am Kunden. Die Leut werden immer anspruchsvoller und“ -- er stockte, denn plötzlich durchzuckte es ihn schaurig: „Wer garantiert mir, ob ich noch einen Portschinger find?“ „Niemand garantiert Dir Alfons Kobler, kein Gott und kein Schwein“, so ging es in ihm zu. Er starrte bekümmert vor sich hin. „Nichts ist der Kundschaft gut und billig genug“, meinte er traurig und lächelte resigniert. „Sie werden im Ausland sicher viel lernen, was Sie dann opulent verwerten können“, tröstete ihn die Perzl. „Was Sie nur allein an Kunstschätzen sehen werden ! In Paris den Louvre und im Dogenpalast hängt das Portrait eines alten Dogen, der schaut einen immer an, wo man auch grad steht. Aber besonders Florenz! Und das Forum romanum in Rom! Überhaupt die Antike!“ Doch Kobler wehrte ab: „Also für die Kunst hab ich schon garnichts übrig! Haltens mich denn für weltfremd? B

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sie, „soN ] weg, soN ] BAbbazziaN ] Bund abN ] Breden“, sagteN ] Bsagte er,N ] Bschon oft ge-N ] Bgedacht, dassN ] Bsoll, umN ] BwärsN ] Barg, wennN ] Btät, dennN ] Bsein, aberN ] BjaN ] Bmir, obN ] BDirN ] BKobler, keinN ] BinN ] Bist derN ] Blernen, wasN ] BopulentN ] BverwertenN ] Bkönnen“, trösteteN ] BKunstschätzenN ] BsehenN ] BwerdenN ] BaltenN ] BDogen, derN ] Ban, woN ] BgradN ] BdieN ] B B

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korrigiert aus: sie,„so korrigiert aus: weg,so gemeint ist: Abbazia

und\ /ab korrigiert aus: reden“,sagte Korrektur von fremder Hand: s\agte er,/ Korrektur von fremder Hand: scho\n oft ge-/ korrigiert aus: gedacht,dass korrigiert aus: soll,um

wär[e]|s| korrigiert aus: arg,wenn korrigiert aus: tät,denn korrigiert aus: sein,aber

[a/j]|ja| korrigiert aus: mir,ob

Di\r/ korrigiert aus: Kobler,kein

\in/ korrigiert aus: ist-der korrigiert aus: lernen,was

[nützlich] |opulent| verwer[en]|ten| korrigiert aus: können“,tröstete Kunstschätz[en][|n|]|en| seh[en][|n|]|en| werd[en][|n|]|en| alt[en][|n|]|en| korrigiert aus: Dogen,der korrigiert aus: an,wo \grad/ [d]|d|ie[se]

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Lesetext

Dafür interessieren sich doch nur die Weiber von den reichen Juden, wie die Frau Autobär, 얍 die von der Gotik ganz weg war und sich von einem Belletristen hat bearbeiten lassen!“ Die Perzl nickte deprimiert. „Früher war das anders“, sagte sie. „Bei mir muss alles einen Sinn haben“, konstatierte Kobler. „Habens das gehört, was der Graf über die Aegypterin mit den Pyramiden gewusst hat? Sehens, das hätt einen Sinn!“ Die Perzl wurde immer deprimierter. „Ihnen tät ichs von Herzen gönnen, lieber Herr! Hätt doch nur auch mein armer Sohn einen Sinn ghabt und hätt sich so eine reiche Aegypterin ausgsucht, statt das Mistvieh von einer Tippmamsell, Gott verzeih ihr die Sünd!“ Sie schluchzte. „Kennen Sie Zoppot?“ fragte Kobler. „Ich kenn ja nur alles von vor dem Krieg! Mein Mann selig ist viel mit mir rumgefahren. Sogar auf den Vesuv hat er mich hinauf. O wie möcht ich mal wieder hinauf!“ Sie weinte. „Beruhigen Sie sich“, sagte Kobler. „Was nicht geht, geht nicht!“ „Damit tröst ich mich auch“, wimmerte die Perzl. Sie nahm sich zusammen. „ Pardon, dass ich Sie molestiert hab“, lächelte sie geschmerzt. „Aber wenn ich Sie wär, würd ich morgen direkt nach Barcelona fahren, dort ist doch jetzt grad eine Weltausstellung. Da müssens in gar 얍 kein Luxushotel, da könnens solche Aegypterinnen leicht in den Pavillonen kennen lernen, das ist immer so in Weltausstellungen. In der Pariser Weltausstellung hab ich mal meinen Seligen verloren und schon spricht mich ein eleganter Herr an und wie ich ihn anschau macht er seinen Ulster auf und hat nichts darunter an, ich erwähn das nur nebenbei.“ B

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Juden, wieN ] anders“, sagteN ] Bgehört, wasN ] BSehens, dasN ] Bgönnen, lieberN ] Bausgsucht, stattN ] BTippmamsell, GottN ] Bsich“, sagteN ] Bgeht, gehtN ] Bauch“,N ] BPardon, dassN ] Bwär,N ] BdirektN ] Bfahrn, dortN ] B N] BdochN ] Bgrad eineN ] BmüssensN ] BLuxushotel, daN ] Blernen, dasN ] BSeligenN ] BverlorenN ] BeleganterN ] Ban, ichN ] B B

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korrigiert aus: Juden,wie korrigiert aus: anders“,sagte korrigiert aus: gehört,was korrigiert aus: Sehens,das korrigiert aus: gönne,lieber korrigiert aus: ausgsucht,statt korrigiert aus: Tippmamsell,Gott korrigiert aus: sich“,sagte korrigiert aus: geht,geht

auch\“,/ korrigiert aus: Pardon,dass

\wär,/ \direkt/ korrigiert aus: fahr[n]|en|,dort [\nämlich/] \doch/ [grad] [|{die}|] |grad eine| müss[ens][|ns|]|ens| korrigiert aus: Luxushotel,da korrigiert aus: lernen,das Selig[en][|n|]|en| verlor[n]|en| [e]|el|eganter korrigiert aus: an,ich

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

VI. Kobler betrat ein amtliches Reisebüro, denn er wusste, dass einem dort umsonst geantwortet wird. Er wollte sich über Barcelona erkundigen und wie man es am einfachsten erreichen tät. Zoppot hatte er nämlich fallen lassen, da er von der Perzl überzeugt worden war , dass an einem Orte, wo die ganze Welt ausstellt, wahrscheinlich eine bedeutend grössere Auswahl Aegypterinnen anzutreffen wären , als in dem luxuriösesten Luxushotel. Ausserdem würde er dabei auch die ganzen Luxushotelkosten sparen und wenn es nichts werden sollte mit den Aegypterinnen, (was er zwar nicht befürchtete, aber er rechnete mit jeder Eventualität) so könnte er seine Kenntnisse im Automobilpavillon vervollständigen und das Automobilverkaufswesen der ganzen Welt auf einmal überblicken. „Ich werd das Geschäftliche mit dem Nützlichen verbinden“, sagte er sich. -In dem amtlichen Reisebüro hingen viele Plakate mit Palmen und Eisbergen und man hatte das Gefühl, als wäre man schon nicht mehr in der Schellingstrasse. Fast jeder Beamte schien mehrere Sprachen zu sprechen und Kobler horchte an얍 dächtig. Er stand an dem Schalter „Ausland“. Vor ihm standen bereits zwei vornehme Damen und ein alter Herr mit einem alten Bart. Die Damen sprachen russisch, sie waren Emigrantinnen. Auch der Beamte war ein Emigrant. Die Damen nahmen ihn sehr in Anspruch. Er musste ihnen sagen wo gegenwärtig die Sonne scheint, am Lido, in Cannes oder in Deauville. Sie würden zwar auch nach Dalmatien fahren, meinten die Damen, auf die Preise käms ja nicht an, auch wenn es in Dalmatien billiger wäre. Der alte Herr mit dem gepflegten weissen Bart war ein ungarischer Abgeordneter. Er nannte sich Demokrat und las gerade in seiner ungarischen Zeitung, dass die Demokratie Schiffbruch erleidet, und nickte beifällig. Die eine Dame streifte Kobler mit dem Blick. Sie streifte ihn sehr schön und Kobler ärgerte sich, dass er kein Emigrant ist, während sich der bärtige Demokrat über Macdonald ärgerte. „Man sollte jeden Demokraten ausrotten“, dachte er. B

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 26

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

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Endlich gingen die beiden Damen. Der Beamte schien sie sehr gut zu kennen, denn er küsste der einen die Hand. Sie kamen ja auch jede Woche und erkundigten sich nach allerhand Routen. Gefahren sind sie aber noch nirgends hin, denn sie kamen mit ihrem 얍 Geld grad nur aus. Sie holten sich also jede Woche bloss die Prospekte und das genügte ihnen. Mit der, deren Hand der Beamte küsste, paddelte er manchmal am Wochenend. „Ich möchte endlich nach Hajduszoboszló mit Schlafwagen“, sagte der mit dem Bart ungeduldig und sah den Kobler kriegerisch an. „Was hat er nur?“, dachte Kobler. „Ob das auch ein Demokrat ist?“ dachte der Demokrat. „Nach Hajduszoboszló kann ich Ihnen leider keine Karte geben“ sagte der Beamte. „Ich hab sie nur bis Budapest hier.“ „ Skandal!“ entrüstete sich der Bart. „Ich werde mich bei meinem guten Freunde, dem königlich ungarischen Handelsminister beschweren!“ „Ich bin Beamter“, sagte der Beamte. „Ich tu meine Pflicht und kann nichts dafür. Welche Klasse wollen Sie?“ Der mit dem Bart sah ihn unsagbar wehmütig und gekränkt an. „Erster natürlich“, nickte er traurig. „Armes Ungarn!“ fiel es ihm ohne jeden Zusammenhang ein. Da trat ihm Kobler zufällig auf das Hühnerauge. „Was machen Sie da?!“ brüllte der Bart. „ Verzeihung!“ sagte Kobler. „Also das ist sicher ein Demokrat“, brummte der Bart auf ungarisch. „Bitte gedulden Sie sich einige Augenblicke, ich muss erst nachfragen lassen, ob es noch Budapester Schlafwagenplätze gibt“, sagte der Beamte und wandte sich dann an Kobler: „Wohin?“ „Nach Barcelona“, sagte Kobler als wär das in der Nachbarschaft. Der Bart horchte auf. „ Barcelona“, überlegte er, „war vor Primo die Rivera ei-얍ne Zentrale der anarchistischen Bewegung. Er ist mir auf die Hühneraugen getreten. Und dritter Klasse fährt er auch!“ „Barcelona ist weit“, sagte der Beamte, und Kobler nickte, auch der Bart nickte unwillkürlich und ärgerte sich darüber. „Barcelona ist sehr weit“, sagte der Beamte. B

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kennen, dennN ] hin, dennN ] Bder, derenN ] Bküsste, paddelteN ] BHajduszoboszlóN ] BSchlafwagen“, sagteN ] BkriegerischN ] Bnur?“, dachteN ] BHajduszoboszlóN ] BSkandal!“N ] BFreunde, demN ] BBeamter“, sagteN ] Bnatürlich“, nickteN ] BzufälligN ] BHühnerauge.N ] BVerzeihung!“ sagteN ] BDemokrat“, brummteN ] BBart f ungarisch.N ] BAugenblicke, ichN ] Blassen, obN ] BBarcelona“, sagteN ] BBarcelona“, überlegteN ] Bweit“, sagteN ] Bnickte, auchN ] Bweit“, sagteN ] BBeamte. „WieN ] B B

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korrigiert aus: kennen,denn korrigiert aus: hin,denn korrigiert aus: der,deren korrigiert aus: küsste,paddelte gemeint ist: Hajdúszoboszló korrigiert aus: Schlafwagen“,sagte

[K]|k|riegerisch korrigiert aus: nur?“,dachte gemeint ist: Hajdúszoboszló korrigiert aus: Skandal“! korrigiert aus: Freunde,dem korrigiert aus: Beamter“,sagte korrigiert aus: natürlich“,nickte

\zufällig/ Hühnerauge\./ [, zufällig aber schon derart, dass es nur so zischte.] korrigiert aus: Verzeihung[“]|!“|sagte korrigiert aus: Demokrat“,brummte Bart[.]|auf ungarisch.| korrigiert aus: Augenblicke,ich korrigiert aus: lassen,ob korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: Barcelona“,überlegte korrigiert aus: weit“,sagte korrigiert aus: nickte,auch korrigiert aus: weit“,sagte korrigiert aus: Beamte.„Wie

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Wie wollen sie fahren? Über Schweiz oder Italien? Sie fahren zur Weltausstellung? Dann passen Sie auf: fahren Sie hin durch Italien und retour durch die Schweiz. Preis und Entfernung sind egal, ja. Sie fahren hin und her dreiundneunzig Stunden, D-Zug natürlich. Sie brauchen das Visum nach Frankreich und Spanien. Wird besorgt! Nach Österreich , Italien und Schweiz brauchen Sie kein Visum, wird besorgt! Wenn Sie hier abfahren, sind Sie an der deutschen Grenze um 10.32 und in Innsbruck um 13.05. Ich schreibs Ihnen auf. Ab Innsbruck 13.28. An Brennero 14.23. Ab Brennero 15.30. An Verona 20.50. Ab Verona 21.44. An Milano 0.13. Ab Milano 3.29. Ab Genova 7.04. An Ventimiglia 11.27. An Marseille 18.40. An spanische Grenze Portbou 5.16. An Barcelona 10.00. Ab Barcelona 11.00. Und so schrieb ihm der Beamte auch noch alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Rückfahrt auf: Cerbéres, Tarascon, Lyon, Genf , Bern, Basel , -- und zwar hatte er diese Zahlen alle im Kopf. „Also das ist ein Gedächtniskünstler“, dachte Kobler. Ein Zirkus.“ „Und das kostet dritter Klasse hin und her nur einhundertsiebenundzwanzig Mark vierundfünfzig Pfennig“, sagte der Zirkus. Hin und her?! Kobler war begeistert. 얍 „Nur? Nicht möglich!“ staunte er. „ Doch!“ beruhigte ihn rasch der Beamte. „Deutschland ist bekanntlich mit das teuerste europäische Land, weil es den Krieg verloren hat. Frankreich und Italien sind bedeutend billiger, weil sie eine Inflation haben. Nur Spanien und die Schweiz sind noch teurer als Deutschland.“ „Sie vergessen Rumpfungarn“, mischte sich der Bart plötzlich ins Gespräch. „Rumpfungarn ist auch billiger als Deutschland, obwohl es alles im Krieg verloren hat. Es ist zerstückelt worden, meine Herren! Serbien und Kroatien dagegen sind N

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fahren?[“] egal[.]|,| [J]|j|a[,]|.| Wi[r]|rd| [ä]|Ö|sterreich korrigiert aus: abfahren,sind schreib[e]|s| korrigiert aus: 15.30 Milano[0.13] |0.13.| gestrichen: . korrigiert aus: 10.00 [u]|U|nd korrigiert aus: Cerbéres,Tarascon,Lyon,Genf [G]|G|enf[. Lausanne,] |,| korrigiert aus: Bern,Basel [Zürich, Lindau] [einfach] [„Er] |„Also das | Kobler\./ [„Ein Zahlengenie,] [e]|„E|in Zirkus[“.] |!“| korrigiert aus: Pfennig“,sagte korrigiert aus: her ?! Doch[,“]|!“| [versicherte] |beruhigte| korrigiert aus: ihm \rasch/ korrigiert aus: Land,weil korrigiert aus: billiger,weil Deutschland.\“ / korrigiert aus: Deutschland,owohl korrigiert aus: worden,meine

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 29

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

noch billiger als Rumpfungarn, weil Amerika den Krieg gewonnen hat, obwohl militärisch wir den Krieg gewonnen haben!“ „Am End ist es anscheinend ganz wurscht, wer so einen Krieg gewinnt“, sagte Kobler. Der Bart blitzte ihn empört an. „ Hát das ist ein Bolschewik!“ dachte er. „Die Neutralen sind am besten dran, das sind heut die teuersten Länder“, schloss der Beamte die Debatte. Kobler tat es aufrichtig leid, dass nicht auch Spanien und die Schweiz in den Weltkrieg verwickelt worden waren. B

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VII. Am Abend bevor Kobler zur Weltausstellung fuhr, betrat er nochmal sein Stammlokal in der Schellingstrasse, das war ein 얍 Cafè-Restaurant und nannte sich „Schellingsalon“. Er betrat es um zu imponieren und bestellte sich einen Schweinebraten mit gemischtem Salat. „Sonst noch was?“ fragte die Kellnerin. „Ich fahr nach Barcelona“, sagte er. „Geh wer werde denn so blöd sein!“ meinte sie und liess ihn sitzen. Da ging der Herr Kastner an seinem Tisch vorbei. „Ich fahr nach Barcelona!“ rief ihm der Kobler zu, aber der Herr Kastner war schon längst vorbei. Auch der Herr Schaal ging an ihm vorbei. „Sie fahren nach Barcelona?“ fragte der Schaal bissig. „In diesen ernsten Zeiten, junger Mann --“ „Kusch!“ unterbrach ihn Kobler verstimmt. Auch der Graf Blanquez gingen vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, sagte Kobler. „Seit wann denn?“ erkundigten sich der Graf. „Seit heut“. „Also dann steigst mir noch heut auf den Hut!“ sagten der Graf. Und auch der Herr Dünzl ging vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, meinte Kobler. „Glückliche Reise!“ sagte der brave Herr Dünzl und setzte sich an einen anderen Tisch. B

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Rumpfungarn, weilN ] hat, obwohlN ] Bwurscht, werN ] B„HátN ] BHátN ] Bdran, dasN ] BLänder“, schlossN ] Bleid, dassN ] BwordenN ] BVII.N ] Bfuhr, betratN ] BSchellingstrasse, dasN ] BCafè-RestaurantN ] BSchweinebratenN ] BKastnerN ] Bzu, aberN ] BKastnerN ] BAuch f SchaalN ] BSchaalN ] BZeiten f Mann --“N ] B N] BderN ] Bsteigst f Hut!“N ] BUnd auchN ] BDünzlN ] BDünzlN ] B B

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korrigiert aus: Rumpfungarn,weil korrigiert aus: hat,obwohl korrigiert aus: wurscht,wer

[„Halt] |„Hát| gemeint ist: ungarisch für also, halt (ugs.) korrigiert aus: dran,das korrigiert aus: Länder“,schloss korrigiert aus: leid,dass

\worden/ [\Anna, das Mädchen/] |VII.| korrigiert aus: fuhr,betrat korrigiert aus: Schellingstrasse,das Caf[e]|è|-Restaurant Schwein[s]|e|braten [Kastner] [|{ }|] [|Dünzl|] [|Reit|] |Kastner| korrigiert aus: zu,aber [Kastner][|{Dünzl}|] |Kastner| [Der Kakuschke] |Auch f Schaal| [Kakuschke] |Schaal| korrigiert aus: Zeiten,junger Mann--“ [der] \der/ [leckst mich noch heut im Arsch“,] |steigst f Hut!“| [\{Un}/] |Und| [A]|a|uch [Reithofer] [|Schaal|] |Dünzl| [Reithofer] [|Schaal|] |Dünzl|

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Kobler war erschüttert, denn er wollte ja imponieren und es ging unter keinen Umständen. Geduckt schlich er ins Klosett. „Zu zehn oder fünfzehn?“ fragte ihn die zuvorkommende alte Rosa. „Ich fahr nach Barcelona“, murmelte er. „Was fehlt Ihnen?!“ entsetzte sich die gute Alte, aber Kobler schwieg be-얍harrlich und die Alte machte sich so ihre Gedanken. Als er dann wieder draussen war, schielte sie sorgenvoll durch den Türspalt, ob er sich auch ein Bier bestellt hätte. Ja, er hatte sich sogar bereits das zweite Glas Bier bestellt, so hastig hatte er das erste heruntergeschüttet, weil er niemandem imponieren konnte. „Es ist schon alles wie verhext!“ sagte er sich. Da kam sie, das Fräulein Anna Pollinger. „Ich fahr nach Barcelona“, begrüsste sie der Kobler. „Wieso?“ fragte sie und sah ihn erschrocken an. Er sonnte sich in ihrem Blick. „Dort ist doch jetzt eine internationale Weltausstellung“, lächelte er gemein, und das tat ihm sogar wohl, obzwar er sonst immer anständig zu ihr gewesen ist. Er half ihr überaus aufmerksam aus dem Mantel und legte ihn ordentlich über einen Stuhl, dabei hatte er jedoch einen sehr höhnischen Gesichtsausdruck. Sie nahm neben ihm Platz und beschäftigte sich mit einem wackelnden Knöpfchen auf ihrem Aermel. Das Knöpfchen war nur zur Zierde da. Sie riss es ab. Dann erst sah sich Anna im Lokal um und nickte ganz in Gedanken dem Herrn Dünzl zu, der sie gar nicht kannte. „Nach Barcelona“, sagte sie, „da tät ich schon auch gern hinfahren.“ „Und warum fährst Du nicht?“ protzte Kobler. „Frag doch nicht so dumm“, sagte sie. – – Kennt Ihr das Märchen vom Fräulein Pollinger? 얍 Vielleicht ist noch einer unter Euch, der es nicht kennt und dann zahlt sichs ja schon aus, dass Ihrs alle nochmal hört. Also: Es war einmal ein Mädchen, das fiel nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur hundertzehn Mark und hatte nur eine Durchschnittsfigur und B

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sie[.]|,| [Anna, das Mädchen.] [|das Fräulein Anna Po|] |das f Pollinger.| korrigiert aus: Barcelona“,begrüsste korrigiert aus: wohl,obzwar korrigiert aus: Stuhl,dabei [Reithofer] [|Schaal|] |Dünzl| korrigiert aus: zu,der korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: dumm“,sagte sie. \– –/ vo[n]|m| [Anna, dem Mädchen?] |Fräulein Pollinger?| korrigiert aus: Euch,der korrigiert aus: aus,dass korrigiert aus: Mädchen,das [\das hiess {Fräulein Pollinger}/] korrigiert aus: auf,denn

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett. Sie arbeitete im Kontor einer Krafwagenvermietung , doch konnte sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie ab und zu hinten auf einem Motorrad mitfahren, aber dafür erwartete man auch meistens was von ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und verschloss sich den Herren nicht. Sie liess aber immer nur einen drüber, das hatte ihr das Leben bereits beigebracht. Oft liebte sie zwar gerade diesen einen nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte, im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen und wenn sie dies trotzdem tat wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade mal mussten. Oft wurde sie dann in den Anfangssätzen boshaft und tückisch, aber bald liess sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in ihrem Leben einerlei, denn das musste es ja sein, sonst hätt sies nicht ausgehalten. Nur wenn sie unpässlich war, dachte sie intensiver an sich. Einmal ging sie mit einem Herrn fast über das Jahr, der hiess Fritz. Ende Okto얍 ber sagte sie: „Wenn ich ein Kind bekommen tät, das wär das grösste Unglück“. Dann erschrack sie über ihre Worte. „Warum weinst Du?“ fragte Fritz. „Ich hab es nicht gern dass Du weinst! Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag und wir machen eine Bergtour.“ Und er setzte ihr auseinander, dass bekanntlich besonders die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, dass sie kein Kind kriegt. Sie stieg dann mit Fritz auf die westliche Wasserkarspitze, 2037 meter hoch über dem fernen Meere. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon ganz Nacht, aber B

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unangenehm, aberN ] hübsch, nurN ] BKraftwagenvermietungN ] Bmitfahren, aberN ] Bdrüber, dasN ] Bnicht, aberN ] Baus, wennN ] Bkonnte, imN ] Bselten, sieN ] Bzu, wasN ] BDann machteN ] Blustig, dennN ] Bwenig, meistensN ] Btückisch, aberN ] Beinerlei, dennN ] Bsein ,sonstN ] Bwar, dachteN ] BJahr, derN ] Bsie: „WennN ] Btät, dasN ] BerschrackN ] BSamstag, dasN ] Bauseinander, dassN ] BErschütterungen beimN ] Bwären, dassN ] BWasserkarspitze, 2037N ] Bstanden, warN ] BNacht, aberN ] B B

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[Autoreparaturwerkstätte] |Kraftwagenvermietung| korrigiert aus: mitfahren,aber korrigiert aus: drüber,das korrigiert aus: nicht,aber korrigiert aus: aus,wenn korrigiert aus: konnte,im korrigiert aus: selten,sie korrigiert aus: zu,was Dann\ /machte korrigiert aus: lustig,denn korrigiert aus: wenig,meistens korrigiert aus: tückisch,aber korrigiert aus: einerlei,denn korrigiert aus: sein,sonst korrigiert aus: war,dachte korrigiert aus: Jahr,der korrigiert aus: sie:„Wenn korrigiert aus: tät,das korrigiert aus: erscharck korrigiert aus: Samstag,das korrigiert aus: auseinander,dass Erschütterungen\ /beim korrigiert aus: wären,dass korrigiert aus: Wasserkarspitze,2037 korrigiert aus: standen,war korrigiert aus: Nacht,aber

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Fragmentarische Fassung

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droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt und Anna sagte: „Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.“ Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein. -Seit diesem Ausflug hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch nie wieder ganz gesund und ab und zu tat ihrs im Unterleib schon ganz verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch. – – ---------------------------------------------------------------------------------------------------Mitte September sass sie also neben Kobler 얍 im Schellingsalon. Sie bestellte sich lediglich ein kleines dunkles Bier, ihr Abendbrot (zwei Buttersemmeln) hatte sie bereits in der Kraftwagenvermietung zu sich genommen, denn sie hatte dort an diesem Tage ausnahmsweise bis abends neun Uhr zu tun. Sie musste dies durchschnittlich viermal wöchentlich ausnahmsweise tun. Für diese Überstunden bekam sie natürlich nichts bezahlt, denn sie hatte ja das Recht, jeden ersten zu kündigen, wenn sie arbeitslos werden wollte. „Gib mir was von Deinem Kartoffelsalat“, sagte sie plötzlich, denn sie hatte noch Appetit. „Bitte!“ meinte Kobler und es war ihm unvermittelt, als müsste er sich eigentlich anstandshalber schämen, dass er so nur aus Vergnügen nach Barcelona fährt. „Es wird sehr anstrengend werden“, sagte er. „Dann wird es also heut Nacht nichts“ sagte sie. „ Nein“, sagte er. B

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VIII.

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Der D-Zug, der den Kobler bis über die deutsche Grenze bringen sollte, fuhr pünktlich ab, denn der Herr mit der roten Dienstmütze hob pünktlich den Befehlsstab. „Das ist die deutsche Pünktlichkeit!“ hörte er jemanden sagen mit hannöverschem Accent. Da stand auf dem Bahnsteig u.a. eine junge Kaufmannsgattin und winkte begeistert ihrem Gatten im vorderen Wagen nach, der in die Fremde fuhr, um dort einen andern Kaufmann zu übervorteilen. 1 2 4 7 7 8 8 11 11 12 12 15 15 15 17 17 18 19 20 21 22

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imN ] aus, alsN ] Bein. --N ] Bnach, sieN ] BLeut, dieN ] Bist, soN ] Bnoch. – –N ] B N] B(zwei Buttersemmeln)N ] BKraftwagenvermietungN ] Bgenommen, dennN ] Bbezahlt, dennN ] BRecht, jedenN ] Bkündigen, wennN ] BKartoffelsalat“, sagteN ] Bplötzlich,dennN ] Bunvermittelt, alsN ] Bschämen, dassN ] Bwerden“, sagteN ] BheutN ] BNein“, sagteN ] B B

korrigiert aus: ihm korrigiert aus: aus,als korrigiert aus: ein.-korrigiert aus: nach,sie korrigiert aus: Leut,die korrigiert aus: ist,so

noch. \– –/ [mit Butter belegtes] [\ein Butterbr/] |(zwei Buttersemmeln)| [Autoreparaturwerkstätte] |Kraftwagenvermietung| korrigiert aus: genommen,denn korrigiert aus: bezahlt,denn korrigiert aus: Recht,jeden korrigiert aus: kündigen,wenn korrigiert aus: Kartoffelsalat“,sagte korrigiert aus: plötzlich,denn korrigiert aus: unvermittelt,als korrigiert aus: schämen,dass korrigiert aus: werden“,sagte heut[e] korrigiert aus: Nein“,sagte

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 35; MAT8

Fragmentarische Fassung

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Kobler drängte sich dazwischen. Er beugte sich aus dem Fenster und nickte der jungen Frau gnädig zu. Die verzog aber das Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jetzt ärgert sie sich“, freute sich Kobler und musste an das Fräulein Pollinger denken. „Auch Anna wird sich jetzt ärgern,“ dachte er weiter, „es ist nämlich grad acht Uhr und da beginnt ihr Büro. Ich würd mich auch ärgern, wenn jetzt mein Büro beginnen tät, es geht doch nichts über die Selbstständigkeit. Was wär das für ein Unglück, wenn alle Leut Angestellte wären, wie sich das der Marxismus ausmalt -- : oder könnt ich denn jetzt nach Barcelona, wenn ich ein Angestellter wär? Als Angestellter hätt ich mich doch niemals so angestrengt, den Portschinger zu betrügen. Wenn das Kabriolett Staatseigentum gewesen wär, dann hätt ichs einfach einschmelzen lassen, wie sichs eigentlich gehört hätt. Aber durch diese drohende Sozialisierung würden halt viele Werte brach liegen, die sich noch verwerten liessen. Das wär nicht anders, weil halt die persönliche Initiative zerstört wär.“ Er setzte sich schadenfroh auf seinen Fensterplatz und fuhr stolz durch die tristen Vorortsbahnhöfe, an den Vorortsreisenden vorbei, die ohne jede Bewegung auf die Vorortszüge warteten. Dann hörte die Stadt allmählich auf. Die Landschaft wurde immer langweiliger und Kobler betrachtete gelangweilt sein Gegenüber, einen Herrn mit einem energischen Zug, der sehr in seine Zeitung vertieft war. In der Zeitung stand unter der Überschrift „Nun erst recht!“, dass ein Deutscher, der sagt, er sei stolz, dass er ein Deutscher sei, denn wenn er nicht stolz wäre, würde er ja trotzdem auch nur ein Deutscher sein , also sei er natürlich stolz, dass er ein Deutscher wäre -- „ein solcher Deutscher“, stand in der Zeitung, „ ist kein Deutscher, sondern ein Asphaltdeutscher.“ Auch Kobler hatte sich mit Reiselektüre versorgt, nämlich mit einem Magazin. Da schulterten im Schatten photomontierter : Wolkenkratzer zwei Dutzend Mädchen ihre Beine, als wärens Gewehre und darunter stand: Der Zauber des Militaris-

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das f PollingerN ] MarxismusN ] BkönntN ] BBarcelona, wennN ] BniemalsN ] Bangestrengt, denN ] Bwär, dannN ] Blassen, wieN ] Bliegen, dieN ] B N]

3–4 7 8 8 9 9 10 11 12 13

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ErN ] vorbei, dieN ] B N] B N] BGegenüber, einenN ] BZug, derN ] Brecht!“, dassN ] BDeutscher f dassN ] Bsei, dennN ] BwürdeN ] BjaN ] BseinN ] Bstolz, dassN ] BistN ] BDeutscher, sondernN ] B

[Anna] |das f Pollinger| korrigiert aus: Mrxismus könnt[e] korrigiert aus: Barcelona,wenn [schon gar nie] |niemals| korrigiert aus: angestrengt,den korrigiert aus: wär,dann korrigiert aus: lassen,wie korrigiert aus: liegen,die [Der D-Zug fuhr aus der Halle. In der Halle hätte man noch leicht neben ihm herlaufen können, aber jetzt gings immer rapider vorwärts.] Absatz vom Autor getilgt [Kobler] [|Er|] |Er| korrigiert aus: vorbei,die Absatz vom Autor getilgt Absatz vom Autor getilgt korrigiert aus: Gegenüber,einen korrigiert aus: Zug,der korrigiert aus: recht!“,dass korrigiert aus: Deutscher,der sagt,er sei stolz,dass korrigiert aus: sei,denn

[wär] |würde| [doch] |ja| \sein/ korrigiert aus: stolz,dass

[i]|i|st korrigiert aus: Deutscher,sondern

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 37; MAT8

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

mus und, dass es also eigentlich gespenstisch wirke, dass Girls auch Köpfe hätten. Und dann sah Kobler auch noch ein ganzes Rudel weiblicher Schönheiten -- die eine stand auf einer dressierten Riesenschildkröte und lächelte sinnlich. Sonst hatte er keine Lektüre bei sich. Nur noch einige Wörterbücher, ganz winzigbedruckte ; mit je zwölftausend Wörtern. Deutsch-Italienisch, Français-Allemand, Deutsch-Französisch, EspanolAleman, usw. Und auch eine Broschüre hatte er sich zugelegt mit Redensarten für den Reisegebrauch in Spanien (mit genauer Angabe der Aussprache) herausgegeben von einem Studienrat in Erfurt, dessen Tochter immer noch hoffte, von einem reichen Deutschargentinier geheiratet zu werden, der ihr dies in der Inflation mal versprochen hatte. Nun beklagte der Studienrat in der Einleitung, es sei tief betrüblich, dass man in deutschen Landen so wenig spanisch lerne, wo doch die spanische Welt arm an Industrie sei, während sie uns Deutschen die mannigfachsten Naturprodukte liefere. Diese Tatsachen würden von der jungen Handelswelt noch lange nicht genügend gewürdigt. Und dann zählte der Studienrat die Länder auf, in denen spanisch gesprochen wird: zum Beispiel in Spanien. Und in Lateinamerika, ohne Brasilien. Kobler las: „ Ich bin hungrig, durstig . Tengo hambre, sed. Aussprache: tengo 얍 ambrre, ssed . Wie heisst das auf spanisch? Como se llama eso en castellano? Aussprache: komo sse ljama ehsso en kasteljano? Wollen Sie freundlichst langsamer sprechen? Tenga ustéh la bondád de ablárr máss despászio? Wiederholen Sie bitte das Wort. Sie müssen etwas lauter sprechen. Er führt eine stolze Sprache, aber er drückt sich gut aus. Kofferträger besorgen Sie mir mein Gepäck. Ich habe einen grossen Koffer, einen Handkoffer, ein Plaid und einen Bund Stöcke und Regenschirme. Ist das dort der richtige Zug nach Figueras? Geben Sie mir trockene Bettwäsche. Bitte Zwiebeln. Jetzt ist sie richtig. Seit längerer Zeit entbehren wir Ihre Aufträge. Was B

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[/]|(|mit Aussprache[/]|)| h[eraus]|eraus|gegeben korrigiert aus: Erfurt,dessen korrigiert aus: hoffte,von korrigiert aus: werden,der korrigiert aus: Einleitung,es korrigiert aus: betrüblich,dass korrigiert aus: lerne,wo korrigiert aus: sei,während [d]|D|eutschen korrigiert aus: auf,in [-] korrigiert aus: Lateinamerika,ohne [i]|I|ch korrigiert aus: hungrig,durstig korrigiert aus: ambrre,ssed [G]|C|omo usté[n]|h| gemeint ist: usted fü[rh]|hr|t korrigiert aus: Sprache,aber korrigiert aus: Koffer,einen Handkoffer,ein korrigiert aus: ihre

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 38

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

bin ich schuldig? Sehr wohl, mein Herr, ich bleibe alles schuldig. Was haben Sie? Nichts. Wollen Sie zahlen? Nein. Sie wollen nicht zahlen? Nein. Es scheint, dass Sie mich verstanden haben. Auf Wiedersehen also! Grüssen Sie Ihre Frau Gemahlin ( Ihren Herrn Gemahl) ! Tausend Dank! Glückliche Reise! Gott beschütze Sie!“ „Was lesens denn da?“ hörte er plötzlich seinen Nachbar fragen, der dem Herrn Portschinger ähnlich sah. Er hatte bereits seit einiger Zeit misstrauisch in das Werk des Erfurter Studienrats geschielt. Er hiess Thimoteus Bschorr. „Ich fahr nach Barcelona“, erwiderte Kobler lakonisch und wartete gespannt auf den Erfolg dieser Worte. Sein Gegenüber mit dem energischen Zug hob ruckartig den Kopf, starrte ihn hasserfüllt an und las dann zum zwanzigstenmal die Definition des Asphaltdeutschen. In der Ecke sass noch ein dritter Herr, aber auf den schienen Koblers Reisepläne gar keinen Eindruck zu machen. 얍 Er lächelte nur müde, als wäre er bereits einigemale um die Erde gefahren. Der Kragen war ihm zu weit. „Alsdann fahrens nach Italien“, konstatierte der Herr Bschorr phlegmatisch. „Barcelona liegt bekanntlich in Spanien“, meinte Kobler überlegen. „Des is gar net so bekanntlich !“ ereiferte sich der Herr Bschorr. „Bekanntlich is ganz was anders, bekanntlich hätt i gschworn, dass des Barcelona bekanntlich in Italien liegt!“ „Ich fahr durch Italien nur lediglich durch“, sagte Kobler und strengte sich an, genau nach der Schrift zu sprechen, um den Thimoteus Bschorr zu reizen. Aber der liess sich nicht. „Da werdns lang brauchen nach Barcelona hinter“, meinte er stumpf. „Sehr lang. Da beneid ich Sie schon gar net. Überhaupts muss Spanien recht drecket sein. Und eine heisse Zone. Was machens denn in Madrid?“ „Madrid werde ich links liegen lassen“, erklärte Kobler. „Ich möchte nurmal lediglich das Ausland sehen.“ B

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schuldig f ichN ] SehrN ] Bscheint, dassN ] B(IhrenN ] BIhrenN ] BGemahl)N ] Bfragen, derN ] BThimoteusN ] BBarcelona“, erwiderteN ] BKopf, starrteN ] BHerr, aberN ] Bmüde, alsN ] BErdeN ] BItalien“, konstatierteN ] BSpanien“, meinteN ] B N] B„DesN ] B N] Banders, bekanntlichN ] Bgschworn, dassN ] BdesN ] Bsprechen, umN ] BThimoteusN ] Bhinter“, meinteN ] Bstumpf. „SehrN ] Blassen“, erklärteN ] BnurmalN ] B B

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korrigiert aus: schuldig?Sehr wohl,mein Herr,ich

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[„Bekanntlich is gar net wahr, bekanntlich liegt des gar net in Spanien,] \„/[d]|D|es [, Sie] korrigiert aus: anders,bekanntlich korrigiert aus: gschworn,dass d[a]|e|s korrigiert aus: sprechen,um [Korbinian]|Thimoteus| korrigiert aus: hinter“,meinte korrigiert aus: stumpf.„Sehr korrigiert aus: lassen“,erklärte [zu]|nur|mal

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 39

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Bei diesen Worten zuckte sein Gegenüber wieder furchtbar zusammen und mischte sich ins Gespräch, klar, kurz und bündig: „Ein Deutscher sollte sein ehrlich erworbenes Geld in diesen wirtschaftlich depressiven Zeiten unter keinen Umständen ins Ausland tragen!“ Dabei fixierte er Kobler strafend, denn er hatte ein Hotel in Partenkirchen, das immer leer stand, weil es wegen seiner verrückt hohen Preise allgemein gemieden wurde. „Aber Spanien war ja im Krieg neutral“, kam der 얍 dritte Herr in der Ecke Kobler zu Hilfe. Er lächelte noch immer. „Egal!“ schnarrte der Hotelier. „Spanien ist uns sogar sehr freundlich gesinnt“, liess der in der Ecke nicht locker. „Uns is überhaupts niemand freundlich gesinnt!“ entgegnete ihm erregt der Timotheus . „Es wär ja ein Wunder, wenn uns jemand freundlich gesinnt wär!! Oder wars ka Wunder, Leutl ?!“ Der Hotelier nickte: „Ich wiederhole: ein Deutscher soll sein ehrlich erworbenes Geld in der Heimat lassen!“ Kobler wurde allmählich wütend. „Was geht Dich dem Portschinger sein Kabriolett an, Du Hund!“ dachte er und wies den Hotelier in seine Schranken zurück: „Sie irren sich! Wir jungen deutschen Handelsleute müssten noch bedeutend innigere Beziehungen mit dem uns wohlgesinnten Ausland anknüpfen. Zuguterletzt müssen wir dabei natürlich die nationale Ehre hochhalten --“ „ Das mit dem Hochhalten der Ehre sind Redensarten!“ unterbrach ihn der Hotelier unwirsch. „Wir Deutschen sind eben einfach nicht fähig, kommerzielle Beziehungen zum Ausland ehrenvoll anzuknüpfen!“ „Aber die Völker!“ meinte der Dritte und lächelte plötzlich nicht mehr. „Die Völker sind doch aufeinander angewiesen, genau wie Preussen auf Bayern und Bayern auf Preussen.“ „Sie wanns mir Bayern schlecht machn!“ brüllte der Timotheus . „Wer is angewiesen? Was is angewiesen? Die Schnappspreissn solln halt nach der Schweiz fahrn! Zuwas brauchn denn mir an Fremdenverkehr, bei mir kauft ka Fremder was, i hab a Ziegelei und war früher Metzger!“ „Oho!“ fuhr der Hotelier auf. „ Oho, Herr ! Ohne Fremdenverkehr dürfte die 얍 bayerische Eigenstaatlichkeit beim Teufel sein! Wir brauchen die norddeutschen Kurgäste, wir bräuchten auch die ausländischen Kurgäste, besonders die angelB

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Gespräch f kurzN ] strafend, dennN ] BPartenkirchen, dasN ] Bstand, weilN ] BentgegneteN ] BTimotheusN ] BWunder, wennN ] BkaN ] BWunder, LeutlN ] BDas mitN ] Bfähig, kommerzielleN ] Bangewiesen, genauN ] BTimotheusN ] BfuhrN ] BOho, HerrN ] BKurgäste, wirN ] BausländischenN ] BKurgäste, besondersN ] B B

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korrigiert aus: Gespräch,klar,kurz korrigiert aus: strafend,denn korrigiert aus: Partenkirchen,das korrigiert aus: stand,weil korrigiert aus: entgenete

[Herr Bschorr] |Timotheus| korrigiert aus: Wunder,wenn

k[ei]|a| korrigiert aus: Wunder,Leutl

Das[m]mit korrigiert aus: fähig,kommerzielle korrigiert aus: angewiesen,genau

[Herr Bschorr] |Timotheus| fu!r"!h" korrigiert aus: Oho,Herr korrigiert aus: Kurgäste,wir auslä[n]|n|dischen korrigiert aus: Kurgäste,besonders

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 41

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

sächsischen Kurgäste, aber bei uns fehlt es leider noch häufig an der entgegenkommenden Behandlung des ausländischen Fremdenstromes, wir müssten uns noch viel stärker der ausländischen Psyche anpassen. Jedoch natürlich, wenn der Herr Reichsfinanzminister erklärt -- “ Nun aber tobte der Thimoteus. „Des san do kane Minister, des san do lauter Preissn!“ tobte er. „Lauter Lumpn sans! Wer geht denn zugrund? Der Mittelstand! Und wer kriegt des ganz Geld vom Mittelstand? Der Arbater! Der Arbater raucht schon sechspfennig Zigaretten -Meine Herren! I sag bloss allweil: Berlin !“ „Bravo!“ sagte der Hotelier und memorierte den Satz vom Asphaltdeutschen. Der Herr in der Ecke erhob sich und verliess rasch das Abteil. Er stellte sich an das Fenster und sah traurig hinaus auf das schöne bayerische Land. Es tat ihm aufrichtig leid um dieses Land. „Der is draussn den i nausbissn“ , stellte der Thimoteus befriedigt fest. „Ich verfolge mit Aufmerksamkeit die Heimstättenbewegung“, antwortete der Hotelier. „Ihr Quadratidioten!“ dachte Kobler und wandte sich seinem Fenster zu. Auf den Feldern wurde gearbeitet, auf den Weiden stand das Vieh, am Waldrand das Reh und nur die apostolischen Doppelkreuze der Überlandleitungen erinnerten an das zwanzigste Jahrhun-얍dert. Der Himmel war blau, die Wolken weiss und bayerisch barock. B

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So näherte sich der D-Zug der südlichen Grenze der Deutschen Republik. Zuerst ist er an grossen Seen vorbeigerollt, da sind die Berge am Horizont noch klein gewesen. Aber jetzt wurden die Berge immer grösser, die Seen immer kleiner und der B

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Kurgäste, aberN ] Fremdenstromes, wirN ] Banpassen.N ] BJedochN ] Bnatürlich, wennN ] BNun f Thimoteus.N ] BMinister, desN ] Ber.N ] Ballweil: BerlinN ] Bdraussn f nausbissn“N ] BThimoteusN ] Bgearbeitet, aufN ] BVieh, amN ] Bblau, dieN ] B N]

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 42

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Horizont immer enger. Und dann hörten die Seen ganz auf und ringsherum gabs nurmehr Berge. Das war das Werdenfelser Land. In Partenkirchen stieg der Hotelier aus und würdigte Kobler keines Blickes. Auch der Herr Bschorr stieg aus und stolperte dabei über ein vierjähriges Kind. „Eha!“ meinte er und das Kind brüllte fürchterlich, denn der Herr Bschorr hätt es fast zertreten. B

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Dann fuhr der D-Zug wieder weiter. Richtung Mittenwald. Der Herr, der in der Ecke gesessen hatte, betrat nun wieder das Abteil, weil Kobler allein war. Er setzte sich ihm gegenüber und sagte: „Dort sehen Sie die Zugspitze!“ Bekanntlich ist die Zugspitze Deutschlands höchster Berg, aber ein Drittel der Zugspitze gehört halt leider zu Österreich . Also bauten die Österreicher vor einigen Jahren eine Schwebebahn auf die Zugspitze, obwohl dies die Bayern schon seit zwanzig Jahren tun wollten. Natürlich ärgerte das die Bayern sehr 얍 und infolgedessen brachten sie es endlich fertig , eine zweite Zugspitzbahn zu bauen und zwar eine rein bayerische, keine luftige Schwebebahn, sondern eine solide Zahnradbahn. Beide Zugspitzbahnen sind unstreitbar grandiose Spitzenleistungen moderner Bergbahnbautechnik und es sind dabei bis Mitte September 29 schon rund vier Dutzend Arbeiter tödlich verunglückt. Jedoch bis zur Inbetriebnahme der Bayerischen B

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korrigiert aus: fürchterlich,denn [Der Hotelier wurde von seiner Frau erwartet,die sah recht abgearbeitet aus und passte nicht zu seinem gutangezogenen || Aeusseren. Es war auch keine glückliche Ehe,sondern eine Kriegsehe. Er hatte sie als ihn sein Kaiser zu den Waffen gerufen hatte, im Lager Lechfeld kennen gelernt,dort ist sie Köchin in einer Kantine gewesen und er Rechnungsfeldwebel. Dort hatten beide,jeder in seinem Revier mächtig gestohlen und hatten sich kriegstrauen lassen. Und obwohl er vor dieser grossen Zeit nur ein kleiner Buchhalter gewesen war,hatte er sich in der Inflation ein partenkichner Hotel kaufen können und markierte hernach den ehemaligen Kampfflieger. Aber, wie gesagt,es war keine glückliche Ehe,denn er wollte nur immer repräsentieren und sie war sehr eifersüchtig,weil er mit einer Kassiererin aus Augsburg eine ständige Liebschaft hatte. Auch jetzt kam er wieder von seiner Kassiererin nach Hause und Kobler sah,dass er von seiner Frau unangenehm berührt war.] BHerr, derN ] korrigiert aus: Herr,der Bhatte, betratN ] korrigiert aus: hatte,betrat BAbteil, weilN ] korrigiert aus: Abteil,weil Bsagte: „DortN ] korrigiert aus: sagte:„Dort Baber f DrittelN ] [obwohl] |aber| [die Hälfte] |ein Drittel| Bgehört f leiderN ] \gehört f leider/ B N] [gehört] BZugspitze, obwohlN ] korrigiert aus: Zugspitze,obwohl BNatürlich fdasN ] [Also ärgerten sich \natürlich/] |Natürlich f das| BsehrN ] [über die österreichische Zugspitzbahn] |sehr| Bund f fertigN ] [Zugspitzenbahn so sehr, dass sie es] [|und brachten|] |und| \infolgedessen/ [endlich fertigbrachten] |brachten f fertig| Bbayrische, keineN ] korrigiert aus: bayrische,keine BSchwebebahn, sondernN ] korrigiert aus: Schwebebahn,sondern BvierN ] [fünf] [|{ }|] |vier| BtödlichN ] korrigiert aus: t\ö/tlich B

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Zugspitzbahn werden natürlich leider noch zahlreiche Arbeiter daran glauben müssen, versicherte die Betriebsleitung. „Ich hab dies mal einer Dame erzählt“, sagte der Herr zu Kobler, „aber die Dame sagte, das waeren bloss Erfindungen der Herren Arbeiter, um einen höheren 5 Tarif zu erpressen.“ Dabei lächelte der Herr so sonderbar, dass sich der Kobler schon gar nicht mit ihm auskannte. „Diese Dame“ fuhr der Herr fort, „ist die Tochter eines Düsseldorfer Aufsichtsrates und hat schon 1913 nach Kuba geheiratet, sie hat also den Weltkrieg in Kuba durchgemacht.“ Und wieder lächelte der Herr sehr sonderbar und Kobler verwirrte 10 das fast. „In Kuba wird der Krieg angenehmer gewesen sein“, sagte er und das gefiel dem Herrn. „Sie werden jetzt ein schönes Stückchen Welt sehen“, nickte : er ihm freundlich zu. „Stückchen ist gut“, dachte Kobler gekränkt und fragte: „Sind Sie auch Kaufmann?“ „Nein!“ sagte der Herr sehr knapp, als wollt er kein Wort mehr mit ihm sprechen. 15 „Was kann der nur sein?“ überlegte Kobler. „Ich war früher Lehrer“, sagte der Herr plötzlich. „Ich weiss nicht, ob Sie ; die Weimarer Verfassung kennen, aber wenn Sie Ihre politische Überzeugung mit dem Einsatz Ihrer ganzen Persönlichkeit, mit jeder Faser Ihres Seins vertreten, dann nützen Ihnen auch Ihre verfassungsmässig verankerten Freiheitsrechte einen 20 grossen Dreck. Ich zum Beispiel hab eine Protestantin geheiratet und hab nun meine Stelle verloren, das verdanke ich dem bayerischen Konkordat. Jetzt vertrete ich eine Zahnpaste, die niemand kauft, weil sie miserabel ist. Meine Familie muss bei meinen Schwiegereltern in Mittenwald wohnen und die Alte wirft den Kindern jeden Bissen vor. -- -- Dort sehen Sie Mittenwald! Es liegt lieblich, 25 nicht ?“ B

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Mittenwald ist deutsch-österreichische Grenzstation mit Pass- und Zollkontrolle. Das war die erste Grenze, die Kobler in seinem Leben überschritt, und dieser Grenzübertritt mit seinen behördlichen Zeremonien berührte ihn seltsam feierlich. Mit fast scheuer Bewunderung betrachtete er die Gendarmen, die sich auf dem Bahnsteig langweilten.

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leiderN ] müssen, versicherteN ] Berzählt“, sagteN ] BKobler, „aberN ] Bsagte, dasN ] BArbeiter, umN ] Bsonderbar, dassN ] BfuhrN ] Bgeheiratet, sieN ] BLehrer“, sagteN ] Bnicht, obN ] Bkennen, aberN ] Bvertreten, dannN ] Bverloren, dasN ] BZahnpaste, dieN ] Bkauft, weilN ] Blieblich, nichtN ]

korrigiert aus: müssen,versicherte korrigiert aus: erzählt“,sagte korrigiert aus: Kobler,„aber korrigiert aus: sagte,das korrigiert aus: Arbeiter,um korrigiert aus: sonderbar,dass

fu!r"!h" korrigiert aus: geheiratet,sie korrigiert aus: Lehrer“,sagte korrigiert aus: nicht,ob korrigiert aus: kennen,aber korrigiert aus: vertreten,dann korrigiert aus: verloren,das korrigiert aus: Zahnpaste,die korrigiert aus: kauft,weil korrigiert aus: lieblich,nicht

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Bereits vor Mittenwald hielt er seinen Pass erwartungsvoll in der Hand und nun lag auch sein Koffer weitaufgerissen auf der Bank. „Bitte nicht schiessen, denn ich bin brav!“ sollte das heissen. Er zuckte direkt zusammen, als der österreichische Finanzer im Wagen erschien. 5 „Hat wer was zu verzollen?“ rief der Finanzer ahnungslos. „Hier!“ rief Kobler und wies auf seinen braven Koffer. Aber der Finanzer sah gar nicht hin. „Hat wer was zu verzollen?!“ brüllte er entsetzt und raste überstürzt aus dem Waggon, denn er hatte Angst, dass ausahmsweise jemand wirklich was zu verzollen hätte, nämlich dann hätte er ausnahmsweise wirklich was zu tun gehabt. 10 ; Allerdings bei der Passkontrolle ging es schon schärfer zu, denn dies war das bessere Geschäft. Es sass ja in jedem Zug meist eine Person, deren Pass gerade abgelaufen war und der konnte man dann einen Grenzschein für einige Mark respektive Schilling verkaufen. Eine solche Person sagte mal dem Passbeamten: „Erlauben Sie, ich bin aber schon sehr für den Anschluss!“ Jedoch der Passbeamte verbat sich 15 energisch jede Beamtenbeleidigung. – Langsam verliess der D-Zug die Deutsche Republik. Er fuhr an zwei Schildern : vorbei: B

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Königreich Bayern Rechts fahren!

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 47; MAT8

Bundesstaat Österreich Links fahren!

„Fahren wir jetzt auch links?“ fragte Kobler den österreichischen Schaffner. „Wir sind eingleisig“, sagte der Schaffner und Kobler musste direkt an Grossdeutschland denken. Nun gings durch die nördlichen Kalkalpen ; und zwar entlang der alten Römerstrasse zwischen Wetterstein und Karwendel. Der D-Zug musste auf 1160 meter empor, um das rund 600 meter tiefer gelegene Inntal erreichen zu können. Es war dies für D-Züge eine komplizierte Landschaft. Das Karwendel ist ein mächtiger Gebirgsstock und seine herrlichen Hochtäler zählen unstreitbar zu den ödesten Gebieten der Alpen. Von brüchigen Graten ziehen grandiose Geröllhalden meist bis auf die Talsohle hinab und treffen sich dort mit dem Schutt von der anderen Seite. Dabei gibts fast nirgends Wasser und also kaum was lebendiges. 1928 wurde es zum Naturschutzgebiet erklärt, damit : es in seiner Ursprünglichkeit erhalten bleibt. So rollte der D-Zug an fürchterlichen Abgründen entlang, durch viele viele Tunelle und über kühn konstruierte Viadukte. Jetzt erblickte Kobler eine schmutzige

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wasN ] Allerdings beiN ] Bzu, dennN ] BdiesN ] BPerson, derenN ] BSie, ichN ] BJedochN ] BBeamtenbeleidigung. –N ] Bempor, umN ] B N] BD-ZügeN ] B1928N ] Berklärt, damitN ] Bkühn konstruierteN ] B B

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korrigiert aus: war \Allerdings/ [B]|b|ei korrigiert aus: zu,denn d[as]|ies| korrigiert aus: Person,deren korrigiert aus: Sie,ich [Aber] |Jedoch| Beamtenbeleidigung. \–/ korrigiert aus: empor,um [\{ }/] D-Z[ü]|ü|ge [L]|1|928 korrigiert aus: erklärt,damit korrigiert aus: künkonstruierte

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 48; MAT8

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Dunstwolke über dem Inntal. Unter dieser Dunstwolke lag Innsbruck, die Hauptstadt des heiligen Landes Tirol. Kobler wusste nichts weiter von ihr, als dass sie ein berühmtes goldenes Dachl hat, einen preiswerten Tirolerwein und dass der Reisende, der von Westen ankommt, 5 zur linken Hand einige grosse Bordelle sehen kann. Das hatte ihm mal der Graf Blanquez erläutert. In Innsbruck musste er umsteigen und zwar in den Schnellzug nach Bologna. Dieser Schnellzug kam aus Kufstein und hatte Verspätung. „Die Österreicher sind halt sehr gemütliche Leut“, dachte Kobler. Endlich kam der Schnellzug. 10 Bis Steinach am Brenner, also fast bis zur neuen italienischen Grenze, also kaum fünfzig Minuten lang sassen in Koblers Abteil ein altösterreichischer Hofrat und ein sogenannter Mann aus dem Volke, der dem Hofrat sehr schön tat, weil er von ihm eine Protektion haben wollte. Dieser Mann war ein charakterloser Werkmeister, der der Heimwehr, einer österreichischen Abart des italienischen Fascismus, beigetreten 15 ist, um seine Arbeitskollegen gründlicher übervorteilen zu können. Nämlich sein leitender Ingenieur war Gauleiter der Heimwehr. Der Hofrat hatte einen altmodischen goldenen Zwicker und ein hinterlistiges : Geschau. Sein Aeusseres war sehr gepflegt -- er schien überhaupt ein sehr eitler Mensch zu sein, denn er schwätzte in einer Tur, nur um den Beifall des Mannes 20 hören zu können. Der Schnellzug wandte sich ab von Innsbruck und schon fuhr er durch den BergIsel-Tunnel. „Jetzt ist es finster“, sagte der Hofrat. „Sehr finster“ sagte der Mann. „Es ist so finster geworden, weil wir durch den Tunnel fahren“, sagte der Hofrat. „Vielleicht 25 wirds noch finsterer“, sagte der Mann. „Kruzitürken ist das aber finster!“ sagte der Hofrat. „Kruzitürken!“ sagte der Mann. Die Österreicher sind sehr gemütliche Leute. „Hoffentlich erlaubts mir unser Herrgott noch, dass ichs erleb, wie alle Sozis aufghängt werdn“, sagte der Hofrat. „Verlassen Sie sich auf den dort droben“, 30 sagte der Mann. „Über uns ist jetzt der Berg Isel“, sagte der Hofrat. „Andreas Hofer“, sagte der Mann und fügte hinzu: „Die Juden werdn zu frech“. B

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lang[\,/] [Heim\at/wehr beigetreten ist,um seine Arbeitskollegen gründlicher übervorteilen zu können. Nämlich sein leitender Ingenieur war Gauleiter der Heimwehr. \(Die Heimwehr { })/] [besonders sein weisser Scheitel] korrigiert aus: sein,denn [Tour] |Tur,| gestrichen: , korrigiert aus: finster“,sagte korrigiert aus: finster“sagte korrigiert aus: geworden,weil korrigiert aus: fahren“,sagte korrigiert aus: erleb,wie korrigiert aus: werdn“,sagte korrigiert aus: droben“,sagte korrigiert aus: Isel“,sagte korrigiert aus: Hofer“,sagte

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 49; MAT4

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Der Hofrat klapperte mit dem Gebiss. „Den Halsmann sollns nur tüchtig einsperren, bei Wasser und Brot !“ krähte er. „Ob der Judenbengel nämlich seinen Judentate erschlagen hat oder nicht, das ist wurscht. Da gehts um 얍 das Prestige der österreichischen Justiz, man kann sich doch 5 nicht alles von den Juden gefallen lassen!“ „Neulich habn wir einen Juden ghaut“, sagte der Mann. „A geh wirklich?“ freute sich der Hofrat. „Der Jud war allein“, sagte der Mann, „und wir waren zehn, da hats aber Watschen ghagelt! Heimwehrwatschen!“ Der Hofrat kicherte. 10 „ Ja, die Heimwehr!“ sagte er. „Heil!“ rief der Mann. „Und Sieg!“ sagte der Hofrat. „Und Tod!“ rief der Mann. -Als der Schnellzug den Berg-Isel-Tunnel verliess, trat Kobler auf den Korridor, ; denn er konnte es drinnen nichtmehr aushalten, weil ihm das ewige Geschwätz im Denken störte. 15 Und er musste mal nachdenken -- das war so ein Bedürfnis, als hätte er dringend austreten müssen. Es war ihm nämlich plötzlich die Ägypterin, sein eigentliches Reiseziel, eingefallen, und er ist darüber erschrocken, dass er nun einige Stunden lang nicht an Ägypten gedacht hatte. Aber als er nun an dem Fenster stand, wurde er halt wieder abgelenkt und zwar 20 durch Gottes herrliche Bergwelt, wie der Kitsch die seinerzeit geborstene Erdkruste nennt. „Was ist der Mensch neben einem Berg?“ fiel es ihm plötzlich ein und dieser Gedanke ergriff ihn sehr. „Ein grosses Nichts ist der Mensch neben einem Berg. Also ständig möcht ich nicht in den Bergen wohnen. Dann wohn ich schon lieber im Flachland. Höchstens noch im Hügelland.“ B

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 50

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; Seit dem Frieden von Saint-Germain zieht sich die österreichisch-italienische Grenze über die Passhöhe des Brenners zwischen Nord- und Südtirol. Die BItalienerN hätten 30 nämlich ihre Brüder im Trento von dem habsburgischen Joche erlöst und sowas kann man als anständiger Mensch nur lebhaft begrüssen. Die Italiener waren ja nicht in den Weltkrieg Bgezogen, umN fremde Völker zu Bunterjochen, sieN wollten keine Annektionen, ebensowenig wie Graf Berchtold, BExkaiserN Wilhelm Bder ZweiteN und BLudendorfN. Aber aus militärisch strategischen Grün35 den waren die BItalienerN eben leider Bgezwungen, dasN ganze deutsche Südtirol zu 2 3 4 6 10 11 26 29 32 32–33 33–34 34 34 35 35

BrotN ] nicht, dasN ] BJustiz, manN ] Bghaut“, sagteN ] BJa, dieN ] BMann. --N ] BX.N ] BItalienerN ] Bgezogen, umN ] Bunterjochen, sieN ] BExkaiserN ] Bder ZweiteN ] BLudendorfN ] BItalienerN ] Bgezwungen, dasN ] B B

korrigiert aus: Bort korrigiert aus: nicht,das korrigiert aus: Justiz,man korrigiert aus: ghaut“,sagte korrigiert aus: Ja,die korrigiert aus: Mann.--

\X./ I[at]|ta|liener korrigiert aus: gezogen,um korrigiert aus: unterjochen,sie

\Exkaiser/ [zwo] |der Zweite| gemeint ist: Ludendorff I!a"!t"liener korrigiert aus: gezwungen,das

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 51; MAT11 MAT4

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

annektieren, genau wie etwa Ludendorf gezwungen gewesen wäre aus rein strategischen Gründen Polen, Finnland, Kurland, Estland, Littauen , Belgien usw. zu annektieren. „Der Friede von Saint-Germain ist ein glattes Verbrechen!“ hatte mal ein Innsbrucker Universitätsprofessor gesagt und er hätte schon sehr recht gehabt, wenn er kein Chauvinist gewesen wäre. -Bekanntlich will nun der Mussolini das deutsche 얍 Südtirol durch und durch italianisieren. Genau so rücksichtslos, wie seinerzeit Preussen das polnische Posen germanisieren wollte. So hat der Mussolini u.a. auch verfügt, dass möglichst alle deutschen Namen (Ortsnamen, Familiennamen, usw.) ins Italienische übersetzt werden müssen, auf dass sie nur italienisch ausgesprochen werden dürften . Und zwar sollen sie ihrem Sinne nach übersetzt werden. Hat nun aber ein Name keinen übersetzbaren Sinn, so hängt der Mussolini hinten einfach ein o an. Wie z.B. Merano . So auch Brennero. -Als nun Kobler den Brennero erblickte, fiel es ihm sogleich auf, dass dort droben ungemein viel gebaut wird und zwar lauter Kasernen. Im Bahnhof Brennero wurde der Schnellzug von den fascistischen Behörden bereits erwartet. Da standen ungefähr dreissig Männer und fast jeder war anders uniformiert. Da hatten welche Napoleonshüte und weite lange Mäntel oder kurze enge oder weite kurze oder enge lange. Einige trugen prächtige Hahnenfedern, die ihnen fast bis auf die Schultern herabwallten. Andere wieder trugen Adlerfedern oder Wildentenfedern, und wieder andere trugen gar keine Federn, höchstens etwas Flaum. Die meisten waren feldgrau oder feldbraun, aber es waren auch welche da in stahlblau, B

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annektieren, genauN ] LudendorfN ] BFinnland f BelgienN ] BLittauenN ] Ber hätteN ] Bgehabt, wennN ] BChauvinistN ] Brücksichtslos, wieN ] BpolnischeN ] Bverfügt, dassN ] B(Ortsnamen f usw.)N ] BItalienischeN ] Bmüssen, aufN ] BdürftenN ] BSinn, soN ] BhintenN ] Bz.B. MeranoN ] BBrenneroN ] Berblickte, fielN ] Bauf, dassN ] BSchnellzugN ] BHahnenfedern, dieN ] BAndere f AdlerfedernN ] BoderN ] BFedern, höchstensN ] Bfeldbraun, aberN ] B N] B B

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korrigiert aus: annektieren,genau gemeint ist: Ludendorff korrigiert aus: Finnland,Kurland,Estland,Littauen,Belgien gemeint ist: Litauen

er\ /hätte korrigiert aus: gehabt,wenn

[c]|C|hauvinist korrigiert aus: rücksichtslos,wie

polni[s]|s|che korrigiert aus: verfügt,dass korrigiert aus: [/] ( Ortsnamen,Familiennamen,usw.[/] )

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[i]|I|talienische korrigiert aus: müssen,auf dürf[e]|te|n korrigiert aus: Sinn,so \hinten/ korrigiert aus: z.B.[Me]|Me|rano [B]|B|rennero korrigiert aus: erblickte,fiel korrigiert aus: auf,dass Sch!e"!n"llzu g korrigiert aus: Hahnenfedern,die Andere1 trugen3 wieder2 Adlerfedern4 [, Wildgansfedern,] |oder| korrigiert aus: Federn,höchstens korrigiert aus: feldbraun,aber [violett,lila]

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 52

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

und grünlich mit Aufschlägen in rot, ocker, silber, gold und lila . Viele hatten schwarze Hemden -- das waren die bekannten Schwarzhemden. Sie boten ein farbenfrohes Bild. Alle schienen sehr zu frieren, denn knapp 얍 hundert meter über ihnen hing der herbstliche Nebel Nordtirols. Keiner der Reisenden durfte den Schnellzug verlassen, denn hier gings viel strenger zu als wie zwischen Bayern und Österreich in Mittenwald. Und dies nicht nur deshalb, weil die Italiener zur romanischen Rasse gehören, sondern weil sie obendrein noch den Mussolini haben, der in permanenter Wut ist, dass es bloss vierzig Millionen Italiener gibt. Neunundzwanzig von den dreissig Uniformierten waren mit den Grenzübertrittsangelegenheiten schon sehr beschäftigt. Der Dreissigste schien der Anführer zu sein, er tat nämlich nichts. Er stand auf dem Bahnsteig etwas im Hintergrunde unter einer kolorierten Photografie des Duce und hatte sehr elegante Schuhe. Er war vielleicht 1.40 hoch und forschend glitt sein Blick über den Schnellzug. Er forschte nach wo eine blonde Frau sass, eine Deutsche oder eine Skandinavierin. „Prego den Pass!“ sagte der italienische Passbeamte. Er sprach gebrochen deutsch, höflich aber bestimmt. „Wohin fahren Sie Signor Kobler?“ fragte er. „Nach Barcelona“, sagte der Signor. „Sie fahren also nach Italien“, meinte der Passbeamte. „Ja“ sagte der Signor. Und nun geschah etwas mysteriöses. Der Passbeamte wandte sich ernst seinem Begleiter zu, einem Passunterbeamten, und sagte auf italienisch: „Er fährt nach Italien.“ Der Passunterbeamte nickte würdevoll: „Soso nach Italien fährt er“, meinte er gedehnt und kam sich wichtiger vor als Mussolini 얍 persönlich, während sich der Oberpassbeamte bereits mit dem nächsten Reisenden beschäftigte. „Sie fahren nach Italien“ fragte er. „Jawohl!“ sagte der nächste Signor. Er hiess Albert Hausmann. „Und warum fahren Sie nach Italien?“ fragte der OberB N

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] silber, goldN ] BlilaN ] BdasN ] BSieN ] B N] Bfrieren, dennN ] Bverlassen, dennN ] BwieN ] Bdeshalb, weilN ] B N] Bgehören, sondernN ] Bhaben, derN ] Bist, dassN ] Bsein, erN ] BSchuhe. ErN ] Bsass, eineN ] Bdeutsch, höflichN ] BBarcelona“, sagteN ] BItalien“, meinteN ] Bzu, einemN ] BPassunterbeamten, undN ] B„Er fährtN ] BItalien.“N ] Bwürdevoll: „SosoN ] Ber“ f gedehntN ] Bpersönlich, währendN ] Bsich f OberpassbeamteN ] BItalien?“ fragteN ]

korrigiert aus: silber,gold

[hellblau] |lila| [D]|d|as S[o]|ie| [sie] korrigiert aus: frieren,denn korrigiert aus: verlassen,denn [w]|w|ie korrigiert aus: deshalb,weil [eine fremde Sprache sprechen und] korrigiert aus: gehören,sondern korrigiert aus: haben,der korrigiert aus: ist,dass korrigiert aus: sein, er korrigiert aus: Schuhe.Er korrigiert aus: sass,eine korrigiert aus: deutsch,höflich korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: Italien“,meinte korrigiert aus: zu,einem korrigiert aus: Passunterbeamten,und \„/Er\ /fährt korrigiert aus: Italien“. korrigiert aus: würdevoll:„Soso korrigiert aus: er“,meinte er gedehnt korrigiert aus: persönlich[.]|,|während der2 Oberpassbeamte3 sich1 korrigiert aus: Italien[?]|?“|fragte

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 54

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

passbeamte. „Ich will mich in Italien erholen“, sagte der Signor Hausmann. „Sie werden sich in Italien erholen!“ sagte der Oberpassbeamte stolz. „ Hoffentlich!“ meinte der Erholungsbedürftige, worauf sich der Oberpassbeamte wieder seinem Begleiter zuwandte: „Er will sich in Italien erholen“, sagte er. „Vielleicht auch nicht!“ meinte der Passunterbeamte lakonisch und blickte den Erholungsbedürftigen misstrauisch an, denn er erinnerte ihn an einen gewissen Isidore Niederthaler in Brixen, dessen Weib als politisch verdächtig auf der fascistischen schwarzen Liste stand. „Das Weib hat einen prächtigen Hintern“, dachte der Passunterbeamte. Inzwischen hatte sich der Oberpassbeamte bereits wieder an einen dritten Reisenden gewandt. Der hiess Franz Karl Zeisig. „Sie fahren nach Italien?“ fragte der Oberpassbeamte. „Zu blöd!“ murmelte Kobler. „Wir fahren doch alle nach Italien!“ „Unterschätzen Sie nicht Benito Mussolini“, flüsterte ihm der Erholungsbedürftige zu. „Mit dieser scheinbar ungereimten Fragerei verfolgen die Passbeamten einen ganz bestimmten Zweck. Das sind alles besonders hervorragende Detektive von der politischen Polizei in Rom. Wissen sie was ein Kreuzverhör ist?“ Kobler blieb ihm die Antwort schuldig, denn plötzlich standen drei Fascisten vor ihm. „Haben Sie Zeitungen?“ fragte der erste Fascist. „ Österreichische, sozialistische, kommunistische, anarchistische, syndikalistische und nihilistische dürfen Sie nicht mit : nach Italien nehmen, weil das strengstens verboten ist!“ „Ich bin kein Nihilist“, sagte Kobler, „ich hab bloss ein Magazin bei mir.“ Und dann durchwühlten noch einige italienische Finanzer seinen Koffer. „Was ist das?“ fragte der Eine und hielt ihm eine Kravatte vor die Nase. „Das ist eine Kravatte“, sagte Kobler. Der Finanzer nickte befriedigt, lächelte ihm freundlich zu und verschwand mit seinen Kollegen. Endlich wars vorbei mit den Grenzübertrittsschwierigkeiten und der Schnellzug setzte sich als „diretto“ südwärts in Bewegung. Hinab vom Brenner -- durch das neue Italien. B

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Hoffentlich!\“/ korrigiert aus: Erholungsbedürftige ,worauf Oberpassbe!m"!a"te korrigiert aus: erholen[“]|“|,sagte korrigiert aus: er.[„]|„|Vielleicht korrigiert aus: an,denn korrigiert aus: Brixen,dessen korrigiert aus: Hintern“,dachte [Passober]|Oberpass|beamte korrigiert aus: Mussolini“,flüsterte [d]|d|ieser sch[e]|e|inbar Passbeamte\n/ Rom.[“] korrigiert aus: schuldig,denn korrigiert aus: Österreichische,sozialistische,kommunistische, anarchistische,syndikalistische [Durch das neue Italien] |XI.|

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 55; MAT5b

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 56

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

weil er nicht wusste, was sie bedeuten sollte. „Albergo Luigi, Uscita, Tabacco, Olio sasso, Donne, Uomine“, las er. „Das hat halt alles einen Klang“, dachte er. „Schad, dass ich nicht Koblero heiss!“ Im ehemaligen Franzensfeste hatten sie etwas Aufenthalt. „Erlauben Sie, wo sind wir jetzt?“ fragte ihn ein nervöser deutscher Italienreisender, der ihm nicht über die Schulter schauen konnte. „In Latrina“, antwortete Kobler. „Machen Sie da gefälligst keine schlechten Witze!“ schrie der Nervöse. Kobler war sehr verdutzt. Da hing ja direkt vor : ihm das Schild: B N

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LATRINA

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„Brüllen Sie nicht mit mir!“ brüllte er den Nervösen an. „Bedauere Herr“, kreischte der Nervöse und zappelte sehr, „ich bin zu solchen Spässen keineswegs bereit!“ „Jetzt kommt der feierliche Moment“, dachte Kobler, „wo ich Dir eine schmier“ -- aber hier mischte sich jener erholungsbedürftige Herr Albert Hausmann überaus freundlich in die Auseinandersetzung, um den Streit im Keime zu ersticken, denn er war sehr ängstlich. „ Irrtum, meine Herren!“ meinte er. „Latrina bedeutet soviel wie Abort. Sie reden aneinander vorbei, meine Herren!“ Der Erholungsbedürftige sprach nämlich perfekt italienisch und war überhaupt ein sehr intelligenter und belesener Mann, der besonders in der Weltgeschichte bewandert war. „Das alles war früher Südtirol“, sagte er. Und dann gab er Kobler den Rat, sich nur ja vor den fascistischen Spitzeln zu hüten, die wären nämlich äusserst raffiniert und brutal. „Dort drüben am dritten Fenster zum Beispiel“, wisperte er geheimnisvoll und deutete verstohlen auf einen Mann, der wie ein Bauer aussah, „dort dieser Kerl ist sicher ein Spitzel. Der wollte mich nämlich gerade in ein verfängliches Gespräch verwickeln, er wird auch Sie verwickeln wollen, er trachtet ja nur darnach, jeden zu 얍 verwickeln -- und bei B

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SpässenN ] keineswegs bereit!“N ] BAuseinandersetzung, umN ] Bersticken, dennN ] BIrrtum,N ] Bvorbei, meineN ] BMann, derN ] BSüdtirol“, sagteN ] BRat, sichN ] Bsich f jaN ] Bhüten, dieN ] BamN ] BBeispiel“, wisperteN ] BMann, derN ] Baussah, „dortN ] BDerN ] Bverwickeln, erN ] Bwollen, erN ] Bdarnach, jedenN ] B

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 58

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

der ersten abfälligen Aeusserung über Mussolini Nobile oder überhaupt das System werden Sie sofort aus dem Zuge heraus verhaftet. Geben Sie acht!“ Kobler gab acht. Knapp vor Bolzano näherte sich ihm der Spitzel. „Bolzano hiess früher Bozen“, sagte der Spitzel. (Aha! dachte Kobler) „In Bozen bauen jetzt die Italiener ein riesiges Elektrizitätswerk“, sagte der Spitzel. (Nur zu! dachte Kobler) „Die Italiener“, fuhr der Spitzel fort, „haben die Wassermassen von ganz weit weg nach Bozen geleitet. Sie haben durch diese ganze Bergkette da draussen einen Schacht gebohrt und zwar haben sie dort droben unterhalb der Kuppe angefangen zu bohren und in Bozen haben sie angefangen zu bohren und haben sich so zusammenbohren wollen, aber sie haben gleich dreimal aneinander vorbeigebohrt, anstatt, dass sie sich zusammengebohrt hätten. Sie mussten sich erst reichsdeutsche Ingenieure engagieren“, grinste der Spitzel. „Die Reichsdeutschen werden sich schon auch nicht zusammengebohrt haben“, meinte Kobler. „Doch und zwar haargenau!“ ereiferte sich der Spitzel. „Zufall!“ meinte Kobler. Pause. „Kennen Sie Bozen?“ fragte der Spitzel. 얍 „ Nein“, sagte Kobler. „Dann schauen Sie sich doch Bozen an!“ rief der Spitzel. „Die Bozener sind ja ganz weg über die reichsdeutschen Gäste!“ „Ich bin ein reichsdeutscher Fascist“, sagte Kobler. Der Spitzel sah ihn erschrocken an. „Dort drüben ist jetzt der Rosengarten“, meinte er kleinlaut. „Vielleicht!“ sagte Kobler und liess ihn stehen. Der Spitzel sah ihm noch lange nach. Er war ja gar kein Spitzel. B

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1 5 6 6 7 9 9 10 13 14 14–15 16 23 26 27–28 31

MussoliniN ] Bozen“, sagteN ] B(Aha!N ] BKobler)N ] BElektrizitätswerk“, sagteN ] B(Nur zu!N ] BKobler)N ] BfuhrN ] Bund f bohrenN ] Bwollen, aberN ] Bvorbeigebohrt f dassN ] Bengagieren“, grinsteN ] BNein“, sagteN ] BFascist“, sagteN ] BRosengarten“, meinteN ] B N] B B

korrigiert aus: Mussolino korrigiert aus: Bozen“,sagte

[„]|(|A[H]|h|a![“] Kobler[.]|)| korrigiert aus: Elektrizitätswerk[“]|“|,sagte [„]|(|Nur zu![“] Kobler[.]|)| korrigiert aus: führ \und f bohren/ korrigiert aus: wollen,aber korrigiert aus: vorbeigebohrt,anstatt,dass korrigiert aus: engagieren“,grinste korrigiert aus: Nein“,sagte korrigiert aus: Fascist“,sagte korrigiert aus: Rosengarten“,meinte [----------------------------------------------------]

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 59

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

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Befriedigt darüber, dass er Mussolinis vermeintlichem Spitzel ein Schnippchen geschlagen hatte, betrat Kobler den Speisewagen. „Jetzt hab ich mir meinen Cafè verdient“, sagte er sich und war so glücklich, als hätt er gerade einen Prozess gewonnen, den er rechtens hätte verlieren müssen. Es war nur noch ein Platz frei im Speisewagen. „Prego?“ fragte Kobler und das war sein ganzes italienisch. „Aber bitte!“ sagte der Gast in deutscher Sprache. Das war ein kultivierter Herr aus Weimar, der Stadt Goethes und der Verfassung. Überhaupt fiel es auf, dass trotz des italienischen Hochheitsgebiets im ganzen Zuge, ausser von den Schaffnern und einigen Schwarzhemden, lediglich deutsch gesprochen wurde. Besonders im Speisewagen hörte man 얍 allerhand deutsche Dialekte. Der kultivierte Herr an Koblers Tisch hatte ein schwammiges Aeusseres und schien ungemein verfressen zu sein. Ein Gourmand. Als Sohn eines ehemaligen Pforzheimer Stadtbaumeisters, der in der wilhelminischen Epoche eine schwerreiche weimarer Patrizierstochter geheiratet hatte, konnte er sich seine drei Lachsbrötchen, vier Ölsardinen, zwei Paar Frankfurter und drei Eier im Glas ungeniert leisten. Von seinem Vater, dem Stadtbaumeister, hatte er die Einbildung geerbt, dass er einen regen Sinn für architektonische Linienführung besässe, und von der Mutter hatte er trotz der Inflation einen Haufen Geld geerbt und die gesammelten Werke der Klassiker. Er war sechsundvierzig Jahre alt. „Ich bin ein Renaissancemensch“, erklärte er Kobler und sprach sehr gewählt. „Mein Ideal ist der Süditaliener , der sich Tag und Nacht am Meeresstrand sonnt, B

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XII.N ] darüber, dassN ] Bvermeintlichem SpitzelN ] Bhatte, betratN ] Bverdient“, sagteN ] Bglücklich, alsN ] BhättN ] Bgewonnen, denN ] Bitalienisch. „AberN ] BWeimar, derN ] BfielN ] Bauf, dassN ] BHochheitsgebietsN ] BZuge, ausserN ] B N]

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korrigiert aus: darüber,dass

vermeintlich[n]|em| [Schergen] |Spitzel| korrigiert aus: hatte,betrat korrigiert aus: verdient“,sagte korrigiert aus: glücklich,als

hätt[e] korrigiert aus: gewonnen,denn korrigiert aus: italienisch.„Aber korrigiert aus: Weimar,der

[v]|f|iel korrigiert aus: auf,dass

[\Territoriums/] |Hochheitsgebiets| korrigiert aus: Zuge,ausser

[Allein vom Personal sprach der Oberkellner wienerisch,der zweite Kellner schwäbisch und der Dritte fast platt. Der Koch sprach jiddisch und das Küchenmädchen meranerisch.] BAeusseresN ] 14 korrigiert aus: Aeussere BwilhelminischenN ] wil!e"!h"lminischen 16 Bhatte, konnteN ] korrigiert aus: hatte,konnte 17 B N] 17 [fünf Schinkenbrötchen,] BLachsbrötchen f zweiN ] korrigiert aus: Lachsbrötchen,vier Ölsardinen[.]|,|zwei 17–18 BVater f hatteN ] korrigiert aus: Vater,dem Stadtbaumeister,hatte 19 Bgeerbt, dassN ] korrigiert aus: geerbt,dass 19 Bbesässe,N ] 20 [besitze] |besässe,| B N] 20 gestrichen: , BRenaissancemensch“, erklärteN ] korrigiert aus: Renaissancemensch“,erklärte 23 BSüditalienerN ] Südi[at]|ta|liener 24 korrigiert aus: sonnt,nie 24–509,1 Bsonnt, nieN ]

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 60

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

nie etwas tut und überaus genügsam ist. Sie können es mir glauben, auch unsere deutschen Arbeiter wären glücklicher, wenn sie genügsam wären. Herr Ober! Bringen Sie mir noch ein Tatarbeefsteak !“ Dieser Renaissancemensch hatte natürlich noch nie etwas gearbeitet und litt infolgedessen an einer schier pathologischen Hypochondrie. Er hatte eben nichts zu tun, als sich vor dem 얍 Sterben zu fürchten. Und obendrein war er auch noch verwegen dumm. So hatte er des öfteren behauptet, dass ihm das Schicksal des deutschen Reiches ganz egal wäre, wenn nur die Dividenden steigen würden. „Sowas sagt man doch nicht!“ hatte sich sein Vetter, ein scharf rechtsstehender Realpolitiker, entrüstet und hatte ihn unter Kuratel stellen lassen wollen, aber das ist ihm vorbeigelungen. „Er ist doch normal und denkt scharf logisch“, hat der Gerichtsarzt gemeint. „Also Sie fahren nach Barcelona“, sagte nun der total Normale zu Kobler und fügte scharf logisch hinzu: „Primo ist ein tüchtiger Mann. Ein Kavalier. Wenn Sie nach Barcelona kommen, so grüssen Sie mir bitte die Stierkämpfe, Sie werden da etwas prachtvoll Traditionelles erleben. Und dann überhaupt dieser ganze spanische konservative Geist! Es ist eben immer dasselbe. Ich habe es ja immer schon gesagt: das konservative Element müsste sich international zusammenschliessen, um sich stärker konservieren zu können -- wir deutschen Konservativen sollten die französischen Konservativen einfach in das Land hereinrufen, auf dass sie diese Republik züchtigen -- Frankreich hat ja die militärische Macht, um jeden deutschen Arbeiter an die Wand stellen zu können -- und après sollten wir Kulis aus China einführen, die nicht mehr brauchen als täglich eine Handvoll Reis.“ Und er fügte lachend hinzu: „Das ist natürlich nur ein Witz!“ N

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In Verona musste Kobler zum zweitenmale umsteigen und zwar in den Schnellzug nach Mailand, der um diese Zeit von Venedig zu kommen pflegte. Hiezu standen ihm 1 1 2 3 6 8 9 10 10 11 12 13 14 15 18 19 20 20 22 22–23 23 25

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ist[,]|.|

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korrigiert aus: glauben,auch korrigiert aus: glücklicher,wenn korrigiert aus: Tartarbefsteak korrigiert aus: tun,als korrigiert aus: behauptet,dass korrigiert aus: wäre,wenn korrigiert aus: Vetter,ein korrigiert aus: Realpolitiker,entrüstet korrigiert aus: wollen,aber korrigiert aus: logisch“,hat[te] korrigiert aus: Barcelona“,sagte korrigiert aus: hinzu:„Primo korrigiert aus: Stierkämpfe,Sie korrigiert aus: zusammenschliessen,um

ist.N ] glauben, auchN ] Bglücklicher, wennN ] BTatarbeefsteakN ] Btun, alsN ] Bbehauptet, dassN ] Bwäre, wennN ] BVetter, einN ] BRealpolitiker, entrüstetN ] Bwollen, aberN ] Blogisch“, hatN ] BBarcelona“, sagteN ] Bhinzu: „PrimoN ] BStierkämpfe, SieN ] Bzusammenschließen, umN ] BKonservativenN ] BKonservativenN ] Bhereinrufen, aufN ] Baprès solltenN ] Beinführen, dieN ] BHandvollN ] B N]

Konservativen[,] korrigiert aus: Koservativen korrigiert aus: her[a]|e|inrufen,auf korrigiert aus: après sollten korrigiert aus: einführen,die [h]|H|andvoll [\--------------------------------------------------/]

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 62; MAT8

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

leider nur zehn Minuten zur Verfügung und so konnte er also von Verona nichts sehen, nur den Bahnhof und der sah andern Bahnhöfen leider sehr ähnlich. Es war auch inzwischen schon Nacht geworden und zwar eine Neumondnacht. Verona sei eine uralte Stadt, die irgendwie mit dem Dietrich von Bern zusammen; 5 hänge, hatte ihm der Renaissancemensch erzählt, und angeblich lägen in ihr auch noch obendrein Romeo und Julia, das berühmteste Liebespaar der Welt, begraben. Die veronesischen Bordelle seien zwar nicht berühmt, jedoch immerhin. Auf dem Bahnsteig ging ein Herr in einer braunen Uniform auf und ab. Er hatte eine Armbinde auf dem rechten Oberarm und auf der stand in vier Sprachen geschrie10 ben, dass er ein amtlicher Dolmetscher sei und also kein Trinkgeld nehmen dürfe. Er war überaus zuvorkommend und gab Kobler fliessend deutsch Auskunft. „Der direto aus Venezia nach Milano“, sagte er, „kommt an auf dem 얍 dritten Bahnsteig und fährt ab auf dem dritten Bahnsteig, das ist dort drüben, wo jene lächerliche Frau steht.“ 15 Diese lächerliche Frau war des Dolmetschers Frau, mit der er sich gerade wiedermal gezankt hatte. Nämlich sie hatte es noch nie haben wollen, dass er den Beruf eines amtlichen Dolmetschers ausübt und nächtelang mit allerhand Ausländerinnen auf dem Bahnhof herumlungert. Aber der Dolmetscher pflegte immer nur zu sagen: „Soviel Sprachen jemand spricht, so oft ist dieser jemand ein Mensch.“ Auch an die20 sem Abend hatte er ihr dies wiedermal gesagt, worauf sie aber ganz ausser sich geraten ist. „Mit soviel Menschen will ich garnichts zu tun haben!“ hatte sie auf dem Korso geschrien. „Ich will ja bloss Dich! Oh wenn Du nur taubstumm wärest, Giovanni! So und jetzt fahr ich zu meinem Bruder nach Brescia!“ Dies war jenes Brescia, wo einst die Frau Perzl aus der Schellingstrasse ein Drit25 tel Windmühle geerbt hatte. „In Italien soll man möglichst zweiter Klasse fahren“, erinnerte sich Kobler an 얍 die Ratschläge der Perzl. „Besonders wenn man schlafen will, soll man es tun, weil die Reisenden in Italien, besonders die in der dritten Klasse, meistens laut vor sich hinsingen, als möchte man garnicht schlafen wollen.“ 30 Und Kobler wollte schlafen, denn er war plötzlich sehr müde geworden -- „entweder ist das die Luftveränderung“, dachte er, „oder wahrscheinlich die vielen neuen Eindrück.“ Vor seinem geistigen Auge tauchten sie wieder alle auf, mit denen er während der letzten zwölf Stunden in Berührung gekommen war. Aber diesmal hatte jeder 35 nur eine Geste -- trotzdem wollte es kaum ein Ende nehmen mit den Erscheinungen. Und als die Gestalt des Herrn Bschorr gar zum zweitenmal daherkommen wollte, stolperte Kobler. Und dann gingen viele Berge, Viadukte und fremde Dörfer um ihn herum und das Inntal blieb vor ihm stehen. Auch die italienische Sprache sah ihn an, aber etwas von 40 oben herab. B

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diretoN ] Italien,N ] BKlasse,N ] Bwährend derN ] Bwar.N ] BKobler.N ] B B

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[Schnellzug] |direto| Italien\,/ Klasse\,/ [in diesen] |während der| [ist.] |war.l Kobler\./ [über [einen verlorenen Hammer \drüben/ auf dem dritten Bahnsteig\./ [in Verona.]] |seine eigenen Füss.|]

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ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 63

ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 64

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)



Lesetext

„Also wenn das so weitergeht“, dachte er , „dann werd ich meine Ägypterin noch ganz vergessen, an die ausländischen Kabrioletts denk ich ja überhaupt nichtmehr, ich hab mich ja schon fast selber vergessen, hoffentlich kann ich jetzt schlafen bis Milano, das ist der italienische Name für Mailand -- dort darf ich dann wieder her5 umhocken, bis ich den Anschluss nach Ventimiglia krieg. Das wird eine weite Reise werden. Und derweil ist unsere Welt eigentlich klein. Und wird auch noch immer kleiner. Im-;mer wieder kleiner. Ich werds ja nichtmehr erleben, dass sie noch ganz klein wird --“ so versuchte er sich zu sammeln. Dabei hatte er ein unangenehmes Gefühl. Es war ihm wie jenem Manne zumute, der am Donnerstag vergass, was er am 10 Mittwoch getan hatte. „Erster Klass soll man halt reisen können!“ seufzte er. „Mir tut von dem Holz schon der Hintern weh. Meiner Seel, ich glaub ich bin wund!“ Infolgedessen stieg er nun in ein Abteil zweiter Klasse. In der Ecke sass bereits ein Herr hinter seinem Regenmantel und schien totenähnlich zu schlafen. Er hatte nur 15 eine kleine Handtasche, hingegen märchenhaft viel Zeitungen. Die Ausgaben lagen nur so herum, sogar auf dem Boden und auch im Gepäcknetz. Er musste beim Zeitungslesen eingeschlafen sein. -Zwanzig Minuten hinter Verona, als Kobler gerade einschlafen wollte, wachte der Herr auf. Zuerst gähnte er recht unartikuliert und dann sah er hinter seinem Man20 tel hervor, erblickte Kobler, starrte ihn erstaunt an, rieb sich die Augen, fixierte ihn etwas genauer und fragte gemütlich deutsch: „Wie kommen Sie hier herein?“ Aber Kobler ärgerte sich, dass ihn der Herr nicht einschlafen liess, und er : war infolgedessen kurz angebunden . „Ich komm durch die Tür herein“, sagte er. „Das vermut ich“, sagte der Herr. „Das vermut ich sogar sehr! Durch das Fenster 25 werden Sie wohl nicht hereingeflogen sein. Hab ich denn so fest geschlafen? Ja ich hab so fest geschlafen.“ (Seltsam! dachte Kobler. Er hat mich gleich direkt deutsch angesprochen, ob das ; auch ein Spitzel ist?) Misstrauisch beobachtete er den Herrn. Dieser war bereits etwas angegraut und glatt rasiert. „Woher wissen Sie denn, dass ich Deutscher bin?“ 30 fragte er ihn plötzlich und gab sehr acht, dass er dabei harmlos aussieht. „Ich kenn das am Kopf“, meinte der Herr. „Ich kenn das sofort am Kopf. Die ; Deutschen haben nämlich alle dicke Köpfe, natürlich nur im wahren Sinne des Wortes. Ich bin ja selbst so halb Deutscher. Was bin ich nicht halb? Alles bin ich halb! So ist das Leben! Da sitzen wir uns gegenüber und fahren durch die Poebene. Ich komm 35 aus Venedig, während Sie?“ „Zuletzt komm ich aus Verona“, sagte Kobler. „Verona hat eine herrliche Piazza“, meinte der Herr. „Die Piazza d’Erbe ist ein Mittelpunkt des Volkslebens. Und viel Militär liegt in Verona, es ist halt sehr befestigt. Es bildete ja mit den Befestigungen von Peschiera, Mantua und Legnago das B

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erN ] „dannN ] B N] B N] BAberN ] Bsich,N ] Bliess,N ] BerN ] Bkurz angebundenN ] BVenedig, währendN ]

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vielgenannte Festungsviereck. Gegen wen? Gegen Österreich-Ungarn. Und warum gegen Österreich-Ungarn? Weil es mit Italien verbündet war. Aber was war ein Bündnis im Zeitalter der Geheimdiplomatie? Die Rüstungsindustrie liess sich versichern. Und was ist ein Bündnis heute? Oder glauben Sie, dass wir keine Geheimdiplomatie haben? Wir haben n u r Geheimdiplomatie!“ (Ist das aber ein Schwätzer! dachte Kobler grimmig) 얍 „Es tut mir direkt wohl, ein bisserl plauschen zu können, weil ich jetzt fast drei Tag lang kaum was Gescheites geredet hab“, sagte der Herr und lächelte freundlich. (Das auch noch! durchzuckte es Kobler und er hasste den Herrn. Also in Deiner Gesellschaft, Du Mistvieh , dachte er weiter, werd ich ja kaum zum schlafen kommen, eigentlich gehört Dir eine aufs Maul. Aber ich weiss schon, was ich mach!) Und er sagte: „Dürfte ich etwas in Ihren Zeitungen blättern?“ „Natürlich dürfen Sie!“ rief der Herr. „Sie dürfen sogar sehr, ich kann eh keine Zeitung mehr sehen! Brauchen Sie nur die deutschen, oder wollen Sie auch die italienischen, französischen, tschechischen -- meiner Seel! A polnische ist auch dabei! Wie kommt hier das rumänische Zeug her? Ich werds mir wahrscheinlich gekauft haben. Schad fürs Geld! Naus damit!“ Er öffnete das Fenster und warf alle seine nichtdeutschen Zeitungen in die brausende Finsternis hinaus. Kaum hatte er jedoch das Fenster wieder geschlossen, erschien ein Angehöriger 얍 der fascistischen Miliz, ein sogenanntes Schwarzhemd. Das Schwarzhemd betrat feierlich das Abteil und sprach mit dem Herrn ruhig, aber unfreundlich. Der Herr machte abwehrende Gebärden und sprach perfekt italienisch. Hierauf zog sich das Schwarzhemd wieder zurück und war verstimmt. „Was hat denn der Fascist von Ihnen wollen?“ fragte Kobler. „Das frag ich mich auch!“ rief der Herr und versuchte sich zu winden. Dann fuhr er fort: „Ich werde es Ihnen übersetzen, was er von mir gewollt hat. Er wollte wissen, ob ich da zuvor meine Zeitungen hinausgeworfen hab, denn diese Zeitungen sind ihm weiter hinten durch ein offenes Fenster auf das Maul geflogen und zwar mit Wucht. Ich hab ihm ; natürlich sofort gesagt, dass ich natürlich noch nie in meinem Leben Zeitungen B

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(IstN ] Schwätzer!N ] BKobler grimmig)N ] B(DasN ] Bnoch!N ] Bdurchzuckte esN ] BerN ] BAlsoN ] BMistviehN ] BwerdN ] Bmach!)N ] Bblättern?“N ] Bsehr,N ] Bsehen!N ] B N] BperfektN ] B N] BKobler.N ] BdaN ] B N] Bauf f MaulN ] B B

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[„]|(|Ist Schwätzer![“] Kobler[.][|)|] |grimmig)| [„]|(|Das noch![“] [dachte] |durchzuckte es| \er/ [„]Also Mistvieh[“] [„]werd mach![“]|)| [lesen?“] |blättern?“| sehr[!] |,| [Sie können alle lesen,] sehen[.]|!| [serbischen,] [sehr rasch] [|sehr|] |perfekt| [sehr] Kobler\./ [den Herren] [\{da}/] |da| [durch das offene Fenster] [in die Augen] |auf f Maul|

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MAT8

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

hinausgeworfen hab. Mich kann man halt nicht überrumpeln! Glaubens mir, ich bin ein gewandter Reisender!“ „Was stinkt denn da so penetrant?“ fragte Kobler. „Das bin ich“, sagte der gewandte Reisende. „Es wird Sie wohl hoffentlich nicht : 5 stören, Herr! Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich zwanzig Jahre älter als Sie. Sagen Sie, waren Sie eigentlich noch Soldat?“ „Ich fahr jetzt bis Milano“, antwortete Kobler ausweichend, er war nämlich kein Soldat gewesen, weil er sich während des Weltkrieges gerade in den Flegeljahren befunden hatte -- und dieses Niemals-Soldat-gewesen-sein störte ihn manchmal, wenn 10 er mit älteren Herren zusammenkam, von denen er annahm, dass sie wahrscheinlich verwundet worden waren. „Ich fahr jetzt nach Milano“, wiederholte er sich hartnäckig, „und dann fahr ich weiter nach Marseille, weil ich nach Barcelona fahr.“ Nun aber geschah etwas Unerwartetes. ; Der gewandte Reisende tat, als wollte er von seinem Sitz emporschnellen: er 15 beugte sich steif vornüber und schrie: „Er fahrt nach Barcelona! Er fahrt über Marseille nach Barcelona!“ Hierauf warf er sich zurück und atmete tief. (Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch nie gehabt, dachte Kobler und glotzte sein Gegenüber befriedigt an. Eine starke Wirkung! dachte er.) „Ist das aber ein Zufall!“ liess sich der Herr wieder vernehmen und lächelte, als 20 wäre er tatsächlich glücklich. Dann nickte er väterlich: „Ich fahr nämlich auch nach Barcelona“ – und das verblüffte den Kobler. „Das ist natürlich ein Zufall“, grinste er sauer und kränkte sich wegen der Konkurrenz . „Und ob das ein Zufall ist!“ ereiferte sich die Konkurrenz . „Nur, dass ich nicht : in einer Tur nach Barcelona fahr, weil ich in Marseille auf zwei Tag aussteigen will, 25 um Marseille kennenzulernen. Das ist nämlich eine überaus farbenprächtige und vor allem völkerkundlich sehr interessante Hafenstadt und bietet instruktive Einblicke.“ „Das hab ich schon gehört“, sagte Kobler. „Dieses Marseille muss ja eine grandiose Hurenstadt sein und ich habs mir auch schon überlegt, ob ichs mir nicht anschauen sollt, aber vielleicht rentiert es sich doch nicht, ich bin nämlich sehr miss30 trauisch.“ „Da tun Sie aber Marseille bitter unrecht! ; Erlaubens, dass ich mich vorstell: Rudolf Schmitz aus Wien.“ -Rudolf Schmitz war Redakteur, er vertrat in Wien u.a. ein Abendblatt in Prag, ein Morgenblatt in Klausenburg, ein Mittagblatt in Agram, ein Wochenblatt in 35 Lemberg und in Budapest ein Revolverblatt. Als geborener Österreich-Ungar aus B

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erN ] ] BBarcelona“ –N ] BKonkurrenzN ] Bereiferte f Konkurrenz.N ] BKonkurrenzN ] BTurN ] BbitterN ] Bunrecht!N ] B N] B N

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täuscht\,/ [„Ich war auch kein Soldat“, sagte der Herr. „Ich war unabkömmlich, weil ich unter anderem einen Senkfuss hab.“ \Aber Kobler hörte kaum hin./] Absatz vom Autor getilgt \er/ [Kobler] Barcelona“ \–/[, sagte er] korrigiert aus: Konkurenz [meinte der Herr.] [|{ }|] [|{ }|] |ereiferte f Konkurrenz.| korrigiert aus: Konkurenz gemeint ist: Tour \bitter/ unrecht![“] [verwahrte sich der Herr. „Ich bleib totsicher zwei Tag in Marseille. Ich an Ihrer Stell[e] würd[e] auch zwei Tag in Marseille bleiben. Wenn\s/ [Sie wollen] |Ihnen recht ist,| bleiben wir zusammen.]

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Ujvidék , hatte er ein kolossales Sprachtalent und beherrschte infolgedessen alle Sprachen der ehemaligen Doppelmonarchie, aber infolgedessen leider keine ganz perfekt. Trotzdem bildete er es sich in seinen Jünglingsjahren ein, dass er dichterisch was leisten könnte. Damals verfasste er Gedichte und zwar einen ganzen Zyklus. „Der Keuschheitsgürtel“ hiess der Zyklus und war von der westlichen Dekadenz beeinflusst. Aber kein Verleger wollte was von dem Keuschheitsgürtel wissen. „Hier habens zwa Gulden und schleimens Ihnen aus!“ sagte der eine Verleger. Und Schmitz tat dies, denn er war zuguterletzt doch nur intelligent und ein gesunder Egoist. Hernach wurde er abgeklärter. „Auch Rimbaud hat sich ja von der Dichtkunst abgewandt, um ein gedichtetes Leben zu leben“, stellte er fest und wurde allmählich Korrespondent. Soziologisch betrachtet, stammte er aus K. u. K. Offiziers- und Beamtenfamilien, aber er hatte nie was übrig für das Bürgerliche. Er war der geborene Bohemien. Bereits 1905 ging er ohne Hut. Seine Schwäche war die Philosophie. -Nun fragte er Kobler: „Was ist der Zufall, lieber Herr? Niemand weiss, was der 얍 Zufall ist ; und das ist es ja gerade. Der Zufall, das ist die Hand einer höheren Macht, im Zufall offenbart sich der liebe Gott. Gäbs keinen Zufall, hätten wir keinen lieben Gott! Nämlich das Durchdenken und Durchorganisieren, das sind menschliche Eigenschaften, aber das völlig Sinnlose des Zufalls ist göttlich.“ Er tat seine Beine auf den gegenüberliegenden Polstersitz, denn in dieser Stellung tat ihm das Philosophieren am wohlsten. Da erschien aber sofort wieder jenes Schwarzhemd von zuvor und forderte ihn barsch auf, eine Zeitung unter seine Schuhe zu breiten. „Jetzt grad nicht!“ dachte der Herr Schmitz geärgert, tat seine Beine herab und hörte auf zu philosophieren. Das Schwarzhemd verliess das Abteil und war schon : wieder etwas besserer Laune. „Ein Pyrrhussieg“, murmelte Schmitz, und als man das Schwarzhemd nichtmehr sehen konnte, seufzte er: „Das ist denen ihre Revolution! Da fahren die Fascisten in jedem Zug so herum und geben acht, dass niemand Zeitungen nausschmeisst oder leichtsinnig die Aborte beschmutzt. So erziehen sie ihre Nation! Und wozu erziehen sie ihre Nation? Zum Krieg.“ „Gegen wen glauben Sie?“ „Gegen jeden, lieber Herr!“ stöhnte der Schmitz. „Ja, das ist halt hier ein pädagogischer Umsturz. Bekanntlich ist halt jede Revolution ein pädagogisches Problem, aber auch die Pädagogik ist ein revolutionäres Problem. Wie Sie sehen, ist das sehr kompliziert. Aber ist denn der Fascismus überhaupt eine Revolution? Aber keine Spur! Sacro egoismo und sonst nix!“ „Also ich persönlich halt nicht viel von den Revolutionen“, meinte Kobler. „Ich hätt zwar wirklich nichts dagegen, wenn es jedem besser ging, aber ich glaub halt, dass die revolutionären Führer keine Kaufleut sind, sie haben keinen kaufmännischen Verstand.“ „Das Zeitalter der Kaufleut“ , nickte Schmitz. „Und glauben Sie nicht auch, dass wir Kaufleut noch lange nicht unsern Höhepunkt erreicht haben?“ fragte Kobler hastig. Der Schlaf war ihm plötzlich vergangen. „Wem erzählen Sie das?!“ rief Schmitz und fuhr dozierend fort: „Hörens her: erst ; B

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gemeint ist: Újvidék [ist] Kaufleut[e]“ \erst/

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

wenn alle menschlichen Werte ehrlich und offen vom kaufmännischem Weltbild aus gewertet werden, dann werden die Kaufleut ihren Höhepunkt erreicht haben. Aber dann wirds auch wieder abwärtsgehen mit die Kaufleut und dann wird das Zeitalter einer anderen Gesellschaftsschicht heraufdämmern. Das ist die ewige Elip5 se . Ein Kreis ist das nämlich nicht.“ „Ich seh keine Gesellschaftsschicht, die hinter uns Kaufleuten heraufdämmern könnt“, meinte Kobler düster. „Das Proletariat.“ „ Aber das geht doch nicht!“ 10 „Warum soll das nicht gehen?“ staunte Schmitz. „Wenn Sie seinerzeit dem Alexander dem Grossen gesagt hätten, dass heut die Kaufleut regieren werden, hätt er Sie lebendig begraben lassen. Ich warne Sie vor der Rolle Alexanders des Grossen!“ Hier wurde das Gespräch durch den Schaffner unterbrochen, der das Abteil betrat, um die Fahrkarten kontrollieren zu können. Kobler musste nachzahlen und auch 15 Schmitz musste nachzahlen, denn auch er hatte nur dritte Klasse. Der Schaffner sprach gebrochen Deutsch, und während er das Geld wechselte, 얍 unterhielt er sich mit den beiden Herren. Er sagte, dass er Deutschland sehr schätze und achte, denn er kenne eine deutsche Familie und das wären ausserordentlich anständige und zuvorkommende Menschen. Zwar wären das eigentlich keine reinen 20 Deutschen, sondern Deutsche aus Russland, sogenannte Emigranten. Sie seien aus Russland geflohen, weil sie wegen der bolschewistischen Verbrecher arbeiten hätten müssen und das könnte man doch nicht, wenn man noch nie etwas gearbeitet hätte. Sie hätten also all ihr Hab und Gut zurücklassen müssen und seien nur mit dem, was sie am Leibe gehabt hätten, bei Nacht und Nebel geflohen. Sie hätten sich dann ein 25 Hotel am Gardasee gekauft, ein wunderbares Hotel. „Schon wieder ein Schwätzer!“ brummte Kobler, während Schmitz den Schwät; zer überaus wohlwollend betrachtete. „In Milano umsteigen!“ fuhr der Schwätzer zufrieden fort. „Neulich war Mussolini in Milano, da hat die Sonne geschienen, aber kaum war Mussolini wieder weg von Milano, hat es sofort geregnet. Sogar der Him30 mel ist für Mussolini“, grinste er und wünschte den beiden Herren eine glückliche Reise. Als er draussen war, entstand eine Pause. „Das war ein verschmitzter Bursche“, liess sich Schmitz wieder vernehmen. „Auch ; ein Beitrag zur philosophisch-metaphysischen Mentalität unterdrückter Klassen.“ „Sie sind anscheinend kein Kaufmann?“ meinte Kobler. 35 „Nein“, sagte Schmitz. „Ich bin ein Mann der Feder und fahr jetzt als Sonderkorrespondent zur Weltausstellung.“ B N

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] mit f KaufleutN ] BElipseN ] BKobler düster.N ] BProletariat.“N ] BAber dasN ] Bnicht!“N ] BheutN ] Bphilosophisch-metaphysischenN ] BmeinteN ] BeinN ] BFeder f Weltausstellung.“N ] B N B

[„Und ob ich das glaub!“ meinte Schmitz. „Hören Sie her: erst] \mit d[en]|ie| Kaufleut[en]/ gemeint ist: Ellipse Kobler[.]|düster.| Proletariat[“, ]|.“| [sagte Schmitz[.]|so offen hin.|] \Aber/ [D]|d|as nicht[!“]|!“| [sagte Kobler.] \heut/ philosophisch[en]|-metaphysischen| [fragte] |meinte| [Journalist. Ein] |ein| Feder[.“][|und fahr als Korrespondent nach Barcelona.|] |und fahr \jetzt/ als [Korrespondent] |Sonderkorrespondent| [{ }] |zur| Weltausstellung.“|

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Nun entstand abermals eine Pause. Während dieser Pause dachte jeder über den anderen. „Ich hab bisher eigentlich nur einen einzigen Mann der Feder gekannt“, dachte Kobler, „das war ein Poet, der nie bei sich war, wenn man nicht gerad über Hyazinthen gesprochen hat. Ein unpraktischer Mensch. Der hätt mir nur schaden können, sonst nichts. Aber dieser Schmitz scheint ein belesener und hilfsbereiter Mensch zu sein -- man soll halt nur mit Menschen verkehren, von denen man was hat. Das tun zwar alle , aber die 얍 meisten wissen nicht, was sie tun. Vielleicht kann mir dieser Mann der Feder was nützen, vielleicht kann ich ihn sogar ausnützen -- als Mann der Feder hat er sicher viel weibliche Verehrerinnen, auch in Ägypten wird er wahrscheinlich welche haben. O ich glaub schon daran, dass es eine Vorsehung gibt! Wenn er nur nicht so stinken tät!“ Und Schmitz dachte: „Vielleicht war es sogar blöd von mir, dass ich mich dem gleich angeboten hab als Reisebegleiter. Sicher war es blöd. Oh wie bin ich blöd! Und warum bin ich blöd? Weil ich ein weicher Mensch bin. Ich kann aber auch energisch sein. Vielleicht ist das gar ein Schnorrer und pumpt mich an. Ich bin sehr energisch. Kaufmann ist er, hat er gesagt. Wer ist heut kein Kaufmann? Und was werden Sie schon für ein Kaufmann sein, lieber Herr? Es geht mich ja ; nichts an. Betrügen tut er sicher, sonst tät er nicht in seinem Alter nach Barcelona fahren, nämlich zur Grossbourgeoisie gehört jener nicht, das kenn ich an den Bewegungen. Ob jener ein Hochstapler ist? Nein, denn das kenn ich auch an den Bewegungen. Auf alle Fälle ist er blöd. -- Meiner Seel! Wie er mir nicht passt, werd ich ihm schon los, wann wo und wie ich will! Ich spring auch aus dem fahrenden Zug!“ B

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B XIV.N : 25 ; Als der Schnellzug Milano erreichte, war es zehn Minuten nach Mitternacht, obwohl der Schnellzug fahrplanmässig erst um dreizehn Minuten nach Mitternacht Milano erreichen sollte. „Das nenn ich Ordnung!“ rief Schmitz. Er führte Kobler in das Bahnhofrestaurant, wo sie sich bis zur Weiterfahrt nach Ventimiglia (3.29 Uhr) aufhalten wollten. Schmitz kannte sich gut aus. „Ich kenn 30 mich in Milano aus wie in Paris“, sagte er. „Das beste ist, wir bleiben BamN Bahnhof.“ „Es hat nämlich keinen Sinn in die Stadt zu Bfahren“N, fuhr er fort, „denn erstens ist es ja jetzt stockfinster und so hätten wir absolut nichts von dem gotischen mailänder Dom und zweitens ist hier B N architektonisch nicht viel los, es ist halt eine moderne Grossstadt. Sie werden noch genug Gotik sehen!“ „Ich bin auf die Gotik gar 35 nicht so scharf“, sagte Kobler. „Mir sagt ja das Barock auch mehr“, sagte Schmitz.

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geradN ] ] BhaltN ] Btun f alleN ] BihnN ] BO ichN ] BschonN ] Bgibt!N ] BheutN ] BjenerN ] BAuf f blöd.N ] BXIV.N ] BamN ] Bfahren“N ] B N] B

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gerad[e] [Ich glaub, er hat viel onaniert.] \halt/ tu[t]|n| [ja jeder] |zwar alle| ih[m]|n| \O/ [I]|i|ch \schon/ gibt[.]|!| heut[e] [das] |jener| [Dem Reden nach ist er beschränkt] |Auf f blöd.| ; [\Milano umsteigen/] |XIV.| [hier i]|a|m fahre[b]|n|“ [sonst]

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Mir sagt auch das Barock nichts“, sagte Kobler. „Ja verglichen mit den Wunderwerken Ostasiens, können wir Europäer freilich nicht mit!“ sagte Schmitz. Kobler sagte nichtsmehr. (Jetzt halt aber endlich dein Maul! dachte er) „Jetzt wollen wir aber einen Chianti trinken!“ rief Schmitz und leuchtete. „Das ist 5 der Wein mit dem Stroh unten herum. Oder sind Sie gar Abstinenzler?“ „Wieso kommen Sie darauf?“ verwahrte sich Kobler entschieden. „Ich kann enorm viel saufen und sogar durcheinander!“ „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz und lächelte glücklich. Schmitz war nämlich ganz verliebt in den Chianti und auch Kobler fühlte sich 10 sehr zu ihm hingezogen, als er ihn nun im Bahnhofrestaurant kennen lernte. Wohlig rann er durch ihre Gedärme und bald stand die zweite Flasche vor ihnen. Dabei unterhielten sie sich über den Weltkrieg und den Krieg an sich. Sie hatten schon im Zuge davon angefangen, denn da Schmitz auch kein Soldat gewesen war, hatte Kobler nichts dagegen gehabt, mal über die Idee des 얍 Krieges zu plaudern. 15 Der Chianti löste ihre Zungen und Kobler erzählte, er wäre ja politisch immer schon rechts gestanden, allerdings nur bis zum Hitlerputsch. Gegenwärtig stünde er so ziemlich in der Mitte, obwohl er eigentlich kein Pazifist sein könne, da sein einziger Bruder auf dem Felde der Ehre gefallen sei. „Wie hiess denn Ihr Herr Bruder?“ fragte Schmitz. 20 ; „Alois“, sagte Kobler. „Armer Alois!“ seufzte Schmitz. „Ist Ihnen schlecht?“ erkundigte sich Kobler. „Mir ist immer schlecht, lieber Herr!“ lächelte Schmitz wehmütig und leerte sein Glas. „Ich bin halt ein halber Mensch“, fuhr er fort und wurde immer sentimentaler. 25 „Mir fehlt manchmal was, ob das die Heimat ist oder ein Fraunzimmer? Der Sanitätsrat meint zwar, dass meine Depressionen mit meiner miserablen Verdauung zusammenhängen, aber was wissen schon die Mediziner!“ „Ich persönlich“, antwortete Kobler, „bin schon sehr dafür, dass es keinen Krieg mehr geben soll, aber glaubens denn, dass sich sowas durchführen lässt?“ 30 „Armer Alois“, murmelte Schmitz und plötzlich wurde die Luft sehr leise. Dem Kobler war dies unbehaglich und dabei fiel ihm ein, dass dieser Heldentod seinerzeit die Mutter natürlich sehr mitgenommen hatte. Sie hatte es direkt nicht mehr vertragen wollen, dass die Sonne scheint. „Wenn ich nur von ihm träumen könnt“, hatte sie immer wieder gesagt, „damit ich ihn sehen könnt!“ -35 Sie tranken bereits die dritte Flasche Chianti, aber Schmitz schien noch immer an sehr deprimierende Dinge zu denken, denn er war direkt abwesend. Plötzlich jedoch gab er sich einen Ruck und unterbrach die unangenehme Stille: „Neuerdings“, sagte er, „wird in unserer Literatur das Todesmotiv vernachlässigt, es will halt alles nur leben.“ 40 „Man soll sich mit sowas gar nicht beschäftigen!“ beruhigte ihn Kobler wegwerfend. Als Kind ist er zwar gern auf den Friedhof gegangen, um den Vater zu besuchen, die Grosseltern oder die gute 얍 Tante Marie. Aber durch den Weltkrieg ist das B

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

alles anders geworden. „Hin ist hin!“ hatte er sich gesagt und ist nach München übersiedelt. In München ging es damals (1922) drunter ; und drüber und Kobler bot sich die Gelegenheit, die politische Konjunktur auszunützen. Er hatte ja nichts zu beissen und als Mittelstandssprössling stand er bereits und überzeugt politisch rechts und wusste nicht, was die Linke wollte -- aber so sehr rechts stand er innerlich doch nie, wie seine neuen Bekannten, denn er besass doch immerhin ein Gefühl für das Mögliche. „Es ist eigentlich alles möglich“, sagte er sich. Einer seiner neuen Bekannten gehörte sogar einem politischen Geheimbund an, mit dem seinerzeit die politische Polizei sehr sympathisierte, weil dieser Geheimund verliebte bund noch rechtsradikaler war als sie selbst. Er hiess Wolfgang sich in Kobler, aber dieser liess ihn nicht ran. Trotzdem verschaffte ihm Wolfgang eine Stelle, denn er war nicht nur leidenschaftlich, sondern auch zu einer aufopferungsvollen Liebe durchaus fähig. So geriet Kobler in eine völkische Inflationsbank und als der Bankier verhaftet wurde, wechselte Kobler in ein Fahrradgeschäft, hielt es aber nicht lange aus und wurde Reisender für eine württembergische Hautcreme und Scherzartikel. Dann hausierte er mit Briefmarken, und endlich landete er durch Vermittlung eines anderen Wolfgangs in der Autobranche. Wenn er heute an diese Zeit zurückdenkt, muss er sich direkt anstrengen, um sich erinnern zu können, wovon er meistens eigentlich gelebt hatte. Meistens ist er ja nur gerade noch durchgerutscht durch die Schlingen, die uns das Leben stellt. „Du musst einen guten Schutzengel haben“, hatte ihm mal eine Prostituierte ge- 얍 sagt. Er dachte nicht gern an seine Vergangenheit, aber noch ungerner sprach er über sie. Er hatte nämlich häufig das Gefühl, als müsste er etwas vertuschen, als ob er etwas verbrochen hätte -- und er hatte doch nichts verbrochen, was nicht in den Rahmen der geltenden Gesellschaftsordnung gepasst hätte. Drum sprach er auch jetzt beim Chianti lieber über die Zukunft. „Der Weltkrieg der Zukunft wird noch schauerlicher werden“, erklärte er Schmitz, „aber es ist halt nicht zu verwundern, dass es bei uns in Deutschland Leute gibt, die wieder einen Krieg wollen. Sie können sich halt nicht daran gewöhnen, dass wir zum Beispiel unsere Kolonien verloren haben. Ein Bekannter von mir hat zum Beispiel in seinem Briefmarkenalbum die ehemals deutschen Kolonien schwarz umrändert. Er sieht sie sich jeden Tag an -- alle andern Kolonien, englischen, italienischen, portugiesischen undsoweiter hat er abgestossen, noch dazu zu Schleuderpeisen und die französischen Kolonien hat er glaub ich verbrannt.“ Schmitz hörte aufmerksam zu. B

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die[se] \politische/ [Koblers neuer Bekannter war ein Unterführer und hiess Wolfgang. Er befasste sich fast ausschliesslich mit Politik, hauptsächlich mit Vorbereitungsarbeiten [zur] |zwecks| Ermordung politischer Gegner.] |Er f Wolfgang|

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Ich Rudolf Schmitz“, betonte er, „bin überzeugt, dass Ihr Deutschen alle Euere verlorenen Gebiete ohne Schwertstreich zurückbekommen werdet und auch wir Deutschösterreicher werden uns ebenso an Euch anschliessen -- ich sage nur eines: heilige Allianz ist gleich Völkerbund. Napoleon ist gleich Stalin.“ 5 „Das weiss ich noch nicht“, antwortete Kobler skeptisch, weil er nicht wusste, was die heilige Allianz bedeuten sollte. „Wer ist denn Stalin?“ fragte er. „Das lässt sich nicht so einfach erklären“, meinte Schmitz zurückhaltend. „Kehren wir lieber zum Thema zurück: ich Rudolf Schmitz bin überzeugt, dass es zwischen den europäischen bürger-:lichen Grossmächten zu keinem Krieg mehr kommen 10 wird, weil man heutzutag eine Nation auf kaufmännisch-friedliche Art bedeutend billiger ausbeuten kann.“ „Das sag ich ja auch immer“, nickte Kobler. „Das freut mich aber!“ freute sich Schmitz und wurde wieder lebhaft: „Denkens doch nur an Amerika! Vergessens bitte nur ja nicht, dass die Vereinigten Staaten von Nordamerika Europa zu einer Kolonie degradieren wollen und das werden sie auch falls sich Europa nicht ver15 ständigen sollte, denn Europa ist ja schon ein Mandatsgebiet!“ „Ob wir uns aber verständigen werden?“ fragte Kobler und fühlte sich überlegen. „Wir müssen halt einen dicken Strich unter unsere Vergangenheit ziehen!“ ereiferte sich Schmitz. „Ich persönlich hätt nichts dagegen“, beruhigte ihn Kobler. „Diese Zoll- und Passschickanen sind doch purer Wahnsinn!“ jammerte Schmitz. „Von einem höheren Standpunkt aus be20 trachtet“, meinte Kobler gelassen, „haben Sie schon sehr recht, aber ich glaub halt, dass wir uns nur sehr schwer verständigen werden, weil keiner dem andern traut, jeder denkt, der andere ist der grössere Gauner. Ich denk jetzt speziell an Polen.“ „Waren Sie schon in Polen?“ „Ich war noch nirgends.“ 25 „Aber ich war in Polen und hab mich sogar in eine Polin verliebt, es gibt halt überall anständige Menschen, lieber Herr! Einer muss halt mal beginnen, sich für die Verständigungsidee energisch einzusetzen!“ trompetete Schmitz und leerte energisch den Rest der vierten Flasche Chianti. „Wir trinken noch eine!“ entschied Kobler und während Schmitz bereitwilligst bestellte, fixierte er die Buffetdame. „Also 30 das ist Italien!“ dachte er und allmählich geriet er in eine exhibitionelle Stimmung. „Wenn ich was trink, kann ich lebhafter denken“, sagte er. (Wenn schon! dachte Schmitz) „Wenn ich nichts trink, tut mir das Denken oft direkt weh, besonders über so weltpolitische Probleme“, fuhr er fort. Der Kellner brachte die fünfte Flasche und Kobler wurde immer wissbe: 35 gieriger. „Was bedeutet eigentlich ‚Pan’?“ fragte er. „Das Universum zuguterletzt“, dozierte Schmitz. „Und im Falle Paneuropa bedeutet es die Vereinigten Staaten von Europa.“ „Das weiss ich“, unterbrach ihn Kobler. Schmitz schlug mit der

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Faust auf den Tisch. „Aber ohne Grossbritannien gefälligst!“ brüllte er und musste dann plötzlich gähnen. „Pardon!“ riss er sich zusammen. „Ich hab jetzt gegähnt, aber ich bin noch gar nicht müd, das sind nur so Magengase, die sich bei mir besonders stark entwickeln, wenn ich etwas angeheitert bin. Apropos: kennen Sie meine Kriegsnovelle? Sie ist leider kein pekuniärer Erfolg, weil ich die grausige Realistik des Krieges mit meiner grausigen Phantastik verband, gewissermassen ein KriegsEdgar Allan Poe. Ist Ihnen dieser Name ein Begriff?“ „Nein“. „Ja die Kunst hört allmählich auf“, murmelte Schmitz, liess einen Donnernden fahren und wurde wieder sentimental. Er war eben ein Stimmungsmensch. „Ich les ja schon lieber wahre Geschichten als wie erfundene, wenn ich was les“, sagte Kobler. „Zwischen uns ist halt eben eine Generation Unterschied“, nickte Schmitz und lächelte väterlich. „Oft versteh ich Ihre Generation überhaupt nicht. Oft wieder scheinen mir Ihre Thesen schaal, dürftig, a-dyonisisch in einem höheren Sinne. In meiner Jugend hab ich den halben Faust auswendig hersagen können und den ganzen Rimbaud. Kennen Sie das trunkene Schiff? Pardon auf einen Moment! Ich muss jetzt mal naus.“ Und Kobler sah, dass Schmitz, wie er so hinausschritt, die Zähne zusammenbiss 얍 und die Fäuste krampfhaft ballte, so sehr nahm er sich zusammen, um nicht umzufallen. „Bin ich denn auch schon so voll?“ fragte er sich bekümmert. „Auf alle Fäll ist das ein interessanter Mensch“. Und als der interessante Mensch wieder an den Tisch zurücktaumelte, wurde es allmählich Zeit, denn draussen auf dem Geleise standen bereits die durchgehenden Waggons nach Ventimiglia. Die beiden Herren sprachen noch etwas über die Politik an sich, über die Kunst an sich und Schmitz beklagte sich noch besonders wegen der europäischen Zerfahrenheit an sich. Aber es wollte kein richtiges Gespräch mehr aufkommen, denn beide Herren konnten sich nichtmehr richtig konzentrieren. Kobler schrieb noch rasch eine Postkarte an die Perzl: „Bin soeben an Ihrer gewesenen Windmühle in Brescia vorbeigefahren. Gruss Kobler.“ Und darunter schrieb Schmitz: „Unbekannterweise Handküsse Ihr sehr ergebener Rudolf Schmitz.“ Dann zahlten die beiden Herren und beide wurden vom Kellner betrogen, der sich hernach mit einem altrömischen Gruss empfahl. Und Schmitz hob den Arm zum Fascistengruss und auch Kobler tat so. Und auch die Buffetdame tat ebenso. B N

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[„Gute Nacht!“ rief Kobler.] Absatz vom Autor getilgt \er/ [Schmitz] [Übrigens jetzt fällts mir ein:] |Apropos:| „Nein“[,] |.| [sagte Kobler und kam sich überaus ehrlich vor.] Schmitz\,/ [deprimiert.] |[und] liess f Stimmungsmensch.| a-[erotisch] |dyonisisch | Mensch“[,] |.| [konstatierte er.] Zeit[.]|,| \denn/ [D]|d|raussen europäische\n/

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

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Als die beiden Herren aus dem warmen rauchigen Lokal in die frische Nachtluft traten, fielen sie fast um, denn sie hatten einen derartigen Rausch. Sie torkelten schon ganz abscheulich und es dauerte direkt lang bis sie endlich in einem der durchgehenden Waggons nach Ventimiglia sassen. Beide Herren waren voneinander überaus begeistert, besonders Schmitz freute sich grandios, dass er den Kobler kennen gelernt hatte. Bewegt dankte er ihm immer wieder, dass er ihn nach Spanien begleiten darf. Dabei titulierte er ihn Baron, Majestät, General und Kommerzialrat. Aber plötzlich hörte Kobler kaum mehr hin, so glatt wurde er nun von der Müdigkeit, die ihn bereits in Verona gepackt hatte, um ihm die Augen einzudrücken, niedergeschlagen. Also antwortete er bloss lakonisch, meist nur mit einem Wort. „Warum fahren Eminenz eigentlich nach Barcelona?“ fragte Schmitz. „Ägyp„Standesamt“, ten“, murmelte die Eminenz. „Wieso Ägypten, Herr Veterinär?“ stöhnte der Veterinär. „Politisch?“ „Möglich!“ „Das gibt aber jetzt ein Interwiew !“ brüllte Schmitz und geriet in hastige Begeisterung. „Ein Interwiew wie noch nie!“ Er riss sich ein Notizbuch aus der Brust, um sich Koblers Antworten gewissenhaft zu notieren, denn jetzt wusste er vor lauter Rausch nichtmehr, was er tat. „Darf man fragen“, legte er los, „was halten Herr Oberstleutnant von der GeistLeib-Bewegung? Und was von der Leib-Geist-Bewegung?“ Kobler riss die Augen auf und starrte ihn unsagbar innig an, ja er versuchte sogar zu lächeln. „Ich bin ganz der Ihre, gnädiges Fräulein“, lallte er. „Jetzt wird mir schlecht!“ brüllte Schmitz. „Jetzt 얍 wird mir plötzlich schlecht!“ Er fuhr entsetzt empor und raste hinaus, um sich zu erbrechen. Kobler sah ihm überrascht nach und machte dann eine resignierte Geste. „Frauen sind halt unberechenbar“, meinte er. – In einem solchen Zustand verliessen die beiden Herren Milano, die Metropole Oberitaliens. Und dieser Zustand änderte sich auch kaum wesentlich während der restlichen Nacht. Zwar schliefen sie, aber ihr Schlaf war unruhig und quälend, voll dunkler rätselhafter Träume. So träumte Schmitz zum Beispiel u.a. folgendes: er schreitet leichten ; Fusses und beschwingten Sinnes über arkadische Sommerwiesen. Es ist um das fin de siecle herum und er belauscht in einem heiligen Hain eine Gruppe sich tummelnder bildhübscher Helleninen. „Paneuropa!“ ruft er und das ist die klassisch Schönste. Aber Paneuropa weist ihn schnippisch in seine Schranken zurück. „Wer weitergeht wird erschossen!“ ruft sie ihm übermütig zu und lacht silbern. Doch da wird ihm die B

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\den/ [staunte Schmitz.] [flüsterete] |stöhnte| [stöhnte Kobler.] gemeint ist: Interview gemeint ist: Interview [ich] |man| er. \–/ \Schmitz/ [ten] gemeint ist: Fin de siècle

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Sache zu dumm, er verwandelt sich in einen Stier und zwar in einen Panstier und der gefällt der Paneuropa. Keuchend wirft sie sich um seinen Panstiernacken und bedeckt seine Panstiernüstern mit den hingebungsvollsten Küssen -- aber während sie ihn also küsst verwandelt sich die klassisch schöne Paneuropa leider Gottes in die 5 miese Frau Helene Glanz aus Salzburg. Und Kobler träumte bereits knapp hinter ; Milano von seinem armen Bruder : Alois, der im Weltkrieg von einer feindlichen Granate zerrissen worden war. Nun trat dieser Alois als toter Soldat in einem weltstädtischen Cabaret auf und demonstrierte einem exklusiven Publikum, wie ihn seinerzeit die Granate zerrissen hatte. Dann 10 legte er sich selber wieder artig zusammen und das tat er voll Anmut. Und das Publikum sang den Refrain mit: „Die Glieder Finden sich wieder!“ B

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B XVII.N : ; Als die beiden Herren erwachten, ging es schon gegen Mittag. Sie hatten Genua glatt verschlafen und nun näherten sie sich San Remo. Draussen lag das Meer, unsere Urmutter. Nämlich das Meer soll es gewesen sein, in dem vor vielen hundert Millionen Jahren das Leben entstand, um später auch auf 20 das Land BherauszukriechenN, auf dem es sich in jener wunderbar komplizierten Weise höher und höher entwickelt, weil es gezwungen ist, sich anzupassen, um nicht aufzuhören. Schmitz fiel es ein, dass Kobler jetzt zum erstenmal das Meer sieht. „Was sagen Sie eigentlich zum Meer?“ fragte er. „Ich hab mir das Meer nicht anders gedacht“, B 25 antworteteN Kobler apathisch. Er lag noch immer und sah noch sehr mitgenommen aus. „Beruhigen Sie sich, lieber Herr!“ tröstete ihn Schmitz. „Mir tut der Schädel genau so weh wie Ihnen, aber ich beherrsch mich halt. Wir hätten uns halt in Mila-;no nicht so besaufen sollen.“ „Wir hätten uns halt in Milano beherrschen sollen“, lamentierte Kobler. „Jahrgang 1902“, murmelte Schmitz. 30 : So fuhren sie nun am Meer entlang und hatten eigentlich nichts davon, trotzdem dass es zuerst die italienische Riviera BdiN Ponente war und hernach sogar die französische BCote d’AzurN. Zwischen diesen beiden mussten sie wiedermal so eine amtliche Pass- und Zollkontrolle über sich ergehen lassen, nämlich im Grenzort Ventimiglia. Hier war es Kobler am übelsten, aber selbst Schmitz vertrödelte hier fast eine 35 volle Stunde auf der Toilette. Sie mussten halt für ihren mailänder Chianti bitter büssen und das Bittere dieser Busse stand, wie häufig im Leben, im krassestem Missverhältnis zur Süsse des genossenen BVergnügensN. Besonders Kobler konnte diese weltberühmte Landschaft überhaupt nicht geniessen, er konnte auch nichts essen, übergab sich bei jeder schärferen Kurve und sah düster in die Zukunft. „Jetzt bin ich 40 noch gar nicht am Ziel meiner Reise und schon bin ich tot“, dachte er deprimiert. „Warum fahr ich BeigentlichN?“

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Salzburg.N ] XVII.N ] BherauszukriechenN ] BantworteteN ] BdiN ] BCote d’AzurN ] BVergnügensN ] BeigentlichN ] B B

[der Piaristengasse im achten Bezirk.] |Salzburg.| [\XVII./] [|XVII.|] |XVII.| [hinaus]|heraus|zukriechen [meinte] |antwortete| korrigiert aus: die gemeint ist: Côte d’Azur korrigiert aus: Vergügens ei[h]|g|entlich

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Schmitz versuchte ihn immer wieder auf andere Gedanken zu bringen. „Sehens nur“, sagte er in Monte Carlo, „hier wachsen die Palmen sogar am Perron! Ich werd halt das Gefühl nicht los, dass Westeuropa noch bedeutend bürgerlicher ist, weil es den Weltkrieg gewonnen hat. Ich möcht aber nicht wissen, was sein wird, wenn die Westeuropäer mal dahinterkommen, dass sie den Weltkrieg zuguterletzt auch nur verloren haben! Wissens was dann sein wird? Dann werden auch hier die Sozialdemokraten Minister.“ Und in Nizza konstatierte Schmitz, dass man hier rechtens die Uhr nicht um eine Stund, sondern gleich um vierzig Jahre zurückdrehen müsste -- und hiebei lächelte er sarkastisch, aber wenn er allein war, fühlte er sich manchmal sauwohl in der Atmosphäre von 1890, obwohl er sich dann immer selbst widersprechen musste. Und in Cap d’Antibes musste Schmitz u.a. an Bernard Shaw denken, und er dachte, das sei ein geistreicher Irländer und von dem 얍 alten Nobel wär es schon eine sehr noble Geste gewesen, dass er den Nobelpreis gestiftet hätt, als er mitansehen musste, wie sich die Leut mit seinem Dynamit gegenseitig in die Luft sprengen. – Nun verliess der Zug das Meer und erreichte es erst wieder in Toulon. „Wir sind jetzt bald in Marseille“, sagte Schmitz. Es war bereits spät am Nachmittag, und die Luft war dunkelblau. Draussen lag Toulon, ein Kriegshafen der französischen Republik. Und beim Anblick der grauen Torpedoboote und Panzerkreuzer stiegen in Schmitz allerhand Jugenderinnerungen empor. So erinnerte er sich auch, wie er einst als Kind mit der feschen Tante Natalie einen Panzerkreuzer der K. u. K. österreich-ungarischen Flotte in Pola hatte besichtigen dürfen. Die Tante hatte sich aber bald mit einem Deckoffizier unter Deck zurückgezogen und er hatte droben fast eine halbe Stunde lang allein auf die Tante warten müssen. Und da hatte er sich sehr gefürchtet, weil sich die Kanonenrohre angefangen haben von selber zu bewegen. „Ich versteh die französische Demokratie nicht“, dachte er nun in Toulon melancholisch. „Bei den Fascisten ist dieser Rüstungswahn nur natürlich, wenn man ihren verbrecherischen Egoismus in Betracht zieht, aber bei der französischen Demokratie mit ihrer europäischen Sendung? Sie werden sagen, dass la France halt gegen Mussolini rüsten muss, denn dieser Mussolini strebt ja nach Nizza und Corsica und sogar den grossen Napoleon will er für sich annektieren, und leider ist das halt logisch, was Sie da sagen, liebe Marianne!“ –

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Endlich erreichten sie Marseille. Es ist bekannt, dass sich jede grössere Hafenstadt durch ein farbiges Leben auszeichnet. Aber ganz besonders Marseille. In Marseille ist der Mittelpunkt des farbigen Lebens der alte Hafen, und der Mittelpunkt dieses alten Hafens ist das Bordellviertel. Wir werden darauf noch zurückkommen. -Als nun die beiden Herren die breite Treppe vom Gare St. Charles herabstiegen, ging es Schmitz schon deutlich besser, während Kobler sich noch immer recht matt fühlte. Auch war es ihm, als könnte er noch immer nicht wieder korrekt denken. „Wie 8 15 33 34 39

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Schmitz,N ] sprengen. –N ] BMarianne!“ –N ] B N] Bdarauf nochN ] B B

Schmitz\,/ [sarkastisch,] sprengen. \–/ Marianne!“ \–/ [\XIX./] noch2 darauf1

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

gebildet hier die Leut sind, hier sprechen ja schon die kleinsten Kinder französisch“, sagte er. „Hier in Marseille entstand die Marseillaise“, antwortete Schmitz. „Nur nichtsmehr wissen!“ wehrte sich Kobler mit schwacher Stimme. Bald hinter Toulon war es bereits Nacht geworden und nun hatten die beiden Herren keinen sehnlicheren Wunsch, als möglichst bald in einem breiten weichen französischen Bett einschlafen zu können. Sie stiegen in einem kleinen Hotel am Boulevard Dugommier ab, das Schmitz als äusserst gediegen und preiswert empfohlen worden war. Aber der ihm das empfohlen hatte musste ein äusserst boshafter Mensch gewesen sein, denn das Hotel war nicht gediegen, sondern ein Stundenhotel und infolgedessen auch nicht preiswert. Jedoch den beiden Herren fiel dies bei ihrer Ankunft nicht auf, denn sie schliefen ja schon halb, als sie das Hotelbüro betraten. Sie gingen ganz stumm auf ihr Zimmer und zogen sich automatisch aus. „Hoffentlich sind Sie nicht mondsüchtig“, jammerte Schmitz. „Das wär ja noch das geringste“, lallte Kobler. B

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XVIII. Die Nacht tat den beiden Herren sehr wohl. Befreit von der Monotonie der Schienen und Eisenbahnräder träumten sie diesmal nichts. „Heut bin ich neugeboren!“ meinte Schmitz am nächsten morgen und band sich fröhlich die Kravatte. Und auch Kobler war lustig. „Ich freu mich schon direkt auf Marseille!“ meinte er. Als die beiden Herren angezogen waren, bummelten sie über die Canebiere , jene weltberühmte Hauptverkehrsader. Dann fuhren sie mit einem Autobus über den Prado hinaus nach der Corniche, einer zufriedenen Strasse, die immer am freien Meer entlang laufen darf. Hierauf fuhren sie mit dem Motorboot an alten unbrauchbaren Befestigungen vorbei nach dem Inselchen des romantischen Grafen von Monte Christo. Hierauf fuhren sie mit einem kühnen Aufzug auf jenen unheimlich steilen Felsen, auf dem Notre Dame de la Garde steht. Von hier aus bot sich ihnen ein umfassendes Panorama. „Da unten liegt Marseille“, erklärte Schmitz die Situation. Hierauf fuhren sie mit der eisernen Spinne des Pont Transbordeurs und zwar einmal hin und einmal zurück. Hierauf gingen sie in eines der populären Restaurants am alten Hafen und zwar in das Restaurant zum Kometen. Da gab es allerhand zu essen und alles war billiger als in Deutschland und Österreich. Infolgedessen überfrassen 얍 sich die beiden Herren fast. Besonders die Vorspeisen, von denen man um dasselbe Geld nehmen konnte, soviel man wollte, taten es ihB

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„Nur f Stimme.N ]

] ] BautomatischN ] BjammerteN ] BlallteN ] B N] BXVIII.N ] Bam f morgenN ] BCanebiereN ] BDannN BBefestigungenN ] BunheimlichN ] BDeutschlandN ] B N B N

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\„Nur nichtsmehr wissen![,]|!“| [meinte] |wehrte sich| Kobler [apathisch.] |mit schwacher Stimme.|/ [friedlich] [\„Nur nichtsmehr wissen“, meinte Kobler apathisch./] [apathisch] |automatisch| [murmelte] |jammerte| [stöhnte] [|{ }|] [|{ }|] |lallte| [\XIX./] \XVIII./ \am f morgen/ Can[a]|e|biere gemeint ist: Canebiére [Hierauf] |Dann| B\e/festigungen unheimlich[en] D\e/utschland

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

nen an. Und auch das weiche weisse Brot. Mit dem Wein gingen sie diesmal misstrauischer um, trotzdem wurde Schmitz wieder recht gesprächig. Er erinnerte Kobler an das treffende Sprichwort vom lieben Gott in Frankreich, und fragte ihn hernach, ob es ihm schon aufgefallen wäre, dass hier zahlreiche Lokale, oft wahre Prachtcafes, keine Klosette hätten, und das wäre halt so eine südfranzösische Spezialität. Hierauf zählte er ihm die Spezialitäten der marseiller Küche auf und bestellte sich eine Art Fischsuppe. „Das ist aber eine eigenartige Speise“, meinte Kobler vorsichtig und schnupperte. „Ich glaub, dass da viel exotische Zutaten drinnen sind.“ „Erinnern Sie sich an das Kolonialdenkmal auf der Corniche ?“ erkundigte sich Schmitz mit vollem Munde. „Das war jenes Monumentaldenkmal für die im Kampf gegen die französischen Kolonialvölker gefallenen Franzosen -- natürlich stammt hier vieles aus den Kolonien, aber das stammt es überall! Auch unser berühmter wiener schwarze Kaffee wächst bei den Schwarzen. Hätten wir keine Kolonialprodukte, lieber Herr, könnten wir ja unsere primitivsten Bedürfnisse nicht befriedigen. Und glaubens mir, wenn man die armen Neger nicht so schamlos ausbeuten tät, wär das der Fall, denn dann wären ja alle Kolonialprodukte unerschwinglich teuer, weil dann halt die Plantagenbesitzer auch gleich das tausendfache verdienen wollten -- glaubens mir, mein Sehrverehrtester, wir Weissen sind die grössten Bestien!“ Jetzt musste er plötzlich stark husten, weil er sich einen zu grossen Bissen in den Rachen geschoben hatte. Als er sich ausgehustet hatte, fuhr er dozierend fort: „Wenn wir weissen Bestien ehrliche Leut wären, müssten wir unsere Zivilisation auf die Bedürfnislosen aufbauen, deren Bedürfnisse auch ohne Negerprodukte befriedigt werden könnten, also gewissermassen Waldmenschen -- das wären also dann Staaten, die kaum ein Bedürfnis befriedigen könnten, aber wo blieb dann unsere abendländische Kultur?“ „Das weiss ich nicht“, antwortete Kobler und sah gelangweilt auf seine Uhr. „Wann gehen wir denn ins Bordellviertel?“ fragte er besorgt. „Jetzt rentiert sichs noch nicht, es ist noch zu hell“, meinte Schmitz. „Wir können ja bis dahin vielleicht noch einige alte Kirchen anschaun. Garcon, bringen Sie mir encore eine Banane!“ B

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XIX. Gleich hinter dem schönen Rathaus von Marseille beginnt das berühmte Bordellviertel, düster und dreckig. Das ist ein wahres Labyrinth -- als hörte es nirgends auf. Je weiter man sich vom Rathaus entfernt, umso inoffizieller wird die Prostitution und umso vertierter gebärdet sie sich. Die Strassen werden immer enger, die hohen Häuser immer morscher und auch die Luft scheint zu verfaulen. „Der Gott und die Bayadere“, fiel es Schmitz plötzlich ein, denn er war halt ein Literat. „Sehens dort jene Bayader?“ fragte er Kobler. „Jene fette Gelbe, die sich dort grad ihre schwarzen Füss wascht, ist das aber unappetitlich! Meiner Seel, jetzt fangt sie sich auch noch zu pediküren an! Das nennt sich Gottes Ebenbild!“ B

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„Zum abgewöhnen“, meinte Kobler. „Passens auf!“ schrie Schmitz, denn er sah, dass sich ein anderes Ebenbild Kobler nähert. Dieses Ebenbild hatte einen verkrusteten Ausschlag um den Mund herum und wollte Kobler partout einen Kuss geben. Aber Kobler wehrte sich ganz ängstlich, während ein drittes Ebenbild Schmitz den Hut vom Kopf riss und sehr neckisch tat, worüber eine Gruppe singhalesischer Matrosen sehr lachen musste. „Ein interessantes Völkergemisch ist das auf alle Fäll“, konstatierte Schmitz, als er nach langwierigen Verhandlungen seinen Hut für fünf Zigaretten wieder zurückbekommen hatte. „Habens auch die japanische Hur gesehen?“ „Ich hab auch die chinesische gesehen“, antwortete Kobler. „Man kann ja hier allerhand sehen. Ich versteh nur die Männer nicht, die sich mit sowas einlassen.“ „Das ist halt der Trieb“, meinte Schmitz, „und die Matrosen sollen oft einen ganz ausgefallenen Trieb haben.“ „Ich versteh die Matrosen nicht!“ unterbrach ihn Kobler mürrisch. Und dann 얍 fluchte er sogar und beschwerte sich ungeduldig darüber, dass es in Marseille anscheinend keine netten Huren gibt, sondern bloss grausam abscheuliche. Er hätte sich diese Hafenstadt schon ganz anders vorgestellt. „Beruhigen Sie sich nur!“ beschwichtigte ihn Schmitz. „Ich werd Sie jetzt in ein vornehmes hochoffizielles Puff führen, ich hab die Adresse aus Wien vom Ober im Bristol. Dort werden die Weiber sicher sehr gepflegt sein und man soll dort allerhand erleben, auch wenn man sich nicht einlässt. In Hafenstädten soll man sowas ja überhaupt nicht machen wegen der gesteigerten Ansteckungsgefahr. Hier ist doch alles krank.“ „Ich hab noch nie was erwischt“, meinte Kobler so nebenbei und das war gelogen. „Ich hab auch noch nie was erwischt“, nickte Schmitz und das war auch gelogen. Dann wurde er wieder melancholischer. „Zuguterletzt ist halt diese ganze Prostitution etwas sehr trauriges, aber man kann sie halt nicht abschaffen“, lächelte er traurig. „Das ist auch meine Meinung“, pflichtete ihm Kobler bei. „Ich kenn einen Prokuristen, dem sein höchsts Ideal ist, mit der Frau, die er liebt, obszöne Photographien zu betrachten. Aber seine eigene Frau wehrt sich dagegen und behauptet, dass sie durch solche Photographien direkt lebensüberdrüssig werden tät. Also was bleibt jetzt dem Prokuristen übrig? Der Strich. Und wo eine Nachfrage ist, ist auch ein Angebot da. Das sind halt so Urtriebe!“ „Was gibts doch für Viecher auf der Welt!“ dachte Schmitz und wurde wieder 얍 philosophisch. „Ich betracht auch die Prostitution von einem höheren Standpunkt aus“, erklärte er Kobler. „Ich hab mir jetzt gerade überlegt, dass wir Menschen, seit wir da sind, eigentlich nur drei Triebe, nämlich Inzest, Kanibalismus und Mordgier unterdrückt haben, und nicht einmal diese drei haben wir total unterdrückt, wie uns das ja in letzter Zeit wiedermal der Weltkrieg bewiesen hat. Das sind so Probleme, lieber Herr! Sehen Sie sich zum Beispiel mich an! Ich hab in meiner Jugend mit dem kommunistischen Manifest sympathisiert. Man muss durch Marx unbedingt hindurchgegangen sein. Marx behauptet zum Beispiel, dass mit der Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse auch die Prostitution verschwindet. Das glaub ich nicht. Ich glaub, dass man da nur reformieren kann. Und das gehört sich auch so.“ B

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HurenN ] gibtsN ] BKanibalismusN ] B B

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[Mädchen] |Huren| gib[t]|ts| [es] gemeint ist: Kannibalismus

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Fragmentarische Fassung

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Wie?“ „Das hat man eben noch nicht heraussen, wie sich das gehört, man weiss nur, dass es sich marxistisch nicht gehört, denn wir erlebens ja gerade, dass der Kommunismus weit darüber hinausgeht und unsere ganze europäische Zivilisation vernichten will!“ Er hielt plötzlich ruckartig. „So und jetzt haben wirs erreicht“, sagte er. „Das dort drüben ist jenes Puff!“ – B

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Der Ober im Bristol hatte wirklich nicht übertrieben, als er Schmitz seinerzeit sein Ehrenwort gegeben hatte, dass das Haus „chez Madelaine“ in jeder Hinsicht vorbildlich geführt wird, solid und reell. „Er hat ausnahmsweise nicht gelogen“, dachte Schmitz, „ich werd ihm noch heut eine Ansichts-얍karte schreiben.“ Die Pförtnerin, eine freundliche Alte, führte die beiden Herren in den Empfangssalon, bot ihnen Platz an und bat sie, sich nur wenige Augenblicke zu gedulden. Der Empfangssalon war im Louis XVI Stil gehalten, doch keineswegs protzig, eher schlicht. An den Wänden hingen Stiche nach Watteau und Fragonard, für die sich Schmitz rein mechanisch sofort interessierte. „Ob das nicht sehr teuer sein wird?“ fragte Kobler misstrauisch, aber Schmitz konnte ihn nicht beruhigen, denn in diesem Augenblick betrat die Madame den Salon. Die Madame war eine ältere Dame mit wunderbar weissem Haar und sprechenden Augen, eine vornehme Erscheinung . Sie hatte etwas königliches an sich und einen natürlichen Charme. Aber auch etwas Strenges hatte sie um den Mund herum und das musste so sein, wenn sie den guten Ruf ihres Bordells hochhalten wollte. „Also das wird sehr viel kosten“, dachte Kobler besorgt, während sich die Madame taktvoll an Schmitz wandte, weil dieser der Ältere war. Sie begrüsste ihn sofort auf englisch, aber Schmitz unterbrach sie sofort, er sei kein Amerikaner und sein Freund sei auch kein Amerikaner, sondern im Gegenteil. Der Madame schien das sehr zu gefallen, sie entschuldigte sich vielmals, lächelte überaus zuvorkommend und war nun nichtmehr reserviert, eher übermütig. „Habens den Tonwechsel bemerkt?“ flüsterte Schmitz dem Kobler zu, als sie der Madame in die Bar folgten. „Habens es bemerkt, wie verhasst die Amerikaner in Frankreich sind? Hier möcht man halt auch keine amerikanische Kolonie werden!“ „Das ist mir jetzt ganz wurscht!“ unterbrach ihn Kobler unruhig. „Ich beschäftig mich jetzt nur damit, dass das hier sehr viel kosten wird!“ „Was kann das schon kosten? Wir gehen jetzt einfach in die Bar und bestellen uns einfach zwei Whisky Soda und sonst tun 얍 wir halt einfach nichts.“ Nun betraten sie die Bar. In der Bar sah man fast ausschliesslich uniformierte Menschen, Soldaten und Matrosen, die sich mit den halbnackten Mädchen mehr oder minder ordinär unterhielten. B

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Auch sassen in einer Ecke zwei Gäste aus Indien und in einer anderen Ecke sassen drei amerikanische Sportstudenten, letztere mit hochroten Köpfen, aber puritanischem Getue. Und dann sassen noch zwei Herren da, um die sich die Mädchen aber nicht kümmerten: der eine war ein eingefleischter Junggeselle und der andere war 5 bloss gekommen, um der Madame Turftyps zu geben. Es war ein lebhafter Betrieb. Der Pianist spielte sehr talentiert, teils sentimental und teils für das Knie, er sah aus wie ein Regierungsrat. Und der Kellner sah aus wie Adolf Menjou und war sehr distinguiert. Alles war scharf parfümiert und das musste wohl so sein. 10 Als die Madame den Salon betrat, riss es die Dirnen etwas zusammen, denn sie hatten eine eiserne Disziplin im Leibe, trotz ihres ausgelassenen Gebarens. Sie bildeten sofort einen regelmässigen Halbkreis um Schmitz und Kobler, streckten ihre Zungen heraus und bewegten selbe je nach Veranlagung rascher oder langsamer hin und her ; und das sollte recht sinnlich und lasterhaft wirken. „Alors!“ sagte die Ma15 dame, aber Schmitz erklärte ihr, sie wollten vorerst und vielleicht überhaupt nur eine einfache Kleinigkeit trinken -- „Tres bien!“ sagte die Madame, worauf sich der Halbkreis wieder auflöste. Trotzdem liess die Madame nicht so rasch locker und erkundigte ; sich, ob die beiden Herren nicht vielleicht eine Dame bloss zum Diskurieren haben wollten, sie hätte auch sehr intelligente Damen hier, mit denen man auch über 20 Problematisches reden könnte. Insgesamt sprächen ihre Damen vierzehn Sprachen und eine Deutsche sei auch unter ihnen und sie wolle mal die Deutsche an den Tisch der beiden Herren dirigieren und das würde natürlich absolut nichts kosten -- solange es nämlich beim Diskurieren bleiben würde. Die Madame ging, um die Deutsche herbeizuholen, die gerade verschwunden 25 war -- da schritt eine Negerin durch die Bar. Sie hatte einen grellroten Turban und einen ganz anderen Gang als ihre weissen Kolleginen, und dies gab dem Schmitz wiedermal Gelegenheit, sich über die gemeinsame Note der Europäerinnen zu äussern und darüber hinaus zu bedauern, dass man das typisch Europäische bisher : nur oberflächlich formuliert hat. „Oder könnten Sie auf diese Menschen hier schiessen, 30 nur weil sie keine Deutschen sind?“ Kobler verneinte diese Frage. Und Schmitz fuhr fort, dass es unter diesen Menschen da nicht nur Französinen, sondern auch Rumäninen, Däninen, Engländerinen und Ungarinen gäbe und er fragte triumphierend: „Na was sagens jetzt zu dieser Organisation?“ „Da sind wir in Deutschland freilich noch weit zurück“, meinte Kobler. 35 ; Nun trat die Deutsche an ihren Tisch. „Die Herren sind Deutsche?“ fragte sie deutsch und beugte sich über Schmitz. „Ich bin auch eine Deutsche, na wer will mal als Erster?“ „Das muss ein Irrtum sein!“ wehrte sich Schmitz. „Wir dachten, Du willst mit uns hier auf unser Wohl anstossen und sonst nichts!“ „Wie mich die Herren haben wollen!“ meinte die Deutsche und setzte sich artig, denn sie konnte auch wohl40 erzogen sein. Es stellte sich nun bald heraus, dass sie Irmgard heisst und aus Schlesien stammt. Sie kannte auch die Reichshauptstadt, dort wollte sie nämlich Verkäuferin werden, B

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Fragmentarische Fassung

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aber sie wurde Fabrikarbeiterin und das war Schicksal. Denn die Maschinen gingen ihr sehr auf die Nerven, weil sie halt ein Landkind war. Ostern 1926 lernte sie einen gewissen Karl Zeschcke kennen, und der und die Maschinen wurden ihr wieder ein Schicksal. Sie bekam es bald im Kopf und über Nacht fing sie an zu zeichnen und zu malen, und zwar lauter Hermaphroditen. Die Madame hatte recht, man konnte mit Irmgard tatsächlich amüsant diskurieren -- und als sie nach einem Weilchen von einem der uniformierten Herren verlangt wurde und sich also verabschieden musste, lächelte Schmitz direkt gerührt: „Du bist schon richtig, Irmgard! Nämlich ich bin Schriftsteller und wenn du Schreibmaschine schreiben könntest, dann wärst du das richtige Weiberl für mich!“ B

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Noch in derselben Nacht verliessen die beiden Herren Marseille, um nun über Tarascon, Sette und die spanische Grenze Port Bou ohne jede Fahrtunterbrechung direkt nach Barcelona zu fahren. Sie fuhren durch Arles. „Hier malte van Gogh,“ erzählte Schmitz. „Wer war das?“ fragte Kobler. „Ein grosser Maler war das“, antwortete Schmitz und sperrte sich traurig ins Klosett. „Hoffentlich werd ich jetzt endlich was machen können“, murmelte er vor sich hin, aber bald musste er einsehen, dass er vergebens gehofft hatte. „Also das ist schon ein fürchterlicher Idiot!“ konstatierte er wütend. „Jetzt kennt der nichtmal meinen geliebten van Gogh! Jetzt probier ichs aber nochmal!“ Gesagt getan, aber er konnte und konnte nichts machen. „Auch van Gogh ist verkannt worden“, resignierte er, „es versteht bald keiner den anderen mehr, es ist halt jeder für sich sehr einsam.“ So blieb er noch lange sitzen und starrte grübelnd auf das Klosettpapier. Dann öffnete er plötzlich das Fenster, um auf andere Gedanken zu kommen. Die kühle Nachtluft tat ihm wohl. Neben dem Bahndamm stand das Schilf mannshoch und das rauschte ganz romantisch gespenstisch, wie der Express so vorüberbrauste. „Wie schön habens hier die Leut!“ dachte Schmitz verzweifelt. „Was haben die hier für eine prachtvolle Nacht! Man sollt ein Poem über diese südfranzösischen Herbstnächt verfassen, aber ich bin halt kein Lyriker. Wenn ich zwanzig Jahr jünger wär ja, aber jetzt bin ich schon zu bewusst dazu.“ In Tarascon, der Vaterstadt Tartarins, des französischen Oberbayern, mussten sie 얍 auf den Pariser Express warten, weil aus diesem viele Reisende in ihren Express umsteigen wollten, teils nach Spanien und teils nur nach Nimes . Bald erschien auch der Pariser Express und bald darauf erschien in ihrer Abteiltüre eine Dame und wollte geB

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[und der] [|sie|] [|und er war eine Zuhälternatur. Sie {lernte} ihn trotzdem lieben, weil er auch lieber auf dem Lande gelebt hätte, als in der Stadt – Und so wurden ihr dieser Zeschcke|] |und der| [wurden ihr] |wurden ihr| [S][|s|]|S|ie[3] bekam[2] es[4] bald[1] \zu/ [Durch die Pyrenäen] [|{XIX.}|] |XX.| gemeint ist: Séte Gogh[!]|,|“ [sagte] |erzählte| [Er probierte es noch zweimal,] |Gesagt getan,| mannsho[h]|ch| [H] |H|erbstnächt gemeint ist: Nîmes

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

rade fragen, ob noch was für sie frei wäre, aber Schmitz liess sie gar nicht zu Wort kommen, sondern rief sofort, alle Plätze wären frei! Und er riss ihr direkt den Koffer aus der Hand, verstaute ihn fachmännisch im Gepäcknetz und überliess der Dame höchst beflissen seinen Eckplatz. Es dürfte also überflüssig sein, zu bemerken, dass diese Dame sehr gut aussah, das heisst: sie war jung, schlank und dabei doch schön rund, hatte Beine, die an nichts anderes zu denken schienen als an das, und einen seltsam verschleierten Blick, als tät sie gerade das und zwar überaus gern und immer noch nicht genug. Dabei duftete sie mit einer gewissen Zurückhaltung, aber umso raffinierter, vorn und hinten, rauf und runter -- und bald duftete das ganze Abteil bloss mehr nach ihr, trotz der beiden Herren. Sie hatte also das bestimmte Etwas an sich, was man landläufig sexapeal nennt. Die Dame nickte Schmitz einen freundlichen Dank, jedoch trotzdem einen reservierten, und liess sich auf seinen ehemaligen Eckplatz nieder und zwar in einer derart wollüstigen Art, als hätte sie was mit dem Eckplatz. Das regte den Schmitz natürlich sehr auf. Und auch Kobler war natürlich fasziniert. „Ägypten!“ durchzuckte es ihn plötzlich, als er dahinterkam, dass alles an dieser Frau sehr teuer gewesen sein muss. „Ich hab ja schon immer an die Vorsehung geglaubt!“ durchzuckte es ihn abermals. „Und wenn dieser Schmitz noch so glotzt, gegen mich kommt der --“ Er stockte mitten in seiner Kom-얍bination und wurde ganz blass, denn nun durchzuckte es ihn zum drittenmal und das war direkt zerknirschend. „Ich kann ja kein französisch, also kann ich sie ja gar nicht ansprechen und ohne Reden geht doch sowas nicht,“ -- so lallte es in ihm. Mit einer intensiven Wut betrachtete er den glücklichen Schmitz, wie dieser seine Ägypterin siegesgewiss nicht aus den Augen liess -- „jetzt wird er gleich parlieren mit ihr und ich werd dabei sitzen wie ein taubstummer Aff! Solangs halt soviel Sprachen auf der Welt gibt, solang wirds halt auch Dein Paneuropa nicht geben, Du Hund,“ -- so fixierte er grimmig den paneuropäischen Schmitz. Aber die Ägypterin schien sich mit Schmitz nicht einlassen zu wollen, denn sie reagierte in keiner Weise. Plötzlich schien ihr sein stereotypes Lächeln sogar peinlich zu werden -- sie stand rasch auf und ging aufs Klosett. „Eine Vollblutpariserin!“ flüsterte Schmitz hastig und tat sehr begeistert. „Ich kenn das an den Bewegungen!“ (Geh leck mich doch am Arsch! dachte Kobler verstimmt) „Wie sie vom Klosett kommt, sprich ich sie an!“ fuhr Schmitz fort und kämmte sich rasch. „Sie werden ja leider nicht mit ihr reden können“, fügte er schadenfroh hinzu. Kobler dachte abermals dasselbe. B

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frei[.]|!| sch[ö]|ö|n gemeint ist: sex-appeal korrigiert aus: seinen

französisch\,/ [Warum gibts denn auch] |Solang\s/ [es] halt| soviel Sprachen auf der Welt[, Du \schlampiger/ Paneuropäer“,] [\solang es soviel Sprachen gibt, ist auch Dein Paneuropa {ge }!“/] [|gibt|] |gibt, solang wirds halt auch Dein Paneuropa nicht geben,[“] Du Hund,“| [unschuldigen] |paneuropäischen| [„]|(|Geh Arsch![“] verstimmt.\)/

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Kaum sass die Vollblutpariserin wieder ihm gegenüber, nahm Schmitz seinen ganzen Charme zusammen und sprach sie an, und zwar perfekt französisch -- sie hörte lächelnd zu und erklärte dann leise, sie könne nur äusserst gebrochen französisch. „You speak english?“ fragte Schmitz. „Nein, Allemagne“, sagte die Vollblutpariserin, und da gab es Kobler einen Riesenruck, während Schmitz ganz seltsam unsicher wurde -- „Also gibts doch eine Vorsehung!“ dachte Kobler triumphierend und Schmitz wurde ganz klein und hässlich. „Ich bin zwar in Köln geboren“, sagte Allemagne , „aber ich lebe viel im Ausland. Im Sommer war ich in Biarritz und im Winter 얍 war ich in St. Moritz.“ „Die absolute Ägypterin!“ dachte Kobler und Schmitz riss sich wieder zusammen: „Köln ist eine herrliche Stadt!“ rief er. „Eine uralte Stadt!“ „Oh wir haben aber auch schöne neue Viertel!“ verteidigte die Ägypterin ihre Vaterstadt, und dies berührte Schmitz sehr sympathisch, denn er war auch der Ansicht, dass dumme Frauen eine akrobatische Sinnlichkeit besässen. Und er liebte ja an den Frauen in erster Linie die leibhaftige Sinnlichkeit, besonders seit er mal ein seelisches Verhältnis hatte. Nämlich das war eine recht unglückliche Liebe, die sehr metaphysisch begann, aber mit Urkundenfälschungen seitens der Frau endete. Er schonte die Frau bis zum letzten Augenblick, als sie aber eine Apanage von ihm haben wollte, schonte er sie nichtmehr, und als ihr dann die Bewährungsfrist versagt wurde, sagte er: „Ich bin halt ein Kind der Nacht!“ Es ist also nur verständlich, dass er jeder derartigen Erschütterung peinlichst aus dem Wege ging, beileibe nicht aus Bequemlichkeit, sondern infolge gesteigerter Sensibilität und einer sexuellen Neurasthenie. Er wollte nichts anderes als das Bett und ertappte sich daher oft dabei, wie er es gerade bedauert , dass Frauen auch Menschen sind und sogar sogenannte Seelen haben -- trotzdem konnte er das Bett nur durch seinen Geist erreichen, entweder unmittelbar oder indem er den Geist zuerst in Geld umgesetzt hatte, denn er hatte eben kein sex-apeal . Mit andern Worten: er gelangte ins Bett nur durch seinen Geist, und sowas ist natürlich direkt tragisch. Auch jetzt versuchte er dieser Rheinländerin mit seinem Intellekt zu imponieren: er zählte ihr seine zwanzig speziellen Dufreunde auf und das waren lauter prominente Namen, einer 얍 prominenter wie der andere, und sie fing schon an, ein ganz kleinlautes Gesicht zu schneiden -- „Jetzt wirds aber höchste Zeit!“ dachte Kobler und unterbrach Schmitz brutal: „Kennen Sie Marseille?“ fuhr er seine Ägypterin an, die ihn desshalb ganz überrascht betrachtete, und als sie ihn eingehender überblickt hatte, schien er ihr nicht zu missfallen -- „Nein“, lächelte sie, und das ermunterte den Kobler sehr. „Marseille sollten Sie sich aber unbedingt ansehen, Gnädigste!“ ereiferte er sich. „Es muss ja dort toll zugehen“, meinte die Gnädigste. „Das ist noch gar nichts, aber ich hab dort in einem verrufenen Hause Filme gesehen, die eigentlich B

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AllemagneN ] metaphysischN ] BErN ] BwieN ] BgeradeN ] BbedauertN ] Bsex-apealN ] BerN ] BRheinländerinN ] Bmit f IntellektN ] BfuhrN ] B B

[sie] |Allemagne| [romantisch-melancholisch] |metaphysisch| E[s]|r| [dass] |wie| \gerade/ bedauert[e] gemeint ist: sex-appeal \er/ [r]|R|hein[ischen Ägypterin]|länderin| [unter allen Umständen] |mit f Intellekt| korrigiert aus: führ

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verboten gehörten Gnädigste!“ „Erzählen Sie bitte!“ sagte die Gnädigste hastig und sah ihn dann still an, während sie Schmitz samt seinen prominenten Bekannten links liegen liess. Und Kobler erzählte: zuerst wurden er und Schmitz in den dritten Stock geführt, in ein geräumiges Zimmer, in dem eine weisse Leinwand aufgespannt war. Es standen da zirka zehn Stühle, sonst nichts, und man liess ihn und Schmitz mutterseelenallein und tröstete sie damit, dass der Operateur jeden Augenblick erscheinen müsse und dann ginge es sofort los. Aber es verging eine geraume Zeit, und es kam noch immer keine Seele, so, dass es ihnen schon unheimlich wurde, weil man ja nicht wissen kann, ob man nicht etwa umgebracht werden soll, gelustmordet oder usw. Hier wurde aber Kobler von Schmitz energisch unterbrochen, denn es missfiel ihm im höchsten Grade, dass diese Rheinländerin, dem Kobler seine schweinischen Filme seinen prominenten Freunderln vorzog -- er hatte schon eine ganze Weile gehässig Koblers hochmoderne Socken betrachtet, und nun schlug sein soziales Gewissen elementar durch. Er betonte jedes Wort, als er ihr nun auseinandersetzte, dass in keinem offiziellen Bordell der Welt jemals etwas Unrechtes vorkommen könnte, weil sich die offiziellen Bordellunternehmer einer Gesetzesübertretung nimmermehr aussetzen würden , weil sie 얍 es eben nicht nötig hätten, da sie ja die Prostituierten in einer derart verbrecherisch schamlosen Weise ausbeuteten, dass sie auch im Rahmen der Gesetze einen glatten Riesengewinn aufweisen könnten. Und dann wandte er sich an Kobler und fragte ihn gereizt, ob er sich denn nicht daran erinnern könne, dass im ersten Stock zufällig eine Tür offenstand, durch die man den zuchthausmässig einfachen gemeinsamen Speisesaal der Prostituierten sehen konnte, und ob er es denn schon vergessen hätte, wie furchtbar es im zweiten Stock nach Medikamenten gestunken hätte, trotz des aufdringlichen Parfüms, denn dort sei das Zimmer des untersuchenden Arztes gewesen. Aber nun liess ihn die Gnädigste nicht weiter reden, denn das sei nämlich furchtbar desillusionierend, protestierte sie. Worauf Kobler sofort sagte: „Also endlich erschien der Operateur und dann gings endlich los“ -- Aber Schmitz gab sich noch nicht geschlagen und er bemerkte bissig, das hätte so lange gedauert mit dem Operateur, weil nämlich dieser Operateur gelähmt gewesen sei, zwar nur die Beine und nicht der Oberkörper, aber er hätte halt von zwei Männern die Treppen herauf getragen werden müssen -- „Pfui!“ rief die Gnädigste. „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz korrekt und verliess wütend das Abteil. „Woher haben nur diese Deutschen das Geld als verarmte Nation so zum Vergnügen herumzufahren?“ fragte er sich verzweifelt vor Wut. Er ging im Gang auf und ab. „Hab ich das notwendig, dass ich jetzt so zerknirscht bin?“ grübelte er zerknirscht. „Ja, ich hab das notwendig! Denn was ist der Grund zur grössten Wut? Wenn man ein lebendes Wesen an der Ausübung des Geschlechtsverkehrs hindert, das ist halt eine Urwut!“ B

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in demN ] nimmermehrN ] Baussetzen würdenN ] BebenN ] BjaN ] BverbrecherischN ] Bweil f gelähmtN ] Bnotwendig f bin?“N ] B B

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[an dessen Wand] |in dem| nimmerme[b]|h|r aussetz[an]|en| [würden] |würden| [\halt/] |eben| \ja/ \verbrecherisch/ weil1 dieser3 Operateur4 nämlich2 gelähmt5 notwendig[?”]|,| dass ich jetzt so zerknirscht bin?/] |dass f bin?“|

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So ging er noch oft auf und ab -- plötzlich überraschte er sich dabei, dass er stehen geblieben war und verstohlen in das Abteil glotzte, in welchem sich seine Vollblutpariserin den Inhalt einiger pornographischer Filme erzählen liess, die natürlich immer auf dasselbe Motiv hinausgingen, ob sie nun auch in einem historischen, kriminellen oder zeitlosen Rahmen spielten. „Die gehört schon jenem, sie hängt ja direkt an seinen Lippen“, dachte er. „Er ist ja auch zwanzig Jahr jünger als ich, was soll ich also machen? Die ganze Nacht kann ich wohl nicht da heraussenstehen , ich werd mich also wieder hineinsetzen müssen, die beiden da drinnen sind ja zusammen noch nicht so alt, wie ich allein, die haben noch viel vor sich, was ich hinter mir hab, Jugend kennt halt keine Tugend“ -- und wie er so diese beiden Menschen, die sich gefielen, durch die Glastüre beobachtete, kamen sie ihm allmählich immer entfernter vor, als lebten sie hundert Jahre später, und mit dieser Distanzierung wandelte sich auch allmählich seine Urwut in ahnungsvolle Erkenntnis ewiger Gesetze, natürlich nicht zuletzt auch infolge seines theoretischen Verständnisses der ganzen geschichtlichen Bewegung. „Die 얍 beiden jungen Leut da drin bestehen halt auch nur aus einzelnen Zellen“, dachte er, „aus Zellen, die sich halt schon zu einem grandios organisierten Zellenstaat durchgerungen haben, in dem das Zellenindividuum schon aufgehört hat -- und das steht halt jetzt auch unseren menschlichen Staaten bevor , siehe Entwicklung der ebenfalls staatenbildenden Termiten, die akkurat um hundert Millionen Jahre älter sind, als wir, wir sind halt grad erst geboren als wir“ -- so dachte er und plötzlich musste er stark gähnen. „Jetzt wirds aber höchste Zeit, dass ich mich wieder setz!“ fuhr er fort. Er betrat also wieder das Abteil in einer väterlich verständnissvollen Stimmung, und kaum hatte er sich gesetzt, hörte er den weiblichen Zellenstaat folgendes sagen: „Ja ich fahr auch nach Barcelona! Nein das ist aber interessant! Ja ich bin noch gar nicht orientiert, wo man dort wohnen kann! Nein Paris ist das Schönste und was mir besonders dort gefällt, ist das, dass man sich dort elegant kleiden kann, was man bei uns in Duisburg ja kaum mehr kann, weil die Arbeiter so verhetzt sind und wenn man elegant über die Strasse geht, schauen sie einem fanatisch nach!“ „Da haben Sie schon sehr recht! “ sagte Kobler. „Wer? Die Arbeiter?“ fragte Schmitz. „Nein, die Gnädigste“, sagte Kobler. (Hör ich recht? dachte Schmitz.) „Ja die Juden machen die Arbeiter ganz gehässig“ , liess sich der weibliche Zellenstaat wieder vernehmen. „Nein ich kann die Juden nicht leiden, sie sind mir zu B N

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] heraussenstehenN ] Bhab, f Tugend“N ] BhatN ] Bjetzt f bevorN ] BNeinN ] BdortN ] BdortN ] BStrasseN ] BfanatischN ] Brecht!N ] B(HörN ] Brecht?N ] BSchmitz.)N ] Bgehässig“N ] B N B

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[so] heraussen[ ][s]|s|tehen hab[, Jugend kennt halt keine Tugend“] [|{“}|] |, Jugend fTugend“| hat[te] jetzt1 unseren3 menschlichen4 Staaten5 auch2 bevor6 [Ja] |Nein| \dort/ \dort/ [S]|S|trasse [neidisch] |fanatisch| recht[?]|!| [„]|(|Hör recht?[“] Schmitz.\)/ [fanatisch“] |gehässig“|

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widerlich sinnlich, überhaupt stecken die Juden überall drinnen! Ja es ist sehr schad, dass wir kein 얍 Militär mehr haben, besonders für diese halbwüchsigen Arbeiter und das Pack! Nein also diese Linksparteien verwerf ich radikal, weil sie immer wieder das Vaterland verraten! Ja ich war noch ein Kind als sie den Erzberger erschossen haben! Nein und das hat mich schon damals sehr gefreut! Ja!“ „Ich bin auch sehr gegen jede Verständigungspolitik“, antwortete Kobler. Aber nun konnte sich Schmitz nicht mehr zurückhalten. „Was?“ unterbrach er ihn und sah ihn stechend an. „Ja“, lächelte Kobler. „Nein!“ brüllte Schmitz und verliess entrüstet das Abteil. Aber diesmal lief ihm Kobler nach. „Sie müssen mich doch verstehen“, sagte er. „Ich versteh Sie nicht!“ brüllte Schmitz und zitterte direkt. „Sie sind mir einer! A das ist empörend! Na das ist a Affenschand! Wie könnens denn so daherreden, wo wir jetzt drei Tag lang eigentlich nur über Paneuropa geredet haben?!“ „Im Prinzip haben Sie natürlich recht!“ beschwichtigte ihn Kobler. „Aber ich muss doch so reden, weil das doch meine reiche Ägypterin ist, ihr Vater ist mehrfacher Aufsichtsrat und Grossindustrieller, das hab ich schon herausbekommen, sie heisst Rigmor Erichsen und wohnt in Duisburg -- Ägypten ist natürlich nur ein Symbol! Und was geht denn übrigens Ihr Paneuropa die Weiber an!?“ „Sehr viel, Herr Kobler! Denken Sie nur mal an den Krieg und die Rolle der Mütter im Krieg! Haben Sie denn schon mal über die Frauenfrage nachgedacht?“ „Die Frauenfrage interessiert mich nicht, mich interessiert bloss die Frau!“ sagte Kobler ungeduldig und wurde dann sehr ernst. „Übrigens Herr Schmitz“, fuhr er fort, „möcht ich Sie nur bitten, mich jetzt ruhig emporarbeiten zu lassen, ich hab mir schon einen Plan zurechtgelegt: ich werd diese Dame da drinnen in Barcelona kompromittieren, begleit sie dann nach Duisburg, kompromittier sie dort noch einmal und dann heirat ich ein in Papas 얍 Firma. Und ob diese Dame da drin für Paneuropa ist oder nicht, das kann doch Paneuropa ganz wurscht sein!“ „Auf das reden sich alle naus!“ sagte Schmitz und liess ihn stehen. B

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Sie fuhren bereits durch Montpellier und Schmitz stand noch immer draussen am Gang, während sich Kobler und Rigmor noch immer über die marseiller Filme unterhielten und sich dabei menschlich näher kamen. „Und wegen sowas ist der arme Alois gefallen!“ dachte Schmitz deprimiert. „Was tät es schon schaden, wenn man diesen Kobler samt seiner Rigmor erschiessen tät? Nichts tät das schaden, es tät wahrscheinlich nur was nützen!“ „Armer Alois!“ seufzte er. „Ist es Dir armer toter Alois schon aufgefallen, dass der Pazifismus infolge der grossen russischen Revolution plötzlich wieder ein Problem geworden ist? Ich meine, dass der Bolschewismus uns, die wir uns die geistige Schicht nennen, zwingt, unsere Stellungnahme zum Pazifismus einer gründlichen Revision zu unterziehen -- denn hätts keinen Lenin gegeben, wär doch der Pazifismus für uns geistige Menschen kein Problem mehr. Er ist es aber nun plötzlich wieB N

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Ihr PaneuropaN ] XXI.N ] B N] B N] B B

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[diese Politik] [|Paneuropa|] |Ihr Paneuropa| [\(Seite 13)/] |XXI.| [immer] [\(Grab{anlage} in Cap{Nad})/]

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der geworden infolge der Idee des revolutionären Krieges -- Meiner Seel, ich schwank umher, es gibt halt schon sehr schwierige Probleme auf dieser Malefizwelt! Ich sympathisier, ich muss halt immer wieder auf mich persönlich zurückkommen, mit Paneuropa , obwohl ich ja weiss, dass die Sowjets insofern recht haben, dass die paneuropäische Idee jeden Tag aufs neue verfälscht wird von unserer Bourgoisie , wie halt jede Idee -- und ich weiss auch, dass wir hier bloss eine Scheinkultur haben, aber ich freu mich halt über den Boticelli ! Wenn die Sowjets nur nicht so puritanisch wären -- Meiner Seel, ich bin aus purem Pessimismus manchmal direkt reaktionär! 얍 Skeptisch sein ist halt eine Selbstqual -- aber was hab ich denn auf der Welt noch zu suchen, wenn mal die Skepsis verboten ist?“ B

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Aber noch vor Spanien versöhnte sich Schmitz abermals mit den beiden jungen Menschen, teils weil er draussen im Gang immer schläfriger wurde, teils weil er halt schon überaus gerne entsagungsvoll tat. Also konnte er sich nun wieder schön weich setzen und schlummern, jedoch leider nur bis zur spanischen Grenze. 20 Diese hiess Port Bou und hier musste man abermals umsteigen, und zwar mitten in der Nacht -- -- heute hat Kobler nur eine verschlafene Erinnerung an auffallend gekleidete Gendarmen und an einige höfliche Agenten der Exposicion de Barcelona 1929, die ihm Prospekte und Kataloge ganz umsonst in die Hand drückten und hiebei auf gut deutsch bemerkten, dass die angegebenen Preise natürlich keine Gültigkeit 25 hätten. Schmitz jedoch erinnert sich noch genau, dass der spanische Anschlusszug nur erster und dritter Klasse hatte, da er im Gegensatz zu Kobler, der nachzahlen musste, weil Rigmor natürlich Erster fuhr, als Protest gegen diesen staatlichen Nepp allein in der Dritten fuhr und hiebei unhöfliche Gedanken über die spanischen Habsburger hatte. 30 ; In Barcelona stiegen sie zusammen in einem Hotel ab und das war fast ein Wolkenkratzer, ein Spekulationsobjekt in der Nähe der Weltausstellung, das sehr zerbrechlich war -- wahrscheinlich brauchte es nur über die Dauer der Weltausstellung zu halten. Es lag in einer breiten argentinisch anmutenden Strasse namens Calle Cortes. 35 Im Hotelbüro begrüsste sie der Dolmetscher, ein : ehemaliger Ölreisender aus Prag. Auch zwei Portiers verbeugten sich vor ihnen. „Die Senorita hat zwei RohrplatB

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haltN ] PaneuropaN ] BdieN ] BBourgoisieN ] BBoticelliN ] BpuremN ] BmanchmalN ] Breaktionär!N ] B N]

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XXII.N ] ExposicionN ] BeinN ] B

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\halt/ Paneur\o/pa [s]|d|ie gemeint ist: Bourgeoisie gemeint ist: Botticelli \purem/ man[vh]|ch|mal reaktionär\!/ [Nun hielt der Express überaus plötzlich auf freier Strecke und Schmitz sah, dass er so gebremst hat, weil das Signal geschlossen war. Und nun dachte er an den Tod.] [Endlich in Barcelona] [|{XXIV.}|] |XXII.| gemeint ist: Exposición [{ }] |ein|

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tenkoffer, drei grössere und vier kleinere Handkoffer“, sagte der Dolmetscher zu den beiden Portiers auf spanisch. „Der ältere Caballero ist sicher ein Redakteur, und der jüngere Caballero ist entweder der Sohn reicher Eltern oder ein Nebbich. Entweder zahlt er alles oder nichts.“ Hierauf stritten sich noch die beiden Portiers miteinander, ob sie dem Caballero Schmitz acht oder zehn Peseten abknöpfen sollten -- sie einigten sich auf zehn, denn eigentlich war ja das kein Zimmer, sondern eine Kammer ohne Fenster, ohne Schrank, ohne Stuhl, nur mit einem eisernen Bett und einem eisernen Waschtisch. Daneben war Koblers Zimmer das absolute Apartement . Es hatte sogar zwei Fenster, durch die man die Weltausstellung von hinten sehen konnte. Aber Kobler sah kaum hin, sondern konzentrierte sich ganz auf sich, er zog sich ganz um, wusch und rasierte sich. „Sie gehört schon mir“, dachte er, während er sich die Zähne putzte. „Das ist jetzt nurmehr eine Frage der Gelegenheit, wo und wann ich sie kompromittier.“ Er war seiner Sache schon sehr sicher. Bereits in Montpellier hatte er sich ja einen Plan zurechtgelegt, kalt und hart, jede Möglichkeit erwägend und vor keinem sentimentalen Hindernis zurückschreckend, einen fast anatomisch genauen Plan zur raschen Niederwerfung Ägyptens. „Was hat doch dieser Schmitz in Milano gesagt?“ fiel es ihm ein, als er sich kämmte: „Ihr junge Generation habt keine Seele, hat er gesagt. Quatsch! Was ist das schon: Seele?“ Er knöpfte sich die Hosen zu. „Man muss immer nur ehrlich sein!“ fuhr er fort. „Ehrlich gegen sich selbst, ich weiss ja, dass ich nicht gerade fein bin, denn ich bin halt ehrlich. Ich verschleier mich nicht vor mir, ich kanns schon ertragen, die Dinge so zu sehen, wie sie halt sind!“ B N

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Als auch endlich Rigmor säuberlich geputzt war, gingen sie gleichmal in die Weltausstellung. Also das war sehr imposant. Rigmor las laut vor aus ihrem Katalog: „Unter dem Schutze SM des Königs von Spanien und der Mitwirkung der Kgl. ; spanischen Regierung, organisiert die Stadt Barcelona eine grosse Weltausstellung 30 mit einem Kostenaufwand von hundert Millionen Goldmark.“ (Hundert Millionen! dachte Schmitz. Also das ist das nicht wert!) Rigmor las weiter: „Barcelona ist die grösste und bedeutendste Handels- und Fabrikstadt Spaniens; die Zahl ihrer Einwohner beträgt eine Million und ist dieselbe somit die grösste Stadt des Mittelmeeres.“ „Das ganze ist halt eine politische Demonstration“, unterbrach sie Schmitz, 35 „damit wirs sehen, dass Spanien aus seiner Lethargie erwacht.“ Rigmor las weiter: „Barcelona will durch dieses grossartige Unternehmen der Welt den Aufschwung der Stadt und des Landes zeigen. Zweifelsohne dürfte nach Beendigung des Weltkrieges von keinem Lande eine in so grosszügiger Weise angelegte Ausstellung organisiert worden sein, wozu sich die Stadt Barcelona veranlasst gefühlt hat, von dem Wunsche B

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] CaballeroN ] BDanebenN ] BApartementN ] Bwo f ichN ] B N] Bhundert MillionenN ] B(Hundert Millionen!N ] BAlsoN ] B N] Bwert!)N ] B N B

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[für] \Caballero/ Da[gegen]|neben| gemeint ist: Appartement [dass ich] [|{ }|] |wo f ich| [\–/] [100 000 000] |hundert Millionen| [„]|(|Hundert Millionen![“] [„]Also [hier] wert![“]|)|

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beseelt, sich die vielseitigen und dauernden Fortschritte der Neuzeit anzueignen.“ „ Voilà! “ sagte Schmitz. Zuerst betraten sie den Autopalast, in dem es nur Autos gab. Vor einem Kabriolett mit Notsitz musste Kobler plötzlich an den Herrn Portschinger aus Rosenheim den5 ken -- „und so ist es auch mit dieser ganzen Politik“, dachte er, „der eine verkauft dem andern sein Kabriolett, Deutschland Frankreich Spanien England und was weiss ich -- alle kaufen sich gegenseitig ihre Kabrioletts ab. Ja wenn das alles streng reell vor sich ging, dann wär das ein ideales Paneuropa, aber zurzeit werden wir Deutschen von den übrigen Nationen bloss betrogen, genau so, wie ich den Port10 schinger betrogen hab. In dieser Weise lässt sich Paneuropa nicht realisieren. Das ist kein richtiger Geist von Locarno!“ Und im Palast des Kgl. spanischen Kriegsministeriums dachte Kobler weiter: „Wenn halt Deutschland auch noch eine solche Armee hätt mit solchen Kanonen Tanks und U-Bootgeschwadern, dann könnten wir freilich leicht unsere alte Vor15 machtstellung zu-얍rückerobern und dann könnten wir Deutsche leicht der ganzen Welt unsere alten Kabrioletts verkaufen, à la Portschinger! Das wär ja entschieden das Günstigste, aber so ohne Waffen gehört das halt leider in das Reich der Utopie. Am End hat halt der Schmitz doch wahrscheinlich recht mit seiner paneuropäischen Idee!“ 20 Und dann betraten sie den Flugzeugpalast, in dem es nur Flugzeuge gab. Dann den Seidenpalast, in dem es nur Seide gab, was Rigmor sehr angriff. Und dann auch den italienischen Palast, in dem es eigentlich nur den Mussolini gab. Hierauf den rumänischen, den schwedischen und hinter dem Stadion den Meridionalpalast, in dem es allerhand gab. Und dann betraten sie den riesigen spanischen Nationalpalast, in 25 dem es eigentlich nichts gab -- nur einen leeren Saal für zwanzig-;tausend Personen -- „im wilhelminischen Stil“, konstatierte Schmitz. „Und langweilige Ölbilder“, meinte Kobler. „Ich möchte jetzt aber endlich in den Missionspalast!“ begehrte Rigmor auf. Der Missionspalast war sehr interessant, nämlich das war eine original vatikani; 30 sche Ausstellung. Man musste extra Eintritt zahlen , aber ausserdem wurde man auch noch auf Schritt und Tritt in sinniger Weise angebettelt , wie dies halt bei allen Vertretern des Jenseits üblich ist. Aber man konnte auch was sehen für sein Geld, nämlich was die Missionäre von den armen Primitiven zusammengestohlen und herausgeschwindelt haben ad maiorem bürgerliche Produktionsweise gloriam. 35 얍 Nach dieser heiligen Schau fuhren sie mit einem Autobus nach dem Restaurant Miramare auf dem Mont Juich mit prachtvoller Aussicht auf Stadt und Meer. Das war ein sehr vornehmes Etablissement und Rigmor schien sich wie zuhause zu fühlen. Schmitz dagegen schien es peinlich, dass ihm gleich vier Kellner den Stuhl unter den Hintern schieben wollten, und Kobler wurde direkt blass, als er die Preise auf B

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Viol[a]|à|! Deutschland[,] Frankreich[,] Spanien[,] [System] |à la| \spanischen/ [be]zahlen angebe[t]|tt|elt [alles] [, geraubt und \heraus/geschwindelt] |und herausgeschwindelt| gemeint ist: Montjuïc i[n]|hm|

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der Speisekarte erblickte. „lm Katalog steht“, sagte Rigmor, „dass nach der Legende hier jener Ort gewesen sein soll, wohin Satan den Herrn geführt hatte, als er ihn mit den Herrlichkeiten der Erde verführen wollte.“ Jedoch Kobler gab ihr keine Antwort, sondern dachte etwas sehr Unhöfliches, und Schmitz erriet, was er dachte, und sagte bloss: „Bestellen Sie was Sie wollen!“ In diesem himmlischen Etablissement liessen sich ausser ihnen noch etwa zwölf vornehme Gäste neppen, denn es war ja auch zu schön. Am Horizont grüssten die Berge der Gralsburg herüber und links unten grüsste aus dem Trubel der Grossstadt die Säule des Kolumbus empor -- und wenn man gerade Lust hatte, konnte man auch zusehen, wie emsig im Hafen gearbeitet wird. Und alle diese arbeitenden Menschen, tausend und abertausend, wurden von hier oben gesehen so winzig, als wär man schon der liebe Gott persönlich. Als es dämmerte wollte Rigmor unter allen Umständen mal mit der Achterbahn fahren. Also wandten sich die drei Herrschaften dem Vergnügungspark zu, sie schritten durch einen lachenden Park, den die Kunst der Gärtner, begünstigt durch das milde Klima hatte entstehen lassen. Rasch wurde es Nacht. Und durch die fast exotischen Büsche sahen die drei Herrschaften in der Ferne vor dem Nationalpalast die herrlichen Wasserspiele und das waren nun tatsächlich Fortschritte der Neuzeit. Vor den Toren der Weltausstellung stand das Volk, das sich den Eintritt nicht zahlen konnte, und sah von hier aus diesen Fortschritten zu, aber es wurde immer wieder von der Polizei vertrieben, weil es den Autos im Wege stand.

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Was ist in Spanien das Spanischste? Natürlich der Stierkampf, auf spanisch: Corrida de Toros -- besonders Rigmor konnte ihn kaum mehr erwarten. Die Stierkampfarena hatte riesige Dimensionen und sie war noch grösser, wenn ; man bedenkt, dass allein Barcelona drei solch gigantische Arenas besitzt. Trotzdem war alles ausverkauft, es dürften ungefähr zwanzigtausend Menschen dabei gewe30 sen sein, und Schmitz erhielt nurmehr im Schleichhandel drei Karten im Schatten. Die Spanier sind eine edle Nation und schreiten gern gemessen einher mit ihren ; nationalen Bauchbinden und angenehmen weissen Schuhen. Sogar auf den Toiletten steht „Ritter“ statt „Herren“, so stolz sind die Spanier. Fast jeder scheint sein eigener Don Quichotte oder Sancho Pansa zu sein. 35 Gleich neben dem Hauptportal erblickte Schmitz die Stierkampfmetzgerei, hier wurden die Stierleichen von vorgestern als Schnitzel verkauft. Ein grosses Polizeiaufgebot sorgte für Ruhe und Ordnung. Drinnen in der Arena musizierte eine starke Kapelle, Walzer, Märsche und Pot: pouris -- und um Punkt sechzehn Uhr tat sich das Portal auf und nun begann der fei25

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] XXIV.N ] BRigmor konnteN ] BTrotzdemN ] BzwanzigtausendN ] BangenehmenN ] BFast jederN ] BscheintN ] BPansa f sein.N ] BPotpourisN ] B N B

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[dauernde] [XIV.] |XXIV.| Rigmor\ /konnte [Fast jeden Tag gibt es Stierkämpfe und] [t]|T|rotzdem [dreiss]|zwanz|igtausend [praktischen] |angenehmen| \Fast/ [J]|j|eder [ist] |scheint| Pansa[.]|zu sein.| gemeint ist: Potpourris

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

erliche Einzug der Herren Stierkämpfer. „Sie werden da etwas prachtvoll historisches erleben“, erinnerte sich Kobler an die Worte des Renaissancemenschen vor Verona. Und das war nun auch ein farbenprächtiges Bild. An der Spitze des Zuges ritten zwei Herolde und liessen ihre feurigen Rappen tänzeln, was den Zuschauern sehr gefiel, denn sie taten begeistert. Die Herren Stierkämpfer traten vor das Präsidium, das droben auf der zweiten Galerie trohnte, und begrüssten es streng zeremoniell . Hierauf verliessen sie wieder die Arena, während die beiden Herolde abermals vor das Präsidium trabbten und es um eine grosse Gnade zu bitten schienen. Einen Augenblick war alles still, dann erhob sich der Präsident und warf den Herolden ein winziges Ding zu, der eine fing es auf, hielt es hoch, und nun gallopierten die beiden nach der gegenüberliegenden Seite, während die spanischen Zuschauer wieder ausser sich gerieten. Dort übergaben sie es einem robusten Herren und nun stellte sich heraus, dass es der Schlüssel zum Stierzwinger war. Der Herr Präsident hatte die Erlaubnis erteilt, sechs Stiere und einige Pferde totzuquälen. Über dem Zwinger sassen drei Herren, zwei Trompeter und ein Trommler. Mit ihren Instrumenten gaben sie das letzte Zeichen zum Beginn und leiteten auch späterhin, die offiziellen Phasen der Kämpfe und zwar immer mit demselben Akkord. Erster Akkord -- und der erste Stier raste aus seinem finsterem Zwinger, ein klei얍 ner schwarzer andalusischer Stier, getrieben durch den wütenden Schmerz -- denn in seinem Rücken stak bereits ein Messer und das war programmgemäss. In der Arena standen nun bloss drei Herren mit roten Mänteln und ohne Waffen. Geblendet durch die plötzliche Sonne hielt der Stier einen Augenblick, dann entdeckte er die roten Mäntel und stürzte darauf los, von dem ersten zum zweiten und dritten, aber graziös wichen die Herren dem plumpen Tier aus. Grosser Beifall. Auch Rigmor und Kobler applaudierten -- da lauschte der Stier. Es war, als fasse er es erst jetzt, wo er sich befindet, als würde es ihm erst allmählich klar, dass ihm nun etwas Furchtbares bevorsteht. Er liess die drei Herren stehen und wandte sich langsam seinem dunklen Zwinger zu, wurde aber wieder zurückgetrieben. Zweiter Akkord. Nun ritt ein Herr in die Arena, sein Pferd wurde von zwei Herren geführt, da es geblendet war, ein alter dirrer Klepper, ergraut in der Sklaverei. Der Herr auf dem Klepper hatte eine lange Lanze und der Stier wurde mit allerhand Kniffen auf den Klepper gehetzt, der sehr zitterte. Als der Stier in die Nähe des Kleppers kam, trieb ihm der Herr mit aller Wucht die Lanze in den Rücken, worauf der Stier den Klepper überrannte , während B

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2 5 5–6 6–7 7 8 8 10 12 17 18 18 18 30 30–31 34

RenaissancemenschenN ] Rena\i/ssance[äe s]|mens|chen tatenN ] [gröhlten] |taten| BDie f dasN ] [Aber das Gröhlen wuchs zum Orkan, als nun die] |Die| Herren1 Stierkämpfer2 vor4 das5 Präsidium6 traten,3 das7 Bund f zeremoniellN ] und1 [es] streng4 zeremoniell5 begrüssten2 \es3/ BsieN ] [die Herren Stierkämpfer] |sie| BdasN ] d[em]|as| BtrabbtenN ] [erschienen] |trabbten| BHeroldenN ] Her\o/lden B N] [Herren] B N] [des Kampfes] BoffiziellenN ] [einzelnen] |offiziellen| Bder KämpfeN ] de[s]|r| K[a]|ä|mpfe[s] BAkkord.N ] Akkord[,]|.| [-- schwach und doch durchdringend.] Bes f war,N ] [seine Augen verbunden waren, es war] |es f war,| BdirrerN ] d[ü]|i|rrer B N] [und ihm den Bauch zerriss] B B

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ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 13

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

die Herren davonliefen. Auch der verzweifelte blinde Klepper suchte zu fliehen, aber der Stier zerriss ihm den Bauch, womit der Stier in der Gunst der Zuschauer beträchtlich zu steigen schien, denn sie taten sehr begeistert. Endlich liess er von dem Klepper ab, worauf einige Herren dem Sterbenden Sand in die Bauchhöhle schaufelten, damit sein Blut die Arena nicht noch mehr beschmutze. Dritter Akkord. Drei Herren betraten die Arena und jeder hatte eine kurze Lanze in jeder Hand, die oben mit bunten Rändern und unten mit Widerhacken verziert waren. Die Herren stachen sie dem Stier in den Nacken, je zwei auf einmal und 얍 das musste dem Stier grauenhaft weh tun, denn er ging jedesmal trotz seiner Schwerfälligkeit mit allen vieren in die Luft, wand und krümmte sich, aber er konnte die Lanzen nicht abschütteln, wegen ihrer überlegt konstruierten Widerhacken . Seine grotesken Bewegungen riefen wahre Lachsalven hervor. Grosser Applaus. Vierter Akkord. Jetzt stand plötzlich ein Herr in der Arena und zwar ganz allein. Das war der oberste Stierkämpfer, der Matador. Er hatte ein grellrotes Tuch und darunter versteckt ein Schwert, mit dem er dem Stier den Todesstoss versetzen musste, er war also endlich der Tod persönlich. Dieser Tod hatte sehr selbstbewusste Bewegungen, denn er war ein Liebling des Publikums. Sicher näherte er sich seinem Stier, aber das Tier griff ihn nicht an, es atmete schwer, denn es war halt schon sehr geschwächt durch den starken Blutverlust ihm bange. Der und all die Qual. Jetzt sah es den Tod sich nähern, jetzt wurd Matador hielt knapp vor ihm und schlug ihm mit seinem Tuch scharf über die Augen -- aber das Tier liess den Matador stehen und langsam wankte es wieder seinem Zwinger zu, doch das Publikum pfiff und verhöhnte es, weil es mit dem Tod nicht kämpfen wollte -- mit einer eleganten Bewegung entblösste der Matador sein Schwert. Das verstummte erwartungsvoll, so gespannt war das Publikum. Und in dieser Stille hörte man jemanden weinen, traurig und arm. Das war der Stier. Aber der Tod näherte sich ihm unerbittlich -- da riss sich das Tier nochmal zusammen und rannte in das Schwert. Aus seinem Maule brach das Blut hervor, es wankte und brach zusammen mit einem furchtbar vorwurfsvollen Blick, es lag eine seltene Grösse in seinem Sterben. B

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blinde KlepperN ] ]

2 3 7 7 11 18 18 18 19 20 20 21 22 23 24

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25 28 28–29

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zerriss f Bauch,N ] schien, f begeistert.N ] BWiderhackenN ] BWiderhackenN ] BWiderhackenN ] Bschwer, f esN ] BhaltN ] BdenN ] B N] BMatadorN ] BihmN ] Bden MatadorN ] BdochN ] BMatadorN ] BSchwert. f Publikum.N ] B

] vorwurfsvollenN ] Bes f Sterben.N ] B

\blinde/ Klep[{per}]|per| [trat mit seinen Hufen in die eigenen Gedärme, gab aber keinen Laut von sich, da ihm auch das Maul zugebunden war --] [überrannte ihn abermals,] |zerriss f Bauch,| schien[.]|,| \denn f begeistert./ W[ie]|i|derhacken gemeint ist: Widerhaken gemeint ist: Widerhaken schwer\,/ [und] |denn es| \halt/ [seinen] |den| [es] [Tod] |Matador| [ihm] |ihm| [den Tod] [|ihn|] |den Matador| [es bat um sein Leben.] [D]|d|och [Tod] |Matador| Schwert\./ [und nun wurd es tatsächlich totenstill] |Das verstummte [plötzlich] erwartungsvoll| [.]|,| \so gespannt war[en] d[ie]|as| Publikum./ [plötzlich] korrigiert aus: vorwursvollem \es1/ eine3 seltene4 Grösse5 lag2 in6 seinem7 Sterben.8

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ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 14

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Nun geriet das Publikum ganz in Ekstase, hunderte Strohhüte flogen dem triumphierenden Tod zu. Schmitz war empört. „Das ist ja der reinste Lust-얍 mord!“ entrüstete er sich. „Diese Spanier begeilen sich ja an dem Todeskampfe eines edlen nützlichen Tieres! Höchste Zeit, dass ich meinen Artikel gegen die Vivisektion schreib! Recht geschiehts uns, dass wir den Weltkrieg gehabt haben, was sind wir doch für Bestien! Na das ist ja widerlich, da sollt aber der Völkerbund einschreiten!“ Aber auf Kobler wirkte der Stierkampf wieder ganz anders. „So ein Torero ist ein sehr angesehener Mann und ein rentabler Beruf“, dachte er. „Es ist zwar natürlich eine Schweinerei, aber er wird ja sogar vom König empfangen und alle Weiber laufen ihm nach!“ Und auf Rigmor wirkte der Stierkampf wieder anders: sie hatte eine Angst, dass einem der Herren Stierkämpfer was zustossen könnte -- sie konnte kaum hinsehen, als wäre sie auch ein armes verfolgtes Tier, immer öfter sah sie infolgedessen den Kobler an, um nicht hinabsehen zu müssen, und kam dabei auf ganz andere Gedanken. „Möchtest Du, dass ich Torero wär?“ fragte er. „Nein!“ rief sie ängstlich, aber dann lächelte sie plötzlich graziös und schmiegte sich noch mehr an ihn, denn es fiel ihr was Ungehöriges ein. B N B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 35

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 36 B

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Am nächsten Morgen sass Schmitz bereits um sieben Uhr beim Morgencafè und während er frühstückte schrieb er einen Artikel gegen die Vivisektion und einen andern Artikel für Paneuropa -- es sah aber aus, als täte er an was ganz anderes denken, während er schrieb, so gross war seine Routine. Als Kobler ihm „Guten Morgen!“ wünschte, hatte er den zweiten Artikel noch nicht ganz beendet. „Ich arbeit gerad an der Völkerverständigung!“ begrüsste ihn Schmitz. „Ich bin gleich fertig damit!“ „Lassen Sie sich nur ja nicht aufhalten“, sagte Kobler und setzte sich. Plötzlich sagte er so nebenbei: „Wenns nur nach der Vernunft ging, dann könnt man sich ja leicht verständigen, aber es spielen da noch einige Gefühlsmomente eine Rolle, und zwar eine entscheidende Rolle!“ Schmitz sah ihn überrascht an. (Wo hat der das her? dachte er. Ich hab ihn anscheinend unterschätzt.) Und laut fügte er hinzu: „Natürlich! Wir Verstandesmenschen sind bereits alle für die VerB

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XXV.

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gestrichen: hunderte Strohhüte flogen dem triumphierenden Tod zu. Schmitz

war empört. „Das ist ja der reinste Lustmord!“ 2 2 10 12 12 12–13 18 20 21 21 28 32 32 32 32 32

mord!“N ] B N] B N] B N] BTier, immerN ] BinfolgedessenN ] BXXV.N BMorgencafèN ] BeinenN ] BgegenN ] BsagteN ] B(WoN ] BderN ] Bher?N ] BIchN ] Bunterschätzt.)N ] B

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eingefügt

[Schmitz war empört. „Das ist ja der reinste Lustmord!“] [nervöse] [schmiegte sich an Kobler,] Tier[.]|,| [I]|i|mmer [\infolgedessen/] |infolgedessen| \XXV./ Morgencaf[e]|è| [s]einen [über] |gegen| [meinte] |sagte| [„]|(|Wo[her] \d/er \her/?[“] [„]Ich unterschätzt.[“]|) |

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Fragmentarische Fassung

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

ständigung, jetzt wird die Agitation in die grosse Masse der Gefühlsmenschen hineingetragen -- das sind jene, die den historischen Prozess weder analysieren noch kapieren können, weil sie halt nicht denken können. Auf diese kommts an! Da habens natürlich recht, lieber Herr!“ „Trotzdem!“ antwortete Kobler. „Wieso?“ fragte Schmitz höchst interessiert. „Wenn ich jetzt an Polen denk, speziell an den polnischen Korridor“, meinte Kobler düster, „so kann ich halt kein Friedensgefühl aufbringen, da streikt das Herz, obwohl ich mit dem Verstand absolut nichts gegen Paneuropa hätt. So aber jetzt reden wir von was Interessanterem!“ -- und er teilte Schmitz mit, dass er die soeben verflossene Nacht mit Rigmor verbracht hätte. „Sie können mir unberufen gratulieren!“ sagte er und sah recht boshaft aus. „Ich hab halt die richtige Taktik gehabt! Sie ist sehr temperamentvoll!“ „Also das hab ich bis zu mir hinübergehört“, winkte Schmitz ab. „Aber über mir waren welche, die waren anscheinend noch temperamentvoller, weil mir der ganze Mörtel vom Plafond ins Gefriss gefallen ist. Der Dolmetscher sagt mir gerad, das sei ein Herr von Stingl und eine italienische Komtess. Aber auf das Körperliche allein kommts ja bekanntlich nicht an, hat sie sich denn überhaupt in Sie ernstlich verliebt? Ich mein mit der Seele?“ „Ich bin meiner Sache sicher!“ triumphierte Kobler. „Herr Alfons Kobler“, sagte Schmitz und betonte feierlich jede Silbe, „glaubens 얍 mir, das Weib ist halt doch noch eine Sphinx, trotz der Psychoanalyse!“ Und dann fügte er rasch hinzu: „Jetzt müssens mich aber entschuldigen, ich hab nur noch rasch was fürs Feuilleton zu tun!“ Er schrieb: Die kleine Rigmor läuft mir nach Eine humoristische Schnurre von unserem Sonderkorrespondenten R. Schmitz (Barcelona) Motto: Und grüss mich nicht unter den Linden! B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 37

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XXVI.

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; Der Sonderkorrespondent schrieb gerade: „nur Interesses halber folgte ich meiner rassigen Partnerin, denn ich bin mit Leib BundN Seele Literat“ -- da betrat der Dolmetscher 35 rasch das Lokal und bat Kobler, er möge sofort ins Konversationszimmer kommen, denn dort würde die Senorita auf ihn warten. „Warum denn dort, warum nicht hier?“ fragte Kobler und war sehr überrascht. „Woher soll ich das wissen?“ meinte der Dolmetscher. „Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Senorita sehr nervös ist.“ „Jetzt kommt die Sphinx“, dachte Schmitz, und Kobler tat ihm plötzlich leid, trotz der geweissagten Sphinx. 40 Im Konversationszimmer ging Rigmor auf und ab, sie war tatsächlich sehr nervös und ihr Rock hatte eine interessante unregelmässige Linie. Als sie Kobler erblickte, 7 16 16 21 22 28 31 34

polnischenN ] PlafondN ] BdasN ] BfeierlichN ] B N] BR.N ] BXXVI.N ] BundN ] B B

p[lo]|ol|nischen Plafon\d/ korrigiert aus: dass [väterlich] [|feierlich|] |feierlich| [immer] [Rudolf] |R.| \XXVI./ korrigiert aus: ubd

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 38; MAT11 MAT7

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

ging sie rasch auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Stirne. „Was soll das?“ dachte Kobler und wurde direkt unsicher. „Wie gehts?“ fragte er sie mechanisch. „Sag, ob du mir verzeihen kannst?“ fragte sie und sah dabei sehr geschmerzt aus. Es wird ihr doch nichts fehlen?“ dachte er misstrauisch und dann fragte er sie: „Was soll ich Dir denn verzeihen, Kind?“ -- aber da fing sie an zu weinen und dies tat sie vor lauter Nervosität. „Ich kann Dir doch alles verzeihen“, tröstete er sie, „das bist Du mir schon wert!“ Sie trocknete ihre Thränen und putzte sich die Nase mit einem derart winzigen 얍 Taschentuche, dass sich Kobler unwillkürlich darüber Gedanken machte. Dann zog sie ihn zu sich hinab und wurde ganz monoton. Es sei gerade vor einer halben Stunde was Unerwartetes passiert, beichtete sie, und dies Unerwartete sei ein Telegramm gewesen, und zwar aus Avignon. Der Absender des Telegramms sei ein Herr und zwar ein gewisser A. Kaufmann aus Milwaukee, ein Kunstmaler und amerikanischer Millionär . Dieser Millionär hätte aber wegen seiner Hemmungen nicht künstlerisch genug malen können und deshalb wäre er nach Zürich gefahren, um seine Libido kurieren zu lassen und er hätte sie mindestens vier Wochen lang kurieren lassen wollen, aber anscheinend sei er nun unerwartet rasch mit seiner Libido in Ordnung gekommen. So würde er nun statt in vierzehn Tagen bereits heute früh unerwartet in Barcelona ankommen und zwar könnte er jeden Moment hier im Hotel eintreffen und das wäre ihr ganz entsetzlich grauenhaft peinlich, denn dieser Amerikaner sei ja ihr offizieller Bräutigam, ein sympathischer Mensch, aber trotzdem hätte sie lieber was mit einem Deutschen. Und dann weinte sie wieder ein bisschen, sie hätte sich jetzt schon so sehr gefreut auf diese vierzehn liebverlebte Tage mit ihm (Kobler), aber sie müsse halt den Mister Kaufmann heiraten, schon wegen ihres Papas, der dringend amerikanisches Kapital benötige, trotz der Grösse seiner Firma, aber Deutschland sei eben ein armes Land, und besonders unter der Sozialversicherung litte ihr Papa unsagbar. 얍 B

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Kobler war ganz weg. Da sah er sich nun, seine Schlacht verlieren und zwar eine Entscheidungsschlacht. Die U. S. A. kamen über das Meer und schlugen ihn, schlugen ihn vernichtend mit ihrer rohen Übermacht, trotz seiner überlegenen Taktik und kongenialen Strategie. „Das ist gar kein Kunststück!“ dachte er wütend, da erschienen U. S. A. persönlich im Konversationszimmer. Das war ein Herr mit noch breiteren Schultern und Kobler lächelte bloss sauer, obwohl er Rigmor gerade grob antworten wollte. „Halloh Rigmor!“ rief der Herr B

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3–4 5 7 13 13–14 14 15 15 17 20 28 33 36

Es f fehlen?“N ] und diesN ] Bwert!“N ] BA.N ] Bamerikanischer MillionärN ] BMillionärN ] BdeshalbN ] BwäreN ] BseiN ] BseiN ] B N] Bwütend,N ] BantwortenN ] B B

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 39

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[Sie] |Es| wird \ihr/ doch [keinen Tripper haben!“] |nichts fehlen?“| korrigiert aus: undvdies wert[.]|!|“ [Arthur] |A.| [steinreicher] [A]|a|merikan[er]|ischer| \Millionär/ [Kunstmaler] |Millionär| [h]|d|eshalb [sei] |wäre| [wäre] |sei| [wäre] |sei| [Kobler war erschlagen. Da sah er sich nun] wütend\,/ [und wollte Rigmor gerade grob antworten,] ant[e]|w|orten

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 40

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

und umarmte sie in seiner albernen amerikanischen Art. „Der Professor sagt, ich bin gesund und kann absolut künstlerisch malen, wir fahren noch heut nach Sevilla und dann nach Athen! Wer ist dieser Mister?“ B

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Rigmor stellte vor. „Ein Jugendfreund aus Deutschland“, log sie. Der Amerikaner fixierte Kobler kameradschaftlich. „Sie sind auch Maler?“ fragte er. „Ich hab nichts mit der Kunst zu tun!“ verwahrte sich Kobler und es lag eine tiefe Verachtung in seiner Stimme. „Was macht Deutschland?“ fragte er Amerikaner. „Es geht uns sehr schlecht“, antwortete Kobler mürrisch, aber der Amerikaner liess nicht locker. „Wie denken Sie über Deutschland?“ fragte er. „Wie denken Sie über Kunst? Wie denken Sie über Liebe? Wie denken Sie über Gott?“ Kobler sagte, heut könne er überhaupt nichts denken, nämlich er hätte fürchterliche Kopfschmerzen. Und als er die Türe hinter sich zumachte, hörte er noch Rigmor sagen: „Er ist ein sympathischer Mensch!“

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; Noch am selben Tag fuhr Kobler wieder nachhaus und zwar ohne Unterbrechung. Er wollte eben nichtsmehr sehen. „Jetzt hab ich fast meine ganzen sechshundert ausge20 geben und für was? Für einen grossen Dreck!“ so lamentierte er. „Jetzt komm ich dann wieder zurück und was erwartet mich dort? Lauter Sorgen!“ Er war schon sehr deprimiert. Schmitz, der ihn väterlich an die Bahn begleitet hatte, versuchte ihn zu trösten: „Mit Amerika kann man halt nicht konkurrieren!“ konstatierte er düster. Und dann setzte er ihm noch rasch auseinander, dass er sich an seiner (Koblers) 25 Stelle eigentlich nicht beklagen würde, denn er (Kobler) hätte ja nun sein ehrlich erworbenes Geld nicht nur für einen grossen Dreck ausgegeben, sondern er wäre ja jetzt auch um eine bedeutsame Erfahrung reicher geworden, und er würde es wahrscheinlich erst später merken, was das für ein tiefes Erlebnis gewesen sei, ein Erlebnis, das ganz dazu angetan wäre, jemanden total umzumodeln. Nämlich er hätte doch 30 soeben den schlagenden Beweis BfürN Amerikas BbrutaleN Vorherrschaft erhalten, am eigenen Leibe hätte er nun diese unheilvolle Hegemonie verspürt. „Und nun“, fuhr er fort und zwinkerte, „nun wird sich vielleicht auch Ihr Gefühl umstellen, nachdem Sie ja mit dem Verstand nichts gegen Paneuropa haben, wie Sies mir heute früh erklärt haben. Grosse Wirkungen haben halt kleine BUrsachenN, und auch 35 die grössten Ideen --“ -- so warb Schmitz um Koblers Seele. Und dann vertraute er ihm, dass er BpersönlichN sich niemals für eine Amerikanerin interessieren könnte. Er wollte ihm auch noch einiges über den Völkerbund sagen, doch da fuhr der Zug ab. „Sie fahren doch über Genf?“ rief er ihm nach. „Also grüssen Sie mir in Genf den Mont Blanc!“ 1 4

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seiner albernenN ] ]

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verwahrte sichN ] Und alsN ] Bsympathischer Mensch!“N ] BXXVII.N ] BfürN ] BbrutaleN ] BUrsachenN ] BpersönlichN ] B

\s/einer [dummen] |albernen| [Rigmor stellte vor. „Ein Jugendfreund aus Deutschland“, log sie. „Was macht Deutschland?“ fragte der Amerikaner. „Was weiss ich“, antwortete Kobler mürrisch, aber der Amerikaner liess nicht locker] [antwortete] |verwahrte sich| \Und/ [A]|a|ls sympat\hischer Mensch!“/ \XXVII./ [über]|für| [unbedingte] |brutale| [U]|U|rsachen \persönlich/

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 41; MAT11 MAT7

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Kobler fuhr über Genf, aber den Mont Blanc konnte er nicht grüssen, denn es war gerade Nacht. Auch hatte er jetzt das Pech, bis zur deutschen Grenze keinen Mitreisenden zu : treffen, der deutsch sprach, also konnte er sich nicht ablenken und musste allein sein. 5 Und dies Alleinseinmüssen plus endloser Fahrt bewirkten es, dass sich die Gestalt Rigmors seltsam auswuchs. Sie nahm direkt weltpolitische Formen an, diese Braut, in deren Papas Firma er nicht einheiraten durfte, weil Papa unbedingt nordamerikanisches Kapital zum dahinvegetieren benötigt -- diese verarmte Europäerin, die sich nach Übersee verkaufen muss wurde allmählich zu einem deprimierenden Sym10 bol. Über Europa fiel der Schatten des Mister A. Kaufmann mit der unordentlichen Libido. Kobler war sehr erbittert. Und als er endlich wieder deutsche Erde betrat, hegte er bereits einen innigen Groll gegen alle europäischen Grenzen. Noch in der deutschen Grenzstation kaufte er sich alle vorhandenen französischen, englischen und italienischen Zeitungen, obwohl er sie nicht lesen konnte -- aber es war halt de15 monstrativ. Er konnte es kaum mehr erwarten, jemand zu treffen, der deutsch verstand. Aber der Zug war ziemlich leer und obendrein ergab sich auch keinerlei Gelegenheit, mit einem der Reisenden in ein politisches Gespräch zu kommen. Erst knapp vor München konnte er endlich einem älteren Herrn seine Gefühle 20 und Gründe für einen unbedingt und möglichst bald zu erfolgenden Zusammenschluss Europas darlegen, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet, nicht zuletzt auch infolge der bolschewistischen Gefahr -- aber der Herr unterbrach ihn spöttisch: „Auch ich war mal Europäer, junger Mann! Aber jetzt --“ und nun brach nationalistischer Schlamm aus seinem Maul hervor par excellence. 25 Nämlich um die Jahrhundertwende hatte dieser Herr eine pikante Französin aus Metz geheiratet, die aber schon knapp vor dem Weltkrieg so bedenklich in die Breite zu gehen begann, dass er anfing, sich vor der romanischen Rasse zu eckeln. Es war keine glückliche Ehe. Er war ein richtiger Haustyrann und sie freute sich heimlich über den Versailler Vertrag. 30 얍 „Soweit ich die Franzosen kenne“, schrie er nun Kobler an, „werden sie niemals das Rheinland räumen! Freiwillig nie, es sei denn wir zwingen sie mit Gewalt! Oder glauben Sie denn, dass das so weitergeht?! Sehen Sie denn nicht, dass wir einem neuen europäischen Weltbrand entgegentaumeln?! Wissen Sie denn nicht, was das heisst: Amanullah und Habibullah?! Denken sie nurmal an Abd el Krim! Und was 35 macht denn dort hinten der christliche General Feng?!“ Er war ganz fanatisiert: „Oh ich kenne die Franzosen!“ brüllte er. „Jeder Franzose und jede Französin gehören vergast! Ich mach auch vor den Weibern nicht halt, ich nicht! Oder glauben Sie gar an Paneuropa?!“ „Ich hab jetzt keine Zeit für Ihre Blödheiten!“ antwortete Kobler und verliess ver40 stimmt das Abteil. Er war sogar direkt gekränkt. Draussen im Gang entdeckte er einen freundlichen Herrn, der stand dort am Fenster. Kobler näherte sich ihm und der Herr schien einem Diskurs nicht abgeneigt zu B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 42; MAT8

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 43

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

sein, denn er fing gleich von selber an und zwar über das schöne Wetter. Aber Kobler liess ihn nicht ausreden, sondern erklärte ihm sofort kategorisch, er sei ein absoluter Paneuropäer, und dies klang fast kriegerisch. Der Herr hörte ihm andächtig zu und dann meinte er, Barcelona sei sehr schön, er : 5 kenne es zwar leider nicht, nämlich er kenne nur jene europäischen Länder, die mit uns Krieg geführt hätten, ausser Grossbritannien und Portugal, also fast ganz Europa. Es sei allerdings höchste Zeit, sagte der Herr, dass sich dieses ganze ; Europa endlich verständige, trotz aller historischen Blödheiten und feindseliger Gefühlsduseleien, die immer wieder die Atmosphäre zwischen den Völkern vergiften wür10 den, wie zum Beispiel zwischen Bayern und Preussen. Zwar wäre das Paneuropa, das heute angestrebt würde, noch keineswegs das richtige, aber es würde doch eine Plattform sein, auf der sich das richtige Paneuropa entwickeln könnte. Bei dem Worte „richtig“ lächelte der Herr ganz besonders sonderbar und dann meinte er, mit diesem Worte stünde es akkurat so, wie mit dem Ausdruck „sozialer 15 Aufstieg“. Nämlich auch diesen Ausdruck wäre man häufig gezwungen zu gebrauchen statt ; „Befreiung des Proletariats“ -- und wieder lächelte der Herr so sonderbar, dass es dem Kobler ganz spanisch zumut wurde. Jetzt kam München. Der Herr hatte sich bereits höflich empfohlen und also konnte es Kobler nicht20 mehr herauskriegen, wer und was dieser Herr eigentlich war. B

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allerdingsN ] ] Bverständige, trotzN ] BhistorischenN ] BGefühlsduseleien, dieN ] Bwürden, wieN ] BwäreN ] BPaneuropa, dasN ] Bwürde, nochN ] Brichtige, aberN ] Bsein, aufN ] BWorte f lächelteN ] BganzN ] Ber, mitN ] Bso, wieN ] B N] B N

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 44; MAT7

\allerdings/ [dass sich dieses ganze] korrigiert aus: verständige,trotz historische\n/ korrigiert aus: Gefühlsduseleien,die korrigiert aus: würden,wie [sei] |wäre| korrigiert aus: [B]|P|aneuropa,das korrigiert aus: würde,noch korrigiert aus: richtige,aber korrigiert aus: sein,auf korrigiert aus: Worte„richtig“lächelte [ganz] [|sehr|] |ganz| korrigiert aus: er,mit korrigiert aus: so,wie [Der Herr hatte sich bereits höf-]

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Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

:

Zweiter Teil: Fräulein Pollinger wird praktisch



I.

Lesetext

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 45; MAT10

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 46

5

Während der Herr Kobler verreist war, ereignete sich in der Schellingstrasse nur das Übliche. Das Leben ging seine mehr oder weniger sauberen Wege, und allen seinen Bekannten stiess nichts Aufregendes zu, allerdings mit einer Ausnahme, aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Diese Ausnahme bildete das Fräulein Anna Pollinger, nämlich sie wurde aus heiterstem Himmel heraus plötzlich arbeitslos und zwar total ohne ihre Schuld. Sie verlor ihre Stelle in der Kraftwagenvermietung infolge der katastrophalen Konjunktur. Diese Firma brach im wahren Sinn des Wortes über Nacht zusammen, von einem Dienstag zu einem Mittwoch. Am Mittwoch mittag standen daher zwounddreissig Arbeitnehmer auf der Strasse und auch der Arbeitgeber persönlich war nun bettelarm, denn teils hatten die räuberischen Zinsen und Wechsel seine Substanz vertilgt und teils hatte er die grössere Hälfte dieser Substanz noch rechtzeitig auf den Namen seiner Frau umgeschrieben. Auch Anna erhielt nun ein weisses Kuvert, sie öffnete es und las:

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Zeugnis Fräulein Anna Pollinger war vom 1. III. 29 bis 27. IX. 29 in der Kraftwagenvermietung „National“ als Büromädchen tätig und bewährte sich selbe als ehrlich, fleissig und pflichtbewusst. Fräulein Pollinger scheidet aus infolge Liquidation der Firma. Auch unsere Firma wurde ein Opfer der deutschen Not. Andernfalls würden wir Fräulein Pollinger nicht gerne ziehen lassen und wünschen ihr alles Gute für ihr ferneres Leben. Kraftwagenvermietung „National“ gez. Lindt.

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II.

:

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Anna wohnte bei ihrer Tante, denn sie hatte keine Eltern mehr. Aber das fiel ihr nur manchmal auf, denn ihren Vater hatte sie eigentlich nie gesehen, weil er ihre Mutter schon sehr bald verlassen hatte. Und mit ihrer Mutter konnte sie sich nie so richtig vertragen, weil halt die Mutter sehr verbittert war über die schlechte Welt. Noch als Anna ganz klein war, verbat ihr es die Mutter immer boshafter, dass sie ihrer Puppe was vorsingt. Die Mutter hatte keine Lieder und war also ein böser Mensch. Sie gönnte keiner Seele was und auch ihrer eigenen Tochter nichts. Knapp nach dem Weltkrieg starb sie an der Kopfgrippe, aber Anna konnte beim besten Willen nicht so richtig traurig sein, obwohl es ein sehr trauriger Herbsttag war. Von da ab wohnte sie bei ihrer Tante in der Schellingstrasse, nicht dort wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort wo sie aufhört. Dort vermietete 12 14–15 15 18

KraftwagenvermietungN ] zwounddreissig ArbeitnehmerN ] BArbeitgeberN ] BFrauN ] B B

Kraftwagenvermietung[,] [sämtliche Angestellte] |zwounddreissig Arbeitnehmer| [Eigentümer] |Arbeitgeber| [f]|F|rau

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 47; MAT9

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

die Tante im vierten Stock zwei Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres seligen Mannes weiter, und das war kaum grösser als eine Kammer. Darüber stand „Antiquariat“ und in der Auslage gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten. Das eine Zimmer hatte die Tante an einen gewissen Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich unvermietet, denn es war verwanzt. In diesem Zimmer konnte nun Anna vorübergehend schlafen, statt bei der Tante in der Küche. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht, aber man konnte ihm nichts nachweisen, denn er war sehr raffiniert. -Als nun Anna mit ihrem Zeugnis nachhause kam, schimpfte die Tante ganz fürchterlich über diese ganze Nachkriegszeit und wollte Anna hinausschmeissen. Aber das war natürlich nicht ernst zu nehmen, denn die Tante hatte ein gutes Herz und ihr ewiges Geschimpfe war nur eine Schwäche von ihr. 얍 Anna war ja schon oft arbeitslos, und das letztemal gleich acht Wochen lang. Das war im vorigen Winter und damals sagte der Herr Kastner zur Tante: „Ich höre, dass Ihre liebe Nichte arbeitslos ist. Ich habe beste Beziehungen zum Film und es hängt also lediglich von Ihrer lieben arbeitslosen Nichte ab.“ Das mit dem Film war natürlich gelogen, denn der Herr Kastner hatte ganz andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel ist er im August mit ihr ins Kino gegangen. Man hat den Film „Madame wünscht keine Kinder“ gegegeben und der Kastner hat sie dabei immer abgreifen wollen, aber sie hat sich sehr gewehrt, weil es ihr vor seinen Stiftzähnen gegraust hat. Der Kastner ist nacher sehr empört gewesen und hat sie gefragt, wie sie wohl darüber denke, dass man ein Fräulein in einen Grossfilm einladet und dann „nicht mal das?!“ -- aber acht Tage später hat er sie schon wieder freundlich gegrüsst, denn er hatte inzwischen eine Kassierin aus Augsburg gefunden, die ihm zu Willen gewesen ist. B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 48

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III.

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An diesem Mittwoch abend ging Anna sehr bald zu Bett, und schon während sie sich auszog, hörte sie, dass nebenan der Kastner ausnahmsweise zuhause geblieben ist. Er sprach mit sich selbst, als würde er etwas auswendig lernen, aber sie konnte kein Wort verstehen. Plötzlich verliess der Kastner sein Zimmer und hielt vor ihrer Tür. Dann trat er ein, ohne anzuklopfen.

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und f warN ] ]

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\und f war/ [hatte sich dann bei der Tante beschwert und ihr mitgeteilt, dass er die Miete solange schuldig bleibt, bis nicht die letzte Wanze vertilgt wäre.] Absatz vom Autor getilgt

8 8 11 12 19 19

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] BnichtsN ] BNachkriegszeitN ] BernstN ] BKopf.N ] BZum f gegangen. N ]

19–20 27

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Man f FilmN ] ]

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[es] Absatz vom Autor getilgt nicht\s/ Nachkriegszeit[,] erns\t/ Kop[f.]|f.| [[Es [ist] [|w|] ja noch gar nicht lang her, da war] |Erst im August ist| sie mit [dem Kastner] |ihm| i[m]|ns| Kino \gegangen/.] x |Zum f gegangen.| [Man hat den Film]|Man f Film| [Zum f gegangen.]f x

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 49

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Er stellte sich vor sie hin, wie vor eine Auslage. Er hatte seine moderne Hose an, war in Hemdsärmeln und roch nach süsslicher Rasierseife. Sie hatte sich im Bette emporgesetzt und konnte sich diesen Besuch nicht erklären, denn der Kastner schnitt ein seltsam offizielles Gesicht, als wollte er gar nichts 5 von ihr. „Gnädiges Fräulein!“ verbeugte er sich ironisch. „Honny soit qui mal y pense!“ Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigentlich wollte er Journalist werden, ; jedoch damals war seine Mutter anderer Meinung. Sie hatte nämlich viel mit den Zähnen zu tun und konstatierte: „Die Zahntechniker sind die Wohltäter der Mensch10 heit. Ich will, dass mein Sohn ein Wohltäter wird!“ Er hing sehr an seiner Mutter und wurde also Zahntechniker, aber leider kein Wohltäter, denn er hatte bloss PhanEs war sein Glück, dass kurz nach seiner Praxiseröffnung tasie statt Präzision. der Krieg ausbrach. Er stellte sich freiwillig und wurde Militärzahntechniker. Nach dem Waffenstillstand fragte er sich: „Bin ich ein Wohltäter? Nein, ich bin kein 15 Wohltäter. Ich bin die typische ; Bohemenatur und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und nicht in die Morgue.“ Er wollte wieder Journalist werden, aber er landete beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: „Der betlehemitische Kindermord oder Ehre sei Gott in der Höhe.“ Der 20 Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein betlehemi-:tisches Kind verkörperte, nackt photographierte. -Nun schritt er vor Annas Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte daher los, wie ein schlechtes Feuilleton. 25 Zuerst setzte er ihr auseinander, dass es unnahbare Frauen nur in den Märchen und Sagen oder in Irrenhäusern geben würde, nämlich er hätte sich mit all diesen Problemen beschäftigt, „er spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung.“ So hätte er es auch sofort erkannt, dass sie (Anna) keine kalte Schönheit sei, sondern ein tiefes stilles Wasser -30 „Was geht denn das Sie an?“ unterbrach ihn Anna auffallend sachlich, denn sie gönnte es ihm, dass er sich wiedermal über sie zu ärgern schien. Sie gähnte sogar. „Mich persönlich geht das natürlich nichts an“, antwortete der Kastner und tat plötzlich sehr schlicht. „Ich dachte ja nur an Ihre Zukunft, Fräulein Pollinger!“ B

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sieN ] ] BerN ] BeigentlichN ] BnämlichN ] B„DieN ] Bwird!“ ErN ] B N] BEsN ] BdassN ] Bsich: „BinN ] BWohltäter. IchN ] BMorgue.“ ErN ] B N] BFilm: „DerN ] BbetlehemitischeN ] BHöhe.“ DerN ] BbetlehemitischesN ] B

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[Anna] |sie| [sagte der Kastner und] \er/ [ursprünglich] |eigentlich| näml\i/ch korrigiert aus: „ Die korrigiert aus: wird!“Er [Seine Gebisse waren lauter gute Witze.] E[r]|s| \d/ass korrigiert aus: sich:„Bin korrigiert aus: Wohltäter.Ich korrigiert aus: Morgue.“Er [homosexuellen] korrigiert aus: Film:„ Der gemeint ist: bethlehemitische korrigiert aus: Höhe.“Der gemeint ist: bethlehemitisches

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 50; MAT10

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Zukunft! Da stand es nun wiedermal vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Das war ein altes verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur dass es noch älter war, noch schmutziger und verschlagener -- „Ich stricke, ich stricke“, nickte die Zukunft, „ich stricke Strümpfe für Anna!“ Und Anna schrie: „So lassens mich doch! Was wollens denn von mir?!“ „Ich persönlich will nichts von Ihnen!“ verwahrte sich der Kastner feierlich, und die Zukunft sah sie lauernd an. – Anna schwieg und der Kastner lächelte zufrieden, denn plötzlich ist es ihm aufgefallen, dass er auch Talent zum Tierbändiger hätte. Und er fixierte Anna, als wäre sie zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancie-얍ren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich dabei, dass er sich verbeugen wollte. „Was war denn das?!“ fuhr er sich entsetzt an, floh aus dem Zirkus, der plötzlich brannte und knarrte los: „Zur Sache, Fräulein Pollinger! Was Sie nämlich in erotischer Hinsicht treiben, das lässt sich nichtmehr mitansehen! Nun sind Sie wiedermal arbeitslos, trotzdem hängen Sie sich ständig an Elemente wie an diesen famosen Herrn Kobler --“ „Ich häng mich an gar niemand!“ protestierte sie heftig. „So war das ja nicht gemeint!“ beruhigte er sie. „Mir müssen Sie es nicht erzählen, dass Sie nicht lieben können, Fräulein! Sie können sich zwar mit jedem Kobler einlassen, aber wie Sie mal fühlen, dass Sie sich so richtig avec Seele verlieben könnten, kneifen Sie sofort, und dies soll natürlich kein Vorwurf sein, denn infolge Ihrer wirtschaftlichen Lage trachten Sie natürlich danach, jeder überflüssigen Komplikation aus dem Wege zu gehen -- aber was ich Ihnen vorwerfe, ist einfach dies: dass Sie sich vergeuden! Heutzutag muss man auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Ich verlange zwar keineswegs, dass Sie sich prostituieren, aber ich bitte Sie um Ihretwillen, praktischer zu werden!“ „Praktisch?“ meinte Anna und es war ihr, als hätte sie dies Wort noch niemals gehört. Sie sollte wirklich mehr an sich denken, dachte sie vorsichtig weiter und hatte dabei das Gefühl, als wäre sie blind und müsste sich vorwärtstasten. Sie denke zwar eigentlich häufig an sich, fuhr sie fort, aber wahrscheinlich zu langsam. Wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so hätte er eben diesmal recht. Sie müsse sich das alles genau überlegen -- was „alles“? Seit es Götter und Menschen -- kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit 얍 gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ „Diskretion Ehrensache!“ hörte sie den Kastner sagen, und als sie ihn wieder erkannte, schnitt er ein überaus ehrliches Gesicht. B

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Absatz vom Autor getilgt

TanteN ] ] BwollensN ] B N] Bverwahrte f derN ] Ban. –N ] BprotestierteN ] BkneifenN ] Bvorwerfe,N ] BzwarN ] BsollteN ] BvorsichtigN ] BmüssteN ] B N]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 51

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woll\e/ns Absatz vom Autor getilgt

[antwortete der] [|hörte sie den|] |verwahrte f der| an. \–/ pro[s]testierte korrigiert aus: kneiffen vorwerfe\,/ \zwar/ [müsste] |sollte| [langsam] |vorsichtig| [würde] |müsste| [vorsichtig]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 52

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Das ist nämlich so: als die Herrschenden erkannt hatten, dass es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten , bedeutend belustigender morden und plündern liess -- seit also dieser Gekreuzigte gepredigt hatte, dass auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit ist jenes „Diskretion Ehrensache!“ ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. Wer wagt es also die heute Herrschenden anzuklagen, dass sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhabenen Selbstbetruges entblössen, indem sie schlicht die Frage stellen: „Na was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihnen einen Vorwurf machen , weil sie dies im Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tun? Nein, das kann man nicht. Sie sind nämlich überaus ehrlich. „Wieso?“ fragte Anna und sah den Kastner ratlos an. Doch dieser machte eine 얍 Kunstpause. Dann sagte er: „Ich biete Ihnen eine Gelegenheit, um in bessere Kreise zu gelangen. Kennen Sie den Radierer Achner? Ich bin mit ihm sehr intim, er ist künstlerisch hochtalentiert und sucht zur Zeit ein passendes Modell -- Sie könnten sich spielend zehn Mark verdienen und hätten prächtige Entfaltungsmöglichkeiten! In seinem Atelier gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, lauter Leute mit eigenem Auto. Das sind Menschen! Liebes Fräulein Pollinger, es tut mir nämlich tatsächlich weh, dass Sie Ihre Naturgeschenke derart unpraktisch verschleudern!“ „Es tut mir weh“, hörte das liebe Fräulein Pollinger und lächelte. „So täuscht man sich halt“, meinte sie leise und der Kastner tat ihr plötzlich leid und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die grossen und die kleinen. „Ich denke jetzt radikal selbstlos“, nickte ihr der Kastner zu und benahm sich direkt ergriffen. Aber natürlich war das radikal anders. Als er nämlich erfahren hatte, dass Anna arbeitslos geworden war, ist er sofort zu jenem Radierer geeilt und hat ihm ein preiswertes Modell angeboten -- mittelgross schlank braunblond und es würde schon auch einen Spass verstehen. Der Radierer hatte zufällig gerade ein solches Modell gesucht und ist infolgedessen sofort einverstanden gewesen. „Also“, hatte der Kastner gesagt, „wenn Du Dich dann ausradiert hast, werde ich erscheinen, Cognak bringe ich mit, Grammophon hast Du.“ Anna schwieg. „Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen“, fiel es ihr plötzlich ein, „und den könne man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht.“ B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 53

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IV. Als sie der Kastner verliess, kam sie sich noch immer nicht klarer vor. Sie hatte ihm zwar das Ehrenwort gegeben, dass sie sich morgen zum Achner begeben wird, denn 1–2 2 4 9 16 24 24 27 35

dass f GekreuzigtenN ] ] BZeitN ] BmachenN ] BprächtigeN ] BdenkeN ] B N] B N] B N] B

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dass1 es2 sich3 mit5 dem6 Idealismus7 eines8 gewissen9 Gekreuzigten10 maskiert4 [erhebender und] Zeit[,] \machen/ [mächtige] |prächtige| [bin] |denke| [tatsächlich] [sehr] [halt]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 54

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

zehn Mark sind allerhand Schnee. Und das Modellstehen wäre doch etwas absolut ordentliches, das wäre ja nur ein normaler Beruf. Aber das „praktisch werden“ -- das war ein folgenschwerer Rat, das wollte noch genau überlegt sein. Denn rasch kommt ein armes Mädchen auf die schiefe Bahn und von dort kommt keine mehr zurück. Des Kastners verführerische Prophezeiungen liessen ihr keine Ruh, aber dann tauchten auch andere Töne auf und das waren finstere Akkorde -- sie musste sich direkt anklammern, um mit dem logischen Denken beginnen zu können. Erst allmählich nahmen ihre Gedanken festere Konturen an und wurden auch immer stiller und verhielten sich abwartend. Jetzt stand jemand hinter ihr, aber sie sah sich nicht um, denn sie fühlte es deutlich, dass das ein unheimlicher Herr sein muss. Und plötzlich war das Zimmer voll von lauter Herren, die hatten alle ähnliche Bewegungen und kamen ihr sehr bekannt vor. „Wie war das doch?“ hörte sie den unheimlichen Herrn fragen und seine Stimme 얍 klang grausam weich. „Das war so“, meldete sich einer der Herren, „das war auf dem Oktoberfest und zwar vor der Bude des Löwenmädchens Lionella. Anna dachte gerade, ob diese Abnormität auch noch Jungfrau wäre, da lernte sie ihren Akademiker kennen.“ „Wo steckt denn dieser Akademiker?“ erkundigte sich der Unheimliche. „Der Herr Doktor ist bereits tot“, antwortete ein anderer Herr und nickte Anna freundlich zu. „Der Herr Doktor“, fuhr er fort, „sitzt in der Hölle, denn er hatte einen schlechten Charakter, nämlich er hatte der Anna ihre Unschuld geraubt und das war keine besondere Heldentat, denn sie hatte einen Bierrausch.“ Aber da schnellte ein dritter Herr von seinem Stuhl empor. „Lügen Sie doch nicht so infam, Fräulein Pollinger!“ schrie er sie an. „Sie tun ja jetzt direkt, als hätten Sie nicht ständig darnach getrachtet, endlich das zu verlieren! So antworten Sie doch!“ „Das ist schon wahr“, antwortete Anna schüchtern, „aber ich habs mir halt anders vorgestellt.“ „Egal!“ schnarrte der Dritte und wandte sich an den Unheimlichen: „Man muss es dem lieben Gott sofort mitteilen, dass der Herr Doktor unschuldig in der Hölle sitzt!“ Jetzt unterbrach ihn jedoch ein vierter Herr und das war ein melancholischer Cafèhausmusiker . „Das Fräulein Pollinger ist ein braver Mensch“, sagte er. „Bitte fragen Sie nur den Herrn Brunner!“ „Hier!“ rief der Brunner. Er sass auf dem Sofa und beugte sich über das Tischchen. „Liebe Anna“, sagte er ernst, „ich weiss, dass ich Deine einzige grosse Liebe war, aber ich hab Dich ja nur aus Mitleid genommen, denn Du bist ja gar nicht mein Typ.“ Dann erhob er sich langsam, er war ein riesiges Mannsbild. „Anna“, fuhr er fort und das klang fast zärtlich, „wenn man an nichts anderes zu denken hat, dann ist so eine grosse Liebe recht abwechslungsreich. Aber ich bin Elektrotechniker und die Welt ist voll Neid.“ „Es dreht sich halt alles um das Geld“, 얍 lächelte Anna und es tat ihr alles weh. „Richtig!“ murmelten die Herren im Chor, und einige sahen sie vorwurfsvoll an. „Ich hab noch nie Geld dafür genommen!“ wehrte sie sich. „Wo ist denn der Kobler?“ fragte der Dritte ironisch. „Ach der Kobler!“ schrie Anna und geriet plötzlich ausser sich. „Der sitzt ja jetzt in Barcelona, während ich mit Euch reB

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Lesetext

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 55

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wäreN ] warenN ] BAkkordeN ] BJetztN ] BCafèhausmusikerN ] BmurmeltenN ] Bsie sich.N ] B B

wär\e/ war\en/ [eine] [Orgel] |Akkorde| [Hier] |Jetzt| Caf[e]|è|hausmusiker [riefen] |murmelten| \sie/ sich\./[Anna.]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 56

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

den muss, er hätt mir leicht etwas geben können!“ „Na, endlich!“ rief ein Herr aus der Ecke und trat rasch vor. Er hatte einen Frack an. „Du hast jetzt endlich praktisch zu werden, Fräulein!“ sagte er. „Unten steht meine Limousine! Komm mit! Komm mit!“ B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 57

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Der Radierer Achner hatte sein Atelier schräg vis-a-vis. Er war ein komplizierter Charakter und das, was man im bürgerlichen Sinne als ein Original bezeichnet. Als er Anna die Tür öffnete, hatte er einen Pullover an und Segelschuhe. Die Sonne brannte durch die hohe Glasscheibe und es roch nach englischen Zigaretten. Auf dem Herdchen lagen zwei verbogene Löffel, ein schmutziger Rasierapparat und die Briefe Vinzent van Goghs in Halbleinen. Im Bette lag ein Grammophon und auf einer Kiste, die mysteriös bemalt war, thronte Buddha. Das sei sein Hausaltar, meinte der Radierer. Sein Gott sei nämlich nicht gekreuzigt worden, sondern hätte nur ständig seinen Nabel betrachtet, er selbst sei nämlich Buddhist. Auch er würde regelmässig meditieren, zur vorgeschriebenen Zeit die vorschriftsmässigen Gebete und Gebärden verrichten und wenn er seiner Eingebung folgen dürfte, würde er die Madonna mit sechs Armen, hundertzwanzig Zehen, achtzehn Brüsten und sechs Augen malen. Er verachte nämlich die Spiessbürger, weil sie nichts für die wahre Kunst übrig hätten. Aber manchmal träumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten grossen Augen und fettigem Haar. Es war alles so schön zuhaus gewesen, es ist gut gekocht und gern gegessen worden und heute schien es ihm, als hätten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und den Weihnachtsmann. Und manchmal musste er denken, ob er nicht auch lieber ein Spiessbürger geworden wäre mit 얍 einem Kind und einer rundlichen Frau. Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen, besonders wenn er allein im Atelier sass. Dann sprach er laut mit sich selbst, nur um nichts denken zu müssen. Oder er liess das Grammophon singen, rezitierte Rainer Maria Rilke und manchmal schrieb er sogar sich selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Überschrift: „Raum für Mitteilungen falls nicht zuhause.“ Er hasste die Stille. Etwas in seinem Wesen erinnerte an seinen verstorbenen Onkel Eugen Meinzinger. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und sass oft stundenlang auf Kinderspielplätzen. Er starb bereits 1908 nach einem fürchterlichen Todeskampfe. Zehn Stunden lang röchelte er, redete wirres Zeug und brüllte immer wieder los: Ich kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, „Lüge! Lüge! ; ich hab kein Mizzilein in den Kanal gestossen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 58

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hast f endlichN ] zuN ] BPulloverN ] BVinzentN ] BFrau.N ] BMeizinger.N ] B N] B N] BIchN ] Bgestossen, MizzileinN ] B B

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[musst halt] |hast f endlich| \zu/ korrigiert aus: Pullower gemeint ist: Vincent Frau\./ [mit guten grossen Augen und fettigem Haar.] Meinzinger\./ [in Graz.] [daher] Absatz vom Autor getilgt korrigiert aus: Jch korrigiert aus: gestossen,Mizzilein

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MAT2

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

allein! Allein! Ich hab ja nur an den Waedelchen getaetschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!“ Und dann schlug er wild um sich und heulte: „Auf dem Divan sitzt der Satan! Auf dem Divan sitzt noch ein Satan!“ Dann wimmerte er, eine Strassenbahn ueberfahre ihn mit Raedern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: „Es ist strengstens verboten, mit dem Wagenfuehrer zu sprechen!“ B

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VI.

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 59; MAT10

Und Anna betrachtete Buddhas Nabel und dachte, das wäre doch bloss ein Schmeerbauch . Dann trat sie hinter die spanische Wand. „Ziehen Sie sich nur ruhig aus, in Schweden badet alles ohne Trikot“, ermutigte sie der Buddhist, jedoch sie fand es höchst überflüssig, dass er sich verpflichtet fühlte, ihr durch derartige Bemerkungen das Entkleiden zu erleichtern, denn sie hatte schon seit vorigem Frühjahr nichts da15 gegen, dass man sie ansah. Der Kastner hatte ihr mal eine Broschüre über den Geist der Antike aufgenötigt, und da stand drinnen, dass das Schamgefühl nur eine schamlose Erfindung des Christentums wäre. Der Buddhist ging auf und ab. „Wir alle opfern auf dem Altare der Kunst“, meinte er so nebenbei und das hatte zur Folge, dass sich Anna wiedermal über diese ganze 20 Kunst ärgerte. Denn zum Beispiel: wie gut haben es doch die Bilder in den Museen! Sie wohnen vornehm, frieren nicht, müssen weder essen noch arbeiten, hängen nur an der Wand und werden bestaunt, als hätten sie Gottweisswas geleistet! „Ich freu mich nur, dass Sie kein Berufsmodell sind !“ vernahm sie wieder des Buddhisten Stimme . „Ich hasse nämlich das Schema, ich bin krassester Individua25 list, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehöre zu jener ‚unsichtbaren Loge‘ wahrer Geister, die sich über ihre Zeit erhoben haben und über die gestern in den „Neuesten“ ein fabelhaftes Feuilleton stand!“ So verdammte er den Kollektivismus, während Anna sich auszog. Aber am meisten aergerte sie sich ueber die Glypthotek , in der die Leute : 30 alte Steintruemmer beglotzen, so andaechtig, als stuenden sie vor der Auslage eines Delikatessengeschaeftes. B

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korrigiert aus: Jch heulte:[„] |„|Auf [„] |„|Es sprechen![“]|“| gemeint ist: Schmerbauch [vernahm] [|vernahm|] [|{ver}|] |ermutigte| de[s]|r| Buddhist\,/[en Stimme.] [Anna] |jedoch sie| Absatz vom Autor getilgt \sind/ [hörte] |vernahm| [den] |des| \Stimme/ [der] krasseste\r/ [gestern] |gestern| \sie/ [Agnes] [|Anna|] gemeint ist: Glyptothek Glypthotek\,/ [auf dem Koenigsplatze.]

allein!N ] IchN ] Bheulte: „AufN ] B„EsN ] Bsprechen!“N ] BSchmeerbauchN ] BermutigteN ] Bder Buddhist,N ] Bjedoch sieN ] BsindN ] BvernahmN ] BdesN ] BStimmeN ] BkrassesterN ] BgesternN ] BsieN ] B N] BGlypthotekN ] BGlypthotek,N ]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 60; MAT2

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Einmal war sie in der Glypthotek , denn es hat sehr geregnet und sie ging gerade ueber den Koenigsplatz. Drinnen fuehrte einer mit einer Dienstmuetze eine Gruppe von Saal zu Saal und vor einer Figur sagte er, das sei die Goettin der Liebe. Die Goettin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte und sie musste direkt laecheln und einer aus der Gruppe laechelte auch und loeste sich von der Gruppe und naeherte sich ihr. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar und er fragte sie , ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wolle, und sie trafen sich dann auf dem Sendlingertorplatz. Er kaufte zwei Logenplaetze, aber da es ein nasser und kalter Sonntag war, war keine Loge ganz leer und das verstimmte ihn und er sagte, haette er das geahnt, so haette er zweites Parkett gekauft, naemlich er sei sehr kurzsichtig . Und er wurde ganz melancholisch und meinte, wer weiss, wann sie sich wiedersehen würden , er sei naemlich aus Augsburg und muesse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren und eigentlich liebe er das Kino garnicht und die Logenplaetze waeren verrueckt teuer. Hernach begleitete ihn Anna an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, da sie sich trennten, und sagte: „Fraeulein , ich bin verflucht. Ich hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Soehne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau sechsundfuenfzig. Ich war immer Idealist . Fraeulein, Sie werden noch an mich denken. Ich bin Kaufmann. Ich hab Talent zum Bildhauer.“ B

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VII.

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 61; MAT10

Aber das Schicksal wollte es nicht haben, dass sie heute Modell steht, es hatte etwas anderes mit ihr vor. Nämlich unerwartet bekam der Buddhist Besuch und der gehörte zu jenen besseren Kreisen, auf die sie der Kastner mit den Worten aufmerksam gemacht hatte: „Das sind Möglichkeiten! Ich verlange zwar keineswegs, dass Du Dich prostituierst!“ Sie war erst halb ausgezogen hinter ihrer spanischen Wand , als ein junger Herr elastisch das Atelier betrat. Er hiess Harry Priegler und war ein durchtrainierter Sportsmann. B

1 4 6 7

7 7 7–8 8–9 10–11 12 14 16 16 18 18 19 19 19 21 28 28

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GlypthotekN ] sieN ] Bihr.N ] B N]

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gemeint ist: Glyptothek

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[Agnes] |sie| [Agnes vor einer Figur ohne Feigenblatt.] |ihr.| [vor dem Kriege haetten auf Befehl des Zentrums die Saaldiener aus Papier Feigenblaetter schneiden und diese auf die unsterblichen Kunstwerke haengen muessen und das waere wider die Kunst gewesen.Und] [Agnes] |sie| wolle\,/ [Agnes] |sie| traf\en/ sich [mit ihm] |dann| [es Sonntag war und] |ein| nass\er/ und kalt[,]|er Sonntag war, gekauft,1 [denn dort sehe man besser,] er3 sei4 naemlich2 sehr5 kurzsichtig6 w[e]|ü|rden [Agnes][|Anna|] [|Anna|] begleitete2 ihn3 [h]|H|ernach1 \Anna4/ korrigiert aus: sagte:„ Fraeulein korrigiert aus: Jch korrigiert aus: Jch korrigiert aus: Jdealist korrigiert aus: Jch korrigiert aus: Jch Bildhauer. [\–/] |“| \VII. / [erst] [|noch|] |erst| [angezogen] |ausgezogen| \hinter [der sp] |ihrer spanischen Wand|/

sieN ] wolle,N ] Bsie f dannN ] Bein f war,N ] Bgekauft, f kurzsichtigN ] BwürdenN ] BHernach f AnnaN ] Bsagte: „FraeuleinN ] BIchN ] BIchN ] BIdealistN ] BIchN ] BIchN ] BBildhauer.“N ] BVII.N ] BerstN ] Bausgezogen f WandN ] B B

555

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewussten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu haben, konnte er seine gesunden Muskeln Nerven und Eingeweide derart rück5 sichtslos pflegen, dass er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eishokeysportes galt. Und er enttäuschte die Hoffenden nicht. Allgemein beliebt, wurde er gar bald der berühmteste linke Stürmer und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, 10 immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, dass er sich ein „Foul“ zuschulden kommen liess, denn infolge seiner raffinierten Technik und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er dies nicht nötig. Für Kunst hatte er kaum was übrig. Zwar liess er sich sein Lexikon prunkvoll ein: binden, denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Auch 15 las er gern Titel und Kapitelüberschriften, aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreisskalendern. Trotzdem fand ihn der Buddhist nicht unsympathisch, denn u.a. liess er ihn oft in seinem Auto fahren und das war ein rassiger Sportwagen. -Jetzt unterhielten sich die beiden Herren sehr leise. Nämlich dem Buddhisten wäre es peinlich gewesen, wenn Anna erfahren hätte, dass er dem Harry vierzig RM 20 schuldet, da er etwas auf sich hielt. „Sicher fährt sie mit!“ meinte er und betonte dies „sicher“ so überzeugt, dass es Anna hören musste, obwohl sie nicht horchte. Nun wurde sie aber neugierig, denn sie liebte das Wort „vielleicht“. Scheinbar interessiert blätterte sie in den Briefen van Goghs und hörte, wie Harry von zwei Herren sprach, die ihm anlässlich seines grandiosen Spieles in der Schweiz persönlich 25 gratulieren wollten. Als sie ihm aber ihre Aufwartung machten, da stahlen sie ihm aus seiner Briefmarkensammlung den „schwarzen Einser“ und den „sächsischen Dreier“. Einer dieser Herren habe sich hernach an eine lebensfreudige Baronin attachiert, doch der Baron sei unerwartet nachhause gekommen und habe nur gesagt: „Pardon!“ Und dann habe er sich in der gleichen Nacht auf dem Grabe seiner Mutter 30 erschossen. Und Harry meinte, er verstünde es nicht, wie man sich aus Liebe erschiessen könnte. Und auch Anna schien dies schleierhaft . Sie dachte, was wäre das doch für eine Überspanntheit, wenn sie sich jetzt auf dem Grabe ihrer Mutter erschiessen würde. Zwar hätte sie mal mit diesem Gedanken gespielt, zur Zeit ihrer ein;

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4 4 6 6 6 7 10 10 10 11 11 12 16 17 24 31 31

MAT3b

konnteN ] MuskelnN ] BEishokeysportesN ] B N] BUnd f nicht.N ] Bbeliebt,N ] B N] Bvor, dassN ] B„Foul“N ] BraffiniertenN ] B N] BdiesN ] B N] Bu.a. f ihnN ] BihmN ] BschienN ] BschleierhaftN ] B B

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[konnte] [|hatte|] |konnte| Muskeln[,] gemeint ist: Eishockeysportes Absatz vom Autor getilgt

[\A/] |Und| [Er]|er| [hatte] |enttäuschte| die Hoffenden nicht\./ [enttäuscht.] beliebt\,/ [seinen Verein oder seine Vaterstadt, Südbayern oder Grossdeutschland,] korrigiert aus: vor,dass korrigiert aus: „ Foul “ ra[-]|f |[f]finierten [der Stockbehandlung] [es] |dies| Absatz vom Autor getilgt

\u.a./ er2 liess1 ihn3 korrigiert aus: ihn [verstand] |schien| [nicht] |schleierhaft|

556

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 62; MAT10

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

zigen grossen Liebe, seinerzeit da sie mit dem Brunner ging -- aber heute kommt ihr das direkt komisch vor. Aus Liebe tun sich ja heut nur noch die Kinder was an! Erst heute begreift sie ihren Brunner ehrlich, der da sagte, dass wenn zwei sich : gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das Geschwätz von der Seele in 5 der Liebe, das sei bloss eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch leidiglich eine Gefühlsroheit, wenn irgend eine Anna ausser seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit Schmerzen und warum sollte er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja 10 keine Familie gründen, dann allerdings müsste er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammenzuleben, da gehöre schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zuviel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. – B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 63; MAT3b

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Als Anna Harry vorgestellt wurde, sagte er: „Angenehm!“ und zum Buddhisten: „Verzeih wenn ich wiedermal störe!“ „Oh bitte!“ unterbrach ihn dieser höflich. „Für heut sind wir soweit! Ziehen Sie sich nur wieder an, Fräulein!“ Anna befürchtete bereits, von Harry nicht aufgefordert zu werden und so sagte sie fast zu früh „ja“ und überraschte sich dabei, dass ihr seine Kravatte gefiel. Harry hatte sie nämlich gefragt: „Fräulein, Sie wollen doch mit mir kommen -- nur an den Starnbergersee --“ Unten stand sein Sportwagen und der war wirklich wunderbar. Und dann gings dahin. B

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VIII.

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 65

Nach einer knappen Stunde stand der Herr Kastner im Atelier, wie er es gestern ausgemacht hatte -- aber da der Buddhist dem Harry Priegler u.a. vierzig RM schuldete, hätte er also unverzeihbar töricht gehandelt, wenn er seinem Gläubiger betreffs irgendeiner Anna nicht entgegengekommen wäre, nur um irgendeinem Kastner sein Versprechen halten zu können. Der Kastner war ein korrekter Kaufmann und übersah auch sofort die Situation. Alles sah er ein und meinte nur: „Du hast wiedermal Dein Ehrenwort gebrochen.“ Aber dies sollte nur eine Feststellung sein, beileibe kein Vorwurf, denn der Kastner konnte grosszügig werden, besonders an manchen Tagen. An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja es war gar nicht so hässlich, es war eigentlich nichts. B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 64; MAT10

3 3 4 7 13 14

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sieN ] ehrlich,N ] B N] BAnnaN ] Bhätten. –N ] B N]

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„VerzeihN ] wiedermalN ]

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[Agnes] |sie| [aus der Schellingstrasse,] [|{so} voll und ganz|] |ehrlich,| [ganze] [ |Anna|] |Anna| hätten. \–/ [Heute würde [Agnes] |Anna| antworten: „Was könnt schon aus : meinem Kinde werden? Es hätt ja nichtmal eine Tante, bei der es hernach wohnen könnt! Wenn [es] der Mensch erreicht, dass er in einem Auto fahren kann, dann hat er schon allerhand erreicht!“ \–/] korrigiert aus: Verzeih wieder\mal/ [mal]

557

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 64; MAT10

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Das einzig Unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung. – „Ich hab extra einen Cognak mitgebracht“, sagte er und lächelte resigniert. „Es wär sehr leicht gegangen mit Deinem Grammophon, sie war ja ganz gerührt, dass ich 5 ihr das hier beschafft hab und sie hat eine feine Haut“ -- so sass er da und stierte auf einen Fettfleck an der spanischen Wand. Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ; ging eines Tages in der Schellingstrasse spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so, dass diese einst so innig be10 freundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein ausserordentliches Personengedächtnis besass. „Halloh!“ rief der vierte Fettfleck. „Ihr kennt Euch doch, wir wollen jetzt einen Cognak trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns!“ 15 : Heut sprach der Kastner nicht gewählt, und auch auf seine Dialektik war er nicht stolz. „Heut hab ich direkt wieder gehinkt“, murmelte er vor sich hin und die Sonne sank immer tiefer. Es war sehr still im Atelier und plötzlich meinte der Buddhist: „Die Einsamkeit ist wie ein Regen 20 Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen von Ebenen die fern sind und entlegen geht sie zum Himmel der sie immer hat und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt. Regnet hernieder in den Zwitterstunden 25 wenn sich nach morgen wenden alle Gassen und wenn die Leiber welche nichts gefunden enttäuscht und traurig voneinander lassen und wenn die Menschen, die einander hassen in einem Bett zusammenschlafen müssen: 30 dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen --“ B

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„Das sind bulgarische Zigaretten“, antwortete der Kastner und sah seinen Fettfleck vertraulich an. „Bulgarien ist ein fruchtbares Land, ein Königreich. Das hier ist nicht der echte Tabak, denn die Steuern sind zu hoch, wir haben eben den Feldzug verloren. Es war umsonst. Wir haben umsonst verloren“ -- so trank er seinen Cognak und es dauerte nicht lange, da war er einverstanden. Eine fast fromme Ergebenheit erfüllte seine Seele und es fiel ihm garnicht auf, dass er zufrieden war. Er kam sich vor wie ein gutes Gespenst, das sich über seine eigene Harmlosigkeit noch niemals geärgert hatte. Selbst da der Cognak alle wurde, war er sich nicht bös. B

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MAT3b

Verblödung. –N ] hab undN ] BFettfleck. „IhrN ] Buns!“N ] B„DieN ] BundN ] BvertraulichN ] BdaN ] BdasN ] B B

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Verblödung. \–/ hab[,] |und| korrigiert aus: Fettfleck.„Ihr [uns] |uns!“| \„/Die [U]|u|nd [freundlich] |vertraulich| [So trank er seinen Cognak und es dauerte nicht lange, da]|da| korrigiert aus: dass

558

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 66; MAT10

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)



5

Lesetext

IX.

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 67

Als der Kastner den Fettfleck begrüsste, erblickte Anna den Starnbergersee. Die Stadt mit ihren grauen Häusern war verschwunden, als hätte sie nie in ihr gewohnt und Villen tauchten auf, rechts und links und überall, mit Rosen und grossen Hunden. Der Nachmittag war wunderbar und Anna fuhr durch eine aufregend fremde Welt, denn es ist ein grosser Unterschied, zwischen einem Soziussitz und einem wunderbaren Sportwagen. Sie hatte die Füsse hübsch artig nebeneinander und den Kopf etwas nach hinten gezogen, denn auch der Wind war wunderbar und sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem. Harry war ein blendender Herrenfahrer. Er überholte einfach alles und nahm die Kurven, wie sie kamen. ; Ausnahmsweise sprach er nicht über das Eishokey , sondern beleuchtete Verkehrsprobleme. So erklärte er ihr , dass für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgendein Fussgänger die Schuld trägt und darum dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, dass er, falls er solch einen Fussgänger überfahren hätte, einfach abblenden würde. In diesem Sinne habe er einen Freund in Berlin und dieser Freund hätte mal mit seinem fabelhaften Lancia eine Fussgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über die Strasse gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja sogar zum Prozess sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fussgängerin Landgerichtsratswitwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, seinen Freund zur Zahlung einer Entschädigung zu verurteilen – „es käme mir ja auf paar tausend Märker nicht an“, hätte der Freund gesagt, „aber 얍 ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen.“ Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fussgängerin nicht leid tun würde trotz des verbotenen Lichtes. „Nein “, hätte er gesagt, „prinzipiell nicht!“ Er sei eben auf seinem Recht bestanden. Jedesmal, wenn Harry irgend einen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusammenstossen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann hasste er diesen B

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zwischen f undN ] sprach erN ] BEishokeyN ] BerklärteN ] BihrN ] BirgendeinN ] Bträgt f darumN ] BabblendenN ] BIn f SinneN ] BmalN ] BverbotenenN ] BLandgerichtsratswitweN ] BseinenN ] Bzu verurteilen –N ] B„esN ] B N] BhätteN ] Bwissen.“N ] Btun würdeN ] BverbotenenN ] BLichtes. „NeinN ] B N] B B

N B

[ob man auf einem Motorrad hinten drobensitzt oder in] |zwischen f und| [sprach Harry] |sprach er| gemeint ist: Eishockey [erzählte] |erklärte| \ihr/ irgend[ ]ein trägt[. So] |und darum| Korrektur von fremder Hand: [ab]|abb|lenden [So] |In f Sinne| \mal/ Korrektur von fremder Hand: verbotene[m] |n| Landgerichtsra tswit[t]we [dass] sein\en/ \zu/ verurteil[t]|en| [werde.] |–| [„Es]|„es| Korrektur von fremder Hand: [\ein/] h[a]|ä|tte korrigiert aus: wissen“. [täte] |tun würde| verbotene[m]|n| korrigiert aus: Lichtes.„Nein Absatz vom Autor getilgt

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8 14 14 15 15 15 16 17 18 18 19 22 23 24 24 24 24 25 27 27 27 30

MAT3b

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 68

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Staat, der die Fussgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Überhaupt der deutsche Staat, meinte er, sollte sich lieber kümmern, dass mehr gearbeitet würde , damit wir endlich mal wieder hochkommen könnten! Fussgän5 ger würden so und so überfahren und nun erst recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Auslandes, da er mit seinem Auto jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst 10 zwecks Erholung von der anstrengenden Eishokeysaison ein Stückchen Welt durchfahre. Jetzt fuhren sie durch Possenhofen. : Hier wurde eine Kaiserin von Österreich geboren, und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander ver15 wandt und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloss Berg. Es war eine vornehme Gegend. „Essen tun wir in Feldafing“, entschied Harry. „In Feldafing ist ein annehmbares ; Publikum, seit der Golfplatz draussen ist. In der Stadt kann man ja kaum mehr essen, 20 überall sitzt so ein Bowel.“ Und dann erwähnte er auch noch, früher sei er öfters nach Tutzing gefahren, das liege nur sechs Kilometer südlicher, aber jetzt könne kein anständiger Mensch mehr hin, nämlich dort stünde jetzt eine Fabrik und überall treffe man Arbeiter. B

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; In Feldafing sitzt man wunderbar am See. Besonders an BsolchN einem Bmilden Herbstabend.N Dann ist der See still und Du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterschei30 den, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend. Im Seerestaurant zu Feldafing sassen Blauter vornehme Menschen.N Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die grösste Mühe gab, anders Bauszusehen, B N

3 4 4 4 8 10 11 12 12 25 25 28 28

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sollteN ] BwürdeN ] BwirN ] Bkönnten!N ] B N] BEishokeysaisonN ] Bdurchfahre.N ] BJetztN ] BsieN ] B N] ; BX.N ] BsolchN ] Bmilden Herbstabend.N ]

Blauter f Menschen.N ] 32 33–561,1 Bauszusehen, f dieN ] B N] 33

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 69; MAT3a

MAT10

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 70; MAT11 MAT3b

soll\t/e w[i]|ü|rd\e/ [man] |wir| [könn\t/e[,]|!|[\,/ anstatt, dass er für die Fussgänger sorgt!]] |könnten!| Absatz vom Autor getilgt gemeint ist: Eishockeysaison

durchfahre[.][|n würde.|] |.| [Sie] |Jetzt| \sie/ [32.] [|{}|] \X./ \solch/ [Sommerabend ohne Wind] |[lauen] [|lauen|] [|lauen|] [|windst|] |milden| Herbstabend.| [ausser Harry und Agnes noch elf Damen und elf Herren.] |lauter f Menschen.| auszusehen\, und/ [D]|d|ie Absatz vom Autor getilgt

560

MAT3b

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

und die Damen waren durchaus gepflegt, wirkten daher sehr neu, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett musste, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal heimlich in der Nase bohrte oder sonst irgendetwas unartiges tat. Die Speisekarte war lang und breit , aber Anna konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. „Königinsuppe?“ hörte sie des Kellners Stimme und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, nämlich das Knurren kränkte : ihn, da er einen schlechten Charakter hatte. Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich, als hätten sie es nicht nötig zu essen. Als wären sie schon derart vergeistigt und sie sind doch nur satt. Harry bestellte zwei Wienerschnitzel mit Gurkensalat, liess aber hernach das seine stehen, weil es ihm zu dick war, verlangte russische Eier und sagte: „Wissen Sie Fräulein, dass ich etwas nicht ganz versteh: wieso kommt es nur, dass ich bei Frauen soviel Glück hab? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sichs vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann? Ich kann jede Frau haben, aber das ist halt nicht das richtige.“ Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: das Beste ist, ich wart, bis es finster ist, dann fahr ich zurück und bieg in einen Seitenweg -- und wenn sie nicht will, dann fliegt sie halt raus. „Es ist halt nicht das richtige“, fuhr er laut fort. „Die Frauen sagen zwar, ich könnt hypnotisieren. Aber ob ich die Liebe find? Ob es überhaupt eine Liebe gibt? Verstehen Sie mich, was ich unter ‚Liebe‘ versteh?“ Es war noch immer nicht finster geworden, es dämmerte nur und also musste er noch ein Viertelstündchen Konversation treiben. „Zum Beispiel jene Dame dort am dritten Tisch links“, erzählte er, „die hab ich auch schon mal gehabt. ; Sie heisst Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstrasse acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, dass sie verheiratet ist und dass ihr Mann sein Geschäftsfreund sei . Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishokey gespielt hab. Sie heisst Lotte Böhmer und wohnt in der Meinickestrasse vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie N

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Lesetext

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 71; MAT10

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gepflegt, wirktenN ] neu,N ] BheimlichN ] Bbohrte f tat.N ] BbreitN ] BAnnaN ] B N] B N] BnämlichN ] B N] B N] BhaltN ] BMauerkircherstrasseN ] BseiN ] BEishokeyN ] BMeinickestrasseN ] BistN ] B B

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gepflegt\,/ [und sahen] |wirkten| neu\,/ [aus] \heimlich/ bohrte[.]|oder f tat.| [gross] |breit| [Agnes] |Anna| [sondern hochdeutsche,] Absatz vom Autor getilgt

[denn] |nämlich| [ihn, da er einen schlechten Charakter hatte.] [ein] \halt/ Korrektur von fremder Hand: Mauerkircherstra[a]|s|se Korrektur von fremder Hand: [ist] |sei| gemeint ist: Eishockey gemeint ist: Meinekestrasse Korrektur von fremder Hand: [s]i\s/t

561

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MAT3b

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

heisst Weber und wohnt in der Franz-Josef-얍 Strasse , die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: „Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stossen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.“ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stossen wollte. Und hinter Ihnen -- schauen Sie sich nicht um! -- sitzt eine grosse Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestossen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heisst Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstrasse zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: „Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, dass Du mich mit meiner Frau betrügst?“ Ich hab gesagt: „Hand aufs Herz! Es ist wahr!“ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: „Ich danke Dir, lieber Harry!“ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, dass ich ja nichts dafür könnte, denn er wüsst es genau , dass der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil wäre. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein grosser Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heisst Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstrasse bei der Gabelsbergerstrasse.“ „Zahlen!“ rief Harry, denn nun wurd es Nacht. B

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XI. Im Forstenriederpark bog Harry in einen Seitenweg, hielt scharf und starrte regungslos vor sich hin, als suchte er einen grossen Gedanken, den er verloren hatte. Anna wusste, was nun kommen würde, trotzdem fragte sie, ob etwas los wäre. Aber er schwieg sich noch eine Weile aus. Dann sah er sie langsam an und sagte, sie hätte schöne Beine. Er war jedoch garnicht erregt, und jetzt musste er sich schneuzen. Das benutzte sie, um ihm zu sagen, dass sie spätestens um neun in der Schellingstrasse sein müsse, worauf er sie fragte, ob sie denn nicht fühle, dass er sie haben wolle. „Nein“, sagte sie, „fühlen tu ich das nicht.“ „Ist das aber traurig!“ meinte er und lächelte charmant. Die Septembernacht war stimmungsvoll und Harry fühlte sich direkt verpflichtet, Anna zu besitzen, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, da sie nun mal in seinem Sportwagen sass und weil er ihr ein Wienerschnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, obwohl er es ja bereits in Feldafing bemerkt hatte, dass sie ihn niemals besonders aufregen könnte. So kam alles, wie es kommen sollte und Anna sah sich ängstlich um. Ob sie denn etwas gehört hätte, fragte er. „Ja“, sagte sie, „es war nichts.“ 1 6 6 12 15 15 17 17 21 21

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 72

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Lesetext

StrasseN ] Ihnen -- schauenN ] Bum! -- sitztN ] Bbetrügst?“N ] Bkönnte,N ] Bwüsst f genauN ] Bwäre.N ] B N] BwurdN ] BNacht.N ] B B

korrigiert aus: Srasse korrigiert aus: Ihnen--schauen korrigiert aus: um!--sitzt

betrügst?\“/ k[a]|ö|nn\te,/ [weiss] |wüsst f genau| [ist] [|sei|] |wäre.| gestrichen: . wurd[e] [finster und die Sterne standen droben und ditto der Mond.] |Nacht.|

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 73; MAT10

Fragmentarische Fassung

5

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Also näherte er sich ihr und zwar in einer handgreiflichen Weise. Aber so rasch sollte er nicht an sein Ziel gelangen, denn nun hörte Anna wieder jenen Herrn im Frack -„Bitte sei doch endlich praktisch!“ bat sie der Herr und streichelte sie wie ein grosser Bruder. „So geht das nicht!“ sagte sie plötzlich und ihre Stimme erschien ihr seltsam verändert, als gehörte sie einer neuen Anna. „Sondern?“ fragte Harry. „Zehn“, sagte die neue Anna und jetzt wurd es grausam still. – 얍 „Fünf“, meinte Harry plötzlich und erhob sich energisch: „Dort drüben ist eine Bank!“ Sie gingen zur Bank. Auf der Banklehne stand: Nur für Erwachsene. Das war auf einer Lichtung, da sie zum erstenmale Geld dafür nahm. Droben standen die Sterne und ringsum lag tief und schwarz der Wald. Sie nahm das Geld, als hätte sie nie darüber nachgedacht, dass man das nicht darf. Sie hatte wohl darüber nachgedacht, aber durch das Nachdenken wird die Ungerechtigkeit nicht anders, das Nachdenken tut nur weh. Es war ein Fünfmarkstück und nun hatte sie keine Gefühle dabei, als wär sie schon tot. B

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Ende des zweiten Teiles

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still. –N ] ]

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still. \–/ [--]

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 74

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

: Dritter Teil: Herr Reithofer wird selbstlos 얍

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I.

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Wochen waren vergangen seit dieser Nacht und nun wars Anfang November. Die Landeswetterwarte konstatierte, dass das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biscaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein und auch der Golfstrom sei nichtmehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Aber hier war der Herbst noch mild und fein, und so sollte er offiziell auch noch einige Tage bleiben. Seit vorgestern wohnte Anna nichtmehr bei ihrer Tante in der Schellingstrasse, sondern in der Nähe des Goetheplatzes und das kam so: B

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Am Montag erschien ein Kriminaler bei der Tante, den sie noch von der Schule her kannte, und teilte ihr vertraulich mit, dass ihre Nichte schon öfters beobachtet worden sei, wie sie sich ausser jedem Zweifel dafür bezahlen liess. Der Kriminaler erwähnte das nur so nebenbei aus Freundschaft, denn eigentlich war er ja zur Tante gekommen, um den Herrn Kastner zu verhaften wegen gewerbsmässiger Verbreitung unzüchtiger Schriften und eines fahrlässigen Falscheids -- aber der Kastner sass gerade im Cafe und so hatte der Kriminaler Gelegenheit, seine alte Schulfreundin darauf aufmerksam zu machen, dass in der Polizeidirektion bereits ein Akt vorhanden wäre, in dem eine gewisse Anna Pollinger als verdächtiges streunendes Frauenzimmer geführt werde. Die Tante geriet ganz ausser sich und der Kriminaler bekam direkt Angst , es könnte sie der Schlag treffen, und drum suchte er sie zu beschwichtigen. Man könne auch die Freudenmädchen nicht so ohne weiteres verdammen, sagte er, so habe er eine Bekannte gehabt, bei der hätten nur solch leichtfertige Dinger gewohnt, doch die wären pünktlich peinlich mit der Miete gewesen und hätten die Möbel schon sehr geschont, sauber und akkurat. Sie hätten sich ihre Zimmer direkt mit Liebe eingerichtet 얍 und nie ein unfeines Wort gebraucht. Aber diese Argumente prallten an der Tante ihrer religiösen Weltanschauung ab. Sie war fürchterlich verzweifelt, warf Anna aus ihrem Heim und brach jede verwandtschaftliche Beziehung zu ihr ab. -Auch den Herrn Kobler hatte Anna nie wieder gesprochen. Nur einmal sah sie ihn drüben an der Ecke stehen und zwar mit dem Grafen Blanquez. Sie wollte hinüber, aber der Kobler wandte ihr derart ostentativ den Rücken, dass sie aufhörte, nach ihm zu fragen. „Ich kann sie nichtmehr sehen“, sagte er zu seinem Grafen, „ich bin halt diesen Verhältnissen hier schon etwas entwachsen und will nicht mehr runter von meinem Niveau.“ „Da hast Du schon sehr recht“, nickten der Graf, „denn sie ist leiB

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

der total verkommen.“ „Seit wann denn?“ erkundigte sich Kobler. „Schon lang!“ meinten der Graf. „Neulich erzählte mir unser Freund Harry, dass sie fünf Mark dafür verlangt hat.“ „Nicht möglich!“ rief Kobler. „Das sind halt diese fürchterlichen Zeiten, Europa muss sich halt einigen oder wir gehen noch alle zugrund!“ -An diesem abend wäre Anna fast auf der Wache gelandet, denn sie hatte einen lauten Auftritt in der Augustenstrasse. Ein Waffenstudent spuckte ihr ins Gesicht, weil sie ihn ansprach , trotzdem er Couleur trug. Noch lange hernach wimmerte sie vor Wut und Hass und legte einen heiligen Eid ab, sich nie wieder mit einem Herrn einzulassen, aber sie konnte diesen Schwur nicht halten, denn die Natur verlangte ihr Recht. Sie hatte nämlich nichts zu essen. -Die Natur ist eine grausame Herrin und gab ihr keinen Pardon. Und so fing sie bereits an, nur an das Böse in der Welt zu glauben, aber nun sollte sie ein Beispiel für das Vorhandensein des Gegenteils erleben, zwar nur ein kleines Beispiel, aber doch ein Zeichen für die Möglichkeit menschlicher Kultur und Zivilisation. B

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II.

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Als Anna ihren Herrn Reithofer kennen lernte, dämmerte es bereits. Das war in der Nähe der Thalkirchnerstrasse vor dem städtischen Arbeitsamt. Auch der Herr Reithofer war nämlich arbeitslos und er knüpfte daran an, als er sie ansprach -- man konnte es ihr ja noch nicht ansehen, durch was sie ihren Unterhalt bestritt, denn da sie es erst seit kurzem tat, war sie äusserlich noch die alte Anna. Aber drinnen sass die neue Anna und frass sich langsam an das Licht. Der Herr Reithofer sagte, er sei nun schon ewig lange ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher, und sie sagte, sie sei nun auch schon zwei Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr angenehme Stadt und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte gewollt und er lächelte, er freue sich nun sehr, dass er sie kennen gelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Aber sie fiel ihm ins Wort, man könne doch nicht das Reden verlernen. Nun zog eine Reichswehrkompagnie an ihnen vorbei und zwar mit Musik. Als der Herr Reithofer die Reichswehr sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Gewalten, die leider stärker wären als der Mensch, aber so dürfte man nicht denken, denn dann müsste man sich halt aufhängen. Er solle doch nicht so traurig daherreden, unterbrach sie ihn wieder, er solle lieber in den Himmel schauen, denn dort droben flöge gerade ein feiner Doppeldekker. Jedoch er sah kaum hin, nämlich das wisse er schon und die Welt werde immer enger, denn bald würde man von dort droben in zwei Stunden nach Australien fliegen können, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinen. 얍 So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett hätte gehen wollen, aber derweil in den Himmel gekommen sei. Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, erst B N

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich grossartig, dass der menschliche Geist solche Höhen erklimme und sie werde es ja auch noch erleben, dass wenn das so weitergehe, alle echten Menschen zugrunde gehen würden. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse und er habe gestern gelesen, dass sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil sich die Kapitalisten anfingen zu organisieren -- und er schloss: auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichtsmehr sagen. Und während der Herr Reithofer so sprach, wurde es Anna sonnenklar, dass er sie verwechselt, und sie wunderte sich, dass sie noch nicht darauf zu sprechen gekommen sei, aber nun hatte sie plötzlich keinen Mut, davon anzufangen, und das war direkt seltsam. Sie sah ihn verstohlen an. Er hatte ein wohltuendes Geschau und auffallend gepflegte Hände. Was er denn für einen Beruf hätte, fragte sie. „Kellner“, sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute sicher in einem ausländischen Grandhotel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Bisra . Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Serajewo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog , der wo der österreich-ungarische Thronfolger gewesen sei, erschossen hätten. Und Anna antwortete, sie wisse es nicht, was dieses Serajewo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen und soviel sie erfahren hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an diesen ganzen Weltkrieg nur schwach erinnern, denn als der seiner-얍zeit ausgebrochen sei, wäre sie erst vier Jahr alt gewesen. Sie erinnere sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals hätte man ihre liebe Mutter begraben. Zwar hätte sie ihre Mutter nie richtig geliebt, sie sei sehr mager gewesen und so streng weiss um den Mund herum und sie hätte oft das Gefühl gehabt, dass die Mutter denken würde: „warum lebt das Mädel?“ Hier meinte der Herr Reithofer, dass jeder Mensch Verwandte hätte, der eine mehr und der andere weniger, und jeder Verwandte vererbe einem etwas, entweder Geld oder einen grossen Dreck. Aber auch Eigenschaften wären erblich, so würde der eine ein Genie, der zweite Beamte und der dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloss Nummern, die sich alles gefallen liessen. Nur wenige liessen sich nicht alles gefallen und das wäre sehr traurig. Jetzt gingen sie über den Sendlingertorplatz. „Und was hat das Fräulein für einen Beruf?“ fragte er. Sie sah ihn forschend an, ob er es bereits erraten hätte, und überraschte sich dabei, dass es ihr peinlich gewesen wär -- „Eigentlich hab ich das Nähen gelernt“, sagte sie und ärgerte sich nun über ihr ängstliches Gefühl. Denn die Männer sind feine Halunken und daran ändert auch ihre Arbeitslosigkeit nichts. Ob wohl dieser feine Arbeitslose drei Mark habe, überlegte sie und stellte ihn auf die Probe: „Ich möcht jetzt gern ins Kino da drüben“, sagte sie. Dem Herrn Reithofer kam dieser Vorschlag ziemlich unerwartet, denn er besass nurmehr einen Zehnmarkschein und es war ihm auch bekannt, dass er als österreichiN

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Fragmentarische Fassung

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scher Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anteil habe und er erinnerte sich, dass er 1915 in Wolhynien einen Kalmüken sterben sah, der genau so starb wie irgendein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. „Ich möcht gern ins Kino“, wiederholte sich Anna und sah ihn zu 5 Fleiss recht verträumt an. Und um den 얍 toten Kalmüken zu verscheuchen, dachte er: auf die zwei Mark kommts auch nichtmehr zamm -- und so freute er sich, dass er ihr die Freude bereiten kann, denn er war ein guter Mensch. „Nur schad, dass der Tom Mix nicht spielt!“ meinte er. Nämlich er liebte diesen Wildwestmann, weil dem immer alles gelingt, aber ganz besonders verliebt war er in dessen treues Pferd. Überhaupt 10 schwärmte er für alle Vieher -- so wäre er 1916 fast vor ein Kriegsgericht gekommen, weil er einem russischen Pferdchen, dem ein Splitter zwei Hufe weggerissen hatte, den Gnadenschuss verabreicht und durch diesen Knall seine Kompagnie in ein fürchterliches Kreuzfeuer gebracht hat. Damals ist sogar ein Generalstabsoffizier gefallen. Leider sah er also nun im Kino keine Viecher, sondern ein Gesellschaftsdrama 15 und zwar die Tragödie einer jungen schönen Frau. Das war eine Millionärin, die ; Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren liess, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in Ba20 den-Baden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge sass, im Karneval tanzte und überaus unglücklich den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten, jungen Millionärssohn, der sie dezent-sinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie denn auch im Li25 gurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich . Es war ein sehr tragischer Film und hatte nur eine lustige Episode: die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein grosses Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure gross aus. Aber der 30 Chauffeur wusste nicht genau, wie die vornehme Welt Messer und Gabel hält und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnit35 ten. Es war sehr lustig. Im Kino war es natürlich dunkel, aber der Herr Reithofer näherte sich ihr in kei: ner Weise, denn so etwas tat er im Kino prinzipiell nie -- und als jetzt die Vorstellung beendet war, da war es nun draussen auch schon dunkel. Drinnen hatte sich Anna direkt geborgen gefühlt, denn sie hatte sich vergessen können, aber als sie sich nun einB

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gekeilt zwischen den vielen Fremden hinaus in die rauhe Wirklichkeit zwängte, war sie sich bereits darüber klar, in welcher Weise sie nun dem Herrn Reithofer begegnen sollte. Sie würde ihn einfach vor die Alternative stellen, obwohl er eigentlich ein netter Mann sei, aber das Nette an den Männern ist halt nur eine Kriegslist. Als sie sich von ihren Plätzen erhoben hatten, ist es dem Herrn Reithofer aufgefallen, dass sie kleiner sei, als er sie in der Erinnerung hatte. Und so dachte er nun, wie wäre es jetzt doch edel, wenn er ihr nur väterlich über das Haar streichen, ihr Zuckerln schenken und sagen würde: „Geh ruhig nachhaus mein liebes Kind!“ Aber wie ist das halt alles unverständlich mit dem Liebesleben in der Natur! Das ist ein starkes Muss, doch steht es Dir frei, mit dem Willen dagegen anzukämpfen, sofern Du einen Willen hast. Und so sagte er nun: „Kommens Fräulein, gehen wir noch ein bisserl spazieren, es ist ja eine unwahrscheinlich laue Novembernacht“ -- Aber da trat sie von ihm weg und sagte ihren harten Spruch: „So einfach geht das nicht!“ „Wieso?“ erkundigte er sich harmlos, denn er konnte sich momentan nichts Genaues darunter vorstellen. „Weil das was kostet“, sagte sie und sah recht höhnisch drein, denn es tat ihr gut, wenn sich die Herren ärgerten, und nun wartete sie auf einen Ausbruch. Aber darauf sollte sie vergebens warten. Zwar hätte sie der Herr Reithofer niemals für eine solche gehalten, und drum schwieg er nun eine ganze Zeit. „Also eine solche bist Du“, sagte er dann leise und sah sie derart resigniert an, dass es sie gruselte. „Ich bin noch nicht lang dabei“, entfuhr es ihr gegen ihre Absicht. „Das vermut ich“, lächelte er, „aber ich hab halt kein Geld.“ „Dann müssen wir uns halt verabschieden!“ -- jetzt sah er sie wieder so an. „Also ich hab ja keine Verachtung für Dich“, meinte er, „aber dass Du Dich von einem Menschen in meiner wirtschaftlichen Lage ins Kino einladen lasst, das ist eine grosse Gemeinheit von Dir!“ Dann liess er sie stehen.

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III.

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Langsam ging er die Sendlingerstrasse hinab und sah sich kein einzigesmal um, als sähe er eine schönere Zukunft vor sich. „Also das war ein Mistvieh“, konstatierte er und hasste Anna momentan. Unwillkürlich fiel ihm seine erste Liebe ein , die ihm nur eine einzige Ansichtskarte geschrieben hatte. Aber bald dachte er wieder versöhnlicher, denn er war ein erfahrener Frauenkenner. Er sagte sich, dass halt alle Weiber unzuverlässig seien, sie würden auch glatt lügen, nur um einem etwas Angenehmes sagen zu können. Die Frau sei halt nunmal eine Sklavennatur, aber dafür könnte sie eigentlich nichts, denn daran wären nur die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten. „Aber das war halt doch ein Mistvieh!“ schloss er seine Gedankengänge. In der Rosenstrasse hielt er apathisch vor der Auslage eines Photographen. Drinnen hing ein vergrössertes Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie B

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stacken in ihren Sonntagskleidern, blickten ihn hinterlistig und borniert an und alle acht waren ausserordentlich hässlich. Trotzdem dachte nun der Herr Reithofer, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie sein eigen nennen könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus und das Aussterben sei doch etwas Trauriges, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen Anspruch auf die reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung hätte. Und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los und er konnte es sich gar nicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei. Es war ihm nämlich eingefallen, dass ein Blinder sagt: „Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche. Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!“ – Nacht wars und es wurde immer später, aber der Herr Reithofer wollte nicht nach얍 hause, denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er sehr müde war. Er war ja den ganzen Tag wieder herumgelaufen und hatte keine Arbeit gefunden. Sogar im „Continental“ hatte er sein Glück probiert und als er dort seine hochmütigen Kollegen vor einem eleganten Zuchthausgesicht katzbuckeln gesehen hatte, ist es nicht das erstemal gewesen, dass er seinen Beruf hasste. Und nun noch dazu dieses Abenteuer mit dem Mistvieh, das hatte ihn vollends um den Schlaf gebracht. Jetzt stand er in der Müllerstrasse und war voll Staub, draussen und drinnen. Drüben entdeckte er ein Bierlokal und das lag dort direkt verführerisch. Lang sah er es an. „Also, wenn die Welt zusammenstürzt“, durchzuckte es ihn plötzlich, „jetzt riskier ich noch dreissig Pfennig und kauf mir ein Glas Bier!“ Aber die Welt stürzte nicht zusammen, sondern vollendete ihre vorgeschriebene Reise mit Donnergang und ihr Anblick gab den Engeln Stärke, als der Herr Reithofer das Bierlokal betrat. Die unbegreiflich hohen Werke blieben herrlich wie am ersten Tag. B

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IV.

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Der Herr Reithofer war der einzige Gast. Er trank sein Bier und las in den „Neuesten“, dass es den Arbeitslosen entschieden zu gut gehen würde, da sie sich ja sogar ein Glas Bier leisten könnten. „Der Redner sprach formvollendet“, stand in der Staatszeitung, „und man war ordentlich froh, wiedermal den Materialismus überwunden zu haben“ -- da fühlte er, dass ihn jemand anstarrt. Vor ihm stand eine fremde Dame. Er hatte sie garnicht kommen hören, nämlich sonst hätte er aufgehorcht. „Guten abend, Herr Reithofer!“ sagte die fremde Dame und meinte dann rasch, das sei ein grosser Zufall, dass sie sich hier getroffen hätten, und über so einen Zufall könnte man leicht einen ganzen Roman schreiben, einen Roman mit lauter Fortsetzungen. Sie las nämlich leidenschaftlich gern. „Sie erlauben doch, dass ich mich zu Ihnen setz?“ fragte sie ihm und freute sich sehr. „Seit wann sinds denn in München, Herr Reithofer? Ich bin schon seit vorigem Mai da, aber ich bleib nimmer lang, ich hab nämlich erfahren, in Köln soll es besser für mich sein, dort war doch erst unlängst die grosse Journalistenausstellung“ -- so begrüsste sie ihn recht vertraut, aber er lä12 21

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chelte nur verlegen, denn er konnte sich noch immer nicht erinnern, woher sie ihn kennen könnte. Sie schien ihn nämlich genau zu kennen, aber er wollte sie nicht fragen, woher sie ihn kenne, denn sie freute sich wirklich, ihn wiederzusehen und erinnerte sich gerne an ihn. „Nicht jede Ausstellung ist gut für mich“, fuhr sie fort. „So hab ich bei der Gesoleiausstellung ; in Düsseldorf gleich vier Tag lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab in meinem Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei eurer Gesoleiausstellung und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, dass ich keine Geschäfte mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere anspreche. Da hab ich erst gemerkt, dass ich vier Tag 얍 lang in der Gsundheitsabteilung gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon und da hab ichs freilich verstanden, dass ich vier Tag lang nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hat es mich vor mir selbst gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen , Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.“ Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Deutschen Museum in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine grosse vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau und der Herr Reithofer dachte: „Ist das aber eine geschwätzige Person! Vielleicht verwechselt sie mich, es heissen ja ; auch fremde Leut Reithofer“ -- da bemerkte er plötzlich, dass sie schielt. Zwar nur etwas, aber es ; fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Krieg in Pressburg im Restaurant Klein gearbeitet hatte. Das ist ein kollegialer Charakter gewesen, ein grosses Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieser Kollege geheiratet und zu ihm gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, zwar nur ein bisserl , aber sie hat ein gutes Herz.“ Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hiess Karl Swoboda. „Als mein Mann in Montenegro fiel“, sagte jetzt die geschwätzige Person, „ da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer . Ich hab mir gedacht, ist der jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, dass Sie nicht gefallen sind. Erinnern Sie sich noch an meine Krapfen, Herr Reithofer?“ B

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Ver[na]|an|staltungen Heima[t]|t|kundgebung [Eugen] |der f Reithofer| dachte\: „Ist f Person!/ gestrichen: „ [I]|i|m [freundlicher Mensch] |kollegialer Charakter| [Eugen] |ihm| [etwas] |ein bisserl| gut[s]|es| [Margarethe Swoboda,] |jetzt die \geschwätzige/ Person,| da\ /hab korrigiert aus: sie Reith[e]|o|fer [ah]|ha|b korrigiert aus: sie korrigiert aus: sie

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Jetzt erinnerte er sich auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt und da hatte ihn dieser seine Frau vorgestellt und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, dass die 얍 beiden Betten nicht zueinander passten, und nach dem Pferderennen ist der Swo5 boda sehr melancholisch gewesen, weil er fünf Gulden verspielt hatte, und hatte traurig gesagt: „ Glaubs mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!“ „Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reit-;hofer!“ sagte Karl Sowobodas Witwe und hatte dabei einen wehmütigen Ausdruck, denn sie war halt kein Sonntags10 kind. Zwar stand in ihrem Horoskop, dass sie eine glückliche Hand habe. Nur vor dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücksmonat und dann gelänge ihr alles vorbei. „Da dürft ich halt überhaupt nicht leben!“ rief sie lustig , denn sie hatte im April Geburtstag. Dies Horoskop hatte ihr die hiesige Toilettenfrau gestellt und dabei behauptet, 15 dass sie das Weltall genau kennen würde, allerdings nur bis zu den Fixsternen. Sie hiess Regina Warzmeier und war bei den Gästen sehr beliebt, denn sie wusste immer Rat und Hilfe, und so nannte man sie die „ Grossmama“. – Als der Herr Reithofer an die pressburger Betten dachte, näherte sich ihm die 얍 Grossmama. Wenn sie nämlich nichts zu tun hatte, stand sie vor ihren beiden Türen 20 und beobachtete die Gäste, um noch mehr zu erfahren. So hatte sie nun auch bemerkt, dass das Gretchen den Herrn Reithofer wie einen grossen Bruder behandelt, und für solch grosse Brüder empfand sie direkt mütterlich , und daher setzte sie sich an des Herrn Reithofer Tisch. Das Gretchen erzählte gerade, dass im Weltkrieg viele junge Männer gefallen ; 25 sind und, dass nach dem Weltkrieg sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Grossmama meinte, für Offiziere sei es halt schon sehr arg, wenn so ein Weltkrieg verloren ginge . So hätten sich viele Offiziere nach dem Kriege total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte sie mal in einer grossen Herrentoilette gedient und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe 30 für ein Fass Bier verkauft hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eiercognaks eingetauscht und dieser FliegeroffiB

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K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

zier sei so versoffen gewesen, dass er statt mit „Guten Tag!“ mit „Prost!“ gegrüsst hätte . Und der Herr Reithofer meinte, der Weltkrieg hätte freilich keine guten Früchte getragen und für Offiziere wäre es freilich besser, wenn ein Krieg gewonnen würde , 5 aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, dass er persönlich auch als Sieger unter derselben wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er nun schon ewig lang arbeitslos und es bestünde aber nicht die geringste Aussicht, dass es besser werden wollte. 10 : Hier mischte sich ein älterer Herr ins Gespräch, der sich auch an den Tisch gesetzt hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, es wäre jammerschade, dass der Herr Reithofer kein Fräulein sei, denn dann hätte er für ihn sofort Arbeit. „Wie meinen Sie das?“ erkundigte sich der Herr Reithofer misstrauisch, aber der ältere Herr liess sich nicht verwirren. „Das mein ich so“, lächelte er freundlich und setzte ihm auseinander, 15 dass wenn er kein Kellner, sondern eine Schneiderin wäre, so wüsste er für diese Schneiderin auf der Stelle eine Stelle. Er kenne nämlich einen grossen Schneider;geschäftinhaber in Ulm an der Donau und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat, aber der Herr Reithofer dürfte halt auch keine Österreicherin sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher und deshalb engagiere er nur sehr ungern 20 Österreicher. Aber ihm zu Liebe würde dieser Kommerzienrat vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch Schneiderin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen und von diesem Kind dürfe die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett 25 in Neu-Ulm, um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei. Dieser freundliche Herr war hier Stammgast und wiederholte sich oft. Auch de: battierte er gerne mit der Grossmama und kannte keine Grenzen. So erzählte er ihr, dass seinerzeit jener Höhlenmensch, der den ersten Ochsen an die Höhlenwand ge30 zeichnet hätte, von allen anderen Menschen als grosser Zauberer angebetet worden sei und so müsste auch heute noch jeder Künstler angebetet werden (er war nämlich ein talentierter Pianist) -- und dann stritt er sich mit der Grossmama, ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heisse (er sammelte nämlich auch Briefmarken) -B

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 89; MAT10

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1 2 3 3 4 6 6 6–7 7 7 8 8 9 11 16 18 24

MAT3b

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mitN ] hätteN ] BUnd f ReithoferN ] BhätteN ] BwürdeN ] Bsei,N ] BpersönlichN ] Bals SiegerN ] B N] BnunN ] Bewig langN ] BaberN ] Bwollte.N ] B N] BSchneidergeschäftinhaberN ] Bder f ReithoferN ] BdürfeN ] B B

mi[t]|t| h[a]|ä|t\te/ [Eugen] |Und f Reithofer| h[ab]|ätt|e

Korrektur von fremder Hand: w[u]|ü|rde sei\,/ [dass wenn wir den Weltkrieg gewonnen hätten,] \persönlich/ [dann] |als Sieger| [allgemeinen] [jetzt] |nun| [wieder mal seit zwei Monaten] |ewig lang| [schon] |aber| [wird.] [|könnte.|] |wollte.| [meinte, wenn der Herr Reithofer kein Mann, sondern eine Frau wäre,] Schneidergeschäft[sinh]|inh|aber [Eugen] |der f Reithofer| dürf[e]|e|

572

ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 90; MAT10

Fragmentarische Fassung

K4/TS3/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

worauf die Grossmama meistens erwiederte, ; auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener grosse Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte, und sie könne es sich schon garnicht vorstellen, wie so etwas angefangen würde, worauf er meinte, aller Anfang sei halt schwer und er fügte noch hinzu, dass die Dreissigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewusstseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Grossmama und dachte, der rechthaberische Mensch sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen. B N

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ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 91; MAT10

Als der Herr Reithofer von der Stelle für das Fräulein hörte, dachte er unwillkürlich an das Mistvieh von zuvor, das ihn in jenes blöde Kino verführt hatte. Er sagte sich, das wäre ja ausgerechnet eine Stelle für das Mistvieh, es hätte ihm ja erzählt, dass es 15 eigentlich Näherin und erst seit kurzem eine solchene sei. Vielleicht würde es ihn jetzt nur ein Wörtchen kosten und sie würde morgen keine solchene mehr sein, als wäre er der Kaiser von China. „Aber ich bin halt kein Kaiser von China“, sagte er sich, „und sie ist halt ein Mistvieh!“ Und er fügte hinzu: „Wahrscheinlich ist auch dieser ältere Herr ein Mistvieh!“ 20 Und nun warf er mit den Mistviehern nur so um sich, alles und jedes wurde zum Mistvieh, die Swoboda, die Grossmama, der Tisch, der Hut, das Bier und das Bierglas -- wie das eben so manchmal geschieht. „Aber es ist doch schön von dem älteren Mistvieh, dass es mir helfen möcht!“ fiel es ihm plötzlich auf. „Es weiss ja garnicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh 25 bin! Ich bin doch auch eins, meiner Seel!“ „Überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen“, dachte er weiter. „Wenn ; sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser. Es ist doch direkt unanständig, wenn man einem Mistvieh nicht helfen tät, obwohl man könnt, bloss weil es ein Mistvieh ist.“ 30 Und dann fiel es ihm auch noch auf, dass es sozusagen ein angenehmes Gefühl ist, wenn man sich gewissermaßen selbst bestätigen kann, dass man einem Mistvieh geholfen hat. Ungefähr so: Zeugnis. Ich bestätige gerne, dass das Mistvieh Josef Reithofer ein hilfsbereites Mistvieh 35 ist. Es ist ein liebes gutes braves Mistvieh. Josef Reithofer Mistvieh. B

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1 4 5 5 7 34 36

MAT3b

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] wollte,N ] BerN ] BhaltN ] Brechthaberische MenschN ] BJosefN ] BJosefN ] B N B

[te,] wollte\,/ [der Pianist] |er| \halt/ [Pianist] [|recht|] |rechthaberische Mensch| [Eugen] |Josef| [Eugen] |Josef|

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MAT3b

Endfassung

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15

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Der Spiesser ist bekanntlich ein hypochondrischer BEgoist,N und so trachtet er BdanachN, sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet. Wenn ich mich nicht irre, hat es sich allmählich herumgesprochen, dass wir ausgerechnet zwischen zwei Zeitaltern leben. Auch der alte Typ des Spiessers ist es Bnicht mehrN wert, lächerlich gemacht zu Bwerden;N wer ihn heute noch verhöhnt, ist bestenfalls ein Spiesser der Zukunft. Ich sage „Zukunft“, denn der neue Typ des Spiessers ist erst im Werden, er hat sich noch nicht herauskristallisiert. Verfasser versucht Bnun,N in Form eines Romanes einige Beiträge zur Biologie dieses werdenden Spiessers zu liefern. Er wagt natürlich nicht zu hoffen, dass er durch diese Seiten ein gesetzmässiges Weltgeschehen beeinflussen könnte, jedoch immerhin.

얍 Erster BTeilN Herr Kobler wird BPaneuropäerN

„Denn solang Du dies nicht hast, Dieses „Stirb und werde!“, Bist Du noch ein trüber Gast Auf der schönen Erde.“ B

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 1

ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 2

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 3

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Mitte September 1929 verdiente Herr Alfons Kobler aus der Schellingstrasse sechshundert Reichsmark . Es gibt viele Leute , die sich soviel Geld gar nicht vorstellen können. Auch Herr Kobler hatte noch niemals soviel Geld so ganz auf einmal verdient, aber diesmal war ihm das Glück hold. Es zwinkerte ihm zu, und Herr Kobler hatte plötzlich einen elastischeren Gang. An der Ecke der Schellingstraße kaufte er sich B

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1 1–2 5–6 6 9 15 16 19–22 19 19 20 20 21 24 27 28 28 31

Egoist,N ] danachN ] Bnicht mehrN ] Bwerden;N ] Bnun,N ] BTeilN ] BPaneuropäerN ] B„Denn f Erde.“N ] BDuN ] Bhast,N ] B„StirbN ] Bwerde!“,N ] BDuN ] B1N ] BMitteN ] BReichsmarkN ] BLeuteN ] Bzu,N ] B B

N

Korrektur von fremder Hand: Egoist\,/ Korrektur von fremder Hand: da[r]nach Korrektur von fremder Hand: nicht\ /mehr Korrektur von fremder Hand: werden[,] ; Korrektur von fremder Hand: nun\,/ [ab Seite 4] Korrektur von fremder Hand: Teil[:] Korrektur von fremder Hand: Paneuropäer[.]

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\„Denn f Erde.“/

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Korrektur von fremder Hand: [d] D u Korrektur von fremder Hand: hast\,/ Korrektur von fremder Hand: „[s] S tirb Korrektur von fremder Hand: werde!\“,/ Korrektur von fremder Hand: [d] D u [I.] 1. Korrektur von fremder Hand: 1[.]

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Mitt[te]|e|

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Korrektur von fremder Hand: [RM] Reichsmark Korrektur von fremder Hand: Leut\e/ Korrektur von fremder Hand: zu\,/

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

bei der guten alten Frau Stanzinger eine Schachtel Achtpfennigzigaretten, direkt aus Mazedonien. Er liebte nämlich dieselben sehr, weil sie so überaus mild und aromatisch waren. „Jessas Mariandjosef!“ schrie die brave Frau Stanzinger, die seitdem ihr Fräulein Schwester gestorben war, einsam zwischen ihren Tabakwaren und Rauchutensilien saß und aussah , als würde sie jeden Tag um ein Stückchen kleiner werden – „Seit wann rauchens denn welche zu acht, Herr Kobler? Wo habens denn das viele Geld her? Habens denn wen umbracht oder haben Sie sich gar mit der Frau Hofopernsänger wieder versöhnt?“ „Nein“, sagte der Herr Kobler. „Ich hab bloß endlich den Karren verkauft.“ Dieser Karren war ein ausgeleierter Sechszylinder, ein Kabriolett mit Notsitz. Es hatte bereits vierundachtzigtausend Kilometer hinter sich, drei Dutzend Pannen und zwei lebensgefährliche Verletzungen. Ein Greis. Trotzdem fand Kobler einen Käufer . Das war ein 얍 Käsehändler aus Rosenheim, namens Portschinger, ein begeisterungsfähiger großer dicker Mensch. Der hatte bereits Mitte August dreihundert Reichsmark angezahlt und hatte ihm sein Ehrenwort gegeben, jenen Greis spätestens Mitte September abzuholen und dann auch die restlichen sechshundert Reichsmark sofort in bar mitzubringen. So sehr war er über diesen außerordentlich billigen Gelegenheitskauf Feuer und Flamme. Und drum hielt er auch sein Ehrenwort. Pünktlich erschien er Mitte September in der Schellingstraße und meldete sich bei Kobler. In seiner Gesellschaft befand sich sein Freund Adam Mauerer, den er sich aus Rosenheim extra mitgebracht hatte, da er ihn als Sachverständigen achtete, weil dieser Adam bereits seit 1925 ein steuerfreies Leichtmotorrad besaß. Der Herr Portschinger hatte nämlich erst seit vorgestern einen Führerschein, und weil er überhaupt kein eingebildeter Mensch war, war er sich auch jetzt darüber klar, dass er noch lange nicht genügend hinter die Geheimnisse des Motors gekommen war. B

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Lesetext

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 4

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Der Sachverständige besah sich das Kabriolett ganz genau und war dann auch schlechthin begeistert. „Das ist ein Notsitz!“ rief er. „Ein wunderbarer Notsitz! Ein gepolsterter Notsitz! Der absolute Notsitz! Kaufs, du Rindvieh!“ Das Rindvieh kaufte es auch sogleich, als wären die restlichen sechshundert Reichsmark Lappalien, und während der Kobler die Scheine auf ihre Echtheit prüfte, verabschiedete es sich von ihm: „Alsdann Her Kobler, wanns mal nach Rosenheim kommen, besuchens mich mal. Meine Frau wird sich freuen, sie müssen ihr nachher auch die Gschicht von dem Prälatn erzählen, der wo mit die 얍 jungen Madln herumgestreunt is wie ein läufiges Nachtkastl. Meine Frau ist nämlich noch liberaler als ich. Heil!“ Hierauf nahmen die beiden Rosenheimer Herren im Kabriolett Platz und fuhren beglückt nach Rosenheim zurück, das heisst: sie hatten dies vor. „Der Karren hat an schönen Gang“, meinte der Sachverständige. Sie fuhren über den Bahnhofsplatz. „Es is scho schöner so im eignen Kabriolett als auf der stinkerten Bahn“, meinte der Herr Portschinger. Er strengte sich nicht mehr an, hochdeutsch zu sprechen, denn er war sehr befriedigt. Sie fuhren über den Marienplatz. „Schließen Sie doch den Auspuff!“ brüllte sie ein Schutzmann an. „Is ja scho zu!“ brüllte der Herr Portschinger, und der Sachverständige fügte noch hinzu, das Kabriolett hätte halt schon eine sehr schöne Aussprache und nur kein Neid. Nach fünf Kilometern hatten sie die erste Panne. Sie mußten das linke Vorderrad wechseln. „Das kommt beim besten Kabriolett vor“ , meinte der Sachverständige . Nach einer weitern Stunde fing der Ventilator an zu zwitschern wie eine Lerche, und knapp vor Rosenheim überschlug sich das Kabriolett infolge Achsenbruchs, nachdem kurz vorher sämtliche Bremsen versagt hatten. Die beiden Herren flogen in hohem Bogen heraus, blieben aber wie durch ein sogenanntes Wunder unverletzt, während das Kabriolett einen dampfenden Trümmerhaufen bildete. „Es is bloß gut, daß uns nix passiert is“, meinte der Sachverständige. Der Portschinger aber lief wütend zum nächsten Rechtsanwalt, jedoch der Rechtsanwalt zuckte nur 얍 mit den Schultern. „Der Kauf geht in Ordnung“ , sagte er. „Sie hätten eben vor Abschluß genauere Informationen über die Leistungsfähigkeit des KabrioB

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SachverständigeN ] das KabriolettN ] BduN ] BReichsmarkN ] BLappalien, undN ] BGschichtN ] BdiesN ] BKabriolettN ] Bzu!“N ] BPortschinger,N ] B N] Bvor“N ] BSachverständigeN ] BLerche,N ] BdurchN ] BPortschingerN ] BliefN ] BOrdnung“N ] B B

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Korrektur von fremder Hand: Sachver[w] s tändige korrigiert aus: dasKabriolett Korrektur von fremder Hand: [D] d u Korrektur von fremder Hand: [RM] Reichsmark Korrektur von fremder Hand: Lappalien[--] , und[,]

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576

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 6

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

letts einholen müssen. Beruhigen Sie sich, Herr Portschinger, Sie sind eben betrogen worden, da kann man nichts machen!“ B

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2 Seinerzeit als dieser Karren noch fabrikneu war, kaufte ihn sich jene Opernsängerin , die wo die Frau Stanzinger in Verdacht hatte, daß sie den Herrn Kobler aushält. Aber das stimmte nicht in dieser Form. Zwar gewann sie den Kobler gleich auf den ersten Blick recht lieb, das geschah in der Firma „Gebrüder Bär“, also in eben jenem Laden, wo sie sich den fabrikneuen Karren kaufte. Der Kobler ging dann bei ihr ein und aus von Anfang Oktober bis Ende August, aber dieses ganze Verhältnis war in pekuniärer Hinsicht direkt platonisch. Er aß, trank und badete bei ihr, aber niemals hätte er auch nur eine Mark von ihr angenommen. Sie hätte ihm so was auch niemals angeboten, denn sie war eine feine gebildete Dame, eine ehemalige Hofopernsängerin, die seit dem Umsturz nur mehr in Wohltätigkeitskonzerten sang. Sie konnte sich all diese Wohltäterei 얍 ungeniert leisten, denn sie nannte u.a. eine schöne Villa mit parkähnlichem Vorgarten ihr eigen , aber sie würdigte es nicht, zehn Zimmer allein bewohnen zu können, denn oft in der Nacht fürchtete sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten, einem dänischen Honorarkonsul. Der hatte knapp vor dem Weltkrieg mit seinem vereiterten Blinddarm an die Himmelspforte geklopft und hatte ihr all sein Geld hinterlassen, und das ist sehr viel gewesen. Sie hatte ehrlich um ihn getrauert, und erst 1918 als beginnende Vierzigerin, hatte sie wiedermal Sehnsucht nach irgendeinem Mannsbild empfunden. Und 1927 blickte sie auf ein halbes Jahrhundert zurück. Der Kobler hingegen befand sich 1929 erst im siebenundzwanzigsten Lenze und war weder auffallend gebildet noch besonders fein. Auch ist er immer schon ziemlich ungeduldig gewesen -- drum hielt er es auch bei „Gebrüder Bär“ nur knapp den Winter über aus, obwohl der eine Bär immer wieder sagte: „Sie sind ein tüchtiger Verkäufer, lieber Kobler!“ Er verstand ja auch was vom Autogeschäft, aber er hatte so seine Schrullen, die ihm auf die Dauer der andere Bär nicht verzeihen konnte. So unternahm er u.a. häufig ausgedehnte Probefahrten mit Damen, die er sich im geheimen extra dazu hinbestellt hatte. Diese Damen traten dann vor den beiden Bären ungemein selbstsicher auf, so ungefähr, als könnten sie sich aus purer Laune einen ganzen Autobus kaufen. Einmal jedoch erkannte der andere Bär in einer solchen B

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müssen.N ] sich,N ] B2N ] BOpernsängerinN ] BeigenN ] BverstorbenenN ] Bhinterlassen,N ] Bgetrauert,N ] BauffallendN ] Bgewesen --N ] BüberN ] Bsagte: „SieN ] BgeheimenN ] B B

müssen[,]. sich\,/ [II.] |2.| Korrektur von fremder Hand: 2[.] [Hofo]|O|pernsängerin Korrektur von fremder Hand: [E]|e|igen verstorbe[h]|n|en Korrektur von fremder Hand: hinterlassen\,/ Korrektur von fremder Hand: getrauert\,/ korrigiert aus: auffalllend korrigiert aus: gewesen-\über/ korrigiert aus: sagte:„Sie Korrektur von fremder Hand: [G]|g|eheimen

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 7

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Dame eine Prostituierte, und als dann gegen Abend der Herr Kobler zufrieden von seiner Probefahrt zurückfuhr, erwartete ihn dieser Bär bereits 얍 auf der Straße vor dem Laden, riß die Tür auf und roch in die Limousine hinein. „Sie machen da sonderbare Probefahrten, lieber Kobler“, sagte er maliziös . Und der liebe Kobler mußte sich dann wohl oder übel selbständig machen. Zwar konnte er sich natürlich keinen Laden mieten und betrieb infolgedessen den Kraftfahrzeughandel in bescheidenen Grenzen, aber er war halt sein eigener Herr. Er hatte jedoch diese höhere soziale Stufe nur erklimmen können, weil er mit jener Hofopernsängerin befreundet war. Darüber ärgerte er sich manchmal sehr. Recht lange währte ja diese Freundschaft nicht. Sie zerbrach Ende August aus zwei Gründen. Die Hofopernsängerin fing plötzlich an widerlich rasch zu altern. Dies war der eine Grund. Aber der ausschlaggebende Grund war eine geschäftliche Differenz. Nämlich die Hofopernsängerin ersuchte den Kobler, ihr kaputtes Kabriolett mit Notsitz möglichst günstig an den Mann zu bringen. Als nun Kobler von dem Herrn Portschinger die ersten dreihundert Reichsmark erhielt, lieferte er der Hofopernsängerin in einer ungezogenen Weise lediglich fünfzig Reichsmark ab, worüber die sich derart aufregte, daß sie ihn sogar anzeigen wollte. Sie unterließ dies aber aus Angst, ihr Name könnte in die Zeitungen geraten, denn dies hätte sie sich nicht leisten dürfen, da sie mit der Frau eines Ministerialrats aus dem Kultusministerium, die sich einbildete singen zu können, befreundet war. Also schrieb sie ihrem Kobler lediglich, daß sie ihn für einen glatten Schurken halte, daß er eine Enttäuschung für sie bedeute und daß sie mit einem derartigen Subjekte als Menschen nichts mehr zu tun haben wolle. Und dann schrieb sie ihm einen zweiten Brief, in dem sie ihm auseinandersetzte, daß man eine 얍 Liebe nicht so einfach zerreißen könne wie ein Seidenpapier, denn als Weib bleibe doch immer ein kleines Etwas unauslöschlich in einem drinnen stecken. Der Kobler sagte sich: „Ich bin doch ein guter Mensch“ und telephonierte mit ihr. Sie trafen sich dann zum Abendessen draußen im Ausstellungsrestaurant. „Peter“, sagte die Hofopernsängerin. Sonst sagte sie die erste Viertelstunde über nichts. Kobler hieß zwar nicht Peter, sondern Alfons, aber „Peter klingt besser“ hatte die Hofopernsängerin immer schon konstatiert. Auch ihm selbst gefiel es besser, besonders wenn es die Hofopernsängerin aussprach, dann konnte man nämlich direkt meinen, man sei zumindest in Chikago. Für Amerika schwärmte er zwar nicht, aber er achtete es. „Das sind Kofmichs!“ pflegte er zu sagen. B

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Prostituierte,N ] LimousineN ] BProbefahrten, lieberN ] BmaliziösN ] BkaputtesN ] BReichsmarkN ] BReichsmarkN ] Bauseinandersetzte,N ] BEtwasN ] Bsich: „IchN ] Bman f manN ] BzumindestN ]

ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 8

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[Etas] |Etwas| korrigiert aus: sich:„Ich man1 direkt3 meinen4 nämlich2, man5 zu[ ]mindest

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 9

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Die Musik spielte sehr zart im Ausstellungsrestaurant, und die Hofopernsängerin wurde wieder ganz weich. „Ich will dir alles verzeihen, Darling, behalt nur getrost mein ganzes Kabriolett“, so lächelte sie ihm zu. Der Darling aber dachte: „Jetzt fällt’s mir erst auf, wie alt daß die schon ist.“ Er brachte sie dann nach Haus , ging aber nicht mit hinauf. Die Hofopernsängerin warf sich auf das Sofa und stöhnte: „Ich möcht mein Kabriolett zurück!“, und plötzlich fühlte sie, daß ihr verstorbener Gatte hinter ihr steht. „Schau mich nicht so an!“ brüllte sie. „Pardon! Du hast Krampfadern“, sagte der ehemalige Honorarkonsul und zog sich zurück in die Ewigkeit. B

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3 An der übernächsten Ecke der Schellingstraße wohnte Kobler möbliert im zweiten Stock links bei einer gewissen Frau Perzl, einer Wienerin, die zur Generation der Hofopernsängerin gehörte. Auch sie war Witwe, aber ansonsten konnte man sie schon in gar keiner Weise mit jener vergleichen. Nie kam es u. a. vor, daß sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten gefürchtet hätte, nur ab und zu träumte sie von Ringkämpfern. So hat sich mal solch ein Ringkämpfer vor ihr verbeugt, der hat dem Kobler sehr ähnlich gesehen und hat gesagt: „Es ist gerade 1904. Bitte, halt mir den Daumen, Josephin! Ich will jetzt auf der Stelle Weltmeister werden , du Hur!“ Sie sympathisierte mit dem Kobler, denn sie liebte u.a. sein angenehmes Organ so sehr, daß er ihr die Miete auch vierzehn Tag und länger schuldig bleiben konnte. Besonders seine Kragenpartie, wenn er ihr den Rücken zuwandte, erregte ihr Gefallen. Oft klagte sie über Schmerzen. Der Arzt sagte, sie hätte einen Hexenschuß, und ein anderer Arzt sagte, sie hätte eine Wanderniere, und ein dritter Arzt sagte, sie müsse sich vor ihrer eigenen Verdauung hüten. Was ein vierter Arzt 얍 sagte, das sagte sie niemandem . Sie ging gern zu den Aerzten, zu den groben und zu den artigen. B

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Ausstellungsrestaurant,N ] wurdeN ] BKabriolett“,N ] Bdachte: „JetztN ] Bfällt’sN ] Bnach HausN ] Bstöhnte: „IchN ] Bzurück!“,N ] BderN ] B3N ] BSchellingstraßeN ] BgewissenN ] BschonN ] BsolchN ] Bgesagt: „EsN ] BBitte,N ] BwerdenN ] BvierzehnN ] BTagN ] BBesondersN ] BHexenschuß,N ] BWanderniere,N ] BniemandemN ] BAerzten, zuN ]

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 11

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Auch ihr Seliger ist ja Mediziner gewesen, ein Frauenarzt in Wien. Er stammte aus einer angesehenen, leichtverblödelten , christlich-sozialen Familie und hatte sich im Laufe der Vorkriegsjahre sechs Häuser zusammengeerbt. Eines stand in Prag. Sie hingegen hatte bloß den dritten Teil einer Windmühle bei Brescia in Oberitalien mit in die Ehe gebracht, aber das hatte er ihr nur ein einziges Mal vorgeworfen. Ihre Großmutter war eine gebürtige Mailänderin gewesen. Der Doktor Perzl ist Anno Domini 1907 ein Opfer seines Berufes geworden. Er hatte sich mit der Leiche einer seiner Patientinnen infiziert. Wie er die nämlich auseinandergeschnitten hatte, um herauszubekommen, was ihr eigentlich gefehlt hätte, hat er sich selbst einen tiefen Schnitt beigebracht, so unvorsichtig hat er mit dem Seziermesser herumhantiert, weil er halt wieder mal besoffen gewesen ist. Es hat allgemein geheißen, wenn er kein Quartalssäufer gewesen wär, so hätt er eine glänzende Zukunft gehabt. Ferdinand Perzl, das einzige Kind, hatte die Kadettenschule absolvieren müssen, weil er als Gymnasiast nichts Vernünftiges hatte werden wollen. Er ist dann ein k. u. k. Oberleutnant geworden, und es ist ihm auch gelungen, den Weltkrieg in der Etappe zu verhuren. Aber nachdem Oesterreich Ungarn alles verspielt, und auch selbst allmählich alles, was er erben sollte, die sechs Häuser und das Drittel 얍 der Windmühle verloren hatte, ist er in sich gegangen und hat nicht mehr herumgehurt, sondern hat bloß zähneknirschend und mit der Faust in der Tasche zugeschaut, wie dies die Valutastarken taten. Er ist in ein Kontor gekommen und hatte seine liederliche Haltung während des großen Völkerringens in seinen Augen ausradiert , ist Antisemit geworden und hat die Kontoristin Frieda Klovac geheiratet, eine Blondine mit zwei linke Füß. Solch kleine Abnormitäten konnten ihn seit seiner Etappenzeit ganz wehmütig stimmen. Ueber diese Heiraterei hatte sich jedoch seine Mutter sehr aufgeregt, denn sie hatte ja immer schon gehofft, daß der Nandl mal ein anständiges Mädl aus einem schwerreichen Hause heiraten würde. Eine Angestellte war in ihren Augen keine ganz einwandfreie Persönlichkeit, besonders als Schwiegertochter nicht. Sie titulierte sie also nie anders als „das Mensch“, „die Sau“, „das Mistvieh“ und dergleichen. B

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leichtverblöde\l/ ten Windmühl[e]e Korrektur von fremder Hand: [a]|A|nno [d]|D|omini Patient[e]|i|n\en/ Korrektur von fremder Hand: Patientin\n/en hat[,]|te,| so\ /unvorsichtig hätt[e] Korrektur von fremder Hand: [K]|k|. u. [K]|k|. Korrektur von fremder Hand: geworden\,/ Korrektur von fremder Hand: ist\ /ihm verspielt\,/ [hatte,] korrigiert aus: sollte , ausradiert4 in1 seinen2 Augen3 [Nationalsozialist] |Antisemit| Korrektur von fremder Hand: Fried[e]|a| Solch[e] Korrektur von fremder Hand: anders[,] korrigiert aus: die korrigiert aus: Mistvieh“und Korrektur von fremder Hand: [d[r]gl.] |dergleichen.|

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Und je ärmer sie wurde, um so stärker betonte sie ihre gesellschaftliche Herkunft, mit anderen Worten: je härter sie ihre materielle Niederlage empfand, um so bewußter wurde sie ihrer ideellen Ueberlegenheit. Diese ideelle Ueberlegenheit bestand vor allem aus Unwissenheit und aus der natürlichen Beschränktheit des mittleren Bürgertums. Wie alle ihresgleichen haßte sie nicht die uniformierten 얍 und zivilen Verbrecher, die sie durch Krieg, Inflation, Deflation und Stabilisierung begaunert hatten, sondern ausschließlich das Proletariat, weil sie ahnte, ohne sich darüber klar werden zu wollen, daß dieser Klasse die Zukunft gehört. Sie wurde neidig, leugnete es aber ab. Sie fühlte sich zutiefst gekränkt und in ihren heiligsten Gefühlen verletzt, wenn sie sah, daß sich ein Arbeiter ein Glas Bier leisten konnte. Sie wurde schon rabiat, wenn sie nur einen demokratischen Leitartikel las. Es war kaum mit ihr auszuhalten am 1. Mai . Nur einmal hatte sie acht Jahre lang einen Hausfreund, einen Zeichenlehrer von der Oberrealschule im achten Bezirk. Der ist immer schon etwas nervös gewesen und hat immer schon so seltsame Aussprüche getan, wie: „ Na, wer ist denn schon der Tizian? Ein Katzlmacher!“ Endlich wurde er eines Tages korrekt verrückt, so wie sichs gehört. Das begann mit einem übertriebenen Reinlichkeitsbedürfnis. Er rasierte sich den ganzen Körper, schnitt sich peinlich die Härchen aus den Nasenlöchern und zog sich täglich zehnmal um, obwohl er nur einen Anzug besaß. Später trug er dann auch beständig ein Staubtuch mit sich herum und staubte alles ab, die Kandelaber, das Pflaster, die Trambahn, den Sockel des Maria-Theresia-Denkmals -- und zum Schluß wollte er partout die Luft abstauben. Dann wars aus. B

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um soN ] Worten:N ] Bum soN ] BUnwissenheit undN ] BDeflationN ] Bhatten,N ] BZukunftN ] Bgehört.N ] BesN ] Bverletzt, wennN ] BschonN ] BnurN ] B1. MaiN ] BlangN ] BschonN ] BNa,N ] BsichsN ] BbeständigN ] Bherum undN ] BMaria-Theresia-DenkmalsN ] BMaria-Theresia-Denkmals --N ] BwarsN ] B N] B B

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[Schließlich nannte Josephine Perzl nurmehr die paar altmodischen Möbel in der Schellingstraße ihr eigen.]

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K4/TS4 (Korrekturschicht)



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Doch lassen wir nun diese historisch-soziologischen Skizzen und kehren wir zurück in die Gegenwart, und zwar in die Schellingstraße. Knapp zehn Minuten bevor der Kobler nach Hause kam, läutete ein gewisser Graf Blanquez bei der Frau Perzl. Er sagte ihr, er wolle in Koblers Zimmer auf seinen Freund Kobler warten. Dieser Graf Blanquez war eine elegante Erscheinung und eine verpatzte Persönlichkeit. Seine Ahnen waren Hugenotten, er selbst wurde im Bayerischen Wald geboren. Erzogen wurde er teils von Piaristen, teils von einem homosexuellen Stabsarzt in einem der verzweifelten Kriegsgefangenenlager Sibiriens. Mit seiner Familie vertrug er sich nicht, weil er vierzehn Geschwister hatte. Trotzdem schien er meist guter Laune zu sein, ein grosser Junge, ein treuer Gefährte , jedoch leider ohne Hemmungen. Er liebte Musik, ging aber nie in die Oper, weil ihn jede Oper an die Hugenotten erinnerte, und wenn er an die Hugenotten dachte, wurde er melancholisch. Die Perzl ließ ihn ziemlich unfreundlich hinein, denn er war ihr nicht gerade sympathisch, da sie ihn im Verdacht hatte, daß er sich nur für junge Mädchen interessiert. „Wo hat der nur seine eleganten Krawatten her?“ überlegte 얍 sie mißtrauisch und beobachtete ihn durchs Schlüsselloch. Sie sah, wie er sich aufs Sofa setzte und in der Nase bohrte, das Herausgeholte aufmerksam betrachtete und es dann gelangweilt an die Tischkante schmierte. Dann starrte er Koblers Bett an und lächelte zynisch. Hierauf kramte er in Koblers Schubladen, durchflog dessen Korrespondenz und ärgerte sich, daß er nirgends Zigaretten fand, worauf er sich aus Koblers Schrank ein Taschentuch nahm und sich vor dem Spiegel seine Mitesser ausdrückte. Er war eben, wie bereits gesagt, leider hemmungslos. Er kämmte sich gerade mit Koblers Kamm, als dieser die Perzl am Schlüsselloch überraschte. „Der Herr Graf sind da“, flüsterte sie. „Aber ich an Ihrer Stell würd ihm das schon verbieten. Denken Sie sich nur, kommt er da gestern nicht herauf mit einem Mensch, legt sich einfach in Ihr Bett damit, gebraucht Ihr Handtuch und ist wieder weg damit! Das geht doch entschieden zu weit, ich tät das dem Herrn Grafen mal sagen!“ B

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

„Das ist gar nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen“, meinte Kobler. „Der Graf ist nämlich leicht gekränkt, er könnt das leicht falsch auffassen, und ich muß mich mit ihm vertragen, weil ich oft geschäftlich mit ihm zusammenarbeiten muß. An dem Handtuch ist mir zwar schon etwas aufgefallen, wie ich mir heut das Gesicht abgewischt hab, aber eine Hand wäscht halt die andere.“ Die Perzl zog sich gekränkt in ihre Kü-얍che zurück und murmelte was Ungünstiges über die heutigen Kavaliere. Als der Graf den Kobler erblickte, gurgelte er gerade mit dessen Mundwasser und ließ sich nicht stören. „ Ah servus!“ rief er ihm zu. „Verzeih, aber ich hab grad so einen miserablen Geschmack im Mund. Apropos: Ich weiß schon, du hast den Karren verkauft. Man gratuliert!“ „Danke“, sagte Kobler kleinlaut und wartete verärgert, daß man ihn anpumpt. „Woher weiß denn das schon jeder Gauner, daß ich den Portschinger betrogen hab?“ fragte er sich verzweifelt. Er überlegte: „Pump mich nur an, aber dann schlag ich dir auf dein unappetitliches Maul!“ Aber es kam ganz im Gegenteil. Der Graf legte mit einer chevaleresken Geste zehn Reichsmark auf den Tisch. „Mit vielem Dank zurück“, lächelte er verbindlich und gurgelte weiter, als wäre nichts besonderes passiert. „Du hast es scheints vergessen“, bemerkte er dann noch so nebenbei, „daß du mir mal zehn Mark geliehen hast.“ „Was für ein Tag!“ dachte Kobler. „Ich kann es dir heut leicht zurückzahlen“, fuhr der Graf fort, „weil ich heut nacht eine Erbschaft machen werd. Mein Großonkel, der um zehn Monate jünger ist als ich, liegt nämlich im Sterben. Er hat den Krebs. Der Aermste leidet fürchterlich, Krebs ist bekanntlich unheilbar, wir wissen ja noch gar nicht, ob das ein Bazillus ist oder eine Wucherung. Er wird die Nacht nicht überleben, das steht fest. Wie er von seinem Leiden erlöst ist, fahr ich nach Zoppot. Nein, nicht durch Polen, oben rum.“ „Gehört Zoppot noch zu Deutschland?“ erkundigte sich Kobler. 얍 B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

„Nein, Zoppot liegt im Freistaat Danzig, der direkt dem Völkerbund untergeordnet ist“, belehrte ihn der Graf. „Uebrigens, wenn ich du wär, würd ich jetzt auch wegfahren, Du kannst deine sechshundert gar nicht besser anlegen. Wenn du mir folgst, fährst du einfach auf zehn Tag in ein Luxushotel, lernst dort eine reiche Frau kennen, und alles weitere wird sich dann sehr leger abspielen, du hast ja ein gutes Auftreten. Du kannst für dein ganzes Leben die märchenhaftesten Verbindungen bekommen, garantiert! Du kennst doch den langen Kammerlocher, der wo früher bei den Ulanen war, den Kadettaspiranten, der wo in der Maxim-Bar die Zech geprellt hat? Der ist mit ganzen zwahundert Schilling nach Meran gefahren, hat sich dort in ein Luxushotel einlogiert, hat noch am gleichen Abend eine Aegypterin mit a paar Pyramiden zum Boston engagiert, hat mit ihr geflirtet und hat sie dann heiraten müssen, weil er sie kompromittiert hat. Jetzt gehört ihm halb Aegypten. Und was hat er gehabt? Nix hat er gehabt. Und was ist er gewesen? Pervers ist er gwesen ! Lange Seidenstrümpf hat er sich angzogen und hat seine Haxen im Spiegel betrachtet. Ein Narziss!“ „Das muß ich mir noch durch den Kopf gehen lassen, wie ich am besten mein Geld ausgib“, meinte Kobler nachdenklich. „Ich bin kein Narziss“, fügte er hinzu. Die langen Haxen des Kammerlocher, das Luxushotel und die Pyramiden hatten ihn etwas verwirrt. Mechanisch bot er dem Grafen eine Achtpfennigzigarette an. „Das sind Mazedonier“, sage der Graf. „Ich nehm mir gleich zwei.“ Sie rauchten. „Ich fahr bestimmt nach Zoppot“, wiederholte der Graf. Es schlug 얍 elf. „Es ist schon zwölf“, sagte der Graf, denn er war sehr verlogen. Dann wurde er plötzlich nervös. „Also ich fahr nach Zoppot“, wiederholte er sich abermals. „Ich werd dort spielen, ich hab nämlich ein Spielsystem, das basiert auf den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Du setzt immer auf die Zahl, die am wahrscheinlichsten herauskommt. Du mußt wahrscheinlich gewinnen. Das ist sehr wahrscheinlich. Apropos wahrscheinlich: Gib mir doch deine zehn Mark wieder retour, es ist mir gerade eingefallen, daß ich sie dir lieber morgen retour gib . Ich krieg sonst meine B

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Wäsche nicht raus. Ich hab mir schon zuvor ein Taschentuch von dir borgen müssen.“ B

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Kobler rasierte sich gerade, und die Perzl brachte ihm das neue Handtuch. „Ende gut, alles gut“, triumphierte sie. „Ich bin Ihnen direkt dankbar, daß Sie diesen 얍 Grafen endlich energisch hinauskomplimentiert habn! Ich freu mich wirklich sehr, daß ich den Strizzi nimmer zu sehn brauch!“ „Halts Maul, Perzl!“ dachte Kobler und setzte ihr spitz auseinander, daß sie den Grafen total verkenne, man müsse es ihm nur manchmal sagen, daß er ein unmöglicher Mensch sei, sonst würd er sich ja mit sich selber nicht mehr auskennen. Im Moment sei er freilich gekränkt, aber hernach danke er einem dafür. -- „So und jetzt bringens mir etwas heißes Wasser!“ sagte er und schien keinen Widerspruch zu dulden. Sie brachte es ihm, setzte sich dann auf den kleinsten Stuhl und sah ihm aufmerksam zu. Sich rasierenden Männern hatte sie schon immer vieles verzeihen müssen. Das lag so in ihrem Naturell. Er hingegen beachtete sie kaum, da er es schon gar nicht mochte, daß sie mit ihrem Rüssel in seinem Privatleben herumwühlte wie eine Wildsau im Morast. „Also einen Großonkel hab ich nie gehabt“, ließ sie sich schüchtern wieder vernehmen, „aber wie mein Stiefbruder gestorben ist . . . “ Kobler unterbrach sie ungeduldig: „Also das mit dem sterbenden Großonkel war doch nur Stimmungsmache, damit ich ihm leichter was leih! Der Graf ist nämlich sehr raffiniert. Er ist aber auch sehr vergeßlich, bedenken Sie, daß er im Krieg verschüttet war. Er ist doch nicht mehr der Jüngste. Heutzutag muß man über Leichen gehen, wenn man was erreichen will. Ich geh aber nicht über Leichen, weil ich nicht kann . So und jetzt bringens mir etwas kaltes Wasser!“ B

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Sie brachte ihm auch das kalte Wasser und 얍 betrachtete treuherzig seinen Rükken. „Darf man ein offenes Wort sagen, Herr Kobler?“ -- Kobler stutzte und fixierte sich selbst im Spiegel. „Offen?“ überlegte er. „ Offen? Aber dann kündig ich zum ersten Oktober!“ -- Langsam wandte er sich ihr zu. „Bitte !“ sagte er offiziell. „Sie wissens ja jetzt, wie hoch ich den Herrn Grafen einschätz, aber trotzdem hat er vorhin in einem Punkt recht gehabt , nämlich was das Reisen betrifft. Wenn ich jetzt Ihr Geld hätt, ließ ich sofort alles liegen, wies grad liegt, nur naus in die Welt!“ „Also das ist der ihr offenes Wort“, dachte Kobler beruhigt und wurde auffallend überlegen: „Sagen Sie, Frau Perzl, warum horchen Sie denn immer, wenn ich Besuch empfange?“ „Ich hab doch nicht gehorcht!“ protestierte die Perzl und gestikulierte sehr. „Ich war doch grad am Radio, aber ich hab schon kein Ton gehört von dem klassischen Quartett, so laut haben sich die beiden Herren die Meinung gesagt. Könnens mir glauben, ich hätt mich lieber an der Musik erbaut, als Ihr urdanäres Gschimpf mitanghört!“ „Schon gut, Frau Perzl, so war es ja nicht gemeint“, trat Kobler den Rückzug an, während sie sich als verfolgte Unschuld sehr gefiel. „Wenn ich an all die fremden Länder denk“, sagte sie, „so hebts mich direkt von der Erden weg, so sehr sehn ich mich nach Abbazzia .“ Kobler ging auf und ab. „Was Sie da über die weite Welt reden“ , sagte er, „interessiert mich schon sehr. Nämlich ich hab mir schon oft gedacht, daß man das Ausland kennenlernen soll, um seinen Horizont zu erweitern. Besonders für mich als jungen Kaufmann wärs schon sehr arg, wenn ich hier nicht rauskommen 얍 tät, denn man muß sich mit den Verkaufsmethoden des Auslands vertraut machen. Also wie zum Beispiel ein Kabriolett mit Notsitz in Polen und wie das gleiche in Griechenland verkauft wird. Das werden zwar oft nur Nuancen sein, aber auf solche Nuancen kommts halt oft an. Es wird ja immer schwerer mit dem Dienst am Kunden. Die Leut werden immer anspruchsvoller und“ -- er stockte, denn plötzlich durchzuckte es ihn schaurig: „Wer garantiert mir, daß ich noch einen Portschinger find?“ B

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Niemand garantiert dir , Alfons Kobler, kein Gott und kein Schwein“ , so ging es in ihm zu. Er starrte bekümmert vor sich hin. „ Nichts ist der Kundschaft gut und billig genug“, meinte er traurig und lächelte resigniert. „ Sie werden im Ausland sicher viel lernen, was Sie dann opulent verwerten können“, tröstete ihn die Perzl. „Was Sie nur allein an Kunstschätzen sehn werden! In Paris den Louvre, und im Dogenpalast hängt das Porträt eines alten Dogen, der schaut einen immer an, wo man auch grad steht. Aber besonders Florenz! Und das Forum romanum in Rom! Ueberhaupt die Antike!“ Doch Kobler wehrte ab: „Also für die Kunst hab ich schon gar nichts übrig! Haltens mich denn für weltfremd? Dafür interessieren sich doch nur die Weiber von den reichen Juden, wie die Frau Autobär, die von der Gotik ganz weg war und sich von einem Belletristen hat bearbeiten lassen!“ Die Perzl nickte deprimiert. „Früher war das anders“, sagte sie. „Bei mir muß alles einen Sinn haben“, 얍 konstatierte Kobler. „Habens das ghört, was der Graf über die Ägypterin mit den Pyramiden gewußt hat? Sehens, das hätt einen Sinn!“ Die Perzl wurde immer deprimierter. „Ihnen tät ichs von Herzen gönnen, lieber Herr!“ rief sie verzweifelt. „Hätt doch nur auch mein armer Sohn einen Sinn ghabt und hätt sich so eine reiche Ägypterin rausgsucht, statt das Mistvieh von einer Tippmamsell, Gott verzeih ihr die Sünd!“ Sie schluchzte. „Kennen Sie Zoppot?“ fragte Kobler. „Ich kenn ja nur alles von vor dem Krieg! Mein Mann selig ist viel mit mir rumgefahren. Sogar auf den Vesuv hat er mich nauf. Oh, wie möcht ich mal wieder hinauf!“ Sie weinte. „Beruhigen Sie sich“, sagte Kobler. „Was nicht geht, geht nicht!“ „Damit tröst ich mich auch“, wimmerte die Perzl. Dann nahm sie sich zusammen. „Pardon, daß ich Sie molestiert hab“, lächelte sie geschmerzt. „Aber wenn ich Sie wär, würd ich morgen direkt nach Barcelona fahren, dort ist doch jetzt grad eine BB

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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Weltausstellung. Da müssens in gar kein Luxushotel, da könnens solche Ägypterinnen leicht in den Pavillonen kennenlernen , das ist immer so in Weltausstellungen. In der Pariser Weltausstellung hab ich mal meinen Seligen verloren, und spricht mich ein eleganter Herr an, und wie ich ihn anschau, macht er seinen Ulster auf und hat nichts darunter an, ich erwähn das 얍 nur nebenbei.“ B

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ÄgypterinnenN ] PavillonenN ] BkennenlernenN ] Bverloren,N ] Ban,N ] B6N ] BdennN ] Bwird. ErN ] BBarcelonaN ] BÄgypterinnenN ] BwäreN ] Bsparen,N ] BÄgypterinnenN ] BEventualität),N ] BsagteN ] Bsich. --N ] BwärN ] Bsprechen,N ] BweißenN ] B N] BBart. DieN ] BAnspruch, erN ]

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Kobler betrat ein amtliches Reisebüro, denn er wußte, daß einem dort umsonst geantwortet wird. Er wollte sich über Barcelona erkundigen und wie man es am einfachsten erreichen tat. Zoppot hatte er nämlich fallen lassen, da er von der Perzl überzeugt worden war, daß an einem Orte, wo die ganze Welt ausstellt, wahrscheinlich eine bedeutend größere Auswahl Ägypterinnen anzutreffen wäre als in dem luxuriösesten Luxushotel. Außerdem würde er dabei auch die ganzen Luxushotelkosten sparen, und wenn es nichts werden sollte mit den Ägypterinnen (was er zwar nicht befürchtete, aber er rechnete mit jeder Eventualität), so könnte er seine Kenntnisse im Automobilpavillon vervollständigen und das Automobilverkaufswesen der ganzen Welt auf einmal überblicken. „Ich werd das geschäftliche mit dem Nützlichen verbinden“, sagte er sich. -In dem amtlichen Reisebüro hingen viele Plakate mit Palmen und Eisbergen, und 얍 man hatte das Gefühl, als wär man schon nicht mehr in der Schellingstraße. Fast jeder Beamte schien mehrere Sprachen zu sprechen, und Kobler horchte andächtig. Er stand an dem Schalter „Ausland“. Vor ihm standen bereits zwei vornehme Damen und ein alter Herr mit einem weiBart. Die Damen sprachen russisch, sie waren Emigrantinnen. Auch der Beßen amte war ein Emigrant. Die Damen nahmen ihn sehr in Anspruch, er mußte ihnen B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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sagen, wo gegenwärtig die Sonne scheint, am Lido, in Cannes oder in Deauville. Sie würden zwar auch nach Dalmatien fahren, meinten die Damen, auf die Preise käm’s ja nicht an, auch wenn es in Dalmatien billiger wäre. Der alte Herr mit dem gepflegten weißen Bart war ein ungarischer Abgeordneter. Er nannte sich Demokrat und las gerade in seiner ungarischen Zeitung, daß die Demokratie Schiffbruch erleide, und nickte beifällig. Die eine Dame streifte Kobler mit dem Blick. Sie streifte ihn sehr schön, und Kobler ärgerte sich, dass er kein Emigrant sei , während sich der bärtige Demokrat über Macdonald ärgerte. „Man sollte jeden Demokraten ausrotten“, dachte er. Endlich gingen die beiden Damen. Der Beamte schien sie sehr gut zu kennen , denn er küßte der einen die Hand. Sie kamen ja auch jede Woche und erkundigten sich nach allerhand Routen. Gefahren sind sie aber noch nirgends 얍 hin, denn sie kamen mit ihrem Geld grad nur aus. Sie holten sich also jede Woche bloß die Prospekte und das genügte ihnen. Mit der, deren Hand der Beamte küßte, paddelte er manchmal am Wochenend. „Ich möchte endlich nach Hajduszoboszló mit Schlafwagen“, sagte der mit dem Bart ungeduldig und sah den Kobler kriegerisch an. „Was hat er nur“? dachte Kobler. „Ob das auch ein Demokrat ist?“ dachte der Demokrat. „Nach Hajduszoboszló kann ich Ihnen leider keine Karte geben“, sagte der Beamte. „Ich hab sie nur bis Budapest hier.“ „ Skandal“, entrüstete sich der Bart. „Ich werde mich bei meinem guten Freunde, dem königlich ungarischen Handelsminister beschweren!“ „Ich bin Beamter“, sagte der Beamte. „Ich tu meine Pflicht und kann nichts dafür. Welche Klasse wollen Sie?“ Der mit dem Bart sah ihn unsagbar wehmütig und gekränkt an. „Erster natürlich“, nickte er traurig. „Armes Ungarn!“ fiel es ihm ohne jeden Zusammenhang ein. Da trat ihm Kobler zufällig auf das Hühnerauge. „Was machen Sie da?!“ brüllte der Bart. „Verzeihung“, sagte Kobler. „Also das ist sicher ein Demokrat!“ brummte der Demokrat auf ungarisch. „Bitte gedulden Sie sich einige Augenblicke, ich muß erst nachfragen lassen, ob es noch Budapester Schlafwagenplätze gibt“, sagte der Beamte und wandte sich dann an Kobler: „Wohin ?“ „Nach Barcelona “, antwortete dieser , als wär das in B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

der Nachbarschaft. Der Bart horchte auf. „ Barcelona“, überlegte er, „war vor Primo di Rivera eine Zentrale der 얍 anarchistischen Bewegung. Er ist mir auf das Hühnerauge getreten, und dritter Klasse fährt er auch!“ „Barcelona ist weit“ , sagte der Beamte, und Kobler nickte, auch der Bart nickte unwillkürlich und ärgerte sich darüber. „Barcelona ist sehr weit“, sagte der Beamte. „Wie wollen Sie fahren? Ueber Schweiz oder Italien? Sie fahren zur Weltausstellung? Dann passen Sie auf: fahren Sie hin durch Italien und retour durch die Schweiz. Preis und Entfernung sind egal, ja. Sie fahren hin und her dreiundneunzig Stunden, D-Zug natürlich. Sie brauchen das Visum nach Frankreich und Spanien. Wird besorgt! Nach Oesterreich, Italien und Schweiz brauchen Sie kein Visum ! Wenn Sie hier abfahren, sind Sie an der deutschen Grenze um 10.32 und in Innsbruck um 13.05. Ich schreib’s Ihnen auf. Ab Innsbruck 13.28. An Brennero 15.23. Ab Brennero 15.30. An Verona 20.50. Ab Verona 21.44 . An Milano 0.13 . Ab Milano 3.29 . Ab Genova 7.04. An Ventimiglia 11.27. An Marseille 18.40. An spanische Grenze Portbou 5.16. An Barcelona 10.00. Ab Barcelona 11.00.“ Und so schrieb ihm der Beamte auch noch alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Rückfahrt auf: Cerbéres, Tarascon, Lyon, Genf, Bern, Basel , und zwar hatte er diese Zahlen alle im Kopf. „Also das ist ein Gedächtniskünstler“ , dachte Kobler . „Ein Zirkus!“ „Und das kostet dritter Klasse hin und her nur einhundertsiebenundzwanzig Mark vierundfünfzig Pfennig“, sagte der Zirkus. Hin und her?! Kobler war begeistert. „Nur? Nicht möglich!“ staunte er. 얍 B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

„ Doch“, beruhigte ihn rasch der Beamte. „Deutschland ist bekanntlich mit das teuerste europäische Land, weil es den Krieg verloren hat. Frankreich und Italien sind bedeutend billiger, weil sie eine Inflation haben. Nur Spanien und die Schweiz sind noch teurer als Deutschland.“ „Sie vergessen Rumpfungarn“, mischte sich der Bart plötzlich ins Gespräch. „Rumpfungarn ist auch billiger als Deutschland, obwohl es alles im Kriege verloren hat. Es ist zerstückelt worden, meine Herren ! Serbien und Kroatien sind dagegen noch billiger als Rumpfungarn, weil Amerika den Krieg gewonnen hat, obwohl militärisch wir den Krieg gewonnen haben!“ „Am End ist es anscheinend ganz wurscht, wer so einen Krieg gewinnt“, sagte Kobler. Der Bart blitzte ihn empört an. „ Ha, das ist ein Bolschewik!“ dachte er. „Die Neutralen sind am besten dran, das sind heut die teuersten Länder“, schloß der Beamte die Debatte. Kobler tat es aufrichtig leid, daß nicht auch Spanien und die Schweiz in den Weltkrieg verwickelt worden waren. B

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Am Abend bevor Kobler zur Weltausstellung fuhr, betrat er nochmals sein Stammlokal in der Schellingstraße, das war ein Café-Restaurant und nannte sich „Schellingsalon“. Er betrat es um zu imponieren und bestellte sich einen Schweinsbraten mit gemischtem Salat. „Sonst noch was?“ fragte die Kellnerin. „Ich fahr nach Barcelona“, sagte er. „ Geh, wer werd denn so blöd sein!“ meinte sie und ließ ihn sitzen. Da ging der Herr Kastner an seinem Tisch vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, rief ihm der Kobler zu, aber der Herr Kastner war schon längst vorbei. Auch der Herr Dünzl ging an ihm vorbei. „Sie fahren nach Barcelona?“ fragte der Dünzl bissig. „In diesen ernsten Zeiten, junger Mann … “ „Kusch!“ unterbrach ihn Kobler verstimmt. B

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Auch der Graf Blanquez ging vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, sagte Kobler. „Seit wann denn?“ erkundigten sich der Graf. „Seit heute.“ „Also dann steigst mir noch heut auf den Hut!“ sagten der Graf. Und auch der Herr Schaal ging vorbei. „Ich 얍 fahr nach Barcelona“, meinte Kobler. „Glückliche Reise!“ sagte der brave Herr Schaal und setzte sich an einen andern Tisch. Kobler war erschüttert, denn er wollte ja imponieren, und es ging unter keinen Umständen. Geduckt schlich er ins Klosett. „Zu zehn oder fünfzehn?“ fragte ihn die zuvorkommende alte Rosa. „Ich fahr nach Barcelona“, murmelte er. „Was fehlt Ihnen?!“ entsetzte sich die gute Alte, aber Kobler schwieg beharrlich, und die Alte machte sich so ihre Gedanken. Als er dann wieder draußen war, schielte sie sorgenvoll durch den Türspalt, ob er sich auch ein Bier bestellt hätte. Ja, er hatte sich sogar bereits das zweite Glas Bier bestellt, so hastig hatte er das erste heruntergeschüttet, weil er niemandem imponieren konnte. „Es ist schon alles wie verhext!“ sagte er sich. Da kam sie, das Fräulein Anna Pollinger. „Ich fahr nach Barcelona“, begrüßte er sie. „Wieso?“ fragte sie und sah ihn erschrocken an. Er sonnte sich in ihrem Blick. „Dort ist jetzt eine internationale Weltausstellung“, lächelte er gemein, und das tat ihm sogar wohl, obzwar er sonst immer anständig zu ihr gewesen ist. Er half ihr überaus aufmerksam aus dem Mantel und legte ihn ordentlich über einen Stuhl, dabei hatte er jedoch einen sehr höhnischen Gesichtsausdruck. Sie nahm neben ihm Platz und beschäftigte sich mit einem wackelnden Knöpfchen auf ihrem Aermel. Das Knöpfchen war nur zur Zierde 얍 da. Sie riß es ab. Dann erst sah sich Anna in dem Lokale um und nickte ganz in Gedanken dem Herrn Schaal zu, der sie gar nicht kannte. „Nach Barcelona“, sagte sie, „da tät ich schon auch gern hinfahren.“ „Und warum fährst du nicht“, protzte Kobler. „Frag doch nicht so dumm“, sagte sie.-B N

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Kennt ihr das Märchen von Fräulein Pollinger? Vielleicht ist noch einer unter euch , der es nicht kennt, und dann zahlt sichs ja schon aus, daß ihrs alle nochmal hört. Also: Es war einmal ein Fräulein , das fiel bei den besseren Herren nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur hundertzehn Mark und hatte nur eine Durchschnittsfigur und ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett. Sie arbeitete im Kontor einer Kraftwagenvermietung, doch konnte sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie ab und zu auf einem Motorrad hinten mitfahren, aber dafür erwartete man auch meistens was von ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und verschloß sich den Herren nicht. Sie ließ aber immer nur einen drüber, das hatte ihr das Leben bereits beigebracht. Oft liebte sie zwar gerade diesen einen nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte, im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen, und wenn sie dies trotzdem tat, wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade mal mußten. Oft wurde sie dann in 얍 den Anfangssätzen boshaft und tückisch, aber bald ließ sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in ihrem Leben einerlei, denn das mußte es ja sein, sonst hätte sie’s nicht ausgehalten. Nur wenn sie unpäßlich war, dachte sie intensiver an sich. Einmal ging sie mit einem Herrn beinahe über ein Jahr, der hieß Fritz. Ende Oktober sagte sie: „Wenn ich ein Kind bekommen tät, das wär das größte Unglück.“ Dann erschrak sie über ihre Worte. „Warum weinst du?“ fragte Fritz. „Ich hab es nicht gern, wenn du weinst! Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt BB

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einen Doppelfeiertag, und wir machen eine Bergtour.“ Und er setzte ihr auseinander, daß bekanntlich die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, daß sie kein Kind kriegt. Sie stieg dann mit Fritz auf die westliche Wasserkarspitze, 2037 Meter hoch über dem fernen Meer. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon ganz Nacht , aber droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt, und Anna sagte: „Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.“ Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein. Seit dieser Bergtour hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch nie wieder ganz gesund, und ab und zu tat ihr’s im Unterleib schon ganz verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch. – Mitte September saß sie also neben Kobler im Schellingsalon und bestellte sich 얍 lediglich ein kleines dunkles Bier. Ihr Abendbrot, zwei Buttersemmeln, hatte sie bereits in der Kraftwagenvermietung zu sich genommen, denn sie hatte dort an diesem Tag ausnahmsweise bis abends neun Uhr zu tun. Sie mußte dies durchschnittlich viermal wöchentlich ausnahmsweise tun. Für diese Ueberstunden bekam sie natürlich nichts bezahlt, denn sie hatte ja das Recht , jeden Ersten zu kündigen, wenn sie arbeitslos werden wollte. „Gib mir was von deinem Kartoffelsalat“, sagte sie plötzlich, denn plötzlich musste sie noch etwas verzehren. „ Bitte“, meinte Kobler, und es war ihm unvermittelt, als müßte er sich eigentlich schämen, daß er nach Barcelona fährt . „Es wird sehr anstrengend werden“ , sagte er. B

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„Dann wird es also heut nacht nichts“, sagte sie. „ Nein“, sagte er. B

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Der D-Zug, der den Kobler bis über die 얍 deutsche Grenze bringen sollte, fuhr pünktlich ab, denn der Herr mit der roten Dienstmütze hob pünktlich den Befehlsstab. „Das ist die deutsche Pünktlichkeit!“ hörte er jemanden sagen mit hannoverschem Akzent . Da stand auf dem Bahnsteig u.a. eine junge Kaufmannsgattin und winkte begeistert ihrem Gatten im vorderen Wagen nach, der in die Fremde fuhr, um dort einen andern Kaufmann zu übervorteilen. Kobler drängte sich dazwischen. Er beugte sich aus dem Fenster und nickte der jungen Frau gnädig zu. Die verzog aber das Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jetzt ärgert sie sich“, freute sich Kobler und mußte an das Fräulein Pollinger denken. „Auch Anna wird sich jetzt ärgern“, dachte er weiter, „es ist nämlich grad acht, und da beginnt ihr Büro. Ich würd mich auch ärgern, wenn jetzt mein Büro beginnen tät, es geht doch nichts über die Selbständigkeit. Was wär das für ein Unglück, wenn alle Leut Angestellte wären, wie sich das der Marxismus ausmalt – als Angestellter hätt ich mich doch niemals so angestrengt , den Portschinger zu betrügen. Wenn das Kabriolett Staatseigentum gewesen wär, dann hätt ichs halt einfach einschmelzen lassen, wie sichs eigentlich gehört hätt. Aber durch diese drohende Sozialisierung würden halt viele Werte brachliegen , die sich noch verwerten ließen. Das wär nicht anders, weil halt die persönliche Initiative zerstört wär.“ Er setzte sich schadenfroh auf seinen Fensterplatz und fuhr stolz durch die tristen Vororts-얍bahnhöfe , an den Vorortsreisenden vorbei, die ohne jede Bewegung auf die B

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Vorortszüge warteten. Dann hörte die Stadt allmählich auf. Die Landschaft wurde immer langweiliger, und Kobler betrachtete gelangweilt sein Gegenüber, einen Herrn mit einem energischen Zug, der sehr in seine Zeitung vertieft war. In der Zeitung stand unter der Ueberschrift „Nun erst recht!“ , daß ein Deutscher, der sagt , er sei stolz, daß er ein Deutscher sei, denn wenn er nicht stolz wäre, würde er ja trotzdem auch nur ein Deutscher sein, also sei er natürlich stolz, dass er ein Deutscher wäre -- „ein solcher Deutscher“, stand in der Zeitung, „ist kein Deutscher, sondern ein Asphaltdeutscher.“ Auch Kobler hatte sich mit Reiselektüre versorgt, nämlich mit einem Magazin. Da schulterten im Schatten photomontierter Wolkenkratzer ein Dutzend Mädchen ihre Beine, als wären’s Gewehre, und darunter stand: Der Zauber des Militarismus und, daß es eigentlich also gespenstisch wirke, daß Girls auch Köpfe hätten. Und dann sah Kobler auch noch einen ganzen Rudel weiblicher Schönheiten -- die eine stand auf einer dressierten Riesenschildkröte und lächelte sinnlich. Sonst hatte er keine Lektüre bei sich. Nur noch einige Wörterbücher, ganz winzig bedruckte mit je zwölftausend Wörtern . Deutsch-Italienisch , Français-Allemand , Deutsch-Französisch, Espanol- Aleman usw. Auch eine Broschüre hatte er sich zugelegt mit Redensarten für den Reisegebrauch in Spanien ( mit genauer Angabe der Aussprache), herausgegeben von einem Studienrat in Erfurt , dessen Tochter immer noch hoffte, von einem reichen 얍 Deutschargentinier geheiratet zu werden, der ihr dies in der Inflation mal versprochen hatte. Nun beklagte der Studienrat in der Einleitung, es sei tief betrüblich, daß man in deutschen Landen so wenig spanisch lerne, wo doch die spanische Welt arm an Industrie sei, während sie uns Deutschen die mannigfachsten Naturprodukte liefere. Diese Tatsachen würden von der jungen Handelswelt noch lange B

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nicht genügend gewürdigt. Und dann zählte der Studienrat die Länder auf, in denen spanisch gesprochen wird: zum Beispiel in Spanien und in Lateinamerika, ohne Brasilien. Kobler las : Ich bin hungrig, durstig. Tengo hambre, sed . Aussprache: tengo ambrre, ssed. Wie heißt das auf spanisch? Gomo se llama eso en castellano ? Aussprache: komo sse ljama ehsso en kasteljano? Wollen Sie freundlichst langsamer sprechen? Tenga ustéh la bondád de ablárr máss despászio? Wiederholen Sie bitte das Wort. Sie müssen etwas lauter sprechen. Er führt eine stolze Sprache, aber er drückt sich gut aus. Kofferträger, besorgen Sie mir mein Gepäck. Ich habe einen großen Koffer, einen Handkoffer, ein Plaid und ein Bund Stöcke und Regenschirme. Ist das dort der richtige Zug nach Figueras? Geben Sie mir trockene Bettwäsche. Bitte Zwiebeln. Jetzt ist sie richtig. Seit längerer Zeit entbehren wir Ihre Aufträge. Was bin ich schuldig? Sehr wohl, mein Herr, ich bleibe alles schuldig. Was haben Sie? Nichts. Wollen Sie zahlen? Nein. Sie wollen nicht zahlen? Nein. Es scheint, dass Sie mich verstanden haben. Auf Wiedersehen also! Grüßen Sie Ihre Frau Gemahlin (Ihren Herrn 얍 Gemahl)! Tausend Dank! Glückliche Reise! Gott schütze Sie! „Was lesens denn da“, hörte er plötzlich seinen Nachbar fragen, der dem Herrn Portschinger ähnlich sah. Er hatte bereits seit einiger Zeit mißtrauisch in das Werk des Erfurter Studienrats geschielt. Er hieß Thimoteus Bschorr. „Ich fahr nach Barcelona“, erwiderte Kobler lakonisch und wartete gespannt auf den Erfolg dieser Worte. Sein Gegenüber mit dem energischen Zug hob ruckartig den Kopf, starrte ihn haßerfüllt an und las dann zum zwanzigstenmal die Definition des Asphaltdeutschen. B

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auf, inN ] BeispielN ] BlasN ] Blas: IchN ] Bhambre, sedN ] BAussprache: tengoN ] BGomoN ] BesoN ] BcastellanoN ] Bustéh laN ] BustéhN ] Bbondád deN ] Bdespászio?N ] BSprache,N ] BKofferträger,N ] BHandkoffer,N ] BeinN ] BIhreN ] Bwohl,N ] BHerr,N ] Bzahlen? f SieN ] Bscheint, dassN ] BGemahlin (IhrenN ] BReise! GottN ] Bda“,N ] BseinenN ] Bfragen, derN ] BKobler lakonischN ]

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scheint\,/ da[ß]|ss| korrigiert aus: Gemahlin(Ihren korrigiert aus: Reise!Gott Korrektur von fremder Hand: da“\,/ Korrektur von fremder Hand: s[ ]einen korrigiert aus: fragen ,der Kobler\ /lakonisch

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In der Ecke saß noch ein dritter Herr, aber auf den schienen Koblers Reisepläne gar keinen Eindruck zu machen. Er lächelte nur müde, als wäre er bereits einigemal um die Erde gefahren. Der Kragen war ihm zu weit. „Alsdann fahrens nach Italien“, konstatierte der Herr Bschorr phlegmatisch. „Barcelona liegt bekanntlich in Spanien“, meinte Kobler überlegen. „Des is gar net so bekanntlich !“ ereiferte sich der Bschorr. „Bekanntlich hätt i gschworn, daß des Barcelona bekanntlich in Italien liegt!“ „Ich fahr durch Italien nur lediglich durch“, sagte Kobler und strengte sich an, genau nach der Schrift zu sprechen, um den Thimoteus Bschorr zu reizen. Aber der ließ sich nicht. „Da werdens lang brauchen nach Barcelona hinter“, meinte er stumpf. „Sehr lang. Da beneid ich Sie scho gar net. Ueberhaupts muß Spanien recht drecket sein. Und eine heiße Zone. Was machens denn in Madrid?“ „Madrid werde ich links liegen lassen“, erklärte Kobler. „Ich möcht nur mal le얍 diglich das Ausland sehen.“ Bei diesen Worten zuckte sein Gegenüber wieder furchtbar zusammen und mischte sich ins Gespräch, klar, kurz und bündig: „Ein Deutscher sollte sein ehrlich erworbenes Geld in diesen wirtschaftlich depressiven Zeiten unter keinen Umständen ins Ausland tragen!“ Dabei fixierte er Kobler strafend, denn er hatte ein Hotel in Partenkirchen, das immer leer stand, weil es wegen seiner verrückt hohen Preise allgemein gemieden wurde. „Aber Spanien war ja im Krieg neutral“, kam der dritte Herr in der Ecke Kobler zu Hilfe. Er lächelte noch immer. „Egal!“ schnarrte der Hotelier. „Spanien ist uns sogar sehr freundlich gesinnt “, ließ der in der Ecke nicht locker. „Uns is überhaupts niemand freundlich gesinnt!“ entgegnete ihm erregt der Thimoteus. „Es wäre ja ein Wunder, wenn uns jemand freundlich gesinnt wär !! Oder wärs ka Wunder, Leutl?!“ B

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Der Hotelier nickte: „Ich wiederhole : Ein Deutscher soll sein ehrlich erworbenes Geld in der Heimat lassen!“ Kobler wurde allmählich wütend. „Was geht dich dem Portschinger sein Kabriolett an, du Hund!“ dachte er und wies den Hotelier in seine Schranken zurück: „Sie irren sich! Wir jungen deutschen Handelsleute müßten noch bedeutend innigere Beziehungen mit dem uns wohlgesinnten Ausland anknüpfen. Zu guter letzt müssen wir dabei natürlich die nationale Ehre hochhalten.“ „Das mit dem Hochhalten der Ehre sind Redensarten!“ unterbrach ihn der Hote얍 lier unwirsch. „Wir Deutsche sind eben einfach nicht fähig, kommerzielle Beziehungen zum Ausland ehrenvoll anzuknüpfen!“ „Aber die Völker!“ meinte der Dritte und lächelte plötzlich nicht mehr. „Die Völker sind doch aufeinander angewiesen, genau wie Preußen auf Bayern und Bayern auf Preußen.“ „Sie wanns mir Bayern schlecht machen!“ brüllte der Thimoteus. „Wer is angwiesen? Was is angwiesen? Die Schnapspreissn solln halt nach der Schweiz fahren! Zuwas brauchn denn mir an Fremdenverkehr, bei mir kauft ka Fremder was, i hab a Ziegelei und war früher Metzger!“ „Oho!“ fuhr der Hotelier auf. „Oho Herr! Ohne Fremdenverkehr dürfte die bayerische Eigenstaatlichkeit beim Teufel sein! Wir brauchen die norddeutschen Kurgäste, wir bräuchten auch die ausländischen Kurgäste, besonders die angelsächsischen Kurgäste, aber bei uns fehlt es leider noch häufig an der entgegenkommenden Behandlung des ausländischen Fremdenstromes , wir müßten uns noch viel stärker der ausländischen Psyche anpassen. Jedoch natürlich, wenn der Herr Reichsfinanzminister erklärt … “ Nun aber tobte der Thimoteus. „Des san do kane Minister, des san do lauter Preisse !“ tobte er. „Lauter Lumpn sans! Wer geht denn z’grund ? Der Mittelstand! Und wer kriegt des ganz Geld vom B

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nickte: „IchN ] wiederholeN ] BEinN ] Berworbenes GeldN ] BdichN ] BKabriolett an,N ] BduN ] BHund!“ dachteN ] BSchrankenN ] Bzurück: „SieN ] Bjungen f HandelsleuteN ] BdemN ] BZu f letztN ] Bhochhalten.“N ] BHotelierN ] B N] B N] BbräuchtenN ] BausländischenN ] Bdes f FremdenstromesN ] Berklärt . . .N ] BdoN ] BPreisseN ] Bsans!N ] Bz’grundN ] BUnd f Mittelstand?N ] B B

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Mittelstand? Der Arbater! Der Arbater raucht 얍 schon Sechspfennigzigaretten . . . Meine Herren! I sag bloß allweil: Berlin!“ „Bravo!“ sagte der Hotelier und memorierte den Satz vom Asphaltdeutschen . Der Herr in der Ecke erhob sich und verließ rasch das Abteil. Er stellte sich an das Fenster und sah traurig hinaus auf das schöne bayerische Land. Es tat ihm aufrichtig leid um dieses Land. „Der is draußn , den hab i nausbißn“, stellte der Thimoteus befriedigt fest. „Ich verfolge mit Aufmerksamkeit die Heimstättenbewegung“ , antwortete der Hotelier. „Ihr Quadratidioten!“ dachte Kobler und wandte sich seinem Fenster zu. Auf den Feldern wurde gearbeitet, auf den Weiden stand das Vieh, am Waldrand das Reh, und nur die apostolischen Doppelkreuze der Ueberlandleitungen erinnerten an das zwanzigste Jahrhundert. Der Himmel war blau, die Wolken weiß und bayerisch barock. So näherte sich der D-Zug der südlichen Grenze der Deutschen Republik. Zuerst ist er an großen Seen vorbeigerollt, da sind die Berge am Horizont noch klein gewesen. Aber jetzt wurden die Berge immer größer, die Seen immer kleiner und der Horizont immer enger. Und dann hörten die Seen ganz auf, und ringsherum gab’s nur mehr Berge. Das war das Werdenfelser Land. In Partenkirchen stieg der Hotelier aus und würdigte Kobler keines Blickes. Auch der Herr Bschorr stieg aus und stolperte dabei über ein vierjähriges Kind. „Eha!“ meinte 얍 er, und das Kind brüllte fürchterlich, denn der Herr Bschorr hätt es fast zertreten . Dann fuhr der D-Zug wieder weiter. Richtung Mittenwald. Der Herr, der in der Ecke gesessen hatte, betrat nun wieder das Abteil, weil Kobler allein war. Er setzte sich ihm gegenüber und sagte: „Dort sehen Sie die Zugspitze!“ N

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Bekanntlich ist die Zugspitze Deutschlands höchster Berg, aber ein Drittel der Zugspitze gehört halt leider zu Oesterreich. Also bauten die Oesterreicher vor einigen Jahren eine Schwebebahn auf die Zugspitze, obwohl dies die Bayern schon seit zwanzig Jahren tun wollten. Natürlich ärgerte das die Bayern sehr, und infolgedessen brachten sie es endlich fertig, eine zweite Zugspitzbahn zu bauen, und zwar eine rein bayerische, keine luftige Schwebebahn, sondern eine solide Zahnradbahn. Beide Zugspitzbahnen sind unstreitbar grandiose Spitzenleistungen moderner Bergbahnbautechnik, und es sind dabei bis Mitte September 1929 schon rund vier Dutzend Arbeiter tödlich verunglückt. Jedoch bis zur Inbetriebnahme der bayerischen Zugspitzbahn werden natürlich leider noch zahlreiche Arbeiter daran glauben müssen, versicherte die Betriebsleitung. „Ich hab dies mal einer Dame erzählt“, sagte der Herr zu Kobler, „aber die Dame sagte, das wären bloß Erfindungen der Herren Arbeiter, um einen höheren Tarif zu erpressen.“ Dabei lächelte der Herr so sonderbar, daß sich der Kobler schon gar nicht mit ihm auskannte. „Diese Dame“, fuhr der Herr fort, „ist die Tochter eines Düsseldorfer Aufsichtsrates und hat schon 1913 nach Kuba geheiratet, sie hat also den Weltkrieg in Kuba mit-얍gemacht.“ Und wieder lächelte der Herr so sonderbar, und Kobler verwirrte dies fast. „In Kuba wird der Krieg angenehmer gewesen sein“, sagte er, und das gefiel dem Herrn. „Sie werden jetzt ein schönes Stückchen Welt sehen“, nickte er ihm freundlich zu. „ Stückchen ist gut“, dachte Kobler gekränkt und fragte: „Sind Sie auch Kaufmann?“ „ Nein!“ sagte der Herr sehr knapp, als wollt er kein Wort mehr mit ihm sprechen. „Was kann der nur sein?“ überlegte Kobler. „Ich war früher Lehrer“, sagte der Herr plötzlich. „Ich weiß nicht, ob Sie die Weimarer Verfassung kennen, aber wenn Sie Ihre politische Ueberzeugung mit dem B

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NatürlichN ] infolgedessenN ] Bzweite ZugspitzbahnN ] Bbauen,N ] BundN ] BreinN ] BBergbahnbautechnik,N ] B1929N ] Bvier DutzendN ] BtödlichN ] BbayerischenN ] BhabN ] BdasN ] Berpressen.“N ] BderN ] BderN ] Bsonderbar,N ] BdiesN ] BangenehmerN ] Ber,N ] BHerrn. „SieN ] BStückchenN ] BNein!“N ] BwolltN ] Bsein?“N ] B N] Bnicht,N ] B B

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Einsatz Ihrer ganzen Persönlichkeit, mit jeder Faser Ihres Seins vertreten, dann nützen Ihnen auch Ihre verfassungsmässig verankerten Freiheitsrechte einen grossen Dreck. Ich, zum Beispiel, hab eine Protestantin geheiratet und hab nun meine Stelle verloren, das verdanke ich dem bayerischen Konkordat. Jetzt vertret ich eine Zahnpaste, die niemand kauft, weil sie miserabel ist. Meine Familie muß bei meinen Schwiegereltern in Mittenwald wohnen, und die Alte wirft den Kindern jeden Bissen vor. -- Dort sehen Sie Mittenwald! Es liegt lieblich, nicht?“ B

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Mittenwald ist deutsch-österreichische Grenzstation mit Paß- und Zollkontrolle . Das war die erste Grenze, die Kobler in seinem Leben überschritt, und dieser Grenzübertritt mit seinen behördlichen Zeremonien berührte ihn seltsam feierlich. Mit fast scheuer Bewunderung betrachtete er die Gendarmen, die sich auf dem Bahnsteig langweilten. Bereits vor Mittenwald hielt er seinen Paß erwartungsvoll in der Hand, und nun lag auch sein Koffer weitaufgerissen auf der Bank. „Bitte nicht schießen, denn ich bin brav“, sollte das heißen. Er zuckte direkt zusammen , als der österreichische Finanzer im Wagen erschien. „Hat wer was zu verzollen?“ rief der Finanzer ahnungslos. „ Hier“, rief der Kobler und wies auf seinen braven Koffer. Aber der Finanzer sah gar nicht hin. „Hat wer was zu verzollen?!“ brüllte er entsetzt und raste überstürzt aus dem Waggon , denn er hatte Angst, daß ausahmsweise jemand wirklich was zu verzollen hätte, nämlich dann hätte er ausnahmsweise wirklich was zu tun gehabt. Allerdings bei der Paßkontrolle ging es schon schärfer zu, denn dies war das bessere Geschäft. Es saß 얍 ja in jedem Zug meist eine Person, deren Paß gerade abgelaufen war und der konnte man dann einen Grenzschein für einige Mark respektive Schilling verkaufen. Eine solche Person sagte mal dem Paßbeamten: „Erlauben Sie, ich bin aber schon sehr für den Anschluß!“ Jedoch der Paßbeamte verbat sich energisch jede Beamtenbeleidigung. -B

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Langsam verließ der D-Zug die Deutsche Republik. Er fuhr an zwei Schildern vorbei: Königreich Bayern Rechts fahren!

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„Fahren wir jetzt auch links?“ fragte Kobler den österreichischen Schaffner. „Wir sind eingleisig“, gähnte der Schaffner, und Kobler mußte direkt an Großdeutschland denken. Nun ging’s durch die nördlichen Kalkalpen, und zwar entlang der alten Römerstraße zwischen Wetterstein und Karwendel. Der D-Zug mußte auf 1160 Meter empor, um das rund 600 Meter tiefer gelegene Inntal erreichen zu können. Es war dies für D-Züge eine komplizierte Landschaft. Das Karwendel ist ein mächtiger Gebirgsstock, und seine herrlichen Hochtäler zählen unstreitbar zu den ödesten Gebieten der Alpen. Von brüchigen Graten ziehen grandiose Geröllhalden meist bis auf die Talsohle hinab und treffen sich dort mit dem Schutt von der anderen Seite. Dabei gibt’s fast nirgends Wasser und also kaum was Lebendiges . 1928 wurde es zum Naturschutzgebiet erklärt, damit es in seiner 얍 Ursprünglichkeit erhalten bleibt. So rollte der D-Zug an fürchterlichen Abgründen entlang, durch viele, viele Tunnells und über kühn konstruierte Viadukte. Jetzt erblickte Kobler eine schmutzige Dunstwolke über dem Inntal. Unter dieser Dunstwolke lag Innsbruck, die Hauptstadt des heiligen Landes Tirol. Kobler wußte nichts weiter von ihr, als daß sie ein berühmtes goldenes Dachl hat, einen preiswerten Tiroler Wein und daß der Reisende, der von Westen ankommt , zur linken Hand einige große Bordelle sehen kann. Das hatte ihm mal der Graf Blanquez erläutert. In Innsbruck mußte er umsteigen, und zwar in den Schnellzug nach Bologna. Dieser Schnellzug kam aus Kufstein und hatte Verspätung. „Die Oesterreicher sind halt sehr gemütliche Leut“, dachte Kobler. Endlich kam der Schnellzug. B

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Bundesstaat Österreich Links fahren!

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eingleisig“,N ] gähnteN ] BSchaffner,N ] Bging’sN ] BKalkalpen,N ] BzwarN ] BDer D-ZugN ] BMeterN ] BMeterN ] BGebirgsstock,N ] Bgibt’sN ] BLebendigesN ] Bviele,N ] BTunnellsN ] Bkühn konstruierteN ] BdieserN ] BTiroler WeinN ] BundN ] BankommtN ] Bumsteigen,N ] BVerspätung. „DieN ] B N]

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Bis Steinach am Brenner, also fast bis zur neuen italienischen Grenze, also kaum fünfzig Minuten lang, saßen in Koblers Abteil ein altösterreichischer Hofrat und ein sogenannter Mann aus dem Volke, der dem Hofrat sehr schön tat, weil er von ihm eine Protektion haben wollte. Dieser Mann war ein charakterloser Werkmeister, der der Heimwehr, einer österreichischen Abart des italienischen Faschismus , beigetreten ist, um seine Arbeitskollegen gründlicher übervorteilen zu können. Nämlich sein leitender Ingenieur war Gauleiter der Heimwehr. Der Hofrat hatte einen altmodischen goldenen Zwicker und ein hinterlistiges Geschau. Sein Aeusseres war sehr gepflegt - er schien überhaupt ein sehr eitler Mensch 얍 zu sein, denn er schwätzte in einer Tour , nur um den Beifall des Mannes hören zu können. Der Schnellzug wandte sich ab von Innsbruck, und schon fuhr er durch den Berg-Isel-Tunnel . „Jetzt ist es finster“, sagte der Hofrat. „Sehr finster“, sagte der Mann. „Es ist so finster geworden, weil wir durch den Tunnel fahren“, sagte der Hofrat. „Vielleicht wirds noch finsterer“, sagte der Mann. „Kruzitürken, ist das aber finster!“ rief der Hofrat. „Kruzitürken!“ rief der Mann. Die Oesterreicher sind sehr gemütliche Leute. „Hoffentlich erlaubts mir unser Herrgott noch, daß ichs erleb, wie alle Sozis aufghängt werden“, sagte der Hofrat. „Verlassen Sie sich auf den dort oben“, sagte der Mann. „Ueber uns ist jetzt der Berg Isel“, sagte der Hofrat. „Andreas Hofer“, sagte der Mann und fügte hinzu: „Die Juden werdn zu frech.“ Der Hofrat klapperte mit dem Gebiß. „Den Halsmann sollns nur tüchtig einsperren bei Wasser und Brot!“ krähte er. „ Ob nämlich der Judenbengel seinen Judentate erschlagen hat oder nicht, das ist wurscht! Da gehts um das Prestige der österreichischen Justiz, man kann sich doch nicht alles von den Juden gefallen lassen!“ „Neulich haben wir einen Juden ghaut“, sagte der Mann. „A geh, wirklich?“ B

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lang,N ] desN ] BFaschismusN ] Bist,N ] BhinterlistigesN ] Bgepflegt -N ] BTourN ] BInnsbruck,N ] B Berg-Isel-TunnelN ] Bfinster“,N ] Bgeworden,N ] BdenN ] Bfahren“, sagteN ] Bfinster!“N ] BriefN ] B„Kruzitürken!“ riefN ] B„UeberN ] Bhinzu: „DieN ] Bfrech.“N ] BeinsperrenN ] BOb f JudenbengelN ] Bwurscht!N ] Bgeh,N ] B B

Korrektur von fremder Hand: lang\,/ Korrektur von fremder Hand: de\s/ Korrektur von fremder Hand: Fasc\h/ismus

ist\,/ hinterlistige[ s]|s| korrigiert aus: Korrektur von fremder Hand: gepflegt-[-] Korrektur von fremder Hand: T\o/ur Korrektur von fremder Hand: Innsbruck\,/ Korrektur von fremder Hand: Berg-Isel-Tu\n/nel korrigiert aus: finster “, Korrektur von fremder Hand: geworden\,/

d[a s]|en| korrigiert aus: fahren“,sagte Korrektur von fremder Hand: finster!“"!!"

[sagte] |rief| „Kruzitürken[“,]|!“| [sagte] |rief| Korrektur von fremder Hand: \„/Ueber korrigiert aus: hinzu:„Die korrigiert aus: frech!“"!." einsperr[ en]|en| Ob1 der3 Judenbengel4 nämlich2 wurscht[.]|!| Korrektur von fremder Hand: geh\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

freute sich der Hofrat. „Der Jud war allein“, sagte der Mann, „und wir waren zehn, da hats aber Watschen ghagelt! Heimwehrwatschen!“ Der Hofrat kicherte. „Ja, die Heimwehr!“ sagte er. „ Heil!“ rief der Mann. „Und Sieg!“ sagte der 얍 Hofrat. „Und Tod!“ rief der Mann. – Als der Schnellzug den Berg-Isel-Tunnel verließ, trat Kobler auf den Korridor, denn er konnte es drinnen nicht mehr aushalten, weil ihn das ewige Geschwätz im Denken störte. Und er mußte mal nachdenken -- das war so ein Bedürfnis, als hätte er dringend austreten müssen. Es war ihm nämlich plötzlich die Aegypterin, sein eigentliches Reiseziel, eingefallen, und er ist darüber erschrocken, daß er nun einige Stunden lang nicht an die Pyramiden gedacht hatte. Aber als er nun an dem Fenster stand, wurde er halt wieder abgelenkt, und zwar diesmal durch Gottes herrliche Bergwelt, wie der Kitsch die seinerzeit geborstene Erdkruste nennt. „Was ist der Mensch neben einem Berg?“ fiel es ihm plötzlich ein, und dieser Gedanke ergriff ihn sehr. „Ein großes Nichts ist der Mensch neben einem Berg. Also ständig möcht ich nicht in den Bergen wohnen. Dann wohn ich schon lieber im Flachland. Höchstens noch im Hügelland.“ B

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Seit dem Frieden von Saint-Germain zieht 얍 die österreichisch-italienische Grenze über die Paßhöhe des Brenners zwischen Nord- und Südtirol. Die Italiener haben nämlich ihre Brüder im Trento von dem habsburgischen Joche erlöst, und so was kann man als anständiger Mensch nur lebhaft begrüßen. Die Italiener waren ja nicht in den Weltkrieg gezogen, um fremde Völker zu unterjochen, sie wollten keine Annexionen, ebensowenig wie Graf Berchtold, Exkaiser B N

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JudN ] hatsN ] BHeil!“ riefN ] BSieg!“N ] BHofrat. „UndN ] BMann. –N ] Bnachdenken --N ] BaustretenN ] Bmüssen. EsN ] BdieN ] BReiseziel,N ] Beingefallen,N ] Bdie PyramidenN ] Babgelenkt,N ] BBerg?“N ] BesN ] Bein,N ] BnochN ] BHügelland.“N ] B10N ] B N] Berlöst,N ] Bso wasN ] Bgezogen,N ] B B

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Wilhelm II. und Ludendorff . Aber aus militärisch-strategischen Gründen waren die Italiener eben leider gezwungen, das ganze deutsche Südtirol zu annektieren, genau wie etwa Ludendorff gezwungen gewesen wäre, aus rein strategischen Gründen Polen, Finnland, Kurland, Estland, Litauen , Belgien usw. zu annektieren. „Der Friede von Saint-Germain ist ein glattes Verbrechen“, hatte mal ein Innsbrukker Universitätsprofessor gesagt, und er hätte schon sehr recht gehabt, wenn er kein Chauvinist gewesen wäre. -Bekanntlich will nun der Mussolini das deutsche Südtirol durch und durch italienisieren. Genau so rücksichtslos, wie seinerzeit Preußen das polnische Posen germanisieren wollte. So hat der Mussolini u.a. auch verfügt, daß möglichst alle deutschen Namen (Ortsnamen , Familiennamen usw.) ins Italienische übersetzt werden müssen, auf daß sie nur italienisch ausgesprochen werden dürften. Und zwar sollen sie ihrem Sinn nach übersetzt werden. Hat nun aber ein Name keinen übersetzbaren Sinn, so hängt der Mussolini hinten einfach ein o an. Wie zum Beispiel: Merano. So auch Brennero. 얍 Als Kobler den Brennero erblickte, fiel es ihm sogleich auf, daß dort oben ungemein viel gebaut wird, und zwar lauter Kasernen. Im Bahnhof Brennero wurde der Schnellzug von den faschistischen Behörden bereits erwartet. Da standen ungefähr dreißig Männer, und fast jeder war anders uniformiert. Da hatten welche Napoleonshüte und weite lange Mäntel, oder kurze enge oder weite kurze oder enge lange. Einige trugen prächtige Hahnenfedern, die ihnen fast bis auf die Schultern herabwallten. Andere wieder trugen Adlerfedern oder Wildentenfedern, und wieder andere trugen gar keine Federn, höchstens Flaum. Die meisten waren feldgrau oder feldbraun, aber es waren auch welche da in stahlblau B

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Mussolini1 einfach3 hinten2 Beispiel[M]\:/ [nun] Korrektur von fremder Hand: wird\,/ de[r]|n| Korrektur von fremder Hand: fasc\h/istischen Behörde\n/ Korrektur von fremder Hand: Männer\,/ l[ ]ange korrigiert aus: lange.Einige Korrektur von fremder Hand: [s]|a|uf Korrektur von fremder Hand: Wildentenfedern\,/ g\a/r

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

und grünlich mit Aufschlägen in rot, ocker, silber gold und lila. Viele hatten schwarze Hemden -- das waren die bekannten Schwarzhemden. Sie boten ein farbenfrohes Bild. Alle schienen sehr zu frieren, denn knapp hundert Meter über ihnen hing der herbstliche Nebel Nordtirols. Keiner der Reisenden durfte den Schnellzug verlassen, denn hier ging’s viel strenger zu als zwischen Bayern und Oesterreich in Mittenwald. Und dies nicht nur deshalb, weil die Italiener zur romanischen Rasse gehören, sondern weil sie obendrein noch den Mussolini haben, der in permanenter Wut ist, daß es bloß vierzig Millionen Italiener gibt. Neunundzwanzig von den dreißig Uni-얍 formierten waren mit den Grenzübertrittsangelegenheiten schon sehr beschäftigt. Der Dreißigste schien der Anführer zu sein , er tat nämlich nichts. Er stand auf dem Bahnsteig etwas im Hintergrunde, unter einer kolorierten Photographie des Duce und hatte sehr elegante Schuhe. Er war vielleicht 1,40 Meter hoch, und forschend glitt sein Blick über den Schnellzug . Er forschte nach, wo eine blonde Frau saß, eine Deutsche oder eine Skandinavierin. „Prego den Paß!“ sagte der italienische Paßbeamte. Er sprach gebrochen Deutsch , höflich, aber bestimmt. „Wohin fahren Sie, Signor Kobler ?“ fragte er. „Nach Barcelona“, sagte der Signor. „Sie fahren also nach Italien“, meinte der Paßbeamte. „ Ja“, sagte der Signor. Und nun geschah etwas Mysteriöses . Der Paßbeamte wandte sich ernst seinem Begleiter zu, einem Paßunterbeamten, und sagte auf italienisch: „Er fährt nach Italien.“ Der Paßunterbeamte nickte würdevoll: „ Soso , nach Italien fährt er“, meinte er gedehnt und kam sich wichtiger vor als Mussolini persönlich, während sich der Oberpaßbeamte bereits mit dem nächsten Reisenden beschäftigte. „Sie fahren nach Italien ?“ fragte er. „ Jawohl“, sagte der B

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nächste Signor. Er hieß Albert Hausmann. „Und warum fahren Sie nach Italien?“ fragte der Oberpaßbeamte. „Ich will mich in Italien erholen“, sagte der Signor Hausmann. „Sie werden sich in Italien erholen“, sagte der Oberpaßbeamte stolz. „ Hoffentlich! “ meinte der Erholungsbedürftige , worauf sich der Oberpaßbeamte wieder seinem Begleiter zuwandte: „Er will sich in Italien erholen“, sagte er. „Vielleicht auch nicht!“ meinte der Paßunterbeamte lakonisch und blickte den Erholungsbedürftigen mißtrauisch an, denn er erinnerte ihn an einen gewissen Isidore Niederthaler 얍 in Brixen, dessen Weib als politisch verdächtig auf der faschistischen Schwarzen Liste stand. „Das Weib hat einen prächtigen Hintern“, dachte der Paßunterbeamte. Inzwischen hatte sich der Oberpaßbeamte bereits wieder an einen dritten Reisenden gewandt. Der hieß Franz Karl Zeisig. „Sie fahren nach Italien?“ fragte der Oberpaßbeamte. „Zu blöd!“ murmelte Kobler. „Wir fahren doch alle nach Italien!“ „Unterschätzen Sie nicht Benito Mussolini“, flüsterte ihm der Erholungsbedürftige zu. „Mit dieser scheinbar ungereimten Fragerei verfolgen die Paßbeamten einen ganz bestimmten Zweck. Das sind alles besonders hervorragende Detektive von der Polizei in Rom. Wissen Sie, was ein Kreuzverhör ist?“ Kobler blieb ihm die Antwort schuldig, denn plötzlich standen drei Faschisten vor ihm. „Haben Sie Zeitungen?“ fragte der erste Faschist . „Oesterreichische, sozialistische, kommunistische, anarchistische , syndikalistische und nihilistische dürfen Sie nicht mit nach Italien nehmen, weil das strengstens verboten ist!“ „Ich bin kein Nihilist “, sagte Kobler, „ich hab bloss ein Magazin bei mir.“ Und dann durchwühlten noch einige italienische Finanzer seinen Koffer. „Was ist das?“ fragte der eine und hielt ihm eine Krawatte unter die Nase. „Das ist eine Krawatte“, sagte Kobler. Der Finanzer nickte befriedigt, lächelte ihm freundlich zu und verschwand mit seinen Kollegen. B

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erholen“,N ] Hoffentlich!N ] BHoffentlich!“N ] BErholungsbedürftigeN ] BwiederN ] Berholen“,N ] Bfaschistischen SchwarzenN ] BItalien?“N ] BSie,N ] Bist?“N ] BFaschistenN ] BZeitungen?“N ] BFaschistN ] BanarchistischeN ] BsyndikalistischeN ] Bmit nachN ] Bkein NihilistN ] Bdas?“N ] BKrawatteN ] BKrawatte“,N ]

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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Endlich war’s vorbei mit den Grenzübertrittschwierigkeiten, und der Schnellzug setzte sich als „diretto“ 얍 südwärts in Bewegung. Hinab vom Brenner -- durch das neue Italien. B

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Nun waren aber plötzlich alle Aufschriften italienisch. Kobler konnte sich kaum mehr vom Fenster trennen, so kindisch faszinierte ihn jede Aufschrift, obwohl oder weil er nicht wußte, was sie bedeuten sollte. „Albergo Luigi, Uscita, Tabacco, Olio sasso, Donne, Uomine “, las er. „Das hat halt alles einen Klang“, dachte er. „ Schad, daß ich nicht Koblero heiß!“ Im ehemaligen Franzensfeste hatten sie etwas Aufenthalt. „Erlauben Sie, wo sind wir jetzt?“ fragte ihn ein nervöser deutscher Italienreisender, der ihm nicht über die Schulter schauen konnte. „In Latrina“, antwortete Kobler. „Machen Sie da gefälligst keine schlechten Witze!“ schrie der Nervöse. Kobler war sehr verdutzt . Da hing ja direkt vor ihm das Schild: B

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얍 „Brüllen Sie nicht mit Bmir!“N brüllte er den Nervösen an. „BBedaureN Herr“, kreischte der Nervöse und zappelte sehr. „Ich bin zu solchen Späßen keineswegs Bbereit!N“ „Jetzt kommt der feierliche Moment, wo ich BdirN eine Bschmier“, dachteN BKobler,N aber hier mischte sich jener erholungsbedürftige Albert Hausmann überaus freundlich in die Auseinandersetzung, um den Streit im Keime zu Bersticken,N denn er war sehr ängstlich. „Irrtum, meine BHerren!“ meinteN er. „Latrina bedeutet Bsoviel wieN B Abort! SieN reden aneinander vorbei, meine Herren!“ 1 1 7 11 12 12 12 13 14 14 15 16 17 18 18 20 20 21 22 22 22 24 25 25 26

war’sN ] Grenzübertrittschwierigkeiten,N ] B11N ] BTabacco, OlioN ] BUomineN ] BUomine“, lasN ] BKlang“, dachteN ] BSchad, daßN ] BFranzensfesteN ] B„ErlaubenN ] Bjetzt?“ fragteN ] BLatrina“, antworteteN ] BWitze!“N ] BverdutztN ] Bvor ihmN ] Bmir!“N ] BBedaureN ] Bbereit!N ] BdirN ] Bschmier“, dachteN ] BKobler,N ] Bersticken,N ] BHerren!“ meinteN ] Bsoviel wieN ] BAbort! SieN ] B B

Korrektur von fremder Hand: war\’/s Korrektur von fremder Hand: Grenzübertrittschwierigkeiten\,/ [XI.] 11. Korrektur von fremder Hand: 11[.] korrigiert aus: Tabacco,Olio

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Uo[n]|m|ine korrigiert aus: Uomine“,las korrigiert aus: Klang“,dachte korrigiert aus: Schad,daß Korrektur von fremder Hand: Franzen\s/feste

[„E]|„E|rlauben korrigiert aus: jetzt?“fragte korrigiert aus: Latrina“,antwortete Korrektur von fremder Hand: Witze!“"!!" verdutz\t/ Korrektur von fremder Hand: vor\ /ihm Korrektur von fremder Hand: mir!“[,] B\e/daure bereit[.]|!| Korrektur von fremder Hand: [D]|d|ir korrigiert aus: schmier“,dachte Korrektur von fremder Hand: Kobler\,/[---] Korrektur von fremder Hand: ersticken\,/ korrigiert aus: Herren!“meinte [nämlich] |soviel wie| korrigiert aus: Abort!Sie

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 52

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Der Erholungsbedürftige sprach nämlich perfekt Italienisch und war überhaupt ein sehr intelligenter und belesener Mann, der besonders in der Weltgeschichte bewandert war. „Das alles war früher Südtirol“, sagte er. Und dann gab er Kobler den Rat, sich nur ja vor den faschistischen Spitzeln zu hüten, die wären nämlich äußerst raffiniert und brutal. „Dort drüben am dritten Fenster zum Beispiel“, wisperte er geheimnisvoll und deutete verstohlen auf einen Mann, der wie ein Bauer aussah, „dort dieser Kerl ist sicher ein Spitzel. Der wollte mich nämlich gerade in ein verfängliches Gespräch verwickeln, er wird auch Sie verwickelen wollen, er trachtet ja nur darnach, jeden zu verwickeln --- und bei der ersten abfälligen Äusserung über Mussolini, Nobile oder überhaupt das System werden Sie sofort aus dem Zuge heraus verhaftet. Geben Sie acht !“ Kobler gab acht . Knapp vor Bolzano näherte sich ihm der 얍 Spitzel. „Bolzano hiess früher Bozen“, sagte der Spitzel. „ Aha !“ dachte Kobler. „In Bozen bauen jetzt die Italiener ein riesiges Elektrizitätswerk“, sagte der Spitzel. „Nur zu!“ dachte Kobler. „Die Italiener“, fuhr der Spitzel fort, „haben die Wassermengen von ganz weit weg nach Bozen geleitet. Sie haben durch diese ganze Bergkette da draußen einen Schacht gebohrt, und zwar haben sie dort droben unterhalb der Kuppe angefangen zu bohren, und in Bozen haben sie auch angefangen zu bohren und haben sich so zusammenbohren wollen, aber sie haben gleich dreimal aneinander vorbeigebohrt, anstatt, daß sie sich zusammengebohrt hätten. Sie mußten sich erst reichsdeutsche Ingenieure engagieren“, grinste der Spitzel . „Die Reichsdeutschen werden sich schon auch nicht zusammengebohrt haben“, meinte Kobler. B

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ItalienischN ] faschistischenN ] BSpitzelnN ] BverwickelenN ] Bzu verwickelnN ] Bverwickeln ---N ] BÄusserungN ] BMussolini,N ] BachtN ] BachtN ] B„Aha!“N ] BAhaN ] BKobler.N ] BElektrizitätswerk,“ sagteN ] B„Nur zu!“N ] BKobler.N ] BItalienier“,N ] BBozenN ] Bgebohrt,N ] Bbohren,N ] Bengagieren“,N ] BSpitzelN ] B B

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[N]Bozen Korrektur von fremder Hand: gebohrt\,/ Korrektur von fremder Hand: bohren\,/

engagieren“\,/ Korrektur von fremder Hand: Spitz\e/l

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 53

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

„ Doch, und zwar haargenau !“ ereiferte sich der Spitzel. „ Zufall“, meinte Kobler. Pause. „Kennen Sie Bozen?“ fragte der Spitzel. „ Nein“, sagte Kobler. „Dann schauen Sie sich doch Bozen an!“ rief der Spitzel. „Die Bozener sind ja ganz weg über die reichsdeutschen Gäste!“ „Ich bin ein reichsdeutscher Faschist “, sagte Kobler. Der Spitzel sah ihn erschrocken an. „Dort drüben ist jetzt der Rosengarten“, 얍 meinte er kleinlaut. „Vielleicht!“ sagte Kobler und ließ ihn stehen. Der Spitzel sah ihm noch lange nach. Er war ja gar kein Spitzel. B

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Befriedigt darüber, daß er Mussolinis vermeintlichem Spitzel ein Schnippchen geschlagen hatte, betrat Kobler den Speisewagen. „Jetzt hab ich mir meinen Kaffee verdient“, sagte er sich und war so glücklich, als hätt er gerade einen Prozess gewonnen, den er Rechtens hätte verlieren müssen. Es war nur noch ein Platz frei im Speisewagen. „Prego? “ fragte Kobler, und das war sein ganzes Italienisch. „Aber bitte!“ sagte der Gast in deutscher Sprache. Das war ein kultivierter Herr aus Weimar, der Stadt Goethes und der Verfassung. Ueberhaupt fiel es auf, daß trotz des italienischen Hoheitsgebietes im ganzen Zuge, außer von den Schaffnern und einigen Schwarzhemden, lediglich deutsch gesprochen 얍 wurde. Besonders im Speisewagen hörte man allerhand deutsche Dialekte. B

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Doch,N ] haargenauN ] BZufall“,N ] BNein“,N ] BsindN ] BFaschistN ] Bnoch langeN ] B12N ] BvermeintlichemN ] BKaffeeN ] Bverdient“,N ] Bglücklich, alsN ] BdenN ] BRechtensN ] B„Prego?N ] BKobler,N ] BItalienisch.N ] Bbitte!“N ] Bauf, daßN ] Btrotz desN ] BHohheitsgebietesN ] BdenN ] BeinigenN ]

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verdient\“,/ korrigiert aus: glücklich,als Korrektur von fremder Hand: den[n] Korrektur von fremder Hand: [r] R echtens P[RE] re go Korrektur von fremder Hand: \„/Prego\?/ Korrektur von fremder Hand: Kobler\,/ Korrektur von fremder Hand: [i] I talienisch\./

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bitte\!/“[?] korrigiert aus: auf,daß trotz\ /des Hocheitsgebiet[s]|e s| Korrektur von fremder Hand: Ho[c]heitsgebietes \den/ Korrektur von fremder Hand: ein[e]igen

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 55

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Der kultivierte Herr an Koblers Tisch hatte ein schwammiges Äusseres und schien ungemein verfressen zu sein. Ein Gourmand. Als Sohn eines ehemaligen Pforzheimer Stadtbaumeisters, der in der wilhelminischen Epoche eine schwerreiche Weimarer Patriziertochter geheiratet hatte, konnte er sich seine drei Lachsbrötchen, vier Ölsardinen , zwei Paar Frankfurter und drei Eier im Glas ungeniert leisten. Von seinem Vater, dem Stadtbaumeister, hatte er die Einbildung geerbt, daß er einen regen Sinn für architektonische Linienführung besäße, und von der Mutter hatte er trotz der Inflation einen Haufen Geld geerbt und die gesammelten Werke der Klassiker. Er war sechsundvierzig Jahre alt. „Ich bin ein Renaissancemensch“, erklärte er Kobler und sprach sehr gewählt. „Mein Ideal ist der Süditaliener, der sich Tag und Nacht am Meeresstrande sonnt, nie etwas tut und überaus genügsam ist. Sie können es mir glauben, auch unsere deutschen Arbeiter wären glücklicher, wenn sie genügsam wären. Herr Ober, bringen Sie mir noch ein Tatarbeefsteak !“ Dieser Renaissancemensch hatte natürlich noch nie etwas gearbeitet und litt infolgedessen an einer schier pathologischen Hypochondrie. Er hatte eben nichts zu tun, als sich vor dem Sterben zu fürchten. Und obendrein war er auch noch verwegen dumm. So hatte er des öfteren behauptet, daß ihm das Schicksal des Deutschen Reiches ganz egal wäre, wenn nur die Dividenden steigen würden. „ So was sagt man doch nicht! “ 얍 hatte sich sein Vetter, ein scharf rechtsstehender Realpolitiker, entrüstet und hatte ihn unter Kuratel stellen lassen wollen, aber das ist ihm vorbeigelungen . „Er ist doch normal und denkt scharf logisch“, hatte der Gerichtsarzt gemeint. „Also Sie fahren nach Barcelona“, sagte nun der total Normale zu Kobler und fügte scharf logisch hinzu: „Primo ist ein tüchtiger Mann. Ein Kavalier. Wenn Sie nach Barcelona kommen, so grüßen Sie mir, bitte, die Stierkämpfe, Sie werden da etwas prachtvoll Traditionelles erleben. Und dann überhaupt dieser ganze spanische B

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ein schwammigesN ] ÄusseresN ] BeinesN ] BPforzheimer Stadtbaumeisters,N ]

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PatriziertochterN ] ÖlsardinenN ] Bgeerbt,N ] BeinN ] BRenaissancemensch“,N ] Bist. SieN ] BunsereN ] BTartarbeefsteakN ] Bdem SterbenN ] BDeutschenN ] BSo wasN ] Bnicht!N ] BvorbeigelungenN ] Blogisch“,N ] BNormaleN ] BlogischN ] Bhinzu: „PrimoN ] Bmir, bitte,N ]

eine[ s]|s| [P]|p|forzheimer Stadtbaumeisterts Korrektur von fremder Hand: pforzheimer[,] Stadtbaumeisters\,/ Korrektur von fremder Hand: Patrizier[s]tochter Korrektur von fremder Hand: [O]|Ö|[e]lsardinen Korrektur von fremder Hand: geerbt\,/ \ein/ Korrektur von fremder Hand: Renaissancemensch“\,/ korrigiert aus: ist .Sie uns\e/re Korrektur von fremder Hand: Tartarbe\e/fsteak korrigiert aus: demSterben Korrektur von fremder Hand: [d]|D|eutschen Korrektur von fremder Hand: So\ /was nicht\!/ Korrektur von fremder Hand: vorbei[ ]gelungen logisch“\,/ Korrektur von fremder Hand: [n]|N|ormale logisc[g]|h| Korrektur von fremder Hand: hinzu:\„/ Primo Korrektur von fremder Hand: mir\,/ bitte\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

konservative Geist! Es ist eben immer dasselbe. Ich hab schon immer gesagt: das konservative Element müsste sich international zusammenschließen, um sich stärker konservieren zu können -- wir deutschen Konservativen sollten die französischen Konservativen einfach in das Land hereinrufen, auf daß sie diese Republik züchtigen -- Frankreich hat ja die militärische Macht, um jeden deutschen Arbeiter an die Wand stellen zu können --, und après sollten wir Kulis aus China einführen, die nicht mehr brauchen als täglich eine Handvoll Reis.“ Und er fügte lachend hinzu: „Das ist natürlich nur ein Witz!“ B

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In Verona musste Kobler zum zweitenmal umsteigen, und zwar in den Schnellzug nach Mailand, der um diese 얍 Zeit von Venedig zu kommen pflegte. Hierzu standen ihm leider nur zehn Minuten zur Verfügung, und so konnte er also von Verona nichts sehen, nur den Bahnhof, und der sah andern Bahnhöfen leider sehr ähnlich. Es war auch inzwischen schon Nacht geworden, und zwar eine Neumondnacht. Verona sei eine uralte Stadt, die irgendwie mit dem Dietrich von Bern zusammenhängt, hatte ihm der Renaissancemensch erzählt, und angeblich lägen in ihr auch noch obendrein Romeo und Julia, das berühmteste Liebespaar der Welt, begraben. Die veronesischen Bordelle seien zwar nicht berühmt, jedoch immerhin. Auf dem Bahnsteig ging ein Herr in brauner Uniform auf und ab. Er hatte eine Armbinde auf dem rechten Oberarm, und auf der stand in vier Sprachen geschrieben, daß er ein amtlicher Dolmetscher sei und also kein Trinkgeld annehmen dürfe. Er war überaus zuvorkommend und gab Kobler fließend deutsch Auskunft. „Der diretto B

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aus Venezia nach Milano“, sagte er, „kommt an auf dem dritten Bahnsteig und fährt ab auf dem dritten Bahnsteig, das ist dort drüben, wo jene lächerliche Frau steht.“ Diese lächerliche Frau war des Dolmetschers Frau, mit der er sich gerade wiedermal gezankt hatte. Nämlich sie hatte es noch nie haben wollen, daß er den Beruf eines amtlichen Dolmetschers ausübt und nächtelang mit allerhand Ausländerinnen auf dem Bahnhof herumlungert. Aber der Dolmetscher pflegte immer nur zu sagen: „ Soviel Sprachen jemand spricht, so oft ist dieser jemand ein Mensch!“ Auch an diesem Abend hatte er ihr dies wiedermal gesagt, worauf sie aber 얍 ganz außer sich geraten ist. „Mit soviel Menschen will ich gar nichts zu tun haben!“ hatte sie auf dem Korso geschrien. „Ich will ja bloß dich ! Oh, wenn du nur taubstumm wärest, Giovanni! So , und jetzt fahr ich zu meinem Bruder nach Brescia !“ Dies war jenes Brescia, wo einst die Frau Perzl aus der Schellingstraße ein Drittel Windmühle geerbt hatte. „In Italien soll man möglichst zweiter Klaß fahren“, erinnerte sich Kobler an die Ratschläge der Perzl. „Besonders wenn man schlafen will, soll man es tun, weil die Reisenden in Italien, besonders die in der dritten Klaß, meistens laut vor sich hinsingen, als möcht man gar nicht schlafen wollen.“ Und Kobler wollte schlafen, denn er war plötzlich sehr müde geworden -- „ Entweder ist das die Luftveränderung“, dachte er, „oder wahrscheinlich die vielen neuen Eindrück .“ Vor seinem geistigen Auge tauchten sie wieder alle auf, mit denen er während der letzten zwölf Stunden in Berührung gekommen war. Aber diesmal hatte jeder B

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VeneziaN ] Milano“, sagteN ] Ber, „kommtN ] Bdem drittenN ] Bsagen: „SovielN ] BSovielN ] BistN ] Bhaben!“N ] BaufN ] BdichN ] BOh,N ] BduN ] BGiovanni! SoN ] BSo,N ] Bnach BresciaN ] BmöglichstN ] BKlaßN ] Bfahren“,N ] BdrittenN ] BKlaß,N ] BmöchtN ] Bgeworden -- „EntwederN ] BEntwederN ] Bist dasN ] BLuftveränderung“,N ] BEindrückN ] BEindrück.“N ] BwiederN ] Bwar.N ] B B

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nur eine Geste -- trotzdem wollte es kaum ein Ende nehmen mit den Erscheinungen. Und als die Gestalt des Herrn Bschorr gar zum zweitenmal daherkommen wollte, stolperte Kobler über einen verlorenen Hammer. Und dann gingen viele Berge, Viadukte und fremde Dörfer um ihn herum, und das Inntal blieb vor ihm stehen. Auch die italienische Sprache sah ihn an, aber etwas von oben herab. „Also wenn das so weitergeht “, dachte er, „dann werd ich meine Aegypterin 얍 noch ganz vergessen, an die ausländischen Kabrioletts denk ich ja überhaupt nicht mehr, ich hab mich ja schon fast selber vergessen, hoffentlich kann ich jetzt schlafen bis Milano, das ist der italienische Name für Mailand -- dort darf ich dann wieder herumhocken, bis ich den Anschluß nach Ventimiglia krieg. Das wird eine weite Reise werden. Und derweil ist unsere Welt eigentlich klein. Und wird auch noch immer kleiner. Immer wieder kleiner. Ich werds ja nicht mehr erleben, daß sie ganz klein wird -- “, so versuchte er sich zu sammeln . Dabei hatte er ein unangenehmes Gefühl. Es war ihm wie jenem Manne zumute, der am Donnerstag vergaß, was er am Mittwoch getan hatte. „Erster Klaß soll man halt reisen können!“ seufzte er. „Mir tut von dem Holz schon der Hintere weh. Meiner Seel, ich glaub, ich bin wund !“ Infolgedessen stieg er nun in ein Abteil zweiter Klasse. In der Ecke saß bereits ein Herr hinter seinem Regenmantel und schien totenähnlich zu schlafen. Er hatte nur eine kleine Handtasche, hingegen märchenhaft viel Zeitungen. Die Ausgaben lagen nur so herum, sogar auf dem Boden und auch im Gepäcknetz. Er mußte beim Zeitungslesen eingeschlafen sein. – Zwanzig Minuten hinter Verona, als Kobler gerade einschlafen wollte, wachte der Herr auf. Zuerst gähnte er recht unartikuliert, und dann sah er hinter seinem B

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1 1 2 3 3 4 7 7 7–8 8 8 9 10 12 14 14 14 14 14–15 15 17 18 18 18 21 23 24 25

Geste --N ] einN ] BzweitenmalN ] BKobler überN ] BHammer.N ] Bherum,N ] BweitergehtN ] Ber,N ] Bmeine f nochN ] Bvergessen, anN ] BKabrioletts denkN ] Bhab f jaN ] BMailand -- dortN ] BunsereN ] Bwird --N ] Bwird --“,N ] Bzu sammelnN ] Bsammeln. DabeiN ] BunangenehmesN ] Bvergaß,N ] BKlaßN ] BHintereN ] Bglaub,N ] BwundN ] BZeitungen.N ] Bsein. –N ] BgeradeN ] Bunartikuliert,N ]

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ei\n/ zweitenmal[e] Korrektur von fremder Hand: Kobler\ /über

Hammer\./ [drüber.] Korrektur von fremder Hand: herum\,/ weiterg\e/ht er\,/ meine\ /Aegypterin\ /noch korrigiert aus: vergessen,an Kabrioletts\ /denk hab1 ja3 mich2 korrigiert aus: Mailand--dort [die] |unsere| korrigiert aus: wird[\,/]-Korrektur von fremder Hand: wird --“\,/ Korrektur von fremder Hand: zu\ /sammeln korrigiert aus: sammeln.Dabei unangenehme\s/ vergaß\,/ Klass[e] Korrektur von fremder Hand: Kla[ss]|ß| Korrektur von fremder Hand: Hinter[n]|e| Korrektur von fremder Hand: glaub\,/ wund[,] Zeitungen\./ korrigiert aus: sein.[--]|–| Korrektur von fremder Hand: g[ ]erade Korrektur von fremder Hand: unartikuliert\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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Mantel hervor, erblickte Kobler, starrte ihn erstaunt an, rieb sich die Augen, fixierte ihn etwas genauer und fragte gemütlich deutsch: „Wie kommen Sie hier herein?“ Aber Kobler ärgerte sich, dass ihn 얍 der Herr nicht einschlafen ließ, und war also kurz angebunden. „Ich komm durch die Tür herein“, sagte er. „Das vermut ich“, sagte der Herr. „Das vermut ich sogar sehr! Durch das Fenster werden Sie wohl nicht hereingeflogen sein. Hab ich denn so fest geschlafen? Ja, ich hab so fest geschlafen.“ (Seltsam! dachte Kobler. Er hat mich gleich ausgesprochen deutsch angesprochen, ob das auch ein Spitzel ist?) Misstrauisch beobachtete er den Herrn. Dieser war bereits etwas angegraut und glatt rasiert. „Woher wissen Sie denn, dass ich Deutscher bin?“ fragte er ihn plötzlich und gab sehr acht, dass er dabei harmlos aussah . „Ich kenn das am Kopf“, meinte der Herr. „Ich kenn das sofort am Kopf. Die Deutschen haben nämlich alle dicke Köpfe, natürlich nur im wahren Sinne des Wortes. Ich bin ja selbst so halb Deutscher. Was bin ich nicht halb? Alles bin ich halb! So ist das Leben! Da sitzen wir uns gegenüber und fahren durch die Po-Ebene . Ich komm aus Venedig, während Sie? –“ „Zuletzt komm ich aus Verona“, sagte Kobler. „Verona hat eine herrliche Piazza“ , meinte der Herr. „Die Piazza d’Erbe ist ein Mittelpunkt des Volkslebens. Und viel Militär liegt in Verona, es ist halt sehr befestigt. Es bildete ja mit den Befestigungen von Peschiera, Mantua und Legnago das viel genannte Festungsviereck. Gegen wen? Gegen Oesterreich -Ungarn. Und warum gegen Oesterreich-Ungarn? Weil es mit Italien verbündet war. Aber was war ein Bündnis im Zeitalter der Geheimdiplomatie? Die Rüstungsindustrie ließ sich versichern. Und was ist ein Bündnis heute? Oder glauben Sie, 얍 daß wir keine Geheimdiplomatie haben? Wir haben n u r Geheimdiplomatie!“ B

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Korrektur von fremder Hand: Kobler\,/

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Kobler,N ] dieN ] Bherein?“ AberN ] BärgerteN ] BdassN ] Bließ,N ] B N] BalsoN ] BkommN ] B„DasN ] Bsehr!N ] BJa,N ] BausgesprochenN ] Bist?) MisstrauischN ] B„WoherN ] Bbin?“ fragteN ] BaussahN ] BmeinteN ] BHerr. „IchN ] BPo-EbeneN ] BSie? –“N ] BPiazza“N ] B„DieN ] BLegnago dasN ] BOesterreichN ] Bwar. AberN ]

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Legnago\ /das [o]|O|esterreich korrigiert aus: war.Aber

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

(Ist das aber ein Schwätzer ! dachte Kobler grimmig. ) „Es tut mir direkt wohl, ein bisserl plauschen zu können, weil ich jetzt fast drei Tag lang kaum was Gescheites geredet hab“, sagte der Schwätzer und lächelte freundlich . (Das auch noch! durchzuckte es Kobler , und er haßte den Herrn. Also in deiner Gesellschaft, du Mistvieh, dachte er weiter, werd ich ja kaum zum Schlafen kommen, eigentlich gehört dir eine aufs Maul. Aber ich weiß schon, was ich mach!) Und er sagte: „Dürfte ich etwas in Ihren Zeitungen blättern?“ „Natürlich dürfen Sie!“ rief der Herr. „Sie dürfen sogar sehr, ich kann eh keine Zeitung mehr sehen. Brauchen Sie nur die deutschen, oder wollen Sie auch die italienischen, französischen, tschechischen -- meiner Seel! A polnische ist auch dabei! Wie kommt hier das rumänische Zeug her? Ich werds mir wahrscheinlich gekauft haben. Schad fürs Geld, naus damit!“ Er öffnete das Fenster und warf alle seine nichtdeutschen Zeitungen in die brausende Finsternis hinaus . Kaum hatte er jedoch das Fenster wieder geschlossen, erschien ein Angehöriger der faschistischen Miliz, ein sogenanntes Schwarzhemd. Das Schwarzhemd betrat feierlich das Abteil und sprach mit dem Herrn ruhig, aber 얍 unfreundlich. Der Herr machte abwehrende Gebärden und sprach perfekt italienisch. Hierauf zog sich das Schwarzhemd wieder zurück und war verstimmt. „Was hat denn der Faschist von Ihnen wollen? “ fragte Kobler. „Das frag ich mich auch“ rief der Herr und versuchte sich zu winden. Dann fuhr er fort: „Ich werd es Ihnen übersetzen, was er von mir gewollt hat. Er wollte wissen, ob ich zuvor meine Zeitungen hinausgeworfen hab, denn diese Zeitungen sind ihm weiter hinten durch ein offenes Fenster auf das Maul geflogen, und zwar mit Wucht. Ich hab ihm B

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SchwätzerN ] grimmig.N ] B„EsN ] Bder SchwätzerN ] BfreundlichN ] Bnoch!N ] BKoblerN ] BKobler,N ] Bdeiner f duN ] Bwerd ichN ] BdirN ] Bsagte: „DürfteN ] B„NatürlichN ] BSie!“N ] Btschechischen --N ] BGeld, nausN ] BseineN ] BnichtdeutschenN ] Bin f hinausN ] BwiederN ] BfaschistischenN ] Bruhig,N ] BFaschistN ] Bwollen?N ] Bfort f werdN ] Bwissen, obN ] Bgeflogen,N ] BWucht. IchN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: S[ ]chwätzer Korrektur von fremder Hand: grimmig\./

\„/Es de\r/ [Herr] |Schwätzer| \f/reundlich noch\!/ Kob[ol]|l|er Korrektur von fremder Hand: Kobler\,/ Korrektur von fremder Hand: [D] d einer Gesellschaft\,/ [D] d u Korrektur von fremder Hand: werd\ /ich Korrektur von fremder Hand: [D] d ir korrigiert aus: sagte :„ Dürfte Korrektur von fremder Hand: \„/Natürlich korrigiert aus: Sie“! korrigiert aus: tschechischen-Korrektur von fremder Hand: Geld[!] , [N] n aus

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s[ie]|ei|ne nicht[ ]deutschen hinaus5 in1 die2 brausende3 Finsternis4 wie[ ]der Korrektur von fremder Hand: fasc\h/istischen korrigiert aus: ruhig , Korrektur von fremder Hand: Fasc\h/ist Korrektur von fremder Hand: wollen\?/ fort[ä]|:| \„/Ich werd[e] korrigiert aus: wissen ,ob Korrektur von fremder Hand: geflogen\,/ korrigiert aus: Wucht.Ich

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

natürlich sofort gesagt, dass ich natürlich noch nie in meinem Leben Zeitungen hinausgeworfen hab. Mich kann man halt nicht überrumpeln. Glaubens mir, ich bin ein gewandter Reisender!“ „Was stinkt denn da so penetrant?“ fragte Kobler. „Das bin ich“, sagte der gewandte Reisende. „Es wird Sie wohl hoffentlich nicht stören, Herr ! Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich zwanzig Jahre älter als Sie. Sagen Sie, waren Sie eigentlich noch Soldat?“ „Ich fahr jetzt bis Milano“, antwortete Kobler ausweichend, – er war nämlich kein Soldat gewesen, weil er sich während des Weltkrieges gerade in den Flegeljahren befunden hatte, und dieses Niemals-Soldat-Gewesensein störte ihn manchmal, wenn er mit älteren Herren zusammenkam , von denen er annahm, daß sie wahrscheinlich verwundet worden waren. „Ich fahr jetzt nach Milano“, wiederholte er sich hartnäckig, „und dann fahr ich weiter nach Marseille, weil ich nach Barcelona fahr.“ Nun aber geschah etwas Unerwartetes. 얍 Der gewandte Reisende tat, als wollte er von seinem Sitz emporschnellen: er beugte sich steif vornüber und schrie: „Er fahrt nach Barcelona !“ Hierauf warf er sich zurück und atmete tief. ( Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch nie gehabt, dachte Kobler und glotzte sein Gegenüber befriedigt an. Eine starke Wirkung! dachte er) „Ist das aber ein Zufall !“ ließ sich der Herr wieder vernehmen und lächelte, als wäre er tatsächlich glücklich. Dann nickte er väterlich: „Ich fahr nämlich auch nach Barcelona“, und das verblüffte den Kobler. „Das ist natürlich ein Zufall“, grinste er sauer und kränkte sich wegen der Konkurrenz. „Und ob das ein Zufall ist!“ ereiferte sich die Konkurrenz. „Nur daß ich nicht in einer Tour nach Barcelona fahr, weil ich in Marseille auf zwei Tag aussteigen will, um Marseille kennenzulernen . Das ist nämlich eine überaus farbenprächtige und vor allem völkerkundlich eine sehr interessante Hafenstadt und bietet instruktive Einblicke.“ B

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korrigiert aus: überrumpeln.Glaubens korrigiert aus: stören,Herr

dassN ] überrumpeln. GlaubensN ] Bstören, HerrN ] BKoblerN ] Bausweichend, –N ] Bhatte, undN ] BdiesesN ] BNiemals f GewesenseinN ] BzusammenkamN ] BdaßN ] BwahrscheinlichN ] Bfahr.“N ] Bemporschnellen: erN ] Bschrie: „ErN ] BBarcelonaN ] BHieraufN ] BAlsoN ] BZufallN ] Bglücklich. DannN ] Bväterlich: „IchN ] BBarcelona“,N ] BZufall“, grinsteN ] Bist!“N ] BTourN ] BkennenzulernenN ]

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

„Das hab ich schon gehört“, sagte Kobler. „Dieses Marseille muß ja eine grandiose Hurenstadt sein, und ich hab mirs auch schon überlegt, ob ichs mir nicht anschauen sollt, aber vielleicht rentiert es sich doch nicht, ich bin nämlich sehr mißtrauisch.“ „Da tun Sie aber Marseille bitter Unrecht ! Erlauben’s , daß ich mich vorstell: Rudolf Schmitz aus Wien“ -Rudolf Schmitz war Redakteur, er vertrat 얍 in Wien u.a. ein Abendblatt in Prag, ein Morgenblatt in Klausenburg, ein Mittagblatt in Agram, ein Wochenblatt in Lemberg und in Budapest ein Revolverblatt. Als geborener Oesterreich-Ungar aus Ujvidék hatte er ein kolossales Sprachtalent und beherrschte infolgedessen alle Sprachen der ehemaligen Doppelmonarchie, aber infolgedessen leider keine ganz perfekt. Trotzdem bildete er es sich in seinen Jünglingsjahren ein, daß er dichterisch was leisten könnte. Damals verfasste er Gedichte, und zwar einen ganzen Zyklus. „Ein Vorsommer in der Hölle“ hieß der Zyklus und war von der westlichen Dekadenz beeinflußt. Aber kein Verleger wollte was von dem Vorsommer wissen. „Hier habens zwa Gulden, und schleimens Ihnen aus!“ sagte der eine Verleger. Und Schmitz tat dies, denn er war zuguterletzt doch nur intelligent und ein gesunder Egoist. Hernach wurde er abgeklärter. „Auch Rimbaud hat sich ja von der Dichtkunst abgewandt, um ein gedichtetes Leben zu führen“, stellte er fest und wurde allmählich Korrespondent. Soziologisch betrachtet, stammte er aus k. u. k. Offiziers- und Beamtenfamilien, aber er hatte nie was übrig für das Bürgerliche. Er war der geborene Bohemien. Bereits 1905 ging er ohne Hut. Seine Schwäche war die Metaphysik. – Nun fragte er Kobler: „Was ist der Zufall, lieber Herr? Niemand weiß, was der Zufall ist, und das ist es ja gerade. Der Zufall, das ist die Hand einer höheren Macht, im Zufall offenbart sich der liebe Gott. Gäbs keinen Zufall, hätten wir keinen B

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sein,N ] UnrechtN ] BUnrecht!N ] BErlauben’sN ] BErlauben’s,N ] Bvorstell: RudolfN ] BWien“ --N ] BLembergN ] BOesterreich-UngarN ] BUjvidékN ] BUjvidékN ] BGedichte,N ] BZyklus.N ] B„Ein f Hölle“N ] Bdem VorsommerN ] BzwaN ] BGulden,N ] Baus!“ sagteN ] BUndN ] Babgewandt,N ] Bk. u. k.N ] BMetaphysik. –N ] BKobler: „WasN ] Bweiß,N ] Bist,N ] BZufall,N ] B B

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Erlauben’s\,/ korrigiert aus: vorstell:Rudolf korrigiert aus: Wien“-Korrektur von fremder Hand: Lemberg[,] Korrektur von fremder Hand: Oesterreich[- ] - Ungar Korrektur von fremder Hand: Ujvidék[,] gemeint ist: Újvidék Korrektur von fremder Hand: Gedichte\,/

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Zyklus\./ [„Der Keuschheitsgürtel“] |„Ein f Hölle“| de[{}]|m| [Keuschheitsgürtel] |Vorsommer| zw[ei]|a| Korrektur von fremder Hand: Gulden\,/ korrigiert aus: aus!“sagte Un\d/ abgewandt\,/ Korrektur von fremder Hand: [K]|k|. u. [K]|k|. [Philosophie.--] |Metaphysik. –| korrigiert aus: Kobler:„Was Korrektur von fremder Hand: weiß\,/ Korrektur von fremder Hand: ist\,/ Korrektur von fremder Hand: Zufall\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

lieben Gott! Nämlich das Durchdenken und Durch-얍organisieren, das sind menschliche Eigenschaften, aber das völlig Sinnlose des Zufalls ist göttlich.“ Er tat seine Beine auf den gegenüberliegenden Polstersitz, denn in dieser Stellung tat das Philosophieren am wohlsten. Da erschien aber sofort wieder jenes Schwarzhemd von zuvor und forderte ihn barsch auf, eine Zeitung unter seine Schuhe zu breiten. „Jetzt grad nicht!“ dachte der Herr Schmitz verärgert, tat seine Beine herab und hörte auf zu philosophieren. Das Schwarzhemd verließ das Abteil und war schon wieder etwas besserer Laune. „Ein Pyrrhussieg“, murmelte Schmitz, und als man das Schwarzhemd nicht mehr sehen konnte, seufzte er: „Das ist denen ihre Revolution! Da fahren die Faschisten in jedem Zug so herum und geben acht, dass niemand Zeitungen nausschmeisst oder leichtsinnig die Aborte beschmutzt. So erziehen sie ihre Nation! Und wozu erziehen sie ihre Nation? Zum Krieg.“ „Gegen wen, glauben Sie?“ fragte Kobler. „Gegen jeden, lieber Herr!“ stöhnte er. „Ja, das ist halt hier ein pädagogischer Umsturz. Bekanntlich ist halt jede Revolution ein pädagogisches Problem, aber auch die Pädagogik ist ein revolutionäres Problem. Wie Sie sehen, ist das sehr kompliziert. Aber ist denn der Faschismus überhaupt eine Revolution? Aber keine Spur! Sacro egoismo und sonst nix!“ „Also ich persönlich halt nicht viel von den Revolutionen“, meinte Kobler. „Ich hätt zwar wirklich nichts dagegen, wenn es jedem besser ging, aber ich glaub halt, dass 얍 die revolutionären Führer keine Kaufleut sind, sie haben keinen kaufmännischen Verstand.“ „Das Zeitalter der Kaufleut“, nickte Schmitz. „Und glauben Sie nicht auch, dass wir Kaufleut noch lange nicht unsern Höhepunkt erreicht haben?“ fragte Kobler hastig. Der Schlaf war ihm plötzlich vergangen. „Wem erzählen Sie das?!“ rief Schmitz und fuhr dozierend fort: „Hörens her: erst wenn alle menschlichen Werte ehrlich und offen vom kaufmännischen Weltbild aus gewertet werden, dann werden die Kaufleut ihren Höhepunkt erreicht haben; aber dann wirds auch wieder abwärtsgehen mit die Kaufleut, und dann wird das Zeitalter einer anderen Gesellschaftsschicht heraufdämmern. Das ist die ewige Ellipse . Ein Kreis ist das nämlich nicht.“ B

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göttlich.“N ] FaschistenN ] BKrieg.“N ] Bwen,N ] BHerr!“ stöhnteN ] Ber.N ] B N] BUmsturz. BekanntlichN ] BSieN ] BFaschismusN ] BKobler. „IchN ] BjedemN ] BKaufleutN ] BKaufleut,“ nickteN ] Bfort: „HörensN ] BKaufleut,N ] BEllipseN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: göttlich!“"!." Korrektur von fremder Hand: Fasc\h/isten Korrektur von fremder Hand: Krieg!“"!." Korrektur von fremder Hand: wen\,/ korrigiert aus: Herr!“stöhnte

[der Schmitz.] |er.| Absatz von fremder Hand getilgt korrigiert aus: Umsturz. Bekanntlich Korrektur von fremder Hand: [s] S ie Korrektur von fremder Hand: Fasc\h/ismus korrigiert aus: Kobler.„Ich

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jede[n]|m| Kaufleut[e] korrigiert aus: Kaufleut,“nickte korrigiert aus: fort:„Hörens Korrektur von fremder Hand: Kaufleut\,/ Korrektur von fremder Hand: El\l/ipse

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„Ich seh keine Gesellschaftsschicht, die hinter uns Kaufleuten heraufdämmern könnt“, meinte Kobler düster. „Das Proletariat.“ „Aber das geht doch nicht! “ „Warum soll das nicht gehen?“ staunte Schmitz. „Wenn Sie seinerzeit dem Alexander dem Grossen gesagt hätten, dass heut die Kaufleut regieren werden, hätt er Sie lebendig begraben lassen. Ich warne Sie vor der Rolle Alexanders des Grossen!“ Hier wurde das Gespräch durch den Schaffner unterbrochen, der das Abteil betrat, um die Fahrkarten kontrollieren zu können. Kobler musste nachzahlen, und auch Schmitz musste nachzahlen, denn auch er hatte nur dritte Klasse. Der Schaffner sprach gebrochen Deutsch, und während er das Geld wechselte, 얍 unterhielt er sich mit den beiden Herren. Er sagte, dass er Deutschland sehr schätze und achte, denn er kenne eine deutsche Familie, und das wären ausserordentlich anständige und zuvorkommende Menschen. Zwar wären das eigentlich keine reinen Deutschen, sondern Deutsche aus Russland, sogenannte Emigranten. Sie seien aus Russland geflohen, weil sie wegen der bolschewistischen Verbrecher arbeiten hätten müssen, und das könnte man doch nicht, wenn man noch nie etwas gearbeitet hätte. Sie hätten also all ihr Hab und Gut zurücklassen müssen und seien nur mit dem, was sie am Leibe gehabt hätten, bei Nacht und Nebel geflohen. Sie hätten sich dann ein Hotel am Gardasee gekauft, ein wunderbares Hotel. „Schon wieder ein Schwätzer!“ brummte Kobler, während Schmitz den Schwätzer überaus wohlwollend betrachtete. „In Milano umsteigen!“ fuhr der Schwätzer zufrieden fort. „Neulich war Mussolini in Milano, da hat die Sonne geschienen, aber kaum war Mussolini wieder weg von Milano, hat es sofort geregnet. Sogar der Himmel ist für Mussolini“, grinste er und wünschte den beiden Herren eine glückliche Reise. Als er draussen war, entstand eine Pause. „Das war ein verschmitzter Bursche“, liess sich Schmitz wieder vernehmen. „Auch ein Beitrag zur philosophisch-metaphysischen Mentalität unterdrückter Klassen.“ „Sie sind anscheinend kein Kaufmann?“ meinte Kobler. „ Nein“, sagte Schmitz. „Ich bin ein Mann der Feder und fahr jetzt als Sonderkorrespondent zur Weltausstellung.“ Nun entstand abermals eine Pause. 얍 Während dieser Pause dachte jeder über den anderen nach. B

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Korrektur von fremder Hand: nachzahlen\,/ Korrektur von fremder Hand: [d] D eutsch\,/ Korrektur von fremder Hand: wechselte\,/ Korrektur von fremder Hand: Familie\,/ Korrektur von fremder Hand: müssen\,/ korrigiert aus: hätten,bei korrigiert aus: fort.„Neulich korrigiert aus: geschienen,aber korrigiert aus: Mussolini“,gri\n/ste

nicht!N ] nachzahlen,N ] BDeutsch,N ] Bwechselte,N ] BFamilie,N ] Bmüssen,N ] Bhätten, beiN ] Bfort. „NeulichN ] Bgeschienen, aberN ] BMussolini“, grinsteN ] Bphilosophisch-metaphysischen N ] BKaufmann?“ meinteN ] BNein f Schmitz.N ] B„IchN ] BfahrN ] Banderen nach.N ]

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philosophisch[en]-metaphysischen korrigiert aus: Kaufmann?“meinte korrigiert aus: Nein“,sagte Schmitz. Korrektur von fremder Hand: \„/Ich

fahr[e]

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Korrektur von fremder Hand: anderen[.] nach.

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Ich hab bisher eigentlich nur einen einzigen Mann der Feder gekannt , dachte Kobler, das war ein Poet, der nie bei sich war, wenn man nicht gerad über Hyazinthen gesprochen hat. Ein unpraktischer Mensch. Der hätt mir nur schaden können, sonst nichts. Aber dieser Schmitz scheint ein belesener und hilfsbereiter Mensch zu sein -- man soll halt nur mit Menschen verkehren, von denen man was hat. Das tun zwar alle, aber die meisten wissen nicht, was sie tun. Vielleicht kann mir dieser Mann der Feder was nützen, vielleicht kann ich ihn sogar ausnützen -- als Mann der Feder hat er sicher viel weibliche Verehrerinnen, auch in Ägypten wird er wahrscheinlich welche haben. Oh, ich glaub schon daran, dass es eine Vorsehung gibt! Wenn er nur nicht so stinken tät! Und Schmitz dachte: Vielleicht war es sogar blöd von mir, dass ich mich dem gleich angeboten hab als Reisebegleiter. Sicher war es blöd. Oh, wie bin ich blöd! Und warum bin ich blöd? Weil ich ein weicher Mensch bin. Ich kann aber auch energisch sein. Vielleicht ist das gar ein Schnorrer und pumpt mich an. Ich bin sehr energisch. Kaufmann ist er, hat er gesagt. Wer ist heut kein Kaufmann? Und was werden Sie schon für ein Kaufmann sein, lieber Herr? Es geht mich ja nichts an. Betrügen tut er sicher, sonst tät er nicht in seinem Alter nach Barcelona fahren , nämlich zur Grossbourgeoisie gehört jener nicht, das kenn ich an den Bewegungen. Ob jener ein Hochstapler ist? Nein, denn das kenn ich auch an den Bewegungen. Auf alle 얍 Fälle ist er blöd --- Meiner Seel! Wie er mir nicht passt, werd ich ihn schon los, wann, wo und wie ich will! Ich spring auch aus dem fahrenden Zug! B

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Als der Schnellzug Milano erreichte, war es zehn Minuten nach Mitternacht, obwohl der Schnellzug fahrplanmäßig erst um dreizehn Minuten nach Mitternacht Milano erreichen sollte . „Das nenn ich Ordnung!“ rief Schmitz. B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Er führte Kobler in das Bahnhofsrestaurant, wo sie sich bis zur Weiterfahrt nach Ventimiglia (3. 29 Uhr) aufhalten wollten. Schmitz kannte sich gut aus. „Ich kenn mich in Milano aus wie in Paris“, sagte er. „Das beste ist, wir bleiben am Bahnhof.“ „Es hat nämlich keinen Sinn in die Stadt zu fahren“, fuhr er fort, „denn erstens ist es ja jetzt stockfinster, und so hätten wir absolut nichts von dem gotischen Mailänder Dom, und zweitens ist hier architektonisch nicht viel los, es ist halt eine moderne Großstadt. Sie werden noch 얍 genug Gotik sehen!“ „Ich bin auf die Gotik gar nicht so scharf“, sagte Kobler. „Mir sagt ja das Barock auch mehr“, sagte Schmitz. „Mir sagt auch das Barock nichts“, sagte Kobler. „ Ja, verglichen mit den Wunderwerken Ostasiens, können wir Europäer freilich nicht mit!“ sagte Schmitz. Kobler sagte nichts mehr. ( „Jetzt halt aber endlich dein Maul!“ dachte er. ) „Jetzt wollen wir aber einen Chianti trinken!“ rief Schmitz und leuchtete . „Das ist der Wein mit dem Stroh untenherum . Oder sind Sie gar Abstinenzler?“ „Wieso kommen Sie darauf?“ verwahrte sich Kobler entschieden. „Ich kann enorm viel saufen und sogar durcheinander!“ „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz und lächelte glücklich. Schmitz war nämlich ganz verliebt in den Chianti, und auch Kobler fühlte sich sehr zu ihm hingezogen, als er ihn nun im Bahnhofrestaurant kennenlernte . Wohlig rann er durch ihre Gedärme, und bald stand die zweite Flasche vor ihnen. Dabei unterhielten sie sich über den Weltkrieg und den Krieg an sich. Sie hatten schon B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

im Zuge davon angefangen, denn da Schmitz auch kein Soldat gewesen war, hatte Kobler nichts dagegen gehabt, mal über die Idee des Krieges zu plaudern. Der Chianti löste ihre Zungen, und Kobler erzählte, er wäre ja politisch schon immer rechts gestanden, allerdings nur bis zum Hitlerputsch. Gegenwärtig stünde er so ziemlich in der Mitte, obwohl er eigentlich kein Pazifist sein könne, da sein einziger Bruder auf dem Felde der Ehre gefallen sei. „Wie hieß denn Ihr Herr Bruder?“ fragte 얍 Schmitz. „Alois“, sagte Kobler. „Armer Alois!“ seufzte Schmitz. „Ist Ihnen schlecht?“ erkundigte sich Kobler. „Mir ist immer schlecht, lieber Herr“, lächelte Schmitz wehmütig und leerte sein Glas. „Ich bin halt ein halber Mensch“, fuhr er fort und wurde immer sentimentaler. „Mir fehlt manchmal was, ob das die Heimat ist oder ein Fraunzimmer? Der Sanitätsrat meint zwar, dass meine Depressionen mit meiner miserablen Verdauung zusammenhängen, aber was wissen schon die Mediziner!“ „Ich persönlich bin schon sehr dafür, daß es keinen Krieg mehr geben soll“, antwortete Kobler, „aber glaubens denn, dass sich sowas durchführen lässt?“ „ Armer Alois“, murmelte Schmitz, und plötzlich wurde die Luft sehr leise. Dem Kobler war dies unbehaglich, und dabei fiel ihm ein, daß dieser Heldentod seinerzeit die Mutter natürlich sehr mitgenommen hatte. Sie hatte es direkt nicht mehr vertragen wollen, daß die Sonne scheint. „Wenn ich nur von ihm träumen könnt“, hatte sie immer wieder gesagt, „damit ich ihn sehen könnt!“ -Sie tranken bereits die dritte Flasche Chianti, aber Schmitz schien noch immer an sehr deprimierende Dinge zu denken, denn er war direkt abwesend. Plötzlich jedoch gab er sich einen Ruck und unterbrach die unangenehme Stille: „ Neuerdings“ , sagte er, „wird in unserer Literatur das Todesmotiv vernachläßigt, es will halt alles nur leben.“ „Man soll sich mit sowas gar nicht beschäftigen“, beruhigte ihn Kobler weg얍 werfend. Als Kind ist er zwar gern auf den Friedhof gegangen, um den Vater zu beB

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Korrektur von fremder Hand: Zungen\,/

plaudern.N ] Zungen,N ] BAlois!“N ] Bschlecht?“N ] Bschlecht, lieberN ] BHerr“,N ] BwurdeN ] BwasN ] Bdenn, dassN ] BsowasN ] BArmerN ] BSchmitz,N ] Bunbehaglich,N ] BhatteN ] BihnN ] Bkönnt!“N ] Bkönnt!“ --N ] BNeuerdings“N ] BallesN ] Bleben.“N ] BnichtN ] Bbeschäftigen“,N ] Bgegangen,N ]

Alois[“]|!“| schlecht[“?]|?“| korrigiert aus: schlecht,lieber Herr“\,/ w[i]|u|rde was\,/ denn\,/ da[ß]|ss| so[ ]was Korrektur von fremder Hand: Ar[n]|m|er Korrektur von fremder Hand: Schmitz\,/ Korrektur von fremder Hand: unbehaglich\,/ hat\te/ ih[m]|n| Korrektur von fremder Hand: könnt!“"!!" korrigiert aus: könnt!“-Neuerdings\“/ [{a}]|a|lles Korrektur von fremder Hand: leben!“"!." nic[t]|ht| beschäftigen“\,/ Korrektur von fremder Hand: gegangen\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

suchen, die Großeltern oder die gute Tante Marie. Aber durch den Weltkrieg ist das alles anders geworden. „Hin ist hin!“ hatte er sich gesagt und ist nach München übersiedelt . In München ging es damals (1922 ) drunter und drüber, und Kobler bot sich die Gelegenheit, die politische Konjunktur auszunützen. Er hatte ja nichts zu beißen, und als Mittelstandsprößling stand er bereits und überzeugt politisch rechts und wusste nicht, was die Linke wollte -- aber so sehr rechts stand er innerlich doch nie, wie seine neuen Bekannten, denn er besaß doch immerhin ein Gefühl für das Mögliche. „Es ist eigentlich alles möglich“, sagte er sich. Einer seiner neuen Bekannten gehörte sogar einem politischen Geheimbund an, mit dem seinerzeit die politische Polizei sehr sympathisierte, weil dieser Geheimbund noch rechtsradikaler war als sie selbst. Er hieß Wolfgang und verliebte sich in Kobler, aber dieser ließ ihn nicht ran. Trotzdem verschaffte ihm Wolfgang eine Stelle, denn er war nicht nur leidenschaftlich, sondern auch zu einer aufopferungsvollen Liebe durchaus fähig. So geriet Kobler in eine völkische Inflationsbank, und als der Bankier verhaftet wurde, wechselte Kobler in ein Fahrradgeschäft, hielt es aber nicht lange aus und wurde Reisender für eine württembergische Hautcreme und Scherzartikel. Dann hausierte er mit Briefmarken, und endlich landete er durch Vermittlung eines anderen Wolfgangs in der 얍 Autobranche. Wenn er heute an diese Zeit zurückdenkt, muß er sich direkt anstrengen, um sich erinnern zu können, wovon er meistens eigentlich gelebt hatte. Meistens ist er ja nur gerade noch durchgerutscht durch die Schlingen, die uns das Leben stellt. „Du mußt einen guten Schutzengel haben“, hatte ihm mal eine Prostituierte gesagt. Er dachte nicht gern an seine Vergangenheit, aber noch ungerner sprach er über sie. Er hatte nämlich häufig das Gefühl, als müßte er etwas vertuschen, als ob er etwas verbrochen hätte -- und er hatte doch nichts verbrochen, was nicht in den Rahmen der geltenden Gesellschaftsordnung gepaßt hätte. Drum sprach er auch jetzt beim Chianti lieber über die Zukunft. „Der Weltkrieg der Zukunft wird noch schauerlicher werden“, erklärte er Schmitz, „aber es ist halt nicht zu verwundern, daß es bei uns in Deutschland Leute gibt, die wieder einen Krieg wollen. Sie können sich halt nicht daran gewöhnen, daß wir zum Beispiel unsere Kolonien verloren haben. Ein Bekannter von mir hat zum Beispiel in seinem B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Briefmarkenalbum die ehemals deutschen Kolonien schwarz umrändert. Er sieht sie sich jeden Tag an -- alle andern Kolonien, englischen, italienischen, portugiesischen und so weiter hat er abgestoßen, noch dazu zu Schleuderpeisen, und die französischen Kolonien hat er, glaub ich, verbrannt.“ Schmitz hörte aufmerksam zu. „Ich, Rudolf Schmitz“, betonte er, „bin überzeugt, daß ihr Deutschen alle eure verlorenen Gebiete ohne Schwertstreich zurückbekommen werdet, und auch wir Deutsch-Oesterreicher 얍 werden uns ebenso an euch anschließen -- ich sage nur eines: Heilige Allianz ist gleich Völkerbund. Napoleon ist gleich Stalin!“ „Das weiß ich noch nicht“, antwortete Kobler skeptisch, weil er nicht wußte, was die Heilige Allianz bedeuten sollte. „Wer ist denn Stalin?“ fragte er. „Das lässt sich nicht so einfach erklären“, meinte Schmitz zurückhaltend. „Kehren wir lieber zum Thema zurück: Ich Rudolf Schmitz, bin überzeugt, daß es zwischen den europäischen bürgerlichen Großmächten zu keinem Krieg mehr kommen wird, weil man heutzutag eine Nation auf kaufmännisch-friedliche Art bedeutend „Das sag ich ja auch immer“ , nickte Kobler. „Das billiger ausbeuten kann.“ freut mich aber!“ freute sich Schmitz und wurde wieder lebhaft: „Denkens doch nur an Amerika! Vergessens bitte nur ja nicht, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika Europa zu einer Kolonie degradieren wollen, und das werden sie auch, falls sich Europa nicht verständigen sollte, denn Europa ist ja schon ein Mandatsgebiet!“ „Ob wir uns aber verständigen werden?“ fragte Kobler und fühlte sich überlegen. B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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„Wir müssen halt einen dicken Strich unter unsere Vergangenheit ziehen!“ ereiferte sich Schmitz. „Ich persönlich hätt nichts dagegen“, beruhigte ihn Kobler. „Diese Zoll- und Paßschikanen sind doch purer Wahnsinn!“ jammerte Schmitz. „Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet“, meinte Kobler gelassen, „haben Sie schon sehr recht, aber ich glaub halt, daß wir uns nur sehr schwer verständigen werden, weil keiner dem andern traut, jeder denkt, der andere ist der 얍 größere Gauner. Ich denk jetzt speziell an Polen.“ „Waren Sie schon in Polen?“ „Ich war noch nirgends.“ „Aber ich war in Polen und hab mich sogar in eine Polin verliebt, es gibt halt überall anständige Menschen, lieber Herr! Einer muß halt mal beginnen, sich energisch für die Verständigungsidee einzusetzen!“ Er leerte energisch den Rest der vierten Flasche Chianti. „Wir trinken noch eine“, entschied Kobler, und während Schmitz bereitwilligst bestellte, fixierte er die Büfettdame . „Also das ist Italien!“ dachte er, und allmählich geriet er in exhibitionelle Stimmung. „Wenn ich was trink, kann ich lebhafter denken“, sagte er. (Wenn schon! dachte Schmitz. ) „Wenn ich nichts trink, tut mir das Denken oft direkt weh, besonders über so weltpolitische Probleme“ , fuhr er fort. Der Kellner brachte die fünfte Flasche, und Kobler wurde immer wißbegieriger. „Was bedeutet eigentlich ‚Pan’?“ fragte er. „Das Universum zuguterletzt“, dozierte Schmitz. „Und im Falle ,Paneuropa’ bedeutet es die ‚ Vereinigten Staaten von Europa’.“ „Das weiß ich“, unterbrach ihn Kobler. Schmitz schlug mit der Faust B N

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

auf den Tisch. „Aber ohne Großbritannien gefälligst!“ brüllte er und mußte dann plötzlich gähnen. „ Pardon!“ riß er sich zusammen. „Ich hab jetzt gegähnt, aber ich bin noch gar nicht müd, das sind nur so Magengase, die sich bei mir besonders stark entwickeln , wenn ich etwas angeheitert bin. Apropos: kennen Sie meine Kriegsnovelle? Sie ist leider kein pekuniärer Erfolg, weil ich die grausige Realistik des Krieges mit meiner grausigen Phantastik verband, gewissermaßen ein Kriegs-Edgar-Allan-Poe . Ist Ihnen dieser Name ein 얍 Begriff?“ „Nein.“ „ Ja, die Kunst hört allmählich auf“, murmelte Schmitz, ließ einen Donnernden fahren und wurde wieder sentimental. Er war eben ein Stimmungsmensch. „Ich les ja schon lieber wahre Geschichten als wie erfundene , wenn ich was les“, sagte Kobler. „Zwischen uns ist halt eben eine Generation Unterschied“, nickte Schmitz und lächelte väterlich. „Oft versteh ich Ihre Generation überhaupt nicht. Oft wieder scheinen mir Ihre Thesen schal , dürftig, a-dionysisch in einem höheren Sinn . In meiner Jugend hab ich den halben Faust auswendig hersagen können und den ganzen Rimbaud. Kennen Sie das trunkene Schiff? Pardon auf einen Moment! Ich muß jetzt mal naus.“ Und Kobler sah, daß Schmitz, wie er so hinausschritt, die Zähne zusammenbiß und die Fäuste krampfhaft ballte, so sehr nahm er sich zusammen, um nicht umzufallen. „Bin ich denn auch schon so voll?“ fragte er sich bekümmert. „Auf alle Fäll ist das ein interessanter Mensch.“ Und als der interessante Mensch wieder an den Tisch zurücktaumelte, wurde es allmählich Zeit, denn draussen auf dem Geleise standen bereits die durchgehenden Waggons nach Ventimiglia. Die beiden Herren sprachen noch etwas über die Politik an sich, über die Kunst an sich, und Schmitz beklagte sich noch besonders wegen der europäischen Zerfahrenheit an sich. Aber es wollte kein richtiges Gespräch mehr aufkommen, denn beide Herren konnten sich nicht mehr richtig konzentrieren. 얍 Kobler schrieb noch rasch eine Postkarte an die Perzl: „Bin soeben an Ihrer gewesenen Windmühle in Brescia vorbeigefahren . Gruß Kobler.“ Und darunter B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

schrieb Schmitz: „Unbekannterweise Handküsse Ihr sehr ergebener Rudolf Schmitz.“ Dann zahlten die beiden Herren, und beide wurden vom Kellner betrogen, der sich hernach mit einem altrömischen Gruß empfahl . Und Schmitz hob den Arm zum Faschistengruß, und auch Kobler tat so. Und auch die Büfettdame tat ebenso. B

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Als die beiden Herren aus dem warmen rauchigen Lokal in die frische Nachtluft traten, fielen sie fast um, denn sie hatten einen derartigen Rausch. Sie torkelten schon ganz abscheulich, und es dauerte direkt lang, bis sie endlich in einem der durchgehenden Waggons nach Ventimiglia saßen. Beide Herren waren von einander überaus be-얍geistert, besonders Schmitz freute sich grandios, daß er den Kobler kennengelernt hatte. Bewegt dankte er ihm immer wieder, daß er ihn nach Spanien begleiten darf. Dabei titulierte er ihn Baron, Majestät, General und Kommerzialrat. Aber plötzlich hörte Kobler kaum mehr hin, so glatt wurde er nun von der Müdigkeit, die ihn schon in Verona gepackt hatte, um ihm die Augen einzudrücken, niedergeschlagen. Also antwortete er bloss lakonisch, meist nur mit einem Wort. „Warum fahren Eminenz eigentlich nach Barcelona?“ fragte Schmitz. „ Aegypten“, murmelte die Eminenz. „Wieso Aegypten, Herr Veterinär?“ „ Standesamt“, stöhnte der Veterinär. „Politisch?“ „Möglich!“ „Das gibt aber jetzt ein Interview!“ brüllte Schmitz und geriet in hastige Begeisterung. „Ein Interview wie noch nie!“ Er riß sich ein Notizbuch aus der Brust, um B

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Schmitz: „UnbekannterweiseN ] Herren,N ] BempfahlN ] BFaschistengruß,N ] BUndN ] BBüfettdameN ] B15N ] BHerrenN ] Baus demN ] BschonN ] Babscheulich,N ] Blang,N ] BsieN ] BHerrenN ] BdaßN ] BmehrN ] Blakonisch,N ] B N] BBarcelona?“N ] B N] BAegypten“,N ] BVeterinär?“N ] B N] BStandesamt“,N ] B N] B N] B B

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sich Koblers Antworten gewissenhaft zu notieren, denn jetzt wußte er vor lauter Rausch nicht mehr, was er tat. „Darf man fragen“, legte er los, „was halten Herr Oberstleutnant von der GeistLeib-Bewegung? Und was von der Leib-Geist-Bewegung?“ Kobler riß die Augen auf und starrte ihn unsagbar innig an, ja er versuchte sogar zu lächeln. „Ich bin ganz der Ihre, gnädiges Fräulein“, lallte er. „Jetzt wird mir schlecht!“ brüllte Schmitz. „ Jetzt wird mir plötzlich schlecht!“ Er fuhr entsetzt empor und raste hinaus, um sich zu erbrechen. Kobler sah ihm überrascht nach und machte dann eine resignierte Geste. „Frauen sind halt unberechenbar“, meinte er. -In einem solchen Zustand verließen die beiden Herren Milano, die Metropole 얍 Oberitaliens. Und dieser Zustand änderte sich auch kaum wesentlich während der restlichen Nacht. Zwar schliefen sie, aber ihr Schlaf war unruhig und quälend, voll dunkler, rätselhafter Träume. So träumte Schmitz zum Beispiel unter anderem folgendes: Er schreitet leichten Fußes und beschwingten Sinnes über arkadische Sommerwiesen. Es ist um das Fin de siècle herum, und er belauscht in einem heiligen Hain eine Gruppe sich tummelnder bildhübscher Helleninnen . „Paneuropa!“ ruft er, und das ist die klassisch Schönste . Aber Paneuropa weist ihn schnippisch in seine Schranken zurück. „Wer weitergeht, wird erschossen!“ ruft sie ihm übermütig zu und lacht silbern. Doch da wird ihm die Sache zu dumm, er verwandelt sich in einen Stier, und zwar in einen Panstier, und der gefällt der Paneuropa. Keuchend wirft sie sich um seinen Panstiernacken und bedeckt seine Panstiernüstern mit den hingebungsvollsten Küssen -- aber während sie ihn also küßt, verwandelt sich die klassisch schöne Paneuropa leider Gottes in die miese Frau Helene Glanz aus Salzburg. Und Kobler träumte bereits knapp hinter Milano von seinem armen Bruder Alois, der im Weltkrieg von einer feindlichen Granate zerrissen worden war. Nun trat dieser Alois als toter Soldat in einem weltstädtischen Kabarett auf und demonB

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mehr, wasN ] Fräulein“,N ] BJetzt wirdN ] Bhinaus,N ] BGeste. „FrauenN ] Ber. --N ] BHerrenN ] Bdunkler,N ] Bunter anderemN ] BErN ] BFin de siècleN ] Bherum,N ] B N] BHelleninnenN ] B„Paneuropa!“N ] Ber,N ] BSchönsteN ] Berschossen!“N ] BStier,N ] BPanstier,N ] BKüssen -- aberN ] Bknapp hinterN ] BdieserN ] BKabarettN ] B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

strierte einem exklusiven Publikum, wie ihn seinerzeit die Granate zerrissen hatte. Dann legte er sich selber wieder artig zusammen, und das tat er voll Anmut. Und das 얍 Publikum sang den Refrain mit: „Die Glieder Finden sich wieder!“ B

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Als die beiden Herren erwachten, ging es schon gegen Mittag. Sie hatten Genua glatt verschlafen, und nun näherten sie sich San Remo. Draußen lag das Meer, unsere Urmutter. Nämlich das Meer soll es gewesen sein, in dem vor vielen hundert Millionen Jahren das Leben entstand, um später auch auf das Land herauszukriechen , auf dem es sich in jener wunderbar komplizierten Weise höher und höher entwickelt, weil es gezwungen ist, sich anzupassen, um nicht aufzuhören. Schmitz fiel es ein, daß Kobler jetzt zum erstenmal das Meer sieht. „Was sagen Sie eigentlich zum Meer?“ fragte er. „Ich hab mir das Meer nicht anders gedacht“, 얍 antwortete Kobler apathisch. Er lag noch immer und sah noch sehr mitgenommen aus. „Beruhigen Sie sich, lieber Herr“, tröstete ihn Schmitz. „Mir tut der Schädel genau so weh wie Ihnen, aber ich beherrsch mich halt. Wir hätten uns in Milano nicht so besaufen sollen.“ „Wir hätten uns halt in Milano beherrschen sollen“, lamentierte Kobler. „Jahrgang 1902“, murmelte Schmitz. Sie fuhren nun am Meer entlang und hatten eigentlich nichts davon, trotzdem, daß es zuerst die italienische Riviera di Ponente war und hernach sogar die französische Côte d’Azur. Zwischen den beiden mußten sie wiedermal so eine amtliche Zoll- und Paßkontrolle über sich ergehen lassen, nämlich im Grenzort Ventimiglia. Hier war es Kobler am übelsten, aber selbst Schmitz vertrödelte hier fast B

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Korrektur von fremder Hand: exklusive[m] n Korrektur von fremder Hand: zusammen\,/ [XVII.] 16. Korrektur von fremder Hand: 16[.]

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trotzdem\,/ es\ /zuerst Korrektur von fremder Hand: di[o]

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eine volle Stunde auf der Toilette. Sie mußten halt für ihren Mailänder Chianti bitter büßen, und das Bittere dieser Buße stand, wie häufig im Leben, im krassesten Missverhältnis zur Süße des genossenen Vergnügens. Besonders Kobler konnte diese weltberühmte Landschaft überhaupt nicht genießen, er konnte auch nichts essen, übergab sich bei jeder schärferen Kurve und sah düster in die Zukunft. „Jetzt bin ich noch gar nicht am Ziel meiner Reise, und schon bin ich tot“, dachte er deprimiert. „Warum fahr ich eigentlich?“ Schmitz versuchte ihn immer wieder auf andere Gedanken zu bringen. „Sehens nur“, sagte er in Monte Carlo, „hier wachsen die Palmen sogar am Perron! Ich werd halt das Gefühl nicht los, dass Westeuropa noch bedeutend bürgerlicher ist, weil es den Weltkrieg gewonnen hat. Ich möcht aber nicht 얍 wissen, was sein wird , wenn die Westeuropäer mal dahinterkommen, dass sie den Weltkrieg zuguterletzt auch nur verloren haben! Wissens, was dann sein wird? Dann werden auch hier die Sozialdemokraten Minister.“ Und in Nizza konstatierte Schmitz, daß man hier rechtens die Uhr nicht um eine Stund , sondern gleich um vierzig Jahre zurückdrehen müsste -- und hierbei lächelte er sarkastisch, aber wenn er allein war, fühlte er sich manchmal sauwohl in der Atmosphäre von 1890 , obwohl er sich dann immer selbst widersprechen mußte. Und in Cap d’Antibes mußte Schmitz unter anderem an Bernard Shaw denken, und er dachte, das sei ein geistreicher Irländer, und von dem alten Nobel wär es schon eine sehr noble Geste gewesen, daß er den Nobelpreis gestiftet hätt, als er mitansehen mußte, wie sich die Leut mit seinem Dynamit gegenseitig in die Luft sprengen. -Nun verliess der Zug das Meer und erreichte es wieder in Toulon. „Wir sind jetzt bald in Marseille“, sagte Schmitz. Es war bereits spät am Nachmittag, und die Luft war dunkelblau. Draußen lag Toulon, ein Kriegshafen der Französischen Republik. Und beim B

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büßen,N ] BittereN ] BLeben,N ] Bnoch garN ] BReise,N ] Blos, dassN ] BnichtN ] Bsein wirdN ] Bdahinterkommen, dassN ] BWissens,N ] Bhier dieN ] Beine StundN ] Bmüsste -- undN ] B1890N ] BwidersprechenN ] Bunter anderemN ] BBernardN ] Bdenken,N ] BIrländer,N ] Bdie LuftN ] Bsprengen. --N ] BverliessN ] BMarseille“,N ] BNachmittag,N ] BFranzösischenN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: büßen\,/

Bitter\e/ Korrektur von fremder Hand: Leben\,/

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sein\ /wird dahinterkommen\,/ da[ß]|ss| Korrektur von fremder Hand: Wissens\,/ Korrektur von fremder Hand: hier\ /die Korrektur von fremder Hand: eine\ /Stund korrigiert aus: müsste[,]--und 18[{}]|9|0 korrigiert aus: wiedersprechen Korrektur von fremder Hand: [u.a.] |unter anderem| Korrektur von fremder Hand: Bern[h]ard Korrektur von fremder Hand: denken\,/ Korrektur von fremder Hand: Irländer\,/ korrigiert aus: d[ei]|ie|Luft korrigiert aus: sprengen.-verlie[ß]|ss| Marseille“\,/ Korrektur von fremder Hand: Nachmittag\,/ Korrektur von fremder Hand: [f]|F|ranzösischen

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Anblick der grauen Torpedoboote und Panzerkreuzer stiegen in Schmitz allerhand Jugenderinnerungen empor. So erinnerte er sich auch, wie er einst als Kind mit der feschen Tante Natalie einen Panzerkreuzer der k. u. k. österreich-ungarischen Flotte in Pola hatte besichtigen dürfen. Die Tante hatte sich aber bald mit einem Deckoffizier unter Deck zurückgezogen, und er hatte droben 얍 fast eine halbe Stunde lang allein auf die Tante warten müssen. Und da hatte er sich sehr gefürchtet, weil die Kaangefangen haben, sich von selber zu bewegen. „Ich versteh die nonenrohre französische Demokratie nicht“, dachte er nun in Toulon melancholisch. „Bei den Faschisten ist dieser Rüstungswahn nur natürlich, wenn man ihren verbrecherischen Egoismus in Betracht zieht, aber bei der französischen Demokratie mit ihrer europäischen Sendung? Sie werden sagen, daß La France halt gegen Mussolini rüsten muß, denn dieser Mussolini strebt ja nach Nizza und Korsika, und sogar den großen Napoleon will er für sich annektieren, und leider ist das halt logisch, was Sie da sagen, liebe Mariann !“ Endlich erreichten sie Marseille. Es ist bekannt, dass sich jede grössere Hafenstadt durch ein farbiges Leben auszeichnet. Aber ganz besonders Marseille. In Marseille ist der Mittelpunkt des farbigen Lebens der alte Hafen, und der Mittelpunkt dieses alten Hafens ist das Bordellviertel. Wir werden darauf noch zurückkommen. Als nun die beiden Herren die breite Treppe vom Gare Saint-Charles hinabstiegen , ging es Schmitz schon deutlich besser, während Kobler sich noch immer recht matt fühlte. Auch war es ihm, als könnte er noch immer nicht wieder korrekt denken. 얍 „Hier in Marseille entstand die Marseillaise“, belehrte ihn Schmitz. „Nur nichts mehr wissen!“ wehrte sich Kobler mit schwacher Stimme. Bald hinter Toulon war es bereits Nacht geworden, und nun hatten die beiden Herren keinen sehnlicheren Wunsch, als möglichst bald in einem breiten, weichen B

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stiegenN ] SoN ] Bk. u. k.N ] Bdürfen. DieN ] Bzurückgezogen,N ] B N] BsichN ] Bbewegen.N ] BDemokratieN ] BFaschistenN ] BLaN ] BKorsika,N ] BMariannN ] Bbekannt,N ] Bdass sichN ] BgrössereN ] BHafen,N ] BHerrenN ] BSaint-CharlesN ] BhinabstiegenN ] B N]

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belehrte ihnN ] Schmitz. „NurN ] Bgeworden,N ] BHerrenN ] B

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[auf einmal] \sich/ Korrektur von fremder Hand: bewegen\./

[d]|D|emokratie Korrektur von fremder Hand: Fasc\h/isten Korrektur von fremder Hand: [l] L a Korrektur von fremder Hand: [C] K orsi[c] k a\,/

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Mariann[e] Korrektur von fremder Hand: bekannt[ ],

da[ß]|ss| sic[h]|h| grö[ß]|ss|ere Korrektur von fremder Hand: Hafen\,/ Korrektur von fremder Hand: Herr\e/n S[T] t . Charles Korrektur von fremder Hand: [St.] Saint- Charles Korrektur von fremder Hand: h[er] in abstiegen

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[„Wie gebildet hier die Leute sind, hier sprechen ja schon die kleinsten Kinder französisch[e!]“, sagte er.] [antwortete] |belehrte ihn| korrigiert aus: Schmitz.„Nur Korrektur von fremder Hand: geworden\,/ Korrektur von fremder Hand: Herr\e/n

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Endfassung

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französischen Bett einschlafen zu können. Sie stiegen in einem kleinen Hotel am Boulevard Dugommier ab, das Schmitz als äusserst gediegen und preiswert empfohlen worden war. Aber der ihm das empfohlen hatte, mußte ein äusserst boshafter Mensch gewesen sein, denn das Hotel war nicht gediegen, sondern ein Stundenhotel und infolgedessen auch nicht preiswert. Jedoch den beiden Herren fiel das bei ihrer Ankunft nicht auf, denn sie schliefen ja schon halb, als sie das Hotelbüro betraten. Sie gingen ganz stumm auf ihr Zimmer und zogen sich automatisch aus. „Hoffentlich sind Sie nicht mondsüchtig“, jammerte Schmitz. „Das wär ja noch das geringste“, beruhigte ihn Kobler und fiel in sein Bett. B

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Die Nacht tat den beiden Herren sehr wohl. 얍 Befreit von der Monotonie der Schienen und Eisenbahnräder träumten sie diesmal nichts. „Heut bin ich neugeboren!“ trällerte Schmitz am nächsten Morgen und band sich fröhlich die Krawatte . Und auch Kobler war lustig. „Ich freu mich schon direkt auf Marseille“, meinte er. Als die beiden Herren angezogen waren, bummelten sie über die Canebiere , jene weltberühmte Hauptverkehrsader. Dann fuhren sie mit einem Autobus über den Prado hinaus nach der Corniche, einer zufriedenen Straße, die immer am freien Meer entlang laufen darf. Hierauf fuhren sie mit dem Motorboot an alten unbrauchbaren Festungen vorbei nach dem Inselchen des romantischen Grafen von Monte Christo. Hierauf fuhren sie mit einem kühnen Aufzug auf jenen unheimlich steilen Felsen, auf dem Notre Dame de la Garde steht. Von hier aus bot sich ihnen ein umfassendes Panorama. „Da unten liegt Marseille“, erklärte Schmitz die Situation. Hierauf fuhren sie mit der eisernen Spinne des Pont Transbordeurs, und zwar einmal hin und einmal zurück. Hierauf gingen sie in eines der populären Restaurants am alten Hafen, und zwar in das Restaurant „Zum Kometen“ . B

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Da gab es allerhand zu essen, und alles war billiger als in Deutschland und Oesterreich. Infolgedessen überfraßen sich die beiden Herren fast. Besonders die Vorspeisen, von denen man um dasselbe Geld nehmen konnte, soviel man wollte, taten es ihnen an. Und auch das weiche weiße Brot. Mit dem Wein gingen sie diesmal mißtrauischer um, trotzdem wurde Schmitz wieder recht gesprächig. Er erinnerte 얍 Kobler an das treffende Sprichwort vom lieben Gott in Frankreich und fragte ihn hernach , ob es ihm schon aufgefallen sei, daß hier zahlreiche Lokale, oft wahre Prachtcafés , keine Klosette hätten, und das wäre halt so eine südfranzösische Spezialität . Hierauf zählte er ihm die Spezialitäten der Marseiller Küche auf und bestellte sich eine Art Fischsuppe. „Das ist aber eine eigenartige Speis“, meinte Kobler vorsichtig und schnupperte. „Ich glaub, daß da viel exotische Zutaten drin sind.“ „ Erinnern Sie sich an das Kolonialdenkmal auf der Corniche?“ erkundigte sich Schmitz mit vollem Munde. „Das war jenes Monumentaldenkmal für die im Kampfe gegen die französischen Kolonialvölker gefallenen Franzosen -- natürlich stammt hier vieles aus den Kolonien, aber das stammt es überall! Auch unser berühmter Wiener schwarzer Kaffee wächst bei den Schwarzen. Hätten wir keine Kolonialprodukte, lieber Herr, könnten wir ja unsere primitivsten Bedürfnisse nicht befriedigen. Und glaubens mir, wenn man die armen Neger nicht so schamlos ausbeuten tät, wär das der Fall, denn dann wären ja alle Kolonialprodukte unerschwinglich teuer, weil dann halt die Plantagenbesitzer auch gleich das Tausendfache verdienen wollten -- glaubens mir, mein Sehrverehrter , wir Weißen sind die größten Bestien !“ Jetzt mußte er plötzlich stark husten, weil er sich einen zu großen Bissen in den Rachen geschoben hatte. Als er sich ausgehustet hatte, fuhr er fort: „Wenn wir weißen Bestien ehrliche Leut wären, müßten wir unsere Zivilisation 얍 auf den Bedürfnislosen aufbauen, deren Bedürfnisse auch ohne Negerprodukte befriedigt werden könnten, also gewissermaßen Waldmenschen -- das wären also dann B

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essen,N ] konnte,N ] BFrankreichN ] BhernachN ] BPrachtcafésN ] BSpezialitätN ] BSpeis“,N ] Bglaub,N ] BErinnernN ] BvollemN ] BFranzosen --N ] BKolonien, aberN ] Büberall!N ] BWiener schwarzerN ] BKolonialprodukte,N ] BBedürfnisseN ] BTausendfacheN ] Bwollten -- glaubensN ] BSehrverehrterN ] BBestienN ] Bden RachenN ] B N] BaufN ] BNegerprodukteN ] BWaldmenschen --N ] B B

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überall\!/ Wiener\ /schwarzer korrigiert aus: Kolonialprodukte , Bedürfniss[ ]e Korrektur von fremder Hand: [t]|T|ausendfache korrigiert aus: wollten--glaubens [s]|S|ehr[ V]|v|erehrter Bestien[,] Korrektur von fremder Hand: den\ /Rachen [dozierend] \a/uf Negerprodukte[n] korrigiert aus: Waldmenschen--

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Staaten, die kaum ein Bedürfnis befriedigen könnten, aber wo blieb dann unsere abendländische Kultur?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Kobler und sah gelangweilt auf seine Uhr. „Wann gehen wir denn ins Bordellviertel?“ fragte er besorgt. „Jetzt rentiert sichs noch nicht, es ist noch zu hell“, meinte Schmitz. „Wir können ja bis dahin vielleicht noch einige alte Kirchen anschaun. Garçon, bringen Sie mir encore eine Banane!“ B

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Gleich hinter dem schönen Rathaus von Marseille beginnt das berühmte Bordellviertel, düster und dreckig, 얍 ein wahres Labyrinth -- als hörte es nirgends auf . Je weiter man sich vom Rathaus entfernt, um so inoffizieller wird die Prostitution und um so vertierter gebärdet sie sich. Die Straßen werden immer enger, die hohen Häuser immer morscher, und auch die Luft scheint zu verfaulen. „Der Gott und die Bajadere “, fiel es Schmitz plötzlich ein, denn er war halt ein Literat. „Sehens dort jene Bajader ?“ fragte er Kobler. „Jene fette Gelbe, die sich dort grad ihre schwarzen Füß wascht, ist das aber unappetitlich! Meiner Seel, jetzt fangt sie sich auch noch zu pediküren an! Das nennt sich Gottes Ebenbild !“ „Zum Abgewöhnen “, meinte Kobler. „ Passens auf!“ schrie Schmitz, denn er sah, daß sich ein anderes Ebenbild Kobler näherte . Dieses Ebenbild hatte einen verkrusteten Ausschlag um den Mund herum und wollte Kobler partout einen Kuß geben. Aber Kobler wehrte sich ganz ängstlich, während ein drittes Ebenbild Schmitz den Hut vom Kopf herunterriß und sehr nekkisch tat, worüber eine Gruppe singalesischer Matrosen sehr lachen mußte. „Ein interessantes Völkergemisch ist das auf alle Fäll“, konstatierte Schmitz, als er nach langwierigen Verhandlungen seinen Hut für fünf Zigaretten wieder zurückB N

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bekommen hatte. „Habens auch die japanische Hur gsehen?“ „Ich hab auch die chinesische gesehen!“ antwortete Kobler. „Man kann ja hier allerhand sehen. Ich versteh nur die Männer nicht, die sich mit sowas einlassen.“ „Das ist halt der Trieb“, meinte Schmitz, „und die Matrosen sollen oft einen 얍 ganz ausgefallenen Trieb haben.“ „Ich versteh die Matrosen nicht“, unterbrach ihn Kobler mürrisch. Und dann fluchte er sogar und beschwerte sich ungeduldig darüber, dass es in Marseille anscheinend keine netten Huren gibt, sondern bloß grausam abscheuliche. Er hätte sich diese Hafenstadt ganz anders vorgestellt. „Beruhigen Sie sich nur!“ beschwichtigte ihn Schmitz. „Ich werd Sie jetzt in ein vornehmes, hochoffizielles Puff führen, ich hab die Adresse aus Wien vom Ober vom „Bristol“ . Dort werden die Weiber sicher sehr gepflegt sein, und man soll dort allerhand erleben, auch wenn man sich nicht einläßt. In Hafenstädten soll man sowas ja überhaupt nicht machen, schon wegen der gesteigerten Ansteckungsgefahr. Hier ist doch alles krank.“ „Ich hab noch nie was erwischt“, meinte Kobler, und das war gelogen. „Ich hab auch noch nie was erwischt“, nickte Schmitz, und das war auch gelogen. Dann wurde er wieder melancholischer. „ Zu guter Letzt ist halt diese ganze Prostitution etwas sehr Trauriges , aber man kann sie halt nicht abschaffen“, lächelte er wehmütig . „Das ist auch meine Meinung“, pflichtete ihm Kobler bei. „Ich kenn einen Prokuristen, dem sein höchsts Ideal ist, mit der Frau, die er liebt, obszöne Bilder zu betrachten. Aber seine eigene Frau wehrt sich dagegen und behauptet, daß sie durch solche Photographien direkt lebensüberdrüssig werden tät. Also was bleibt jetzt dem Prokuristen übrig? Der Strich. Und wo eine Nachfrage ist , da ist halt auch ein Angebot da. Das sind halt so Urtriebe!“ B

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„Was gibts doch für Viecher auf der Welt!“ dachte Schmitz und wurde wieder philosophisch. „Ich betracht auch die Prostitution von einem höhern Standpunkt aus“, erklärte er. „Ich hab mir jetzt grad überlegt, daß wir Menschen, seitdem wir da sind, eigentlich nur drei Triebe, nämlich Inzest , Kannibalismus und Mordgier unterdrückt haben, und nicht einmal diese drei haben wir total unterdrückt, wie das uns in letzter Zeit wieder mal der Weltkrieg bewiesen hat. Das sind Probleme, lieber Herr ! Sehen Sie sich zum Beispiel mich an! Ich hab in meiner Jugend mit dem kommunistischen Manifest sympathisiert . Man muss durch Marx unbedingt hindurchgegangen sein. Marx behauptet zum Beispiel, dass mit der Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse auch die Prostitution verschwindet. Das glaub ich nicht. Ich glaub, dass man da nur reformieren kann. Und das gehört sich auch so.“ „Wie?“ „Das hat man eben noch nicht heraussen, wie sich das gehört, man weiß nur, daß es sich marxistisch nicht gehört, denn wir erlebens ja gerade, daß der Kommunismus weit darüber hinausgeht und unsere ganze europäische Zivilisation vernichten will!“ Er hielt plötzlich ruckartig. „ So, und jetzt haben wirs erreicht“, sagte er. „Das dort drüben ist jenes Puff!“ – Der Ober im „Bristol“ hatte wirklich nicht übertrieben, als er Schmitz seinerzeit sein Ehrenwort gegeben hatte, daß das Haus „ Chez Madelaine“ in jeder Hinsicht 얍 vorbildlich geführt wird, solid und reell. „Er hat ausnahmsweise nicht gelogen“, dachte Schmitz. „Ich werd ihm noch heut eine Ansichtskarte schreiben.“ Die Pförtnerin, eine freundliche Alte, führte die beiden Herren in den Empfangsraum, bot ihnen Platz an und bat, sich nur wenige Augenblicke zu gedulden. Der Empfangssalon war im Louis-XVI-Stil gehalten, doch keineswegs protzig, eher schlicht. An den Wänden hingen Stiche nach Watteau und Fragonard, für die B

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sich Schmitz rein mechanisch sofort interessierte. „Ob das nicht sehr teuer sein wird?“ fragte Kobler mißtrauisch, aber Schmitz konnte ihn nicht beruhigen, denn in diesem Augenblick betrat die Madame den Salon. Die Madame war eine ältere Dame mit wunderbar weißem Haar und sprechenden Augen, eine vornehme Erscheinung. Sie hatte etwas Königliches an sich und einen natürlichen Charme. Aber auch etwas Strenges hatte sie um den Mund herum, und das mußte so sein, wenn sie den guten Ruf ihres Bordells hochhalten wollte. „Also das wird sehr viel kosten“, dachte Kobler besorgt , während sich die Madame taktvoll an Schmitz wandte, weil dieser der Ältere war. Sie begrüßte ihn sofort auf englisch, aber Schmitz unterbrach sie sofort, er sei kein Amerikaner, und sein Freund sei auch kein Amerikaner, sondern im Gegenteil. Der Madame schien das sehr zu gefallen, sie entschuldigte sich vielmals, lächelte überaus zuvorkommend und war nun nicht mehr reserviert, eher übermütig. „Habens den Tonwechsel bemerkt?“ flüsterte Schmitz dem Kobler zu, als sie der Madame in die Bar 얍 folgten. „Habens es bemerkt, wie verhaßt die Amerikaner in Frankreich sind? Hier möcht man halt auch keine amerikanische Kolonie werden!“ „Das ist mir jetzt ganz wurscht!“ unterbrach ihn Kobler unruhig. „Ich beschäftig mich jetzt nur damit, daß es hier recht viel kosten wird!“ „Was kann das schon kosten? Wir gehen jetzt einfach in die Bar und bestellen uns einfach zwei Whisky mit Soda, und sonst tun wir halt einfach nichts. “ Nun betraten sie die Bar. In der Bar sah man fast lauter uniformierte Menschen, Soldaten und Matrosen, die sich mit den halbnackten Mädchen mehr oder minder ordinär unterhielten. Auch saßen in einer Ecke zwei Gäste aus Indien und in einer anderen Ecke sassen drei Sportstudenten aus Nordamerika, letztere mit hochroten Köpfen, aber mit puritanischem Getue. Und dann saßen noch zwei Herrn da, um die sich die Mädchen aber nicht kümmerten: Der eine war ein eingefleischter Junggeselle, und der andere war bloß gekommen , um der Madame Turftips zu geben. Es war ein lebhafter Betrieb. Der Pianist spielte sehr talentiert, teils sentimental und teils für das Knie, er sah aus wie ein Regierungsrat. Und der Kellner sah aus wie B

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MadameN ] etwasN ] BKöniglichesN ] BStrengesN ] Bherum,N ] Bsein, wennN ] BbesorgtN ] BÄltereN ] BAmerikaner,N ] Bwurscht!“N ] Bmit Soda,N ] Bnichts.N ] BIndien undN ] BanderenN ] BKöpfen,N ] BJunggeselle,N ] Bbloß gekommenN ] Bgekommen, umN ] BTurftipsN ] B N] BUnd derN ] B B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Adolf Menjou und war sehr distinguiert. Alles war scharf parfümiert, und das mußte wohl so sein. Als die Madame den Salon betrat, riß es die Dirnen etwas zusammen, denn sie hatten eine eiserne Diszi-얍plin im Leibe, trotz ihres ausgelassenen Gebarens. Sie bildeten sofort einen regelmäßigen Halbkreis um Schmitz und Kobler, streckten ihre Zungen heraus und bewegten selbe je nach Veranlagung rascher oder langsamer hin und her, und das sollte recht sinnlich und lasterhaft wirken. „ Allons !“ sagte die Madame, aber Schmitz erklärte ihr, sie wollten vorerst und vielleicht überhaupt nur eine einfache Kleinigkeit trinken --- „Très bien!“ sagte die Madame, worauf sich der Halbkreis wieder auflöste. Trotzdem ließ die Madame nicht so leicht locker und erkundigte sich, ob die beiden Herren nicht vielleicht eine Dame bloß zum Diskurrieren haben wollten, sie hätte auch sehr intelligente Damen hier, mit denen man auch über Problematisches reden könnte. Insgesamt sprächen ihre Damen vierzehn Sprachen, und eine Deutsche sei auch unter ihnen, und sie wolle mal die Deutsche an den Tisch der beiden Herren dirigieren, und das würde natürlich absolut nichts kosten -- solange es nämlich beim Diskurrieren bleiben würde. Die Madame ging, um die Deutsche herbeizuholen, die gerade verschwunden war -- , da schritt eine Negerin durch die Bar. Sie hatte einen grellroten Turban und einen ganz anderen Gang als ihre weißen Kolleginnen, und dies gab dem Schmitz wiedermal Gelegenheit, sich über die gemeinsame Note der Europäerinnen zu äussern und darüber hinaus zu bedauern, daß man das typisch Europäische bisher nur oberflächlich formuliert hat. „Oder könnten Sie auf diese Menschen hier schießen, nur weil sie keine Deutschen sind?“ Kobler verneinte diese Frage. Und Schmitz fuhr B

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gemeint ist: Adolphe Menjou Korrektur von fremder Hand: parfümiert\,/ Korrektur von fremder Hand: her\,/ Korrektur von fremder Hand: Al\l/o[r] n s korrigiert aus: Allons!“sagte

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fort, daß es unter diesen Menschen da nicht 얍 nur Französinnen, sondern auch Rumäninnen, Däninnen, Engländerinnen und Ungarinnen gäbe, und er fragte triumphierend: „ Na , was sagens jetzt zu dieser Organisation?“ „Da sind wir in Deutschland freilich noch weit zurück“, meinte Kobler. Nun trat die Deutsche an ihren Tisch. „Die Herren sind Deutsche?“ fragte sie deutsch und beugte sich über Schmitz. „Ich bin auch eine Deutsche, na, wer will als Erster?“ „Das muß ein Irrtum sein“, wehrte sich Schmitz. „Wir dachten, du willst mit uns hier auf unser Wohl anstoßen und sonst nichts!“ „Wie mich die Herren haben wollen“, meinte die Deutsche und setzte sich artig, denn sie konnte auch wohlerzogen sein. Es stellt sich nun bald heraus, daß sie Irmgard heißt und aus Schlesien stammt. Sie kannte auch die Reichshauptstadt, dort wollte sie nämlich Verkäuferin werden, aber sie wurde Fabrikarbeiterin, und das war Schicksal. Denn die Maschinen gingen ihr sehr auf die Nerven, weil sie halt ein Landkind war. Ostern 1926 lernte sie einen gewissen Karl Zeschcke kennen, und der und die Maschinen wurden ihr wieder ein Schicksal. Sie bekam es bald im Kopf, und über Nacht fing sie an zu zeichnen und zu malen, und zwar lauter Hermaphroditen. Die Madame hatte recht, man konnte mit Irmgard tatsächlich amüsant diskurrieren -- und als sie nach einem Weilchen von einem der uniformierten Herren verlangt wurde und sich also verabschieden mußte, lächelte Schmitz direkt gerührt: „Du bist schon richtig, Irmgard! Nämlich ich bin Schriftsteller, und wenn du Schreibmaschine schreiben könn-얍test, dann wärst du das richtige Weiberl für mich!“ B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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Noch in derselben Nacht verließen die beiden Herren Marseille, um nun über Tarascon, Sette und die spanische Grenze Port Bou ohne jede Fahrtunterbrechung direkt nach Barcelona zu fahren. Sie fuhren durch Arles. „Hier malte van Gogh“, erzählte Schmitz. „Wer war das?“ fragte Kobler. „Ein großer Maler war das“, antwortete Schmitz und sperrte sich traurig ins Klosett. „Hoffentlich werd ich jetzt endlich was machen können“, murmelte er vor sich hin, aber bald mußte er einsehen, daß er vergebens gehofft hatte. „Also das ist schon ein fürchterlicher Idiot!“ konstatierte er wütend. „Jetzt kennt der nicht mal meinen geliebten van Gogh! Jetzt probier ichs aber nochmal!“ Gesagt, getan, aber er konnte und 얍 konnte nichts machen. „Auch van Gogh ist verkannt worden“, resignierte er, „es versteht bald keiner den andern mehr, es ist halt jeder für sich sehr einsam.“ So blieb er noch lange sitzen und starrte grübelnd auf das Klosettpapier. Dann öffnete er plötzlich das Fenster, um auf andere Gedanken zu kommen. Die kühle Nachtluft tat ihm wohl. Neben dem Bahndamm stand das Schilf mannshoch, und das rauschte ganz romantisch-gespenstisch , wie der Express so vorüberbrauste. „Wie schön habens hier die Leut“, dachte Schmitz verzweifelt. „Was haben die hier für eine prachtvolle Nacht! Man sollt ein Poem über diese südfranzösischen Herbstnächte verfassen, aber ich bin halt kein Lyriker. Wenn ich zwanzig Jahr jünger wär, ja, aber jetzt bin ich schon zu bewußt dazu.“ In Tarascon, der Vaterstadt Tartarins, des französischen Oberbayern, mußten sie auf den Pariser Express warten, weil aus diesem viele Reisende in ihren Express umsteigen wollten, teils nach Spanien und teils nur nach Nîmes . Bald erschien auch der Pariser Express, und bald darauf erschien in ihrer Abteiltür eine Dame und wollte gerade fragen , ob noch was für sie frei wäre, aber Schmitz ließ sie gar nicht zu Wort kommen, sondern rief sofort, alle Plätze wären frei! Und er riß ihr direkt den Koffer aus der Hand, verstaute ihn fachmännisch im Gepäcknetz und überließ der Dame höchst beflissen seinen Eckplatz. B

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Es dürfte also überflüßig sein, zu bemerken, daß diese Dame sehr gut aussah, das heisst : sie war jung, schlank und dabei doch schön rund, hatte Beine, die an nichts 얍 anderes zu denken schienen als an das, und einen seltsam verschleierten Blick, als tät sie gerade das, und zwar überaus gern und immer noch nicht genug. Dabei duftete sie mit einer gewissen Zurückhaltung, aber um so raffinierter, vorn und hinten, rauf und runter -- und bald duftete das ganze Abteil nur mehr nach ihr, trotz der beiden Herren . Sie hatte also das bestimmte Etwas an sich, was man landläufig sex-appeal nennt. Die Dame nickte Schmitz einen freundlichen Dank, jedoch trotzdem einen reservierten, und ließ sich auf seinem ehemaligen Eckplatz nieder, und zwar in einer derart wollüstigen Art, als hätte sie was mit dem Eckplatz. Das regte den Schmitz natürlich sehr auf. Und auch Kobler war fasziniert. „Aegypten!“ durchzuckte es ihn plötzlich, als er dahinterkam, daß alles an dieser Frau sehr teuer gewesen sein muß. „Ich hab ja schon immer an die Vorsehung geglaubt!“ durchzuckte es ihn abermals. „Und wenn dieser Schmitz noch so glotzt, gegen mich kommt der --“ Er stockte mitten in seinen Kombinationen und wurde blaß, denn nun durchzuckte es ihn zum drittenmal, und das war direkt zerknirschend. „Ich kann ja kein Französisch, also kann ich sie ja gar nicht ansprechen, und ohne Reden geht doch sowas nicht“ -- so lallte es in ihm. Mit einer intensiven Wut betrachtete er den glücklichen Schmitz, wie dieser seine Aegypterin siegesgewiß nicht aus den Augen ließ -- „Jetzt wird er gleich parlieren mit ihr, und ich werd dabei sitzen wie ein taubstummer Aff! Solangs halt soviel Sprachen auf der Welt gibt, solang wirds halt auch dein Paneuropa nicht geben, du Hund!“ so fixierte er grim-얍mig seinen paneuropäischen Nebenbuhler. Aber die Aegypterin schien sich mit Schmitz nicht einlassen zu wollen, denn sie reagierte in keiner Weise. Plötzlich schien ihr sein stereotypes Lächeln sogar peinlich zu werden -- sie stand rasch auf und ging aufs Klosett. B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

„Eine Vollblutpariserin!“ flüsterte Schmitz hastig und tat sehr begeistert. „Ich kenn das an den Bewegungen!“ ( Geh, leck mich doch am Arsch! dachte Kobler verstimmt.) „Wie sie vom Klosett kommt, sprech ich sie an!“ fuhr Schmitz fort und kämmte sich rasch. „Sie werden ja leider nicht mit ihr reden können“, fügte er schadenfroh hinzu. Kobler dachte abermals dasselbe. Kaum saß die Vollblutpariserin wieder ihm gegenüber, nahm Schmitz seinen ganzen Charme zusammen und sprach sie an, und zwar perfekt französisch; sie hörte lächelnd zu und erklärte dann leise , sie könne nur äusserst gebrochen Französisch . „You speak English ?“ fragte Schmitz. „Nein, Allemagne “, sagte die Vollblutpariserin, und da gab es Kobler einen Riesenruck, während Schmitz ganz seltsam unsicher wurde -- „Also gibts doch eine Vorsehung!“ dachte Kobler triumphierend, und Schmitz wurde ganz klein und häßlich. „Ich bin zwar in Köln geboren“, sagte Allemagne , „aber ich leb viel im Ausland. Im Sommer war ich in Biarritz und im Winter war ich in St. Moritz.“ „Die absolute Aegypterin!“ dachte Kobler, und Schmitz riss sich wieder zusammen: „Köln ist eine herrliche Stadt!“ rief er. „Eine uralte Stadt!“ 얍 „ Oh, wir haben aber auch schöne neue Viertel!“ verteidigte die Aegypterin ihre Vaterstadt, und dies berührte Schmitz sehr sympathisch, denn er war auch der Ansicht, daß dumme Frauen eine akrobatische Sinnlichkeit besäßen. Und er liebte ja an den Frauen in erster Linie die leibhaftige Sinnlichkeit, besonders seit er mal ein seelisches Verhältnis hatte. Nämlich das war eine recht unglückliche Liebe, die sehr metaphysisch begann, aber mit Urkundenfälschung seitens der Frau endete. Er schonte die Frau bis zum letzten Augenblick, als sie aber eine Apanage von ihm haben wollte, schonte er sie nicht mehr, und als ihr dann die Bewährungsfrist versagt wurde, sagte er: „Ich bin halt ein Kind der Nacht!“ Es ist also nur verständlich, daß er jeder derartigen Erschütterung peinlich aus dem Wege ging, beileibe nicht aus Bequemlichkeit, sondern infolge gesteigerter Sensibilität und einer sexuellen Neurasthenie. Er wollte nichts anderes als das Bett B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

und ertappte sich oft dabei, wie er es gerade bedauert, daß Frauen auch Menschen sind und sogar sogenannte Seelen haben – trotzdem konnte er das Bett nur durch seinen Geist erreichen, entweder unmittelbar oder indem er den Geist zuerst in Geld umgesetzt hatte, denn er hatte eben kein sex-appeal . Mit andern Worten: er gelangte ins Bett nur durch seinen Geist, und sowas ist natürlich direkt tragisch. Auch jetzt versuchte er dieser Rheinländerin mit seinem Intellekt zu imponieren: er zählte ihr seine zwanzig speziellen Duzfreunde auf, und das waren lauter prominente Namen, einer prominenter als der andere, und sie fing 얍 schon an, ein ganz kleinlautes Gesicht zu schneiden -- „Jetzt wirds aber höchste Zeit“, dachte Kobler und unterbrach Schmitz brutal: „Kennen Sie Marseille?“ fuhr er seine Aegypterin an, die ihn deshalb ganz erschreckt betrachtete , und als sie ihn eingehender überblickt hatte, schien er ihr gar nicht zu mißfallen -- „Nein“, lächelte sie, und das ermunterte den Kobler sehr. „Marseille sollten Sie sich aber unbedingt anschauen, Gnädigste!“ ereiferte er sich. „Es muß ja dort toll zugehen“, meinte die Gnädigste. „Das ist noch gar nichts, aber ich hab dort in einem verrufenen Hause Filme gesehen, die eigentlich verboten gehörten, Gnädigste!“ „Erzählen Sie, bitte!“ sagte die Gnädigste hastig und sah ihn dann still an, während sie Schmitz samt seinen prominenten Bekannten links liegen ließ. Und Kobler erzählte : Zuerst wurden er und Schmitz in den dritten Stock geführt, in ein geräumiges Zimmer, in dem eine weiße Leinwand aufgespannt war. Es standen da zirka zehn Stühle, sonst nichts, und man ließ ihn und Schmitz mutterseelenallein und tröstete sie damit, daß der Operateur jeden Augenblick erscheinen müsse, und dann ginge es sofort los. Aber es verging eine geraume Zeit, und es kam noch immer keine Seele, so daß es ihnen schon unheimlich wurde, weil man ja nicht wissen konnte , ob man nicht etwa umgebracht werden sollte , gelustmordet oder so – B

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Hier wurde aber Kobler von Schmitz energisch unterbrochen, denn es mißfiel ihm im höchsten Grade, daß diese Rheinländerin dem Kobler seine schweinischen Filme seinen prominenten Freunderln vorzog -- er hatte schon eine 얍 Weile gehässig Koblers hochmoderne Socken betrachtet , und nun schlug sein soziales Gewissen elementar durch. Er betonte jedes Wort, als er ihr nun auseinandersetzte, daß in keinem offiziellen Bordell der Welt jemals etwas Unrechtes vorkommen könnte, weil sich die offiziellen Bordellunternehmer einer Gesetzesübertretung nimmermehr aussetzen würden, da sie es eben nicht nötig hätten, da sie ja die Prostituierten in einer derart verbrecherisch-schamlosen Weise ausbeuteten, daß sie auch im Rahmen der Gesetze einen glatten Riesengewinn aufweisen könnten. Und dann wandte er sich an Kobler und fragte ihn gereizt, ob er sich denn nicht erinnern könne, daß im ersten Stock zufällig eine Tür offenstand, durch die man den zuchthausmäßig einfachen gemeinsamen Speisesaal der Prostituierten sehen konnte, und ob er es denn schon vergessen hätte, wie furchtbar es im zweiten Stock nach Medikamenten gestunken hätte, trotz des aufdringlichen Parfüms, denn dort sei das Zimmer des untersuchenden Arztes gewesen. Aber nun ließ ihn die Gnädigste nicht weiterreden , denn das sei nämlich furchtbar desillusionierend, protestierte sie. Worauf Kobler sofort sagte: „Also endlich erschien der Operateur, und dann gings endlich los“ -- aber Schmitz gab sich noch nicht geschlagen, und er bemerkte bissig, das hätte so lange gedauert, weil nämlich dieser Operateur gelähmt gewesen sei, zwar nur die Beine und nicht der Oberkörper, aber er hätte halt von zwei Männern die Treppen heraufgetragen werden müssen --- „Pfui !“ rief die Gnädigste. „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz korrekt und verließ wütend das Abteil. „Woher haben nur diese Deutschen das Geld, als verarmte Nation so zum Ver얍 gnügen herumzufahren?“ fragte er sich verzweifelt vor Wut. Er ging im Gang auf und ab . „Hab ich das notwendig, dass ich jetzt so zerknirscht bin?“ grübelte er zerB N

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] unterbrochen, dennN ] BRheinländerinN ] Bvorzog --N ] BgehässigN ] BbetrachtetN ] Bbetrachtet,N ] BGesetzesübertretungN ] Bhätten, daN ] BWeiseN ] BauchN ] BdieN ] BweiterredenN ] Bsagte: „AlsoN ] BOperateur,N ] Blos“ --N ] Bgeschlagen,N ] BdasN ] Bso langeN ] BheraufgetragenN ] Bmüssen --- „PfuiN ] BGeld,N ] BNationN ] Bverzweifelt vorN ] BabN ] B N B

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 102

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

knirscht. „ Ja, ich hab das notwendig. Denn was ist der Grund zur größten Wut? Wenn man ein lebendes Wesen an der Ausübung des Geschlechtsverkehrs hindert, das ist halt eine Urwut!“ So ging er noch oft auf und ab -- plötzlich überraschte er sich dabei, daß er stehengeblieben war und verstohlen in das Abteil glotzte, in welchem sich seine Vollblutpariserin den Inhalt einiger pornographischer Filme erzählen ließ, die natürlich immer auf dasselbe Motiv hinausgingen , ob sie nun auch in einem historischen, kriminellen oder zeitlosen Rahmen spielten . „Die gehört schon jenem“, dachte er, „ die hängt ja direkt an seinen Lippen. Er ist ja auch zwanzig Jahr jünger als ich, was soll ich also machen? Die ganze Nacht kann ich wohl nicht da heraussenstehen , ich werd mich also wieder hineinsetzen müssen, die beiden da drinnen sind ja zusammen noch nicht so alt wie ich allein, die haben noch viel vor sich, was ich hinter mir hab, Jugend kennt halt keine Tugend“ – und wie er so diese beiden Menschen, die sich gefielen, durch die Glastür beobachtete, kamen sie ihm allmählich immer entfernter vor, als lebten sie hundert Jahre später, und mit dieser Distanzierung wandelte sich auch allmählich seine Urwut in ahnungsvolle Erkenntnis 얍 ewiger Gesetze, natürlich nicht zuletzt auch infolge seines theoretischen Verständnisses der ganzen geschichtlichen Bewegung. „Die beiden jungen Leut da drin bestehen halt auch nur aus einzelnen Zellen“, dachte er, „aus Zellen, die sich halt schon zu einem grandios organisierten Zellenstaat durchgerungen haben, in dem das Zellenindividuum schon aufgehört hat -- und das steht halt jetzt auch unsern menschlichen Staaten bevor, siehe Entwicklung der ebenfalls staatenbildenden Termiten, die akkurat um hundert Millionen Jahre älter sind als wir, wir sind halt grad erst geboren, als wir“ -- so dachte er, und plötzlich mußte er stark gähnen. „Jetzt wirds aber höchste Zeit, daß ich mich wieder setz!“ fuhr er fort. Er betrat also wieder das Abteil in einer väterlich verständnisvollen Stimmung, und kaum hatte er sich gesetzt, hörte er den weiblichen Zellenstaat folgendes saB

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Ja,N ] notwendig.N ] BundN ] Bab --N ] BstehengebliebenN ] BdasselbeN ] BhinausgingenN ] BkriminellenN ] BspieltenN ] BdieN ] BLippen.N ] B N] BheraussenstehenN ] BTugend“ –N ] Bspäter,N ] BahnungsvolleN ] BLeutN ] BdrinN ] BZellenindividuumN ] Bhat --N ] BstehtN ] Bwir,N ] Bgeboren,N ] Bwir“ --N ] Ber,N ] BdenN ] B B

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 103

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

gen: „ Ja, ich fahr auch nach Barcelona! Nein, das ist aber interessant! Ja, ich bin noch gar nicht orientiert, wo man dort wohnen kann! Nein , Paris ist das Schönste, und was mir besonders dort gefällt, ist das, daß man sich dort elegant kleiden kann, was man bei uns in Duisburg ja kaum mehr kann, weil die Arbeiter so verhetzt sind, und wenn man elegant über die Straße geht, schauen sie einem fanatisch nach.“ „Da haben Sie schon sehr recht“, sagte Kobler. „Wer? Die Arbeiter?“ fragte Schmitz. „Nein, die Gnädigste“, sagte Kobler. (Hör ich recht? dachte Schmitz.) 얍 „ Ja, die Juden machen die Arbeiter ganz gehässig “, liess sich der weibliche Zellenstaat wieder vernehmen. „Nein, ich kann die Juden nicht leiden, sie sind mir zu widerlich sinnlich, überhaupt stecken die Juden überall drinnen! Ja, es ist sehr schad, daß wir kein Militär mehr haben, besonders für diese halbwüchsigen Arbeiter und das Pack! Nein also diese Linksparteien verwerf ich radikal, weil sie immer wieder das Vaterland verraten. Ja, ich war noch ein Kind, als sie den Erzberger erschossen haben! Nein und das hat mich schon damals sehr gefreut! Ja!“ „Ich bin auch sehr gegen jede Verständigungspolitik“, antwortete Kobler. Aber nun konnte sich Schmitz nicht mehr zurückhalten. „Was?“ unterbrach er ihn und sah ihn stechend an. „ Ja“ , lächelte Kobler. „ Nein!“ brüllte Schmitz und verließ entrüstet das Abteil. Aber diesmal lief ihm Kobler nach. „Sie müssen mich doch verstehen“, sagte er. „Ich versteh Sie nicht!“ brüllte Schmitz und zitterte direkt dabei. „Sie sind mir einer! Ah , das ist empörend! Na, das is a Affenschand! Wie könnens denn so daherreden, wo wir jetzt drei Tag lang eigentlich nur über Paneuropa geredet haben!? “ „Im Prinzip haben Sie natürlich recht“, beschwichtigte ihn Kobler. „Aber ich muß doch so reden, weil das doch meine reiche Aegypterin ist, ihr Vater ist mehrfacher Aufsichtsrat und Großindustrieller, das hab ich schon herausbekommen, sie B

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Ja,N ] Nein,N ] BJa,N ] Bkann! NeinN ] BSchönste,N ] Bgefällt,N ] Bsind,N ] BJa,N ] BgehässigN ] BJuden überallN ] BJa,N ] BJa,N ] BKind,N ] BVerständigungspolitik“,N ] BJa“N ] BNein!“N ] Beiner! AhN ] BAh,N ] BNa,N ] BisN ] Bhaben!?N ] Brecht“,N ] BichN ] B B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

heißt Rigmor Erichsen und wohnt in Duisburg. 얍 Aegypten ist natürlich nur ein Symbol! Und was geht denn übrigens Ihr Paneuropa die Weiber an?!“ „Sehr viel, Herr Kobler! Denken Sie nur mal an den Krieg und die Rolle der Mütter im Krieg! Haben Sie denn schon mal über die Frauenfrage nachgedacht?“ „Die Frauenfrage interessiert mich nicht, mich interessiert nur die Frau!“ sagte Kobler ungeduldig und wurde dann sehr ernst. „ Uebrigens, Herr Schmitz“, fuhr er fort, „möcht ich Sie nur bitten, mich jetzt ruhig mich emporarbeiten zu lassen; ich hab mir schon einen Plan zurechtgelegt: ich werd diese Dame da drinnen in Barcelona kompromittieren , begleit sie dann nach Duisburg, kompromittier sie dort noch einmal, und dann heirat ich ein in Papas Firma. Und ob diese Dame da drin für Paneuropa ist oder nicht, das kann doch Paneuropa ganz wurscht sein!“ „Auf das reden sich alle naus !“ sagte Schmitz und ließ ihn stehen. B

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Sie fuhren bereits durch Montpellier, 얍 und Schmitz stand noch immer draussen auf dem Gang, während sich Kobler und Rigmor noch immer über die Marseiller Filme unterhielten und sich dabei menschlich näherkamen . „Und wegen so was ist der arme Alois gefallen!“ dachte Schmitz deprimiert. „Was tät es schon schaden, wenn man diesen Kobler samt seiner Rigmor erschiessen tät? Nichts tät das schaden, es tät wahrscheinlich nur was nützen!“ „Armer Alois!“ seufzte er. „Ist es dir , armer toter Alois, schon aufgefallen, daß der Pazifismus infolge der großen russischen Revolution wieder ein Problem geworden ist? Ich meine, daß der Bolschewismus uns, die wir uns die geistige Schicht nennen, zwingt, unsere Stellungnahme zum Pazifismus einer gründlichen Revision zu unterziehen -- denn hätts keinen Lenin gegeben, wär doch der Pazifismus für uns geistige Menschen kein Problem mehr. Er ist es nun plötzlich aber wieder geworden, B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

infolge der Idee des revolutionären Krieges. -- Meiner Seel, ich schwank umher, es gibt halt schon sehr schwierige Probleme auf dieser Malefizwelt! Ich sympathisier, ich muß halt immer wieder auf mich persönlich zurückkommen, mit Paneuropa, obwohl ich ja weiß, daß die Sowjets insofern recht haben, dass die paneuropäische Idee jeden Tag aufs neue verfälscht wird von unserer Bourgeoisie , wie halt jede Idee -- und ich weiß auch, daß wir hier bloß eine Scheinkultur haben, aber ich freu mich halt über den Botticelli ! Wenn die Sowjets nur nicht so puritanisch wären -- ! Meiner Seel, ich bin aus purem Pessimismus manchmal direkt reaktionär! Skeptisch sein ist halt eine Selbstqual -- aber 얍 was hab ich denn auf der Welt noch zu suchen, wenn mal die Skepsis verboten ist?“ BB

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Aber noch vor Spanien versöhnte sich Schmitz abermals mit den beiden jungen Menschen, teils weil er draussen im Gang immer schläfriger wurde, teils weil er halt schon überaus gern entsagungsvoll tat. Also konnte er sich nun wieder schön weich setzen und schlummern, jedoch leider nur bis zur spanischen Grenze. Diese hieß Port Bou, und hier mußte man abermals umsteigen, und zwar mitten in der Nacht. Heute hat Kobler nur eine verschlafene Erinnerung an auffallend gekleidete Gendarmen und an einige höfliche Agenten der Exposición de Barce얍lona 1929, die ihm Prospekte und Kataloge ganz umsonst in die Hand drückten und dabei auf gut deutsch bemerkten, daß die angegebenen Preise natürlich keine Gültigkeit hätten. Schmitz jedoch erinnert sich noch genau, daß der spanische Anschlußzug nur erster und dritter Klasse hatte, da er im Gegensatz zu Kobler, der nachzahlen mußte, weil Rigmor natürlich erster fuhr, als Protest gegen diesen staatlichen Nepp B

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Krieges.N ] Krieges. -- MeinerN ] BgibtN ] B N] BdassN ] BBourgeoisieN ] BIdee --N ] BhaltN ] BBotticelliN ] Bwären --N ] Bwären --!N ] BSelbstqual --N ] B N] B21N ] Bnun wiederN ] BBou,N ] Bumsteigen,N ] BundN ] BNacht. HeuteN ] BExposiciónN ] BdrücktenN ] Bhätten. SchmitzN ] B B

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allein in der dritten blieb und hier unhöfliche Gedanken über die spanischen Habsburger hatte. In Barcelona stiegen sie zusammen in einem Hotel ab, und das war fast ein Wolkenkratzer, ein Spekulationsobjekt in der Nähe der Weltausstellung, das sehr zerbrechlich war -- wahrscheinlich brauchte es nur über die Dauer der Weltausstellung zu halten. Es lag in einer breiten, argentinisch anmutenden Straße namens Calle Cortes. Im Hotelbüro begrüßte sie der Dolmetscher, ein ehemaliger Oelreisender aus Prag. Auch zwei Portiers verbeugten sich vor ihnen. „Die Señorita hat zwei Rohrplattenkoffer, drei größere und vier kleinere Handkoffer“, sagte der Dolmetscher zu den beiden Portiers auf spanisch. „Der ältere Caballero ist sicher ein Redakteur und der jüngere Caballero ist entweder der Sohn reicher Eltern oder ein Nebbich. Entweder zahlt er alles oder nichts.“ Hierauf stritten sich noch die beiden Portiers miteinander, ob sie dem Caballero Schmitz acht oder zehn Peseten abknöpfen sollten -sie einigten sich auf zehn, denn eigentlich war das ja kein Zimmer, sondern eine Kammer ohne Fenster, ohne Schrank, ohne Stuhl, nur mit einem 얍 eisernen Bett und einem eisernen Waschtisch. Daneben war Koblers Zimmer das absolute Appartement. Es hatte sogar zwei Fenster, durch die man die Weltausstellung von hinten sehen konnte. Aber Kobler sah kaum hin, sondern konzentrierte sich ganz auf sich, er zog sich ganz um, wusch und rasierte sich. „Sie gehört schon mir!“ dachte er, während er sich die Zähne putzte. „Das ist jetzt nur mehr eine Frage der Gelegenheit , wo und wann ich sie kompromittier.“ Er war seiner Sache schon sehr sicher. Bereits in Montpellier hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, hart und kalt, jede Möglichkeit erwägend und vor keinem sentimentalen Hindernis zurückschreckend, einen fast anatomisch genauen Plan zur Niederwerfung Aegyptens. „Was hat doch dieser Schmitz in Milano gesagt?“ fiel es ihm ein, als er sich kämmte: „‚Ihr junge Generation habt keine Seele‘, hat er gesagt. Quatsch! Was ist das schon Seele?“ Er knöpfte sich die HoB

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sen zu. „Man muß immer nur ehrlich sein!“ fuhr er fort. „Ehrlich gegen sich selbst, ich weiß ja, daß ich nicht gerade fein bin, denn ich bin halt ehrlich. Ich verschleier mich nicht vor mir, ich kanns schon ertragen, die Dinge so zu sehen, wie sie halt sind!“ B

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Als endlich auch Rigmor säuberlich geputzt war, gingen sie gleich mal in die Weltausstellung. Also das war sehr imposant. Rigmor las laut vor aus ihrem Katalog : „Unter dem Schutze S. M. des Königs von Spanien und unter Mitwirkung der Königlichen Spanischen Regierung organisiert die Stadt Barcelona eine große Weltausstellung mit einem Kostenaufwand von hundert Millionen Goldmark.“ ( „Hundert Millionen!“ dachte Schmitz. „Also – das ist das nicht wert!)“ Rigmor las weiter: „Barcelona ist die bedeutendste und grösste Handels- und Fabrikstadt Spaniens; die Zahl ihrer Einwohner beträgt eine Million, und somit ist dieselbe die größte Stadt des Mittelmeeres.“ „Das Ganze ist halt eine politische Demonstration“, unterbrach sie Schmitz, „damit wirs sehen, daß Spanien aus seiner Lethargie erwacht.“ Rigmor las weiter: „Barcelona will durch dieses großartige Unternehmen der Welt den Aufschwung der Stadt und des Landes zeigen. Zweifelsohne dürfte nach dem Weltkriege von keinem Lande eine in so großzügiger Weise angelegte Ausstellung organisiert worden sein, wozu sich die Stadt Barcelona veranlaßt gefühlt 얍 hat, von dem Wunsche beseelt, sich die vielseitigen und dauernden Fortschritte der Neuzeit anzueignen.“ „ Voilà!“ sagte Schmitz. B

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Zuerst betraten sie den Autopalast, in dem es nur Autos gab. Vor einem Kabriolett mit Notsitz mußte Kobler plötzlich an den Herrn Portschinger aus Rosenheim denken -- „und so ist es auch mit dieser ganzen Politik“, dachte er, „ der eine verkauft dem andern ein Kabriolett, Deutschland, Frankreich, Spanien, England, und was weiß ich, -- alle kaufen sich gegenseitig ihre Kabrioletts ab. Ja, wenn das alles streng reell vor sich ging, dann wär das ein ideales Paneuropa, aber zur Zeit werden wir Deutschen von den übrigen Nationen bloß betrogen, genau so wie ich den Portschinger betrogen hab. In dieser Weise läßt sich Paneuropa nicht realisieren. Das ist kein richtiger Geist von Locarno!“ Und im Palast des Königlich Spanischen Kriegsministeriums dachte Kobler weiter: „Wenn halt Deutschland auch noch so eine Armee hätt mit solchen Kanonen, Tanks und U-Bootgeschwadern, dann könnten wir freilich leicht unsere alte Vormachtstellung zurückerobern, und dann könnten wir Deutschen leicht der ganzen Welt unsere alten Kabrioletts verkaufen, à la Portschinger! Das wär ja entschieden das günstigste , aber so ohne Waffen gehört das halt leider in das Reich der Utopie . Am End hat halt dieser Schmitz doch wahrscheinlich recht mit seiner paneuropäischen Idee!“ Und dann betraten sie den Flugzeugpalast, in dem es nur Flugzeuge gab. Dann den Seiden-얍palast, in dem es nur Seide gab, was Rigmor sehr angriff. Und dann auch den Italienischen Palast, in dem es eigentlich nur den Mussolini gab. Hierauf den Rumänischen , den Schwedischen und hinter dem Stadion den Meridionalpalast , in dem es allerhand gab. Und dann betraten sie den riesigen Spanischen Nationalpalast, in dem es eigentlich nichts gab -- nur einen leeren Saal für zwanzigB

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tausend Personen -- „ in wilhelminischem Stil“, konstatierte Schmitz. „Und langweilige Ölbilder “, meinte Kobler. „Ich möchte jetzt aber endlich in den Missionspalast!“ begehrte Rigmor auf . Der Missionspalast war sehr interessant, nämlich das war eine original vatikanische Ausstellung. Man mußte extra Eintritt zahlen, aber außerdem wurde man auch noch in sinniger Weise auf Schritt und Tritt angebettelt, wie dies halt bei allen Vertretern des Jenseits üblich ist. Aber man konnte auch was sehen für sein Geld, nämlich was die Missionäre von den armen Primitiven zusammengestohlen und herausgeschwindelt ad maiorem bürgerlicher Produktionsweise gloriam. Nach dieser heiligen Schau fuhren sie mit einem Autobus nach dem Restaurant Miramare auf dem Mont Juich mit prachtvoller Aussicht auf Stadt und Meer. Das war ein sehr vornehmes Etablissement, und Rigmor schien sich wie zu Haus zu fühlen. Schmitz dagegen schien es peinlich, daß ihm gleich vier Kellner den Stuhl unter den Hintern schieben wollten, und Kobler wurde direkt blaß, als er die Preise auf der Speisekarte erblickte. „Im Katalog steht“, sagte Rigmor, „daß 얍 nach der Legende hier jener Ort gewesen sein soll, wohin Satan den Herrn geführt hatte, als er ihn mit den Herrlichkeiten der Erde verführen wollte.“ Jedoch Kobler gab ihr keine Antwort, sondern dachte etwas sehr Unhöfliches , und Schmitz erriet, was er dachte, und sagte bloß: „Bestellen Sie, was Sie wollen!“ In diesem himmlischen Etablissement ließen sich außer ihnen noch etwa zwölf vornehme Gäste neppen, denn es war ja auch zu schön. Am Horizont grüßten die Berge der Gralsburg herüber, und links unten grüßte aus dem Trubel der Großstadt die Säule des Kolumbus empor -- und wenn man gerade Lust hatte, konnte man auch zusehen, wie emsig im Hafen gearbeitet wurde . Und alle diese arbeitenden Menschen, tausend und aber tausend , wurden von hier oben gesehen unwahrscheinlich winzig , als wäre man schon der liebe Gott persönlich. Als es dämmerte, wollte Rigmor mal unter allen Umständen mit der Achterbahn fahren. Also wandten sich die drei Herrschaften dem Vergnügungspark zu, sie schritten durch einen lachenden Park, den die Kunst der Gärtner begünstigt durch das milde Klima hatte entstehen lassen. Rasch wurde es Nacht. Und durch die fast exotischen Büsche sahen die drei Herrschaften in der Ferne vor dem Nationalpalast die B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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herrlichen Wasserspiele, und das waren nun tatsächlich Fortschritte der Neuzeit. Vor den Toren der Weltausstellung stand das Volk, das den Eintritt nicht zahlen konnte, und sah also von draussen diesen Fortschritten zu, aber es wurde immer wieder von der Polizei vertrieben, weil es den Autos im Wege stand. B

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Was ist in Spanien das Spanischeste ? Natürlich der Stierkampf, auf spanisch: Corrida de Toros -- besonders Rigmor konnte ihn kaum mehr erwarten. Die Stierkampfarena hatte riesige Dimensionen, und sie war noch grösser, wenn man bedenkt, dass allein Barcelona drei solch gigantische Arenen besitzt. Trotzdem war alles ausverkauft, es dürften ungefähr zwanzigtausend Menschen dabei gewesen sein, und Schmitz erhielt nur mehr im Schleichhandel drei Karten im Schatten. Die Spanier sind eine edle Nation und schreiten gern gemessen einher mit ihren nationalen Bauchbinden und angenehmen weissen Schuhen. Sogar auf den Toiletten steht „Ritter“ statt „Herren“, so stolz sind die Spanier. Fast jeder scheint sein eigener Don Quichotte oder Sancho Pansa zu sein. Gleich neben dem Hauptportal erblickte Schmitz die Stierkampfmetzgerei, hier wurden die Stierleichen von gestern als Schnitzel verkauft. Ein grosses Polizeiauf-얍 gebot sorgte für Ruhe und Ordnung. Drinnen in der Arena musizierte eine starke Kapelle, und der feierliche Einzug der Herren Stierkämpfer begann pünktlich. „Sie werden da etwas prachtvoll Historisches erleben“ , erinnerte sich Kobler an die Worte des Renaissancemenschen von Verona. Und das war nun auch ein farbenprächtiges Bild. Die Herren Stierkämpfer traten vor das Präsidium in der Ehrenloge und begrüssten es streng zeremoniell. Und dann kam der Stier, ein kleiner schwarzer andalusischer Stier. Er war schon jetzt wütend, denn in seinem Rücken stak bereits ein Messer, und das war proB

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grammgemäss. In der Arena standen jetzt nur drei Herren mit roten Mänteln und ohne Waffen. Geblendet durch die plötzliche Sonne, hielt der Stier einen Augenblick, dann entdeckte er die roten Mäntel und stürzte drauf los, aber graziös wichen die Herren dem plumpen Tier aus. Grosser Beifall. Auch Rigmor und Kobler applaudierten -- da lauschte der Stier . Es schien, als fasse er es erst jetzt, dass ihm was Böses bevorsteht. Langsam wandte er sich seinem dunklen Zwinger zu, wurde aber wieder zurückgetrieben. Nun ritt ein Herr in die Arena, sein Pferd musste von zwei Herren geführt werden, denn es war blind, ein alter dürrer Klepper, ergraut in der Sklaverei. Der Herr auf dem Klepper hatte eine lange Lanze, und der Stier wurde mit allerhand Kniffen auf den Klepper gehetzt, der sehr zitterte. Endlich war er so nahe, dass ihm der Herr mit aller Gewalt die Lanze in den Rücken treiben konnte, und zwar in eine besonders empfindliche Partie. Natürlich überrannte nun der Stier den Klepper, und 얍 natürlich liefen die Herren davon . Auch der verzweifelte blinde Klepper suchte zu fliehen, aber der Stier zerriss ihm den Bauch, womit der Stier in der Gunst des Publikums beträchtlich zu steigen schien, denn sie taten sehr begeistert. Endlich liess er von dem Klepper ab, worauf einige Herren dem Sterbenbeden Sand in die Bauchhöhle schaufelten, damit sein Blut die Arena nicht schmutze. Nun betraten drei andere Herren die Arena, und jeder hatte in jeder Hand eine kurze Lanze , die oben mit bunten Bändern und unten mit Widerhaken verziert war . Die Herren stachen sie dem Stier in den Nacken, je zwei auf einmal, und das musste dem Stier grauenhaft weh tun, denn er ging jedesmal trotz seiner Schwerfälligkeit mit allen vieren in die Luft, wand und krümmte sich, aber er konnte die Lanzen nicht abschütteln wegen ihrer überlegt konstruierten Widerhaken . Seine grotesken Bewegungen riefen wahre Lachsalven hervor. Grosser Applaus -und plötzlich stand ein Herr allein in der Arena. Das war der oberste Stierkämpfer, der Matador. Er hatte ein grellrotes Tuch und darunter versteckt ein Schwert, mit N

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dem er seinem Stier den Todesstoss versetzen musste, er war also endlich der Tod persönlich . Dieser Tod hatte sehr selbstbewusste Bewegungen, denn er war ein Liebling des Publikums. Sicher näherte er sich seinem Opfer, aber das Tier griff ihn nicht an, es war halt schon sehr geschwächt durch den starken Blutverlust und all die Qual. Jetzt sah es den Tod sich nähern, jetzt wurde ihm bange. Der Matador hielt knapp vor ihm, aber das Tier liess ihn ste-얍hen und wankte langsam wieder seinem Zwinger zu, doch das Publikum pfiff und verhöhnte es, weil es mit dem Tod nicht kämpfen wollte, -- mit einer eleganten Bewegung entblösste der Matador sein Schwert, und die Zwanzigtausend verstummten erwartungsvoll. Und in dieser gespannten Stille hörte man plötzlich jemand weinen -- das war der Stier, traurig und arm. Aber unerbittlich näherte sich ihm der Tod und schlug ihm mit seinem Tuch scharf über die verweinten Augen -- da riss sich das Tier noch mal zusammen und rannte in das Schwert. Aus seinem Maule sprang sein Blut, es wankte und brach gross zusammen mit einem furchtbar vorwurfsvollen Blick. Nun geriet aber das Publikum ganz in Ekstase, hundert Strohhüte flogen dem Tod zu. Schmitz war empört. „Das ist ja der reine Lustmord!“ entrüstete er sich. „Diese Spanier begeilen sich ja an dem Todeskampf eines edlen, nützlichen Tieres! Höchste Zeit , dass ich meinen Artikel gegen die Vivisektion schreib! Recht geschiehts uns, dass wir den Weltkrieg gehabt haben, was sind wir doch für Bestien! Na, das ist ja widerlich, da sollt aber der Völkerbund einschreiten!“ Aber auf Kobler wirkte der Stierkampf wieder ganz anders. „So ein Torero ist ein sehr angesehener Mann und ein rentabler Beruf“, dachte er. „Es ist ja natürlich eine Schweinerei, aber er wird ja sogar vom König empfangen, und alle Weiber laufen ihm nach!“ Und auf Rigmor wirkte der Stierkampf wieder anders: sie hatte eine nervöse Angst, dass einem der Herren Stierkämpfer was zustossen könnte -- sie konnte kaum hinsehen, als wäre sie 얍 auch ein armes, verfolgtes Tier, immer öfter sah sie infolgedessen Kobler an, um nicht hinabsehen zu müssen, und kam dabei auf ganz andere Gedanken. „ Möchten Sie , dass ich Torero wär?“ fragte er. „Nein!“ rief sie ängstlich, aber dann lächelte sie B

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plötzlich graziös und schmiegte sich noch mehr an ihn, denn es fiel ihr was Ungehöriges ein.

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Am nächsten Morgen sass Schmitz bereits um sieben Uhr beim Morgenkaffee, und während er frühstückte, schrieb er einen Artikel gegen die Vivisektion und einen andern Artikel für Paneuropa -- es sah aber aus, als täte er an was ganz anderes denken , während er schrieb, so gross war seine Routine. Als Kobler ihm guten Morgen wünschte, hatte er den zweiten Artikel noch nicht ganz beendet. „Ich arbeit grad an der Völkerverständigung“, begrüsste ihn Schmitz, „ich bin gleich fertig damit!“ „Lassen Sie sich nur ja nicht aufhalten“, 얍 sagte Kobler und setzte sich. Plötzlich meinte er so nebenbei: „Wenns nur nach der Vernunft ging, dann könnt man sich ja leicht verständigen, aber es spielen da noch einige Gefühlsmomente eine Rolle, und zwar eine entscheidende Rolle!“ Schmitz sah ihn überrascht an. (Wo hat der das her? dachte er. Ich hab ihn anscheinend unterschätzt. ) Und laut fügte er hinzu: „ Natürlich ! Wir Verstandesmenschen sind bereits alle für die Verständigung, jetzt wird die Agitation in die grosse Masse der Gefühlsmenschen hineingetragen -- das sind jene, die den historischen Prozess weder analysieren noch kapieren können, weil sie halt nicht denken können. Auf diese kommts an, da habens natürlich recht, lieber Herr!“ „Trotzdem!“ antwortete Kobler. „ Wieso?“ fragte Schmitz höchst interessiert. B

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 119

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

„Wenn ich jetzt an Polen denk, speziell an den polnischen Korridor“, meinte Kobler düster, „so kann ich halt kein Friedensgefühl aufbringen, da streikt das Herz, obwohl ich mit dem Verstand absolut nichts gegen Paneuropa hätt. So, aber jetzt reden wir von was Interessanterem!“ -- und er teilte Schmitz mit, dass er die soeben verflossene Nacht mit Rigmor verbracht hätte. „Sie können mir unberufen gratulieren!“ sagte er und sah recht boshaft aus. „Ich hab halt die richtige Taktik gehabt, und sie ist sehr temperamentvoll!“ „Also das hab ich bis zu mir herübergehört “, winkte Schmitz ab. „Aber über mir waren welche, 얍 die waren anscheinend noch temperamentvoller, weil mir der ganze Mörtel vom Plafond ins Gsicht gfallen ist. Der Dolmetscher sagt mir grad, das sei ein Herr von Stingl und eine italienische Komteß . Aber auf das Körperliche allein kommts ja bekanntlich nicht an; hat sie sich denn überhaupt in Sie ernstlich verliebt? Ich mein – mit der Seele? “ „Ich bin meiner Sache sicher!“ triumphierte Kobler. „Herr Alfons Kobler“, sagte Schmitz und betonte feierlich jede Silbe, „glaubens mir, das Weib ist halt doch noch eine Sphinx, trotz der Psychoanalyse!“ Und dann fügte er rasch hinzu: „Jetzt müssens mich aber entschuldigen, ich hab nur noch rasch was fürs Feuilleton zu tun.“ Er schrieb: B

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„Die kleine Rigmor läuft mir nach. Eine humoristische Schnurre von unserem Sonderkorrespondenten R. Schmitz ( Barcelona ). Motto: Und grüß mich nicht unter den Linden!“ B

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aufbringen, daN ] So,N ] Bhätte.N ] Bgratulieren!“N ] Baus.N ] Bgehabt,N ] Bgehabt f sieN ] BherübergehörtN ] BPlafondN ] BGsicht gfallenN ] BKomteßN ] Ban;N ] Bmein –N ] BSeele?N ] B„glaubensN ] Bhinzu: „JetztN ] B N] B„DieN ] Bnach.N ] B N] B N] B N] BR. SchmitzN ] BSchmitzN ] B(BarcelonaN ] BBarcelona).N ] B N] BgrüßN ] B N] BLinden!“N ] B B

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\(/Barcelona Korrektur von fremder Hand: Barcelona)\./ Absatz von fremder Hand getilgt Korrektur von fremder Hand: grü[ss] ß Absatz von fremder Hand getilgt Korrektur von fremder Hand: Linden!\“/

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Der Sonderkorrespondent schrieb gerade: 얍 „– nur Interesses halber folgte ich meiner rassigen Partnerin, denn ich bin mit Leib und Seele Literat “ -- da betrat der Dolmetscher rasch das Lokal und bat Kobler, er möge sofort ins Konversationszimmer kommen, denn dort würde die Señorita auf ihn warten. „Warum denn dort, warum nicht hier?“ fragte Kobler und war sehr überrascht. „Woher soll ich das wissen?“ meinte der Dolmetscher. „Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Señorita sehr nervös ist.“ „Jetzt kommt die Sphinx“, dachte Schmitz, und Kobler tat ihm plötzlich leid, trotz der geweissagten Sphinx. Im Konversationszimmer ging Rigmor auf und ab, sie war tatsächlich sehr nervös und ihr Rock hatte eine interessante unregelmässige Linie. Als sie Kobler erblickte, ging sie rasch auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Stirne. „Was soll das?“ dachte Kobler und wurde direkt unsicher. „Wie gehts?“ fragte er sie mechanisch. „ Sag, ob du mir verzeihen kannst?“ fragte sie und sah dabei sehr geschmerzt aus. „Es wird ihr doch nichts fehlen? “ dachte er misstrauisch, und dann fragte er sie: „Was soll ich dir denn verzeihen, Kind ?“ Aber da fing sie an zu weinen, und das tat sie vor lauter Nervosität. „Ich kann dir doch alles verzeihen“, tröstete er sie, „das bist du mir schon wert!“ Sie trocknete sich die Tränen und putzte sich die Nase mit einem derart winzigen Taschentuch, dass sich Kobler unwillkürlich darüber Gedanken machte. Dann zog sie ihn zu sich hinab und wurde ganz monoton. Es sei gerade vor einer halben B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Stunde was Unerwartetes passiert, beichtete sie, 얍 und dies Unerwartete sei ein Telegramm gewesen, und zwar aus Avignon. Der Absender des Telegramms sei ein Herr, und zwar ein gewisser Alfred Kaufmann aus Milwaukee, ein Kunstmaler und amerikanischer Millionär. Der Millionär hätte aber wegen seiner Hemmungen nicht künstlerisch genug malen können, und deshalb wäre er nach Zürich gefahren, um seine Libido kurieren zu lassen, und er hätt sie mindestens vier Wochen lang kurieren lassen wollen, aber anscheinend sei er nun unerwartet rasch mit seiner Libido in Ordnung gekommen. So würde er nun statt in vierzehn Tagen bereits heute früh unerwartet in Barcelona ankommen, und zwar könnte er jeden Moment hier im Hotel eintreffen , und das wäre ihr ganz entsetzlich, grauenhaft peinlich, denn dieser Amerikaner sei ja ihr offizieller Bräutigam, ein sympathischer Mensch, aber trotzdem hätte sie lieber was mit einem Deutschen. Und dann weinte sie wieder ein bisschen, sie hätte sich jetzt schon so sehr gefreut auf diese vierzehn liebeverlebte Tage mit ihm (Kobler), aber sie müsse halt den Mister Kaufmann heiraten, schon wegen ihres Papas, der dringend amerikanisches Kapital benötige, trotz der Grösse seiner Firma, aber Deutschland sei eben ein armes Land, und besonders unter der Sozialversicherung litte ihr Papa unsagbar. Kobler war ganz weg. Da sah er sich nun seine Schlacht verlieren, und zwar eine Entscheidungsschlacht. Die U. S. A. kamen über das Meer und schlugen ihn, schlugen ihn vernichtend mit ihrer rohen Uebermacht, trotz seiner überlegenen Taktik und kongenialen Strategie. „Das ist gar kein Kunststück!“ dachte er wütend, da erschienen U. S. A. persön-얍lich im Konversationszimmer. Das war ein Herr mit noch breiteren Schultern, und Kobler lächelte bloss sauer, obwohl er Rigmor gerade grob antworten wollte. „ Hallo Rigmor !“ rief der Herr und umarmte sie in seiner albernen amerikanischen Art. „Der Professor sagt, ich bin geB

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UnerwartetesN ] sie,N ] BUnerwartete seiN ] Bgewesen,N ] BHerr,N ] BAlfredN ] Bhätte aberN ] Bkönnen,N ] BwäreN ] BumN ] Blassen,N ] BwürdeN ] BbereitsN ] Bankommen,N ] BeintreffenN ] Beintreffen,N ] Bentsetzlich, grauenhaftN ] BjaN ] BliebeverlebteN ] BamerikanischesN ] Bunsagbar.N ] BganzN ] Bverlieren,N ] BSchultern,N ] BHallo RigmorN ] BArt. „DerN ] B B

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sund und kann absolut künstlerisch malen, wir fahren noch heut nach Sevilla und dann nach Athen! Wer ist dieser Mister?“ Rigmor stellte vor. „Ein Jugendfreund aus Deutschland“, log sie. Der Amerikaner fixierte Kobler kameradschaftlich. „Sie sind auch Maler?“ fragte er. „Ich hab nichts mit der Kunst zu tun!“ verwahrte sich Kobler, und es lag eine tiefe Verachtung in seiner Stimme. „Was macht Deutschland?“ fragte er Amerikaner. „Es geht uns sehr schlecht“, antwortete Kobler mürrisch, aber der Amerikaner liess nicht locker. „Wie denken Sie über Deutschland?“ fragte er. „Wie denken Sie über Kunst? Wie denken Sie über Liebe? Wie denken Sie über Gott?“ Kobler sagte, heut könne er überhaupt nichts denken, nämlich er hätte fürchterliche Kopfschmerzen. Und als er die Tür hinter sich zumachte, hörte er noch Rigmor sagen: „Er ist ein sympathischer Mensch! “ B

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Noch am selben Tage fuhr Kobler wieder nach Haus, und zwar ohne Unterbrechung. Er wollte eben nichts mehr sehen. „Jetzt hab ich fast meine ganzen Sechshundert ausgegeben, und für was? Für einen grossen Dreck!“ so lamentierte er. „Jetzt komm ich dann wieder zurück, und was erwartet mich dort? Lauter Sorgen!“ Er war schon sehr deprimiert. Schmitz, der ihn väterlich an die Bahn begleitet hatte, versuchte, ihn zu trösten: „Mit Amerika kann man halt nicht konkurrieren!“ konstatierte er düster. Und dann setzte er ihm noch rasch auseinander, dass er sich an seiner (Koblers) Stelle eigentlich nicht beklagen würde, denn er (Kobler) hätte ja nun sein ehrlich erworbenes Geld nicht nur für einen grossen Dreck ausgegeben, sondern er wäre ja jetzt auch um eine bedeutsame Erfahrung reicher geworden, und er würde es wahrscheinlich erst später merken, was das für ein tiefes Erlebnis gewesen sei, ein Erlebnis, das ganz dazu angetan wäre, jemanden total umzumodeln. Nämlich er hätte doch B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

soeben den schlagenden Beweis für Amerikas brutale Vorherrschaft erhalten, am eigenen Leibe hätte er nun diese unheilvolle Hegemonie verspürt. „Und nun“, fuhr er fort und zwinkerte, „nun wird sich vielleicht auch Ihr Gefühl umstellen, nachdem Sie ja mit dem Verstand nichts gegen Paneuropa haben, wie Sie es mir heute früh erklärt haben. Grosse Wirkungen haben halt kleine Ursachen, und auch die grössten Ideen --“ -- so warb Schmitz um Koblers Seele. 얍 Und dann vertraute er ihm, dass er persönlich sich niemals für eine Amerikanerin interessieren könnte. Er wollte ihm auch noch einiges über den Völkerbund sagen, doch da fuhr der Zug ab. „Sie fahren doch über Genf?“ rief er ihm nach. „Also grüssen Sie mir in Genf den Mont Blanc!“ Kobler fuhr über Genf, aber den Mont Blanc konnte er nicht grüßen, denn es war gerade Nacht. Auch hatte er jetzt das Pech, bis zur deutschen Grenze keinen Mitreisenden zu treffen, der Deutsch sprach, also konnte er sich nicht ablenken und musste allein sein. Und dieses Alleinseinmüssen plus endloser Fahrt bewirkten es, das sich die Gestalt Rigmors seltsam auswuchs. Sie nahm direkt politische Formen an, diese Braut, in deren Papas Firma er nicht einheiraten durfte, weil Papa unbedingt nordamerikanisches Kapital zum Dahinvegetieren benötigte -- diese verarmte Europäerin, die sich nach Uebersee verkaufen muss, wurde allmählich zu einem deprimierenden Symbol. Ueber Europa fiel der Schatten des Mister A. Kaufmann mit der unordentlichen Libido. Kobler war sehr erbittert. Und als er endlich wieder deutsche Erde betrat, hegte er bereits einen innigen Groll gegen alle europäischen Grenzen. Noch in der deutschen Grenzstation kaufte er sich alle vorhandenen französischen, englischen und italienischen Zeitungen, obwohl er sie nicht lesen konnte -- aber es war halt demonstrativ. Er konnte es kaum mehr erwarten, jemand zu treffen, der Deutsch verstand. Aber der Zug war ziemlich leer, und obendrein ergab sich keinerlei Gelegenheit, mit einem der Reisenden in ein politisches Gespräch zu kommen. Erst knapp vor München konnte er endlich einem älteren Herrn seine Gefühle 얍 und Gründe für einen unbedingt und möglichst bald zu erfolgenden Zusammenschluss Europas darlegen, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet, nicht zuletzt auch infolge der bolschewistischen Gefahr -- aber der Herr unterbrach ihn spöttisch: B

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„Auch ich war mal Europäer, junger Mann! Aber jetzt --- “, und nun brach nationalistischer Schlamm aus seinem Maul hervor par excellence. Nämlich um die Jahrhundertwende hatte dieser Herr eine pikante Französin aus Metz geheiratet, die aber schon knapp vor dem Weltkrieg so bedenklich in die Breite zu gehen begann, dass er anfing, sich vor der romanischen Rasse zu ekeln . Es war keine glückliche Ehe. Er war ein richtiger Haustyrann, und sie freute sich heimlich über den Versailler Vertrag. „Soweit ich die Franzosen kenne“, schrie er nun Kobler an, „werden sie niemals das Rheinland räumen! Freiwillig nie, es sei denn, wir zwingen sie mit Gewalt! Oder glauben Sie denn, dass das so weitergeht?! Sehen Sie denn nicht, dass wir einem neuen europäischen Weltbrand entgegentaumeln?! Wissen Sie denn nicht, was das heisst: Amanullah und Habibullah?! Denken sie nur mal an Abd el Krim! Und was macht denn dort hinten der christliche General Feng?!“ Er war ganz fanatisiert: „ Oh, ich kenne die Franzosen!“ brüllte er. „Jeder Franzose und jede Französin gehören vergast! Ich mach auch vor den Weibern nicht halt, ich nicht! Oder glauben Sie gar an Paneuropa?!“ „Ich hab jetzt keine Zeit für Ihre Blödheiten!“ antwortete Kobler und verliess verstimmt das Abteil. Er war sogar direkt gekränkt. Draussen im Gang entdeckte er einen freundlichen Herrn, der stand dort am Fenster. Kobler näherte sich ihm, und der 얍 Herr schien einem Diskurs nicht abgeneigt zu sein, denn er fing gleich von selber an, und zwar über das schöne Wetter. Aber Kobler liess ihn nicht ausreden, sondern erklärte ihm sofort kategorisch, er sei ein absoluter Paneuropäer, und dies klang fast kriegerisch. Der Herr hörte ihm andächtig zu, und dann meinte er, Barcelona sei sehr schön, er kenne es zwar leider nicht, nämlich er kenne nur jene europäischen Länder, die mit uns Krieg geführt hätten, ausser Grossbritannien und Portugal, also fast ganz Europa. Es sei allerdings höchste Zeit, sagte der Herr, dass sich dieses ganze Europa endlich verständige, trotz aller historischen Blödheiten und feindseliger Gefühlsduseleien, die immer wieder die Atmosphäre zwischen den Völkern vergiften würden, wie zum Beispiel zwischen Bayern und Preussen. Zwar wäre das Paneuropa, das heute angestrebt würde, noch keineswegs das richtige, aber es würde doch eine Plattform sein, auf der sich das richtige Paneuropa entwickeln könnte. BB

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 127

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

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Bei dem Worte „richtig“ lächelte der Herr ganz besonders sonderbar, und dann meinte er, mit diesem Worte stünde es akkurat so wie mit dem Ausdruck „sozialer Aufstieg“. Nämlich auch diesen Ausdruck wäre man häufig gezwungen zu gebrauchen statt „Befreiung des Proletariats“ --- Und wieder lächelte der Herr so sonderbar, dass es dem Kobler ganz spanisch zumut wurde. Jetzt kam München. Der Herr hatte sich bereits höflich empfohlen, und also konnte es Kobler nicht mehr herauskriegen, wer und was dieser Herr eigentlich war. B

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얍 Zweiter BTeilN Fräulein Pollinger wird praktisch

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„Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“



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Während der Herr Kobler verreist war, ereignete sich in der Schellingstrasse nur das Uebliche. Das Leben ging seine mehr oder weniger sauberen Wege, und allen seinen Bekannten stiess nichts Aufregendes zu, allerdings mit einer Ausnahme, aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Diese Ausnahme bildete das Fräulein Anna Pollinger, nämlich sie wurde aus heiterstem Himmel heraus plötzlich arbeitslos, und zwar total ohne ihre Schuld. Sie verlor ihre Stelle in der Kraftwagenvermietung infolge der katastrophalen Konjunktur. Diese Firma brach im wahren Sinn des Wortes über Nacht zusammen, von einem Dienstag zu einem Mittwoch. Am Mittwoch mittag standen daher zwounddreissig Arbeitnehmer auf der Strasse, und auch der Arbeitgeber persönlich war B

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1 2 3 4 4 7 10 12 17 19 21 21 22 23 25 26 26 27 29 30 30

sonderbar,N ] soN ] BAufstieg“.N ] BProletariats“ ---N ] BUndN ] Bempfohlen,N ] B N] BTeilN ] B„Nur f verwandt.“N ] B1N ] BHerr KoblerN ] BereigneteN ] BWege,N ] Bzu,N ] BdasN ] Barbeitslos,N ] BohneN ] BinN ] BmittagN ] BArbeitnehmerN ] BStrasse,N ] B B

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\„Nur f verwandt.“/ [I.] |1.| Korrektur von fremder Hand: 1[.] Korrektur von fremder Hand: Herr\ /Kobler Korrektur von fremder Hand: er[{ei}]|ei|gnete Korrektur von fremder Hand: Wege\,/ Korrektur von fremder Hand: zu[ ], Korrektur von fremder Hand: das[s] Korrektur von fremder Hand: arbeitslos\,/ ohne[{n}] in[d] Korrektur von fremder Hand: [M]|m|ittag Arbeitn[a]|e|hmer Korrektur von fremder Hand: Strasse\,/

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

nun bettelarm, denn teils hatten die räuberischen Zinsen und Wechsel seine Substanz vertilgt und teils hatte er die grössere Hälfte dieser Substanz noch rechtzeitig auf den Namen seiner Frau umgeschrieben. Auch Anna erhielt nun ein weisses Kuvert; sie öffnete es und las: B

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Zeugnis Fräulein Anna Pollinger war vom 1.III. 29 bis 27.IX. 29 in der Kraftwagenvermietung 얍 „National“ als Büromädchen tätig und bewährte sich selbe als ehrlich, fleissig und pflichtbewusst. Fräulein Pollinger scheidet aus infolge Liquidation der Firma. Auch unsere Firma wurde ein Opfer der deutschen Not. Andernfalls würden wir Fräulein Pollinger nicht gerne ziehen lassen und wünschen ihr alles Gute für ihr ferneres Leben. Kraftwagenvermietung „National“

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gez. Lindt.

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Anna wohnte bei ihrer Tante, denn sie hatte keine Eltern mehr. Aber das fiel ihr nur manchmal auf, denn ihren Vater hatte sie eigentlich nie gesehen, weil er ihre Mutter schon sehr bald verlassen hatte. Und mit ihrer Mutter konnte sie sich nie so recht vertragen, weil halt die Mutter sehr verbittert war über die schlechte Welt. Noch als Anna ganz klein war, verbot es ihr die Mutter immer boshafter, dass sie ihrer Puppe was vorsingt. 얍 Die Mutter hatte keine Lieder und war also ein böser Mensch. Sie gönnte keiner Seele was und auch ihrer eigenen Tochter nichts. Knapp nach dem Weltkrieg starb sie an der Kopfgrippe, aber Anna konnte beim besten Willen nicht so richtig traurig sein, obwohl es ein sehr trauriger Herbsttag war. Von da ab wohnte sie bei ihrer Tante in der Schellingstrasse, nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete die Tante im vierten Stock zwei Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres seligen Mannes weiter, und das war kaum grösser als eine Kammer. Darüber stand „ Antiquariat“, und in der Auslage gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten. B

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4 11 20 26 26–27 28 31 32 32 34 34 35

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Kuvert;N ] PollingerN ] B2N ] BverbotN ] BPuppe f vorsingt.N ] BSeeleN ] Bdort,N ] Bdort,N ] Baufhört. DortN ] Bweiter,N ] BKammer. DarüberN ] BAntiquariat“,N ]

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Korrektur von fremder Hand: Kuvert[,] ;

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Das eine Zimmer hatte die Tante an einen gewissen Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich unvermietet, denn es war verwanzt. In diesem Zimmer konnte nun Anna vorübergehend schlafen statt bei der Tante in der Küche. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht, aber man konnte ihm nichts nachweisen, denn er war sehr raffiniert. -Als nun Anna mit ihrem Zeugnis nach Hause kam, schimpfte die Tante ganz fürchterlich über diese ganze Nachkriegszeit und wollte Anna hinausschmeissen. Aber das war natürlich nicht ernstzunehmen , denn die Tante hatte ein gutes Herz, und ihr ewiges Geschimpfe war nur eine Schwäche von ihr. Anna war ja schon oft arbeitslos, und das letzte Mal gleich acht Wochen lang. Das war im vorigen Winter, und damals sagte der Herr Kastner zur Tante: „Ich höre, dass Ihre liebe Nichte arbeits-얍los ist. Ich habe beste Beziehungen zum Film, und es hängt also lediglich von Ihrer lieben arbeitslosen Nichte ab.“ Das mit dem Film war natürlich gelogen, denn der Herr Kastner hatte ganz andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel ist er im August mit ihr ins Kino gegangen. Man hat den Film „Madame wünscht keine Kinder“ gegeben, und der Kastner hat sie dabei immer abgreifen wollen, aber sie hat sich sehr gewehrt, weil es ihr vor seinen Stiftzähnen gegraust hat. Der Kastner ist nachher sehr empört gewesen und hat sie gefragt, wie sie wohl darüber denke, dass man ein Fräulein in einen Grossfilm einladet und dann „nicht mal das?!“ ---- Aber acht Tage später hat er sie schon wieder freundlich gegrüsst, denn er hatte inzwischen eine Kassiererin aus Augsburg gefunden, die ihm zu Willen gewesen ist. B

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An diesem Abend ging Anna sehr bald zu Bett, und schon während sie sich auszog, hörte sie, dass nebenan der Kastner ausnahmsweise zu Hause geblieben ist. Er B

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schlafenN ] Küche. DieN ] Bgebracht,N ] Braffiniert. --N ] Bnach HauseN ] BernstzunehmenN ] BHerz,N ] Barbeitslos,N ] BWinter,N ] BTante: „IchN ] BFilm,N ] Bgelogen, dennN ] BZum f gegangen.N ] Bgegeben,N ] Bdenke, dassN ] Bdas?!“ ---- AberN ] BAberN ] BKassiererinN ] B N] B3N ] BBett,N ] Bzu HauseN ] B B

Korrektur von fremder Hand: schlafen[,] korrigiert aus: Küche.Die

gebracht\,/ korrigiert aus: raffiniert.-Korrektur von fremder Hand: nach\ /[h] H ause Korrektur von fremder Hand: ernst[ ]zu[ ]nehmen Korrektur von fremder Hand: Herz\,/ Korrektur von fremder Hand: arbeitslos\,/ Korrektur von fremder Hand: Winter\,/ korrigiert aus: T[na] an te:„Ich Korrektur von fremder Hand: Film\,/ korrigiert aus: gelogen,denn

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

sprach mit sich selbst, als täte er etwas auswendig lernen, aber sie konnte kein Wort verstehen. Plötzlich verliess der Kastner sein Zimmer und hielt vor ihrer Tür . Dann trat er ein, ohne anzuklopfen. Er stellte sich vor sie hin wie vor eine Auslage. Er hatte seine moderne Hose an, war in Hemdärmeln und roch nach 얍 süsslicher Rasierseife. Sie hatte sich im Bette emporgesetzt und konnte sich diesen Besuch nicht erklären, denn der Kastner schnitt ein seltsam offizielles Gesicht, als wollte er gar nichts von ihr. „Gnädiges Fräulein!“ verbeugte er sich ironisch. „Honny soit qui mal y pense !“ Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigent-얍lich wollte er Journalist werden, jedoch damals war seine Mutter anderer Meinung. Sie hatte nämlich viel mit den Zähnen zu tun und konstatierte: „Die Zahntechniker sind die Wohltäter der Menschheit. Ich will, dass mein Sohn ein Wohltäter wird!“ Er hing sehr an seiner Mutter und wurde also ein Zahntechniker, aber leider kein Wohltäter, denn er hatte bloss Phantasie statt Präzision. Es war sein Glück, dass kurz nach Eröffnung seiner Praxis der Krieg ausbrach. Er stellte sich freiwillig und wurde Militärzahntechniker. Nach dem Waffenstillstand fragte er sich: „Bin ich ein Wohltäter? Nein, ich bin kein Wohltäter. Ich bin die typische Bohemenatur, und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und nicht in die Morgue.“ Er wollte wieder Journalist werden, aber er landete beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: „Der bethlehemitische Kindermord, oder: Ehre sei Gott in der Höhe. “ Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein bethlehemitisches Kind verkörperte, nackt photographierte.– Nun schritt er vor Annas Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte daher los wie ein schlechtes Feuilleton. Zuerst setzte er ihr auseinander, dass es unnahbare Frauen nur in den Märchen und Sagen oder in Irrenhäusern gebe , nämlich er hätte sich mit all diesen Problemen B

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selbst,N ] täteN ] BTürN ] Bein,N ] BhinN ] BeineN ] Bironisch. „HonnyN ] BpenseN ] Bwird!“ ErN ] BEröffnungN ] BPraxisN ] BBohemenatur,N ] Bkonservatives ProfilN ] BHilfsregisseur. ErN ] BbethlehemitischeN ] BKindermord, oder:N ] BHöhe.N ] BbethlehemitischeN ] Bverkörperte,N ] Bphotographierte. –N ] BgerneN ] BlosN ] BsetzteN ] BgebeN ] B

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Korrektur von fremder Hand: selbst\,/ Korrektur von fremder Hand: [würde] täte Korrektur von fremder Hand: Tür[e] Korrektur von fremder Hand: ein\,/ Korrektur von fremder Hand: hin[,]

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eine[r] korrigiert aus: ironisch.„Honny Korrektur von fremder Hand: pens\e/ Korrektur von fremder Hand: wird!“\ /Er Korrektur von fremder Hand: x\Er/öffnung Korrektur von fremder Hand: Praxis[er-] [\Er/öffnung]f x Korrektur von fremder Hand: Bohemenatur\,/ Korrektur von fremder Hand: konservatives\ /Profil korrigiert aus: Hilfsregisseur.Er Korrektur von fremder Hand: bet\h/lehemitische Korrektur von fremder Hand: Kindermord\,/ oder\:/

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photographierte. [--]|–| gern\e/ Korrektur von fremder Hand: los[,]

s\e/tzte Korrektur von fremder Hand: gebe[n würde]

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

beschäftigt, „er spreche hier aus eigener, aus sexualer 얍 und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung“. So hätte er auch sofort erkannt, dass sie (Anna) keine kalte Schönheit sei, sondern ein tiefes stilles Wasser -„Was geht denn das Sie an?“ unterbrach ihn Anna auffallend sachlich, denn sie gönnte es ihm, dass er sich wiedermal über sie zu ärgern schien. Sie gähnte sogar. „Mich persönlich geht das natürlich nichts an“, antwortete der Kastner und tat plötzlich sehr schlicht. „Ich dachte ja nur an Ihre Zukunft, Fräulein Pollinger!“ Zukunft! Da stand es nun wieder vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Das war ein altes, verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur dass es noch älter war, noch schmutziger und verschlagener --- „Ich stricke, ich stricke“, nickte die Zukunft, „ich stricke Strümpfe für Anna!“ Und Anna schrie : „So lassens mich doch! Was wollens denn von mir?!“ „Ich persönlich will nichts von Ihnen!“ verwahrte sich der Kastner feierlich, und die Zukunft sah sie lauernd an. -Anna hatte keine Worte mehr , und der Kastner lächelte zufrieden, denn plötzlich ist es ihm aufgefallen, dass er auch Talent zum Tierbändiger hätte. Und er fixierte Anna, als wäre sie zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich dabei, dass er sich verbeugen wollte. „Was war denn das?!“ fuhr er sich entsetzt an, floh aus dem Zirkus, der plötzlich brannte, und knarrte los: „Zur Sache, Fräulein Pollinger! Was Sie nämlich in erotischer Hinsicht treiben, das lässt sich nicht mehr mitansehen! Nun sind Sie wiedermal 얍 arbeitslos, trotzdem hängen Sie sich ständig an Elemente wie an diesen famosen Herrn Kobler --“ „Ich häng mich an gar niemand!“ protestierte sie heftig. „So war das ja nicht gemeint!“ beruhigte er sie. „Mir müssen Sie nicht erzählen, dass Sie nicht lieben können, Fräulein! Sie können sich zwar mit jedem Kobler einlassen, aber wie Sie mal fühlen, dass Sie sich so richtig avec tut Seele verlieben könnten , kneifen Sie sofort, und dies soll natürlich B

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kein Vorwurf sein, denn infolge Ihrer wirtschaftlichen Lage trachten Sie natürlich danach, jeder überflüssigen Komplikation aus dem Wege zu gehen -- aber was ich Ihnen vorwerfe, ist einfach dies: dass Sie sich vergeuden! Heutzutag muss man auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Ich verlange zwar keineswegs, dass Sie sich prostituieren , aber ich bitte Sie um Ihretwillen, praktischer zu werden!“ „Praktisch?“ meinte Anna, und es war ihr, als hätte sie dieses Wort noch niemals gehört. Sie sollte wirklich mehr an sich denken, dachte sie vorsichtig weiter und hatte das Gefühl, als wäre sie blind und müsste sich vorwärts tasten. Sie denke zwar eigentlich häufig an sich, fuhr sie fort, aber wahrscheinlich zu langsam. Wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so hätte er eben diesmal recht. Sie müsse sich das alles genau überlegen -- was „alles“? Seit es Götter und Menschen -- kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ „Diskretion Ehrensache!“ hörte sie den Kastner sagen, und als sie ihn wiedererkannte, schnitt er ein 얍 überaus ehrliches Gesicht. Das ist nämlich so: als die Herrschenden erkannt hatten, dass es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend belustigender morden und plündern liess -- seit also dieser Gekreuzigte gepredigt hatte, dass auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit ist jenes „Diskretion Ehrensache!“ ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. Wer wagt es also, die heute Herrschenden anzuklagen, dass sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhebenden Selbstbetruges entblössen, indem sie schlicht die Frage stellen: „ Na , was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihnen einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tun? Nein, das kann man nicht. Sie sind nämlich überaus ehrlich. „Wieso?“ fragte Anna und sah den Kastner ratlos an. Doch dieser machte eine Kunstpause. Dann sagte er: „Ich biete Ihnen eine Gelegenheit, um in bessere Kreise zu gelangen. Kennen Sie den Radierer Achner? Ich bin mit ihm sehr intim, er ist künstlerisch hochtalentiert und sucht zur Zeit ein passendes Modell -- Sie könnten sich spielend zehn Mark verdienen und hätten prächtige Entfaltungsmöglichkeiten! In seinem Atelier gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, lauter Leute mit eigenem Auto. Das sind Menschen! Liebes Fräulein Pollinger, es tut mir nämlich tatsächlich weh, dass Sie Ihre Naturgeschenke derart unpraktisch verschleudern!“ B

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gehen --N ] prostituierenN ] BAnna,N ] BsollteN ] BGefühl,N ] Büberlegen --N ] BMenschen --N ] BGekreuzigtenN ] Bliess --N ] Bhabe, seitN ] Balso,N ] BArbeit,N ] BerhebendenN ] Bstellen: „NaN ] BNa,N ] BModell --N ] B B

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so[o]|l|lte Korrektur von fremder Hand: Gefühl\,/ korrigiert aus: überlegen-korrigiert aus: Menschen--

Gekreuzig[et]|t|en[,] korrigiert aus: liess-korrigiert aus: habe,seit Korrektur von fremder Hand: also\,/ korrigiert aus: Arbeit , Korrektur von fremder Hand: erh[a] e benden korrigiert aus: stellen:„Na Korrektur von fremder Hand: Na\,/ korrigiert aus: Modell--

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„Es tut mir weh“, hörte das liebe 얍 Fräulein Pollinger und lächelte. „So täuscht man sich halt“, meinte sie leise, und der Kastner tat ihr plötzlich leid, und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die grossen und die kleinen . „Ich denke jetzt radikal selbstlos“, nickte ihr der Kastner zu und benahm sich direkt ergriffen. Aber natürlich war das radikal anders. Als er nämlich erfahren hatte, dass Anna arbeitslos geworden war, ist er sofort zu jenem Radierer geeilt und hat ihm ein preiswertes Modell angeboten -- mittelgross , schlank, braunblond, und es würde schon auch einen Spass verstehen. Der Radierer hatte zufällig gerade ein solches Modell gesucht und ist infolgedessen sofort einverstanden gewesen. „Also“, hatte der Kastner gesagt, „wenn du dich dann ausradiert hast, werde ich erscheinen, Prunelle bring ich mit, Grammophon hast du – “ Anna schwieg. „Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen“, fiel es ihr plötzlich ein, „ und den könnte man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht.“ B

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Als der Kastner sie verliess, kam sie sich noch immer nicht klarer vor. Sie hatte ihm zwar das Ehrenwort gegeben , dass sie sich morgen zum Achner begeben wird, denn zehn Mark sind allerhand Schnee. Und das Modellstehen wäre doch etwas absolut Ordentliches , das wäre ja nur ein normaler Beruf. Aber das „ Praktischwerden “ -das war ein folgenschwerer Rat, das wollte noch genau überlegt sein. Denn rasch kommt ein armes Mädchen auf die schiefe Bahn, und von dort kommt keine mehr zurück. Des Kastners verführerische Prophezeiungen liessen ihr keine Ruh, aber dann tauchten auch andere Töne auf, und das waren finstere Akkorde -- sie musste sich B

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direkt anklammern, um mit dem logischen Denken beginnen zu können. Erst allmählich nahmen ihre Gedanken festere Konturen an und wurden auch immer stiller und verhielten sich abwartend. Jetzt stand jemand hinter ihr, aber sie sah sich nicht um, denn sie fühlte es deutlich, dass das ein unheimlicher Herr sein muss. Und plötzlich war das Zimmer voll von lauter Herren, die hatten alle ähnliche Bewegungen und kamen ihr sehr bekannt vor. „Wie war das doch?“ hörte sie den unheimlichen Herrn fragen, und seine Stimme klang grausam weich. 얍 „Das war so“, meldete sich einer der Herren. „Das war auf dem Oktoberfest, und zwar vor der Bude des Löwenmädchens Lionella. Anna dachte gerade, ob diese Abnormität auch noch Jungfrau wäre, da lernte sie ihren Akademiker kennen. “ „Wo steckt denn dieser Akademiker? “ erkundigte sich der Unheimliche. „Der Herr Doktor ist bereits tot“ antwortete ein anderer Herr und nickte Anna freundlich zu. „Der Herr Doktor sitzt in der Hölle“, fuhr er fort, „denn er hatte einen schlechten Charakter, nämlich er hatte der Anna ihre Unschuld geraubt, und das war keine besondere Heldentat, denn sie hatte einen Bierrausch.“ Aber da schnellte ein dritter Herr von seinem Stuhl empor. „Lügen Sie doch nicht so infam, Fräulein Pollinger!“ schrie er sie an. „Sie tun ja jetzt direkt, als hätten Sie nicht ständig danach getrachtet, endlich das zu verlieren. So antworten Sie doch!“ „Das ist schon wahr“, antwortete Anna schüchtern, „aber ich habs mir halt anders vorgestellt.“ „ Egal !“ schnarrte der Dritte und wandte sich an den Unheimlichen: „Man muss es dem lieben Gott sagen, dass der Herr Doktor unschuldig in der Hölle sitzt!“ Jetzt unterbrach ihn jedoch ein vierter Herr, und das war ein melancholischer Kaffeehausmusiker . „Das Fräulein Pollinger ist ein braver Mensch“, B

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können. ErstN ] festereN ] BwurdenN ] Bdas ZimmerN ] BvonN ] Bfragen,N ] BHerren.N ] BOktoberfest,N ] BLöwenmädchensN ] Bgerade,N ] Bkennen.N ] BAkademiker?N ] BUnheimliche. „DerN ] BhatteN ] Bgeraubt,N ] BPollinger!“N ] B„SieN ] BdanachN ] Bgetrachtet, endlichN ] Bverlieren. SoN ] BistN ] Bwahr“,N ] Bvorgestellt.“N ] Bvorgestellt.“ „EgalN ] BEgal!“N ] Bsich anN ] BUnheimlichen: „ManN ] BHerr,N ] BKaffeehausmusikerN ] BMensch“,N ]

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kennen\./ korrigiert aus: Akademiker ? korrigiert aus: Unheimliche.„Der Korrektur von fremder Hand: ha\t/te Korrektur von fremder Hand: geraubt\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

sagte er, „bitte fragen Sie doch nur den Herrn Brunner!“ „Hier!“ rief der Brunner. Er sass auf dem Sofa und beugte sich über das Tischchen. „Liebe Anna“, sagte er ernst, „ich weiss, dass ich deine einzige grosse Liebe war, aber ich hab dich ja nur aus Mitleid genommen, denn du bist ja gar nicht mein Typ.“ Dann erhob er sich langsam, er war ein riesiges Mannsbild. „ Anna“, fuhr er fort, und das klang fast zärtlich, „wenn man an nichts anderes zu denken hat, dann ist so eine grosse Liebe 얍 recht abwechslungsreich Aber ich bin Elektrotechniker, und die Welt ist voll Neid.“ „Es dreht sich halt alles um das Geld“, lächelte Anna, und es tat ihr alles weh. „ Richtig!“ murmelten die Herren im Chor, und einige sahen sie vorwurfsvoll an. „Ich hab noch nie Geld dafür genommen“, wehrte sie sich. „Wo ist denn der Kobler?“ fragte der Dritte ironisch. „ Ach, der Kobler!“ schrie Anna und geriet plötzlich ausser sich. „Der sitzt ja jetzt in Barcelona, während ich mit euch reden muss, er hätt mir leicht was geben können!“ „Na, endlich!“ rief ein Herr aus der Ecke und trat rasch vor. Er hatte einen Frack an. „Du hast jetzt endlich praktisch zu werden, Fräulein!“ sagte er. „Unten steht meine Limousine! Komm mit! Komm mit!“ B

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Der Radierer Achner hatte sein Atelier schräg vis-à-vis . Er war ein komplizierter Charakter und das, was man im bürgerlichen Sinne als ein Original bezeichnet. B

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er, „bitteN ] dochN ] BTischchen. „LiebeN ] BAnna“,N ] BdeineN ] Bwar, aberN ] BdichN ] BduN ] BAnna“,N ] Bfort,N ] BabwechslungsreichN ] BElektrotechniker,N ] BNeid.“N ] BAnna,N ] BRichtig!“N ] BHerrenN ] BChor,N ] Bgenommen“,N ] Bsich. „WoN ] BAch,N ] BeuchN ] Bkönnen!“ „Na,N ] BhatteN ] BFrackN ] BFräulein!“ sagteN ] BLimousine! KommN ] B5N ] Bvis-à-visN ] BeinN ] B B

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er\,/ „[B]|b|itte \doch/ korrigiert aus: Tischchen.„Liebe Anna“\,/ Korrektur von fremder Hand: [D]|d|eine korrigiert aus: war, aber Korrektur von fremder Hand: [D]|d|ich Korrektur von fremder Hand: [D]|d|u Anna“\,/ Korrektur von fremder Hand: fort\,/ Korrektur von fremder Hand: abwe[g]|ch|slungsreich Korrektur von fremder Hand: Elekt!o"!r"techniker\,/ Korrektur von fremder Hand: Neid!“"!." Korrektur von fremder Hand: Anna\,/ Richtig[“]|!“| Korrektur von fremder Hand: Herr\e/n Korrektur von fremder Hand: Chor\,/ Korrektur von fremder Hand: genommen“\,/ korrigiert aus: sich.„Wo Korrektur von fremder Hand: Ach\,/ Korrektur von fremder Hand: [E]|e|uch Korrektur von fremder Hand: können!“\ /„Na\,/ hatt\e/ \F/rack korrigiert aus: Fräulein!“sagte korrigiert aus: Limousine!Komm [V.] |5.| Korrektur von fremder Hand: 5[.] Korrektur von fremder Hand: vis-[a]|à|-vis \ein/

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 141

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Als er Anna die Tür öffnete, hatte er einen Pullover an und Segelschuhe. Die Sonne brannte durch die hohe Glasscheibe, und es roch nach englischen Zigaretten. Auf dem Herdchen lagen zwei verbogene Löffel, ein schmutziger 얍 Rasierapparat und die Briefe Vinzent van Goghs in Halbleinen. Im Bette lag ein Grammophon, und auf einer Kiste, die mysteriös bemalt war, thronte Buddha. Das sei sein Hausaltar, meinte der Radierer. Sein Gott sei nämlich nicht gekreuzigt worden, sondern hätte nur ständig seinen Nabel betrachtet, er persönlich sei nämlich Buddhist. Auch er persönlich würde regelmässig meditieren, zur vorgeschriebenen Zeit die vorschriftsmässigen Gebete und Gebärden verrichten, und wenn er seiner Eingebung folgen dürfte, würde er die Madonna mit sechs Armen, hundertzwanzig Zehen, achtzehn Brüsten und sechs Augen malen. Er persönlich verachte nämlich die Spiessbürger, weil sie nichts für die wahre Kunst übrighätten . Aber manchmal träumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten, grossen Augen und fettigem Haar . Es war alles so schön zu Haus gewesen, es ist gut gekocht und gern gegessen worden, und heute schien es ihm, als hätten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und an den Weihnachtsmann . Und manchmal musste er denken, ob er nicht auch lieber ein Spiessbürger geworden wäre mit einem Kind und einer rundlichen Frau. Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen, besonders, wenn er allein im Atelier sass . Dann sprach er laut mit sich selber, nur um nichts denken zu müssen. Oder er liess das Grammophon singen, rezitierte Rainer Maria Rilke , und manchmal schrieb er sich sogar selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Ueberschrift: „Raum für Mitteilungen, falls nicht zu Hause “. B

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TürN ] öffnete,N ] BGlasscheibe,N ] Broch nachN ] BdemN ] Bvan GoghsN ] BGrammophon,N ] BpersönlichN ] BBuddhist.N ] BpersönlichN ] Bverrichten,N ] BseinerN ] BsechsN ] BpersönlichN ] B N] BübrighättenN ] Bträumte erN ] Bguten,N ] BHaarN ] Bzu HausN ] Bworden,N ] Bihm, alsN ] BhättenN ] BWeihnachtsmannN ] BauchN ] BsassN ] BRilkeN ] BRilke,N ] BMitteilungen,N ] Bzu HauseN ] B B

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Tür\e/ Korrektur von fremder Hand: Tür[e] Korrektur von fremder Hand: öffnete[ ], Korrektur von fremder Hand: Glasscheibe\,/ roch\ /nach [{eien}]|dem| Korrektur von fremder Hand: van\ /Goghs Korrektur von fremder Hand: Grammophon\,/

[selbst] |persönlich| Buddhist[{,}]|.| \persönlich/ Korrektur von fremder Hand: verrichten\,/

seine[n]|r| Korrektur von fremder Hand: sec\hs/

\persönlich/ [für weil sie nichts] Korrektur von fremder Hand: übrig[ ]hätten

träumte[r]er Korrektur von fremder Hand: guten\,/ Korrektur von fremder Hand: Haa[a]r Korrektur von fremder Hand: zu\ /[h]Haus

worden[.]|,| korrigiert aus: ihm,als

[hä]hätten Weihna[ ]chtsmann au\ch/ korrigiert aus: sasss korrigiert aus: Rielke Korrektur von fremder Hand: Rilke\,/ Korrektur von fremder Hand: Mitteilungen\,/ Korrektur von fremder Hand: zu\ /[h] H ause

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Endfassung



K4/TS4 (Korrekturschicht)

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Er hasste die Stille. Etwas in seinem Wesen erinnerte an seinen verstorbenen Onkel Eugen Meinzinger. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und sass oft stundenlang auf Kinderspielplätzen. Er starb bereits 1908 nach einem fürchterlichen Todeskampfe. Zehn Stunden lang röchelte er, redete wirres Zeug und brüllte immer wieder los: „Lüge ! Lüge! Ich kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein kleines Mizzilein in den Kanal gestossen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Ich hab ja nur an den Wädelchen getätschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren , ich hab nie Bonbons bei mir!“ Und dann schlug er wild um sich und heulte: „Auf dem Diwan sitzt der Satan! Auf dem Diwan sitzt noch ein Satan!“ Dann wimmerte er, eine Strassenbahn überfahre ihn mit Rädern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: „Es ist strengstens verboten, mit dem Wagenführer zu sprechen!“ B

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Und Anna betrachtete Buddhas Nabel und dachte, das wäre doch bloss ein Schmeerbauch . Dann trat sie hinter 얍 die spanische Wand. „Ziehen Sie sich nur ruhig aus, in Schweden badet alles ohne Tricot“, ermutigte sie der Buddhist, jedoch sie fand es höchst überflüssig, dass er sich verpflichtet fühlte, ihr durch derartige Bemerkungen das Entkleiden zu erleichtern, denn sie hatte schon seit vorigem Frühjahr nichts dagegen, dass man sie ansah. Der Kastner hatte ihr mal eine Broschüre über den Geist der Antike aufgenötigt, und da stand drinnen, dass das Schamgefühl nur eine schamlose Erfindung des Christentums wäre. Der Buddhist ging auf und ab. „Wir alle opfern auf dem Altar der Kunst“, meinte er so nebenbei, und das hatte zur Folge, dass sich Anna wiedermal über diese ganze Kunst ärgerte. Denn zum Beispiel: wie gut haben es doch die Bilder in den Museen! Sie wohnen vornehm, frieren nicht , müssen weder essen noch arbeiten, hängen nur an der Wand und werden bestaunt, als hätten sie Gott weiss was geleistet ! B

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aufN ] los: „LügeN ] BLüge! IchN ] BHerrenN ] Bheulte: „AufN ] BDiwanN ] BSatan! AufN ] BDiwanN ] Bverboten, mitN ] B6N ] Bdachte, dasN ] BSchmeerbauchN ] BTricot“,N ] Bansah. DerN ] Bnebenbei,N ] BBilderN ] BnichtN ] BhängenN ] Bbestaunt,N ] BGott f wasN ] BgeleistetN ]

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Korrektur von fremder Hand: heulte:[„] „ Auf Korrektur von fremder Hand: Di[v] w an korrigiert aus: Satan!Auf Korrektur von fremder Hand: Di[v] w an verboten\ /mit Korrektur von fremder Hand: verboten\,/ mit [VI.] 6. Korrektur von fremder Hand: 6[.] Korrektur von fremder Hand: dac[t] h te, das[s] gemeint ist: Schmerbauch

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korrigiert aus: ans[e] a h.Der Korrektur von fremder Hand: nebenbei\,/

Bi\l/der n[o]|i|cht häng\e/n Korrektur von fremder Hand: bestaunt\,/ Korrektur von fremder Hand: Gott\ /weiss\ /was

geleiste\t/

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

„Ich freu mich nur, dass Sie kein Berufsmodell sind!“ vernahm sie wieder des Buddhisten Stimme. „Ich hasse nämlich das Schema, ich bin krassester Individualist, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehöre zu jener ‚unsichtbaren Loge‘ wahrer Geister, die sich über ihre Zeit erhoben haben und über die gestern in den ‚Neuesten‘ ein fabelhaftes Feuilleton stand!“ So verdammte er den Kollektivismus, während Anna sich auszog. Aber am meisten ärgerte sie sich über die Glyptothek , in der die Leute alte Steintrümmer anglotzen, so andächtig, als stünden sie vor der Auslage eines Delikatessen-얍geschäftes. Einmal war sie in der Glyptothek , denn es hat sehr geregnet, und sie ging gerade über den Königsplatz. Drinnen führte einer mit einer Dienstmütze eine Gruppe von Saal zu Saal, und vor einer Figur sagte er, das sei die Göttin der Liebe. Die Göttin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte, und sie musste direkt lächeln, und einer aus der Gruppe lächelte auch und löste sich von der Gruppe und näherte sich ihr. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar, und er fragte sie, ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wolle, und sie trafen sich dann auf dem Sendlingertorplatz. Er kaufte zwei Logenplätze, aber da es ein nasser und kalter Sonntag war, war keine Loge ganz leer, und das verstimmte ihn, und er sagte, hätte er das geahnt, hätte er zweites Parkett gekauft, nämlich er sei sehr kurzsichtig. Und er wurde ganz melancholisch und meinte, wer weiss, wann sie sich wiedersehen würden, er sei nämlich aus Augsburg und müsse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren, und eigentlich liebe er das Kino gar nicht, und die Logenplätze wären verrückt teuer. Hernach begleitete ihn Anna an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, als sie sich trennten, und sagte: „ Fräulein , ich bin verflucht. Ich hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Söhne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau B

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nur, dassN ] ‚unsichtbaren Loge‘N ] B‚Neuesten‘N ] Bdie GlyptothekN ] BdieN ] BalsN ] BGlyptothekN ] Bgeregnet,N ] BSaal,N ] Bfehlte,N ] Blächeln,N ] Bihr. ErN ] Bsagte,N ] Bunnachahmbar,N ] Bsie,N ] Bleer,N ] Bihn,N ] Bmeinte,N ] Bfahren,N ] Bnicht,N ] Bteuer. HernachN ] Btrennten,N ] Bsagte: „FräuleinN ] BFräulein,,N ] Bzwanzig, neunzehnN ] B B

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korrigiert aus: nur,dass Korrektur von fremder Hand: [’] ‚ unsichtbaren Loge[’] ‘ Korrektur von fremder Hand: [’] ‚ Neuesten[’] ‘ Korrektur von fremder Hand: d[ie] ie Glyptot\h/ek d[ei] ie Korrektur von fremder Hand: d[ie] ie

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| | a[ö]|l|s

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Korrektur von fremder Hand: Glyptot\h/ek Korrektur von fremder Hand: geregnet\,/ Korrektur von fremder Hand: Saal\,/ Korrektur von fremder Hand: fehlte\,/ Korrektur von fremder Hand: lächel[m] n \,/ korrigiert aus: ihr.Er

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sagte\,/ Korrektur von fremder Hand: unnachahmbar\,/ Korrektur von fremder Hand: sie[ ], Korrektur von fremder Hand: leer\,/ Korrektur von fremder Hand: ihn\,/ Korrektur von fremder Hand: meinte[.] , Korrektur von fremder Hand: fahren\,/ Korrektur von fremder Hand: nicht\,/ korrigiert aus: teuer.Hernach Korrektur von fremder Hand: trennten\,/ korrigiert aus: sagte:„Fräulein Korrektur von fremder Hand: Fräulein\,/ korrigiert aus: zwanzig,neunzehn

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sechsundfünfzig. Ich war immer Idealist. Fräulein, Sie werden nicht an mich denken. Ich bin Kaufmann. Ich hab Talent zum Bildhauer.“ B

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Aber das Schicksal wollte es nicht haben, dass sie heute Modell steht, es hatte etwas anderes mit ihr vor. Nämlich unerwartet bekam der Buddhist Besuch, und der gehörte zu jenen besseren Kreisen, auf die sie der Kastner mit den Worten aufmerksam gemacht hatte: „Ich verlange zwar keineswegs, dass du dich prostituierst!“ Sie war erst halb ausgezogen hinter der spanischen Wand, als ein junger Herr elastisch das Atelier betrat. Er hiess Harry Priegler und war ein durchtrainierter Sportsmann. Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewussten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu haben, konnte er seine gesunden Muskeln, Nerven und Eingeweide derart rücksichtslos pflegen, dass er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eishockeysportes galt. Und er enttäuschte die Hoffenden nicht. Allgemein beliebt, wurde er gar bald der berühmteste linke Stür-얍mer und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, dass er sich ein „Foul“ zuschulden kommen liess, denn infolge seiner raffinierten Technik und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er dies nicht nötig. Für Kunst hatte er kaum was übrig. Zwar liess er sich sein Lexikon prunkvoll einbinden , denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Auch las er gern Titel und Kapitelüberschriften, aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreisskalendern. Trotzdem fand ihn der Buddhist nicht unsympathisch, B

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Fräulein,N ] nichtN ] BBildhauer.“N ] B7N ] BBesuch,N ] B„IchN ] Bdu dichN ] BausgezogenN ] BhiessN ] BdankN ] BdesN ] BEishockeysportesN ] BUndN ] BplaciertenN ] BHinterhalt,N ] Bvertrat,N ] BraffiniertenN ] BliessN ] BeinbindenN ] Bsei schönerN ] B N] B B

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Korrektur von fremder Hand: Fräulein[ ], Korrektur von fremder Hand: nich\t/ Korrektur von fremder Hand: Bildhauer!“"!." [VII.] 7. Korrektur von fremder Hand: 7[.] Korrektur von fremder Hand: Besuch\,/

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[„Das sind Möglichkeiten!] |„|Ich

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Korrektur von fremder Hand: [D] d u [D] d ich

\ausgezogen/ hies\s/

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Korrektur von fremder Hand: [D] d ank Korrektur von fremder Hand: d[ ]es Korrektur von fremder Hand: Eisho\c/keysportes

U[ ]nd

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Korrektur von fremder Hand: pla[z] c ierten Korrektur von fremder Hand: Hinterhalt\,/

vertra\t,/ raffinierte\n/ lies\s/

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Korrektur von fremder Hand: einbi[l] n den

se[{i}]i[u]schöner [g]

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denn u.a. liess er ihn oft in seinem Auto fahren, und das war ein rassiger Sportwagen. -Jetzt unterhielten sich die beiden Herren sehr leise. Nämlich dem Buddhisten wäre es peinlich gewesen, wenn Anna erfahren hätte, dass er dem Harry vierzig Reichsmark schuldet, da er etwas auf sich hielt. „Sicher fährt sie mit!“ meinte er und betonte dies „sicher“ so überzeugt, dass es Anna hören musste, obwohl sie nicht horchte. Nun wurde sie aber neugierig, denn sie liebte das Wort „vielleicht“. Scheinbar interessiert blätterte sie in den Briefen van Goghs und hörte, wie Harry von zwei Herren sprach, die ihm anlässlich seines grandiosen Spieles in der Schweiz persönlich gratulieren wollten. Als sie ihm aber ihre Aufwartung machten, da stahlen sie ihm aus seiner Briefmarkensammlung den „schwarzen Einser“ und den „sächsischen 얍 Dreier“. Einer dieser Herren habe sich hernach an eine lebensfreudige Baronin attachiert , doch der Baron sei unerwartet nach Hause gekommen und habe nur gesagt: „Pardon !“ Und dann habe er sich in der gleichen Nacht auf dem Grabe seiner Mutter erschossen. Und Harry meinte, er verstünde es nicht, wie man sich aus Liebe erschiessen könnte. Und auch Anna schien dies schleierhaft. Sie dachte, was wäre das doch für eine Ueberspanntheit, wenn sie sich jetzt auf dem Grabe ihrer Mutter erschiessen würde. Zwar hätte sie mal mit diesem Gedanken gespielt, zur Zeit ihrer einzigen grossen Liebe, seinerzeit, da sie mit dem Brunner ging -- aber heute kommt ihr das direkt komisch vor. Aus Liebe tun sich ja heut nur noch die Kinder was an! Erst heute begreift sie ihren Brunner, der da sagte , dass wenn zwei sich gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das Geschwätz von der Seele in der Liebe, das sei bloss eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch lediglich bloss eine Gefühlsroheit , wenn irgendeine Anna ausser seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit B

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Korrektur von fremder Hand: fahren\,/ korrigiert aus: Sportwagen.-40\RM/ Korrektur von fremder Hand: [40RM] vierzig Reichsmark

u.a.N ] fahren,N ] BSportwagen. --N ] Bvierzig ReichsmarkN ] BScheinbar f sieN ] BihmN ] BinN ] BHerrenN ] BattachiertN ] Bnach HauseN ] Bgesagt: „PardonN ] Berschossen. UndN ] Bmeinte,N ] BdiesN ] BgingN ] BsagteN ] Bsagte, dassN ] BLiebe,N ] BErfindung jenerN ] BnichtsN ] BdiesemN ] BGefühlsroheitN ] BirgendeineN ]

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Scheinbar1 blätterte3 sie4 interessiert2 Korrektur von fremder Hand: ih[n]|m| in[d] Korrektur von fremder Hand: Herr\e/n att\a/chiert Korrektur von fremder Hand: nach\ /[h]|H|ause korrigiert aus: gesagt:„Pardon korrigiert aus: erschossen.Und Korrektur von fremder Hand: meinte\,/ [das]|dies| ging[\,/] s\a/gte korrigiert aus: sagte,dass Liebe\,/ Erfindung\ /jener n[{ci}]|ich|ts Korrektur von fremder Hand: n[ich]|ich|ts diese\m/ Korrektur von fremder Hand: Gefühlsroh[h]eit irgend[ ]eine

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Schmerzen, und warum sollte er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja keine Familie gründen, dann allerdings müsste er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammenzuleben, da gehöre schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zuviel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. -Als Anna Harry vorgestellt wurde, sagte er: „ Angenehm !“ Und zum Buddhi얍 sten: „ Verzeih , wenn ich wiedermal störe!“ „Oh, bitte !“ unterbrach ihn dieser höflich. „Für heut sind wir so weit! Ziehen Sie sich nur wieder an, Fräulein!“ Anna fürchtete bereits, von Harry nicht aufgefordert zu werden, und so sagte sie fast zu früh „ja“ und überraschte sich dabei, dass ihr seine Krawatte gefiel. Harry hatte sie nämlich gefragt: „Fräulein , Sie wollen doch mit mir kommen -- nur an den Starnberger See -- “ Unten stand sein Sportwagen, und der war wirklich wunderbar. Und dann gings dahin . . . B

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Nach einer knappen Stunde kam der Herr Kastner ins Atelier, wie er es gestern ausgemacht hatte --- aber da der Buddhist dem Harry Priegler unter anderm vierzig Reichsmark schuldete, hätte er also unverzeihbar töricht gehandelt, wenn er seinem Gläubiger betreffs irgendeiner Anna nicht entgegengekommen wäre, nur um irgendeinem Kastner sein Versprechen halten zu können. B

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1 2 3 4 5 6 6 6–7 7 7 7 9 10 10 11 11 12 12 13 14 19 21 21 22 22 23 24

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Schmerzen,N ] besonderesN ] BgehöreN ] BBesonderesN ] Bhätten. --N ] BAngenehmN ] BUndN ] BBuddhisten: „VerzeihN ] BVerzeih,N ] Bstöre!“N ] BbitteN ] Bwerden,N ] BKrawatteN ] Bgefiel. HarryN ] Bgefragt: „FräuleinN ] Bdoch mitN ] BStarnberger SeeN ] BSee --N ] BSportwagen,N ] Bdahin . . .N ] B8N ] BkamN ] BinsN ] BdaN ] Bunter andermN ] BReichsmarkN ] BirgendeinerN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: Schmerzen\,/ Korrektur von fremder Hand: bes[i] o nderes

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Korrektur von fremder Hand: [u] U nd korrigiert aus: Buddhisten:„Verzeih Korrektur von fremder Hand: Verzeih\,/

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Korrektur von fremder Hand: Starnberger\ /[s] S ee korrigiert aus: See-Korrektur von fremder Hand: Sportwagen\,/ Korrektur von fremder Hand: dahin\ /. \. ./ [VIII.] 8. Korrektur von fremder Hand: 8[.]

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Korrektur von fremder Hand: [u.a.] unter anderm Korrektur von fremder Hand: [RM] Reichsmark Korrektur von fremder Hand: irgend[ ]einer

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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Der Kastner war ein korrekter Kaufmann und übersah auch sofort die Situation. Alles sah er ein und meinte nur: „Du hast wiedermal dein Ehrenwort gebrochen.“ Aber dies sollte nur eine 얍 Feststellung sein, beileibe kein Vorwurf, denn der Kastner konnte grosszügig werden, besonders an manchen Tagen. An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja es war gar nicht so hässlich, es war eigentlich nichts. Das einzige Unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung. -„Ich hab extra einen Prunelle mitgebracht“, sagte er und lächelte resigniert. „Es wär sehr leicht gegangen mit deinem Grammophon , sie war ja ganz gerührt, dass ich ihr das hier beschafft hab, und sie hat eine feine Haut“ --- so sass er da und stierte auf einen Fettfleck an der spanischen Wand. Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ging eines Tages in der Schellingstrasse spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so dass diese einst so innig befreundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein ausserordentliches Personengedächtnis besass. „ Hallo !“ rief der vierte Fettfleck. „Ihr kennt euch doch, wir wollen jetzt einen Prunelle trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns!“ Heut sprach der Kastner nicht gewählt, und auch auf seine Dialektik war er nicht stolz. „Heut hab ich direkt wieder gehinkt“, murmelte er vor sich hin, und die Sonne sank immer tiefer. Es war sehr still im Atelier, und plötzlich meinte der Buddhist: B

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„Die Einsamkeit ist wie ein Regen, sie steigt vom Meer den Abenden entgegen, B

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nur: „DuN ] deinN ] Beinzige UnangenehmeN ] BVentilatorN ] BVerblödung. --N ] BPrunelleN ] Bdeinem GrammophonN ] Bhab,N ] BHaut“ ---N ] Blange,N ] BsoN ] Bbesass. „HalloN ] BHalloN ] BFettfleck. „IhrN ] BeuchN ] BPrunelleN ] Bgewählt,N ] BseineN ] Bhin,N ] BAtelier,N ] B„Die f entgegen,N ]

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Regen,N ] entgegen,N ]

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Vent[u]|i|lator korrigiert aus: Verblödung.-[Cognak] |Prunelle| Korrektur von fremder Hand: [D]|d|einem Grammop[g]|h|on hab[e] Korrektur von fremder Hand: hab\,/ korrigiert aus: Haut“--lange[,] Korrektur von fremder Hand: lange\,/ Korrektur von fremder Hand: so[,] korrigiert aus: besass.„Hallo Korrektur von fremder Hand: Hallo[h] korrigiert aus: Fettfleck.„Ihr Korrektur von fremder Hand: [E]|e|uch [Cognak] |Prunelle| Korrektur von fremder Hand: gewählt\,/ sei[en]|n|e Korrektur von fremder Hand: hin\,/ Korrektur von fremder Hand: Atelier\,/ || [„Die Einsamkeit ist wie ein Regen Sie steigt vom] |„Die f entgegen,| Korrektur von fremder Hand: Regen\,/ Korrektur von fremder Hand: entgegen\,/

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

von Ebenen, die fern sind und entlegen, geht sie zum Himmel, der sie immer hat, und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt. Regnet hernieder in den Zwitterstunden, wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen und wenn die Leiber, welche nichts gefunden, enttäuscht und traurig voneinander lassen und wenn die Menschen, die einander hassen, in einem Bett zusammen schlafen müssen: Dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen --- “ „Das sind bulgarische Zigaretten“, antwortete der Kastner und sah seinen Fettfleck vertraulich an. „Bulgarien ist ein fruchtbares Land, ein Königreich. Das hier ist nicht der echte Tabak, denn die Steuern sind zu hoch, wir haben eben den Feldzug verloren. Es war umsonst. Wir haben umsonst verloren“ --- So trank er seinen Prunelle, und es dauerte nicht lange, da war er einverstanden. Eine fast fromme Ergebenheit erfüllte seine Seele, und es fiel ihm gar nicht auf, dass er zufrieden war. Er kam sich vor wie ein gutes Gespenst, das sich über seine eigene Harmlosigkeit noch niemals geärgert hatte. Selbst da der Prunelle alle wurde, war er sich nicht bös. B

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Als der Kastner den Fettfleck begrüsste, erblickte Anna den Starnberger See . Die Stadt mit ihren grauen Häusern war verschwunden, als hätte sie nie in ihr gewohnt, und Villen tauchten auf, rechts und links und überall, mit Rosen und grossen Hunden. Der Nachmittag war wunderbar, und Anna fuhr durch eine aufregend fremde Welt, denn es ist ein grosser Unterschied zwischen einem Soziussitz und einem wunB

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1 1 2 2 4 5 6 6 8 8 9 10 10 12 14 14 14–15 16 16 19 21 23 24–25 25 27

Ebenen,N ] entlegen,N ] BHimmel,N ] Bhat,N ] BZwitterstunden,N ] BMorgenN ] BLeiber,N ] Bgefunden,N ] BMenschen,N ] Bhassen,N ] Bzusammen schlafenN ] B N] BFlüssen ---N ] Ban. „BulgarienN ] Bverloren“ ---N ] BSoN ] BPrunelle,N ] BSeele,N ] Bgar nichtN ] BPrunelleN ] B9N ] BStarnberger SeeN ] Bgewohnt,N ] Bauf, rechtsN ] Bwunderbar,N ] B B

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Korrektur von fremder Hand: Ebenen\,/ Korrektur von fremder Hand: entlegen\,/ Korrektur von fremder Hand: Himmel\,/ Korrektur von fremder Hand: hat\,/ Korrektur von fremder Hand: Zwitterstunden\,/ Korrektur von fremder Hand: [m] M orgen Korrektur von fremder Hand: Leiber\,/ Korrektur von fremder Hand: gefunden\,/ Korrektur von fremder Hand: Menschen\,/ Korrektur von fremder Hand: hassen\,/ Korrektur von fremder Hand: zusammen\ /schlafen gestrichen: Eintragung von fremder Hand: 1 Versfuß zuwenig! korrigiert aus: Flüssen--Korrektur von fremder Hand: an.\ /„Bulgarien korrigiert aus: verloren“--Korrektur von fremder Hand: [s] S o [Cognak] Prunelle Korrektur von fremder Hand: Prunelle\,/ Korrektur von fremder Hand: Seele\,/ Korrektur von fremder Hand: gar\ /nicht

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[Cognak] |Prunelle| [IX.] |9.| Korrektur von fremder Hand: 9[.] Korrektur von fremder Hand: Starnberger\ /[s]|S|ee Korrektur von fremder Hand: gewohnt\,/ korrigiert aus: auf,rechts Korrektur von fremder Hand: wunderbar\,/

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

derbaren Sportwagen. Sie hatte die Füsse hübsch artig nebeneinander und den Kopf etwas nach hinten gezogen, denn auch der Wind war wunderbar, und sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem. Harry war ein blendender Herrenfahrer. Er überholte einfach alles und nahm die Kurven, wie sie kamen. Ausnahmsweise sprach er nicht über das Eishockey , sondern beleuchtete Verkehrsprobleme. So erklärte er ihr, dass für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgendein Fussgänger die Schuld trägt, und darum dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, wenn er, falls er solch einen Fussgänger überfahren hätte, einfach abblenden täte . In diesem Sinne habe er einen Freund in Berlin, und dieser Freund hätte mal mit seinem fabelhaften Lancia eine Fussgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über 얍 die Strasse gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja sogar zum Prozess sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fussgängerin Landgerichtsratswitwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, seinen Freund zur Zahlung einer Entschädigung zu verurteilen. „Es käme mir ja auf ein paar tausend Märker nicht an“, hätte der Freund gesagt, „aber ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen.“ Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fussgängerin nicht leid täte, trotz des verbotenen Lichtes. „Nein “, hätte er gesagt, „prinzipiell nicht!“ Er sei eben auf seinem Recht bestanden. Jedesmal, wenn Harry einen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusammenstossen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann hasste er diesen Staat, der die Fussgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Ueberhaupt der deutsche Staat, meinte er, sollte sich lieber kümmern, dass mehr gearbeitet würde, damit wir endlich wieder mal hochkommen könnten! Fussgänger würden so und so überfahren, und nun erst recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Auslandes, da er mit seinem Auto jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst zwecks Erholung von der anstrengenden Eishockeysaison ein Stückchen Welt durchfahre. B

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wunderbar,N ] Kurven,N ] Bkamen. AusnahmsweiseN ] BEishockeyN ] Bträgt,N ] BwennN ] Bhätte, einfachN ] BtäteN ] BBerlin,N ] Büberfahren, weilN ] Bwissen.“N ] BFussgängerinN ] Btäte,N ] BLichtes. „NeinN ] B N] BdemN ] Büberfahren,N ] BEishockeysaisonN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: wunderbar\,/ Korrektur von fremder Hand: Kurven\,/ korrigiert aus: kamen.Ausnahmsweise Korrektur von fremder Hand: Eisho\c/key Korrektur von fremder Hand: trägt\,/ Korrektur von fremder Hand: [dass] wenn korrigiert aus: hätte,einfach Korrektur von fremder Hand: [würde] täte Korrektur von fremder Hand: Berlin\,/ korrigiert aus: überfahren,weil Korrektur von fremder Hand: wissen!“"!." Korrektur von fremder Hand: Fussgänger\in/[in] Korrektur von fremder Hand: [tun würde] täte, korrigiert aus: Lichtes.„Nein

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Endfassung



K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Jetzt fuhren sie durch Possenhofen. Hier wurde eine Kaiserin von Oesterreich geboren, und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander verwandt, und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloss Berg. Es war eine vornehme Gegend. „Essen tun wir in Feldafing“, entschied Harry. „In Feldafing ist ein annehmbares Publikum, seit der Golfplatz draussen ist. In der Stadt kann man ja kaum mehr essen, überall sitzt so ein Bowel.“ Und dann erwähnte er auch noch, früher sei er öfters nach Tutzing gefahren, das liege nur sechs Kilometer südlicher; aber jetzt könne kein anständiger Mensch mehr hin, nämlich dort stünde jetzt eine Fabrik, und überall treffe man Arbeiter.

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In Feldafing sitzt man wunderbar am See. Besonders an solch einem milden Herbstabend. Dann ist der See still, und du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterscheiden, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend. Im Seerestaurant zu Feldafing sassen lauter vornehme Men-얍schen. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die grösste Mühe gab anders auszusehen, und die Damen waren durchaus gepflegt, wirkten daher sehr neu, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett musste, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal heimlich in der Nase bohrte oder sonst irgendwas Unartiges tat. Die Speisekarte war lang und breit, aber Anna konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. „Königinsuppe?“ hörte sie des Kellners Stimme, und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, nämlich das Knurren kränkte ihn, da er einen schlechten Charakter hatte. Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich, als hätten sie es nicht nötig zu essen. Als wären sie schon derart vergeistigt, und sind doch nur satt. B

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verwandt,N ] man jaN ] BFabrik,N ] B10N ] Bstill,N ] BduN ] BgabN ] Bauszusehen,N ] BStimme,N ] BDer KellnerN ] Bvergeistigt,N ] B N] B B

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Korrektur von fremder Hand: verwandt\,/ Korrektur von fremder Hand: !ja"!man" Korrektur von fremder Hand: Fabrik\,/ [X.] 10. Korrektur von fremder Hand: 10[.] Korrektur von fremder Hand: still\,/ Korrektur von fremder Hand: [D] d u Korrektur von fremder Hand: gab[,] Korrektur von fremder Hand: auszusehen\,/ Korrektur von fremder Hand: Stimme\,/ Korrektur von fremder Hand: Der\ /Kellner Korrektur von fremder Hand: vergeistigt\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Harry bestellte zwei Wiener Schnitzel mit Gurkensalat, liess aber hernach das seine stehen, weil es ihm zu dick war, verlangte russische Eier und sagte: „Wissen Sie Fräulein, dass ich etwas nicht ganz versteh: wieso kommt es nur, dass ich bei Frauen soviel Glück hab ? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sichs vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann? Ich kann jede Frau haben, aber das ist halt nicht das richtige.“ Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: das beste ist, ich wart, bis es finster ist, dann fahr ich zurück und bieg in einen Seitenweg --- und wenn sie nicht will, dann fliegt sie halt raus. „Es ist halt nicht das richtige“, fuhr er laut fort. „Die Frauen sagen zwar, ich könnt hypnotisieren. Aber ob ich die 얍 Liebe find? Ob es überhaupt eine Liebe gibt? Verstehen Sie mich, was ich unter ‚Liebe‘ versteh?“ Es war noch immer nicht finster geworden, es dämmerte nur, und also musste er noch ein Viertelstündchen Konversation treiben. „Zum Beispiel jene Dame dort am dritten Tisch links“, erzählte er, „die hab ich auch schon mal gehabt. Sie heisst Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstrasse acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckt er erst, dass sie verheiratet ist und dass ihr Mann sein Geschäftsfreund ist . Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishockey gespielt hab . Sie heisst Lotte Böhmer und wohnt in der Meinickestrasse vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heisst Weber und wohnt in der Franz-Josef-Strasse , die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: „Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stossen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.“ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stossen wollte. Und hinter Ihnen --- schauen Sie sich nicht um! --sitzt eine grosse Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestossen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heisst Else Hartmann und B

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Wiener SchnitzelN ] habN ] BbesteN ] B N] Bnur,N ] BmussteN ] Ber, „dieN ] BFreund, ihrN ] BentdecktN ] Berst, dassN ] BundN ] BistN ] BEishockeyN ] BhabN ] BMeinickestrasseN ] BAlte, sieN ] BFranz-Josef-StrasseN ] BPsychologe.“ AberN ] BIhnen --- schauenN ] Bum! --- sitztN ]

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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wohnt in der Fürstenstrasse zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin 얍 ich sehr befreundet, und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: „Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, dass du mich mit meiner Frau betrügst?“ Ich hab gesagt: „Hand aufs Herz! Es ist wahr!“ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: „Ich danke dir , lieber Harry!“ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, dass ich ja nichts dafür könnt , denn er wüsst es genau, dass der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil wäre. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein grosser Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heisst Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstrasse bei der Gabelsbergerstrasse.“ „Zahlen!“ rief Harry, denn nun wurde es Nacht. B

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Im Forstenrieder Park bog Harry in einen Seitenweg, hielt scharf und starrte regungslos vor sich hin, als suchte er einen grossen Gedanken, den er verloren hatte. Anna wusste, was nun kommen würde, trotzdem fragte sie, ob etwas los wäre. Aber er schwieg sich noch eine Weile aus. Dann sah er sie langsam an und sagte, sie hätte 얍 schöne Beine. Er war jedoch gar nicht erregt, und jetzt musste er sich schneuzen. Das benützte sie, um ihm zu sagen, dass sie spätestens um neun in der Schellingstrasse sein müsse, worauf er sie fragte, ob sie denn nicht fühle, dass er sie haben wolle. „Nein“, sagte sie, „fühlen tu ich das nicht.“ „Ist das aber traurig!“ meinte er und lächelte charmant. Die Septembernacht war stimmungsvoll, und Harry fühlte sich direkt verpflichtet, Anna zu besitzen, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, da sie nun mal in seinem Sportwagen sass und weil er ihr Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, obwohl er es ja bereits in Feldafing bemerkt hatte, dass sie ihn niemals besonders aufregen könnte. So kam alles, wie es kommen sollte, und Anna sah sich B

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befreundet,N ] duN ] BdirN ] BkönntN ] BwurdeN ] B11N ] BForstenrieder ParkN ] Bsagte,N ] Berregt,N ] Bsie,N ] Bmüsse,N ] Bnicht.“ „IstN ] Bstimmungsvoll,N ] BWiener SchnitzelN ] Balles,N ] Bsollte,N ] B B

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könnt[e] Korrektur von fremder Hand: wurd\e/ [XI.] |11.| Korrektur von fremder Hand: 11[.] Korrektur von fremder Hand: Forstenrieder\ /[p]|P|ark Korrektur von fremder Hand: sagte\,/ Korrektur von fremder Hand: erregt\,/ Korrektur von fremder Hand: sie\,/ korrigiert aus: müsse , Korrektur von fremder Hand: nicht.[%]“\ „/Ist Korrektur von fremder Hand: stimmungsvoll\,/ Korrektur von fremder Hand: Wiener\ /[s]|S|chnitzel Korrektur von fremder Hand: alles\,/ Korrektur von fremder Hand: sollte\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

ängstlich um. Ob sie denn etwas gehört hätte, fragte er. „ Ja“, sagte sie, „es war nichts.“ Also näherte er sich ihr, und zwar in einer handgreiflichen Weise. Aber so rasch sollte er nicht an sein Ziel gelangen, denn nun hörte Anna wieder jenen Herrn im Frack -- „ Bitte, sei doch endlich praktisch!“ bat sie der Herr und streichelte sie wie ein grosser Bruder. „So geht das nicht!“ sagte sie plötzlich, und ihre Stimme erschien ihr seltsam verändert, als gehörte sie einer neuen Anna. „Sondern?“ fragte Harry. „Zehn“, sagte die neue Anna, und jetzt wurd es grausam still --„Fünf“, meinte Harry plötzlich und erhob sich energisch: „Dort drüben ist eine Bank!“ Sie gingen zur Bank. Auf der Banklehne stand: Nur für Erwachsene. Das war auf einer Lichtung, da sie zum 얍 erstenmal Geld dafür nahm. Droben standen die Sterne, und ringsum lag tief und schwarz der Wald. Sie nahm das Geld, als hätte sie nie darüber nachgedacht, dass man das nicht darf. Sie hatte wohl darüber nachgedacht, aber durch das Nachdenken wird die Ungerechtigkeit nicht anders, das Nachdenken tut nur weh. Es war ein Fünfmarkstück, und nun hatte sie keine Gefühle dabei, als wär sie schon tot. B

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Dritter Teil Herr Reithofer wird selbstlos B

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„Und die Liebe höret nimmer auf.“

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 161

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Wochen waren vergangen seit dieser Nacht, und nun wars Anfang November. Die Landeswetterwarte konstatierte, dass das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein, und auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Aber hier war der Herbst noch mild und fein, und so sollte er offiziell auch noch einige Tage bleiben. Seit vorgestern wohnte Anna nicht mehr bei ihrer Tante in der Schellingstrasse, sondern in der Nähe des Goetheplatzes, und das kam so: Am Montag erschien ein Kriminaler bei der Tante, der einst mit ihr in die Schule gegangen war , und teilte ihr vertraulich mit, dass ihre Nichte schon öfter beobachtet worden sei, wie sie sich ausser jedem Zweifel dafür bezahlen ließe . Der Kriminaler erwähnte das nur so nebenbei aus Freundschaft, denn eigentlich war er ja zur Tante gekommen, um den Herrn Kastner zu verhaften wegen gewerbsmässiger Verbreitung unzüchtiger Schriften und eines fahrlässigen Falscheids -- aber der Kastner sass gerade im Café, und so hatte der Kriminaler Gelegenheit, seine alte Schulfreundin darauf auf-얍merksam zu machen, dass in der Polizeidirektion bereits ein Akt vorhanden wäre, in dem eine gewisse Anna Pollinger als verdächtiges sträunendes Frauenzimmer geführt werde. Die Tante geriet ganz ausser sich, und der Kriminaler bekam direkt Angst, es könnte sie der Schlag treffen und drum suchte er sie zu beschwichtigen. Man könne auch die Freudenmädchen nicht so ohne weiteres verdammen, sagte er, so habe er eine Bekannte gehabt, bei der hätten nur so leichtfertige Dinger gewohnt, doch die wären peinlich pünktlich mit der Miete gewesen und hätten die Möbel schon sehr geschont, sauber und akkurat. Sie hätten sich ihre Zimmer direkt mit Liebe eingerichtet und nie ein unfeines Wort gebraucht. Aber diese Argumente prallten an der Tante ihrer katholischen Weltanschauung ab. Sie war fürchterlich verzweifelt, warf Anna aus ihrem Heim und brach jede verwandtschaftliche Beziehung zu ihr ab. – B

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Nacht,N ] AnfangN ] BdasN ] BTiefN ] BBiskayaN ] Bsein,N ] BGoetheplatzes,N ] Bder f dieN ] Bgegangen warN ] BöfterN ] BließeN ] BFalscheids --N ] BCafé,N ] BGelegenheit,N ] BPollingerN ] B N] Bsich,N ] BwärenN ] Bpeinlich pünktlichN Bakkurat. SieN ] BkatholischenN ] Bab. SieN ] BfürchterlichN ] Bab. –N ]

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 162

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Auch den Herrn Kobler hatte Anna nie wieder gesprochen. Nur einmal sah sie ihn drüben an der Ecke stehen, und zwar mit dem Grafen Blanquez. Sie wollte hinüber, aber der Kobler wandte ihr derart ostentativ den Rücken, dass sie aufhörte, nach ihm zu fragen. „Ich kann sie nicht mehr sehen“, sagte er zu seinem Grafen, „ich bin halt diesen Verhältnissen hier schon etwas entwachsen und will nicht mehr runter von meinem Niveau .“ „Da hast du schon sehr recht“, nickte der Graf, „denn sie ist leider total verkommen.“ „ Seit wann denn?“ erkundigte sich Kobler. „Schon lang“, meinte der Graf. „Neulich erzählte mir unser Freund Harry, dass sie fünf Mark dafür verlangt hat.“ „Nicht möglich!“ rief Kobler . 얍 „Das sind halt diese fürchterlichen Zeiten, Europa muss sich halt einigen, oder wir gehen noch alle zugrund!“ -An diesem Abend wäre Anna fast auf der Wache gelandet, denn sie hatte einen lauten Auftritt in der Augustenstrasse . Ein Waffenstudent spuckte ihr ins Gesicht, weil sie ihn ansprach, trotzdem er Couleur trug. Noch lange hernach wimmerte sie vor Wut und Hass und legte einen heiligen Eid ab, sich nie wieder mit einem Herrn einzulassen, aber sie konnte diesen Schwur nicht halten, denn die Natur verlangte ihr Recht. Sie hatte nämlich nichts zu essen. -Die Natur ist eine grausame Herrin und gab ihr keinen Pardon. Und so fing sie bereits an, nur an das Böse in der Welt zu glauben, aber nun sollte sie ein Beispiel für das Vorhandensein des Gegenteils erleben, zwar nur ein kleines Beispiel, aber doch ein Zeichen für die Möglichkeit menschlicher Kultur und Zivilisation. B

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Als Anna ihren Herrn Reithofer kennen-얍lernte , dämmerte es bereits. Das war in der Nähe der Thalkirchener Straß vor dem Städtischen Arbeitsamt. Auch der Herr B

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stehen,N ] ihrN ] BentwachsenN ] BNiveauN ] BduN ] BnickteN ] B„dennN ] BSeitN ] BKobler.N ] BmeinteN ] BHarry, dassN ] BKoblerN ] BdieseN ] Beinigen,N ] BAugustenstrasseN ] BhernachN ] BkonnteN ] Bessen. --N ] BkeinenN ] BkleinesN ] B2N ] Bkennen-lernteN ] BderN ] BThalkirchener StraßN ] BStädtischenN ] B B

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 164

Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

Reithofer war nämlich arbeitslos, und er knüpfte daran an, als er sie ansprach --man konnte es ihr ja noch nicht ansehen, durch was sie ihren Unterhalt bestritt, denn da sie es erst seit kurzem tat, war sie äusserlich noch die alte Anna. Aber drinnen sass die neue Anna und frass sich langsam an das Licht. Der Herr Reithofer sagte, er sei nun schon ewig lange ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Oesterreicher, und sie sagte, sie sei nun auch schon zwei Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht, und sie sagte, sie kenne Oesterreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr angenehme Stadt, und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte gewollt, und er lächelte, er freue sich nun sehr, dass er sie kennengelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Aber sie fiel ihm ins Wort, man könne doch nicht das Reden verlernen. Nun zog eine Reichswehrkompagnie an ihnen vorbei, und zwar mit Musik. Als der Herr Reithofer die Reichswehr sah , meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Ueberhaupt gäbe es viele Gewalten, die leider stärker wären als der Mensch, aber so dürfte man nicht denken, denn dann müsste man sich halt aufhängen. Er solle doch nicht so traurig daherreden, unterbrach sie ihn wieder, er solle lieber in den 얍 Himmel schauen, denn dort droben flöge gerade ein feiner Doppeldecker. Jedoch er sah kaum hin, nämlich das wisse er schon, und die Welt werde immer enger, denn bald würde man von dort droben in zwei Stunden nach Australien fliegen können, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das von dem Herrn von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett hätte gehen wollen, aber derweil in den Himmel gekommen sei. Ueberhaupt entwickle sich die Technik kolossal, erst neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich grossartig, dass der menschliche Geist solche Höhen erklimme, und sie werde es ja auch noch erleben, dass, wenn das so weitergehe, alle echten Menschen zugrund gehen würden. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchiB

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arbeitslos,N ] ansprach ---N ] BwarN ] BsassN ] BschonN ] Bsagte,N ] BOberpfalz nicht,N ] Bsagte,N ] BkenneN ] BworaufN ] BStadt,N ] Baus. SieN ] Bgewollt,N ] BkennengelerntN ] Bvorbei,N ] BsahN ] Bnichts. UeberhauptN ] Bdenken, dennN ] Bschon,N ] B N] BEnglandN ] Berklimme,N ] BwerdeN ] Bdass,N ] B B

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Korrektur von fremder Hand: arbeitslos\,/ korrigiert aus: ansprach---

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

schen Produktionsverhältnisse, und er habe gestern gelesen, dass sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil die Kapitalisten anfingen, sich zu organisieren -- und er schloss: auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen. Und während der Herr Reithofer so sprach, wurde es Anna sonnenklar, dass er sie verwechselt, und sie wunderte sich, dass sie noch nicht darauf zu sprechen gekommen sei, aber nun hatte sie plötzlich keinen Mut, davon anzufangen , und das war direkt seltsam. Sie sah ihn verstohlen an. Er hatte ein wohltuendes Geschau und auffallend gepflegte Hände. Was er denn für einen Beruf hätte, fragte sie. „ Kellner“, sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute 얍 sicher in einem ausländischen Grand Hôtel , wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Biskra . Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Serajevo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der wo der österreich-ungarische Thronfolger gewesen sei, erschossen hätten. Und Anna antwortete, sie wisse es nicht, was dieses Serajewo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, und soviel sie erfahren hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an diesen ganzen Weltkrieg nur schwach erinnern, denn als der seinerzeit ausgebrochen sei, wäre sie erst vier Jahr alt gewesen. Sie erinnere sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals hätte man ihre liebe Mutter begraben. Zwar hätte sie ihre Mutter nie richtig geliebt, sie sei sehr mager gewesen und so streng weiss um den Mund herum, und sie hätte oft das Gefühl gehabt, dass die Mutter denken täte : „ Warum lebt das Mädel?“ Hier meinte der Herr Reithofer, dass jeder Mensch Verwandte hätte, der eine mehr und der andere weniger und jeder Verwandte vererbe einem etwas, entweder Geld oder einen grossen Dreck. Aber auch Eigenschaften wären erblich, so würde der eine ein Genie, der zweite ein Beamter und der dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloss Nummern, die sich alles gefallen liessen. Nur wenige liessen sich nicht alles gefallen, und das wäre sehr traurig. B

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Produktionsverhältnisse,N ] organisieren --N ] BgekommenN ] BanzufangenN ] Banzufangen,N ] BauffallendN ] BKellner“,N ] BWeltkriegN ] BheuteN ] BGrand HôtelN ] BBiskraN ] BSerajevoN ] BSerajewoN ] Bgefallen,N ] BundN ] BweissN ] Bherum,N ] BtäteN ] Btäte: „WarumN ] BWarumN ] BandereN ] BderN ] Bliessen.N ] Bgefallen,N ] B B

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Korrektur von fremder Hand: Produktionsverhältnisse\,/ korrigiert aus: organisieren--

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Endfassung



K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Jetzt gingen sie über den Sendlinger-Tor-Platz . „Und was hat das Fräulein für einen Beruf?“ fragte er. Sie sah ihn forschend an, ob er es bereits erraten hätte, und überraschte sich dabei, dass es ihr peinlich gewesen wär -- „Eigentlich hab ich das Nähen gelernt“, sagte sie und ärgerte sich nun über ihr ängstliches Gefühl. Denn die Männer sind feine Halunken, und daran ändert auch ihre Arbeitslosigkeit nichts. Ob wohl dieser feine Arbeitslose drei Mark habe, überlegte sie, und stellte ihn auf die Probe: „Ich möcht jetzt gern ins Kino da drüben“, sagte sie. Dem Herrn Reithofer kam dieser Vorschlag ziemlich unerwartet, denn er besass nur mehr einen Zehnmarkschein, und es war ihm auch bekannt, dass er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anteil habe, und er erinnerte sich, dass er 1915 in Wolhynien einen Kalmücken sterben sah, der genau so starb wie irgendein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. „Ich möcht gern ins Kino“, wiederholte sich Anna und sah ihn mit Fleiss recht verträumt an. Und um den toten Kalmücken zu verscheuchen, dachte er: auf die zwei Mark kommts schon auch nicht mehr an, und so freut er sich, dass er ihr die Freude bereiten kann, denn er war ein guter Mensch. „Nur schad, dass der Tom Mix nicht spielt!“ meinte er. Nämlich er liebte diesen Wildwestmann, weil dem immer alles gelingt, aber ganz besonders verliebt war er in dessen treues Pferd. Ueberhaupt schwärmte er für alle Vieher -- so wär er 1916 fast vor ein Kriegsgericht gekommen, weil er einem rus-얍sischen Pferdchen, dem ein Granatsplitter zwei Hufe weggerissen, den Gnadenschuss verabreicht und durch diesen Knall seine Kompanie in ein fürchterliches Kreuzfeuer gebracht hatte . Damals ist sogar ein Generalstabsoffizier gefallen. B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Lesetext

Leider sah er also nun im Kino keine Vieher, sondern ein Gesellschaftsdrama, und zwar die Tragödie einer schönen jungen Frau. Das war eine Millionärin, die Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah, wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren liess, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in BadenBaden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge sass, im Karneval tanzte und überaus unglücklich den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten, jungen Millionärssohn, der sie dezent-sinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen , was sie dann auch im Ligurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua, und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich. Es war ein sehr tragischer Film und hatte nur eine lustige Episode: die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe, und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein „grosses“ Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure „gross“ aus. Aber der Chauffeur wusste nicht genau, wie 얍 die „grosse“ Welt Messer und Gabel hält, und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige, und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint, und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig. -Im Kino war es natürlich dunkel, aber der Herr Reithofer näherte sich Anna in keiner Weise, denn so etwas tat er im Kino prinzipiell nie -- und als jetzt die Vorstellung beendet war, da war es nun draussen auch schon dunkel. Drinnen hatte sich Anna direkt geborgen gefühlt, denn sie hatte sich vergessen können, aber als sie sich nun eingekeilt zwischen den vielen Fremden hinaus in die rauhe Wirklichkeit zwängte, B

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

war sie sich bereits darüber klar, in welcher Weise sie nun dem Herrn Reithofer begegnen sollte. Sie würde ihn einfach vor die Alternative stellen, obwohl er eigentlich ein netter Mann sei, aber das Nette an den Männern ist halt nur eine Kriegslist. Als sie sich von ihren Plätzen erhoben hatten , ist es dem Herrn Reithofer aufgefallen, dass sie kleiner sei, als er sie in der Erinnerung hatte. Und so dachte er nun, wie wäre es doch edel, wenn er ihr nur väterlich über das Haar streichen, ihr Zukkerln schenken und sagen würde: „Geh ruhig nach Haus , mein liebes Kind!“ Aber wie ist das halt alles unverständlich mit dem Liebesleben in der Natur: da ist ein starkes Muss! Doch steht es dir frei, mit dem Willen dagegen anzukämpfen, sofern du einen Willen hast. Und so sagte 얍 er nun: „ Kommens, Fräulein, gehen wir noch ein bisserl spazieren, es ist ja eine unwahrscheinlich laue Novembernacht“ -- Aber da trat sie von ihm weg und sagte ihren harten Spruch: „So einfach geht das nicht!“ „Wieso?“ erkundigte er sich harmlos, denn er konnte sich momentan nichts Genaues darunter vorstellen. „Weil das was kostet“, sagte sie und sah recht höhnisch drein, denn es tat ihr gut, wenn sich die Herren ärgerten, und nun wartete sie auf einen Ausbruch. Aber darauf sollte sie vergebens warten. Zwar hätte sie der Herr Reithofer niemals für eine Solche gehalten, und drum schwieg er nun eine ganze Zeit. „Also eine Solche bist du “, sagte er dann leise und sah sie derart resigniert an, dass es sie gruselte. „Ich bin noch nicht lang dabei“, entfuhr es ihr gegen ihre Absicht. „Das vermut ich“, lächelte er, „aber ich hab halt kein Geld.“ „Dann müssen wir uns halt verabschieden!“ -- Jetzt sah er sie wieder so an. „Also ich hab ja keine Verachtung für dich “, meinte er, „aber dass du dich von einem Menschen in meiner wirtB

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schaftlichen Lage ins Kino einladen lasst, das ist eine grosse Gemeinheit von dir !“ Dann liess er sie stehen. BB



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Langsam ging er die Sendlinger Strasse hinab und sah sich kein einziges Mal um, als sähe er eine schönere Zukunft vor sich. „ Also, das war ein Mistvieh“, konstatierte er und hasste Anna momentan. Unwillkürlich fiel ihm seine erste Liebe ein, die ihm nur eine einzige Ansichtskarte geschrieben hatte. Aber bald dachte er wieder versöhnlicher, denn er war ein erfahrener Frauenkenner. Er sagte sich, dass halt alle Weiber unzuverlässig seien, sie täten auch glatt lügen, nur um einem etwas Angenehmes sagen zu können. Die Frau sei halt nun mal eine Sklavennatur, aber dafür könne sie eigentlich nichts, denn daran wären nur die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten. „Aber das war halt doch ein Mistvieh!“ schloss er seine Gedankengänge. In der Rosenstrasse hielt er apathisch vor der Auslage eines Photographen. Drinnen hing ein vergrössertes Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie staken in ihren Sonntagskleidern, blickten ihn hinterlistig und borniert an, und alle acht waren ausserordentlich hässlich. Trotzdem dachte nun der Herr Reithofer, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie sein eigen nennen könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus, und das Aussterben sei doch etwas Trauriges, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen 얍 Anspruch auf die reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung hätte. Und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los, und er konnte es sich gar nicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei. Es war ihm nämlich eingefallen, dass ein Blinder sagt: „Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche. Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!“ Nacht wars, und es wurde immer noch später, aber der Herr Reithofer wollte nicht nach Hause , denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er sehr müde war. Er war ja den ganzen Tag wieder herumgelaufen und hatte keine Arbeit gefunden. Sogar im „Kontinental“ hatte er sein Glück probiert, und als er dort seine hochmütigen Kollegen vor einem richtigen Lord katzbuckeln gesehen hatte, ist es nicht das B

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

erstemal gewesen, dass er seinen Beruf hasste. Und nun noch dazu dieses Abenteuer mit dem Mistvieh, das hatte ihn vollends um den Schlaf gebracht. Jetzt stand er in der Müllerstrasse und war voll Staub, draussen und drinnen. Drüben entdeckte er ein Bierlokal, und das lag dort verführerisch. Lang sah er es an. „ Also, wenn die Welt zusammenstürzt“, durchzuckte es ihn plötzlich, „jetzt riskier ich noch dreissig Pfennig und kauf mir ein Glas Bier!“ Aber die Welt stürzte nicht zusammen, sondern vollendete ihre vorgeschriebene Reise mit Donnergang, und ihr Anblick gab den Engeln Stärke, als der Herr Reithofer das 얍 Bierlokal betrat. Die unbegreiflich hohen Werke blieben herrlich wie am ersten Tag. B

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Der Herr Reithofer war der einzige Gast. Er trank sein Bier und las in den „Neuesten “, dass es den Arbeitslosen entschieden zu gut gehe , da sie sich sogar ein Glas Bier leisten könnten. „Der Redner sprach formvollendet“, stand in der Staatszeitung, „und man war ordentlich froh, wieder mal den Materialismus überwunden zu haben --“ Da fühlte er, dass ihn jemand anstarrte . Vor ihm stand eine fremde Dame. Er hatte sie gar nicht kommen hören, nämlich sonst hätt er aufgehorcht. „Guten Abend , Herr Reithofer!“ sagte die fremde Dame und meinte dann überstürzt, das sei ein grosser Zufall, dass sie sich hier getroffen hätten, und über so einen Zufall könnte man leicht einen ganzen Roman schreiben, einen Roman mit lauter Fortsetzungen. Sie las nämlich leidenschaftlich gern. „Sie erlauben doch, dass ich mich zu Ihnen setz?“ fragte sie und freute sich sehr. „Seit wann sinds denn in München, Herr Reithofer? Ich bin schon seit vorigem Mai da, aber ich bleib nimmer lang, ich hab nämlich erfahren, in Köln soll es besser für mich sein, dort war doch erst unlängst die grosse Journalistenausstellung“ -- so begrüsste sie ihn recht ver-얍traut, aber er lächelte nur verlegen, denn er konnte sich noch immer nicht erinnern, woher sie ihn kennen konnte. Sie schien ihn nämlich genau zu kennen, aber er wollte sie nicht fragen, woher sie ihn kennen täte , denn sie freute sich aufrichtig, ihn wiederzusehen, und erinnerte sich gern an ihn. B

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Bierlokal,N ] Also,N ] BDonnergang,N ] B4N ] B„NeuestenN ] BgeheN ] B„DerN ] B„undN ] Bhaben --“ DaN ] BanstarrteN ] Bgar nichtN ] BAbendN ] BvorigemN ] BtäteN ] BgernN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: Bierlokal\,/ Korrektur von fremder Hand: Also\,/ Korrektur von fremder Hand: Donnergang\,/ [IV.] 4. Korrektur von fremder Hand: 4[.]

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„Nicht jede Ausstellung ist gut für mich“, fuhr sie fort. „So hab ich bei der Gesoleiausstellung in Düsseldorf gleich vier Tag lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab vor lauter Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld, und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei eurer Gesoleiausstellung, und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, dass ich keine Geschäfte mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere ansprech. Da hab ichs erst gemerkt, dass ich vier Tag lang in der Gesundheitsabteilung gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon, und da hab ichs freilich verstanden, dass ich nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hats mir vor mir selber gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen, Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.“ Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Bibliotheksbau des Deutschen Museums in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine grosse vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau, und der Herr Reithofer dachte: „Ist das aber eine geschwätzige Person! Vielleicht verwechselt 얍 sie mich, es heissen ja auch fremde Leut Reithofer“ -- da bemerkt er plötzlich, dass sie schielt. Zwar nur etwas, aber es fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Kriege in Pressburg gearbeitet hatte, und zwar im Restaurant Klein. Das ist ein kollegialer Charakter gewesen, ein grosses Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieses Kind geheiratet und zu ihm gesagt: „Glaubs mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, aber nur ein bisserl, und sie hat ein gutes Herz.“ Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hiess Karl Swoboda. „Als mein Mann in Montenegro fiel“, sagte jetzt die geschwätzige Person, „da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer. Ich hab mir gedacht, ist der jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, dass Sie nicht gefallen sind, erinnern Sie sich noch an meine Krapfen?“ Jetzt erinnerte er sich auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt, und da hatte ihn dieser seiner jungen Frau vorgestellt, und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, dass die beiden Betten nicht zueinander passten , aber er hatte dies nicht ausgenützt, und nach dem Pferderennen ist der Swoboda sehr melancholisch gewesen, weil er fünf Gulden verspielt hatte, und hatte traurig gesagt: „Glaubs mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!“ „Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reithofer“, sagte Karl Sowobodas Witwe und hatte dabei einen wehmütigen Ausdruck, denn sie war halt kein Sonntagskind. Zwar stand in ihrem Horoskop, dass sie eine glückliche Hand habe. Nur vor B

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Korrektur von fremder Hand: [E] e u[e]rer Korrektur von fremder Hand: Geschlechtskrankheitenpavillon\,/ Korrektur von fremder Hand: Rei[ ]chspräsidenten Korrektur von fremder Hand: bemerkt[e] Korrektur von fremder Hand: hatte\,/ Korrektur von fremder Hand: bisserl\,/ Korrektur von fremder Hand: abgeholt\,/ Korrektur von fremder Hand: zueinander\ /passten Korrektur von fremder Hand: hatte\,/

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Endfassung

K4/TS4 (Korrekturschicht)

dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücks-얍monat, und dann gelänge ihr alles vorbei. „Dann dürft ich halt überhaupt nicht leben!“ rief sie gewollt lustig, denn sie hatte im April Geburtstag. Dies Horoskop hatte ihr die Toilettenfrau gestellt und dabei behauptet, dass sie das Weltall genau kennen täte , allerdings nur bis zu den Fixsternen. Sie hiess Regina Warzmeier und war bei den Gästen sehr beliebt, denn sie wusste immer Rat und Hilfe, und so taufte man sie die „Grossmama“. Als der Herr Reithofer an die Pressburger Betten dachte, näherte sich ihm die Grossmama. Wenn sie nämlich nichts zu tun hatte, stand sie vor ihren beiden Türen und beobachtete die Gäste, um noch mehr zu erfahren. So hatte sie nun auch bemerkt, dass das Gretchen den Herrn Reithofer wie einen grossen Bruder behandelte , und für solch grosse Geschwister empfand sie direkt mütterlich -- und also setzte sie sich an des Herrn Reithofers Tisch. Das Gretchen erzählte gerade, dass im Weltkrieg leider viele kräftige Männer gefallen sind und dass hernach sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Grossmama meinte, für Offiziere sei es halt schon sehr arg, wenn so ein Weltkrieg verloren ginge. So hätten sich viele Offiziere nach dem Kriege total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte sie mal in einer grossen Herrentoilette gedient und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe für ein Fass Bier hergeschenkt hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eierkognaks eingetauscht, und dieser Flieger sei derart versoffen gewesen, dass er statt mit „Guten Tag!“ mit „Prost!“ gegrüsst hätte. Und der Herr Reithofer meinte, der Weltkrieg hätte freilich keine guten Früchte 얍 getragen, und für so Offiziere wäre es freilich besser, wenn ein Krieg gewonnen würde, aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, dass er persönlich auch als Sieger unter derselben wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er nun schon ewig lang arbeitslos, und es bestünde nicht die geringste Aussicht, dass es besser werden wollte. Hier mischte sich ein älterer Herr ins Gespräch, der sich auch an den Tisch gesetzt hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, es wäre jammerschade, dass der Herr Reithofer kein Fräulein sei, denn dann hätte er für ihn sofort Arbeit. „Wie meinen Sie das?“ erkundigte sich der Herr Reithofer misstrauisch, aber der ältere Herr liess sich nicht verwirren. „Ich mein das gut“, lächelte er freundlich und setzte ihm auseinander, dass, wenn er kein Kellner, sondern eine Schneiderin wäre, so wüsste er für diese Schneiderin auf der Stelle eine Stelle. Er kenne nämlich einen grossen Schneidergeschäftsinhaber in Ulm an der Donau, und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat, aber der Herr Reithofer dürfte halt auch keine Österreicherin B

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Korrektur von fremder Hand: Unglücksmonat\,/ Korrektur von fremder Hand: [würde] täte Korrektur von fremder Hand: [p] P ressburger Korrektur von fremder Hand: behandelt\e/ Korrektur von fremder Hand: und[,] Korrektur von fremder Hand: Eier[c] k ognaks Korrektur von fremder Hand: gegrüsst[e] Korrektur von fremder Hand: getragen\,/ Korrektur von fremder Hand: arbeitslos\,/ Korrektur von fremder Hand: [aber] Korrektur von fremder Hand: Donau\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

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sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher, und deshalb engagiere er nur sehr ungern Österreicher. Aber ihm zuliebe würde er vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch Schnei-얍derin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen, und von diesem Kind dürfte die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett in Neu-Ulm, um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei. Dieser freundliche Herr war Stammgast und wiederholte sich oft. Auch debattierte er gern mit der Grossmama und kannte keine Grenzen. So erzählte er ihr, dass seinerzeit jener Höhlenmensch, der den ersten Ochsen an die Höhlenwand gezeichnet hätte, von allen anderen Höhlenmenschen als geheimnisvoller Zauberer angebetet worden sei, und so müsste auch heute noch jeder Künstler angebetet werden (er war nämlich ein talentierter Pianist) -- und dann stritt er sich mit der Grossmama, ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heisse (er sammelte ja auch Briefmarken) -- worauf die Grossmama meistens erwiderte , auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener grosse Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte, und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte, und sie könnte es sich schon gar nicht vorstellen, wie so etwas angefangen werden müsste, worauf er meinte, aller Anfang sei halt schwer, und er fügte noch hinzu, dass die Dreissigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewusstseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Grossmama und dachte, der rechthaberische Mensch sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen. B

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Als der Herr Reithofer von der Stelle für das Fräulein hörte, dachte er unwillkürlich an das Mistvieh von zuvor, das ihn in jenes blöde Kino verführt hatte. Er sagte sich, das wäre ja ausgerechnet eine rettende Stelle für sein Mistvieh, es hätte ihm ja erzählt, dass es erst seit kurzem eine Solchene und eigentlich Näherin sei. Vielleicht würde es ihn jetzt nur ein Wörtchen kosten, und sie würde morgen keine Solchene mehr sein, als wäre er der Kaiser von China. „Aber ich bin halt kein Kaiser von China“, sagte er sich, „und sie ist halt ein Mistvieh!“ B

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Österreicher,N ] bekommen,N ] BwidmenN ] BgernN ] BGrossmamaN ] BerwiderteN ] Bhätte,N ] Bgar nichtN ] Bschwer,N ] B5N ] BSolcheneN ] BihnN ] Bkosten,N ] BSolcheneN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: Österreicher\,/ Korrektur von fremder Hand: bekommen\,/ korrigiert aus: wiedmen Korrektur von fremder Hand: gern[e] Korrektur von fremder Hand: [\„/]Grossmama[\“/] Korrektur von fremder Hand: erwi[e]derte Korrektur von fremder Hand: hätte\,/ Korrektur von fremder Hand: gar\ /nicht Korrektur von fremder Hand: schwer\,/ [V.] 5. Korrektur von fremder Hand: 5[.] Korrektur von fremder Hand: [s] S olchene Korrektur von fremder Hand: ih[m] n Korrektur von fremder Hand: kosten\,/ Korrektur von fremder Hand: [s] S olchene

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Der ältere Herr hatte sich gerade erhoben, um sich die neue Illustrierte zu holen. „Er ist ein Sonderling“, meinte die Grossmama ironisch, und der Herr Reithofer dachte: „Wahrscheinlich ist auch dieser Sonderling ein Mistvieh!“ „Aber es ist doch schön von ihm, dass er dem Herrn Reithofer helfen möcht“, meinte die Swoboda leise und blätterte abwesend in der ‚Eleganten Welt‘ . „Freilich ist das schön“, grinste der Herr Reithofer, und plötzlich fiel es ihm auf: „Er weiss ja gar nicht , ob ich am End nicht auch ein 얍 Mistvieh bin! Ich bin doch auch eins, meiner Seel!“ Und er dachte weiter, und das tat ihm traurig wohl: „Wenn sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser, überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen, es ist doch direkt unanständig, wenn man einem nicht helfen tät, obwohl man könnt. “ -- „Er lügt!“ sagte die Grossmama. „Nein, das tut er nicht!“ verteidigte ihn die Swoboda und wurde heftig. „Das werden wir gleich haben!“ meinte der Herr Reithofer und wandte sich an den Sonderling, der nun mit seiner Illustrierten wieder an den Tisch trat: „Sagen Sie, Herr, ich kann ja jetzt leider nicht weiblich werden, aber ich wüsst eine für Ihren Kommerzienrat, eine erstklassige Schneiderin, und Sie täten mir persönlich einen grossen Gefallen“, betonte er, und das war gelogen. Also das wäre doch gar nicht der Rede wert, unterbrach ihn der Sonderling, denn das kostete ihn nur einen Anruf, da sich jener Kommerzienrat zufällig seit gestern in München befände -- und schon eilte er ans Telefon. „Also das ist ein rührendes Mistvieh“, dachte der Herr Reithofer, und die Swoboda sagte andächtig: „Das ist ein seltener Mensch und ein noch seltenerer Künstler.“ Aber die Grossmama sagte: „Er lügt.“ Jedoch die Grossmama sollte sich täuschen, denn nach wenigen Minuten erschien der seltene Mensch, als hätte er den Weltkrieg gewonnen. Der Kommerzienrat war pure Wahrheit, und so konnte er sich vor lauter Siegesrausch nicht sogleich wieder setzen. Er ging um den Tisch herum und erklärte dem Herrn Reithofer, sein Fräulein könne die Stelle auf der Stelle 얍 antreten, doch müsste sie sich morgen früh Punkt sieben Uhr dreissig im Hotel „Deutscher Kaiser“ melden. Sie solle nur nach dem Herrn Kommerzienrat aus Ulm fragen, und der würde sie dann gleich mitnehmen, er würde nämlich um acht Uhr wieder nach seinem Ulm zurückfahren. B

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ironisch,N ] ‚Eleganten Welt‘N ] BReithofer,N ] Bgar nichtN ] Bweiter,N ] BMistvieherN ] BMistvieherN ] Bkönnt.N ] BGrossmama.N ] Ber,N ] BihnN ] BReithofer,N ] BGrossmamaN ] BWahrheit,N ] BPunktN ] B„Deutscher Kaiser“N ] Bfragen,N ] B B

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Korrektur von fremder Hand: ironisch\,/ Korrektur von fremder Hand: [‚] ‚ Eleganten Welt[‘] ‘ Korrektur von fremder Hand: Reithofer\,/ Korrektur von fremder Hand: gar\ /nicht Korrektur von fremder Hand: weiter\,/ Korrektur von fremder Hand: Mistvie[\c/]her Korrektur von fremder Hand: Mistvie[\c/]her Korrektur von fremder Hand: könnt\./

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Grossmama\./ [ironisch.] Korrektur von fremder Hand: er\,/ Korrektur von fremder Hand: ih[m] n Korrektur von fremder Hand: Reithofer\,/ korrigiert aus: Grossmamama Korrektur von fremder Hand: Wahrheit\,/ Korrektur von fremder Hand: [p] P unkt Korrektur von fremder Hand: \„/Deutscher Kaiser\“/ Korrektur von fremder Hand: fragen\,/

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K4/TS4 (Korrekturschicht)

Und der Herr Reithofer fragte ihn, wie er ihm danken solle , aber der seltene Mensch lächelte nur: eine Hand wasche halt die andere, und vielleicht würde mal der Herr Reithofer in die Lage kommen, ihm eine Stelle verschaffen zu können, wenn er kein Vertreter wäre, sondern eine Masseuse . Und er liess sich auch das Telephon nicht bezahlen. -- „Man telephoniert doch gern mal für einen Menschen“, sagte er. „Ich kann nicht nähen“, murmelte die Swoboda, „ich hab halt schon alles verlernt.“ Selbst die Grossmama war gerührt, aber am tiefsten war es der seltene Mensch persönlich. B

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Es war schon nach der Polizeistunde, und in stummer Ruh lag nun die Holzstrasse neben der belebteren Müllerstrasse. Hier irgendwo würde das Mistvieh wahrscheinlich herumlaufen, überlegte der Herr Reithofer, und er überlegte logisch. Er hatte es schon eine ganze Weile 얍 krampfhaft gesucht, und nun gings bereits auf halb zwei . Endlich stand es drüben an der Ecke. Es unterhielt sich gerade mit einem Chauffeur, der sehr stark auf Frauen wirkte. Man sah ihm dies an, und deshalb wartete der Herr Reithofer, bis sie sich ausgesprochen hatten. Dann näherte er sich seinem Mistvieh langsam von hinten und kam sich dabei so edel und gut vor, dass er sich leid tat . „Guten Abend , Fräulein!“ begrüsste er es überraschend. -- Anna sah sich um, erkannte ihn und erschrak derart, dass sie keinen Laut hervorbrachte. Aber er gab ihr keinen Anlass dazu, sondern teilte ihr lediglich mit, dass er ihr eine solide Arbeitsmöglichkeit verschaffen könnte, aber sie müsste bereits um acht Uhr früh mit einem richtigen Kommerzienrat nach Ulm an der Donau fahren, und das wäre doch ein direkter Rettungsring für sie. Sie starrte ihn an und konnte ihn nicht verstehen, so dass er sich wiederholen musste. Aber dann unterbrach sie ihn gereizt, er solle sich doch eine andere aussuchen für seine gemeinen Witze, und sie bitte sich diese geschmacklose Frozzelei aus, und überhaupt diesen ganzen Hohn. -- Jedoch er liess sie nicht aus den AuB

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solleN ] andere,N ] BMasseuseN ] BTelephonN ] BtelephoniertN ] B6N ] BPolizeistunde,N ] BReithofer,N ] Bgesucht,N ] Bhalb zweiN ] Ban,N ] BsoN ] Bvor, f tatN ] BAbendN ] BerschrakN ] BWitze,N ] Baus,N ] BHohn.N ] BJedochN ] B B

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Korrektur von fremder Hand: soll[t]e Korrektur von fremder Hand: andere\,/ Korrektur von fremder Hand: Mas\s/euse Korrektur von fremder Hand: Tele[f] ph on Korrektur von fremder Hand: tele[f] ph oniert [VI.] 6. Korrektur von fremder Hand: 6[.] Korrektur von fremder Hand: Polizeistunde\,/ Korrektur von fremder Hand: Reithofer\,/ Korrektur von fremder Hand: gesucht\,/ Korrektur von fremder Hand: halb\ /zwei Korrektur von fremder Hand: an\,/

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Korrektur von fremder Hand: [a] A bend Korrektur von fremder Hand: erschra[c]k Korrektur von fremder Hand: Witze\,/ Korrektur von fremder Hand: aus\,/ Korrektur von fremder Hand: Hohn\./ Korrektur von fremder Hand: [j] J edoch

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gen, denn das Mistvieh tat ihm nun auch richtig leid, weil es den Kommerzienrat nicht glauben konnte. Es murmelte noch etwas von Roheit, und plötzlich fing es an zu weinen. Man solle es doch in Ruh und Frieden lassen, weinte es; es sei ja eh schon ganz kaputt. Und das gäbs ja gar nicht auf der Welt, dass ihr ein Mensch mit einem Rettungsring nachlaufe, nachdem sie diesen Menschen ausgenützt hätte. Aber der Herr Reithofer schwieg noch immer, und jetzt liess auch das Mistvieh kein Wort mehr fallen. Es hatte ja bereits angefangen, nur an das Böse in der Welt zu glauben, aber nun 얍 erlebte es ein Beispiel für das Vorhandensein des Gegenteils, zwar nur ein kleines Beispiel, aber doch ein Zeichen für die Möglichkeit menschlicher Kultur und Zivilisation. Es schnitt ein anderes Gesicht und weinte nicht mehr . „Das hätt ich wirklich nicht gedacht“, lächelte sie , und das tat ihr weh. „Wissens Fräulein“, meinte der Herr Reithofer, „es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, und das ist halt die menschliche Solidarität.“ Dann liess er sie stehen. Und er hatte dabei ein angenehmes Gefühl, denn nun konnte er es sich gewissermassen selbst bestätigen , dass er einem Mistvieh geholfen hatte . Ungefähr so: Zeugnis Ich bestätige gern , dass das Mistvieh Josef Reithofer ein selbstloses Mistvieh ist. Es ist ein liebes, gutes, braves Mistvieh. gez. Josef Reithofer Mistvieh. B

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Korrektur von fremder Hand: Roheit\,/ Korrektur von fremder Hand: es[,] ; Korrektur von fremder Hand: gar\ /nicht Korrektur von fremder Hand: immer\,/ Korrektur von fremder Hand: nicht\ /mehr

auch richtigN ] Roheit,N ] Bes;N ] Bgar nichtN ] Bimmer,N ] Bnicht mehrN ] BsieN ] Bsie,N ] BihrN ] B„esN ] BVerliebtsein,N ] BbestätigenN ] BhatteN ] Bbestätige gernN ] Bliebes, gutes,N ] B N]

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Korrektur von fremder Hand: [„] „ es Korrektur von fremder Hand: Verliebtsein\,/ korrigiert aus: bestättigen Korrektur von fremder Hand: hat\te/ Korrektur von fremder Hand: bestät[t]ige gern[e] Korrektur von fremder Hand: liebes\,/ gutes\,/ Korrektur von fremder Hand: [Ende des dritten und letzten Teiles]

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ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 183

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ÖLA 3/W 278 – BS 3 c [1], Bl. 1

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IN 221.000/44 – BS 38 d [1], Bl. 1

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IN 221.000/3 – BS 37 b, Bl. 1

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IN 221.001/4 – BS 45 a [4], Bl. 7

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Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Eugen kennenlernte, da war es noch Sommer. Sie waren beide arbeitslos, und Eugen knüpfte daran an, als er sie ansprach. Das war in der Thalkirchnerstraße vor dem städtischen Arbeitsamt, und er sagte, er sei bereits zwei Monate ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher. Sie sagte, sie sei bereits fünf Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht, und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr schöne Stadt, und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte, und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wollte, er habe so lange nicht mehr diskuriert, denn er kenne hier nur seine Wirtin, und das sei ein pedantisches Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante und schwieg. Er lächelte und sagte, er freue sich sehr, daß er sie nun kennengelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Hierauf gingen sie spazieren. Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauer Straße, dann die Augustenstraße entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld. Als Eugen die ehemaligen Kasernen sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Mächte, die stärker wären als der Mensch, aber so dürfe man nicht denken, denn dann müßte man sich aufhängen. Sie sagte, er solle doch nicht so traurig daherreden, hier sei nun das Oberwiesenfeld, und er solle doch lieber sehen, wie weit heut der Horizont wär und wie still die Luft, nur ab und zu kreise über einem ein Flugzeug, denn dort drüben sei der Flughafen. Er sagte, das wisse er schon, und die Welt werde immer enger, denn bald wird man von da drüben in zwei Stunden nach Australien fliegen, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett gehen wollte und derweil in den Himmel kam. Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich großartig, daß der menschliche Geist solche Höhen erklimmt, und sie werde es ja auch noch erleben, daß, wenn das so weiter geht, Europa zugrunde gehen wird. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse, und er habe gestern gelesen, daß sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil sich die Kapitalisten anfangen, zu organisieren. Sie sagte, jener amerikanische künstliche Mensch würde sie schon sehr interessieren. Er sagte, auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen. Das war Ende August 1928. Es hatte wochenlang nicht mehr geregnet, und man prophezeite einen kurzen trüben Herbst und einen langen kalten Winter. Die Landeswetterwarte konstatierte, daß das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein, und auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Am Nachmittag hatte es zwar dreimal gedonnert, aber wieder nicht geregnet, und nach Sonnenuntergang war es noch derart drückend schwül, als hätte die Luft Fieber. Erst um Mitternacht setzte sich langsam der Staub auf die verschwitzte Stadt. Agnes fragte Eugen, ob auch er es fühle, wie schwül der Abend sei, und dann: Sie denke nun schon so lange darüber nach und könne es sich gar nicht vorstellen, was er für einen Beruf hätte. „Kellner“, sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben,

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wäre er heute sicher in einem ausländischen Grandhotel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Biskra. Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Er hätt zehn Neger unter sich und tät dem Vanderbilt seinem Neffen servieren, er hätt fürstlich verdient und hätt sich mit fünfzig ein kleines Hotel im Salzkammergut gekauft. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Sarajevo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der wo der österreich-ungarische Thronfolger war, erschossen haben. Sie sagte, sie wisse nicht, was dieses Sarajevo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, gleich ganz zu Beginn, und soviel sie gehört hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an den ganzen Weltkrieg nicht gut erinnern, denn als der seinerzeit ausbrach, da sei sie erst vier Jahre alt gewesen. Sie erinnerte sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals sei ihre Mutter an der Kopfgrippe gestorben. Sie habe zwar ihre Mutter nie richtig geliebt, die sei sehr mager gewesen und so streng weiß um den Mund herum, und sie hätt oft das Gefühl gehabt, daß die Mutter denke: Warum lebt das Mädel? Sie habe noch heut ab und zu Angst, obwohl nun die Mutter seit fünf Jahren tot sei. So habe sie erst neulich geträumt, sie sei wieder ganz klein, und ein General mit lauter Orden sei in der Küche erschienen und habe gesagt: „Im Namen seiner Majestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!“ Und die Mutter habe nur gesagt: „Soso, wenn er nur nicht wieder den Hausschlüssel verliert.“ Und der General habe präsentiert und sei verschwunden, und die Mutter habe sich vor sie hingeschlichen und sie entsetzlich gehässig angeglotzt. Dann habe sie das Licht ausgedreht, weil es plötzlich Nacht geworden sei, und den Gashahn aufgedreht und etwas vor sich hingemurmelt, das habe geklungen wie eine Prozession. Aber plötzlich sei es unheimlich licht geworden, und das war überirdisch. Und Gottvater selbst sei zur Tür hereingekommen und habe zur Mutter gesagt: „Was tust du deinem Kinde? Das ist strengstens verboten, Frau Pollinger!“ Dann habe der Gottvater das Fenster aufgerissen und den Gashahn geschlossen. Und Agnes erklärte Eugen: „Solche Dummheiten träumt man oft, aber das war eine blöde Dummheit.“ Und Agnes dachte, wenn sie heut an ihre Kindheit zurückdenkt, so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draußen scheint die Sonne, aber kein Strahl fällt in das Zimmer. Sie hat das Gefühl, als schwebe der Raum ungeheuer hoch über der Erde. Und dann weiß sie, daß draußen tief unten in der Ebene ein breiter Fluß fließen würde, wenn sie größer wäre und durch das Fenster sehen könnte. Lautlos fährt ein Zug über die Brücke. Der Abend wartet am Horizont mit violetten Wolken. Aber das ist freilich alles ganz anders gewesen. Der Himmel war verbaut und durch das Fenster jenes Zimmers sah man auf einen trüben Hof mit Kehrichttonnen und verkrüppelten Fliederbüschen. Hier klopften die Hausfrauen Teppiche, und wenn ihre Hündinnen läufig waren, ließen sie sie nur hier unten spazieren, denn draußen auf der Straße wimmerten die Kavaliere. Kinder durften hier aber nicht spielen, das hat der Hausmeister untersagt, seit sie den Flieder gestohlen und ohne Rücksicht auf die sterbende böse Großmutter Biedermann im ersten Stock gejohlt und gepfiffen haben, daß irgendein Tepp die Feuerwehr alarmierte. Dies Haus steht noch heute in Regensburg, und im dritten Stock links erlag 1923 Frau Helene Pollinger der Kopfgrippe. Sie war die Witwe des auf dem Felde der Ehre gefallenen Artilleristen und Zigarettenvertreters Martin Pollinger.

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Und ungefähr fünf Jahre später, Ende August 1928, ging ihre Tochter Agnes mit einem arbeitslosen Kellner aus Österreich über das Münchener Oberwiesenfeld und erzählte: „Als sie meine Mutter begrabn habn, da war es der achtundzwanzigste Oktober und dann bin ich von Regensburg zur Tante nach München gefahrn. Ich war, glaub ich, grad vierzehn Jahr alt und hab im Zug sehr gefroren, weil die Heizung hin war und das Fenster kein Glas nicht gehabt hat, es war nämlich grad Infalation. Die Tante hat mich am Hauptbahnhof erwartet und hat geweint, nun bin ich also ein Waisenkind, ein Doppelwaisenkind, ein Niemandskind, ein ganz bedauernswertes und dann hat die Tante furchtbar geschimpft, weil sie nun gar nicht weiß, was sie mit mir anfangen soll, sie hat ja selber nichts und ob ich etwa glaub, daß sie etwas hätt und ob meine Mutter selig vielleicht geglaubt hätt, daß sie etwas hätt, und wenn ich auch die Tochter ihrer einzigen Schwester selig bin und diese einzige Schwester selig soebn in Gott verstorbn ist, so muß man halt doch schon wissn, daß ein jeder sterbn muß, keiner lebt ewig nicht, da hilft sich nichts. Und die Tante hat gesagt, auf die Verwandtn ist wirklich kein Verlaß nicht. Ich bin dann bald zu einer Näherin gekommen und hab dort nähen gelernt und hab Pakete herumtragn müssen in ganz München, aber die Näherin hat ein paar Monat drauf einen Postbeamten geheiratet, nach Ingolstadt. Da hat die Tante wieder furchtbar geschimpft und hat mich hinausschmeißen wollen, aber ich bin im letzten Moment zu einer anderen Näherin gekommen, da hab ich aber ein Kostüm verschnittn und dann hab ich wirklich Glück gehabt, daß ich gleich wieder zu einer Näherin gekommen bin, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn, ich hab schon wirklich Pech gehabt.“ Und Agnes fuhr fort, im letzten Kriegsjahr sei mal die Tante in Regensburg gewesen und habe gesagt, sie sehe zwar ihrem Vater schon gar nicht ähnlich, aber sie hätte genau sein Haar, worauf ihre Mutter gemeint habe: „Gelobt sei Jesus Christus, wenn du sonst nichts von ihm hast!“ Und dazu habe die Mutter so bissig gegrinst, daß sie sehr böse geworden ist, weil ja der Vater schon tot geschossen gewesen wäre, und sie habe die Mutter sehr geärgert gefragt, was sie denn von ihr hätte. Da sei aber die Mutter plötzlich sehr traurig geworden und habe nur gesagt: „Sei froh, wenn du nichts von mir hast!“ Sie glaube auch, daß sie schon rein gar nichts von der Mutter habe. Sie habe jedoch ein Jugendbildnis der Großmutter aus Straubing gesehen, und da sei sie direkt erschrocken, wie ähnlich sie der sehe. Sie könne ihre Tochter sein oder ihre Schwester. Oder sie selbst. Eugen meinte, daß jeder Mensch Verwandte hat, der eine mehr und der andere weniger, entweder reiche oder arme, boshafte oder liebe, und jeder Verwandte vererbt einem etwas, der eine mehr und der andere weniger, entweder Geld, ein Haus, zwei Häuser oder einen großen Dreck. Auch Eigenschaften wären erblich, so würde der eine ein Genie, der zweite Beamter, der dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloß Nummern, die sich alles gefallen ließen. Nur wenige ließen sich nicht alles gefallen, und das wäre sehr traurig. Und Eugen erzählte, er habe vor dem Weltkrieg im Bahnhofscafé in Temesvar den Bahnhofsvorstand bedient, das sei ein ungarischer Rumäne gewesen und hätte angefangen über die Vererbung nachzugrübeln, hätte sich Tabellen zusammengestellt, addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und im Lexikon studiert von A bis Z und wäre endlich dahintergekommen, daß jeder mit jedem irgendwie verwandt ist, mit jedem Räuber, Mörder, General, Minister, sogar mit jedem römisch-katholischen

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Priester und dem Wunderrabbi von Kolomea. Darüber sei er dann verrückt geworden und hätte aus der Irrenanstalt Briefe an seine Verwandten geschickt. So habe er zu Weihnachten Franz Joseph folgendermaßen gratuliert: Liebe Nichte! Ich wünsche Dir einen recht angenehmen Geburtstag. Herzliche Grüße aus dem K.K. priv. Narrenhaus! Das Wetter ist schön Auf Wiedersehn! Es küßt Dich Deine Mama. Und Eugen erklärte Agnes, obwohl jener Bedauernswerte korrekt verrückt gewesen sei, hätte jener doch recht gehabt, denn jeder Mensch sei tatsächlich mit jedem Menschen verwandt, aber es habe keinen Sinn, sich mit dieser Verwandtschaft zu beschäftigen, denn wenn man sich all das so richtig überlegen würde, müßte man wahrscheinlich auch verrückt werden. Da habe der alte Schuster Breitenberger in Preßburg schon sehr recht gehabt, wie er, bevor er gestorben ist, zu seiner versammelten Familie gesagt hat: „Leutl, wenn ihr mal recht blöd seids, so denkts an mich!“ Agnes sagte, sie denke fast nie an ihre Familienverhältnisse, und sie wundere sich schon eine ganze Weile sehr, wieso, wodurch und warum sie darauf zu sprechen gekommen sei. Eugen sagte, er denke überhaupt nie an seine Vorfahren. Er sei doch kein Aristokrat, der darüber Buch führe, damit er es sich auf den Tag ausrechnen könne, wann er verteppen würde. So endete das Gespräch über die liebe Verwandtschaft. – Der Tag gähnte, er war bereits müde geworden und zog sich schon die Stiefel aus, als Agnes fühlte, daß Eugen bald ihre Hüften berühren werde. Er tat es auch und sagte: „Pardon!“ 2.

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Zehn Minuten später saßen Agnes und Eugen unter einer Ulme. Er hatte sie nämlich gefragt, ob sie sich nicht setzen wollten, er sei zwar nicht müde, aber immerhin hätte er nichts dagegen, wenn er sich setzen könnte. Sie hatte ihn etwas mißtrauisch angeschaut, und er hatte ein ganz unschuldiges Gesicht geschnitten, aber sie hatte ihm diese Unschuld schon gar nicht geglaubt und gesagt, sie hätte nichts dagegen, daß er sich setzen wollte, er könnte sich ruhig setzen und wenn er sich setzen würde, würde sie sich auch setzen. Es war nirgends eine Bank zu sehen, und sie haben sich dann ins Gras gesetzt. Unter einer Ulme. Das war ein großer alter Baum, und die Sonne ging unter. Im Westen, natürlich. Überhaupt ging alles seine schicksalhafte Bahn, das Größte und das Kleinste, auch unter der Ulme. Man hörte es fast gehen, so still war es ringsum. Auch Agnes und Eugen saßen schweigend unter ihrer Ulme, und sie dachte: „So ein Baum ist etwas Schönes.“ Und er dachte: „So ein Baum ist etwas Schönes.“ Und da hatten sie beide recht.

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Agnes lachte. Es fiel ihr nämlich plötzlich ein, daß sie ja noch gar nicht weiß, wie der Mann da neben ihr heißt. Sie wisse ja nur, daß er den Vornamen Eugen hat, und vielleicht hat er einen sehr komischen Nachnamen, etwa Käsbohrer, Itzelplitz, Rindskopf, Kalbskopf oder die drei bayerischen Köpf: Holzkopf, Gipskopf, Saukopf oder Baron Rotz, Fürst Steiß, Graf Huber Sepp – Warum sie denn lache und worüber, erkundigte sich Eugen. Es sei ihr nur etwas eingefallen. Was? Es sei ihr eingefallen, daß sie einmal einen Menschen kannte, der Salat hieß. Er meinte, das fände er gar nicht komisch, eher tragisch. So kenne er einen tragischen Fall, einen Kollegen in Linz, der an seinem Familiennamen zugrunde gegangen ist. „Er hieß Johann Suppe und war in ganz Oberösterreich berühmt, er war nämlich der Zahlkellner im „Erzherzog Albrecht“, und alle Gäste riefen ihm nur per „Herr Rindssuppe! Herr Nudelsuppe! Herr Reissuppe! Herr Krautsuppe! Zahlen‚ Herr Brotsuppe! Sie haben sich verrechnet, Herr Erdäpfelsuppe! Wo bleibt meine Erbsensuppe, Herr Erbsensuppe?! Was macht mein Bier, Herr Biersuppe?! Schweinerei das, Herr Schweinssuppe!“ und so weiter, bis er eines Tages sagte: „Jetzt hab ich aber die Suppen satt! Meiner Seel, ich laß mich umtaufen, und wenn ich Pischeles heißen werd!“ Er ist aufs Magistrat gegangen, um die Formulare zur Namensänderung auszufüllen, aber diese Formulare hatte ein Beamter unter sich, der auch Stammgast im „Erzherzog Albrecht“ war, und der hat ihn gleich per „Herr Bohnensuppe“ apostrophiert und hat ihn gefragt: „Na, wo fehlts denn, mein lieber Bouillon mit Ei?“, und da hat sich mein unglücklicher Kollege eine Beamtenbeleidigung geleistet und hat sich dann später im Gefängnis ein Magenleiden geholt, und wie er dann herausgekommen ist, da hat ihm der Arzt gesagt: „Sie müssen strengste Diät halten, Sie dürfen nur mehr Suppe essen, sonst nichts.“ Da ist er sehr bleich geworden, und der Arzt hat ihn trösten wollen und hat gesagt: „Ja, so ist das Leben, mein lieber Herr Kraftbrühe!“, und da hat er sich an dem Arzt vergriffen und hat wegen schwerer Körperverletzung Kerker gekriegt und hat sich dann dort erhängt. Er ist an sich selbst gestorben.“ Und Eugen schloß, er sei froh, daß er nicht Johann Suppe heiße, sondern Eugen Reithofer. Und Agnes war auch froh, daß sie nicht Agnes Suppe heißt, sondern Agnes Pollinger, und er meinte, Pollinger sei kein so verbreiteter Name wie Reithofer, und er sei fest überzeugt, daß sie sehr froh sein darf, daß sie Pollinger heißt, denn ein verbreiteter Name bereite einem oft eklatante Scherereien: „So war ich mal 1913 in einem gewissen Café Mariahilf, und der Cafétier hat auch Reithofer geheißen. Kommt da an einem Montag ein eleganter alter Pensionist, hat sich einen Kapuziner bestellt und mich in einer Tour fixiert und hat dann sehr höflich gefragt: „Pardon, Sie sind doch der Herr Reithofer selbst?“ „Ja“ hab ich gesagt, und da hat er gesagt: „Also, Pardon, mein lieber Herr Reithofer, ich bin der Oberstleutnant Ferdinand Reithofer, und ich möchte Sie nur bitten, daß Sie sich nicht allen Menschen per Oberstleutnant Reithofer vorstellen, Sie ordinärer Hochstapler und Canaille!“ Da hab ich ihm natürlich zwei Watschen gegeben, und er ist davongestürzt, als hätt ich ihm auch noch zwei Fußtritt gegeben, denn ich hab mich noch nie per Oberstleutnant Reithofer vor-

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gestellt, und ich hab im Moment nicht gedacht, daß dieser Pensionist ja gar nicht mich, sondern den Cafétier gemeint hat, der ja auch Reithofer geheißen hat. Der Cafétier hat dann am Dienstag eine Vorladung auf das Kommissariat bekommen, er ist hin, und dort haben sie ihn dann verhört wegen der beiden Watschen und dem einen Fußtritt. Er hat überhaupt von nichts gewußt, er hat sich nämlich auch noch nie per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt, und das Ganze war ein Irrtum von dem Pensionisten Reithofer. Nämlich der, der sich per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt hat, das war ein gewisser Versicherungsagent Reithofer aus dem VIII. Bezirk, aber die Polizei hat gesagt, das spiele eine sekundäre Rolle, sie verhöre ihn jetzt nur wegen der beiden Watschen und dem Fußtritt, und der Cafétier Reithofer hat gemeint, daß er verrückt geworden ist oder vielleicht hypnotisiert worden ist und ist wütend ins Café zurückgekommen und hat seinen Ärger am Piccolo ausgelassen. Er hat ihm zwei Watschen gegeben. Dieser Piccolo hat auch Reithofer geheißen.“ Während Eugen sprach, kam Agnes immer mehr und mehr dahinter, daß dies eine sehr verwickelte Geschichte ist. Und sie wurde traurig, denn auf einmal schien ihr alles auf der Welt so fürchterlich verwickelt zu sein, daß jeder in alles unerbittlich hineingewickelt wird. Da könne sich keiner herauswickeln, und sie bedauerte sich selbst, als hätte sie von jenem ungerechten Cafétier Reithofer jene zwei Watschen bekommen. „Ich bin doch auch nur ein Piccolo“, dachte sie, und Eugen konstatierte: „Freilich geht das nicht immer so glücklich aus, indem irgend so ein Piccolo zwei Watschen kriegt. So hat man mich mal fast verhaften wollen, weil ein Zahlkellner, der wo auch Reithofer geheißen hat, seine Braut erschlagen, zerstückelt und im Herd verbrannt hat. Später hat es sich erst rausgestellt, daß der nicht Reithofer geheißen hat, sondern Wimpassinger.“ Agnes konstatierte, jeder Lustmord sei ein scheußliches Verbrechen, und Eugen erwiderte, heute hätten es sich die Kapazitäten ausgerechnet, daß jeder Lustmord eine Krankheit wäre, ein ganz gewöhnliches Gebrechen wie etwa ein Buckel oder ein Schnupfen. Die Lustmörder seien nämlich alle wahnsinnig, aber die Kapazitäten hätten es sich ausgerechnet, daß fast jeder Mensch ein bisserl wahnsinnig wäre. Agnes meinte, sie sei ganz normal. Eugen meinte, auch er sei ganz normal. So endete das Gespräch über die komischen Familiennamen und deren tragische Folgen, über die beiden Watschen und den armen Kellner Johann Suppe, über Lustmörder und Kapazitäten mit besonderer Berücksichtigung des normalen Geschlechtsverkehrs. 4.

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Es wurde immer dunkler unter der Ulme, und Eugen dachte: „Also einen Lustmord könnt ich nie machen.“ Und Agnes dachte: „Also wie ein Lustmörder sieht der nicht aus“, worauf sie ihn fragte, ob er Berlin kenne? Sie möchte mal gerne nach Berlin. Oder gar nach Amerika. Auch in Garmisch-Partenkirchen sei sie noch nie gewesen, sie habe überhaupt noch nie einen richtigen Berg gesehen, und sie habe gehört, daß die Zugspitze ein sehr hoher Berg sei mit eisernen Nägeln in der Wand, an denen die Touristen hinaufkletterten und viele Sachsen abstürzten. Sie wartete aber seine Antwort auf ihre Frage, ob er Berlin kenne, gar nicht ab, sondern erklärte ihm, daß nach ihrer innersten Überzeugung jene Touristen, die über

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jene eisernen Nägel hinaufkletterten, durchaus schwindelfrei sein müßten und, daß jene Sachsen, die herunterfielen, sicherlich nicht schwindelfrei wären. Und sie teilte ihm mit, daß sie nur zwei Städte auf der ganzen Erde kennt, nämlich München und Regensburg, wo sie geboren sei. Regensburg liege an der Donau, und in der Nähe sei die Walhalla, wo die berühmten Männer als Marmorbüsten herumständen, während München an der Isar liege. Die Donau sei zwar größer als die Isar, aber dafür könne die Isar nichts. Hinwiederum sei die Isar zwar grüner als die Donau, dafür sei aber wieder München die Hauptstadt Bayerns. So sprach sie, ohne zu wissen, was sie sprach, denn sie dachte nur daran, daß etwas vor sich gehen werde, sobald sie aufhören würde zu sprechen, nämlich er hat ja schon mal ihre Hüfte berührt. Er hat zwar „Pardon!“ gesagt, aber unter der Ulme wurde es, wie gesagt, immer dunkler, und auf so ein „Pardon!“ ist kein Verlaß. Sie hatte Angst vor dem Ende ihrer Erzählungen, wie Scheherazade in Tausend und einer Nacht. Sie erzählte zwar keine Märchen, sondern Blech und Mist, und Eugen wurde ganz melancholisch und dachte sich: „Sind denn alle Mädel blöd? Oder ist das nur so eine weibliche Nervosität, nämlich so Frauen sind sehr sensibel, die spürens gleich im vornhinein.“ Und er erinnerte sich an eine zarte Blondine, das war die Frau des Restaurateurs Klein in Preßburg, eine ungarische Jüdin, die hat mal zu ihm gesagt: „Spüren Sie denn gar nichts, Herr Jenö?“ Er hat gesagt, nein, er spürte gar nichts, und er könnte es sich überhaupt nicht vorstellen, was er spüren sollte, worauf sie gesagt hat: „Freitag nacht verreist mein Herr Gemahl, und heut ist Freitag. Spüren Sie denn noch immer nichts, lieber Jenö?“ Da hat er schon etwas gespürt, und Freitag nacht im Bett hat sie ihm dann zugehaucht, sie hätte es schon am Montag vor vierzehn Tagen gespürt, daß er Freitag nacht so süß sein werde. So sensibel war jene blonde Frau Klein. „Aber nicht nur die Blondinen, auch die Schwarzen sind sensibel“, überlegte Eugen. „Auch die Brünetten, die Strohgelben und Tizianroten – und auch diese Agnes da ist genau so sensibel, sonst tät sie eben keine solchen Blödheiten daherreden.“ Sie fing ihm an leid zu tun wegen ihrer Sensibilität. Sie mußte sich ja furchtbar anstrengen mit dem vielen Reden, weil sie es auch im vornhinein spürt. Und er dachte, das wäre jetzt sehr edel, wenn er ihr nur väterlich über das Haar streichen, ihr Zuckerln schenken und sagen würde: „Geh ruhig nach Haus, mein liebes Kind.“ Er tat es natürlich nicht, sondern lächelte sanft und verlegen, als würden die Kindlein zu ihm kommen. Und Agnes redete, redete, redete, ohne Komma, ohne Punkt – nur ab und zu flatterte aus all dem wirren Geschwätz ein ängstliches Fragezeichen über das stille Oberwiesenfeld.

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Sie wollte ihn gerade fragen, ob auch er es nicht glaube, daß an all dem Elend die Juden schuld sind, wie es der Hitler überall herumplakatiert, da legte er seine Hand auf ihr Knie, und sie verstummte. Mittendrin. Sie fühlte seine linke Hand auf ihrem linken Knie. Seine Hand war stark und warm.

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Und wurde immer stärker, und sie fühlte ihre Wärme durch den Strumpf dringen bis unter ihre Haut und, sie selbst wurde immer unentschlossener, was sie nun mit seiner linken Hand und ihrem linken Knie anfangen soll. Soll sie sagen: „Was machens denn da mit Ihrer linken Hand? Glaubens nur ja nicht, daß mein linkes Knie Ihrer linken Hand gehört! Mein Knie ist kein solches Knie! Mein Knie ist zum Knien da, aber nicht dazu, daß Sie mich am End noch aufregen!“ Oder soll sie gar nichts sagen, sondern nur sanft seine linke Hand von ihrem linken Knie langsam wegheben oder spaßig über seine linke Hand schlagen und dazu lächeln, aber dann würde sie ihn vielleicht erst auf irgendwelche Kniegedanken bringen, denn vielleicht weiß er es ja noch gar nicht, daß er seine linke Hand auf ihrem linken Knie hat, er hat sie vielleicht nur zufällig da, und dann wäre ihr das sehr peinlich, denn dann würde er denken, daß sie denkt, daß er seine linke Hand nicht zufällig auf ihrem linken Knie hat. Oder soll sie überhaupt nichts sagen und nichts tun, sondern nur warten, bis er seine linke Hand von ihrem linken Knie nimmt, denn er weiß sicher nichts von seiner linken Hand, er sitzt ja ganz weltverloren neben ihr und scheint an etwas Ernstes zu denken und nicht an ein linkes Knie – da fühlte sie seine Hand auf ihrem rechten Knie. Sie preßte sich erschrocken zusammen, und da lag nun seine linke Hand auf ihren beiden Knien. So groß war er. Und Agnes dachte: Also ist der da neben mir doch nicht so weltverloren, aber er scheint noch immer an etwas sehr Ernstes zu denken, und vielleicht weiß ers noch immer nicht, was seine linke Hand tut – da fühlte sie, wie seine rechte Hand hinter ihrem Rücken ihren rechten Oberarm erfaßte. Auch seine rechte Hand war stark und warm. Und Agnes dachte, er sei nicht nur stark und groß, sondern vielleicht auch grob, und es sei nun erwiesen, daß er an nichts Ernstes denkt, sondern an sie. Und es wäre halt doch das Beste, wenn sie ihm sehr bald folgendes sagen würde: „Was machens denn da mit Ihrer linken Hand und Ihrer rechten Hand? Glaubens nur ja nicht, daß mein rechtes Knie Ihrer linken Hand gehört! Mein linkes Knie ist kein solches Knie und mein rechtes Knie ist nur zum Knien da, aber nicht dazu da, daß Sie mit Ihrer rechten Hand meinen rechten Arm so narrisch zamdrucken, au! Gehns weg mir Ihrer linken Hand! Was machens denn da mit Ihrer rechten Hand, au! Werdens gleich Ihre linke Hand von meiner rechten Schulter runter? Himmel, mein Haar! Mein linker Daumen, au! Mein rechter kleiner Finger, au! Gehns weg mit Ihrer Nasen, ich beiß! Jessus Maria, mein Mund! Au, Sie ganz Rabiater! Sie mit Ihrer linken Hand –“ Aber von all dem hat der mit seiner linken Hand nichts gehört, denn sie hat ihm ja kein Wort gesagt, sondern all dies sich nur gedacht. Sie wußte nämlich, daß sich solch eine linke Hand durch Worte nicht hindern läßt – und Agnes überlegte, sie habe sich zwar gewehrt, aber sie hätte sich dreimal so wehren können, er hätte sie genau so abgeküßt, denn er sei noch stärker und überhaupt gut gebaut, jedoch wäre es ungerecht, wenn man sagen würde, daß er grob ist. Nein, grob sei er gar nicht gewesen, aber es sei schon sehr ungerecht eingerichtet, daß die Herren stärker sind als die Damen. So hätten es die Mannsbilder immer besser und seien doch oft nur Schufte, die sofort hernach verschwänden, obwohl sie oft angenehme Menschen seien, wie dieser da mit seiner linken Hand, der sie ja auch erst nur dreimal geküßt hatte, und das dritte Mal sei es am schönsten gewesen. Die Sonne war untergegangen, und nun kam die Nacht. So ging alles, wie es kommen mußte.

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Erstaunt stellte Agnes fest, daß Eugen sie noch immer umarmt hält und sie ihn. Sie war sprachlos, und die ganze Welt schien sprachlos zu sein, so still war es unter der Ulme. So kam alles, wie es kommen sollte. Man hörte es fast kommen, und Eugen sah sich plötzlich um. Auch Agnes erschrak und fragte ihn schüchtern, ob er etwas gehört hätte. „Ja“, sagte er, „es war nichts.“ Und sie meinte, ob sie jetzt nicht gehen wollten, und er meinte, nein. So blieben sie sitzen.

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Eugen sprach sehr leise. Wenn das Oberwiesenfeld noch Exerzierplatz wäre, sagte er, dann wäre es hier heute nicht so still, und er hasse das Militärische, und sie könnte fast seine Tochter sein, obzwar er nur zwölf Jahre älter sei, aber die Kriegsjahre würden ja doppelt gezählt werden, wenn man etwa Generalspensionsberechtigung haben würde – aber nun wolle er wirklich nicht mehr so traurig daherreden. Er lächelte dabei und wartete, bis sie ihn ansah. Und als sie ihn ansah, da sah er sie an und sagte, der Abend, respektive die Nacht, sei wirklich warm. Sie sagte, sie liebe den Sommer, und er sagte, nun flöge auch kein Flugapparat mehr herum, sie seien alle daheim. Er möchte so ein Flugapparat sein und auch mal daheim sein können. Und jetzt sei überhaupt wieder ein Tag zu End und morgen begönne ein neuer Tag. Heute sei Dienstag und morgen sei Mittwoch und sie solle doch nicht so sein, sie sei ja gar nicht so, sie sei ganz anders, er wisse schon, wie sie sei. Es sei überhaupt schon stockfinster, wer sollte denn noch kommen? Es sei niemand da, nur sie zwei. Sie seien wirklich allein. Mehr allein könne man gar nicht sein. Er preßte sie an sich, und Agnes sagte, das sehe sie schon ein, daß sie ganz allein sind, aber sie fürchte sich immer so, es könne was daraus werden aus dem Alleinsein, nämlich das ginge ihr gerade noch ab. Und sie preßte sich an ihn und meinte resigniert, vielleicht sei sie dumm, weil sie sich so sehr fürchte. Gerührt erwiderte er, freilich sei das dumm, jedoch begreiflich, aber ihm könnte sie sich ganz anvertrauen, er sei nämlich ein durchaus anständiger und vorsichtiger Mann.

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Es war nach der Polizeistunde, als sich Eugen von Agnes verabschiedete. Er hatte sie bis nach Hause gebracht und sah ihr nun zu, wie sie sich anstrengte, die Haustüre mit einem falschen Hausschlüssel zu öffnen. Nämlich sie hatte ihren richtigen Hausschlüssel verloren, als sie vor drei Wochen mit dem Zimmerherren ihrer Tante, einem gewissen Herrn Kastner, im Kino gewesen ist. Man hat den Film „Madame wünscht keine Kinder“ gegeben, und der Kastner hat sie immer abgreifen wollen, sie hat sich gewehrt und dabei den Hausschlüssel verloren. Das durfte aber die Tante nie erfahren, sonst würde sie schauerlich keppeln, nicht wegen der Greiferei, sondern wegen des Schlüssels. Der Kastner ist damals sehr verärgert gewesen und hat sie gefragt, wie sie wohl darüber denke, daß man jemand zu einem Großfilm einladet und dann „nicht mal

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das?!“ Er ist sehr empört gewesen, aber trotzdem hat er sie zehn Tage später zu einem Ausflug nach dem Ammersee mitgenommen, doch dieser Sonntagnachmittag hat auch damit geendet, daß er gesagt hat, nun sei das Maß voll. Der Kastner hat ihr noch nie gefallen, denn er hat vorn lauter Stiftzähne. Nur ein Zahn ist echt, der ist schwarz, das Zahnfleisch ist gelb und blutet braun. Die Tante wohnte in der Schellingstraße, nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete sie im vierten Stock Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres verstorbenen Mannes, kaum größer als eine Kammer. Darüber stand „Antiquariat“, und im Fenster gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten. Als Eugen so vor der Haustüre stand, fiel es ihm plötzlich auf, daß er eigentlich schon unglaublich oft so vor einer Haustüre gestanden ist und zugeschaut hat, wie irgendeine sie öffnete, und er fand es eigenartig, daß er es gar nicht zusammenzählen kann, wie oft er schon so dagestanden ist. Doch bald dünkte ihm das eigentlich gar nicht eigenartig, sondern selbstverständlich, und er wurde stolz. In wie vielen Straßen und Ländern ist er schon so dagestanden! Mit Österreicherinnen, Böhminnen, Ungarinnen, Rumäninnen, Serbinnen, Italienerinnen und jetzt mit einer Oberpfälzerin! Um ein Haar wäre er auch mit Negerinnen, Türkinnen, Araberinnen, Beduininnen so dagestanden, nämlich in der Oase Biskra, hätte es keinen Weltkrieg gegeben. Und wer weiß, mit wem allen er noch so dastehen wird, wo und wie oft, warum und darum, denn er hat ja eigentlich keine Heimat, und auch er weiß es nicht, was ihm bevorsteht. Und Eugen wurde sentimental und dachte, man sollte an vieles nicht denken können, aber er dürfe es nicht vergessen, daß er nun schon zwei Monate so herumlungert und keine Aussicht auf Arbeit hat, man werde ja immer älter, und er denke schon lange an keine Oase Biskra mehr, er würde auch in jedem Bauernwirtshaus servieren. Afrika verschwand und da er nun schon mal sentimental geworden ist, dachte er auch gleich an seine erste Liebe, weil das damals eine große Enttäuschung gewesen war, da sie ihm nur ein einziges Mal eine Postkarte geschrieben hatte: „Beste Grüße Ihre Anna Sauter.“ Und darunter: „Gestern habe ich drei Portionen Gefrorenes gegessen.“ Das war seine erste Liebe. Seine zweite Liebe war das Wirtshausmensch in seinem Heimatdorfe, fern in Niederösterreich, nahe der ungarischen Grenze. Sein Vater war Lehrer, er war das neunte Kind und damals fünfzehn Jahr alt, und das Wirtshausmensch gab ihm das Ehrenwort, daß er es um acht Uhr abend in den Maisfeldern treffen wird und, daß es nur zwei Kronen kostet. Aber als er hinkam, stand ein Husar bei ihr und wollte ihn ohrfeigen. Vieles ist damals in seiner Seele zusammengebrochen, und erst später hat er erfahren, daß das seiner Seele nichts geschadet hat, denn das Wirtshausmensch war krank und trieb sich voll Geschwüren und zerfressen im Land herum und bettelte. Bis nach Kroatien kam sie, und in Slavonien riet ihr eine alte Hexe, sie solle sich in den Düngerhaufen legen, das heilt. Sie ist aber in die Grube gefallen, weil sie schon fast blind war, und ersoffen. Endlich konnte Agnes die Haustüre öffnen, und Eugen dachte, wie dürfe man nur denken, daß diese Agnes da nicht hübsch ist! Er gab ihr einen Kuß, und sie sagte, heute sei Dienstag und morgen sei Mittwoch. Sie schwieg und sah die Schellingstraße entlang, hinab bis zur Ludwigskirche. Dann gab sie ihm ihr Ehrenwort, um Mittwoch um sechs Uhr abend an der Ecke der Schleißheimer Straße zu sein, und er sagte, er wolle es ihr glauben, und sie meinte noch, sie freue sich schon auf den Spaziergang über das Oberwiesenfeld.

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„Also morgen“, lächelte Agnes und überlegte sich: Er hat wirklich breite Schultern, und der Frack steht ihm sicher gut, und sie liebt die weißen Hemden. Sie sah ein großes Hotel in Afrika. „Also morgen“, wiederholte sie. 5

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Agnes stand im Treppenhaus und ihre Seele verließ die afrikanische Küste. Sie schwebte über den finsteren Tannenwäldern, lieblichen Seen und unheimlichen Eisriesen des Salzkammerguts und erblickte endlich das kleine Hotel, das sich Eugen kaufen wollte, hätte es eben nur jenen Weltkrieg nicht gegeben und hätte er in jenem großen afrikanischen Hotel dem Vanderbilt seinem Neffen serviert. Und während sie die Stufen hinaufstieg, wurde auch jenes kleine Hotel immer größer und da sie den vierten Stock betrat, war das Hotel auch vier Stock hoch gewachsen. Es hatte sogar einen Turm, und aus jedem Fenster hing eine Fahne und vor dem Eingang stand ein prächtiger Portier in Gold und Rot und ein Unterportier in Rot und Gold. Auch ein großer Garten war da, eine Terrasse am See, ein Autobus und das Alpenglühen. Das Publikum war elegant und plauderte. Man sah viele Pyjamas und auch die herrlichen hellbraunen Schuhe, die es beim Schlesinger in der Kaufingerstraße zu kaufen gibt. Überhaupt diese Schuhe! Sie ist mal zum Schlesinger hinein und hat bloß gefragt: „Bittschön, was kostn die hellbraunen Schuh in der Auslag?“, aber die Verkäuferin hat sie nur spöttisch angeschaut, und eine zweite Verkäuferin hat gesagt: „Nur sechsundvierzig Mark“ und hat dazu so grausam gelächelt, daß sie direkt verwirrt geworden ist und niesen hat müssen. „Nur sechsundvierzig Mark!“ hörte sie jetzt im Treppenhaus wieder die Stimme der Verkäuferin, während sie sich die Schuhe auszog, denn sonst würde die Tante aufwachen und fragen: „Was glaubst du, wo du schon enden wirst, Schlampn läufiger?“ Sie könnte nicht antworten. Sie wollte nichts glauben. Sie wußte ja nicht, wo sie enden wird. 9.

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Die Wohnung der Tante bestand aus zwei Zimmern, Küche, kleinem Vorraum und stockfinsterem Klosett. Das eine Zimmer hatte die Tante an den Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich leer, denn es war schon seit einem halben Jahre verwanzt. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht und hatte sich dann bei der Tante beschwert und hatte ihr mitgeteilt, daß er ihr die Miete schuldig bleibt, bis nicht die letzte Wanze vertilgt wäre. Das leere Zimmer bewohnte Agnes. Die Tante schlief in der Küche, weil sie mit der Heizung sparen wollte. Der Sommer 1928 war zwar ungewöhnlich heiß, aber die Tante war das nun mal seit 1897 so gewöhnt, und so schnarchte sie nun in der Küche neben ihrem Kanari. Als Agnes die Wohnung betrat, erwachte der Kanari und sagte: „Piep.“ „Piep nur“, ärgerte sich Agnes, „wenn du die Tante aufpiepst, dann laß ich dich aber fliegn, ich weiß, du kannst nicht fliegn, so kriegt dich die Katz.“

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Erschrocken verstummte der Kanari und horchte: Droben auf dem Dache saß die Katz und unterhielt sich mit dem Kater vom ersten Stock über den Kanari, während sich Agnes in ihr Zimmer schlich. „Man sollte alles der Tante erzählen“, dachte der Kanari. „Es tut mir tatsächlich leid, daß ich nur singen kann. Ich wollt, ich könnt sprechen!“ 10.

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„So ein Kanari hats gut“, dachte Agnes. „Ich wollt, ich könnt singen!“ fuhr sie fort und setzte sich apathisch auf den einzigen Stuhl, der krächzte, aber sie meinte nur: „Zerbrich!“, so müde war sie. Der Stuhl ächzte jämmerlich, er war nämlich sehr zerbrechlich, denn der Kastner hatte ihn mal aus Wut über die Tante zerbrochen, und die Tante hatte ihn vor vier Wochen bloß provisorisch zusammengeleimt. Agnes zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund. Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: Ein großer weißer Engel schwebte in einem Zimmer, das auch verwanzt sein konnte, und verkündete der knienden Madonna: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ Und Agnes dachte, Eugen habe wirklich schön achtgegeben und sei überhaupt ein lieber Mensch, aber leider kein solch weißer Engel, daß man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonders geleistet, daß sie so fürstlich belohnt worden ist? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen, und das hätten ja alle mal gehabt. Auch sie selbst hätte das mal gehabt. Noch vor drei Jahren. Sie hatte sich damals viel darüber geärgert und gekränkt, denn die Theres und überhaupt all ihre Altersgenossinnen, die mit ihr bei den verschiedenen Schneiderinnen nähen gelernt hatten, waren schon diese lästige Übergangsform los und zu richtiggehenden Menschen geworden. Nur sie hatte sich sehr geschämt und ihre Kolleginnen angelogen, daß sie bereits entjungfert worden ist. Die Theres hatte es ihr geglaubt, denn sie hatte sie einmal mit einem Konditorlehrling aus der Schellingstraße im Englischen Garten spazieren sehen, und sie konnte es ja nicht gewußt haben, daß dieser junge Mann auf folgender Plattform gestanden ist: Je größer die himmlische, um so kleiner die irdische Liebe. Er ist ein großer himmlischer Lügner und irdischer Feigling gewesen, nämlich er hatte sich selbst befriedigt. Als Agnes einsah, daß diese bequeme Seele sie pflichtbewußt verkümmern ließ, hing sie sich an einen anderen Konditorlehrling aus der Schellingstraße. Der hätte Friseur sein können, so genau kannte er jedes Rennpferd und die Damenmode. Er schwärmte für Fußball, war sehr belesen und überaus sinnlich. Als er aber erfuhr, daß sie noch Jungfrau ist, da lief er davon. Er sagte, das hätten sich die Südseeinsulaner schon sehr nachahmenswert eingerichtet, daß sie ihre Bräute durch Sklaven entjungfern lassen. Er sei weder ein dummer Junge noch ein Lebegreis, er sei ein Mann und wolle ein Weib, aber keine Kaulquappe, und übrigens sei er kein Sklave, sondern ein Südseeinsulaner. Sie wurde dann endlich, nachdem sie schon ganz verzweifelt war, von einem Rechtsanwalt entjungfert. Das begann auf dem Oktoberfest vor der Bude der Lionella. Diese Lionella war ein Löwenmädchen mit vier Löwenbeinen, Löwenfell, Löwenmähne und Löwenbart, und Agnes überlegte gerade, ob wohl diese Lionella auch

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noch Jungfrau sei, da lernte sie ihren Rechtsanwalt kennen. Der hatte bereits vier Maß getrunken, rülpste infolgedessen und tat sehr lebenslustig. Sie wollte zuerst noch einige andere Mißgeburten sehen, und er kaufte die Eintrittskarten, denn er hatte eine gute Kinderstube. Dann fuhren sie zweimal mit der Achterbahn und zweimal auf der Stufenbahn. Sie aßen zu zweit ein knuspriges Huhn, er trank noch vier Maß und sie drei. So hatten beide ihren Bierrausch, er verehrte ihr sein Lebkuchenherz, ließ sie noch im Hippodrom reiten und fuhr sie dann mit einem Kleinauto in seine Kanzlei. Dort warf er die Akten eines Abtreibungsprozesses vom Sofa, und endlich wurde Agnes entjungfert. Das Sofa roch nach Zigaretten, Staub, Kummer und Betrug, und Agnes zitterte, trotz ihrer wilden Entschlossenheit ein Mensch zu werden, vor dem unbekannten Gefühl. Sie spürte aber nicht viel davon, so neugierig war sie, und der Rechtsanwalt merkte es gar nicht, daß sie noch Jungfrau war, so besoffen war er. Als sie ihm aber hernach gestand, daß er ihr nun ihre Unschuld genommen hat, da wurde er plötzlich nüchtern, knöpfte sich überstürzt die Hosen zu und schmiß sie hinaus. „Also erpressen laß ich mich nicht!“ sagte er höflich. „Ich bin Rechtsanwalt! Ich kenn das! Ich hab schon mal so eine wie dich verteidigt!“ Das geschah 1925. Im Winter verliebte sich dann einer in sie, und der hatte ein angenehmes Organ. Das war ein melancholischer Caféhausmusiker, ein schwermütiger Violinvirtuose mit häuslichen Sorgen. Er erzählte ihr, sein Vater wäre gar nicht sein Vater, seine Stiefmutter sei eine sadistische Säuferin, während seine ehemalige Braut eine bittere Enttäuschung gewesen wäre, denn sie sei eine unheilbare Lesbierin. Sein geliebtes einziges Schwesterlein sei schon vor seiner Geburt gestorben, und er selbst sei ein großer Einsamer, ein verpatztes Genie, ein Kind der ewigen Nacht. Der Dezembertag war trüb und lau, und Agnes gab sich ihm aus lauter Mitleid auf einer Bank, denn sonst hätte er sie noch vergewaltigt. Als sie aber erfuhr, daß sein Vater in russischer Kriegsgefangenschaft dem Typhus erlag, daß seine Stiefmutter seine echte Mutter ist, eine arme abgearbeitete Kaminkehrerswitwe, die von seinem einzigen Schwesterlein, der Stenotypistin Frieda, ernährt wird, während er selbst ein Säufer, Kartenspieler und Ehemann ist, da wollte sie ihn nicht wiedersehen und versetzte ihn am nächsten Montag. Er schrieb ihr dann einen Brief, nun werde er sich vergiften, denn ohne ihr Mitleid könne er nicht leben, da sie so angenehm gebaut wäre. Aber er vergiftete sich nicht, sondern lauerte ihr auf der Straße auf und hätte sie geohrfeigt, hätte sie nicht der Brunner Karl aus der Schellingstraße beschützt, indem, daß er dem Virtuosen das Cello in den Bauch rannte. Da begann ihre Liebe zu Brunner Karl, eine richtige Liebe mit fürchterlicher Angst vor einem etwaigen Kinde. Aber der Brunner sagte, das sei ganz unmöglich, denn das sei ihm noch nie passiert, und er bezweifle es mächtig, ob er der einzige gewesen sei, und überhaupt hätte er sie nur aus Mitleid genommen, denn sie sei ja gar nicht sein Typ. Der Brunner hatte recht, es kam kein Kind, aber Agnes kniete auf dem Ölberg. Sie kannte in der Schellingstraße ein Dienstmädchen, das brach plötzlich im Korridor zusammen und gebar ein Kind. Es dämmerte bereits, als man sie in irgendein Mutterheim einlieferte. Dort mußte sie für ihre unentgeltliche Unterkunft, Verpflegung und Behandlung die Fenster putzen, den Boden scheuern und Taschentücher waschen und sich alle paar Stunden auf ein paar Stunden in ein verdunkeltes Zimmer legen, um möglichst rasch einschlafen zu können, um wieder kräftige Milch zu produzieren, denn sie mußte neben ihrem eigenen Sohn noch zwei fremde Findelssäuglinge stillen.

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Aber ein anderes Dienstmädchen ließ sich von einem Elektrotechniker einen strafbaren Eingriff machen und starb an Blutvergiftung. Der Elektrotechniker wurde verhaftet, und nach drei Monaten bekam er im Untersuchungsgefängnis einen Tobsuchtsanfall und brüllte: „Ich bin Elektrotechniker! Meine liebe Familie hungert! Liebe Leutl, ich bin Elektrotechniker!“ Aber man schien es ihm nicht zu glauben, denn die lieben Detektive prügelten ihn bloß, und die lieben Richter verurteilten ihn ohne einen lieben Verteidiger. Einmal flüchtete sich Agnes in die Frauenkirche, weil es schauerlich regnete. Dort predigte ein päpstlicher Hausprälat, daß eine jede werdende Mutter denken muß, sie werde einen Welterlöser gebären. Und Agnes überlegte nun in ihrem verwanzten Zimmer, diese Geschichte mit dem großen weißen Engel dort drüben auf jenem heiligen Bilde sei eine große Ungerechtigkeit. Überhaupt sei alles ungerecht, jeder Mensch, jedes Ding. Sicher sei auch der Stuhl ungerecht, der Schrank, der Tisch, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe. Auch die Maria Muttergottes hätte eben Protektion gehabt, genau wie die Henny Porten, Lya de Putti, Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. „Wenn man keine Protektion nicht hat, indem, daß man keinen Regisseur nicht kennt, da wirst halt nicht auserwählt“, konstatierte Agnes. „Auserwählt“, wiederholte sie langsam und sah auf ihrem Hemde noch die Spuren von Eugens linker und rechter Hand. Sie schloß die Augen und glaubte, das Bett wäre Gras. Unter der Ulme. Seine Hand war nicht so eklig knochig wie jene des Herrn stud. jur. Wolf Beckmann, der die ihre bei jeder Begrüßung fast zerdrückte. Nur wenn er in Couleur war, dann grüßte er sie nicht. Sie war auch nicht so schwammig talgig wie jene des greisen Meier Goldstein, der ihrer Tante ab und zu uralte Nummern des „La Vie Parisienne“ zum Verkauf in Kommission übergab, und der zu ihr jedesmal sagte: „Was ich für Pech hab, daß sie kein Junge sind, gnädiges Fräulein!“ Auch war seine Hand nicht so klebrig und kalt wie jene ihres Nachbarn Kastner, der mal zu ihrer Tante sagte: „Ich höre, daß Ihre liebe Nichte arbeitslos ist. Ich habe beste Beziehungen zum Film, und es hängt also lediglich von Ihrer lieben arbeitslosen Nichte ab.“ Und Agnes hörte, wie der Kastner im Zimmer nebenan auf und ab ging. Er sprach leise mit sich selbst, als würde er etwas auswendig lernen. Plötzlich ging er aufs Klosett. „Piep“, sagte der Kanari in der Küche, und der Kastner verließ das Klosett. Er hielt vor ihrer Türe. Agnes und der Kanari lauschten. Droben auf dem Dache hatte der Kater die Katz verlassen, und die Katz schnurrte nun befriedigt vor sich hin: „Jetzt wird bald wieder geworfen werden!“ Sie träumte von dem Katzenwelterlöser, während der Kastner zu Agnes kam, ohne anzuklopfen. Der Kastner stellte sich vor Agnes hin wie vor eine Auslage. Er hatte seine moderne Hose an, war in Hemdärmeln und roch nach süßlicher Rasierseife. Sie hatte sich im Bette emporgesetzt, bestürzt über diesen Besuch, denn sie hörte, wie der boshafte Kanari sich anstrengte, die Tante zu wecken, und wenn die Tante den Kastner hier finden würde, und wenn sich der Kastner vielleicht auf den geleimten Stuhl setzen würde und dieser Stuhl dann gar zusammenbricht und –

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„Gnädiges Fräulein, zürne mir nicht!“ entschuldigte sich der Besuch, ihre Zwangsvorstellungen unterbrechend, und verbeugte sich ironisch. „Honny soit qui mal y penne.“ Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigentlich wollte er Journalist werden, jedoch damals war seine Mutter anderer Meinung. Sie hatte nämlich viel mit den Zähnen zu tun und konstatierte: „Die Zahntechniker sind die Wohltäter der Menschheit. Ich will, daß mein Sohn ein Wohltäter wird!“ Er hing sehr an seiner Mutter und wurde also Zahntechniker, aber leider kein Wohltäter, denn er hatte bloß Phantasie statt Präzision. Seine Gebisse waren lauter gute Witze. Es war sein Glück, daß kurz nach seiner Praxiseröffnung der Krieg ausbrach. Er stellte sich freiwillig und wurde Militärzahntechniker. Nach dem Waffenstillstand fragte er sich: „Bin ich ein Wohltäter? Nein, ich bin kein Wohltäter. Ich bin eine typische Bohemenatur, und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und nicht in die Morgue.“ Er wollte wieder Journalist werden, aber er landete beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen homosexuellen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: „Der bethlehemitische Kindermord oder Ehre sei Gott in der Höhe“. Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein bethlehemitisches Kind verkörperte, nackt photographierte. Dies Kind war nämlich die Mätresse eines Aufsichtsrates. Der Kastner ließ die Photographien durch einen pornographischen Klub vertreiben, und dort erkannte eben dieser Aufsichtsrat, durch einen Rittmeister eingeführt, auf einer Serie „pikante Akte“ seine minderjährige Mätresse und meinte entrüstet: „Also das ist ärger als Zuhälterei! Das ist photographische Zuhälterei!“ Und nun schritt dieser photographische Zuhälter vor Agnes’ Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik. 11.

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„Agnes“, deklamierte der Kastner, „du wirst dich wundern, daß ich noch mit dir rede, du darfst dich aber nicht wundern, daß ich mich auch wundere. Ich wollte ja eigentlich seit dem Ammersee kein Sterbenswörtchen mehr an deine Adresse verschwenden und dich einfach übersehen, du undankbares Luder.“ „Hörst du den Kanari?“ fragte das undankbare Luder. „Ich höre das Tier. Es zwitschert. Deine liebe Tante hat einen außerordentlich gesunden Schlaf. Ein Kanari zwitschert keine Rolle. Und wenn schon!“ „Wenn sie dich hört, flieg ich raus!“ „Schreckloch, lächerloch!“ verwunderte sich gereizt der sonderbare Photograph. „Deine liebe Tante wird sich hüten, solange ich dich beschirme! Deine liebe Tante halt ich hier auf meiner flachen Hand, ich muß nur zudrücken. Deine liebe Tante verkauft nämlich die unretuschierten künstlerischen Akte, die ich photographiere. Verstanden?“ Agnes schwieg, und der Kastner lächelte zufrieden, denn es fiel ihm plötzlich auf, daß er auch Talent zum Tierbändiger hat. Und er fixierte sie, als wäre sie eine Löwin, eine Tigerin oder zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich entsetzt dabei, wie er sich verbeugen wollte. „Was war denn das!“ fuhr er sich an, floh aus dem Zirkus, der plötzlich brannte, und knarrte los:

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„Zur Sache! Es geht um dich! Es geht einfach nicht, was du in erotischer Hinsicht treibst! Ich verfolge mit zunehmender Besorgnis deinen diesbezüglichen Lebenswandel. Ich habe den positiven Beweis, daß du dich, seit du arbeitslos bist, vier Männern hingegeben hast. Und was für Männern! Ich weiß alles! Zwei waren verheiratet, der dritte ledig, der vierte geschieden. Und soeben verließ dich der fünfte. Leugne nicht! Ich habe es ja gesehen, wie er dich nach Hause gebracht hat!“ „Was geht das dich an?“ fragte ihn Agnes ruhig und sachlich, denn es freute sie, daß er sich wieder mal über ihr Triebleben zu ärgern schien. Sie gähnte scheinbar gelangweilt, und ihre Sachlichkeit erregte sie, ähnlich wie Eugens linke Hand, und es tat ihr himmlisch wohl, seine Stiftzähne wieder mal als abscheulich, ekelhaft, widerlich, unverschämt, überheblich und dumm bewerten zu können. „Mich persönlich geht das gar nichts an“, antwortete er traurig wie ein verprügelter Apostel. „Ich habe nur an deine Zukunft gedacht, Agnes!“ Zukunft! Da stand nun wieder dies Wort vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Es war ein altes verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur, daß es noch älter war, noch schmutziger, noch zahnloser, noch vergrämter, noch verschlagener –. „Ich stricke, ich stricke“, nickte die Zukunft, „ich stricke Strümpfe für Agnes.“ Und Agnes schrie: „So laß mich doch! Was willst du denn von mir?!“ „Ich persönlich will nichts von dir“, antwortete der Kastner feierlich, und die Zukunft sah sie lauernd an. 12.

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„Du bist natürlich in einer sogenannten Sackgasse, wenn du dir etwa einbildest, daß mein Besuch zu dieser allerdings ungewöhnlichen Stunde eine Wiederannäherung bedeutet“, fuhr er nach einer Kunstpause fort und setzte ihr auseinander, daß, als er sie kennenlernte, er sofort erkannt hat, daß sie keine kalte Frau, sondern vielmehr feurig ist, ein tiefes stilles Wasser, eine Messalina, eine Lulu, eine Büchse der Pandora, eine Ausgeburt. Es gäbe überhaupt keine kalten Frauen, er habe sich nämlich mit diesen Fragen beschäftigt, er „spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung“. Man solle sich doch nur die Damenmode ansehen! Was zöge sich solch eine „kalte Frau“ an! Stöckelschuhe, damit Busen und Hintern mehr herausträten und sich erotisizierender präsentieren können, ein Dekolleté in Dreiecksform, deren Linien das Auge des männlichen Betrachters unfehlbar zum Nabel und darunter hinaus auf den Venusberg führen, sollte er auch gerade an der Lösung noch so vergeistigter Probleme herumgrübeln. Häufig entfache auch eine scheinbar sinnlose, jedoch unbewußt hinterlistig angebrachte Schleife am Popo vielgestaltige männliche Begierden, und diese ganze Damenmode stamme aus dem raffinierten Rokoko, das sei die Erfindung der Pompadour und des Sonnenkönigs. Aber nun wolle er seinen kulturgeschichtlichen Vortrag beenden, er wisse ja, daß sie ein richtiges Temperament hat, und er wolle ihr nur schlicht versichern, daß sie sich gewaltig täuscht, wenn sie meinen sollte, er sei nur hier wegen ihrem heißen Blut – Nie! Er stünde vor ihr ohne erotische Hintergedanken, lediglich deshalb, weil er ein weiches Herz habe und wisse, daß sie keinen Pfennig hat, sondern zerrissene Schuhe und nirgends eine Stellung findet. Er habe in letzter Zeit viel an sie gedacht, gestern und vorgestern, und endlich habe er ihr eine Arbeitsmöglichkeit verschafft.

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„Allerdings“, betonte er, „ist diese Arbeitsmöglichkeit keine bürgerliche, sondern eine künstlerische. Ich weiß nicht, ob du weißt, daß ich mit dem berühmten Kunstmaler Lothar Maria Achner sehr intim bekannt bin. Er ist ein durchaus künstlerisch veranlagter hochtalentierter Intellektueller, zart in der Farbe und dennoch stark, und sucht zur Zeit krampfhaft ein geeignetes Modell für seine neueste werdende Schöpfung, einen weiblichen blühenden Akt. Auf einem Sofa. Im Trancezustand. Er soll nämlich im Auftrag des hessischen Freistaates eine ‚Hetäre im Opiumrausch‘ für das dortige Museum malen.“ Das war nun natürlich nicht wahr, denn als Auftraggeber dieser werdenden Schöpfung zeichnete nicht der hessische Freistaat, sondern ein kindischer Viehhändler aus Kempten im Allgäu, der einer kultivierten Hausbesitzerswitwe, auf deren Haus er scharf war, zeigen wollte, daß er sogar für moderne Kunst etwas übrig hat, und daß er also nicht umsonst vier Jahre lang in der Kunststadt München mit Vieh gehandelt hatte. „Ich dachte sogleich an dich“, fuhr er nach einer abermaligen Kunstpause fort, „und ich habe es erreicht, daß er dich als Modell engagieren wird. Du verdienst pro Stunde zwanzig Pfennig und er benötigt dich sicher fünfzig Stunden lang, er ist nämlich äußerst gewissenhaft. Das wären also zehn Mark, ein durchaus gefundenes Geld. Aber dieses Geld bedeutet nichts in Anbetracht deiner dortigen Entfaltungsmöglichkeiten. Im Atelier Lothar Maria Achners gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, darunter zahlreiche junge Herren im eigenen Auto. Das sind Möglichkeiten! Es tut mir nämlich als Mensch persönlich leid, wenn ich sehe, wie ein Mensch seine Naturgeschenke sinnlos verschleudert. Man muß auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Rationalisation! Rationalisation! Versteh mich recht: Ich verlange zwar keineswegs, daß du dich prostituierst – Agnes, ich bin bloß ein weichherziger Mensch und ohne Hintergedanken. Es ist wohl töricht, daß ich mich für dich einsetze, denn daß du beispielsweise seinerzeit am Ammersee unpäßlich warst, das glaube ich dir nimmer!“ Natürlich war sie damals nicht unpäßlich gewesen, aber der Kastner hatte kein Recht sich zu beschweren, denn es war erstunken und erlogen, daß er ihr derart selbstlos die Stellung als Hetäre im Opiumrausch verschaffte. Er hatte vielmehr zu jenem Kunstmaler gesagt: „Also, wenn du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich dir morgen ein tadelloses Mädchen für zwanzig Pfennig. Groß, schlank, braunblond, und es versteht auch einen Spaß. Aber wenn du mir nur fünf Mark leihen kannst, so mußt du dafür sorgen, daß ich Gelegenheit bekomme, um sie mir zu nehmen. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Kognak bringe ich mit, Grammophon hast du.“ Er blieb vor ihr stehen, bemitleidete sich selbst und nickte ihr ergriffen zu: „Ich wollte, du wärest nie geboren. Warum denn nur, frage ich mich und dich, warum denn nur gibst du dich mir nicht? Doch lassen wir dies! Passé!“ Und Agnes dachte: Warum denn nur sage ich es ihm nicht, daß er vorn lauter Stiftzähne hat? „Du kannst eben nicht lieben“, meinte er. „Du bist allerdings häufig bereit, dich mit irgendeinem nächsten Besten ins Bett zu legen, aber wie du fühlst, du könntest dich in jenen nächsten Besten ehrlich mit der Seele verlieben, kneifst du auf der Stelle. Du würdest ihn nimmer wiedersehen wollen, er wäre aus dir ausradiert.“

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Agnes sagte sich, wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so habe er eben diesmal recht. Sie müsse wirklich mehr an sich denken, sie denke zwar eigentlich immer an sich, aber wahrscheinlich zu langsam. Sie müsse sich das alles genau überlegen – was „alles?“ Merkwürdig, wie weit nun plötzlich das ganze Oberwiesenfeld hinter ihr liegt, als wäre sie seit vier Wochen nicht mehr dort spaziert. Und es sei doch eigentümlich, daß dieser Eugen sie schon nach zwei Stunden genommen hat, und daß das alles so selbstverständlich gewesen ist, als hätte es so kommen müssen. Er sei ja sicher ein guter Mensch, aber er könnte ihr wirklich gefährlich werden, denn es stimme schon, daß er zu jenen Männern gehört, denen man sich naturnotwendig gleich ganz ausliefern muß – Nein! Sie wolle ihn nie mehr sehen! Sie werde morgen einfach nicht da sein, dort an der Ecke der Schleißheimer Straße. Es hätte doch auch schon gar keinen Sinn, an das Salzkammergut zu denken und das blöde Afrika, all diese dummen Phantasien! Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen, und den könne man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht. Der Kastner habe schon sehr recht, sie werde auch die Hetäre markieren, sich für fünfzig Stunden auf das Sofa legen und zehn Mark verdienen und vielleicht wirklich irgendein eigenes Auto kennenlernen, aber man solle nichts verschreien.

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So näherte sich also Agnes einem einfachen Schluß, während sie ein ehemaliger Filmstatist, der ursprünglich Zahntechniker war, jedoch eigentlich Journalist werden wollte, fixierte. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte los wie ein schlechtes Feuilleton. „Diese Angst vor der wahren seelischen Liebe ist eine typische Jungmädchenerscheinung des zwanzigsten Jahrhunderts, aber natürlich keine Degenerationserscheinung, wenn man in deinen wirtschaftlichen Verhältnissen steckt. Es ist dies lediglich eine gesunde Reaktion auf alberne Vorstellungen, wie zum Beispiel, daß die fleischliche Vergattung etwas Heiligeres ist, als eine organische Funktion. Wieviel Unheil richtet diese erhabene Dummheit unter uns armen Menschen an!“ Er hielt plötzlich inne in seinen Definitionen und biß sich auf die Zunge, so überrascht war er, daß er tatsächlich mal recht hatte. Er war ja ein pathologischer Lügner. Doch rasch erholte er sich von der Wahrheit, setzte sich ergriffen über seine Selbstlosigkeit auf den zusammengeleimten Stuhl, vergrub zerknirscht über die menschliche Undankbarkeit den Kopf in den Händen und seufzte: „Ich bin zu gut! Ich bin zu gut!“ „Er ist also wirklich besser, als er aussieht“, dachte Agnes. „Das hängt halt nur von solchen Stiftzähnen ab, daß man meint, das ist ein Schuft. So täuscht man sich. Am End ist auch der Eugen gar nicht so anständig, wie er sich benommen hat. Es gibt wenige gute Leut, und die werdn immer weniger.“ Und der Kastner tat ihr plötzlich leid, und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die großen und die kleinen.

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Am nächsten Morgen erzählte die Tante im Antiquariat ihrer einzigen Freundin, einer ehemaligen Schreibwarengeschäftsinhaberin und Kleinrentnerin, daß Agnes nun endlich eine Stellung bekommen hat. Sie werde von einem hochtalentierten Kunstmaler gemalt und dafür bezahlt, und das habe ihr überraschend schnell der Herr Kastner verschafft. Das sei doch ein lieber braver Mensch, und sie habe sich also nicht in ihm getäuscht, sie hätte ja schon immer gesagt, daß er geschäftlich höchst unreell ist. Er betrüge sie nämlich, und es sei kein Verlaß auf ihn. So habe er ihr Aktphotographien geliefert, und sie hätte ihm doch gesagt, sie könnte mit diesen neumodischen Figuren nichts anfangen, das seien ja nur Knochen, und die Herren mögen ja nur die volleren Damen, unterwachsen und mollig, auch ohne Bubikopf. Auch wenn die Herren so täten, als liefen sie jeder Dürren nach, so sei das doch unnatürlich, denn die Herren fühlten im Grunde ihrer Seele altmodisch, aber heute würden sich die Herren schon gleich schämen mit einer Dicken über die Straße zu gehen. Neulich habe ihr ein Herr von der Ortskrankenkasse erzählt, daß, wenn eine Üppige ein Restaurant betritt, und da sitzen lauter Herren mit mageren Damen, dann fingen alle Herren hinter der Üppigen her heimlich das Trenzen an. Die Freundin meinte, es sei überhaupt Bruch mit dieser neuen Sinneslust, und die schimpfte auf die neueingeführte Vierundzwanzigstundenzeit. Ihr Bruder sei Logenschließer im Nationaltheater, und der sage auch immer, früher sei an so einer Julia noch was dran gewesen oder gar an der Desdemona, die hätte gleich einen Hintern gehabt wie ein Bräuroß, aber jetzt sähe die Desdemona direkt minderjährig aus, und kein Theaterbesucher begreife den Othello, den Mohr von Venedig, daß er sich wegen so ein Krischperl so furchtbar aufregt. Es sei eine Sünde an den Klassikern. – Diese ihre einzige Freundin hieß Afra Krumbier. Sie kannten sich schon von der Schule her, waren beide dreiundsechzig Jahr alt, und seit vier Jahren saß Afra den ganzen Tag in der Tante ihrem „Antiquariat“. Sie kramten gemeinsam die zerrissenen Bücher durch, lasen aufmerksam jede neuerschienene antiquarische Zeitschrift, machten sich gegenseitig auf originelle Zitate aufmerksam, durchdachten gar vielerlei, waren sehr neugierig und ziemlich abergläubig, verurteilten die Mädchen, die sich nackt photographieren ließen, beschimpften und verfluchten die Polizei, die sich um etwas anderes kümmern sollte als um solche harmlosen Aktaufnahmen, erinnerten sich der guten alten Militärmusik, verehrten den heiligen Antonius von Padua und interessierten sich für Fürstenstammbäume und alles Lebendige, besonders für Sexualprobleme, Darmtätigkeit und Kommunalpolitik. Afra Krumbier war das Echo der Tante. Wie die Tante hatte auch sie in der Inflation ihr kleines Geld verloren und hungerte nun als sogenannte Kleinrentnerin. Ihr einziger Trost war die Tante und ihr einziger Stolz, daß sie was von Politik versteht. Wäre sie als Tochter eines Aufsichtsrates geboren worden, hätte auch sie einen politischen Salon geführt, hätte Reichsminister protegiert, Leitartikel geschrieben über die Baden-Badener Polospiele und die kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten des Proletariats und hätte natürlich zugegeben, daß Lenin ein Säkularmensch war, und daß der Marxismus Schiffbruch erlitten hat. So aber besuchte sie nur eifrig Wahlversammlungen und meldete sich sogar manchmal zur Diskussion. Dann waren die Angehörigen jener Partei, für die sie eintreten wollte, bestürzt, die Opposition begeistert und die Nichtwähler belustigt.

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Sie wählte 1919 unabhängig sozialdemokratisch, 1920 deutsch-national, 1924 völkisch, 1925 bayerisch volksparteilich und 1928 sozialdemokratisch. Wie alle Kleinbürger zog sie infolge Denkunfähigkeit auch politisch verschrobene Schlüsse, hielt Gemeinplätze für ihre persönlichen Erkenntnisse und diese wieder nicht nur nicht für „graue Theorie“, sondern sogar für „Praxis“. Aber so einfältig war sie nun dennoch nicht, wie es der Freiherr von Aretin wünschte, der nach den Maiwahlen 1928 in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ behauptet hatte, daß das niederbayerische Bauernweiblein nur in dem Glauben, daß der Kommunismus mit der heiligen Kommunion zusammenhängt, kommunistisch wählt. Und sie glaubte auch nicht, was in der „Münchener Zeitung“ stand, daß nämlich die Herrschaft des Sozialismus eine Orgie der sieben Todsünden bedeutet. Sie besaß doch immerhin den unchristlichen Instinkt, ihre Mitbürger in „Großkopfete“ und „anständige Menschen“ einzuteilen. Dieser Instinkt hatte sie auch mit ihrem einzigen Verwandten entzweit, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester, einem gewissen Studienrat Gustav Adolf Niemeyer aus der Schellingstraße. Der hatte ihr seinerzeit, da sie von der unabhängigen Sozialdemokratie begeistert war, folgenden Brief gesandt: An Afra Krumbier. Weiber verstehen nichts von Politik. Das Maß ist voll. Wir sind nicht mehr verwandt. Gustav Adolf Niemeyer. 16.

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Dieser Studienrat Niemeyer hatte einen hoch aufgeschossenen Sohn mit einem etwas krummen Rücken, riesigen Händen und einer Brille. Er hieß ebenfalls Gustav Adolf, und als er 1914, da der liebe Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“ (und es geschah also, und Gott sah, daß er gut getan) einrücken mußte, wollte er gerade Chemie studieren und sagte: „Meiner Meinung nach hat die Chemie Zukunft.“ Die Horizonte waren rot von den Flammen der brennenden Dörfer und Wälder, rund zwölf Millionen Menschen wurden zerstückelt, und über das Leben kroch das Gas. Es war Hausse in Prothesen und Baisse in Brot. Immer mehr glich die Erde dem Monde. Der Studienrat sammelte Kriegspostkarten, Kriegsmedaillen, Kriegsbriefmarken, Kriegsscherzartikel, und nachts kratzte er diebisch die Kriegsberichte von den Anschlagsäulen. Weihnachten kam, das Fest der Liebe, und die deutschen Leitartikel huldigten dem deutschen Christkind, die französischen dem französischen Christkind, es gab auch eine österreichische Madonna, eine ungarische, englische, belgische, liechtensteinische, bayerische. Alle diese Madonnen waren sich feindlich gesinnt, und gar zahlreiche Heilige übernahmen Ehrenprotektorate über schwere und leichte Artillerie, Flammenwerfer und Tanks. 1915 fiel Gustav Adolf junior in Flandern, und Gustav Adolf senior verfaßte folgende Trauernotiz: „Es widerfuhr mir die große Freude, den einzigen Sohn auf dem Altar des Vaterlandes geopfert zu haben.“ Und er lächelte: „Wenn das die Mutter noch erlebt hätte!“ Dem einzigen Sohn widerfuhr allerdings weniger Freude über sein Opfer. Von einem spanischen Reiter aufgespießt, brüllte er vier Stunden lang auf dem Altar des Vaterlandes. Dann wurde er heiser und starb.

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Sein Feld der Ehre war ein Pfahl der Ehre, der ihm die Gedärme ehrenvoll heraustrieb. Als eitler Rohling schritt der vaterländische Vater stolz und dumm durch die Schellingstraße und bildete sich ein, die Leute wichen ihm aus, man sehe es ihm direkt an, daß sein einziger Sohn in Flandern gefallen ist. Ja, er plante sogar, sich selbst freiwillig zu opfern, jedoch dies vereitelten Bismarcks Worte, die er abgöttisch liebte: „Den Krieg gewinnen die deutschen Schulmeister.“ Aber es kam bekanntlich anders. Am Ende ihrer Kraft brachen die Mittelmächte zusammen, und fassungslos stammelte Gustav Adolf senior: „Aber die Pazifisten können doch nicht recht haben, denn warum ist denn dann mein Sohn gefallen?“ Erst anläßlich des Versailler Diktates atmete er auf. Nun konnte er es sich ja wieder beweisen, daß die Pazifisten nicht recht haben und, daß also sein Sohn nicht umsonst gefallen ist. Als Liebknecht und Luxemburg ermordet wurden, wurde es ihm klar, daß das deutsche Volk seine Ehre verloren hat und daß es selbe nur dann wiedererringen kann, wenn abermals zwei Millionen junger deutscher Männer fallen. Als Kurt Eisner ermordet wurde, hing er die Photographie seines Mörders neben jene seines Sohnes. Als Gustav Landauer ermordet wurde, stellte er fest: „Die Ordnung steht rechts!“ Als Gareis ermordet wurde, macht er einen Ausflug in das Isartal, und zwischen Grünwald und Großhesselohe sagte er dreimal: „Deutsche Erde!“ Als Erzberger ermordet wurde, betrat er seit langer Zeit wieder mal ein Biercabaret am Sendlingertorplatz. Dort sang ein allseits beliebter Komiker den Refrain: „Gott erhalte Rathenau, Erzberger hat er schon erhalten!“ Es war sehr komisch. Als Rathenau ermordet wurde, traf er einen allseits beliebten Universitätsprofessor, der meinte: „Gottlob, einer weniger!“ Als Haase ermordet wurde, ging er in die Oper und prophezeite in der Pause: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Und der Sturm brach los, das „Volk“ stand auf und warf sich auf dem Münchener Odeonsplatz auf den Bauch. Da wurde es windstill in des Schulmeisters Seele. Geistig gebrochen, doch körperlich aufrecht ließ er sich von der Republik pensionieren, witterte überall okkulte Mächte und haßte die Gewerkschaften. Er wurde Spiritist. Als er aber entdeckte, daß es auch unter den Jüdinnen Spiritistinnen gibt, wandte er sich ab vom Spiritismus. Er fürchtete weder Frankreich, noch die Tschechoslowakei, nur die Freimaurer. Genau so, wie einst seine Urgroßmutter die Preußen gefürchtet hatte. Die war an Verfolgungswahn erkrankt und hatte geglaubt, jeder Preuße hätte an seinem linken Fuße vierzehn Zehen. Von Tag zu Tag sah er seiner Urgroßmutter ähnlicher. Er vertiefte sich in seine abgekratzten Kriegsberichte und wollte es unbedingt ergründen, wieso wir den Krieg verloren haben, obwohl wir ihn nicht verloren haben. Und seine einzige Freude waren seine gesammelten Kriegsscherzartikel. 17.

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Das war Afra Krumbiers Schwager. Sie hatte ihn nie recht gemocht, denn seit ihre verstorbene Schwester Frau Studienrat geworden war, hatte sie angefangen, Afra von oben herab zu behandeln, weil

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Afra in ihrer Jugend nur mit einem Kanzleibeamten verlobt gewesen war, der sie obendrein auch noch sitzen gelassen hatte, weil er defraudiert hatte und durchgebrannt war. Und seit nun Afra im Antiquariat der Tante sozusagen lebte, vergaß sie ihren Schwager fast ganz, so sehr konzentrierten sich die Tante und sie aufeinander. Diese Konzentration war sogar so stark, daß die beiden Alten es oft selbst nicht mehr zu wissen schienen, wessen Nichte Agnes ist. So fragte auch heute wieder Afra die Tante, welcher Kunstmaler sich die Agnes als Modell gewählt hätte, ob er eine Berühmtheit sei oder eine Null, ob noch jung oder schon älter, ob verheiratet, verwitwet, geschieden, oder ob er so im Konkubinat dahinlebe, wie das bei den Kunstmalern meistens der Fall sei. Die Tante meinte, sie kenne den Kunstmaler nicht persönlich, er wohne zwar nicht weit von hier und, sie höre nur Gutes über ihn, zwar habe sie nur gehört, daß er Achner heißt, aber auf die Kunstmaler sei kein Verlaß, und sie habe es der Agnes auch schon erklärt, daß sie sich ja nicht unterstehen soll, bei künstlichem Lichte als Modell herumzustehen. Bei künstlichem Lichte könne nämlich kein Kunstmaler malen, und dann noch Modell stehen; das sei eine Schweinerei. Sie kenne nämlich mehrere Modelle, die beim künstlichen Licht Kinder bekommen hätten, und so Künstler schwörten gerne ab, besonders Kunstmaler. Und die Krumbier erwiderte, das sei schon sehr wahr, aber es gebe auch korrekte Kunstmaler. So kenne sie eine Konkubine, die dürfe heute sechzig Jahre alt sein und lebe noch immer mit ihrem Kunstmaler zusammen. Der sei zwar erst fünfunddreißig Jahre alt und habe noch nie ein Bild verkauft, aber das könne ihm sauwurscht sein, denn jene Konkubine habe Geld. Die Tante wollte gerade erklären, daß die Kunstmaler solch ein Konkubinat „freie Liebe“ nennen, weil es nicht wie eine bürgerliche Ehe auf Geld aufgebaut sei – Da betrat ein Kunde das „Antiquariat“, der Hochwürdige Herr Religionslehrer Joseph Heinzmann. Hochwürden waren sehr sittenstreng und hatten eine schmutzige Phantasie. Nicht umsonst hatte das Christentum zweitausend Jahre lang die Gültigkeit des Geschlechtstriebes bezweifelt. Einmal verbot dieser fromme Religionslehrer einem achtjährigen Mädchen, mit nackten Oberarmen in der Schulbank zu sitzen, denn das sei verderblich. Aber am nächsten Sonntag in der Sakristei setzte ihm deren Vater, ein Feinmechaniker aus der Schellingstraße, auseinander, daß er doch nicht hinschauen soll, wenn er eine solche Sau sei, und daß er durch einen überaus glücklichen Zufall erfahren habe, daß Hochwürden gern gar oft ein sauberes „Antiquariat“ in der Schellingstraße besuche, um sich dort an den Photographien nackter Weiber zu ergötzen. Und der hochwürdige Herr erwiderte, das sei eine gewaltige Verleumdung; wohl besuche er des öfteren jenes „Antiquariat“ in der Schellingstraße, aber nur, um sich Heiligenbildchen zu kaufen, die dort sehr preiswert wären und die er dann unter seine Lieblingsschülerinnen verteile. Und er lächelte scheinheilig und meinte noch, der Herr Feinmechaniker solle nur ja nicht verleumden, denn das wäre keine läßliche Sünde. Aber der Herr Feinmechaniker sagte, er scheiße auf alle läßlichen und unerläßlichen Sünden, und er wiederholte, daß jenes „Antiquariat“ Hochwürden allerdings leicht verderblich werden könnte, maßen sich Hochwürden nur noch einmal erfrechen sollte, sich über die nackten Oberarme seiner achtjährigen Tochter aufzuregen. „Nun, nun, nun“, antwor-

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tete Hochwürden gekränkt, nämlich er begann jeden Satz mit dem Wörtchen „nun“, und dies Mal fiel ihm kein Satz ein, denn der Feinmechaniker hatte recht, und Hochwürden ließ ihn entrüstet stehen. – Seit dieser Unterredung besuchte dieser heilige Geselle nur ab und zu die Tante, denn er war nicht nur schlau, sondern auch feig. Die Tante hatte ihn bereits drei Wochen lang nicht gesehen, und als er jetzt den Laden betrat, hub er gleich an zu lügen: „Nun, ich habe es Euch doch schon des öfteren aufgetragen, gute Frau, daß Ihr in die Auslage nicht diese obszönen Nuditäten hängen sollt, wie dieses „Vor dem Spiegel“ oder jenes schamlose „Weib auf dem Pantherfell“. Welchen Samen streuen solche Schandbilder in die Seelen unserer heranreifenden Jugend!“ „Das sind doch keine Schandbilder, das sind doch nur Photographien!“ ärgerte sich die Tante. „Das kauft sich keine heranreifende Jugend nicht, das kaufn sich nur die heranreifendn Kunstmaler, das habn die nämlich zur Kunst nötig.“ Hochwürden trat an den Bücherständer, durchstöberte den verstaubten Kram, und die Tante knurrte bloß: „Nun, ich kenne schon deine Irrlehren, alter Sünder, ganz ausgschamter!“ „Nun, gute Frau, die Kunst ist göttlichen Ursprungs, aber heute photographiert der Satan. Nun, wollen wir mal sehen, ob Ihr etwas Neues bekommen habt, oder? Nun, habt Ihr noch das Büchlein über die gnostischen Irrlehren? Nun, Ihr wißt doch, wie sehr wir uns für Irrlehren interessieren.“ Sie haßte ihn nämlich, denn auch er gehörte zu jenen Kunden, die sich alle Wochen tausend Weiber „auf dem Pantherfell, vor dem Spiegel“ betrachten und sich dann keine einzige kaufen, sondern sich nur höflich bedanken und sagen: „Ja, wissen Sie, das ist doch nicht das, was ich zur Kunst benötige. Ich benötige eine große schlanke Blondine, aber die hier sind schwarz, braun, rot, zu blond und entweder zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn oder zu teuer. Die können wir armen heranreifenden Künstler uns nicht leisten.“ – Und während die Krumbier leise der Tante von den abscheulichen Verbrechen der Jesuiten in Mexiko, Bolivien und Peru erzählte, entzifferte Hochwürden Buchtitel: „Aus dem Liebesleben der Sizilianerinnen. – Sind Brünette grausam? – Selbstbekenntnisse einer Dirne. – Selbstbekenntnisse zweier Dirnen. – Selbstbekenntnisse dreier Dirnen. – Fort mit den lästigen Sommersprossen! – Die unerbittliche Jungfrau. – Gibt es semitische Huren? – Sadismus, Masochismus und Hypnose. – Marianischer Kalender. – Unser österreich-ungarischer Bundesgenosse. – Abtreibung und Talmud. – Wie bist Du Weib? – Quo vadis Weib? – Sphinx Weib. – Wer bist Du Weib? – Wer sei Ihr Weiber?“ Und Hochwürden seufzte wie ein alter Hirsch und blätterte benommen in dem Werke „Tugend oder Laster?“, und sein Blick blieb an der Stelle kleben: „Der Coitus interruptus ist auf dem Seewege von den Griechen zu den Juden gekommen.“ Erschüttert über solch unzüchtige Erforschung des antiken Transportwesens, legte er behutsam das Buch auf eine Darstellung der Leda, schwitzte wie ein Bär und starrte sinnierend vor sich hin. Vor ihm lagen zwei Weiber auf je einem Pantherfell. „Apropos, wie geht es der lieben Nichte?“ wandte er sich an die Tante. „Nun, das ist ein hübsches Kind, das sich hoffentlich niemals auf einem Pantherfell photographieren lassen wird; die Welt ist unsittlich, gute Frau, und ich las jetzt soeben im Marianischen Kalender, daß der Agnestag am 21. Januar ist. Nun, die Geschichte der heiligen Agnes ist erbaulich, ihr Sinnbild ist das Lamm. Nun, die

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heilige Agnes war eine schöne römische Christin, und weil sie die Ehe mit einem vornehmen heidnischen Jüngling ausschlug, wurde sie in ein öffentliches Haus gebracht, blieb aber auch da mit einem Heiligenschein versehen, unversehrt auf ihrem Lotterbett. Nun, als endlich aber ihr Bräutigam ihr Gewalt antun wollte, erblindete er, wurde aber auf ihre Fürbitte hin wieder sehend. Nun, dennoch wurde sie zum Feuertode verurteilt, und weil sie die Flammen nicht verbrennen konnten, hat man sie enthauptet. Nun, das von dem Blindwerden fällt mir ein, wenn ich diese Schamlosigkeiten auf den Pantherfellen hier erblicke. Nun, übrigens ich muß nun gehen. Nun, also behüt Euch Gott, liebe Frau, – Die Welt ist verroht, aber Gottes Mühlen mahlen langsam.“ Er ging. Und die Tante sagte: „Nun, das ist ein ganz hinterfotziger Hund. Jedsmal bevor er rausgeht, erzählt er irgend so ein Schmarrn, damits nicht so auffällt, daß er sich nie was kauft.“ Und die Krumbier meinte, auch ihre Schutzheilige, die heilige Afra, sei seinerzeit dem Venusdienst geweiht worden auf der Insel Zypern, aber eines Tages sei der heilige Bischof Narzissus in jenes Freudenhaus gekommen und hätte dort die heilige Afra und ihre Mutter samt deren Dienerinnen getauft, und jetzt ruhe Afras heiliger Leib in der Kirche von St. Ulrich in Augsburg. Die Tante brummt nur, es sei schon sehr merkwürdig, daß so viele Heilige aus Freudenhäusern stammen. Aber die Krumbier meinte, man könne auch die Freudenmädchen nicht so ohne weiteres verdammen. So habe sie eine Bekannte gehabt, bei der hätten nur Huren gewohnt, doch die wären peinlich pünktlich mit der Miete gewesen und hätten die Möbel schon sehr geschont, sauber und akkurat. Sie hätten sich ihre Zimmer direkt mit Liebe eingerichtet und nie ein unfeines Wort gebraucht. – 18.

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Als jener gesalbte Lüstling im Antiquariat über die heilige Agnes sprach, betrat Agnes Pollinger den fünften Stock des Hauses Schellingstraße 104 und stand nun vor dem Atelier Arthur Maria Lachners. „Akademischer Kunstmaler“ las sie auf dem Schilde unter seinem schönen Namen. Und darunter hing ein Zettel mit der Überschrift „Raum für Mitteilungen, falls nicht zu Hause“, und da stand: „Wir sind um zwo im Stefanie. Schachmatt. – Sie kommt, ich erscheine um achtzehn Uhr. Kastner. – War gestern Abend da, Blödian. Erwarte mich. Rembrandt. – Was macht mein Edgar Allan Poe III. Band? Du weißt schon. – Kann Dir mitteilen, daß ich nicht kann. Elly. – Bin Mittwoch fünf Uhr nachmittag da. Gruß Priegler.“ Und diese Mitteilungen umgaben auf dem Rande des Zettels lauter einzelne Worte wie eine Girlande. Es waren meist Schmähworte wie: „Bruch, Aff, Mist, Trottel, Arsch, Rindvieh, Gauner, Hund usw.“ Neben dem Zettel erblickte Agnes eine kurze Schnur, an deren Ende ursprünglich ein Bleistift befestigt worden war, aber dieser Bleistift ist wieder mal geklaut worden, und nun hing die arme Schnur nur so irgendwie herunter, mürrisch, einsam und erniedrigt, ohne Zweck und ohne Sinn. Sie hatte ihre Daseinsberechtigung verloren, und ihre einzige Hoffnung war ein neuer Bleistift. Sie wußte ja noch nicht, daß ihr Herr, der Lachner, bereits beschlossen hatte, nie wieder einen Bleistift vor seine Tür zu hängen.

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Die Schnur kannte den Dieb, sie wußte, daß er Kastner hieß, und es quälte die Schnur, daß keine Behörde ihre Anklagen zu Protokoll nahm. – Agnes wollte läuten, aber neben der Klingel hing ebenfalls ein Zettel: „Glocke ruiniert, bitte sehr stark gen die Pforte zu pochen. AML.“ Und Agnes erriet, daß diese drei Buchstaben „Arthur Maria Lachner“ bedeuten, und sie pochte sehr stark gegen die Pforte. Sie hörte, wie jemand rasch und elastisch einen langen Korridor entlangschritt, und sie war überzeugt, daß dieser lange Korridor stockfinster ist, obwohl sie ihn ja noch nie gesehen hatte. Ein Herr in Pullover und Segelschuhen öffnete: „Ach, Sie sind doch wahrscheinlich das Modell? Jenun, Sie kommen gerade recht, ich bin AML, und Sie heißen doch Pollinger, nicht? Alors, erlauben Sie, daß ich vorausgehe, der Korridor ist nämlich leider stockfinster. Bitte, nach mir!“ Und Agnes war befriedigt, daß sie es erraten, daß der Korridor stockfinster ist. – Das Atelier hingegen war hell und groß, die Sonne brannte durch die hohe Glasscheibe, und Agnes dachte, hier muß es auch im strengsten Winter mollig warm sein; wenn nur auch im Winter die Sonne so scheinen würde wie im Sommer. Dann dürfte es ruhig schneien. Links an der Wand lehnte ein kleiner eiserner Herd. Auf ihm standen Bierflaschen, Teetassen, ein Teller, zwei verbogene Löffel, ein ungereinigter Rasierapparat und die Briefe Vincent van Goghs in Halbleinen. Hinter einer spanischen Wand lag ein Grammophon in einem unüberzogenen Bette, und rechts im Hintergrunde thronte ein Buddha auf einer Kiste, die mysteriös bemalt war. An den Wänden hingen Reproduktionen von Greco und Bayros und drei Originalporträts phantastischer indischer Göttinnen von AML. Die Staffelei wartete vor einem kleinen Podium, auf dem sich ein altes durchdrücktes Sofa zu schämen schien. Es roch nach Ölfarben, Sauerkohl und englischen Zigaretten. Und AML sprach: „Wie, Sie heißen Agnes? Ich war einst mit einer Agnes befreundet, die schrieb die entzückendsten Märchen, so irgendwie feine zarte in der Farbe. Sie war die Gattin unseres Botschafters in der Tschechoslowakei. Sie haben sie gekannt? Nein? Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versäumt! Ich bin auch mit dem Botschafter befreundet, ich habe ihn porträtiert, und das Bild hängt nun in der Nationalgalerie in Berlin. Kennen Sie Berlin? Nein? Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versäumt! Als ich das letztemal in Berlin war, traf ich unter den Linden meinen Freund, den Botschafter in der Tschechoslowakei. Sie kennen doch die Tschechoslowakei? Nein? Ich auch nicht. Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versäumt!“ Und dann sprach er über die alte Stadt Prag und erwähnte so nebenbei den Golem. Und er meinte, er sei nun auf die tschechoslowakischen Juden zu sprechen gekommen, weil seine Großmutter Argentinierin gewesen wäre, eine leidenschaftliche Portugiesin, die man einst in Bremen wegen ihrer schwarzen Glutaugen leider für eine Israelitin gehalten hätte – Und er unterbrach sich selbst ungeduldig: Er wolle nun tatsächlich nicht über die südamerikanischen Pampas plaudern, sondern über sich, seine Sendung und seine Arbeitsart. Der Kastner werde es ihr ja wahrscheinlich schon mitgeteilt haben, daß er sie im Auftrage eines Düsseldorfer Generaldirektors als Hetäre im Opiumrausch malen muß. So benannte AML einen Viehhändler aus Kempten zum Generaldirektor in Düsseldorf, und Agnes wurde stutzig: Der Kastner hätte ihr doch gesagt, daß sie im

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Auftrage des hessischen Freistaates als Hetäre im Opiumrausch gemalt werden würde. Doch AML lächelte nur und log: Der Kastner hätte sich versprochen, denn im Auftrage des hessischen Freistaates müßte er eine Madonna schaffen. Aber dazu benötige er ein demi-vierge Modell mit einem wissenden Zug um den unbefleckten Mund. Er sei sich ja bewußt, daß er nicht das richtige Verhältnis zur Muttergottes besitze, und er führte Agnes vor den Buddha auf der Kiste. Das sei sein Hausaltar, erklärte er ihr. Sein Gott sei nicht gekreuzigt worden, sondern hätte nur ständig seinen Nabel betrachtet, und dieser Erlöser nenne sich Buddha. Er selbst sei nämlich Buddhist. Auch er würde regelmäßig meditieren, zur vorgeschriebenen Zeit die vorschriftsmäßigen Gebete und Gebärden verrichten, und wenn er seiner Eingebung folgen dürfte, würde er die Madonna mit sechs Armen, zwölf Beinen, achtzehn Brüsten und drei Köpfen malen. Aber das Interessanteste an ihm sei, daß er trotz der buddhistischen Askese Sinn für Hetären im Opiumrausch habe, das sei eben sein Zwiespalt, er habe ja auch zwei verschiedene Gesichtshälften. Und er zeigte ihr sein Selbstporträt. Das sah aus, als hätte er links eine gewaltige Ohrfeige bekommen. „Die ungemeine Ausprägung der linken Gesichtshälfte ist ein Merkmal der Invertiertheit“, konstatierte er. „Alle großen Männer waren invertiert. Auch Oscar Wilde.“ Neuerdings nämlich überraschte sich AML bei Erregungen homosexueller Art. Als korrekter Hypochonder belauerte er auch seinen Trieb. Und Agnes betrachtete Buddhas Nabel und dachte, das wäre bloß ein Schmerbauch, und wenn der Buddhist noch nicht blöd sein sollte, so würde er bald verblöden, so intelligent sei er.

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Agnes trat hinter die spanische Wand. „Ziehen Sie sich nur ruhig aus“, vernahm sie des Buddhisten Stimme und hörte, wie er sich eine Zigarette anzündete. „Es ist bekannt, daß sich das erstemal eine gewisse Scheu einstellt. Sie sind doch kein Berufsmodell. Jedoch nur keine falsche Scham! Wir alle opfern auf dem Altare der Kunst, und ohne Schamlosigkeit geht das eben nicht, sagt Frank Wedekind.“ Agnes fand es höchst überflüssig, daß er sich verpflichtet fühlte, ihr das Entkleiden zu erleichtern, denn sie dachte sich ja nichts dabei, da es ihr bekannt war, daß sie gut gebaut ist. Einmal wurde sie von der Tante erwischt, wie sie sich gerade Umfang und Länge ihres Oberschenkels maß, nämlich in der Sonntagsbeilage standen die genauen Maße der amerikanischen Schönheitskönigin Miss Virginia, und die Redaktion der Sonntagsbeilage versprach derjenigen Münchnerin hundert Mark, deren Körperteile genau dieselben Maße aufweisen konnten. Die Tante behauptete natürlich, das wären vermutlich die Maße eines Menschenaffen, und Agnes täte bedeutend klüger, wenn sie auf das Arbeitsamt in der Thalkirchnerstraße ginge, statt sich von oben bis unten abzumessen, wie eine Badhur, und sie fragte sie noch, ob sie sich denn überhaupt nicht mehr schäme. Agnes dachte nur, wenn sie der Tante ihre Maße hätte, dann würde sie sich allerdings schämen, und sie freute sich, daß sie genau so gebaut ist wie Miss Virginia. Nur mit dem Busen, dem Unterarm und den Ohren klappte es nicht ganz so genau, aber sie beschwindelte sich selbst und war überzeugt, das könne bei der Verteilung der hundert Mark keinerlei Rolle spielen. Aber es spielte

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eine Rolle, und die hundert Mark gewann ein gewisses Fräulein Koeck aus der Blumenstraße, und in der nächsten Sonntagsausgabe protestierte dagegen ein Kaufmann aus der Thierschstraße, weil die Hüfte seiner Gattin nur um einen knappen Zentimeter breiter wäre als die Hüfte der Schönheitskönigin, und Fräulein Koeck hätte doch hingegen um einen ganzen halben Zentimeter dünnere Oberschenkel und um zwo Zentimeter längere Finger. Auch ein Turnlehrer aus der Theresienstraße protestierte und schrieb, man müsse überhaupt betreffs Hüften die Eigenart des altbayrischen Menschenschlages gebührender berücksichtigen, und es gäbe doch gottlob noch unterschiedliche Rassenmerkmale. Und Agnes dachte, es gibt halt keine Gerechtigkeit. Damals schlug ihr dann der Kastner vor, ob er sie nicht als künstlerischen Akt photographieren dürfe, aber sie müsse sich vorher noch so ein Lächeln wie die Hollywooder Stars antrainieren. Sie ließ sich zwar nicht photographieren, versuchte aber vor dem Spiegel das Hollywooder Lächeln zu erlernen, fing jedoch plötzlich an Grimassen zu schneiden und erschrak derart über ihr eigenes Gesicht, daß sie entsetzt davonlief. Aber der Kastner ließ nicht locker und noch vor zehn Tagen, als er mit ihr am Ammersee badete, versuchte er sie zu photographieren. Er erzählte ihr, daß in Schweden alles ohne Trikot badet, denn das Trikot reize die Phantasie, ohne sie zu befriedigen, und das wäre ungesund. Hier mengte sich ein fremder Badegast in das Gespräch und sagte, er wäre Schwede, und er fragte Agnes, ob sie nicht mit ihm Familienkunde treiben wolle, maßen sie einen Langschädel habe und blau und blond sei; jedoch der Kastner wurde sehr böse und log, er sei ebenfalls Schwede, worauf jener Schwede sehr verlegen wurde und kleinlaut hinzufügte, er wäre allerdings nur ein geborener Schwede, aber Privatgelehrter. – Dieser geborene schwedische Privatgelehrte fiel nun Agnes plötzlich ein, weil AML sagte: „In Schweden badet alles ohne Trikot. Lassen Sie die Strümpfe an! Ein weiblicher Akt mit Strümpfen wirkt bekanntlich erotisierender. Meine Hetäre trägt Strümpfe! Ich will die Hetäre mit Strümpfen erschaffen, mit Pagenstrümpfen! Eine Hetäre ohne Pagenstrümpfe ist wie –“. Er stockte, denn es fiel ihm kein Vergleich ein, und er ärgerte sich darüber und fuhr rasch fort: „Ich las gestern eine pittoreske Novelle von –“. Er stockte wieder, denn es fiel ihm kein Novellist ein und legte wütend los: „Vorgestern habe ich mich rasiert, und da habe ich mich furchtbar geschnitten, und heute habe ich mich wieder rasiert und habe mich nicht geschnitten! Kennen Sie die Psychoanalyse? Es ist alles Symbol, das stimmt. Wir denken symbolisch, wir können nur zweideutig denken. Zum Beispiel: das Bett. Wenn wir an ein Bett denken, so ist das ein Symbol für das Bett. Verstehen Sie mich? Ich freue mich nur, daß Sie kein Berufsmodell sind. Ich hasse das Schema, ich benötige Individualität! Ich bin nämlich krasser Individualist, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehöre zu jener „unsichtbaren Loge“ wahrer Geister, die sich über ihre Zeit erhoben und über die gestern in der „Neuesten“ ein fabelhafter Feuilleton stand!“ Und während Agnes ihr Hemd auf den Grammophon legte, verdammte er den Kollektivismus.

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Manchmal schwätzte AML, als wäre er ein Schwätzer. Aber er schwätzte ja nur aus Angst vor einem gewissen Gedanken. – Sein Vater war Tischlermeister gewesen, und AML hatte zu Hause nie ein böses Wort gehört. Er erinnerte sich seiner Eltern als ehrlicher arbeitsamer Menschen, und manchmal träumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten großen Augen und fettigem Haar. Es war alles so schön zu Hause gewesen und zufrieden. Es ist gut gekocht und gern gegessen worden, und heute schien es AML, als hätten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und an den Weihnachtsmann. Und manchmal mußte AML denken, ob er nicht auch lieber Tischlermeister geworden wäre mit einem Kind und einer rundlichen Frau mit guten großen Augen und fettigem Haar. Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen. Und um nicht erschlagen zu werden, verkroch er sich vor jedem seiner Gedanken. Wenn er allein im Atelier saß, sprach er laut mit sich selbst, nur um nichts denken zu müssen. Oder er ließ den Grammophon spielen, rezitierte Gedichte, pfiff Gassenhauer, und manchmal schrieb er sogar sich selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Überschrift: „Raum für Mitteilungen, falls nicht zu Hause.“ Er tat, wie die Chinesen tun, die überall hin Glöcklein hängen, um die bösen Geister zu verscheuchen. Denn die bösen Geister fürchten auch das feinste Geräusch und glotzen uns nur in der Stille an. Er haßte die Stille. Etwas in seinem Wesen erinnerte ihn an seinen verstorbenen Onkel August Meinzinger in Graz. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und saß oft stundenlang auf Kinderspielplätzen. Er war ein alter Herr, und in seinem Magen wuchs ein Geschwür. Er mußte auf seine Lieblingsknödel verzichten, wurde boshaft und bigott, bedauerte, kein Mönch geworden zu sein, las Bücher über die Folterwerkzeuge der Hölle und nahm sich vor, rechtschaffene Taten zu vollbringen; denn er hatte solche Angst vor dem Tode, daß er sich beschiß, wenn er eine Sense sah. Die Hölle, das Magengeschwür und die entschwundenen Lieblingsknödel beunruhigten seine Phantasie. Einst, als AML vier Jahre alt wurde, besuchte Onkel August München. Und da es dämmerte, schlich er an AMLs Bettchen und kniff ihn heimlich blau und grün, weil er eingeschlafen war, ohne gebetet zu haben. Er schilderte ihm die Qualen der Hölle und zitterte dabei vor dem jüngsten Gericht wie ein verprügelter Rattler. Der kleine AML hörte ihm mit runden Augen zu, fing plötzlich an zu weinen und betete. Er wußte zwar nicht, was er daherplapperte und hätte es auch gar nicht begriffen, daß er ein sündiger Mensch ist. Seine Sünden bestanden damals lediglich darin, daß er mit ungewaschenen Händchen in die Butter griff, was ihm wohl tat, daß er verzweifelte, wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und den Pintscher Pepperl auf den Hintern küßte. Und als AML in die Schule kam, verschied der Onkel August in Graz nach einem fürchterlichen Todeskampfe. Er röchelte zehn Stunden lang, redete wirres Zeug daher und brüllte immer wieder los: „Lüge! Lüge! Ich kenne kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein kleines Mizzilein in den Kanal gestoßen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Ich hab ja nur an den Wädelchen getätschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!“ Und dann schlug er wild um sich und heulte: „Auf dem Diwan sitzt der Satan! Auf dem Diwan

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sitzt noch ein Satan!“ Dann wimmerte er, eine Straßenbahn überfahre ihn mit Rädern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: „Es ist strengstens verboten, mit dem Wagenführer zu sprechen!“ Und des Onkels Seele schwebte himmelwärts aus der steiermärkischen Stadt Graz, und mit seinem Gelde wurde der Altar einer geräderten heiligen Märtyrerin renoviert und ihr gekröntes Skelett neu vergoldet, denn August Meinzinger hatte tatsächlich sein ganzes Vermögen aus rücksichtsloser Angst vor dem höllischen Schlund in jenen der alleinseligmachenden Kirche geworfen. Nur seinem Neffen AML hatte er ein silbernes Kruzifixlein hinterlassen, welches dieser fünfzehn Jahre später, 1913, im Versatzamt verfallen ließ, denn er benötigte das Geld für die Behandlung seines haushohen Trippers. Und kaum war er geheilt, brach der Weltkrieg aus. Er wurde Pionier, bekam in Belgrad das Eiserne Kreuz und in Warschau seinen zweiten Tripper. Und kaum war er geheilt, brach Deutschland zusammen. Und während die Menschen, die weitergehen wollten, erschossen wurden, bekam er seinen dritten Tripper. Und kaum war er geheilt, trat in Weimar die Nationalversammlung zusammen. Er wurde beherrscht und schwor, sich offiziell zu verloben, um seinen Geschlechtsverkehr gefahrlos gestalten zu können. Er wollte die Tochter eines Regierungsbaumeisters heiraten, es war eine reine Liebe, und sie brachte ihm seinen vierten Tripper. Nun wurde er immer vergeistigter und bildete sich ein, er sei verflucht. Hatte er mal Kopfschmerzen, Katarrh, einen blauen Fleck, Mitesser, Husten, Fieber, Durchfall oder harten Stuhl, immer witterte er irgendeinen mysteriösen Tripper. Er wagte sich kaum mehr einem Weibe zu nähern, haßte auch die Muttergottes und wurde Buddhist. Durch das Mikroskop erblickte er das Kleinod im Lotos. 21.

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Agnes stand nun vor AML. Sie hatte nur ihre Strümpfe an und schämte sich, weil der eine zerrissen war, während AML meinte, es wäre jammerschade, daß sie keine Pagenstrümpfe habe. Dann forderte er sie auf, im Atelier herumzugehen. „Gelöst“, sagte er, „Nur gelöst!“ Und so gelöst solle sie sich auch setzen, legen, aufstehen, niederknien, kauern, aufstehen, wieder hinlegen, wieder aufstehen, sich beugen und wieder herumgehen – das hätten nämlich auch die Modelle von Rodin genau so machen müssen. Selbst Balzac hätte vor Rodin vierzehn Tage lang so gelöst herumgehen müssen, bis Rodin die richtige Pose gefunden hätte. Er habe es zwar nicht nötig, dabei Skizzen zu machen wie jener, er behalte nämlich alle seine Skizzen im Kopf, denn er habe ein gutes Gedächtnis. Damit wolle er sich jedoch keineswegs mit Rodin vergleichen, das wäre ja vermessen, aber es sei halt nun mal so. Agnes tat alles, was er wollte, und wunderte sich über sein sonderbar sachliches Mienenspiel, denn eigentlich hätte sie erwartet, daß er sich ihr nähern werde. Und nun schämte sie sich noch mehr über ihren zerrissenen Strumpf. Sie erinnerte sich des Fräuleins Therese Seitz aus der Schellingstraße. Die war Berufsmodell und hatte ihr mal von einem Kunstmaler erzählt, der behauptet hätte, er könnte sie leider nicht malen, wenn sie sich ihm nicht hingeben wollte, und er müsse sie leider hinausschmeißen, das würde er nämlich seiner Kunst schuldig sein.

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Endlich fand AML die richtige Pose. Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt und lag auf dem Bauche. „Halt!“ rief er, raste hinter die Staffelei und visierte: „Jetzt hab ich die Hetäre! Nur gelöst! Gelöst! – – Es ist in die Augen fallend, daß sich die Kluft zwischen dem heutigen Schönheitsideal und jenem der Antike immer breiter auftut. Ich denke an die Venus von Milo.“ Und während AML an Paris dachte, dachte Agnes an sich und wurde traurig, denn: „Was tut man nicht alles für zwanzig Pfennige in der Stunde!“ Überhaupt diese Kunst! Keine zwanzig Pfennige würde sie für diese Kunst ausgeben! Wie oft hätte sie sich schon über diese ganze Kunst geärgert! Wie gut haben es doch die Bilder in den Museen! Sie wohnen vornehm, frieren nicht, müssen weder essen noch arbeiten, hängen nur an der Wand und werden bestaunt, als hätten sie Gottweißwas geleistet. Aber am meisten ärgerte sich Agnes über die Glyptothek auf dem Königsplatze, in der die Leute alte Steintrümmer beglotzten, so andächtig, als stünden sie vor der Auslage eines Delikatessengeschäftes. Einmal war sie in der Glyptothek, denn es hat sehr geregnet, und sie ging gerade über den Königsplatz. Drinnen führte einer mit einer Dienstmütze eine Gruppe von Saal zu Saal, und vor einer Figur sagte er, das sei die Göttin der Liebe. Die Göttin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte, und Agnes mußte direkt lächeln, und einer aus der Gruppe lächelte auch und löste sich von der Gruppe und näherte sich Agnes vor einer Figur ohne Feigenblatt. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar, und vor dem Kriege hätten auf Befehl des Zentrums die Saaldiener aus Papier Feigenblätter schneiden und diese auf die unsterblichen Kunstwerke hängen müssen, und das wäre wider die Kunst gewesen. Und er fragte Agnes, ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wolle, und Agnes traf sich mit ihm auf dem Sendlingertorplatz. Er kaufte zwei Logenplätze, aber da es Sonntag war und naß und kalt, war keine Loge ganz leer, und das verstimmte ihn, und er sagte, hätte er das geahnt, so hätte er zweites Parkett gekauft, denn dort sehe man besser, er sei nämlich sehr kurzsichtig. Und er wurde ganz melancholisch und meinte, wer weiß, wann sie sich wiedersehen werden, er sei nämlich aus Augsburg und müsse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren, und eigentlich liebe er das Kino gar nicht, und die Logenplätze wären verrückt teuer. Agnes begleitete ihn hernach an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, da sie sich trennten und sagte: „Fräulein, ich bin verflucht. Ich hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Söhne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau sechsundfünfzig. Ich war immer Idealist. Fräulein, Sie werden noch an mich denken. Ich bin Kaufmann. Ich hab Talent zum Bildhauer.“

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Drei Stunden später schlug es dreiviertelfünf. AML beschäftigte sich bereits seit vier Uhr mit dem Hintergrunde seiner „Hetäre im Opiumrausch“. Der Hintergrund war nämlich seine schwächste Seite. Unter solch einem Hintergrund konnte er unsagbar leiden. Auch jetzt juckte es ihn überall, es offenbarten sich ihm nur Hintergründe, die nicht in Frage kamen.

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So schien ihm also der Dreiviertelfünfuhrschlag als wahre Erlösung, denn da sein Freund Harry Priegler um fünf Uhr erscheinen wollte, konnte er sagen: „Ziehen Sie sich an, Fräulein Pollinger! Für heut sind wir soweit. Dieser Hintergrund! Dieser Hintergrund! Dieser ewige Hintergrund!“ Und während Agnes sich vor einem Hintergrunde, der ebenfalls nicht in Frage kam, anzog, knurrte ihr Magen. Sie hatte nämlich an diesem Tage zwei Semmeln gegessen, sonst noch nichts. Ursprünglich hatte sie sich ja Suppe, Fleisch, gemischten Salat und Kompott bestellen wollen, so ein richtiges Menü für neunzig Pfennig, aber da sie erst um halb zwölf erwacht war und dann auch noch zehn Minuten lang gemeint hatte, es wäre erst acht oder höchstens neun, während sie doch um zwölf Uhr bereits als Hetäre im Atelier sein mußte, so war ihr eben für jenes Menü keine Zeit übriggeblieben. Abgesehen davon, daß sie ja nur mehr dreiundzwanzig Pfennig besaß. Die zwei Semmeln kaufte sie sich bei jener Bäckersfrau in der Schellingstraße, die bekannt war ob ihrer Klumpfüße. Als Agnes den Laden betrat, las sie gerade die Hausbesitzerszeitung und meinte: „Der Mittelstand wird aufgerieben. Und was wird dann aus der Kultur? Überhaupts aus der Menschheit?“ „Was geht mich die Menschheit an?“ dachte Agnes und ärgerte sich, daß die Semmeln immer kleiner werden.

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Agnes schlüpfte in ihren Schlüpfer. „Es sind halt immer die gleichen Bewegungen“, überlegte sie. „Nur, daß ich jetzt seit einem Jahr keine Strumpfbänder trag, sondern einen Gürtel. Man kann zwar zum Gürtel auch Strumpfbänder tragen, aber oft haben die Männer schon gar keinen Sinn für Schmuck und werden bloß höhnisch, und dann ist die ganze Stimmung zerrissen.“ Und sie erinnerte sich einer Photographie in der „Illustrierten“. Auf der sah man eine lustige Amerikanerin aus New York, die auf ihrem Strumpfband eine Uhr trug. „Die Strumpfbanduhr“ stand darunter, und dann war auch noch vermerkt, daß sie nicht nur einen Sekundenzeiger besitzt, sondern auch ein Läut- und Weckwerk und, daß sie nicht nur die Viertelstunden, sondern auch die Minuten schlägt, und daß sie sich sogar als Stoppuhr verwerten läßt, zum Beispiel bei leichtathletischen Wettbewerben. Sie registriere nämlich genau die Zehntelsekunden, und in der Nacht leuchte ihr Zifferblatt, und überhaupt könne man von ihr auch die jeweiligen Stellungen der Sonne und des Mondes erkennen – ein ganzes Stück Weltall –, und die glückliche Besitzerin dieser Strumpfbanduhr sei Miss Flora, die Tochter eines Konfektionskönigs, des Enkelkindes braver Berliner aus Breslau.

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Harry Priegler war pünktlich. Er nahm die vier Treppen, als wären sie gar nicht da, und betrat das Atelier ohne Atembeschwerden, denn er war ein durchtrainierter Sportsmann. Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewußten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu

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haben, konnte er seine gesunden Muskeln, Nerven und Eingeweide derart rücksichtslos pflegen, daß er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eishockeysportes galt. Er hatte die Hoffenden nicht enttäuscht. Allgemein beliebt wurde er gar bald der berühmteste linke Stürmer und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, seinen Verein oder seine Vaterstadt, Südbayern oder Großdeutschland, immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, daß er sich ein „Foul“ zuschulden kommen ließ, denn infolge seiner raffinierten Technik der Stockbehandlung und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er es nicht nötig. Natürlich trieb er nichts als Sport. Das Eishockey war sein Beruf, trotzdem blieb er Amateur, denn seinen nicht gerade bescheidenen Lebensunterhalt bestritten die geschlachteten Schweine. Harrys Arbeit hing in erschreckender Weise vom Wetter ab. Gab es kein Eis, hatte er nichts zu tun. Spätestens Mitte Februar wurde er arbeitslos, und frühestens Mitte Dezember konnte er wieder eingestellt werden. Wenn ihm jemand während dieser Zeit auf der Straße begegnete, so teilte er dem mit einer gewissen müden Resignation mit, daß er entweder vom Schneider kommt oder zum Schneider geht. Er trug sich recht bunt, kaute Gummi und markierte mit Vorliebe den Nordamerikaner. Kurz: Er war einer jener „Spitzen der Gesellschaft, die sich in ihren eigenen Autos bei AML Rendezvous geben“, wie sich der Kastner Agnes gegenüber so plastisch ausgedrückt und über die er noch geäußert hat: „Das sind Möglichkeiten! Ich verlange zwar keineswegs, daß du dich prostituierst.“ Auch die übrigen Spieler seiner Mannschaft, vom Mittelstürmer bis zum Ersatzmann, waren in gleicher Weise berufstätig. Zwei waren zwar immatrikuliert an der philosophischen Fakultät, erste Sektion, jedoch dies geschah nur so nebenbei, denn alle waren Söhne irgendwelcher Schweinemetzger in Wien, Elberfeld oder Kanada. Nur der rechte Verteidiger ließ sich von einer Dame, deren Mann für das Eishockey kein Gefühl hatte, aushalten. Mit diesem rechten Verteidiger vertrug sich Harry ursprünglich recht gut, aber dann trübte eine Liebesgeschichte ihre Zuneigung, und seit jener Zeit haßte ihn der rechte Verteidiger. Immerhin besaß er aber Charakter genug, um bei Wettkämpfen mit Harry präzis zusammenzuspielen, als wäre nichts geschehen. Der rechte Verteidiger hatte sich nämlich mit Erfolg in die Geliebte des Tormannes verliebt, und diese Geliebte hatte plötzlich angefangen, sich für Harry zu interessieren. Der Tormann, ein gutmütiger Riese, hat bloß traurig gesagt: „Frauen sind halt unsportlich“, und der rechte Verteidiger hatte nichts dagegen einzuwenden, solange die Unsportliche auch ihn erhört hatte, denn er war ein großzügiger Mann. Aber Harry hatte jene Unsportliche nicht riechen können, und darüber hatte sie sich so geärgert, daß sie plötzlich den rechten Verteidiger nicht mehr riechen konnte. „Also vom Wintersport hab ich jetzt genug“, hatte sie gesagt und ist nach San Remo gefahren und hat sich dort von einem fascistischen Parteisekretär Statuten beibringen lassen, ist dann zurückgekommen und hat vom Mussolini geschwärmt und konstatiert: „In Italien herrscht Ordnung!“ Harry lernte AML im „Diana“ kennen. Das „Diana“ und der „Bunte Vogel“ in der Adalbertstraße zu Schwabing waren während der Inflation sogenannte Künstlerkneipen mit Künstlerkonzert, und es trafen sich dort allerhand arme Mädchen, Corps-

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studenten, Schieber, verkommene Schauspieler, rachsüchtige Feuilletonisten und homosexuelle Hitlerianer. Hier entstand dies Lied: Wir wollen uns mit Kognak berauschen Wir wollen unsere Weiber vertauschen Wir wollen uns mit Scheiße beschmieren Wir wollen überhaupt ein freies Leben führen! Harry hatte für Kunst nichts übrig, ihn interessierten eigentlich nur die Mädchen, die sich möglichst billig erstehen ließen. Denn trotz seines lebemännischen Äußeren konnte er ab und zu recht geizig werden, wenn es um das Ganze ging. Überhaupt bricht bei Kavalieren seiner Art durch die Kruste der Nonchalance gar häufig überraschend primitiv eine ungebändigte Sinneslust, eine Urfreude am Leben. So hat mal der Mittelstürmer seiner Liebe den Nachttopf auf den Kopf werfen wollen, und ein anderer Mittelstürmer hat es auch getan. Als Harry und AML sich kennenlernten, fanden sie sich sogleich sympathisch. Beide waren betrunken, Harry hatte natürlich Valuten, AML natürlich nur mehr eine Billion, hingegen hatte er ein Mädchen, welches hinwiederum Harry nicht hatte. So bezahlte letzterer die Zeche, und AML improvisierte ein Atelierfest. Kurz nach zwei Uhr übergab sich Harry und bettelte um ein Stück Papier, jedoch AML meinte: „Ehrensache! Das putz ich auf, das ist Hausherrnrecht! Ehrensache!“ Und er putzte tatsächlich alles fein säuberlich auf und übergab sich dann selbst, während Harry ihm ob seiner Gastfreundschaft dankte. Dann näherte er sich einem Mädchen, das schon so müd war, daß sie ihn mit AML verwechselte. Aber AML verzieh Harry und meinte nur, die schönste Musik sei die Musik der Südsee. Dann schmiß er die Müde raus, und so entwickelte sich zwischen den beiden Männern eine wahre Freundschaft. Harry bezahlte die Zeche der Mädchen, die AML einlud. Und so konnte es auch nicht ausbleiben, daß Harry sich anfing, für Kunst zu interessieren. Dumpf pochte in ihm die Pflicht, lebenden Künstlern unter die Arme zu greifen. Er ließ sich sein Lexikon prunkvoll einbinden, denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Er las gerne Titel und Kapitelüberschriften, aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreißkalendern. Dort las er am hundertsten Todestag Ludwig van Beethovens: „Kunst ist eigentlich undefinierbar.“

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Als Agnes Harry vorgestellt wurde, sagte er: „Angenehm!“ und zu AML: „Verzeih, wenn ich wieder mal störe!“ „Oh bitte! Du weißt doch, daß ich nicht gestört werden kann! Fräulein Pollinger ist nur mein neues Modell. Ich stehe wieder mal vor dem Hintergrund. Bist du mit dem Auto da?“ Hätte Agnes etwas Zerbrechliches in der Hand gehalten, dann hätte sie es bei dem Worte „Auto“ wahrscheinlich fallen lassen, so unerwartet tauchte es vor ihr auf, als würde es sie überfahren – Obwohl sie sich doch seit Kastners Besuch darüber im klaren war, daß sie oben drinnen sitzen will. Und sie überraschte sich dabei, wie gut ihr Harrys grauer Anzug gefiel und, daß sie den Knoten seiner Krawatte fabelhaft fand.

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Die beiden Herren unterhielten sich leise. Nämlich AML wäre es irgendwie peinlich gewesen, wenn seine Hetäre erfahren hätte, daß er Harry vierzig Mark schuldet und, daß er diese Schuld noch immer nicht begleichen kann und, daß er Harry lediglich fragen wollte, ob er ihm nicht noch zwanzig Mark pumpen könnte – „Sie fährt sicher mit“, meinte er und betonte dies „sicher“ so überzeugt, daß es Agnes hören mußte, obwohl sie nicht lauschte. Nun wurde sie aber neugierig und horchte, denn sie liebte das Wort „vielleicht“ und gebrauchte nie das Wort „sicher“. Und dies fiel ihr plötzlich auf, und sie war mit sich sehr zufrieden. Scheinbar interessiert blätterte sie in den Briefen van Goghs und hörte, wie Harry von zwei Herren sprach, die ihm anläßlich seines fabelhaften Spieles in der Schweiz persönlich gratulieren wollten. Als sie ihm aber ihre Aufwartung machten, da stahlen sie ihm aus seiner Briefmarkensammlung den „schwarzen Einser“ und den „sächsischen Dreier“. Einer von ihnen habe sich an eine Baronin attachiert, und diese Baronin sei sehr lebensfreudig, nämlich sie habe sich gleich an drei Männer attachiert. Der Baron sei unerwartet nach Hause gekommen und habe nur gesagt: „Guten Abend, die Herren!“, und dann sei er gleich wieder fort. Die Herren seien verdutzt gewesen, und der Baron habe sich in der gleichen Nacht auf dem Grabe seiner Mutter erschossen. Harry sagte noch, er verstünde es nicht, wie man sich aus Liebe erschießen kann. Auch Agnes verstand dies nicht. Sie dachte, was wäre das für eine Überspanntheit, wenn sie sich auf dem Grabe ihrer Mutter erschießen würde. Oder wenn sich zum Beispiel jetzt der Eugen auf dem Grabe seiner Mutter erschießen würde. Abgesehen davon, daß seine Mutter vielleicht noch lebt, würde ihr so etwas niemals einfallen, und auch dem Eugen wahrscheinlich vielleicht niemals. Zwar hätte es ganz so hergeschaut, als hätte er ein tieferes Gefühl für sie empfunden, denn er hätte schon ziemlich gestottert, wenn er ihr etwas Erfreuliches hätte sagen wollen. Auch Agnes stotterte einst. Zur Zeit ihrer einzigen großen Liebe, damals, da sie mit dem Brunner aus der Schellingstraße ging, stieg ihr auch jedesmal, wenn sie an ihn dachte, so ein tieferes Gefühl aus dem Magen herauf und blieb in der Gurgel stecken. Und wenn sie ihm gar mal unerwartet begegnete, wurde es ihr jedesmal übel vor lauter Freude, so, daß sie sich am liebsten übergeben hätte. Der Brunner aber lachte jedesmal, nur einmal wurde er plötzlich sehr ernst und streng und meinte, wenn man an nichts anderes zu denken hätte, so wäre ja so eine große Liebe recht abwechslungsreich. Darüber war sie dann recht empört, denn sie hatte ja alles andere, an das sie sogar sehr hätte denken müssen, vergessen. Sie las ja auch damals bloß solch blöde Bücher über eifersüchtige Männer und leidenschaftliche Weiber. Und als sie dann der Brunner sitzen ließ, heulte sie auf ihrer verwanzten Matratze, und es fiel ihr tatsächlich ein: Was tät er sagen, wenn ich jetzt aus dem Fenster springen tät? Und vielleicht grad ihm auf den Kopf fallen tät? Seinerzeit lief sie sogar in die Kirche und betete: „Lieber Gott! Laß diesen Kelch an mir vorübergehen –“ Sie sprach plötzlich hochdeutsch, nämlich sie fand diesen Satz so wahr und wunderschön. Sie glaubte daran, daß da drinnen eine tiefe Erkenntnis steckt. Heute, wenn ihr dieser Satz einfällt, kriegt sie einen roten Kopf, so komisch kommt sie sich vor. Aus Liebe tun sich ja heut nur noch die Kinder was an!

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So erhängte sich erst unlängst ein Realgymnasiast wegen einer Realgymnasiastin, weil die sich mit einem Motorradfahrer einließ. Zuerst fühlte sich die Realgymnasiastin geschmeichelt, aber dann fing sie plötzlich an, von lauter erhängten Jünglingen zu träumen und wurde wegen Zerstreutheit zu Ostern nicht versetzt. Sie wollte ursprünglich Kinderärztin werden, verlobte sich dann aber mit jenem Motorradfahrer. Der hieß Heinrich Lallinger. Erst heute begreift Agnes ihren Brunner aus der Schellingstraße, der da sagte, daß wenn zwei sich gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das ganze Geschwätz von der Seele in der Liebe, das sei bloß eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch lediglich eine Gefühlsroheit, wenn irgendeine Agnes außer seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit Schmerzen, und warum sollte er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja keine Familie gründen, dann allerdings müßte er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammenzuleben, da gehöre schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zu viel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. Heute würde Agnes antworten: „Was könnt schon aus meim Kind werden? Es hätt nicht mal eine Tante, bei der es dann später wohnen könnt! Wenn der Mensch im Leben erreicht, daß er in einem Auto fahren kann, da hat er schon sehr viel erreicht.“ 26.

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„Sicher!“ hatte AML gesagt. „Sicher fährt sie mit.“ Er war so sicher seiner Sache, er betrieb ja nicht nur psychologische Studien, sondern er empfand auch eine gewisse Schadenfreude anläßlich jeder geglückten Kuppelei, denn er durchschritt im Geiste dann immer wieder seinen Weg zu Buddha. Agnes befürchtete bereits, von Harry nicht aufgefordert zu werden, und so sagte sie fast zu früh „Ja“ und vergaß ihren knurrenden Magen vor Freude über die Fahrt an den Starnberger See. Harry hatte sie nämlich gefragt: „Fräulein, Sie wollen doch mit mir kommen – nur an den Starnberger See?“ Unten stand das Auto. Es war schön und neu, und als Agnes sich in es setzte, dachte sie einen Augenblick an Eugen, der in einer knappen Stunde an der Ecke der Schleißheimer Straße stehen wird. Sie erschrak darüber, daß sie ihn höhnisch betrachtete, wie er so dort warten wird, – ohne sich setzen zu können – „Pfui!“ sagte sie sich und fügte hinzu: „Lang wird er nicht warten!“ Dann ging das Auto los.

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Um sechs Uhr wartete aber außer Eugen noch ein anderer auf Agnes, nämlich der Kastner. Er hatte doch erst vor vierundzwanzig Stunden zu AML gesagt: „Also, wenn du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich dir morgen ein tadelloses Modell für zwanzig Pfennig. Groß, schlank, braunblond, und es versteht auch einen Spaß. Aber wenn du mir nur fünf Mark leihen kannst, so mußt du dafür sorgen, daß ich Gelegenheit be-

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komme, sie mir nehmen zu können. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Kognak bringe ich mit, Grammophon hast du.“ AML hatte dem Kastner zwar nur drei Mark geliehen, hingegen hatte er sich vom Harry Priegler außer den vierzig abermals zwanzig Mark leihen lassen, macht zusammen plus sechzig Mark neben minus drei Mark. Es wäre also unverzeihbar töricht gewesen, wenn er dem Harry betreffs Agnes nicht entgegengekommen wäre, nur um dem Kastner sein Versprechen halten zu können. Der Kastner war ein korrekter Kaufmann und übersah auch sofort die Situation. Alles sah er ein, und meinte nur: „Du hast wieder mal dein Ehrenwort gebrochen.“ Aber dies sollte nur eine Feststellung sein, beileibe kein Vorwurf, denn der Kastner konnte großzügig werden, besonders an manchen Tagen. An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja es war gar nicht so häßlich, es war eigentlich nichts. Das einzig Unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung. 28.

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Der Vater des Kastner war ursprünglich Offizier. Er hieß Alfons, und jedes dritte Wort, das er sprach, schrieb oder dachte, war das Wort „eigentlich“. So hatte er „eigentlich“ keine Lust zum Leutnant, aber er hatte sich seinerzeit „eigentlich“ widerspruchslos dem elterlichen Zwange gebeugt und war in des Königs Rock geschlüpft, weil er „eigentlich“ nicht wußte, was er „eigentlich“ wollte. „Eigentlich“ konnte er sauber zeichnen, aber er wäre kein guter Künstler geworden, denn er war sachlich voller Ausreden und persönlich voller Gewissensbisse, statt umgekehrt. Er war ein linkischer Leutnant, las Gedichte von Lenau, Romane von Tovote, kannte jede Operette und hatte Zwangsvorstellungen. In seinem Tagebuch stand: „Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Oh, warum hat mich Gott eigentlich mit Händen erschaffen!“ Die Mutter des Kastner war ursprünglich Verkäuferin in einer Konditorei, und so mußte der Vater naturgemäß seinen Abschied nehmen, denn als Offizier konnte er doch keine arbeitende Frau ehelichen, um den Offiziersstand nicht zu beschmutzen. Er wurde von seinem Vater, einem allseits geachteten Honorarkonsul, enterbt. „Mein Sohn hat eine Kellnerin geheiratet“, konstatierte der Honorarkonsul. „Mein Sohn hat eine Angestellte geheiratet. Mein Sohn hat eine Dirne geheiratet. Ich habe keinen Sohn mehr.“ So wurde der Leutnant Alfons Kastner ein Sklave des Kontors und war derart ehrlich, niemals dies Opfer zu erwähnen. Denn, wie gesagt, war ja dies Opfer nur ein scheinbares, da ihm weitaus bedeutsamer für seine Zukunft als selbst der Feldmarschallrang eine Frau dünkte, die ihn durch ihre Hilflosigkeit zwang, alles zu „opfern“, um sie beschützen zu können, zu bekleiden, beschuhn, ernähren – kurz: Für die er verantwortlich sein mußte, um sich selbst beweisen zu können, daß er doch „eigentlich“ ein regelrechter Mann sei. Er klammerte sich krampfhaft an das erste Zusammentreffen. Damals war sie so blaß, klein und zerbrechlich, entsetzt und hilfesuchend hinter all der Schlagsahne und Schokolade gestanden. Sie hatte sich nämlich mit einer Prinzregententorte überessen, aber da sie dies ihrem Alfons nie erzählt hatte, weil sie es selbst längst vergessen hatte, wurde er ihr hörig.

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Sie war noch unberührt und wurde von ihrem Alfons erst in der Hochzeitsnacht entjungfert, allerdings erst nach einem Nervenzusammenbruche seinerseits mit Weinen und Selbstmordgedanken. Denn die Frau, die ihn „eigentlich“ körperlich reizen konnte, mußte wie das Bild sein, das sie später zufällig in seiner Schublade fand: eine hohe dürre Frau mit männlichen Hüften und einem geschulterten Gewehr. Darunter stand: „Die fesche Jägerin. Wien 1894. Guido Kratochwill pinx.“ Und obwohl sie klein und rundlich war, blieb sie ihm doch ihr ganzes Leben über treu und unterdrückte jede Regung für einen fremden Mann, weil er ihr eben hündisch hörig war. So wurde sie die Gefangene ihres falschen Pflichtgefühles, und bald verabscheute sie ihn auch, verachtete ihn mit dem Urhasse der Kreatur, weil die Treue, die ihr seine Hörigkeit aufzwang, sie hinderte, sich auszuleben. Sie fing an, alle Männer zu hassen, als würde sie keiner befriedigen können, und immer mehr glich sie einer Ratte. Es war keine glückliche Ehe. Und sie wurde auch nicht glücklicher, selbst da sie ihm zwei Kinder gebar. Das erste, ein Mädchen, starb nach zehn Minuten, das zweite, ein Sohn, wollte mal später „eigentlich“ Journalist werden. 29.

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„Ich hab extra Zigaretten mitgebracht“, sagte der Kastner. Er saß bereits sechs Minuten auf dem Bette neben dem Grammophon und stierte auf einen Fettfleck an der spanischen Wand. Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ging eines Tages in der Schellingstraße spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so, daß diese einst so innig befreundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein außerordentliches Personengedächtnis besaß. „Hallo!“ rief der vierte Fettfleck. „Ihr kennt euch doch, wir wollen jetzt einen Kognak trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns.“ „Ich hab extra einen Kognak mitgebracht“, sagte der Kastner. „Es wäre sehr leicht gewesen mit deinem Grammophon und meinem Kognak, sie war ja ganz gerührt, daß ich ihr hier das beschafft hab. Die Zigaretten kosten fünf Pfennig, ich rauch sonst nur welche zu drei, aber auf die war ich schon lang scharf, sie hat eine schöne Haut. Ich glaub, ich bin nicht wählerisch. Als Kind war ich wählerisch, ich hab es mir auch leisten können, weil ich einen schönen Gang gehabt haben soll. Heut hab ich direkt wieder gehinkt.“ Heute sprach der Kastner gar nicht wählerisch. Heute hinkte sein Hochdeutsch, und er war nicht stolz, weder auf seine Dialektik noch auf seine deutliche Aussprache. Er murmelte nur vor sich hin, als hätte er es vergessen, daß er „eigentlich“ Journalist werden wollte. Die Sonne sank schon immer tiefer, und AML konnte kein Wort herausbringen vor innerer Erregung. Denn plötzlich, wie er den Kastner so dasitzen sah, sah er einen Hintergrund. „Die Stirne dieses Kastners wäre ein prächtiger Hintergrund“, frohlockte sein göttlicher Funke. Nämlich wenn es dämmerte, offenbarten sich AML die Hintergründe, und je dunkler es wurde, um so farbenprächtiger strahlte an ihn die Ewigkeit. Es war sein persönliches Pech, daß man in der Finsternis nicht malen kann.

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„Es sind mazedonische Zigaretten“, sagte der Kastner. „Bulgarien ist ein fruchtbares Land. Ein Königreich. Ich war dort im Krieg, und in Sofia gibt es eine große Kathedrale, die dann die Agrarkommunisten in die Luft gesprengt haben. Das hier ist nicht der echte Tabak, denn die Steuern sind zu hoch; wir haben eben den Feldzug verloren. Es war umsonst. Wir haben umsonst verloren.“ „Auch in der Kunst das gleiche Spiel“, meinte AML. „Die Besten unserer Generation sind gefallen.“ „Stimmt“, philosophierte der Kastner. „Dir gehts gut, du bist talentiert.“ „Gut?!“ schrie der Talentierte. „Gut?! Was weißt denn du von einem Hintergrund?!“ „Nichts“, nickte der Philosoph. Und trank seinen Kognak, und es dauerte nicht lange, so war er damit einverstanden, daß Agnes mit Harry an den Starnberger See fuhr. Eine fast fromme Ergebenheit erfüllte seine Seele, und es fiel ihm weiter gar nicht auf, daß er zufrieden war. Er kam sich vor wie ein gutes Gespenst, das sich über seine eigene Harmlosigkeit noch niemals geärgert hat. Selbst da der Kognak alle wurde, war er sich nicht böse. 30.

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Als der Kastner an der spanischen Wand den Fettfleck entdeckte, erblickte Agnes aus Harrys Auto den Starnberger See. Die Stadt mit ihren grauen Häusern war verschwunden, als hätte sie nie in ihr gewohnt, und Villen tauchten auf, rechts und links und überall, mit Rosen und großen Hunden. Der Nachmittag war wunderbar, und Agnes fuhr durch eine fremde Welt. Sie hatte die Füße hübsch artig nebeneinander und den Kopf etwas im Nacken, denn auch der Wind war wunderbar, und sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem. Harry war ein blendender Chauffeur. Er überholte jedes Auto, jedes Pferd und jede Kuh. Er nahm die Kurven, wie sie kamen und fuhr durchschnittlich vierzig, streckenweise sogar hundert Kilometer. Jedoch, betonte er, seien diese hundert Kilometer keineswegs leichtsinnig, denn er fahre ungewöhnlich sicher, er wäre ja auch bereits vier Rennen gefahren und hätte bereits viermal wegen vier Pannen keinen Preis errungen. Er könne tatsächlich von Glück reden, daß er nur mit Hautabschürfungen davongekommen ist, trotzdem er sich viermal überschlagen hätte. Ausnahmsweise sprach Harry nicht über das Eishockey, sondern beleuchtete Verkehrsprobleme. So erzählte er, daß für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgendein Fußgänger die Schuld trägt. So dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, daß er, falls er solch einen Fußgänger überfahren hätte, einfach abblenden würde. So habe er einen Freund in Berlin, und dieser Freund hätte mit seinem fabelhaften Lancia eine Fußgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über die Straße gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja sogar zum Prozeß sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fußgängerin Landgerichtsratswitwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, daß sein Freund zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt wird. „Es käme mir ja auf ein paar tausend Märker nicht an“, hätte der Freund gesagt, „aber ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen“. Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der

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Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fußgängerin nicht leid täte, trotz des verbotenen Lichtes. „Nein“, hätte er gesagt, „prinzipiell nicht!“ Er sei eben auf seinem Recht bestanden. Jedesmal, wenn Harry irgendeinen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusammenstoßen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann haßte er diesen Staat, der die Fußgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Überhaupt der deutsche Staat, meinte er, solle sich lieber kümmern, daß mehr gearbeitet wird, damit man endlich mal wieder hochkommen könne, anstatt, daß er für die Fußgänger sorgt! Fußgänger würden so und so überfahren und nun erst recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Auslandes, da er mit seinem Auto jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst zwecks Erholung von der anstrengenden Eishockeysaison ein Stückchen Welt durchfahre. So sei er erst unlängst durch Dalmatien gefahren, und in Salzburg habe er sich das alte Stück von Jedermann angesehen. Der Reinhardt wäre ja ein berühmter Regisseur, und die Religion sei schon etwas sehr Mächtiges. In Salzburg hätte er auch seinen Berliner Freund getroffen und dessen Frau, eine Ägypterin, eine enorme Schönheit mit Zuckerrohrplantagen. Sie wäre enorm reich, und die Ägypter wären enorm genügsame Leute und falls ihnen etwas nicht genügen sollte, schon würden die Engländer schießen. Ohne Pardon. Die Engländer seien eben enorme Kaufleute. Im Frühjahr habe er in Baden-Baden zwei Engländerinnen getroffen, und deren Meinung sei gewesen, es wäre ein Skandal, wie der Staat die Automobilistinnen belästige. Der Staat solle doch lieber gegen den drohenden Bolschewismus energisch vorgehen als gegen Luxusreisende. Und im Sommer habe er sich auf dem Fernpaß zwei Französinnen genähert, die hätten genau dieselben Worte gebraucht, und im Herbst habe er in Ischl zwei Wienerinnen gesprochen, und die hätten auch genau dieselben Worte gebraucht, obwohl es Jüdinnen gewesen seien. Und Harry fuhr fort, der Bolschewismus sei ein Verbrechen und jeder Bolschewist ein Verbrecher. Er kenne zwar eine Ausnahme, den Sohn eines Justizrates, und der wäre ein weltfremder Idealist, aber trotzdem interessiere sich dieser Weltfremde nur für elegante Damen. Dieser Idealist sehe immer enorm ausgemergelt aus, und er habe ihm mal erklärt, daß wenn eine Dame nicht elegant wäre, könne er keinen Kontakt zu ihr kriegen, und dies sei sein Konflikt. Und er habe noch hinzugefügt: „Wenn das so weitergeht, gehe ich noch an meinem Konflikt zugrunde.“ Und Harry erklärte Agnes, dieser Salonkommunist sei nämlich enorm sinnlich.

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Sie fuhren durch Possenhofen. Hier wurde eine Kaiserin von Österreich geboren, und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander verwandt, und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloß Berg. Es war eine vornehme Gegend.

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Vor Feldafing spielten zwei vollschlanke Jüdinnen Golf. Eine vollschlanke Majorin fing erst vor kurzem an. „Essen tun wir in Feldafing“, entschied Harry. „In Feldafing ist ein annehmbares Publikum, seit der Golfplatz draußen ist. Ich fahr oft heraus, in der Stadt kann man ja kaum mehr essen, überall sitzt so ein Bowel.“ Und er meinte noch, früher sei er auch oft nach Tutzing gefahren, das liege sechs Kilometer südlich, aber jetzt könne kein anständiger Mensch mehr hin, nämlich dort stünde jetzt eine Fabrik, und überall treffe man Arbeiter. 32. In Feldafing sitzt man wunderbar am See. Besonders an einem Sommerabend ohne Wind. Dann ist der See still, und du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterscheiden, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend. Agnes kannte keinen einzigen Berg, und Harry erklärte ihr, wie die Gipfel und Grate heißen und ob sie gefährlich zu bezwingen wären, langwierig, leicht oder überhaupt nicht. Denn Harry war auch Hochtourist, aber schon seit geraumer Zeit wollte er von der Hochtouristik nichts mehr wissen, da er es nicht mit ansehen konnte, wie grauenhaft unsportlich sich neunundneunzig Prozent der Hochtouristen benehmen. Er verübelte es ihnen, daß sie sich statt einer sportlich einwandfreien Ausrüstung nur Lodenmäntel kaufen können, und er verzieh es ihnen nicht, daß sie untrainiert waren, weil sie im Jahre nur vierzehn Tage Urlaub bekommen. Diese neunundneunzig Prozent verekelten ihm Gottes herrliche Bergwelt, und nun besaß er nur drei Interessensphären: das Eishockeyspielen, das Autofahren und die Liebe. Manchmal verwechselte er diese Begriffe. Dann liebte er das Eishockey, spielte mit dem Auto und fuhr mit den Frauen. Seine Einstellung Schlittschuhen und Autozubehörteilen gegenüber kann ruhig als pedantisch bezeichnet werden. Hingegen Frauen gegenüber besaß er ein bedeutend nachsichtigeres Herz: Er zog nur eine ungefähre Grenze zwischen zwanzig und vierzig Jahren, und selbst innerhalb dieser Grenze war er nicht besonders wählerisch, bloß ordinär. 33. Im Seerestaurant zu Feldafing saßen außer Harry und Agnes noch elf Damen und elf Herren. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die größte Mühe gab, anders auszusehen. Die Damen waren durchaus gepflegt und sahen daher sehr neu aus, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett mußte, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal in der Nase bohrte. Die Speisekarte war lang und groß, aber Agnes konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, sondern hochdeutsche, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. „Königinsuppe?“ hörte sie des Kellners Stimme und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, denn das Knurren kränkte ihn, da er einen schlechten Charakter hatte.

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Harry bestellte zwei Wiener Schnitzel mit Gurkensalat. Bei „Wiener“ fiel Agnes Eugen ein – Es war sieben Uhr und sie dachte, jetzt stehe jener Österreicher wahrscheinlich nicht mehr an der Ecke der Straße. Jetzt spreche jener Österreicher vielleicht gerade eine andere Münchnerin an und gehe dann mit der auf das Oberwiesenfeld und setze sich unter eine Ulme. Und Agnes freute sich auf den Gurkensalat, nämlich sie liebte jeden Salat und sagte sich: „So sind halt die Männer!“ Seit Juni 1927 hatte Agnes keinen Gurkensalat gegessen. Damals hatte sie ein Mediziner zum Abendessen im „Chinesischen Turm“ eingeladen, und hernach ist sie mit ihm durch den Englischen Garten gegangen. Dieser Mediziner hatte sehr gerne Vorträge gehalten und hatte ihr auseinandergesetzt, daß das Verzehren eines Gurkensalates auch nur eine organische Funktion ist, genau wie das Sitzen unter einer Ulme. Und dann hatte er ihr von einem bedauernswerten Genie erzählt, das den Unterschied zwischen der Mutter- und Dirnennatur entdeckt hatte. Aber schon kurz nach dieser Entdeckung hatte jenes bedauernswerte Genie diesen Unterschied plötzlich nicht mehr so genau erkennen können und hat sich erschossen, wahrscheinlich weil er sich mit dem Begriff Weib hatte versöhnen wollen. Und dann hatte der Mediziner auch noch gemeint, daß er noch nicht wüßte, ob Agnes eine Mutter- oder Dirnennatur sei. 34.

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Die Wiener Schnitzel waren wunderbar, aber Harry ließ das seine stehen, weil es ihm zu dick war, und bestellte sich russische Eier und sagte: „Prost!“ Auch der Wein war wunderbar, und plötzlich fragte Harry: „Wie gefall ich Ihnen?“ „Wunderbar“, lächelte Agnes und verschluckte sich, nicht weil sie immerhin übertrieben hatte, sondern weil sie eben mit einem richtigen Hunger ihren Teil verzehrte. Es schmeckte ihr derart, daß der Direktor des Seerestaurants anfing, sie mißtrauisch zu beobachten, als hielte er es für wahrscheinlich, daß sie bald einen Löffel verschwinden läßt. Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich, als hätten sie es nicht nötig zu essen, als wären sie der Materie entwachsen. Als wären sie vergeistigt und sie sind doch nur satt. „Wissen Sie“, sagte Harry plötzlich, „daß ich etwas nicht ganz verstehe: Wieso kommt es, daß ich bei Frauen soviel Glück habe? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sich vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann! Ich kann jede Frau haben, aber das ist nicht das Richtige.“ Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: „Wie mach ich es nur, daß ich auf sie naufkomm? Das Beste ist, ich warte, bis es finster ist, dann fahr ich zurück und bieg in einen Seitenweg ein. Nach Starnberg, und wenn sie nicht will, dann fliegt sie raus.“ „Es ist nicht das Richtige“, fuhr er laut fort. „Die Frauen sagen, ich kann hypnotisieren. Aber ob ich die Liebe finde? Ob ich überhaupt eine Liebe finde? Ob es überhaupt eine wahre Liebe gibt? Wissen Sie, was ich unter „Liebe“ verstehe?“ Er verfinsterte sich noch mehr, denn plötzlich mußte er gegen eine Blähung ankämpfen. Er kniff die Lippen zusammen und sah recht unglücklich aus, während Agnes dachte: „Jetzt hat der so ein wunderbares Auto und ist nicht glücklich. Was möcht der erst sagen, wenn er zu Fuß gehen müßt?“

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Als Agnes mit ihrem Gurkensalat und Harry mit seinen russischen Eiern fertig war, beschimpfte er den Kellner mit dem schlechten Charakter, der untertänigst davonhuschte, um das Dessert zu holen. Es war noch immer nicht finster geworden, es dämmerte nur, und also mußte Harry noch ein Viertelstündchen mit Agnes Konversation treiben. „Sehen Sie jene Dame dort am dritten Tisch links?“ fragte er. „Jene Dame hab ich auch schon mal gehabt. Sie heißt Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstraße acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, daß sie verheiratet ist und daß ihr Mann sein Geschäftsfreund ist. Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishockey gespielt hab. Sie heißt Lotte Böhmer und wohnt in der Meinekestraße vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heißt Weber und wohnt in der Franz-Joseph-Straße, die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: „Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stoßen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.“ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stoßen wollte. Und hinter Ihnen – schauen Sie sich nicht um! – sitzt eine große Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestoßen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heißt Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstraße zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet, und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: „Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, daß du mich mit meiner Frau betrügst?“ Ich hab gesagt: „Hand aufs Herz! Es ist wahr!“ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: „Ich danke dir, lieber Harry!“ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, daß ich ja nichts dafür kann, denn er weiß, daß der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil ist. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein großer Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heißt Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstraße bei der Gabelsbergerstraße.“ „Zahlen!“ rief Harry, denn nun wurde es finster, und die Sterne standen droben und ditto der Mond. Auch die Nacht war wunderbar, und dann ging das Auto los. 36.

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Nach Starnberg, im Forstenrieder Park, bog Harry in einen Seitenweg, hielt plötzlich und starrte regungslos vor sich hin, als würde er einen großen Gedanken suchen, den er verloren hat. Agnes wußte, was nun kommen wird, trotzdem fragte sie ihn, was nun kommen würde?

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Er rührte sich nicht. Sie fragte, ob etwas los wäre? Er antwortete nicht. Sie fragte, ob das Auto kaputt sei? Er starrte noch immer vor sich hin. Sie fragte, ob vielleicht sonst etwas kaputt sei? Er wandte sich langsam ihr zu und sagte, es wäre gar nichts kaputt, doch hätte sie schöne Beine. Sie sagte, das sei ihr bereits bekannt. Er sagte, das sei ihm auch bereits bekannt, und das Gras wäre sehr trocken, weil es seit Wochen nicht mehr geregnet hat. Dann schwieg er wieder, und auch sie sagte nichts mehr, denn sie dachte an das gestrige Gras. Plötzlich warf er sich auf sie, drückte sie nieder, griff ihr zwischen die Schenkel und streckte seine Zunge zwischen ihre Zähne. Weil er aber einen Katarrh hatte, zog er sie wieder zurück, um sich schneuzen zu können. Sie sagte, sie müsse spätestens um neun Uhr in der Schellingstraße sein. Er warf sich wieder auf sie, denn er hatte sich nun ausgeschneuzt. Sie biß ihm in die Zunge, und er sagte: „Au!“ Und dann fragte er, ob sie denn nicht fühle, daß er sie liebt. „Nein“, sagte sie. „Das ist aber traurig“, sagte er und warf sich wieder auf sie. 37.

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Sie wehrte sich nicht. So nahm er sie, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, obwohl er bereits in Feldafing bemerkt hatte, daß sie ihn niemals besonders aufregen könnte, da sie ein Typ war, den er bereits durch und durch kannte, aber er fühlte sich verpflichtet, sich ihr zu nähern, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, ganz abgesehen von seiner kostbaren Zeit zwischen fünf und neuneinhalb Uhr, die er ihr gewidmet hatte. Sie wehrte sich nicht, und es war ihr klar, daß sie so tat, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte. Nur seine Zeit fand sie nicht so kostbar wie er. Er hätte sich verdoppeln dürfen und sie hätte sich nicht gewehrt, als hätte sie nie darüber nachgedacht, daß man das nicht darf. Sie hätte wohl darüber nachgedacht, doch hatte sie es einsehen müssen, daß die Welt, wenn man auch noch soviel nachdenkt, doch nur nach kaufmännischen Gesetzen regiert wird, und diese Gesetze sind allgemein anerkannt, trotz ihrer Ungerechtigkeit. Durch das Nachdenken werden sie nicht anders, das Nachdenken tut nur weh. Sie ließ sich nehmen, ohne sich zu geben, und ihre Gefühllosigkeit tat ihr wohl. Was sonst in ihrer Seele vorging, war nicht von Belang, es war nämlich nichts. Sie sah den Harry über sich, vom Kinn bis zum Bauch, und drei Meter entfernt das Schlußlicht seines Autos und dessen Nummer: IIA 16747. Und über das alles wölbte sich der Himmel, aus dem der große weiße Engel kam und verkündete: „Vor Gott ist kein Ding unmöglich!“ Mit unendlichem Gleichmut vernahm sie die Verkündigung, und genau so, wie ihr das alles bisher wunderbar schien, erschien ihr nun plötzlich alles komisch. Der

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Himmel, der Engel, das Auto, der Harry und besonders das karierte Muster seiner fabelhaften Krawatte, deren Ende ihr immer wieder in den Mund hing. Es war sehr komisch, und plötzlich gab ihr Harry eine gewaltige Ohrfeige, riß sich aus ihr und brüllte: „Eine Gemeinheit! Ich streng mich an, und du machst nichts! Eine Gemeinheit. Ich bin da, und du bist nicht da! Jetzt fahr zu Fuß, faules Luder!“ Es war sehr komisch. Entrüstet sprang er in sein Auto, und dann ging das Auto los. Sie sah noch die Nummer: IIA 16747. Dann war das Auto verschwunden. Es war sehr komisch. 38.

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Agnes ging durch den Forstenrieder Park. Dem entschwundenen Schlußlicht nach. Sie wußte weder, wo sie war, noch, wie weit sie sich von ihrer Schellingstraße befand. Sie kannte nur die ungefähre Richtung und wußte, daß sie nun nach Hause gehen muß, statt in einem wunderbaren Auto zu sitzen. Erst allmählich wurde es ihr klar, daß sie nun fünf, sechs oder sieben Stunden lang laufen muß, um ihre Schellingstraße zu erreichen. Die Nacht war still, und hinter den alten Bäumen rechts und links lag groß und schwarz der Wald. In diesem Wald jagte einst der königlich-bayerische Hof und veranstaltete auch große Hoftreibjagden. Nämlich in diesem Walde wohnte viel Wild, und all diese Hirsche, Rehe, Hühner und Schweine wurden königlich gehegt, bevor man die Schweine durch eine königliche Meute zerreißen oder die Hirsche durch Hunderte königliche Treiber in den Starnberger See treiben ließ, um sie dort vom Kahn aus königlich erschlagen zu können. Heut ist dies alles staatlich, und man treibt die Jagd humaner, weil die Treibjagden zu teuer sind. Erst nach zehn Minuten gewöhnte sich Agnes daran, nichts mehr komisch zu finden, sondern gemein. Es war doch alles leider zu wahr, und sie überzeugte sich, daß ihre Schuhe nun bald ganz zerreißen werden, und dann fürchtete sie sich auch, denn im deutschen Reich wird viel gemordet und geraubt. Zwar sei das Rauben nicht das schlimmste, überlegte sie. Es sei doch bedeutend schlimmer, daß sie nun allein durch den Wald gehen muß, denn wie leicht könnte sie ermordet werden, zum Beispiel aus Lust, aber der Harry würde nie bestraft werden, sondern nur der Mörder. Überhaupt seien die Richter oft eigentümlich veranlagt. So habe ihr erst vor vier Wochen das Berufsmodell Fräulein Therese Seitz aus der Schellingstraße erzählt, daß sie 1927 der Motorradfahrer Heinrich Lallinger vom Undosawellenbad in die Schellingstraße fahren wollte, aber plötzlich sei er in einen Seitenweg eingebogen, um sie dann weiter drinnen im Wald zu vergewaltigen. Sie habe gesagt, er solle sofort halten, da sie sonst abspringen würde, er habe aber nur gelächelt und die Geschwindigkeit verdoppelt, aber trotz der sechzig Kilometer sei sie abgesprungen und hätte sich den Knöchel gebrochen. Sie habe dann den Lallinger angezeigt wegen fahrlässiger Körperverletzung und Freiheitsberaubung, aber der Oberstaatsanwalt habe ihr dann später mitgeteilt, daß er das Verfahren gegen Herrn Heinrich Lallinger ein-

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gestellt habe, weil ihm kein Verschulden nachzuweisen sei, da es ja bekannt sei, daß sich junge Mädchen, die sich abends mit einem Motorrad nach Hause fahren ließen, es als selbstverständlich erachteten, daß erst zu gewissen Zwecken ein Umweg gemacht werden würde. Freiheitsberaubung liege also nicht vor, und sie sei selbst daran schuld gewesen, daß sie sich den Knöchel gebrochen hat. 39.

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Agnes hörte Schritte. Das waren müde schleppende Schritte, und bald konnte sie einen kleinen Mann erkennen, der vor ihr herging. Sie hätte ihn fast überholt und übersehen, so dunkel war es geworden. Auch der Mann hörte Schritte, blieb stehen und lauschte. Auch Agnes blieb stehen. Der Mann drehte sich langsam um und legte den Kopf bald her bald hin, als wäre er kurzsichtig. „Guten Abend“, sagte der Mann. „Guten Abend“, sagte Agnes. „Habens nur keine Angst, Fräulein“, sagte der Mann. „Ich tu Ihnen nix. Ich wohn in München und geh nach Haus.“ „Habn wir noch weit bis München?“ fragte Agnes. „Ich komm von Kochel“, sagte der Mann. „Den größten Teil hab ich hinter mir.“ „Ich komm grad von da“, sagte Agnes. „So“, sagte der Mann und schien gar nicht darüber nachzudenken, was dies „von da“ bedeuten könnte. Sie gingen wieder weiter. Es sah aus, als würde er hinken, aber er hinkte nicht, es sah eben nur so aus. „Was klappert denn da?“ fragte Agnes. „Das bin ich“, sagte der Mann und sprach plötzlich hochdeutsch. „Ich hab nämlich eine sogenannte künstliche Ferse und einen hölzernen Absatz seit dem Krieg.“ 40.

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Agnes hat es nie erfahren, daß der Mann Sebastian Krattler hieß und in der Nähe des Sendlingerberges wohnte. Er hat sich ihr weder vorgestellt, noch hat er ihr erzählt, daß er von Beruf Schuster war, daß er aber nirgends Arbeit fand und also, obwohl er bereits seit fast dreißig Jahren eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, auf die Walze gehen mußte, nachdem er noch vorher im Weltkrieg mit einer künstlichen Ferse ausgezeichnet worden ist. Auch hat er es ihr verschwiegen, daß er einen Neffen im Wallgau bei Mittenwald hatte, einen großen Bauern, bei dem er irgendeine Arbeit zu finden hoffte. Aber dieser Neffe hatte für ihn wegen seiner Kriegsauszeichnung keine Arbeit, denn die Bauern sind recht verschmitzte Leute. Aber in Tirol würden die Pfaffen eine Kirche nach der anderen bauen, und die höchstgelegenste Kirche stünde am Rande der Gletscher. Das seien lauter gottgefällige Werke, denn die Tiroler seien halt genau wie die Nichttiroler recht religiös. Oder vielleicht nur schlecht. Oder blöd. „Daß anders wird, erleb ich nimmer“, sagte der Mann.

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„Was?“ fragte Agnes. „Sie werdens vielleicht noch erlebn“, sagte der Mann und meinte noch, wenn es jetzt Tag wäre, dann könnte man schon von hier aus die Frauentürme sehen. 5

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41. Um Mitternacht erblickte Agnes eine Bank und sagte, sie wolle sich etwas setzen, weil sie kaum mehr weiter könne, und ihre Schuhe wären nun auch schon ganz zerrissen. Der Mann sagte, dann setze er sich auch, die Nächte seien ja noch warm. Sie setzten sich, und auf der Banklehne stand: „Nur für Erwachsene“. Der Mann wollte ihr gerade sagen, es wäre polizeilich verboten, daß sich Kinder auf solch eine Bank setzen oder, daß man auf solch einer Bank schläft, da schlief Agnes ein. Der Mann schlief nicht. Nicht weil es polizeilich verboten war, sondern weil er an etwas ganz anderes dachte. Er dachte einen einfachen Gedanken. „Wenn nur ein anderer einen selbst umbringen könnt“, dachte der Mann. Und Agnes träumte einen einfachen Traum: Sie fuhr in einem wunderschönen Auto durch eine wunderbare Welt. Auf dieser Welt wuchs alles von allein und ständig. Sie mußte nichts bezahlen, und alles hatte einen unaussprechlichen Namen, so einen richtig fremdländischen, es war alles anders als hier. „Hier ist es nämlich wirklich nicht schön“, meinte ein Herr. Dieser Herr hatte einen weißen Hut, einen weißen Frack und weiße Hosen, weiße Schuhe und weiße Augen. „Ich bin der Papst der Kellner“, sagte der Herr, „und ich hab in meiner Jugend im Forstenrieder Park die königlichsten Agnesse erlegt. Wir trieben sie in den Starnberger See hinein und gaben ihnen vom Kahn aus gewaltige Ohrfeigen. Eigentlich heiß ich gar nicht Harry, sondern Franz.“ Und Agnes ging durch den Wald, es war ein Ulmenwald, und unter jeder Ulme saß ein Eugen. Es waren da viele hunderte Ulmen und Eugene, und sie hatten alle die gleichen Bewegungen. „Agnes“, sprachen die Eugene, „wir haben auf dich gewartet an der Ecke der Schleißheimer Straße, aber wir hatten dort keinen Platz, wir sind nämlich zuviel. Übrigens: War der Gurkensalat wirklich so wunderbar?“ Da schwebte der große weiße Engel daher und hielt eine Gurke in der Hand. „Vor Gott ist keine Gurke unmöglich“, sagte der Engel. Der Morgenwind ging an der Bank vorbei, und der Mann sagte: „Das ist der Morgenwind.“ 42. Bevor die Sonne kommt, geht ein Schauer durch die Menschen. Nicht weil sie vielleicht Kinder der Nacht sind, sondern weil das Quecksilber vor Sonnenaufgang um einige Grade sinkt. Das hat seine atmosphärischen Ursachen und physikalischen Gesetze, aber Sebastian Krattler wollte nur festgestellt wissen, daß der Morgenwind, der immer vor der Sonne einherläuft, kühl ist. Er lief über die träumende Agnes quer durch Europa und München und natürlich auch durch die Schleißheimer Straße, an deren Ecke Eugen auf Agnes gewartet hat.

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Eugen stand bereits um zehn Minuten vor sechs an jener Ecke und wartete bis dreiviertelsieben. Bis sechs Uhr ging er ihr immer wieder etwas entgegen, ihre Schellingstraße hinab, aber ab Punkt sechs hielt er sich peinlich an die verabredete Ecke, denn er dachte, Agnes könne ja auch unerwartet aus irgendeiner anderen Richtung kommen, und dann fände sie eine Ecke ohne Eugen. Sie kam jedoch aus keiner Richtung, und zehn Minuten nach sechs sagte er sich, Frauen seien halt unpünktlich. Er war den ganzen Tag über wieder herumgelaufen und hatte trotzdem keine Arbeit gefunden. Er hatte bereits seinen Frack versetzen müssen und nahm sich vor, daß er sich heute auf dem Oberwiesenfeld anders benehmen wird als gestern. Heute wolle er die Agnes nicht körperlich begehren, sondern in Ruhe lassen und bloß mit ihr sprechen. Über irgend etwas sprechen. Er besaß noch ganze vier Mark zwanzig, und es war ihm auch bekannt, daß er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anspruch hat, und er erinnerte sich, daß er 1915 in Wolhynien einen Kalmücken sterben sah, der genau so starb wie ein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. Agnes kam noch immer nicht und, um den Kalmücken zu verscheuchen, rechnete er sich aus, wieviel Schillinge, Franken, Lire und Lei vier Mark zwanzig sind. Er hatte lange nichts mehr addiert und stellte nun resigniert fest, daß er betreffs Kopfrechnen außer Übung ist. Früher, während der Inflation, da hatte keiner so kopfrechnen können wie er. Überhaupt ging es ihm vorzüglich während der Geldentwertung, er hatte ja kein Geld und war der beliebteste Kellner in der Bar, und auch die Bardame war in ihn verliebt. Sie hieß Kitty Lechleitner, und man hätte es ihr gar nicht angesehen, daß sie Paralyse hatte, wenn sie nicht plötzlich angefangen hätte, alles, was sie von sich gab, wieder aufzuessen. Sie hatte einen grandiosen Appetit und starb in Steinhof bei Wien und war doch immer herzig und freundlich, nur pünktlich konnte sie nicht sein. 44.

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Als Agnes den Starnberger See erblickte, befürchtete Eugen, daß ihr etwas zugestoßen ist. Nämlich er hatte einst ein Rendezvous mit einer Kassierin, und während er sie erwartete, wurde sie von einem Radfahrer angefahren und zog sich eine Gehirnerschütterung zu. Er wartete ewig lange und schrieb ihr dann einen beleidigenden Brief, und erst drei Wochen hernach erfuhr er, daß die Kassierin fünf Tage lang bewußtlos war, und daß sie sehr weinte, als sie seinen beleidigenden Brief las, und daß sie den Radfahrer verfluchte. „Nur nicht ungerecht sein“, dachte Eugen und zählte bis zwanzig. Nämlich wenn Agnes bis zwanzig nicht kommen sollte, dann würde er gehen. Er zählte sechsmal bis zwanzig, und sie kam nicht. Er ging aber nicht, sondern sagte sich, daß alle Weiber unzuverlässig sind und verlogen. So verlogen, daß sie gar nicht wissen könnten, wann sie lügen. Sie würden auch lügen, nur um einem etwas Angenehmes sagen zu können. So hätte doch diese

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Agnes gestern ausdrücklich gesagt, daß sie sich auf das Oberwiesenfeld freut. Auch Agnes sei halt eine Sklavennatur, aber dafür könnten ja die Weiber nichts, denn daran wären nur die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten. Daß ihn Agnes versetzt hatte, dies fiel ihm bereits um Punkt sechs ein, doch glaubte er es erst um dreiviertelsieben. „Wenn ich ein Auto hätt“, meinte er, „dann tät mich keine versetzen, vorausgesetzt, daß sie kein Auto hätt, dann müßt ich nämlich ein Flugzeug haben.“ Aber trotzdem er sich dies sagte, wußte er gar nicht, wie recht er hatte.

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Während Harry in Feldafing den Gurkensalat bestellte, ging Eugen langsam die Schellingstraße entlang und hielt einen Augenblick vor der Auslage des Antiquariats. Er sah das „Weib vor dem Spiegel“ und dachte, gestern nacht sei er noch dagestanden, und jetzt gehe er daran vorbei. Es fiel ihm nicht auf, daß das „Weib auf dem Pantherfell“ aus der Auslage verschwunden ist. Nämlich am Nachmittag war ein Kriminaler zu der Tante gekommen und hat ihr mitgeteilt, daß sich ein Feinmechaniker aus der Schellingstraße über das „Weib auf dem Pantherfell“ sittlich entrüstet hat, weil er wegen seiner achtjährigen Tochter auf einen gewissen hochwürdigen Herrn schlecht zu sprechen wäre. Und der Kriminaler hat der Tante auseinandergesetzt, daß solche Pantherfellbilder schon gar nichts mit Kunst zu tun hätten und daß er eine Antiquariatsdurchsuchung machen müßte. Und dann hat der Kriminaler einen ganzen Koffer voller „Weiber auf dem Pantherfell“ beschlagnahmt und hat dabei fürchterlich getrenzt und sich ganz genau nach dem Kastner erkundigt. Er hat nämlich den Kastner verhaften wollen wegen gewerbsmäßiger Verbreitung unzüchtiger Darstellungen und einem fahrlässigen Falscheid. Dann ist der Kriminaler gegangen. Hierauf hat die Krumbier, damit sich die Tante beruhige, eine Geschichte von einem sadistischen Kriminaler erzählt, der sich ihr genähert hatte, als sie sechzehn Jahre alt gewesen ist. Er hatte ihr imponieren wollen und hatte ihr lauter Lustmordphotographien gezeigt. „So Kriminaler werden leicht pervers“, hat die Krumbier gesagt. Aber die Tante hat sich nicht beruhigen lassen und hat gesagt, wie die Agnes nach Hause kommt, haut sie ihr eine herunter. 46.

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Eugen ging auch an dem Hause vorbei, in dessen Atelier der Buddhist AML als Untermieter malte. Das Atelier hatte er nämlich von einem anderen Untermieter gemietet, der sich aber weigerte, des Buddhisten Untermiete dem Mieter auszuzahlen, weil er sich benachteiligt fühlte, da der Mieter bei der Abfassung des Untermietekontraktes die offizielle Miete um das Doppelte gefälscht hatte. Der Kastner beschäftigte sich gerade wieder mit einigen Fettflecken und ahnte noch nichts von jenem Kriminalen. Heute hätte ihn jeder Kriminaler auch nicht besonders erregt, denn er wußte ja nicht mehr, war er noch besoffen oder schon blöd. An der Türkenstraße hielt Eugen vor dem Fenster eines rechtschaffenen Photographen. Da hing ein Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie hatten

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ihre Sonntagskleider an, blickten ihn hinterlistig und borniert an, und alle acht waren außerordentlich häßlich. Trotzdem dachte Eugen, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie haben könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus, und das Aussterben sei doch etwas traurig, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen Anspruch auf die reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung habe. Und während Agnes ihren Gurkensalat aß, dachte er an sie. „Also sie hat mich versetzt, das Mistvieh“, dachte er. Aber er war dem Mistvieh nicht böse, denn dazu fühlte er sich zu einsam. Er ging nur langsam weiter, bis dorthin, wo die Schellingstraße anfängt, und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los, und er konnte es sich gar nicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei. Es fiel ihm nämlich ein, daß ein Blinder sagt: „Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche. Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!“

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Es wurde Nacht, und Eugen wollte nicht nach Hause, denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er müde war. Er wäre am liebsten trotz seiner letzten vier Mark zwanzig in das Schelling-Kino gegangen, wenn dort der Tom Mix aufgetreten wäre, jener Wildwestmann, dem alles gelingt. Als er den das letztemal sah, überholte er gerade zu Pferd einen Expreßzug, sprang aus dem Sattel auf die Lokomotive, befreite seine Braut aus dem Schlafwagen, wo sie gerade ein heuchlerischer Brigant vergewaltigen wollte, erlegte zehn weitere Briganten, schlug zwanzig Briganten in die Flucht und wurde an der nächsten Station von seinem treuen Pferde und einem Priester erwartet, der die Trauung sofort vollzog. Eugen liebt nämlich alle Vieher, besonders die Pferde. Wegen dieser Pferdeliebe wäre er im Krieg sogar fast vor das Kriegsgericht gekommen, weil er einem kleinen Pferdchen, dem ein Splitter zwei Hufe weggerissen hatte, den Gnadenschuß gab und durch diesen Gnadenschuß seine ganze Kompanie in ein fürchterliches Kreuzfeuer brachte. Damals fiel sogar ein Generalstabsoffizier. Im Schelling-Kino gab man keinen Tom Mix, sondern ein Gesellschaftsdrama, die Tragödie einer jungen schönen Frau. Das war eine Millionärin, die Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah, wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren ließ, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in Baden-Baden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge saß, im Karneval tanzte und den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten jungen Millionärssohn, der sie dezentsinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie denn auch im Ligurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua, und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich. Es war ein sehr tragischer Film, und er hatte nur eine lustige Episode: Die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe, und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein großes Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure groß aus. Aber der Chauffeur wußte nicht genau, wie die vornehme Welt Messer und Gabel hält, und

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die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der vornehmen Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige, und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint, und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig. 48.

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Es wurde immer später. Eugen ging über den Lenbachplatz, und vor den großen Hotels standen wunderbare Autos. In den Hotelgärten saßen lauter vornehme Menschen und ahnten nicht, daß sie aufreizend lächerlich wirken, sowie man mehrere ihrer Art beisammen sieht. Auch die Kellner waren sehr vornehm, und es war nicht das erstemal, daß Eugen seinen Beruf haßte. Er ging nun bereits seit dreiviertelsieben ununterbrochen hin und her und war voll Staub, draußen und drinnen. Er sagte sich: „Also wenn die Welt zusammenstürzt, dreißig Pfennig geb ich jetzt aus und trink ein Bier, weil ich mich auch schon gern setzen möcht.“ Die Welt stürzte nicht zusammen, und Eugen betrat ein kleines Café in der Nähe des Sendlingertorplatzes. „Heute Künstlerkonzert“ stand an der Türe, und als Eugen sich setzte, fing ein Pianist an zu spielen, denn Eugen war der einzige Gast. Es saß zwar noch eine Dame vor ihrer Limonade, aber die schien zum Café zu gehören und verschlang ein Magazin. Der Pianist spielte ein rheinisches Potpourri, und Eugen las in der „Sonntagspost“, daß es den Arbeitslosen zu gut geht, sie könnten sich ja sogar ein Glas Bier leisten. Und in der Witzecke sah er eine arbeitslose Familie, die in einem riesigen Fasse am Isarstrand wohnte, sich sonnte, badete und ihrem Radio lauschte. Die Dame mit der Limonade hatte es gar nicht gehört, daß Eugen eintrat, so sehr war sie in ihr Magazin vertieft. Sie hätte sonst aufgehorcht, weil sie eine Prostituierte war, jedoch das Magazin war zu schön. Sie las und las: Eine mehrwöchige Kreuzfahrt auf komfortabler Luxusyacht unter südlichem Himmel – wer hätte nicht davon geträumt? Wochen des absoluten Nichtstuns liegen vor Dir, sonnige Tage und helle Nächte, es gibt kein Telephon, keine Verabredung, keine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Die Begriffe „Zeit“, „Arbeit“, „Geld“ entschwinden am Horizont wie verdunstende Wölkchen. Einladende Liegestühle stehen unter dem Sonnendeck, kühle Klubsessel erwarten Dich im Rauchzimmer, Radio und Bibliothek sind zur Hand, über Deine Sicherheit beruhigen sich dreißig tüchtige Matrosen, für Dein leibliches Wohl sorgt ein erstklassiger Barmixer. Nach dem Essen wird das Grammophon aufgezogen, oder eine der Damen spielt Klavier. Du tanzt mit Phyllis oder Dorothy, oder Du spielst ein bißchen Whist, um Dich bei den älteren Damen beliebt zu machen, im Spielzimmer hast Du Gelegenheit, beim Poker oder Bakkarat zu verlieren. Oder aber Du lehnst mit einem blonden „Flapper“ an der Reling und führst Mondscheingespräche, während der Papa in einem wunderbar komfortablen Deckstuhl liegt und den Rauch seiner Henry Clay zu den Sternen hinaufbläst, gedankenvoll die nächste Transaktion überlegend. – Nichts in der Welt gibt in diesem Maße das Gefühl, dem Alltag entrückt zu sein.

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Eugen trank apathisch sein Bier und blätterte apathisch in der Zeitung. „Der Redner sprach formvollendet“, stand in der Zeitung, „Man war froh, wieder mal den Materialismus überwunden zu haben“ – Da fühlte Eugen, daß ihn ein Mensch anstarrt. Der Mensch war die Prostituierte. Sie hatte ihr Magazin ausgelesen und Eugen entdeckt. „Guten Abend, Herr Reithofer!“ sagte die Prostituierte. „Haben Sie mich denn vergessen? Ich bin doch – na Sie wissen doch, wer ich bin, Herr Reithofer!“ Er wußte es nicht, aber da sie ihn kannte, mußte er sie ja auch kennen. Sie setzte sich an seinen Tisch und sagte, das sei Zufall, daß sie sich hier getroffen haben, und über so einen Zufall könnte man einen ganzen Roman schreiben. Einen Roman mit lauter Fortsetzungen. Sie las nämlich leidenschaftlich gern. Sie hieß Margarethe Swoboda und war ein außereheliches Kind. Als sie geboren wurde, wäre sie fast gleich wieder gestorben. Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, daß damals Gott der Allgütige den Säugling Margarethe Swoboda ganz besonders geliebt haben mußte, denn er wollte ihn ja zu sich nehmen. Aber die geschickte Hebamme Frau Wohlmut aus Wiener Neustadt schlug scharf über die göttlichen Finger, die Margarethchen erwürgen wollten. „Au!“ zischte der liebe Gott und zog seine Krallen hurtig zurück, während die gottlose Hebamme meinte: „So Gott will, kommt das Wurm durch!“ Und Gott der Gerechte wurde ganz sentimental und seufzte: „Mein Gott, sind die Leut dumm! Als ob man es in einem bürgerlichen Zeitalter als außereheliches Kind gar so angenehm hätt! Na servus!“ 50.

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Ursprünglich war Margarethe Swoboda, genau wie des Kastners Mutter, Verkäuferin in einer Konditorei. In jener Konditorei verkehrten Gymnasiasten, Realschüler, Realgymnasiasten und höhere Töchter aus beschränkten Bürgerfamilien und böse alte Weiber, die Margarethe Swoboda gehässig hin und her hetzten, schikanierten und beschimpften, weil sie noch jung war. Ein Gymnasiast, der Sohn eines sparsamen Regierungsrates, verliebte sich in sie und kaufte sich jeden Nachmittag um vier Uhr für fünf Pfennig Schokolade, nur um ihren Bewegungen schüchtern folgen zu können. Dann schrieb er mal während der Geographiestunde auf dem Rande der Karte des malayischen Archipels, was er alles mit ihr tun würde, falls er den Mut fände, ihr seine Liebe zu erklären. Hierbei wurde er von einem Studienrat ertappt, der Atlas wurde beschlagnahmt und nach genauer Prüfung durch ein Kollegium von Steißpaukern unter dem Vorsitz eines klerikalen Narren für unsittlich erklärt. Er flog aus der Schule und ist auf Befehl seines Vaters, eines bürokratischen Haustyrannen, in einer Besserungsanstalt verkommen. Einmal ging er dort durch, knapp vor Weihnachten, aber der Polizeihund Cäsar von der Schmittenhöhe stellte ihn auf einem verschneiten Kartoffelacker, und dann mußte er beichten und kommunizieren, und dann verbleuten ihn drei Aufseher mit

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Lederriemen und ein blonder Katechet mit Stiftenkopf und frauenhaften Händen riß ihm fast die Ohren aus. Margarethe Swoboda hörte davon, und obzwar sie doch nichts dafür konnte, da sie ja seine Leidenschaft nie erkannt hatte, weil sie erst siebzehn Jahre alt und überhaupt geschlechtlich unterentwickelt war, fühlte sie sich dennoch schuldbewußt, als hätte sie zumindest jenen Cäsar von der Schmittenhöhe dressiert. Sie wollte fort. Raus aus der Konditorei. Sie sagte sich: „Ach, gäbs nur keine Schokolade, gäbs nur keine Gymnasiasten, es gibt halt keine Gerechtigkeit!“ Und sie kaufte sich das Buch „Stenographie durch Selbstunterricht“. Nachts, nach ihrer täglichen vierzehnstündigen Arbeitszeit, erlernte sie heimlich Gabelsbergers System. Dann bot sie sich in der meistgelesensten Zeitung Österreichs als Privatsekretärin an. Nach drei Tagen kam folgender Brief: Wertes Fräulein! Teilen Sie mir Näheres über Ihren Busen und über Ihre sonstigen Formen mit. Wenn Sie einen schönen und vor allem festen Busen haben, kann ich Ihnen sofort höchst angenehme Stellen zu durchwegs distinguierten Herren vermitteln. Auch möchte ich wissen, ob Sie einen Scherz verstehen und entsprechend zu erwidern im Stande sind. Hochachtungsvoll! Die Unterschrift war unleserlich, und darunter stand: Vermittlerin mit prima Referenzen. Briefe wolle man unter Chiffre 8472 adressieren. Diskretion Ehrensache. Dieses „Diskretion Ehrensache“ ist ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. Seit es Götter und Menschen, Kaiser und Knechte, Herren und Hörige, Beichtväter und Beichtkinder, Adelige und Bürger, Aufsichtsräte und Arbeiter, Abteilungschefs und Verkäuferinnen, Familienväter und Dienstmädchen, Generaldirektoren und Privatsekretärinnen – kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ Und seit jener Zeit, da die Herrschenden erkannt hatten, daß es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend erhebender, edler und belustigender rauben, morden und betrügen ließ – Seit also jener Gekreuzigte gepredigt hatte, daß auch das Weib eine dem Mann ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit wird allgemein herumgetuschelt: „Diskretion Ehrensache!“ Wer wagt es also, die heute herrschende Bourgeoisie anzuklagen, daß sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhabenen Selbstbetruges entblößt, indem sie schlicht die Frage stellt: „Na, was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihr einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewußtsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tut? Nein, das kann man nicht. Die Bourgeoisie ist nämlich überaus ehrlich. Sie spricht ihre Erkenntnis offen aus, daß die wahre Liebe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten Prostitution ist. Daß die Ausgebeuteten unter sich auch ohne Prostitution lieben könnten, das bezweifelt die Bourgeoisie nicht, denn sie hält die Ausgebeuteten für noch dümmer, da sie sich ja sonst nicht ausbeuten ließen. Die Bourgeoisie ist nämlich überaus intelligent. Sie hat auch erkannt, daß es selbst unter Ausbeutern nur Ausbeutung gibt. Nämlich, daß die ganze Liebe nur eine Frage der kaufmännischen Intelligenz ist.

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Kann man also die Bourgeoisie anklagen, weil sie alles auf den Besitzstandpunkt zurückführt? Nein, das kann man nicht. Und so bildete auch die Chiffre 8472 nur ein winziges Steinchen des Kolossalmosaiks in der Kuppel des kapitalistischen Venustempels. Auch Margarethe Swoboda vernahm in jener Konditorei die Stimme: „Du wirst ihnen nicht entrinnen!“ „Wieso?“ fragte Margarethe Swoboda, ließ den Brief fallen und lallte geistesabwesend vor sich hin: „Nein, das gibt es doch nicht, nein, das kann es doch nicht geben –“ Und die Stimme schloß schadenfroh: „Vielleicht, wenn du Glück hast! Wenn du Glück hast!“ 51.

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Margarethe Swoboda hatte kein Glück. Zwar stand in ihrem Horoskop, daß sie eine glückliche Hand hat, nämlich was sie auch in die Hand nähme, würde gewissermaßen zu Gold. Nur vor dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücksmonat, und was sie im April auch beginnen möge, das gelänge alles vorbei. „Da dürft ich halt überhaupt nicht leben“, meinte Margarethe Swoboda, denn sie hatte im April Geburtstag. Dies Horoskop stellte ihr die Klosettfrau des Lokals und behauptete, daß sie das Weltall genau kennt bis jenseits der Fixsterne. So hätte sie auch ihrem armen Pinscher Pepperl das Horoskop gestellt und in diesem Horoskop wäre gestanden, daß der arme Pepperl eines fürchterlichen Todes sterben wird. Und das traf ein, denn der arme Pepperl wurde von einem Bahnwärter aufgefressen, nachdem er von einem D-Zug überfahren worden war. Die Klosettfrau hieß Regina Warzmeier und war bei allen Gästen sehr beliebt. Sie wußte immer Rat und Hilfe, und alle nannten die liebe Frau „Großmama“. Die Großmama muß mal sehr hübsch gewesen sein, denn es war allen Gästen bekannt, daß sich, als sie noch ein junges Ding war, ein polnischer Graf mit ihr eingelassen hatte. Dies ist ein österreich-ungarischer Gesandtschaftsattaché gewesen, ein routinierter Erotomane und zynisches Faultier, der sich mal zufällig auf der Reise nach seinen galizischen Gütern in München aufgehalten hatte. 52. Damals war Bayern noch Königreich, und damals gab es auch noch ein ÖsterreichUngarn. Das war um 1880 herum, da hat er fast nur mit ihr getanzt, auf so einer richtigen Redoute mit Korsett und Dekolleté, und der Attaché ist mit der Großmama am nächsten Mittag in einer hohen standesgemäßen Kutsche in das Isartal gefahren, dort sind sie dann zu zweien am lauschigen Ufer entlangpromeniert. Sie haben von den blauen Bergen gesprochen und von dem, was dahinterliegt. Er hat vom sonnigen Süden erzählt, vom Vesuv und von Sizilien, von römischen Ruinen und den Wellen der Adria. Er hat ihr einen Ring aus Venedig geschenkt, ein Schlänglein mit falschen Rubinaugen und der Inschrift: „Memento!“ Und dann hat sie sich ihm gegeben auf einer Lichtung bei Höllriegelskreuth, und er hat sie sich genommen.

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Es war natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht, und Vormärz. Über die nahen Alpen wehte der Frühlingswind, und abends hing der Mond über schwarzen Teichen und dem Wald. Nach zwei Wochen blieb bei der Großmama das aus, das sie mit dreizehn Jahren derart erschreckt hatte, daß sie wimmernd zu ihrer älteren Freundin Helene gerannt war, denn sie hatte gefürchtet, nun werde sie verbluten müssen. Aber Helene hatte sie umarmt, geküßt und gesagt: „Im Gegenteil, nun bist du ein Fräulein.“ Nun aber wußte sie, daß sie bald Mutter sein wird. Sie dachte, wenn sie nur wahnsinnig werden könnte, und wollte aus dem Fenster springen. Sie biß sich alle Fingernägel ab und schrieb drei Abschiedsbriefe, einen an ihren Vater und zwei an den polnischen Geliebten. Ihr Vater war ein langsamer melancholischer Färbermeister, der unter dem Pantoffel seiner lauten herrschsüchtigen Gattin stand und alle maschinellen Neuerungen haßte, weil er weder Kapital noch Schlagfertigkeit besaß, immerhin aber genug Beobachtungsgabe, um erkennen zu können, wie er von Monat zu Monat konkurrenzunfähiger wird. Diesem schrieb die Großmama: „Mein Vater! Verzeih Deiner unsagbar gefallenen Tochter Regina.“ Und dem Attaché schrieb sie: „Warum laßt Du mich nach einem Worte von Dir verschmachten? Bist Du denn ein Schuft?“ Diesen Brief zerriß sie und begann den zweiten: „Nimmer wirst Du mich sehen, bete für meine sündige Seele. Bald blühen Blümlein auf einem frischen armen Grabe, und die verlassene Nachtigall aus dem Isartal singt von einem zerbrochenen Glück –“ Und sie beschrieb ihr eigenes Begräbnis. Sie erlebte ihre eigene Himmelfahrt. Sie sah sich selbst im Schattenreich und tat sich selbst herzlich leid. Ein heroischer Engel beugte sich über sie und sprach: „Weißt du, was das ist, ein österreichisch-ungarischer Attaché? Nein, das weißt du nicht, was das ist, ein österreich-ungarischer Attaché. Ein österreich-ungarischer Attaché verläßt keine werdende Mutter nicht, überhaupt als polnischer Graf, du kleingläubiges Geschöpf! Schließ das Fenster, es zieht!“ Sie schloß es und glaubt wieder an das verlogene Märchen vom Prinzen und dem spießbürgerlichen Bettelkind. Dabei wurde sie immer bleicher, hatte selten Appetit und erbrach sich oft heimlich. An den lieben Gott hatte sie nie so recht geglaubt, nämlich sie konnte ihn sich nicht so recht vorstellen, hingegen um so inniger an den heiligen Antonius von Padua. Und sie betete zu dem himmlischen Jüngling mit der weißen Lilie um einen baldigen Brief von ihrem irdischen Grafen. Natürlich kam keiner, denn freilich war auch auf jener Redoute nicht alles so, wie es die Großmama gerne sah. Sie ist keineswegs vor allen anderen Holden dem österreich-ungarischen Halunken aufgefallen, sondern dieser hat sich zuerst an eine Bacchantin gerieben, aber nachdem deren Kavalier etwas von Watschen sprach, war seine Begeisterung merklich abgekühlt. Aus der ersten Verlegenheit heraus tanzte er mit der Großmama, die als Mexikanerin maskiert war, und besoff sich aus Wut über den gemeinen Mann, der leider riesige Pratzen hatte. In seinem Rausche fand er die Großmama ganz possierlich und versprach ihr den Ausflug in das Isartal. Am nächsten Tage fand er sie allerdings vernichtend langweilig, und nur um nicht umsonst in das Isartal gefahren zu sein, nahm er sie. Hierbei mußte er an eine langbeinige Kokette denken, um den physischen Kontakt mit der kurzbeinigen Großmama herstellen zu können.

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Als dann im Spätherbst die Großmama an einem Sonntagvormittag auf der Treppe zusammenbrach und eine Tochter gebar, da verstießen sie ihre Eltern natürlich nach Sitte und Recht. Die Mutter gab ihr noch zwei Ohrfeigen, und der Vater schluchzte, er verstehe das ganze Schicksal überhaupt nicht, was er denn wohl nur verbrochen habe, daß gerade seine Tochter unverheiratet geschwängert worden ist. Selbst die Stammgäste hatten es nie erfahren, was aus Großmamas Töchterlein geworden ist. Die Großmama schwieg, und man munkelte allerlei. Sie hätte einen rechtschaffenen Hausbesitzer geheiratet oder sie sei eine Liliputanerin vom Oktoberfest, munkelten die einen, und die anderen munkelten, sie sei von ihren Pflegeeltern als dreijähriges Kind so geprügelt worden, daß sie erblindet ist und die Pflegemutter ein Jahr Gefängnis bekommen hat, während der Pflegevater freigesprochen worden sei, weil er ja nur zugeschaut hätte. Und wieder andere munkelten, sie wäre bloß eine einfache Prostituierte in Hamburg, genau wie die Margarethe Swoboda in München. „Sie erlauben doch, daß ich mich zu Ihnen setz“, sagte Margarethe Swoboda zu Eugen. „Das freut mich aber sehr, daß ich Sie wieder mal seh, Herr Reithofer! Seit wann sind Sie denn in München? Ich bin schon seit Mai da, aber ich fahr bald fort, ich hab nämlich gehört, in Köln soll es für mich besser sein. Dort ist doch heuer die Pressa, das ist eine große Journalistenausstellung, hier diese Heim- und Technikausstellung war für mich nichts Besonderes.“ Eugen wußte noch immer nicht, daß sie Margarethe Swoboda heißt, und er konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kennen könnte. Sie schien ihn nämlich genau zu kennen, und Eugen wollte sie nicht fragen, woher er sie kenne, denn sie freute sich sehr ihn wiederzusehen und erinnerte sich gerne an ihn. „Nicht jede Ausstellung ist gut für mich“, meinte Margarethe Swoboda. „So hab ich bei der Gesoleiausstellung in Düsseldorf gleich vier Tage lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab in meinem Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld, und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei eurer Gesoleiausstellung, und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, daß ich keine Geschäfte mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere anspreche. Da hab ich erst gemerkt, daß ich vier Tag lang in der Gsundheitsabteilung gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon, und da hab ichs freilich verstanden, daß ich vier Tag lang nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hat es mich vor mir selbst gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen, Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.“ Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Deutschen Museum in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine große vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau, und Eugen dachte: „Vielleicht verwechselt sie mich, es heißen ja auch andere Leut Reithofer, und vielleicht sieht mir so ein anderer Reithofer zum Verwechseln ähnlich.“ So wurde es immer später, und plötzlich bemerkte Eugen, daß Margarethe Swoboda schielt. Zwar nur etwas, aber es fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Krieg in Preßburg im Restaurant Klein gearbeitet hatte. Das ist ein freundlicher Mensch gewesen, ein großes Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieser Kol-

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lege geheiratet und zu Eugen gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, zwar nur etwas, aber sie hat ein guts Herz.“ Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hieß Karl Swoboda. „Als mein Mann in Montenegro fiel“, sagte Margarethe Swoboda, „da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer. Ich hab mir gedacht, ist er jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, daß Sie nicht gefallen sind. Erinnern Sie sich noch an meine Krapfen, Herr Reithofer?“ Jetzt erinnerte sich Eugen auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt, und da hatte ihm jener seine Frau vorgestellt, und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, daß die beiden Betten nicht zueinander paßten, denn das eine war weiß und das andere braun – Und nach dem Pferderennen ist der Karl Swoboda sehr melancholisch gewesen, weil er fünf Gulden verspielt hatte, und hatte traurig zu Eugen gesagt: „Glaub es mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!“ „Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reithofer“, sagte Karl Swobodas Witwe. 53.

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Als Eugen an die beiden Betten in Preßburg dachte, die nicht zueinander paßten, näherte sich ihm die Großmama. Wenn Großmama nichts zu tun hatte, stand sie am Buffet und beobachtete die Menschen. So hatte sie auch bemerkt, daß das „Gretchen“ mit Eugen sympathisierte, weil sie sich gar nicht so benahm, wie sie sich Herren gegenüber benehmen mußte. Sie sprach ja mit Eugen wie mit ihrem großen Bruder, und solch große Brüder schätzte die Großmama und setzte sich also an Eugens Tisch. Das Gretchen erzählte gerade, daß im Weltkrieg viele junge Männer gefallen sind und daß nach dem Weltkrieg sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Großmama meinte, für Offiziere sei es schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren geht. So hätten sich viele Offiziere nach dem Krieg total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte sie mal in einer großen Herrentoilette gedient, und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe für ein Faß Bier verkauft hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eierkognaks eingetauscht, und dieser Fliegeroffizier sei so versoffen gewesen, daß er statt mit „Guten Tag!“ mit „Prost!“ gegrüßt hat. Eugen meinte, der Weltkrieg habe freilich keine guten Früchte getragen, und für Offiziere wäre es freilich besser, wenn ein Krieg gewonnen würde, aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, daß wenn wir den Weltkrieg gewonnen hätten, daß er auch dann unter derselben allgemeinen wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er jetzt schon wieder mal seit zwei Monaten arbeitslos, und es bestünde schon nicht die geringste Aussicht, daß es besser werden wird. Hier mischte sich der Pianist ins Gespräch, der sich auch an den Tisch gesetzt hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, wenn Eugen kein Mann, sondern eine Frau und kein Kellner, sondern eine Schneiderin wäre, so hätte er für diese Schneiderin sofort eine Stelle. Er kenne nämlich einen großen Schneidergeschäftsinhaber in Ulm an der Donau, und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat, aber Eugen dürfte halt

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auch keine Österreicherin sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher und deshalb engagiere er nur sehr ungern Österreicher. Aber ihm zuliebe würde dieser Kommerzienrat vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch Schneiderin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen, und von diesem Kind dürfe die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett in Neu-Ulm, um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei. Er spreche perfekt deutsch, englisch, französisch, italienisch und rumänisch. Auch etwas slowakisch, tschechisch, serbisch, kroatisch und verstehe ungarisch und türkisch. Aber türkisch könne jener Kommerzienrat weder lesen noch schreiben. Der Pianist war sehr geschwätzig und wiederholte sich gerne. So debattierte er jeden Tag mit der Großmama und kannte keine Grenzen. Er erzählte ihr, daß seinerzeit jener Höhlenmensch, der als erster den ersten Ochsen an die Höhlenwand gezeichnet hatte, von allen anderen Menschen als großer Zauberer angebetet worden ist, und so müßte auch heute noch jeder Künstler angebetet werden, auch die Pianisten. Dann stritt er sich mit der Großmama, ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heißt, worauf die Großmama jeden Tag erwiderte, auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener große Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte, und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte, und sie könne es sich schon gar nicht vorstellen, wie so etwas angefangen würde, worauf der Pianist meinte, aller Anfang sei schwer, und er fügte noch hinzu, daß die Dreißigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewußtseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Großmama und dachte, der Pianist sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen. 54.

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Als der Pianist sagte, daß er für Eugen sofort eine Stelle hätte, wenn – Da dachte Eugen an Agnes. Er sagte sich, das wäre ja eine Stelle für das Mistvieh, das er gestern in der Thalkirchner Straße angesprochen und das ihn heute in der Schleißheimer Straße versetzt habe. Gestern hätte sie ihm ja erzählt, daß sie Schneiderin wäre und bereits seit fünf Monaten keine Stelle finden könnte. Heute könnte er ihr ja sofort eine Stelle verschaffen, es würde ihm vielleicht nur ein Wort kosten, als wäre er der Kaiser von China, den es zwar auch bereits nicht mehr geben würde. Gestern auf dem Oberwiesenfeld hätte er es nicht geglaubt, daß er heute versetzt wird. „Sie ist halt ein Mistvieh“, sagte er sich und fügte hinzu: „Wahrscheinlich ist auch der Pianist ein Mistvieh!“ Und Eugen warf mit den Mistviehern nur so um sich, alles und jedes wurde zum Mistvieh, die Swoboda, die Großmama, der Tisch, der Hut, das Bier und das Bierglas – wie das eben so manchmal geschieht. „Aber es ist doch schön von dem Pianistenmistvieh, daß er mir helfen möcht“, fiel es ihm plötzlich auf. „Er weiß doch gar nicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh bin. Ich bin doch auch eins, ich hab ja auch schon Mistvieher versetzt.“ „Überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen“, dachte er weiter. „Wenn sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser. Es ist doch direkt unanständig, wenn man einem Mistvieh nicht helfen tät, obwohl man könnt, bloß weil es ein Mistvieh ist.“

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Und dann fiel es ihm auch noch auf, daß es sozusagen ein angenehmes Gefühl ist, wenn man sich gewissermaßen selbst bestätigen kann, daß man einem Mistvieh geholfen hat. Ungefähr so: 5

Zeugnis. Ich bestätige gerne, daß das Mistvieh Eugen Reithofer ein hilfsbereites Mistvieh ist. Es ist ein liebes gutes braves Mistvieh. Eugen Reithofer Mistvieh.

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„Sagen Sie, Herr Pianist“, wandte sich Eugen an das hilfsbereite Mistvieh, „ich kann ja jetzt leider nicht weiblich werden, aber ich weiß ein Mädel für Ihren Kommerzienrat in Ulm. Sie ist eine vorzügliche Schneiderin, und Sie täten mir persönlich einen sehr großen Gefallen, Herr Pianist“, betonte er, und das war natürlich gelogen. Der Pianist sagte, das wäre gar nicht der Rede wert, denn das kostete ihm nur einen Telephonanruf, da sich jener Kommerzienrat zufällig seit gestern in München befände, und er könne ihn sofort im Hotel Deutscher Kaiser anrufen – Und schon eilte der hilfsbereite Pianist ans Telephon. „Also das ist ein rührendes Mistvieh“, dachte Eugen, und Margarethe Swoboda sagte: „Das ist ein seltener Mensch und ein noch seltenerer Künstler.“ Und die Großmama sagte: „Er lügt.“ Aber ausnahmsweise täuschte sich die Großmama, denn nach wenigen Minuten erschien der Pianist, als hätte er den Weltkrieg gewonnen. Der Kommerzienrat war keine Lüge und seine wunderbaren Beziehungen waren nur insofern übertrieben, daß es nicht stimmte, daß sich seine Tochter in Neu-Ulm lediglich der Erziehung ihres kommerzienrätlichen Kindes widmen kann, sondern sie mußte als Schneiderin weiterarbeiten und erhielt nur ein kleines kommerzienrätliches Taschengeld. Der Pianist konnte sich vor lauter Siegesrausch nicht sofort wieder setzen, er ging also um den Tisch herum und setzte Eugen auseinander, Agnes könne die Stelle sofort antreten, jedoch müßte sie morgen früh Punkt sieben Uhr dreißig im Hotel Deutscher Kaiser sein. Dort solle sie nur nach dem Herrn Kommerzienrat aus Ulm fragen, und der nimmt sie dann gleich mit, er fährt nämlich um acht Uhr wieder nach Ulm. Eugen fragte ihn, wie er ihm danken sollte, aber der Pianist lächelte nur: Vielleicht würde mal Eugen ihm eine Stelle verschaffen, wenn er kein Pianist wäre, sondern eine Schneiderin. Eugen wollte wenigstens das Telephongespräch bezahlen, aber selbst dies ließ er nicht zu. „Man telephoniert doch gern mal für einen Menschen“, sagte er. Selbst die Großmama war gerührt, aber am meisten war es der brave Pianist. 56.

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So kam es, daß am nächsten Morgen Eugen bereits um sechs Uhr durch die Schellingstraße ging, damit er sich mit seiner Hilfe nicht verspätet, auf daß er sich ein gutes Zeugnis ausstellen kann.

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Er wollte gerade bei der Tante im vierten Stock läuten, da sah er Agnes über die Schellingstraße gehen. Sie kam von ihrer Bank für Erwachsene und war zerknüllt und elend, und Eugen dachte: „Schau, schau, bis heut morgen hat mich das Mistvieh versetzt!“ Die Sonne schien in der Schellingstraße, und der Morgenwind überschritt bereits den Ural, als Agnes über Eugen erschrak. Doch er fragte sie nicht, woher sie komme, was sie getan und warum sie ihr Wort gebrochen und ihn versetzt hätte, sondern er teilte ihr lediglich mit, daß er für sie eine Stelle fand, daß sie schon heute früh zu einem richtigen Kommerzienrat gehen muß, der sie dann noch heute früh nach Ulm an der Donau mitnehmen würde. Sie starrte ihn an und sagte, er solle sich doch eine andere Agnes aussuchen für seine blöden Witze, und sie bitte sich diese Frotzelei aus und überhaupt diesen ganzen Hohn – Aber er lächelte nur, denn das Mistvieh tat ihm plötzlich leid, weil es ihm den Kommerzienrat nicht glauben konnte. Das Mistvieh murmelte noch etwas von Roheit, und dann weinte es. Er solle es doch in Ruhe und Frieden lassen, weinte das Mistvieh, es sei ja ganz kaputt, und auch die Schuhe seien nun ganz kaputt. Eugen schwieg, und plötzlich sagte das Mistvieh, das könne es ja gar nicht geben, daß ihr ein Mensch eine Stelle verschafft, nachdem sie den Menschen versetzt hätte. Dann schwieg auch das Mistvieh. Und dann sagte es: „Ich hätt wirklich nicht gedacht, daß Sie extra wegen mir herkommen, Herr Reithofer.“ „Wissens, Fräulein Pollinger“, meinte der Herr Reithofer, „es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, aber man hat es noch nicht ganz heraus, was das eigentlich ist. Ich hab halt von einer Stelle gehört und bin jetzt da. Es ist nur gut, wenn man weiß, wo ein Mensch wohnt.“ 57.

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Und jetzt ist die Geschichte aus.

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Der ewige Spießer Erbaulicher Roman in drei Teilen von Ödön Horváth 5

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Der Spießer ist bekanntlich ein hypochondrischer Egoist, und so trachtet er danach, sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet. Wenn ich mich nicht irre, hat es sich allmählich herumgesprochen, daß wir ausgerechnet zwischen zwei Zeitaltern leben. Auch der alte Typ des Spießers ist es nicht mehr wert, lächerlich gemacht zu werden; wer ihn heute noch verhöhnt, ist bestenfalls ein Spießer der Zukunft. Ich sage „Zukunft“, denn der neue Typ des Spießers ist erst im Werden, er hat sich noch nicht herauskristallisiert. Es soll nun versucht werden, in Form eines Romans einige Beiträge zur Biologie dieses werdenden Spießers zu liefern. Der Verfasser wagt natürlich nicht zu hoffen, daß er durch diese Seiten ein gesetzmäßiges Weltgeschehen beeinflussen könnte, jedoch immerhin.

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Erster Teil Herr Kobler wird Paneuropäer

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„Denn solang du dies nicht hast, Dieses ‚Stirb und werde!’ Bist du noch ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.“

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Mitte September 1929 verdiente Herr Alfons Kobler aus der Schellingstraße sechshundert Reichsmark. Es gibt viele Leut, die sich soviel Geld gar nicht vorstellen können. Auch Herr Kobler hatte noch niemals soviel Geld so ganz auf einmal verdient, aber diesmal war ihm das Glück hold. Es zwinkerte ihm zu, und Herr Kobler hatte plötzlich einen elastischeren Gang. An der Ecke der Schellingstraße kaufte er sich bei der guten alten Frau Stanzinger eine Schachtel Achtpfennigzigaretten, direkt aus Mazedonien. Er liebte nämlich dieselben sehr, weil sie so überaus mild und aromatisch waren. „Jessas Mariandjosef!“ schrie die brave Frau Stanzinger, die, seitdem ihr Fräulein Schwester gestorben war, einsam zwischen ihren Tabakwaren und Rauchutensilien saß und aussah, als würde sie jeden Tag um ein Stückchen kleiner werden – „Seit wann rauchens denn welche zu acht, Herr Kobler? Wo habens denn das viele Geld her? Habens denn wen umbracht oder haben Sie sich gar mit der Frau Hofopernsänger wieder versöhnt?“ „Nein“, sagte der Herr Kobler. „Ich hab bloß endlich den Karren verkauft.“ Dieser Karren war ein ausgeleierter Sechszylinder, ein Kabriolett mit Notsitz. Es hatte bereits vierundachtzigtausend Kilometer hinter sich, drei Dutzend Pannen und zwei lebensgefährliche Verletzungen. Ein Greis. Trotzdem fand Kobler einen Käufer. Das war ein Käsehändler aus Rosenheim, namens Portschinger, ein begeisterungsfähiger großer dicker Mensch. Der hatte bereits Mitte August dreihundert Reichsmark angezahlt und hatte ihm sein Ehrenwort gegeben, jenen Greis spätestens Mitte September abzuholen und dann auch die restlichen sechshundert Reichsmark sofort in bar mitzubringen. So sehr war er über diesen außerordentlich billigen Gelegenheitskauf Feuer und Flamme. Und drum hielt er auch sein Ehrenwort. Pünktlich erschien er Mitte September in der Schellingstraße und meldete sich bei Kobler. In seiner Gesellschaft befand sich sein Freund Adam Mauerer, den er sich aus Rosenheim extra mitgebracht hatte, da er ihn als Sachverständigen achtete, weil dieser Adam bereits seit 1925 ein steuerfreies Leichtmotorrad besaß. Der Herr Portschinger hatte nämlich erst seit vorgestern einen Führerschein, und weil er überhaupt kein eingebildeter Mensch war, war er sich auch jetzt darüber klar, daß er noch lange nicht genügend hinter die Geheimnisse des Motors gekommen war. Der Sachverständige besah sich das Kabriolett ganz genau und war dann auch schlechthin begeistert. „Das ist ein Notsitz!“ rief er. „Ein wunderbarer Notsitz! Ein gepolsterter Notsitz! Der absolute Notsitz! Kaufs, du Rindvieh!“ Das Rindvieh

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kaufte es auch sogleich, als wären die restlichen sechshundert Reichsmark Lappalien, und während der Kobler die Scheine auf ihre Echtheit prüfte, verabschiedete es sich von ihm: „Alsdann Herr Kobler, wanns mal nach Rosenheim kommen, besuchens mich mal. Meine Frau wird sich freuen, Sie müssen ihr nachher auch die Geschicht von dem Prälatn erzählen, der wo mit die jungen Madln herumgestreunt is wie ein läufiges Nachtkastl. Meine Frau is nämlich noch liberaler als ich. Heil!“ Hierauf nahmen die beiden Rosenheimer Herren im Kabriolett Platz und fuhren beglückt nach Rosenheim zurück, das heißt: Sie hatten dies vor. „Der Karren hat an schönen Gang“, meinte der Sachverständige. Sie fuhren über den Bahnhofsplatz. „Es is scho schöner so im eignen Kabriolett als auf der stinkerten Bahn“, meinte der Herr Portschinger. Er strengte sich nicht mehr an, hochdeutsch zu sprechen, denn er war sehr befriedigt. Sie fuhren über den Marienplatz. „Schließen Sie doch den Auspuff!“ brüllte sie ein Schutzmann an. „Is ja scho zu!“ brüllte der Herr Portschinger, und der Sachverständige fügte noch hinzu: Das Kabriolett hätte halt schon eine sehr schöne Aussprache, und nur kein Neid. Nach fünf Kilometern hatten sie die erste Panne. Sie mußten das linke Vorderrad wechseln. „Das kommt beim besten Kabriolett vor“, meinte der Sachverständige. Nach einer weiteren Stunde fing der Ventilator an zu zwitschern wie eine Lerche, und knapp vor Rosenheim überschlug sich das Kabriolett infolge Achsenbruchs, nachdem kurz vorher sämtliche Bremsen versagt hatten. Die beiden Herren flogen in hohem Bogen heraus, blieben aber wie durch ein sogenanntes Wunder unverletzt, während das Kabriolett einen dampfenden Trümmerhaufen bildete. „Es is bloß gut, daß uns nix passiert is“, meinte der Sachverständige. Der Portschinger aber lief wütend zum nächsten Rechtsanwalt, jedoch der Rechtsanwalt zuckte nur mit den Schultern. „Der Kauf geht in Ordnung“, sagte er. „Sie hätten eben vor Abschluß genauere Informationen über die Leistungsfähigkeit des Kabrioletts einholen müssen. Beruhigen Sie sich, Herr Portschinger, Sie sind eben betrogen worden, da kann man nichts machen!“ 2

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Seinerzeit, als dieser Karren noch fabrikneu war, hatte ihn sich jene Hofopernsängerin gekauft, die wo die Frau Stanzinger in Verdacht hatte, daß sie den Herrn Kobler aushält. Aber das stimmte nicht in dieser Form. Zwar hatte sie den Kobler gleich auf den ersten Blick recht liebgewonnen; dies ist in der Firma „Gebrüder Bär“ geschehen, also in eben jenem Laden, wo sie sich den fabrikneuen Karren gekauft hatte. Der Kobler ging dann bei ihr ein und aus, von Anfang Oktober bis Ende August, aber dieses ganze Verhältnis war in pekuniärer Hinsicht direkt platonisch. Er aß, trank und badete bei ihr, aber niemals hätte er auch nur eine Mark von ihr angenommen. Sie hätte ihm so was auch niemals angeboten, denn sie war eine feine gebildete Dame, eine ehemalige Hofopernsängerin, die seit dem Umsturz nur mehr in Wohltätigkeitskonzerten sang. Sie konnte sich all diese Wohltäterei ungeniert leisten, denn sie nannte u.a. eine schöne Villa mit parkähnlichem Vorgarten ihr eigen, aber sie würdigte es nicht, zehn Zimmer allein bewohnen zu können, denn oft in der Nacht fürchtete sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten, einem dänischen Honorarkonsul. Der hatte knapp vor dem Weltkrieg mit seinem vereiterten Blinddarm an die Him-

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melspforte geklopft und hatte ihr all sein Geld hinterlassen, und das ist sehr viel gewesen. Sie hatte ehrlich um ihn getrauert, und erst 1918, als beginnende Vierzigerin, hatte sie wieder mal Sehnsucht nach irgendeinem Mannsbild empfunden. Und 1927 blickte sie auf ein halbes Jahrhundert zurück. Der Kobler hingegen befand sich 1929 erst im siebenundzwanzigsten Lenze und war weder auffallend gebildet noch besonders fein. Auch ist er immer schon ziemlich ungeduldig gewesen – drum hielt er es auch bei „Gebrüder Bär“ nur knapp den Winter über aus, obwohl der eine Bär immer wieder sagte: „Sie sind ein tüchtiger Verkäufer, lieber Kobler!“ Er verstand ja auch was vom Autogeschäft, aber er hatte so seine Schrullen, die ihm auf die Dauer der andere Bär nicht verzeihen konnte. So unternahm er u.a. häufig ausgedehnte Probefahrten mit Damen, die er sich im geheimen extra dazu hinbestellt hatte. Diese Damen traten dann vor den beiden Bären ungemein selbstsicher auf, so ungefähr, als könnten sie sich aus purer Laune einen ganzen Autobus kaufen. Einmal jedoch erkannte der andere Bär in einer solchen Dame eine Prostituierte, und als dann gegen Abend der Herr Kobler zufrieden von seiner Probefahrt zurückfuhr, erwartete ihn dieser Bär bereits auf der Straße vor dem Laden, riß die Tür auf und roch in die Limousine hinein. „Sie machen da sonderbare Probefahrten, lieber Kobler“, sagte er maliziös. Und der liebe Kobler mußte sich dann wohl oder übel selbständig machen. Zwar konnte er sich natürlich keinen Laden mieten und betrieb infolgedessen den Kraftfahrzeughandel in bescheidenen Grenzen, aber er war halt sein eigener Herr. Er hatte jedoch diese höhere soziale Stufe nur erklimmen können, weil er mit jener Hofopernsängerin befreundet war. Darüber ärgerte er sich manchmal sehr. Recht lange währte ja diese Freundschaft nicht. Sie zerbrach Ende August aus zwei Gründen. Die Hofopernsängerin fing plötzlich an, widerlich rasch zu altern. Dies war der eine Grund. Aber der ausschlaggebende Grund war eine geschäftliche Differenz. Nämlich die Hofopernsängerin ersuchte den Kobler, ihr kaputtes Kabriolett mit Notsitz möglichst günstig an den Mann zu bringen. Als nun Kobler von dem Herrn Portschinger die ersten dreihundert Reichsmark erhielt, lieferte er der Hofopernsängerin in einer ungezogenen Weise lediglich fünfzig Reichsmark ab, worüber die sich derart aufregte, daß sie ihn sogar anzeigen wollte. Sie unterließ dies aber aus Angst, ihr Name könnte in die Zeitungen geraten, denn dies hätte sie sich nicht leisten dürfen, da sie mit der Frau eines Ministerialrats aus dem Kultusministerium, die sich einbildete singen zu können, befreundet war. Also schrieb sie ihrem Kobler lediglich, daß sie ihn für einen glatten Schurken halte, daß er eine Enttäuschung für sie bedeute und daß sie mit einem derartigen Subjekt als Menschen nichts mehr zu tun haben wolle. Und dann schrieb sie ihm einen zweiten Brief, in dem sie ihm auseinandersetzte, daß man eine Liebe nicht so einfach zerreißen könne wie ein Seidenpapier, denn als Weib bleibe doch immer ein kleines Etwas unauslöschlich in einem drinnen stecken. Der Kobler sagte sich: „Ich bin doch ein guter Mensch“, und telephonierte mit ihr. Sie trafen sich dann zum Abendessen draußen im Ausstellungsrestaurant. „Peter“, sagte die Hofopernsängerin. Sonst sagte sie die erste Viertelstunde über nichts. Kobler hieß zwar nicht Peter, sondern Alfons, aber „Peter klingt besser“ hatte die Hofopernsängerin immer schon konstatiert. Auch ihm selbst gefiel es besser, besonders wenn es die Hofopernsängerin aussprach, dann konnte man nämlich direkt meinen, man sei zumindest in Chikago. Für Amerika schwärmte er zwar nicht, aber er achtete es. „Das sind Kofmichs!“ pflegte er zu sagen.

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Die Musik spielte sehr zart im Ausstellungsrestaurant und die Hofopernsängerin wurde wieder ganz weich. „Ich will dir alles verzeihen, Darling, behalt nur getrost mein ganzes Kabriolett“, so ungefähr lächelte sie ihm zu. Der Darling aber dachte: „Jetzt fällts mir erst auf, wie alt daß die schon ist.“ Er brachte sie dann nach Haus, ging aber nicht mit hinauf. Die Hofopernsängerin warf sich auf das Sofa und stöhnte: „Ich möcht mein Kabriolett zurück!“, und plötzlich fühlte sie, daß ihr verstorbener Gatte hinter ihr steht. „Schau mich nicht so an!“ brüllte sie. „Pardon! Du hast Krampfadern“, sagte der ehemalige Honorarkonsul und zog sich zurück in die Ewigkeit.

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An der übernächsten Ecke der Schellingstraße wohnte Kobler möbliert im zweiten Stock links bei einer gewissen Frau Perzl, einer Wienerin, die zur Generation der Hofopernsängerin gehörte. Auch sie war Witwe, aber ansonsten konnte man sie schon in gar keiner Weise mit jener vergleichen. Nie kam es unter anderem vor, daß sie sich vor ihrem verstorbenen Gatten gefürchtet hätte, nur ab und zu träumte sie von Ringkämpfern. So hat sich mal solch ein Ringkämpfer vor ihr verbeugt, der hat dem Kobler sehr ähnlich gesehen und hat gesagt: „Es ist gerade 1904. Bitte, halt mir den Daumen, Josephin! Ich will jetzt auf der Stelle Weltmeister werden, du Hur!“ Sie sympathisierte mit dem Kobler, denn sie liebte unter anderem sein angenehmes Organ so sehr, daß er ihr die Miete auch vierzehn Tage und länger schuldig bleiben konnte. Besonders seine Kragenpartie, wenn er ihr den Rücken zuwandte, erregte ihr Gefallen. Oft klagte sie über Schmerzen. Der Arzt sagte, sie hätte einen Hexenschuß, und ein anderer Arzt sagte, sie hätte eine Wanderniere, und ein dritter Arzt sagte, sie müsse sich vor ihrer eigenen Verdauung hüten. Was ein vierter Arzt sagte, das sagte sie niemandem. Sie ging gern zu den Ärzten, zu den groben und zu den artigen. Auch ihr Seliger ist ja Mediziner gewesen, ein Frauenarzt in Wien. Er stammte aus einer angesehenen, leichtverblödeten, christlichsozialen Familie und hatte sich im Laufe der Vorkriegsjahre sechs Häuser zusammengeerbt. Eines stand in Prag. Sie hingegen hatte bloß den dritten Teil einer Windmühle bei Brescia in Oberitalien mit in die Ehe gebracht, aber das hatte er ihr nur ein einziges Mal vorgeworfen. Ihre Großmutter war eine gebürtige Mailänderin gewesen. Der Doktor Perzl ist Anno Domini 1907 ein Opfer seines Berufes geworden. Er hatte sich mit der Leiche einer seiner Patientinnen infiziert. Wie er die nämlich auseinandergeschnitten hatte, um herauszubekommen, was ihr eigentlich gefehlt hätte, hatte er sich selbst einen tiefen Schnitt beigebracht, so unvorsichtig hat er mit dem Seziermesser herumhantiert, weil er halt wieder mal besoffen gewesen ist. Es hat allgemein geheißen, wenn er kein Quartalssäufer gewesen wär, so hätt er eine glänzende Zukunft gehabt. Ferdinand Perzl, das einzige Kind, hatte die Kadettenschule absolvieren müssen, weil er als Gymnasiast nichts Vernünftiges hatte werden wollen. Er ist dann ein k. u. k. Oberleutnant geworden, und es ist ihm auch gelungen, den Weltkrieg in der Etappe zu verhuren. Aber nachdem Österreich-Ungarn alles verspielt und auch er selbst allmählich alles, was er erben sollte, die sechs Häuser und das Drittel der Windmühle, verloren hatte, ist er in sich gegangen und hat nicht mehr herumgehurt, sondern hat bloß zähneknirschend und mit der Faust in der Tasche zugeschaut, wie dies die

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Valutastarken taten. Er ist in ein Kontor gekommen und hatte seine liederliche Haltung während des großen Völkerringens in seinen Augen ausradiert, ist Antisemit geworden und hat die Kontoristin Frieda Klovac geheiratet, eine Blondine mit zwei linke Füß. Solch kleine Abnormitäten konnten ihn seit seiner Etappenzeit ganz wehmütig stimmen. Über diese Heiraterei hatte sich jedoch seine Mutter sehr aufgeregt, denn sie hatte ja immer schon gehofft, daß der Nandl mal ein anständiges Mädl aus einem schwerreichen Hause heiraten würde. Eine Angestellte war in ihren Augen keine ganz einwandfreie Persönlichkeit, besonders als Schwiegertochter nicht. Sie titulierte sie also nie anders als „das Mensch“, „die Sau“, „das Mistvieh“ und dergleichen. Und je ärmer sie wurde, um so stärker betonte sie ihre gesellschaftliche Herkunft, mit anderen Worten: Je härter sie ihre materielle Niederlage empfand, um so bewußter wurde sie ihrer ideellen Überlegenheit. Diese ideelle Überlegenheit bestand vor allem aus Unwissenheit und aus der natürlichen Beschränktheit des mittleren Bürgertums. Wie alle ihresgleichen haßte sie nicht die uniformierten und zivilen Verbrecher, die sie durch Krieg, Inflation, Deflation und Stabilisierung begaunert hatten, sondern ausschließlich das Proletariat, weil sie ahnte, ohne sich darüber klarwerden zu wollen, daß dieser Klasse die Zukunft gehört. Sie wurde neidisch, leugnete es aber ab. Sie fühlte sich zutiefst gekränkt und in ihren heiligsten Gefühlen verletzt, wenn sie sah, daß sich ein Arbeiter ein Glas Bier leisten konnte. Sie wurde schon rabiat, wenn sie nur einen demokratischen Leitartikel las. Es war kaum mit ihr auszuhalten am 1. Mai. Nur einmal hatte sie acht Jahre lang einen Hausfreund, einen Zeichenlehrer von der Oberrealschule im achten Bezirk. Der ist immer schon etwas nervös gewesen und hat immer schon so seltsame Aussprüche getan, wie: „Na, wer ist denn schon der Tizian? Ein Katzlmacher!“ Endlich wurde er eines Tages korrekt verrückt, so wie sichs gehört. Das begann mit einem übertriebenen Reinlichkeitsbedürfnis. Er rasierte sich den ganzen Körper, schnitt sich peinlich die Härchen aus den Nasenlöchern und zog sich täglich zehnmal um, obwohl er nur einen Anzug besaß. Später trug er dann auch beständig ein Staubtuch mit sich herum und staubte alles ab, die Kandelaber, das Pflaster, die Trambahn, den Sockel des Maria-Theresia-Denkmals – und zum Schluß wollte er partout die Luft abstauben. Dann wars aus. 4

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Doch lassen wir nun diese historisch-soziologischen Skizzen und kehren wir zurück in die Gegenwart, und zwar in die Schellingstraße. Knapp zehn Minuten bevor der Kobler nach Hause kam, läutete ein gewisser Graf Blanquez bei der Frau Perzl. Er sagte ihr, er wolle in Koblers Zimmer auf seinen Freund Kobler warten. Dieser Graf Blanquez war eine elegante Erscheinung und eine verpatzte Persönlichkeit. Seine Ahnen waren Hugenotten, er selbst wurde im Bayerischen Wald geboren. Erzogen wurde er teils von Piaristen, teils von einem homosexuellen Stabsarzt in einem der verzweifelten Kriegsgefangenenlager Sibiriens. Mit seiner Familie vertrug er sich nicht, weil er vierzehn Geschwister hatte. Trotzdem schien er meist guter Laune zu sein, ein großer Junge, ein treuer Gefährte, jedoch leider ohne Hemmungen. Er liebte Musik, ging aber nie in die Oper, weil ihn jede Oper an die Hugenotten erinnere, und wenn er an die Hugenotten dachte, wurde er melancholisch.

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Die Perzl ließ ihn ziemlich unfreundlich hinein, denn er war ihr nicht gerade sympathisch, da sie ihn im Verdacht hatte, daß er sich nur für junge Mädchen interessiert. „Wo hat der nur seine eleganten Krawatten her?“ überlegte sie mißtrauisch und beobachtete ihn durchs Schlüsselloch. Sie sah, wie er sich aufs Sofa setzte und in der Nase bohrte, das Herausgeholte aufmerksam betrachtete und es dann gelangweilt an die Tischkante schmierte. Dann starrte er Koblers Bett an und lächelte zynisch. Hierauf kramte er in Koblers Schubladen, durchflog dessen Korrespondenz und ärgerte sich, daß er nirgends Zigaretten fand, worauf er sich aus Koblers Schrank ein Taschentuch nahm und sich vor dem Spiegel seine Mitesser ausdrückte. Er war eben, wie bereits gesagt, leider hemmungslos. Er kämmte sich gerade mit Koblers Kamm, als dieser die Perzl am Schlüsselloch überraschte. „Der Herr Graf sind da“, flüsterte sie. „Aber ich an Ihrer Stell würd ihm das schon verbieten. Denken Sie sich nur, kommt er da gestern nicht herauf mit einem Mensch, legt sich einfach in Ihr Bett damit, gebraucht Ihr Handtuch und ist wieder weg damit! Das geht doch entschieden zu weit, ich tät das dem Herrn Grafen mal sagen!“ „Das ist gar nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen“, meinte Kobler. „Der Graf ist nämlich leicht gekränkt, er könnt das leicht falsch auffassen, und ich muß mich mit ihm vertragen, weil ich oft geschäftlich mit ihm zusammenarbeiten muß. An dem Handtuch ist mir zwar heut schon etwas aufgefallen, wie ich mir das Gesicht abgewischt hab, aber eine Hand wäscht halt die andere.“ Die Perzl zog sich gekränkt in ihre Küche zurück und murmelte was Ungünstiges über die heutigen Kavaliere. Als der Graf den Kobler erblickte, gurgelte er gerade mit dessen Mundwasser und ließ sich nicht stören. „Ah, Servus!“ rief er ihm zu. „Verzeih, aber ich hab grad so einen miserablen Geschmack im Mund. Apropos: Ich weiß schon, du hast den Karren verkauft. Man gratuliert!“ „Danke“, sagte Kobler kleinlaut und wartete verärgert, daß man ihn anpumpt. „Woher weiß denn das schon jeder Gauner, daß ich den Portschinger betrogen hab?“ fragte er sich verzweifelt. Er überlegte: „Pump mich nur an, aber dann schlag ich dir auf dein unappetitliches Maul!“ Aber es kam ganz im Gegenteil. Der Graf legte mit einer chevaleresken Geste zehn Reichsmark auf den Tisch. „Mit vielem Dank zurück“, lächelte er verbindlich und gurgelte weiter, als wäre nichts Besonderes passiert. „Du hast es, scheints, vergessen“, bemerkte er dann noch so nebenbei, „daß du mir mal zehn Mark geliehen hast.“ Was für ein Tag! dachte Kobler. „Ich kann es dir heut leicht zurückzahlen“, fuhr der Graf fort, „weil ich heut nacht eine Erbschaft machen werd. Mein Großonkel, der um zehn Monate jünger ist als ich, liegt nämlich im Sterben. Er hat den Krebs. Der Ärmste leidet fürchterlich, Krebs ist bekanntlich unheilbar, wir wissen ja noch gar nicht, ob das ein Bazillus ist oder eine Wucherung. Er wird die Nacht nicht überleben, das steht fest. Wie er von seinem Leiden erlöst ist, fahr ich nach Zoppot. Nein, nicht durch Polen, oben rum.“ „Gehört Zoppot noch zu Deutschland?“ erkundigte sich Kobler. „Nein, Zoppot liegt im Freistaat Danzig, der direkt dem Völkerbund untergeordnet ist“, belehrte ihn der Graf. „Übrigens, wenn ich du wär, würd ich jetzt auch wegfahren, du kannst deine Sechshundert gar nicht besser anlegen. Wenn du mir folgst,

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fährst du einfach auf zehn Tag in ein Luxushotel, lernst dort eine reiche Frau kennen, und alles Weitere wird sich dann sehr leger abspielen, du hast ja ein gutes Auftreten. Du kannst für dein ganzes Leben die märchenhaftesten Verbindungen bekommen, garantiert! Du kennst doch den langen Kammerlocher, der wo früher bei den Ulanen war, den Kadettaspiranten, der wo in der Maxim-Bar die Zech geprellt hat? Der ist mit ganzen zweihundert Schilling nach Meran gefahren, hat sich dort in ein Luxushotel einlogiert, hat noch am gleichen Abend eine Ägypterin mit a paar Pyramiden zum Boston engagiert, hat mit ihr geflirtet und hat sie dann heiraten müssen, weil er sie kompromittiert hat. Jetzt gehört ihm halb Ägypten. Und was hat er gehabt? Nix hat er gehabt. Und was ist er gewesen? Pervers ist er gewesen! Lange Seidenstrümpf hat er sich angezogen und hat seine Haxen im Spiegel betrachtet. Ein Narziß!“ „Das muß ich mir noch durch den Kopf gehen lassen, wie ich am besten mein Geld ausgib“, meinte Kobler nachdenklich. „Ich bin kein Narziß“, fügte er hinzu. Die langen Haxen des Kammerlocher, das Luxushotel und die Pyramiden hatten ihn etwas verwirrt. Mechanisch bot er dem Grafen eine Achtpfennigzigarette an. „Das sind Mazedonier“, sage der Graf. „Ich nehm mir gleich zwei.“ Sie rauchten. „Ich fahr bestimmt nach Zoppot“, wiederholte der Graf. Es schlug elf. „Es ist schon zwölf“, sagte der Graf, denn er war sehr verlogen. Dann wurde er plötzlich nervös. „Also ich fahr nach Zoppot“, wiederholte er sich abermals. „Ich werd dort spielen, ich hab nämlich ein Spielsystem, das basiert auf den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Du setzt immer auf die Zahl, die am wahrscheinlichsten herauskommt. Du mußt wahrscheinlich gewinnen. Das ist sehr wahrscheinlich. Apropos wahrscheinlich: Gib mir doch deine zehn Mark wieder retour, es ist mir gerade eingefallen, daß ich sie dir lieber morgen retour gib. Ich krieg sonst meine Wäsche nicht raus. Ich hab mir schon zuvor ein Taschentuch von dir borgen müssen.“ 5

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Kobler rasierte sich gerade, und die Perzl brachte ihm das neue Handtuch. „Ende gut, alles gut“, triumphierte sie. „Ich bin Ihnen direkt dankbar, daß Sie diesen Grafen endlich energisch hinauskomplimentiert habn! Ich freu mich wirklich sehr, daß ich den Strizzi nimmer zu sehn brauch!“ „Halts Maul, Perzl!“ dachte Kobler und setzte ihr spitz auseinander, daß sie den Grafen total verkenne, man müsse es ihm nur manchmal sagen, daß er ein unmöglicher Mensch sei, sonst würd er sich ja mit sich selber nicht mehr auskennen. Im Moment sei er freilich gekränkt, aber hernach danke er einem dafür. – „So und jetzt bringens mir etwas heißes Wasser!“ sagte er und schien keinen Widerspruch zu dulden. Sie brachte es ihm, setzte sich dann auf den kleinsten Stuhl und sah ihm aufmerksam zu. Sich rasierenden Männern hatte sie schon immer vieles verzeihen müssen. Das lag so in ihrem Naturell. Er hingegen beachtete sie kaum, da er es schon gar nicht mochte, daß sie mit ihrem Rüssel in seinem Privatleben herumwühlte. „Also einen Großonkel hab ich nie gehabt“, ließ sie sich schüchtern wieder vernehmen, „aber wie mein Stiefbruder gestorben ist . . .“ Kobler unterbrach sie ungeduldig: „Also das mit dem sterbenden Großonkel war doch nur Stimmungsmache, damit ich ihm leichter was leih! Der Graf ist nämlich sehr raffiniert. Er ist aber auch sehr vergeßlich; bedenken Sie, daß er im Krieg verschüttet war. Er ist doch nicht

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mehr der Jüngste. Heutzutag muß man über Leichen gehen, wenn man was erreichen will. Ich geh aber nicht über Leichen, weil ich nicht kann. So und jetzt bringens mir etwas kaltes Wasser!“ Sie brachte ihm auch das kalte Wasser und betrachtete treuherzig seinen Rücken. „Darf man ein offenes Wort sagen, Herr Kobler?“ – Kobler stutzte und fixierte sich selbst im Spiegel. „Offen?“ überlegte er. „Offen? Aber dann kündig ich zum ersten Oktober!“ Langsam wandte er sich ihr zu. „Bitte!“ sagte er offiziell. „Sie wissens ja jetzt, wie hoch ich den Herrn Grafen einschätz, aber trotzdem hat er vorhin in einem Punkt recht gehabt, nämlich was das Reisen betrifft. Wenn ich jetzt Ihr Geld hätt, ließ ich sofort alles liegen, wies grad liegt, nur naus in die Welt!“ „Also das ist der ihr offenes Wort“, dachte Kobler beruhigt und wurde auffallend überlegen: „Sagen Sie, Frau Perzl, warum horchen Sie denn immer, wenn ich Besuch empfange?“ „Ich hab doch nicht gehorcht!“ protestierte die Perzl und gestikulierte sehr. „Ich war doch grad am Radio, aber ich hab schon kein Ton gehört von dem klassischen Quartett, so laut haben sich die beiden Herren die Meinung gesagt! Könnens mir glauben, ich hätt mich lieber an der Musik erbaut, als Ihr urdanäres Gschimpf mitangehört!“ „Schon gut, Frau Perzl, so war es ja nicht gemeint“, trat Kobler den Rückzug an, während sie sich als verfolgte Unschuld sehr gefiel. „Wenn ich an all die fremden Länder denk“, sagte sie, „so hebts mich direkt von der Erden weg, so sehr sehn ich mich nach Abbazia.“ Kobler ging auf und ab. „Was Sie da über die weite Welt reden“, sagte er, „interessiert mich schon sehr. Nämlich ich hab mir schon oft gedacht, daß man das Ausland kennenlernen soll, um seinen Horizont zu erweitern. Besonders für mich als jungen Kaufmann wärs schon sehr arg, wenn ich hier nicht rauskommen tät, denn man muß sich mit den Verkaufsmethoden des Auslands vertraut machen. Also wie zum Beispiel ein Kabriolett mit Notsitz in Polen und wie das gleiche in Griechenland verkauft wird. Das werden zwar oft nur Nuancen sein, aber auf solche Nuancen kommts halt oft an. Es wird ja immer schwerer mit dem Dienst am Kunden. Die Leut werden immer anspruchsvoller und“ – er stockte, denn plötzlich durchzuckte es ihn schaurig: Wer garantiert mir, daß ich noch einen Portschinger find? Niemand garantiert dir, Alfons Kobler, kein Gott und kein Schwein, so ging es in ihm zu. Er starrte bekümmert vor sich hin. „Nichts ist der Kundschaft gut und billig genug“, meinte er traurig und lächelte resigniert. „Sie werden im Ausland sicher viel lernen, was Sie dann opulent verwerten können“, tröstete ihn die Perzl. „Was Sie nur allein an Kunstschätzen sehn werden! In Paris den Louvre, und im Dogenpalast hängt das Porträt eines alten Dogen, der schaut einen immer an, wo man auch grad steht. Aber besonders Florenz! Und das Forum Romanum in Rom! Überhaupt die Antike!“ Doch Kobler wehrte ab: „Also für die Kunst hab ich schon gar nichts übrig! Haltens mich denn für weltfremd? Dafür interessieren sich doch nur die Weiber von den reichen Juden, wie die Frau Autobär, die von der Gotik ganz weg war und sich von einem Belletristen hat bearbeiten lassen!“ Die Perzl nickte deprimiert. „Früher war das anders“, sagte sie. „Bei mir muß alles einen Sinn haben“, konstatierte Kobler. „Habens das ghört, was der Graf über die Ägypterin mit den Pyramiden gewußt hat? Sehens, das hätt einen Sinn!“ Die Perzl wurde immer deprimierter. „Ihnen tät ichs von Herzen gönnen, lieber Herr!“ rief sie verzweifelt. „Hätt doch nur auch mein armer Sohn einen Sinn ghabt

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und hätt sich so eine reiche Ägypterin rausgsucht, statt das Mistvieh von einer Tippmamsell, Gott verzeih ihr die Sünd!“ Sie schluchzte. „Kennen Sie Zoppot?“ fragte Kobler. „Ich kenn ja nur alles von vor dem Krieg! Mein Mann selig ist viel mit mir rumgefahren. Sogar auf den Vesuv hat er mich nauf. Oh, wie möcht ich mal wieder nauf!“ Sie weinte. „Beruhigen Sie sich“, sagte Kobler. „Was nicht geht, geht nicht!“ „Damit tröst ich mich auch“, wimmerte die Perzl. Dann nahm sie sich zusammen. „Pardon, daß ich Sie molestiert hab“, lächelte sie geschmerzt. „Aber wenn ich Sie wär, würd ich morgen direkt nach Barcelona fahren, dort ist doch jetzt grad eine Weltausstellung. Da müssens in gar kein Luxushotel, da könnens solche Ägypterinnen leicht in den Pavillonen kennenlernen, das ist immer so in Weltausstellungen. In der Pariser Weltausstellung hab ich mal meinen Seligen verloren, und schon spricht mich ein eleganter Herr an, und wie ich ihn anschau, macht er seinen Ulster auf und hat nichts darunter an, ich erwähn das nur nebenbei.“ 6

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Kobler betrat ein amtliches Reisebüro, denn er wußte, daß einem dort umsonst geantwortet wird. Er wollte sich über Barcelona erkundigen und wie man es am einfachsten erreichen tät. Zoppot hatte er nämlich fallen lassen, da er von der Perzl überzeugt worden war, daß an einem Orte, wo die ganze Welt ausstellt, wahrscheinlich eine bedeutend größere Auswahl Ägypterinnen anzutreffen wäre als in dem luxuriösesten Luxushotel. Außerdem würde er dabei auch die ganzen Luxushotelkosten sparen, und wenn es nichts werden sollte mit den Ägypterinnen (was er zwar nicht befürchtete, aber er rechnete mit jeder Eventualität), so könnte er seine Kenntnisse im Automobilpavillon vervollständigen und das Automobilverkaufswesen der ganzen Welt auf einmal überblicken. „Ich werd das Geschäftliche mit dem Nützlichen verbinden“, sagte er sich. In dem amtlichen Reisebüro hingen viele Plakate mit Palmen und Eisbergen, und man hatte das Gefühl, als wär man schon nicht mehr in der Schellingstraße. Fast jeder Beamte schien mehrere Sprachen zu sprechen, und Kobler horchte andächtig. Er stand an dem Schalter „Ausland“. Vor ihm standen bereits zwei vornehme Damen und ein alter Herr mit einem gepflegten Bart. Die Damen sprachen russisch, sie waren Emigrantinnen. Auch der Beamte war ein Emigrant. Die Damen nahmen ihn sehr in Anspruch; er mußte ihnen sagen, wo gegenwärtig die Sonne scheint, am Lido, in Cannes oder in Deauville. Sie würden zwar auch nach Dalmatien fahren, meinten die Damen, auf die Preise käms ja nicht an, auch wenn es in Dalmatien billiger wäre. Der alte Herr mit dem gepflegten Bart war ein ungarischer Abgeordneter. Er nannte sich Demokrat und las gerade in seiner ungarischen Zeitung, daß die Demokratie Schiffbruch erleide, und nickte beifällig. Die eine Dame streifte Kobler mit dem Blick. Sie streifte ihn sehr schön, und Kobler ärgerte sich, daß er kein Emigrant sei, während sich der bärtige Demokrat über MacDonald ärgerte. „Man sollte jeden Demokraten ausrotten“, dachte er. Endlich gingen die beiden Damen. Der Beamte schien sie sehr gut zu kennen, denn er küßte der einen die Hand. Sie kamen ja auch jede Woche und erkundigten

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sich nach allerhand Routen. Gefahren sind sie aber noch nirgends hin, denn sie kamen mit ihrem Geld grad nur aus. Sie holten sich also jede Woche bloß die Prospekte, und das genügte ihnen. Mit der, deren Hand der Beamte küßte, paddelte er manchmal am Wochenend. „Ich möchte endlich nach Hajdúszoboszló mit Schlafwagen“, sagte der mit dem Bart ungeduldig und sah den Kobler kriegerisch an. „Was hat er nur?“ dachte Kobler. „Ob das auch ein Demokrat ist?“ dachte der Demokrat. „Nach Hajdúszoboszló kann ich Ihnen leider keine Karte geben“, sagte der Beamte. „Ich hab sie nur bis Budapest hier.“ „Skandal“, entrüstete sich der Bart. „Ich werde mich bei meinem guten Freunde, dem königlich ungarischen Handelsminister, beschweren!“ „Ich bin Beamter“, sagte der Beamte. „Ich tu meine Pflicht und kann nichts dafür. Welche Klasse wollen Sie?“ Der mit dem Bart sah ihn unsagbar wehmütig und gekränkt an. „Erster natürlich“, nickte er traurig. „Armes Ungarn!“ fiel es ihm ohne jeden Zusammenhang ein. Da trat ihm Kobler zufällig auf das Hühnerauge. „Was machen Sie da?!“ brüllte der Bart. „Verzeihung“, sagte Kobler. „Also das ist sicher ein Demokrat!“ zischte der Demokrat auf ungarisch. „Bitte, gedulden Sie sich einige Augenblicke, ich muß erst nachfragen lassen, ob es noch Budapester Schlafwagenplätze gibt“, sagte der Beamte und wandte sich dann an Kobler: „Wohin?“ „Nach Barcelona“, antwortete dieser, als wär das in der Nachbarschaft. Der Bart horchte auf. „Barcelona“, überlegte er, „war vor Primo di Rivera eine Zentrale der anarchistischen Bewegung. Er ist mir auf das Hühnerauge getreten, und dritter Klasse fährt er auch!“ „Barcelona ist weit“, sagte der Beamte, und Kobler nickte; auch der Bart nickte unwillkürlich und ärgerte sich darüber. „Barcelona ist sehr weit“, sagte der Beamte. „Wie wollen Sie denn fahren? Über die Schweiz oder Italien? Sie fahren zur Weltausstellung? Dann passen Sie auf: Fahren Sie hin durch Italien und retour durch die Schweiz. Preis und Entfernung sind egal, ja. Sie fahren hin und her dreiundneunzig Stunden, D-Zug natürlich. Sie brauchen das Visum nach Frankreich und Spanien. Wird besorgt! Nach Österreich, Italien und Schweiz brauchen Sie kein Visum, wird besorgt! Wenn Sie hier abfahren, sind Sie an der deutschen Grenze um 10.32 und in Innsbruck um 13.05. Ich schreibs Ihnen auf. Ab Innsbruck 13.28. An Brennero 15.23. Ab Brennero 15.30. An Verona 20.50. Ab Verona 21.44. An Milano 0.13. Ab Milano 3.29. Ab Genova 7.04. An Ventimiglia 11.27. An Marseille 18.40. An spanische Grenze Portbou 5.16. An Barcelona 10.00. Ab Barcelona 11.00.“ Und so schrieb ihm der Beamte auch noch alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Rückfahrt auf: Cerbéres, Tarascon, Lyon, Genf, Bern, Basel, und zwar hatte er diese Zahlen alle im Kopf. „Also das ist ein Gedächtniskünstler“, dachte Kobler. „Ein Zirkus!“ „Und das kostet dritter Klasse hin und her nur einhundertsiebenundzwanzig Mark vierundfünfzig Pfennig“, sagte der Zirkus. Hin und her?! Kobler war begeistert. „Nur? Nicht möglich!“ staunte er. „Doch“, beruhigte ihn rasch der Beamte. „Deutschland ist bekanntlich mit das teuerste europäische Land, weil es den Krieg verloren hat. Frankreich und Italien sind bedeutend billiger, weil sie eine Inflation haben. Nur Spanien und die Schweiz sind noch teurer als Deutschland.“

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„Sie vergessen Rumpfungarn“, mischte sich der Bart plötzlich ins Gespräch. „Rumpfungarn ist auch billiger als Deutschland, obwohl es alles im Kriege verloren hat. Es ist zerstückelt worden, meine Herren! Serbien und Kroatien sind dagegen noch billiger als Rumpfungarn, weil Amerika den Krieg gewonnen hat, obwohl militärisch wir den Krieg gewonnen haben!“ „Am End ist es anscheinend ganz wurscht, wer so einen Krieg gewinnt“, sagte Kobler. Der Bart blitzte ihn empört an. „Ha, das ist ein Bolschewik!“ dachte er. „Die Neutralen sind am besten dran, das sind heute die teuersten Länder“, schloß der Beamte die Debatte. Kobler tat es aufrichtig leid, daß nicht auch Spanien und die Schweiz in den Weltkrieg verwickelt worden waren. 7

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Am Abend bevor Kobler zur Weltausstellung fuhr, betrat er nochmals sein Stammlokal in der Schellingstraße, das war ein Café-Restaurant und nannte sich „Schellingsalon“. Er betrat es, um zu imponieren, und bestellte sich einen Schweinsbraten mit gemischtem Salat. „Sonst noch was?“ fragte die Kellnerin. „Ich fahre nach Barcelona“, sagte er. „Geh, wer werd denn so blöd sein!“ meinte sie und ließ ihn sitzen. Da ging der Herr Kastner an seinem Tisch vorbei. „Ich fahr nach Barcelona!“ rief ihm der Kobler zu, aber der Herr Kastner war schon längst vorbei. Auch der Herr Dünzl ging an ihm vorbei. „Sie fahren nach Barcelona?“ fragte der Dünzl bissig. „In diesen ernsten Zeiten, junger Mann . . .“ „Kusch!“ unterbrach ihn Kobler verstimmt. Auch der Graf Blanquez ging vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, sagte Kobler. „Seit wann denn?“ erkundigten sich der Graf. „Seit heute.“ „Also dann steigst mir noch heut auf den Hut!“ sagten der Graf. Und auch der Herr Schaal ging vorbei. „Ich fahr nach Barcelona“, meinte Kobler. „Glückliche Reise!“ sagte der brave Herr Schaal und setzte sich an einen andern Tisch. Kobler war erschüttert, denn er wollte ja imponieren, und es ging unter keinen Umständen. Geduckt schlich er ins Klosett. „Zu zehn oder fünfzehn?“ fragte ihn die zuvorkommende alte Rosa. „Ich fahr nach Barcelona“, murmelte er. „Was fehlt Ihnen?!“ entsetzte sich die gute Alte, aber Kobler schwieg beharrlich, und die Alte machte sich so ihre Gedanken. Als er dann wieder draußen war, schielte sie sorgenvoll durch den Türspalt, ob er sich auch ein Bier bestellt hätte. Ja, er hatte sich sogar bereits das zweite Glas Bier bestellt, so hastig hatte er das erste heruntergeschüttet, weil er niemandem imponieren konnte. „Es ist schon alles wie verhext!“ sagte er sich. Da kam sie, das Fräulein Anna Pollinger. „Ich fahr nach Barcelona“, begrüßte er sie. „Wieso?“ fragte sie und sah ihn erschrocken an. Er sonnte sich in ihrem Blick. „Dort ist jetzt eine internationale Weltausstellung“, lächelte er gemein, und das tat ihm sogar wohl, obzwar er sonst immer anständig zu ihr gewesen ist. Er half ihr überaus aufmerksam aus dem Mantel und legte ihn ordentlich über einen Stuhl, dabei hatte er jedoch einen sehr höhnischen Gesichtsausdruck. Sie nahm neben ihm Platz und beschäftigte sich mit einem wackelnden Knöpfchen auf ihrem Ärmel. Das Knöpfchen war nur zur Zierde da. Sie riß es ab.

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Dann erst sah sich Anna in dem Lokal um und nickte ganz in Gedanken dem Herrn Schaal zu, der sie gar nicht kannte. „Nach Barcelona“, sagte sie, „da tät ich schon auch gern hinfahren.“ „Und warum fährst du nicht?“ protzte Kobler. „Frag doch nicht so dumm“, sagte sie. – Kennt ihr das Märchen von Fräulein Pollinger? Vielleicht ist noch einer unter euch, der es nicht kennt, und dann zahlt sichs ja schon aus, daß ihrs alle nochmal hört. Also: Es war einmal ein Fräulein, das fiel bei den besseren Herren nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur hundertzehn Mark und hatte nur eine Durchschnittsfigur und ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett. Sie arbeitete im Kontor einer Kraftwagenvermietung, doch konnte sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie ab und zu auf einem Motorrad hinten mitfahren, aber dafür erwartete man auch meistens was von ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und verschloß sich den Herren nicht. Sie ließ aber immer nur einen drüber, das hatte ihr das Leben bereits beigebracht. Oft liebte sie zwar gerade diesen einen nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte, im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen, und wenn sie dies trotzdem tat, wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade mal mußten. Oft wurde sie dann in den Anfangssätzen boshaft und tückisch, aber bald ließ sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in ihrem Leben einerlei, denn das mußte es ja sein, sonst hätte sies nicht ausgehalten. Nur wenn sie unpäßlich war, dachte sie intensiver an sich. Einmal ging sie mit einem Herrn beinahe über ein Jahr, der hieß Fritz. Ende Oktober sagte sie: „Wenn ich ein Kind bekommen tät, das wäre das größte Unglück.“ Dann erschrak sie über ihre Worte. „Warum weinst du?“ fragte Fritz. „Ich hab es nicht gern, wenn du weinst! Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag, und wir machen eine Bergtour.“ Und er setzte ihr auseinander, daß bekanntlich die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, daß sie kein Kind kriegt. Sie stieg dann mit Fritz auf die westliche Wasserkarspitze, zweitausendsiebenunddreißig Meter hoch über dem fernen Meer. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon ganz Nacht, aber droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt, und Anna sagte: „Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.“ Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein. Seit dieser Bergtour hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch nie wieder ganz gesund, und ab und zu tat ihrs im Unterleib schon ganz verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch. – Mitte September saß sie also neben Kobler im Schellingsalon und bestellte sich lediglich ein kleines dunkles Bier. Ihr Abendbrot, zwei Buttersemmeln, hatte sie bereits in der Kraftwagenvermietung zu sich genommen, denn sie hatte dort an diesem Tag ausnahmsweise bis abends neun Uhr zu tun. Sie mußte dies durchschnittlich viermal wöchentlich ausnahmsweise tun. Für diese Überstunden bekam sie natürlich nichts bezahlt, denn sie hatte ja das Recht, jeden Ersten zu kündigen, wenn sie arbeitslos werden wollte.

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„Gib mir was von deinem Kartoffelsalat“, sagte sie plötzlich, denn plötzlich mußte sie noch etwas verzehren. „Bitte“, meinte Kobler, und es war ihm unvermittelt, als müßte er sich eigentlich schämen, daß er nach Barcelona fährt. „Es wird sehr anstrengend werden“, sagte er. „Dann wird es also heut nacht nichts“, sagte sie. „Nein“, sagte er. 8

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Der D-Zug, der den Kobler bis über die deutsche Grenze bringen sollte, fuhr pünktlich ab, denn der Herr mit der roten Dienstmütze hob pünktlich den Befehlsstab. „Das ist die deutsche Pünktlichkeit!“ hörte er jemanden sagen mit hannöverschem Akzent. Da stand auf dem Bahnsteig unter anderen eine junge Kaufmannsgattin und winkte begeistert ihrem Gatten im vorderen Wagen nach, der in die Fremde fuhr, um dort einen andern Kaufmann zu übervorteilen. Kobler drängte sich dazwischen. Er beugte sich aus dem Fenster und nickte der jungen Frau gnädig zu. Die verzog aber das Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jetzt ärgert sie sich“, freute sich Kobler und mußte an das Fräulein Pollinger denken. „Auch Anna wird sich jetzt ärgern“, dachte er weiter, „es ist nämlich grad acht, und da beginnt ihr Büro. Ich würd mich auch ärgern, wenn jetzt mein Büro beginnen tät, es geht doch nichts über die Selbständigkeit. Was wär das für ein Unglück, wenn alle Leut Angestellte wären, wie sich das der Marxismus ausmalt – als Angestellter hätte ich mich doch niemals so angestrengt, den Portschinger zu betrügen. Wenn das Kabriolett Staatseigentum gewesen wär, hätt ichs halt einfach einschmelzen lassen, wie sichs eigentlich gehört hätt. Aber durch diese drohende Sozialisierung würden halt viele Werte brachliegen, die sich noch verwerten ließen. Das wär nicht anders, weil halt die persönliche Initiative zerstört wär.“ Er setzte sich schadenfroh auf seinen Fensterplatz und fuhr stolz durch die tristen Vorortbahnhöfe, an den Vorortreisenden vorbei, die ohne jede Bewegung auf die Vorortzüge warteten. Dann hörte die Stadt allmählich auf. Die Landschaft wurde immer langweiliger, und Kobler betrachtete gelangweilt sein Gegenüber, einen Herrn mit einem energischen Zug, der sehr in seine Zeitung vertieft war. In der Zeitung stand unter der Überschrift „Nun erst recht!“, daß ein Deutscher, der sagt, er sei stolz, daß er ein Deutscher sei, denn wenn er nicht stolz wäre, würde er ja trotzdem auch nur ein Deutscher sein, also sei er natürlich stolz, daß er ein Deutscher wäre – „ein solcher Deutscher“, stand in der Zeitung, „ist kein Deutscher, sondern ein Asphaltdeutscher.“ Auch Kobler hatte sich mit Reiselektüre versorgt, nämlich mit einem Magazin. Da schulterten im Schatten photomontierter Wolkenkratzer ein Dutzend Mädchen ihre Beine, als wärens Gewehre, und darunter stand: Der Zauber des Militarismus, und daß es eigentlich also gespenstisch wirke, daß Girls auch Köpfe hätten. Und dann sah Kobler auch noch ein ganzes Rudel weiblicher Schönheiten – die eine stand auf einer dressierten Riesenschildkröte und lächelte sinnlich. Sonst hatte er keine Lektüre bei sich. Nur noch einige Wörterbücher, ganz winzig bedruckte mit je zwölftausend Wörtern. Deutsch-Italienisch, Français-Allemand, Deutsch-Französisch, Español-Alemán usw. Auch eine Broschüre hatte er sich zugelegt mit Redensarten für den Reisegebrauch in Spanien (mit genauer Angabe der Aussprache), herausgegeben von einem

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Studienrat in Erfurt, dessen Tochter immer noch hoffte, von einem reichen Deutschargentinier geheiratet zu werden, der ihr dies in der Inflation mal versprochen hatte. Nun beklagte der Studienrat in der Einleitung, es sei tief betrüblich, daß man in deutschen Landen so wenig Spanisch lerne, wo doch die spanische Welt arm an Industrie sei, während sie uns Deutschen die mannigfachsten Naturprodukte liefere. Diese Tatsachen würden von der jungen Handelswelt noch lange nicht genügend gewürdigt. Und dann zählte der Studienrat die Länder auf, in denen Spanisch gesprochen wird: zum Beispiel in Spanien und in Lateinamerika, ohne Brasilien. Kobler las: Ich bin hungrig, durstig. Tengo hambre, sed. Aussprache: tengo ambrre, ßed. Wie heißt das auf spanisch? Como se llama eso en Castellano? Aussprache: komo ße ljama ehßo en kasteljano? Wollen Sie freundlichst langsamer sprechen? Tenga usted la bondád de ablárr máss despászio? Wiederholen Sie bitte das Wort. Sie müssen etwas lauter sprechen. Er führt eine stolze Sprache, aber er drückt sich gut aus. Kofferträger, besorgen Sie mir mein Gepäck. Ich habe einen großen Koffer, einen Handkoffer, ein Plaid und ein Bund Stöcke und Regenschirme. Ist das dort der richtige Zug nach Figueras? Geben Sie mir trockene Bettwäsche. Bitte Zwiebeln. Jetzt ist sie richtig. Seit längerer Zeit entbehren wir Ihre Aufträge. Was bin ich schuldig? Sehr wohl, mein Herr, ich bleibe alles schuldig. Was haben Sie? Nichts. Wollen Sie zahlen? Nein. Sie wollen nicht zahlen? Nein. Es scheint, daß Sie mich verstanden haben. Auf Wiedersehen also! Grüßen Sie Ihre Frau Gemahlin (Ihren Herrn Gemahl)! Tausend Dank! Glückliche Reise! Gott schütze Sie! „Was lesens denn da?“ hörte er plötzlich seinen Nachbar fragen, der dem Herrn Portschinger ähnlich sah. Er hatte bereits seit einiger Zeit mißtrauisch in das Werk des Erfurter Studienrats geschielt. Er hieß Thimoteus Bschorr. „Ich fahr nach Barcelona“, erwiderte Kobler lakonisch und wartete gespannt auf den Erfolg dieser Worte. Sein Gegenüber mit dem energischen Zug hob ruckartig den Kopf, starrte ihn haßerfüllt an und las dann zum zwanzigstenmal die Definition des Asphaltdeutschen. In der Ecke saß noch ein dritter Herr, aber auf den schienen Koblers Reisepläne gar keinen Eindruck zu machen. Er lächelte nur müde, als wäre er bereits einigemal um die Erde gefahren. Der Kragen war ihm zu weit. „Alsdann fahrens nach Italien“, konstatierte der Herr Bschorr phlegmatisch. „Barcelona liegt bekanntlich in Spanien“, meinte Kobler überlegen. „Des is gar net so bekanntlich!“ ereiferte sich der Bschorr. „Bekanntlich hätt i gschworn, daß des Barcelona bekanntlich in Italien liegt!“ „Ich fahr durch Italien nur lediglich durch“, sagte Kobler und strengte sich an, genau nach der Schrift zu sprechen, um den Thimoteus Bschorr zu reizen. Aber der ließ sich nicht. „Da werdens lang brauchen nach Barcelona hinter“, meinte er stumpf. „Sehr lang. Da beneid ich Sie scho gar net. Überhaupts muß Spanien recht drecket sein. Und eine heiße Zone. Was machens denn in Madrid?“ „Madrid werde ich links liegen lassen“, erklärte Kobler. „Ich möcht nur mal lediglich das Ausland sehen.“ Bei diesen Worten zuckte sein Gegenüber wieder furchtbar zusammen und mischte sich ins Gespräch, klar, kurz und bündig: „Ein Deutscher sollte sein ehrlich erworbenes Geld in diesen wirtschaftlich depressiven Zeiten unter keinen Umständen ins Ausland tragen!“ Dabei fixierte er Kobler strafend, denn er hatte ein Hotel in Partenkirchen, das immer leer stand, weil es wegen seiner verrückt hohen Preise allgemein gemieden wurde.

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„Aber Spanien war ja im Krieg neutral“, kam der dritte Herr in der Ecke Kobler zu Hilfe. Er lächelte noch immer. „Egal!“ schnarrte der Hotelier. „Spanien ist uns sogar sehr freundlich gesinnt“, ließ der in der Ecke nicht locker. „Uns is überhaupts niemand freundlich gesinnt!“ entgegnete ihm erregt der Thimoteus. „Es wäre ja ein Wunder, wenn uns jemand freundlich gesinnt wäre!! Oder wars ka Wunder, Leutl?!“ Der Hotelier nickte: „Ich wiederhole: Ein Deutscher soll sein ehrlich erworbenes Geld in der Heimat lassen!“ Kobler wurde allmählich wütend. Was geht dich dem Portschinger sein Kabriolett an, du Hund! dachte er und wies den Hotelier in seine Schranken zurück: „Sie irren sich! Wir jungen deutschen Handelsleute müßten noch bedeutend innigere Beziehungen mit dem uns wohlgesinnten Ausland anknüpfen. Zu guter Letzt müssen wir dabei natürlich die nationale Ehre hochhalten.“ „Das mit dem Hochhalten der Ehre sind Redensarten!“ unterbrach ihn der Hotelier unwirsch. „Wir Deutsche sind eben einfach nicht fähig, kommerzielle Beziehungen zum Ausland ehrenvoll anzuknüpfen!“ „Aber die Völker!“ meinte der Dritte und lächelte plötzlich nicht mehr. „Die Völker sind doch aufeinander angewiesen, genau wie Preußen auf Bayern und Bayern auf Preußen.“ „Sie, wanns mir Bayern schlecht machen!“ brüllte der Thimoteus. „Wer is angwiesen? Was is angwiesen? Die Schnapspreißn solln halt nach der Schweiz fahren! Zu was brauchn denn mir an Fremdenverkehr, bei mir kauft ka Fremder was, i hab a Ziegelei und war früher Metzger!“ „Oho!“ fuhr der Hotelier auf. „Oho, Herr! Ohne Fremdenverkehr dürfte die bayerische Eigenstaatlichkeit beim Teufel sein! Wir brauchen die norddeutschen Kurgäste, wir bräuchten auch die ausländischen Kurgäste, besonders die angelsächsischen Kurgäste, aber bei uns fehlt es leider noch häufig an der entgegenkommenden Behandlung des ausländischen Fremdenstromes, wir müßten uns noch viel stärker der ausländischen Psyche anpassen. Jedoch natürlich, wenn der Herr Reichsfinanzminister erklärt . . .“ Nun aber tobte der Thimoteus. „Des san do kane Minister, des san do lauter Preißen!“ tobte er. „Lauter Lumpn sans! Wer geht denn z’grund? Der Mittelstand! Und wer kriegt des ganz Geld vom Mittelstand? Der Arbater! Der Arbater raucht schon Sechspfennigzigaretten . . . Meine Herren! I sag bloß allweil: Berlin!“ „Bravo!“ sagte der Hotelier und memorierte den Satz vom Asphaltdeutschen. Der Herr in der Ecke erhob sich und verließ rasch das Abteil. Er stellte sich an das Fenster und sah traurig hinaus auf das schöne bayerische Land. Es tat ihm aufrichtig leid um dieses Land. „Der is draußn, den hab i nausbissn“, stellte der Thimoteus befriedigt fest. „Ich verfolge mit Aufmerksamkeit die Heimstättenbewegung“, antwortete der Hotelier. „Ihr Quadratidioten!“ dachte Kobler und wandte sich seinem Fenster zu. Auf den Feldern wurde gearbeitet, auf den Weiden stand das Vieh, am Waldrand das Reh, und nur die apostolischen Doppelkreuze der Überlandleitungen erinnerten an das zwanzigste Jahrhundert. Der Himmel war blau, die Wolken weiß und bayerisch barock. So näherte sich der D-Zug der südlichen Grenze der Deutschen Republik. Zuerst ist er an großen Seen vorbeigerollt, da sind die Berge am Horizont noch klein gewe-

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sen. Aber jetzt wurden die Berge immer größer, die Seen immer kleiner und der Horizont immer enger. Und dann hörten die Seen ganz auf, und ringsherum gabs nur mehr Berge. Das war das Werdenfelser Land. In Partenkirchen stieg der Hotelier aus und würdigte Kobler keines Blickes. Auch der Herr Bschorr stieg aus und stolperte dabei über ein vierjähriges Kind. „Eha!“ meinte er, und das Kind brüllte fürchterlich, denn der Herr Bschorr hätt es fast zertreten. Dann fuhr der D-Zug wieder weiter. Richtung Mittenwald. Der Herr, der in der Ecke gesessen hatte, betrat nun wieder das Abteil, weil Kobler allein war. Er setzte sich ihm gegenüber und sagte: „Dort sehen Sie die Zugspitze!“ Bekanntlich ist die Zugspitze Deutschlands höchster Berg, aber ein Drittel der Zugspitze gehört halt leider zu Österreich. Also bauten die Österreicher vor einigen Jahren eine Schwebebahn auf die Zugspitze, obwohl dies die Bayern schon seit zwanzig Jahren tun wollten. Natürlich ärgerte das die Bayern sehr, und infolgedessen brachten sie es endlich fertig, eine zweite Zugspitzbahn zu bauen, und zwar eine rein bayerische, keine luftige Schwebebahn, sondern eine solide Zahnradbahn. Beide Zugspitzbahnen sind unstreitbar grandiose Spitzenleistungen moderner Bergbahnbautechnik, und es sind dabei bis Mitte September 1929 schon rund vier Dutzend Arbeiter tödlich verunglückt. Jedoch bis zur Inbetriebnahme der bayerischen Zugspitzbahn werden natürlich leider noch zahlreiche Arbeiter daran glauben müssen, versicherte die Betriebsleitung. „Ich hab dies mal einer Dame erzählt“, sagte der Herr zu Kobler, „aber die Dame sagte, das wären bloß Erfindungen der Herren Arbeiter, um einen höheren Tarif zu erpressen.“ Dabei lächelte der Herr so sonderbar, daß sich der Kobler schon gar nicht mit ihm auskannte. „Diese Dame“, fuhr der Herr fort, „ist die Tochter eines Düsseldorfer Aufsichtsrates und hat schon 1913 nach Kuba geheiratet, sie hat also den Weltkrieg in Kuba mitgemacht.“ Und wieder lächelte der Herr so sonderbar, und Kobler verwirrte dies fast. „In Kuba wird der Krieg angenehmer gewesen sein“, sagte er, und das gefiel dem Herrn. „Sie werden jetzt ein schönes Stückchen Welt sehen“, nickte er ihm freundlich zu. Stückchen ist gut, dachte Kobler gekränkt und fragte: „Sind Sie auch Kaufmann?“ „Nein!“ sagte der Herr sehr knapp, als wollte er kein Wort mehr mit ihm sprechen. Was kann der nur sein? überlegte Kobler. „Ich war früher Lehrer“, sagte der Herr plötzlich. „Ich weiß nicht, ob Sie die Weimarer Verfassung kennen, aber wenn Sie Ihre politische Überzeugung mit dem Einsatz Ihrer ganzen Persönlichkeit, mit jeder Faser Ihres Seins vertreten, dann nützen Ihnen auch Ihre verfassungsmäßig verankerten Freiheitsrechte einen großen Dreck. Ich, zum Beispiel, hab eine Protestantin geheiratet und hab nun meine Stelle verloren, das verdanke ich dem bayerischen Konkordat. Jetzt vertrete ich eine Zahnpaste, die niemand kauft, weil sie miserabel ist. Meine Familie muß bei meinen Schwiegereltern in Mittenwald wohnen, und die Alte wirft den Kindern jeden Bissen vor – Dort sehen Sie Mittenwald! Es liegt lieblich, nicht?“

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Mittenwald ist deutsch-österreichische Grenzstation mit Paß- und Zollkontrolle. Das war die erste Grenze, die Kobler in seinem Leben überschritt, und dieser Grenzübertritt mit seinen behördlichen Zeremonien berührte ihn seltsam feierlich. Mit fast scheuer Bewunderung betrachtete er die Gendarmen, die sich auf dem Bahnsteig langweilten. Bereits vor Mittenwald hielt er seinen Paß erwartungsvoll in der Hand, und nun lag auch sein Koffer weitaufgerissen auf der Bank. „Bitte nicht schießen, denn ich bin brav“, sollte das heißen. Er zuckte direkt zusammen, als der österreichische Finanzer im Wagen erschien. „Hat wer was zu verzollen?“ rief der Finanzer ahnungslos. „Hier“, rief der Kobler und wies auf seinen braven Koffer. Aber der Finanzer sah gar nicht hin. „Hat wer was zu verzollen?!“ brüllte er entsetzt und raste überstürzt aus dem Waggon, denn er hatte Angst, daß ausnahmsweise jemand wirklich was zu verzollen hätte, nämlich dann hätte er ausnahmsweise wirklich was zu tun gehabt. Allerdings bei der Paßkontrolle ging es schon schärfer zu, denn dies war das bessere Geschäft. Es saß ja in jedem Zug meist eine Person, deren Paß gerade abgelaufen war, und der konnte man dann einen Grenzschein für einige Mark respektive Schilling verkaufen. Eine solche Person sagte mal dem Paßbeamten: „Erlauben Sie, ich bin aber schon sehr für den Anschluß!“ Jedoch der Paßbeamte verbat sich energisch jede Beamtenbeleidigung. – Langsam verließ der D-Zug die Deutsche Republik. Er fuhr an zwei Schildern vorbei:

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Königreich Bayern Rechts fahren!

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Bundesstaat Österreich Links fahren!

„Fahren wir jetzt auch links?“ fragte Kobler den österreichischen Schaffner. „Wir sind eingleisig“, gähnte der Schaffner, und Kobler mußte direkt an Großdeutschland denken. Nun gings durch die nördlichen Kalkalpen, und zwar entlang der alten Römerstraße zwischen Wetterstein und Karwendel. Der D-Zug mußte auf 1160 Meter empor, um das rund 600 Meter tiefer gelegene Inntal erreichen zu können. Es war dies für D-Züge eine komplizierte Landschaft. Das Karwendel ist ein mächtiger Gebirgsstock, und seine herrlichen Hochtäler zählen unstreitbar zu den ödesten Gebieten der Alpen. Von brüchigen Graten ziehen grandiose Geröllhalden meist bis auf die Talsohle hinab und treffen sich dort mit dem Schutt von der anderen Seite. Dabei gibts fast nirgends Wasser und also kaum was Lebendiges. 1928 wurde es zum Naturschutzgebiet erklärt, damit es in seiner Ursprünglichkeit erhalten bleibt. So rollte der D-Zug an fürchterlichen Abgründen entlang, durch viele, viele Tunnels und über kühn konstruierte Viadukte. Jetzt erblickte Kobler eine schmutzige Dunstwolke über dem Inntal. Unter dieser Dunstwolke lag Innsbruck, die Hauptstadt des heiligen Landes Tirol. Kobler wußte nichts weiter von ihr, als daß sie ein berühmtes goldenes Dachl hat, einen preiswerten Tiroler Wein und daß der Reisende, der von Westen ankommt, zur

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linken Hand einige große Bordelle sehen kann. Das hatte ihm mal der Graf Blanquez erläutert. In Innsbruck mußte er umsteigen, und zwar in den Schnellzug nach Bologna. Dieser Schnellzug kam aus Kufstein und hatte Verspätung. „Die Österreicher sind halt sehr gemütliche Leut“, dachte Kobler. Endlich kam der Schnellzug. Bis Steinach am Brenner, also fast bis zur neuen italienischen Grenze, also kaum fünfzig Minuten lang, saßen in Koblers Abteil ein altösterreichischer Hofrat und ein sogenannter Mann aus dem Volke, der dem Hofrat sehr schön tat, weil er von ihm eine Protektion haben wollte. Dieser Mann war ein charakterloser Werkmeister, der der Heimwehr, einer österreichischen Abart des italienischen Faschismus, beigetreten war, um seine Arbeitskollegen gründlicher übervorteilen zu können. Nämlich sein leitender Ingenieur war Gauleiter der Heimwehr. Der Hofrat hatte einen altmodischen goldenen Zwicker und ein hinterlistiges Geschau. Sein Äußeres war sehr gepflegt – er schien überhaupt ein sehr eitler Mensch zu sein, denn er schwätzte in einer Tour, nur um den Beifall des Mannes hören zu können. Der Schnellzug wandte sich ab von Innsbruck, und schon fuhr er durch den Bergisel-Tunnel. „Jetzt ist es finster“, sagte der Hofrat. „Sehr finster“, sagte der Mann. „Es ist so finster geworden, weil wir durch den Tunnel fahren“, sagte der Hofrat. „Vielleicht wirds noch finsterer“, sagte der Mann. „Kruzitürken, ist das aber finster!“ rief der Hofrat. „Kruzitürken!“ rief der Mann. Die Österreicher sind sehr gemütliche Leute. „Hoffentlich erlaubts mir unser Herrgott noch, daß ichs erleb, wie alle Sozis aufghängt werden“, sagte der Hofrat. „Verlassen Sie sich auf den dort oben“, sagte der Mann. „Über uns ist jetzt der Berg Isel“, sagte der Hofrat. „Andreas Hofer“, sagte der Mann und fügte hinzu: „Die Juden werdn zu frech.“ Der Hofrat klapperte mit dem Gebiß. „Den Halsmann sollns nur tüchtig einsperren bei Wasser und Brot!“ krähte er. „Ob nämlich der Judenbengel seinen Judentate erschlagen hat oder nicht, das ist wurscht! Da gehts um das Prestige der österreichischen Justiz, man kann sich doch nicht alles von den Juden gefallen lassen!“ „Neulich haben wir einen Juden ghaut“, sagte der Mann. „A geh, wirklich?“ freute sich der Hofrat. „Der Jud war allein“, sagte der Mann, „und wir waren zehn, da hats aber Watschen ghagelt! Heimwehrwatschen!“ Der Hofrat kicherte. „Ja, die Heimwehr!“ sagte er. „Heil!“ rief der Mann. „Und Sieg!“ sagte der Hofrat. „Und Tod!“ rief der Mann. – Als der Schnellzug den Bergisel-Tunnel verließ, trat Kobler auf den Korridor, denn er konnte es drinnen nicht mehr aushalten, weil ihn das ewige Geschwätz im Denken störte. Und er mußte mal nachdenken – Das war so ein Bedürfnis, als hätte er dringend austreten müssen. Es war ihm nämlich plötzlich die Ägypterin, sein eigentliches Reiseziel, eingefallen, und er ist darüber erschrocken, daß er nun einige Stunden lang nicht an die Pyramiden gedacht hatte. Aber als er nun an dem Fenster stand, wurde er halt wieder abgelenkt, und zwar diesmal durch Gottes herrliche Bergwelt, wie der Kitsch die seinerzeit geborstene Erdkruste nennt. „Was ist der Mensch neben einem Berg?“ fiel es ihm plötzlich ein,

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und dieser Gedanke ergriff ihn sehr. „Ein großes Nichts ist der Mensch neben einem Berg. Also ständig möcht ich nicht in den Bergen wohnen. Dann wohn ich schon lieber im Flachland. Höchstens noch im Hügelland.“ 5

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10 Seit dem Frieden von Saint-Germain zieht die österreichisch-italienische Grenze über die Paßhöhe des Brenners zwischen Nord- und Südtirol. Die Italiener haben nämlich ihre Brüder im Trento von dem habsburgischen Joche erlöst, und so was kann man als anständiger Mensch nur lebhaft begrüßen. Die Italiener waren ja nicht in den Weltkrieg gezogen, um fremde Völker zu unterjochen, sie wollten keine Annexionen, ebensowenig wie Graf Berchtold, Exkaiser Wilhelm II. und Ludendorff. Aber aus militärisch-strategischen Gründen waren die Italiener eben leider gezwungen, das ganze deutsche Südtirol zu annektieren, genau wie etwa Ludendorff gezwungen gewesen wäre, aus rein strategischen Gründen Polen, Finnland, Kurland, Estland, Litauen, Belgien usw. zu annektieren. „Der Friede von Saint-Germain ist ein glattes Verbrechen“, hatte mal ein Innsbrucker Universitätsprofessor gesagt, und er hätte schon sehr recht gehabt, wenn er kein Chauvinist gewesen wäre. – Bekanntlich will nun der Mussolini das deutsche Südtirol durch und durch italianisieren. Genau so rücksichtslos, wie seinerzeit Preußen das polnische Posen germanisieren wollte. So hat der Mussolini u.a. auch verfügt, daß möglichst alle deutschen Namen – Ortsnamen, Familiennamen usw. – ins Italienische übersetzt werden müssen, auf daß sie nur italienisch ausgesprochen werden dürften. Und zwar sollen sie ihrem Sinn nach übersetzt werden. Hat nun aber ein Name keinen übersetzbaren Sinn, so hängt der Mussolini hinten einfach ein o an. Wie zum Beispiel: Merano. So auch Brennero. Als Kobler den Brennero erblickte, fiel es ihm sogleich auf, daß dort oben ungemein viel gebaut wird, und zwar lauter Kasernen. Im Bahnhof Brennero wurde der Schnellzug von den faschistischen Behörden bereits erwartet. Da standen ungefähr dreißig Männer, und fast jeder war anders uniformiert. Da hatten welche Napoleonshüte und weite lange Mäntel, oder kurze enge oder weite kurze oder enge lange. Einige trugen prächtige Hahnenfedern, die ihnen fast bis auf die Schultern herabwallten. Andere wieder trugen Adlerfedern oder Wildentenfedern, und wieder andere trugen gar keine Federn, höchstens Flaum. Die meisten waren feldgrau oder feldbraun, aber es waren auch welche da in stahlblau und grünlich mit Aufschlägen in rot, ocker, silber, gold und lila. Viele hatten schwarze Hemden – das waren die bekannten Schwarzhemden. Sie boten ein farbenfrohes Bild. Alle schienen sehr zu frieren, denn knapp hundert Meter über ihnen hing der herbstliche Nebel Nordtirols. Keiner der Reisenden durfte den Schnellzug verlassen, denn hier gings viel strenger zu als zwischen Bayern und Österreich in Mittenwald. Und dies nicht nur deshalb, weil die Italiener zur romanischen Rasse gehören, sondern weil sie obendrein noch den Mussolini haben, der in permanenter Wut ist, daß es bloß vierzig Millionen Italiener gibt. Neunundzwanzig von den dreißig Uniformierten waren mit den Grenzübertritts-

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angelegenheiten schon sehr beschäftigt. Der dreißigste schien der Anführer zu sein, er tat nämlich nichts. Er stand auf dem Bahnsteig etwas im Hintergrunde, unter einer kolorierten Photographie des Duce und hatte sehr elegante Schuhe. Er war vielleicht 1,40 Meter hoch, und forschend glitt sein Blick über den Schnellzug. Er forschte nach, wo eine blonde Frau saß, eine Deutsche oder eine Skandinavierin. „Prego den Paß!“ sagte der italienische Paßbeamte. Er sprach gebrochen Deutsch, höflich, aber bestimmt. „Wohin fahren Sie, Signor Kobler?“ fragte er. „Nach Barcelona“, sagte der Signor. „Sie fahren also nach Italien“, meinte der Paßbeamte. „Ja“, sagte der Signor. Und nun geschah etwas Mysteriöses. Der Paßbeamte wandte sich ernst seinem Begleiter zu, einem Paßunterbeamten, und sagte auf italienisch: „Er fährt nach Italien.“ Der Paßunterbeamte nickte würdevoll: „Soso, nach Italien fährt er“, meinte er gedehnt und kam sich wichtiger vor als Mussolini persönlich, während sich der Oberpaßbeamte bereits mit dem nächsten Reisenden beschäftigte. „Sie fahren nach Italien?“ fragte er. „Jawohl“, sagte der nächste Signor. Er hieß Albert Hausmann. „Und warum fahren Sie nach Italien?“ fragte der Oberpaßbeamte. „Ich will mich in Italien erholen“, sagte der Signor Hausmann. „Sie werden sich in Italien erholen!“ sagte der Oberpaßbeamte stolz. „Hoffentlich!“ meinte der Erholungsbedürftige, worauf sich der Oberpaßbeamte wieder seinem Begleiter zuwandte: „Er will sich in Italien erholen“, sagte er. „Vielleicht auch nicht!“ meinte der Paßunterbeamte lakonisch und blickte den Erholungsbedürftigen mißtrauisch an, denn er erinnerte ihn an einen gewissen Isidore Niederthaler in Brixen, dessen Weib als politisch verdächtig auf der faschistischen Schwarzen Liste stand. „Das Weib hat einen prächtigen Hintern“, dachte der Paßunterbeamte. Inzwischen hatte sich der Oberpaßbeamte bereits wieder an einen dritten Reisenden gewandt. Der hieß Franz Karl Zeisig. „Sie fahren nach Italien?“ fragte der Oberpaßbeamte. „Zu blöd!“ murmelte Kobler. „Wir fahren doch alle nach Italien!“ „Unterschätzen Sie nicht Benito Mussolini“, flüsterte ihm der Erholungsbedürftige zu. „Mit dieser scheinbar ungereimten Fragerei verfolgen die Paßbeamten einen ganz bestimmten Zweck. Das sind alles besonders hervorragende Detektive von der politischen Polizei in Rom. Wissen sie, was ein Kreuzverhör ist?“ Kobler blieb ihm die Antwort schuldig, denn plötzlich standen drei Faschisten vor ihm. „Haben Sie Zeitungen?“ fragte der erste Faschist. „Österreichische, sozialistische, kommunistische, anarchistische, syndikalistische und nihilistische dürfen Sie nicht mit nach Italien nehmen, weil das strengstens verboten ist!“ „Ich bin kein Nihilist“, sagte Kobler, „ich hab bloß ein Magazin bei mir.“ Und dann durchwühlten noch einige italienische Finanzer seinen Koffer. „Was ist das?“ fragte der eine und hielt ihm eine Krawatte unter die Nase. „Das ist eine Krawatte“, sagte Kobler. Der Finanzer nickte befriedigt, lächelte ihm freundlich zu und verschwand mit seinen Kollegen. Endlich wars vorbei mit den Grenzübertrittschwierigkeiten, und der Schnellzug setzte sich als „diretto“ südwärts in Bewegung. Hinab vom Brenner – durch das neue Italien. 11 Nun waren aber plötzlich alle Aufschriften italienisch. Kobler konnte sich kaum mehr vom Fenster trennen, so kindisch faszinierte ihn jede Aufschrift, obwohl oder

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weil er nicht wußte, was sie bedeuten sollte. „Albergo Luigi, Uscita, Tabacco, Olio sasso, Donne, Uomine“, las er. „Das hat halt alles einen Klang“, dachte er. „Schad, daß ich nicht Koblero heiß!“ Im ehemaligen Franzensfeste hatten sie etwas Aufenthalt. „Erlauben Sie, wo sind wir jetzt?“ fragte ihn ein nervöser deutscher Italienreisender, der ihm nicht über die Schulter schauen konnte. „In Latrina“, antwortete Kobler. „Machen Sie da gefälligst keine schlechten Witze!“ schrie der Nervöse. Kobler war sehr verdutzt. Da hing ja direkt vor ihm das Schild: Latrina

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„Brüllen Sie nicht mit mir!“ brüllte er den Nervösen an. „Bedaure, Herr“, kreischte der Nervöse und zappelte sehr. „Ich bin zu solchen Späßen keineswegs bereit!“ „Jetzt kommt der feierliche Moment, wo ich dir eine schmier“, dachte Kobler, aber hier mischte sich jener erholungsbedürftige Albert Hausmann überaus freundlich in die Auseinandersetzung, um den Streit im Keime zu ersticken, denn er war sehr ängstlich. „Irrtum, meine Herren!“ meinte er. „Latrina bedeutet soviel wie Abort! Sie reden aneinander vorbei, meine Herren!“ Der Erholungsbedürftige sprach nämlich perfekt Italienisch und war überhaupt ein sehr intelligenter und belesener Mann, der besonders in der Weltgeschichte bewandert war. „Das alles war früher Südtirol“, sagte er. Und dann gab er Kobler den Rat, sich nur ja vor den faschistischen Spitzeln zu hüten, die wären nämlich äußerst raffiniert und brutal. „Dort drüben am dritten Fenster zum Beispiel“, wisperte er geheimnisvoll und deutete verstohlen auf einen Mann, der wie ein Bauer aussah, „dort dieser Kerl ist sicher ein Spitzel. Der wollte mich nämlich gerade in ein verfängliches Gespräch verwickeln, er wird auch Sie verwickeln wollen, er trachtet ja nur danach, jeden zu verwickeln – und bei der ersten abfälligen Äußerung über Mussolini, Nobile oder überhaupt das System werden Sie sofort aus dem Zuge heraus verhaftet. Geben Sie acht!“ Kobler gab acht. Knapp vor Bolzano näherte sich ihm der Spitzel. „Bolzano hieß früher Bozen“, sagte der Spitzel. Aha! dachte Kobler. „In Bozen bauen jetzt die Italiener ein riesiges Elektrizitätswerk“, sagte der Spitzel. Nur zu! dachte Kobler. „Die Italiener“, fuhr der Spitzel fort, „haben die Wassermengen von ganz weit weg nach Bozen geleitet. Sie haben durch diese ganze Bergkette da draußen einen Schacht gebohrt, und zwar haben sie dort droben unterhalb der Kuppe angefangen zu bohren, und in Bozen haben sie auch angefangen zu bohren und haben sich so zusammenbohren wollen, aber sie haben gleich dreimal aneinander vorbeigebohrt, anstatt, daß sie sich zusammengebohrt hätten. Sie mußten sich erst reichsdeutsche Ingenieure engagieren“, grinste der Spitzel. „Die Reichsdeutschen werden sich schon auch nicht zusammengebohrt haben“, meinte Kobler. „Doch, und zwar haargenau!“ ereiferte sich der Spitzel. „Zufall“, meinte Kobler.

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Pause. „Kennen Sie Bozen?“ fragte der Spitzel. „Nein“, sagte Kobler. „Dann schauen Sie sich doch Bozen an!“ rief der Spitzel. „Die Bozener sind ja ganz weg über die reichsdeutschen Gäste!“ „Ich bin ein reichsdeutscher Faschist“, sagte Kobler. Der Spitzel sah ihn erschrocken an. „Dort drüben ist jetzt der Rosengarten“, meinte er kleinlaut. „Vielleicht!“ sagte Kobler und ließ ihn stehen. Der Spitzel sah ihm noch lange nach. Er war ja gar kein Spitzel. 12

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Befriedigt darüber, daß er Mussolinis vermeintlichem Spitzel ein Schnippchen geschlagen hatte, betrat Kobler den Speisewagen. „Jetzt hab ich mir meinen Kaffee verdient“, sagte er sich und war so glücklich, als hätt er gerade einen Prozeß gewonnen, den er Rechtens hätte verlieren müssen. Es war nur noch ein Platz frei im Speisewagen. „Prego?“ fragte Kobler, und das war sein ganzes Italienisch. „Aber bitte!“ sagte der Gast in deutscher Sprache. Das war ein kultivierter Herr aus Weimar, der Stadt Goethes und der Verfassung. Überhaupt fiel es auf, daß trotz des italienischen Hoheitsgebietes im ganzen Zuge, außer von den Schaffnern und einigen Schwarzhemden, lediglich deutsch gesprochen wurde. Besonders im Speisewagen hörte man allerhand deutsche Dialekte. Der kultivierte Herr an Koblers Tisch hatte ein schwammiges Äußeres und schien ungemein verfressen zu sein. Ein Gourmand. Als Sohn eines ehemaligen Pforzheimer Stadtbaumeisters, der in der wilhelminischen Epoche eine schwerreiche Weimarer Patriziertochter geheiratet hatte, konnte er sich seine drei Lachsbrötchen, vier Ölsardinen, zwei Paar Frankfurter und drei Eier im Glas ungeniert leisten. Von seinem Vater, dem Stadtbaumeister, hatte er die Einbildung geerbt, daß er einen regen Sinn für architektonische Linienführung besäße, und von der Mutter hatte er trotz der Inflation einen Haufen Geld geerbt und die gesammelten Werke der Klassiker. Er war sechsundvierzig Jahre alt. „Ich bin ein Renaissancemensch“, erklärte er Kobler und sprach sehr gewählt. „Mein Ideal ist der Süditaliener, der sich Tag und Nacht am Meeresstrande sonnt, nie etwas tut und überaus genügsam ist. Sie können es mir glauben, auch unsere deutschen Arbeiter wären glücklicher, wenn sie genügsam wären. Herr Ober, bringen Sie mir noch ein Tatarbeefsteak!“ Dieser Renaissancemensch hatte natürlich noch nie etwas gearbeitet und litt infolgedessen an einer schier pathologischen Hypochondrie. Er hatte eben nichts zu tun, als sich vor dem Sterben zu fürchten. Und obendrein war er auch noch verwegen dumm. So hatte er des öfteren behauptet, daß ihm das Schicksal des Deutschen Reiches ganz egal wäre, wenn nur die Dividenden steigen würden. „So was sagt man doch nicht!“ hatte sich sein Vetter, ein scharf rechtsstehender Realpolitiker, entrüstet und hatte ihn unter Kuratel stellen lassen wollen, aber das ist ihm vorbeigelungen. „Er ist doch normal und denkt scharf logisch“, hatte der Gerichtsarzt gemeint. „Also Sie fahren nach Barcelona“, sagte nun der total Normale zu Kobler und fügte scharf logisch hinzu: „Primo ist ein tüchtiger Mann. Ein Kavalier. Wenn Sie

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nach Barcelona kommen, so grüßen Sie mir, bitte, die Stierkämpfe, Sie werden da etwas prachtvoll Traditionelles erleben. Und dann überhaupt dieser ganze spanische konservative Geist! Es ist eben immer dasselbe. Ich hab schon immer gesagt: Das konservative Element müßte sich international zusammenschließen, um sich stärker konservieren zu können – Wir deutschen Konservativen sollten die französischen Konservativen einfach in das Land hereinrufen, auf daß sie diese Republik züchtigen – Frankreich hat ja die militärische Macht, um jeden deutschen Arbeiter an die Wand stellen zu können –, und après sollten wir Kulis aus China einführen, die nicht mehr brauchen als täglich eine Handvoll Reis.“ Und er fügte lachend hinzu: „Das ist natürlich nur ein Witz!“ 13

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In Verona mußte Kobler zum zweitenmal umsteigen, und zwar in den Schnellzug nach Mailand, der um diese Zeit von Venedig zu kommen pflegte. Hierzu standen ihm leider nur zehn Minuten zur Verfügung, und so konnte er also von Verona nichts sehen, nur den Bahnhof, und der sah andern Bahnhöfen leider sehr ähnlich. Es war auch inzwischen schon Nacht geworden, und zwar eine Neumondnacht. Verona sei eine uralte Stadt, die irgendwie mit dem Dietrich von Bern zusammenhängt, hatte ihm der Renaissancemensch erzählt, und angeblich lägen in ihr auch noch obendrein Romeo und Julia, das berühmteste Liebespaar der Welt, begraben. Die veronesischen Bordelle seien zwar nicht berühmt, jedoch immerhin. Auf dem Bahnsteig ging ein Herr in brauner Uniform auf und ab. Er hatte eine Armbinde auf dem rechten Oberarm, und auf der stand in vier Sprachen geschrieben, daß er ein amtlicher Dolmetscher sei und also kein Trinkgeld annehmen dürfe. Er war überaus zuvorkommend und gab Kobler fließend deutsch Auskunft. „Der diretto aus Venezia nach Milano“, sagte er, „kommt an auf dem dritten Bahnsteig und fährt ab auf dem dritten Bahnsteig, das ist dort drüben, wo jene lächerliche Frau steht.“ Diese lächerliche Frau war des Dolmetschers Frau, mit der er sich gerade wieder mal gezankt hatte. Nämlich sie hatte es noch nie haben wollen, daß er den Beruf eines amtlichen Dolmetschers ausübt und nächtelang mit allerhand Ausländerinnen auf dem Bahnhof herumlungert. Aber der Dolmetscher pflegte immer nur zu sagen: „Soviel Sprachen jemand spricht, sooft ist dieser Jemand ein Mensch!“ Auch an diesem Abend hatte er ihr dies wieder mal gesagt, worauf sie aber ganz außer sich geraten ist. „Mit soviel Menschen will ich gar nichts zu tun haben!“ hatte sie auf dem Korso geschrien. „Ich will ja bloß dich! Oh, wenn du nur taubstumm wärest, Giovanni! So, und jetzt fahr ich zu meinem Bruder nach Brescia!“ Dies war jenes Brescia, wo einst die Frau Perzl aus der Schellingstraße ein Drittel Windmühle geerbt hatte. „In Italien soll man möglichst zweiter Klass’ fahren“, erinnerte sich Kobler an die Ratschläge der Perzl. „Besonders wenn man schlafen will, soll man es tun, weil die Reisenden in Italien, besonders die in der dritten Klass’, meistens laut vor sich hinsingen, als möcht man gar nicht schlafen wollen.“ Und Kobler wollte schlafen, denn er war plötzlich sehr müde geworden. „Entweder ist das die Luftveränderung“, dachte er, „oder wahrscheinlich die vielen neuen Eindrück.“ Vor seinem geistigen Auge tauchten sie wieder alle auf, mit denen er während der letzten zwölf Stunden in Berührung gekommen war. Aber diesmal hatte jeder nur

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eine Geste – trotzdem wollte es kaum ein Ende nehmen mit den Erscheinungen. Und als die Gestalt des Herrn Bschorr gar zum zweitenmal daherkommen wollte, stolperte Kobler über einen verlorenen Hammer. Und dann gingen viele Berge, Viadukte und fremde Dörfer um ihn herum, und das Inntal blieb vor ihm stehen. Auch die italienische Sprache sah ihn an, aber etwas von oben herab. „Also wenn das so weitergeht“, dachte er, „dann werd ich meine Ägypterin noch ganz vergessen, an die ausländischen Kabrioletts denk ich ja überhaupt nicht mehr, ich hab mich ja schon fast selber vergessen, hoffentlich kann ich jetzt schlafen bis Milano, das ist der italienische Name für Mailand – dort darf ich dann wieder herumhocken, bis ich den Anschluß nach Ventimiglia krieg. Das wird eine weite Reise werden. Und derweil ist unsere Welt eigentlich klein. Und wird auch noch immer kleiner. Immer wieder kleiner. Ich werds ja nicht mehr erleben, daß sie ganz klein wird –“, so versuchte er sich zu sammeln. Dabei hatte er ein unangenehmes Gefühl. Es war ihm wie jenem Manne zumute, der am Donnerstag vergaß, was er am Mittwoch getan hatte. „Erster Klass’ soll man halt reisen können!“ seufzte er. „Mir tut von dem Holz schon der Hintern weh. Meiner Seel, ich glaub, ich bin wund!“ Infolgedessen stieg er nun in ein Abteil zweiter Klasse. In der Ecke saß bereits ein Herr hinter seinem Regenmantel und schien totenähnlich zu schlafen. Er hatte nur eine kleine Handtasche, hingegen märchenhaft viel Zeitungen. Die Ausgaben lagen nur so herum, sogar auf dem Boden und auch im Gepäcknetz. Er mußte beim Zeitungslesen eingeschlafen sein. – Zwanzig Minuten hinter Verona, als Kobler gerade einschlafen wollte, wachte der Herr auf. Zuerst gähnte er recht unartikuliert, und dann sah er hinter seinem Mantel hervor, erblickte Kobler, starrte ihn erstaunt an, rieb sich die Augen, fixierte ihn etwas genauer und fragte gemütlich deutsch: „Wie kommen Sie hier herein?“ Aber Kobler ärgerte sich, daß ihn der Herr nicht einschlafen ließ, und war also kurz angebunden. „Ich komm durch die Tür herein“, sagte er. „Das vermut ich“, sagte der Herr. „Das vermut ich sogar sehr! Durch das Fenster werden Sie wohl nicht hereingeflogen sein. Hab ich denn so fest geschlafen? Ja, ich hab so fest geschlafen.“ Seltsam! dachte Kobler. Er hat mich gleich ausgesprochen deutsch angesprochen, ob das auch ein Spitzel ist? Mißtrauisch beobachtete er den Herrn. Dieser war bereits etwas angegraut und glatt rasiert. „Woher wissen Sie denn, daß ich Deutscher bin?“ fragte er ihn plötzlich und gab sehr acht, daß er dabei harmlos aussah. „Ich kenn das am Kopf“, meinte der Herr. „Ich kenn das sofort am Kopf. Die Deutschen haben nämlich alle dicke Köpfe, natürlich nur im wahren Sinne des Wortes. Ich bin ja selbst so halb Deutscher. Was bin ich nicht halb? Alles bin ich halb! So ist das Leben! Da sitzen wir uns gegenüber und fahren durch die Po-Ebene. Ich komm aus Venedig, während Sie? –“ „Zuletzt komm ich aus Verona“, sagte Kobler. „Verona hat eine herrliche Piazza“, meinte der Herr. „Die Piazza d’Erbe ist ein Mittelpunkt des Volkslebens. Und viel Militär liegt in Verona, es ist halt sehr befestigt. Es bildete ja mit den Befestigungen von Peschiera, Mantua und Legnago das viel genannte Festungsviereck. Gegen wen? Gegen Österreich-Ungarn. Und warum gegen Österreich-Ungarn? Weil es mit Italien verbündet war. Aber was war ein Bündnis im Zeitalter der Geheimdiplomatie? Die Rüstungsindustrie ließ sich ver-

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sichern. Und was ist ein Bündnis heute? Oder glauben Sie, daß wir keine Geheimdiplomatie haben? Wir haben nur Geheimdiplomatie!“ Ist das aber ein Schwätzer! dachte Kobler grimmig. „Es tut mir direkt wohl, ein bisserl plauschen zu können, weil ich jetzt fast drei Tag lang kaum was Gescheites geredet hab“, sagte der Schwätzer und lächelte freundlich. Das auch noch! durchzuckte es Kobler, und er haßte den Herrn. Also in deiner Gesellschaft, du Mistvieh, dachte er weiter, werd ich ja kaum zum Schlafen kommen, eigentlich gehört dir eine aufs Maul. Aber ich weiß schon, was ich mach! Und er sagte: „Dürfte ich etwas in Ihren Zeitungen blättern?“ „Natürlich dürfen Sie!“ rief der Herr. „Sie dürfen sogar sehr, ich kann eh keine Zeitung mehr sehen. Brauchen Sie nur die deutschen, oder wollen Sie auch die italienischen, französischen, tschechischen – meiner Seel! A polnische ist auch dabei! Wie kommt hier das rumänische Zeug her? Ich werds mir wahrscheinlich gekauft haben. Schad fürs Geld, naus damit!“ Er öffnete das Fenster und warf alle seine nichtdeutschen Zeitungen in die brausende Finsternis hinaus. Kaum hatte er jedoch das Fenster wieder geschlossen, erschien ein Angehöriger der faschistischen Miliz, ein sogenanntes Schwarzhemd. Das Schwarzhemd betrat feierlich das Abteil und sprach mit dem Herrn ruhig, aber unfreundlich. Der Herr machte abwehrende Gebärden und sprach perfekt italienisch. Hierauf zog sich das Schwarzhemd wieder zurück und war verstimmt. „Was hat denn der Faschist von Ihnen wollen?“ fragte Kobler. „Das frag ich mich auch“, rief der Herr und versuchte sich zu winden. Dann fuhr er fort: „Ich werd es Ihnen übersetzen, was er von mir gewollt hat. Er wollte wissen, ob ich zuvor meine Zeitungen hinausgeworfen hab, denn diese Zeitungen sind ihm weiter hinten durch ein offenes Fenster auf das Maul geflogen, und zwar mit Wucht. Ich hab ihm natürlich sofort gesagt, daß ich natürlich noch nie in meinem Leben Zeitungen hinausgeworfen hab. Mich kann man halt nicht überrumpeln. Glaubens mir, ich bin ein gewandter Reisender!“ „Was stinkt denn da so penetrant?“ fragte Kobler. „Das bin ich“, sagte der gewandte Reisende. „Es wird Sie wohl hoffentlich nicht stören, Herr! Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich zwanzig Jahre älter als Sie. Sagen Sie, waren Sie eigentlich noch Soldat?“ „Ich fahr jetzt bis Milano“, antwortete Kobler ausweichend, – er war nämlich kein Soldat gewesen, weil er sich während des Weltkrieges gerade in den Flegeljahren befunden hatte, und dieses Niemals-Soldat-Gewesensein störte ihn manchmal, wenn er mit älteren Herren zusammenkam, von denen er annahm, daß sie wahrscheinlich verwundet worden waren. „Ich fahr jetzt nach Milano“, wiederholte er sich hartnäckig, „und dann fahr ich weiter nach Marseille, weil ich nach Barcelona fahr.“ Nun aber geschah etwas Unerwartetes. Der gewandte Reisende tat, als wollte er von seinem Sitz emporschnellen: Er beugte sich steif vornüber und schrie: „Nach Barcelona fährt er!“ Hierauf warf er sich zurück und atmete tief. Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch nie gehabt, dachte Kobler und glotzte sein Gegenüber befriedigt an. Eine starke Wirkung! dachte er. „Ist das aber ein Zufall!“ ließ sich der Herr wieder vernehmen und lächelte, als wäre er tatsächlich glücklich. Dann nickte er väterlich: „Ich fahr nämlich auch nach

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Barcelona“, und das verblüffte den Kobler. „Das ist natürlich ein Zufall“, grinste er sauer und kränkte sich wegen der Konkurrenz. „Und ob das ein Zufall ist!“ ereiferte sich die Konkurrenz. „Nur daß ich nicht in einer Tour nach Barcelona fahr, weil ich in Marseille auf zwei Tag aussteigen will, um Marseille kennenzulernen. Das ist nämlich eine überaus farbenprächtige und vor allem völkerkundlich sehr interessante Hafenstadt und bietet instruktive Einblicke.“ „Das hab ich schon gehört“, sagte Kobler. „Dieses Marseille muß ja eine grandiose Hurenstadt sein, und ich hab mirs auch schon überlegt, ob ichs mir nicht anschauen sollt, aber vielleicht rentiert es sich doch nicht, ich bin nämlich sehr mißtrauisch.“ „Da tun Sie aber Marseille bitter Unrecht! Erlaubens, daß ich mich vorstell: Rudolf Schmitz aus Wien“ – Rudolf Schmitz war Redakteur, er vertrat in Wien u.a. ein Abendblatt in Prag, ein Morgenblatt in Klausenburg, ein Mittagblatt in Agram, ein Wochenblatt in Lemberg und in Budapest ein Revolverblatt. Als geborener Österreich-Ungar aus Ujvidék hatte er ein kolossales Sprachtalent und beherrschte infolgedessen alle Sprachen der ehemaligen Doppelmonarchie, aber infolgedessen leider keine ganz perfekt. Trotzdem bildete er es sich in seinen Jünglingsjahren ein, daß er dichterisch was leisten könnte. Damals verfaßte er Gedichte, und zwar einen ganzen Zyklus. „Ein Vorsommer in der Hölle“ hieß der Zyklus und war von der westlichen Dekadenz beeinflußt. Aber kein Verleger wollte was von dem Vorsommer wissen. „Hier habens zwa Gulden, und schleimens Ihnen aus!“ sagte der eine Verleger. Und Schmitz tat dies, denn er war zu guter Letzt doch nur intelligent und ein gesunder Egoist. Hernach wurde er abgeklärter. „Auch Rimbaud hat sich ja von der Dichtkunst abgewandt, um ein gedichtetes Leben zu führen“, stellte er fest und wurde allmählich Korrespondent. Soziologisch betrachtet, stammte er aus k. u. k. Offiziers- und Beamtenfamilien, aber er hatte nie was übrig für das Bürgerliche. Er war der geborene Bohemien. Bereits 1905 ging er ohne Hut. Seine Schwäche war die Metaphysik. – Nun fragte er Kobler: „Was ist der Zufall, lieber Herr? Niemand weiß, was der Zufall ist, und das ist es ja gerade. Der Zufall, das ist die Hand einer höheren Macht, im Zufall offenbart sich der liebe Gott. Gäbs keinen Zufall, hätten wir keinen lieben Gott! Nämlich das Durchdenken und Durchorganisieren, das sind menschliche Eigenschaften, aber das völlig Sinnlose des Zufalls ist göttlich.“ Er tat seine Beine auf den gegenüberliegenden Polstersitz, denn in dieser Stellung tat das Philosophieren am wohlsten. Da erschien aber sofort wieder jenes Schwarzhemd von zuvor und forderte ihn barsch auf, eine Zeitung unter seine Schuhe zu breiten. „Jetzt grad nicht!“ dachte der Herr Schmitz verärgert, tat seine Beine herab und hörte auf zu philosophieren. Das Schwarzhemd verließ das Abteil und war schon wieder etwas besserer Laune. „Ein Pyrrhussieg“, murmelte Schmitz, und als man das Schwarzhemd nicht mehr sehen konnte, seufzte er: „Das ist denen ihre Revolution! Da fahren die Faschisten in jedem Zug so herum und geben acht, daß niemand Zeitungen nausschmeißt oder leichtsinnig die Aborte beschmutzt. So erziehen sie ihre Nation! Und wozu erziehen sie ihre Nation? Zum Krieg.“ „Gegen wen, glauben Sie?“

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„Gegen jeden, lieber Herr!“ stöhnte der Philosoph. „Ja, das ist halt hier ein pädagogischer Umsturz. Bekanntlich ist halt jede Revolution ein pädagogisches Problem, aber auch die Pädagogik ist ein revolutionäres Problem. Wie Sie sehen, ist das sehr kompliziert. Aber ist denn der Faschismus überhaupt eine Revolution? Aber keine Spur! Sacro egoismo und sonst nix!“ „Also ich persönlich halt nicht viel von den Revolutionen“, meinte Kobler. „Ich hätt zwar wirklich nichts dagegen, wenn es jedem besser ging, aber ich glaub halt, daß die revolutionären Führer keine Kaufleut sind, sie haben keinen kaufmännischen Verstand.“ „Das Zeitalter der Kaufleut“, nickte Schmitz. „Und glauben Sie nicht auch, daß wir Kaufleut noch lange nicht unsern Höhepunkt erreicht haben?“ fragte Kobler hastig. Der Schlaf war ihm plötzlich vergangen. „Wem erzählen Sie das?!“ rief Schmitz und fuhr dozierend fort: „Hörens her: Erst wenn alle menschlichen Werte ehrlich und offen vom kaufmännischen Weltbild aus gewertet werden, dann werden die Kaufleut ihren Höhepunkt erreicht haben; aber dann wirds auch wieder abwärtsgehen mit die Kaufleut, und dann wird das Zeitalter einer anderen Gesellschaftsschicht heraufdämmern. Das ist die ewige Ellipse. Ein Kreis ist das nämlich nicht.“ „Ich seh keine Gesellschaftsschicht, die hinter uns Kaufleuten heraufdämmern könnt“, meinte Kobler düster. „Das Proletariat.“ „Aber das geht doch nicht!“ „Warum soll das nicht gehen?“ staunte Schmitz. „Wenn Sie seinerzeit dem Alexander dem Großen gesagt hätten, daß heut die Kaufleut regieren werden, hätt er Sie lebendig begraben lassen. Ich warne Sie vor der Rolle Alexanders des Großen.“ Hier wurde das Gespräch durch den Schaffner unterbrochen, der das Abteil betrat, um die Fahrkarten kontrollieren zu können. Kobler mußte nachzahlen, und auch Schmitz mußte nachzahlen, denn auch er hatte nur dritte Klasse. Der Schaffner sprach gebrochen Deutsch, und während er das Geld wechselte, unterhielt er sich mit den beiden Herren. Er sagte, daß er Deutschland sehr schätze und achte, denn er kenne eine deutsche Familie, und das wären außerordentlich anständige und zuvorkommende Menschen. Zwar wären das eigentlich keine reinen Deutschen, sondern Deutsche aus Rußland, sogenannte Emigranten. Sie seien aus Rußland geflohen, weil sie wegen der bolschewistischen Verbrecher arbeiten hätten müssen, und das könnte man doch nicht, wenn man noch nie etwas gearbeitet hätte. Sie hätten also all ihr Hab und Gut zurücklassen müssen und seien nur mit dem, was sie am Leibe gehabt hätten, bei Nacht und Nebel geflohen. Sie hätten sich dann ein Hotel am Gardasee gekauft, ein wunderbares Hotel. „Schon wieder ein Schwätzer!“ brummte Kobler, während Schmitz den Schwätzer überaus wohlwollend betrachtete. „In Milano umsteigen!“ fuhr der Schwätzer zufrieden fort. „Neulich war Mussolini in Milano, da hat die Sonne geschienen, aber kaum war Mussolini wieder weg von Milano, hat es sofort geregnet. Sogar der Himmel ist für Mussolini“, grinste er und wünschte den beiden Herren eine glückliche Reise. Als er draußen war, entstand eine Pause. „Das war ein verschmitzter Bursche“, ließ sich Schmitz wieder vernehmen. „Auch ein Beitrag zur philosophisch-metaphysischen Mentalität unterdrückter Klassen.“ „Sie sind anscheinend kein Kaufmann?“ meinte Kobler.

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„Nein“, sagte Schmitz. „Ich bin ein Mann der Feder und fahr jetzt als Sonderkorrespondent zur Weltausstellung.“ Nun entstand abermals eine Pause. Während dieser Pause dachte jeder über den anderen nach. Ich hab bisher eigentlich nur einen einzigen Mann der Feder gekannt, dachte Kobler, das war ein Poet, der nie bei sich war, wenn man nicht gerad über Hyazinthen gesprochen hat. Ein unpraktischer Mensch. Der hätt mir nur schaden können, sonst nichts. Aber dieser Schmitz scheint ein belesener und hilfsbereiter Mensch zu sein – man soll halt nur mit Menschen verkehren, von denen man was hat. Das tun zwar alle, aber die meisten wissen nicht, was sie tun. Vielleicht kann mir dieser Mann der Feder was nützen, vielleicht kann ich ihn sogar ausnützen – als Mann der Feder hat er sicher viel weibliche Verehrerinnen, auch in Ägypten wird er wahrscheinlich welche haben. Oh, ich glaub schon daran, daß es eine Vorsehung gibt! Wenn er nur nicht so stinken tät! Und Schmitz dachte: Vielleicht war es sogar blöd von mir, daß ich mich dem gleich angeboten hab als Reisebegleiter. Sicher war es blöd. Oh, wie bin ich blöd! Und warum bin ich blöd? Weil ich ein weicher Mensch bin. Ich kann aber auch energisch sein. Vielleicht ist das gar ein Schnorrer und pumpt mich an. Ich bin sehr energisch. Kaufmann ist er, hat er gesagt. Wer ist heut kein Kaufmann? Und was werden Sie schon für ein Kaufmann sein, lieber Herr? Es geht mich ja nichts an. Betrügen tut er sicher, sonst tät er nicht in seinem Alter nach Barcelona fahren, nämlich zur Großbourgeoisie gehört jener nicht, das kenn ich an den Bewegungen. Ob jener ein Hochstapler ist? Nein, denn das kenn ich auch an den Bewegungen. Auf alle Fälle ist er blöd. – Meiner Seel! Wie er mir nicht paßt, werd ich ihn schon los, wann, wo und wie ich will! Ich spring auch aus dem fahrenden Zug! 14

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Als der Schnellzug Milano erreichte, war es zehn Minuten nach Mitternacht, obwohl der Schnellzug fahrplanmäßig erst um dreizehn Minuten nach Mitternacht Milano erreichen sollte. „Das nenn ich Ordnung!“ rief Schmitz. Er führte Kobler in das Bahnhofsrestaurant, wo sie sich bis zur Weiterfahrt nach Ventimiglia (3.29 Uhr) aufhalten wollten. Schmitz kannte sich gut aus. „Ich kenn mich in Milano aus wie in Paris“, sagte er. „Das beste ist, wir bleiben am Bahnhof.“ „Es hat nämlich keinen Sinn, in die Stadt zu fahren“, fuhr er fort, „denn erstens ist es ja jetzt stockfinster, und so hätten wir absolut nichts von dem gotischen Mailänder Dom, und zweitens ist hier architektonisch nicht viel los, es ist halt eine moderne Großstadt. Sie werden noch genug Gotik sehen!“ „Ich bin auf die Gotik gar nicht so scharf“, sagte Kobler. „Mir sagt ja das Barock auch mehr“, sagte Schmitz. „Mir sagt auch das Barock nichts“, sagte Kobler. „Ja, verglichen mit den Wunderwerken Ostasiens, können wir Europäer freilich nicht mit!“ sagte Schmitz. Kobler sagte nichts mehr. Jetzt halt aber endlich dein Maul! dachte er. „Jetzt wollen wir aber einen Chianti trinken!“ rief Schmitz und leuchtete. „Das ist der Wein mit dem Stroh untenherum. Oder sind Sie gar Abstinenzler?“ „Wieso kommen Sie darauf?“ verwahrte sich Kobler entschieden. „Ich kann enorm viel saufen und sogar durcheinander!“ „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz und lächelte glücklich.

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Schmitz war nämlich ganz verliebt in den Chianti, und auch Kobler fühlte sich sehr zu ihm hingezogen, als er ihn nun im Bahnhofsrestaurant kennenlernte. Wohlig rann er durch ihre Gedärme, und bald stand die zweite Flasche vor ihnen. Dabei unterhielten sie sich über den Weltkrieg und den Krieg an sich. Sie hatten schon im Zuge davon angefangen, denn da Schmitz auch kein Soldat gewesen war, hatte Kobler nichts dagegen gehabt, mal über die Idee des Krieges zu plaudern. Der Chianti löste ihre Zungen, und Kobler erzählte, er wäre ja politisch schon immer rechts gestanden, allerdings nur bis zum Hitlerputsch. Gegenwärtig stünde er so ziemlich in der Mitte, obwohl er eigentlich kein Pazifist sein könne, da sein einziger Bruder auf dem Felde der Ehre gefallen sei. „Wie hieß denn Ihr Herr Bruder?“ fragte Schmitz. „Alois“, sagte Kobler. „Armer Alois!“ seufzte Schmitz. „Ist Ihnen schlecht?“ erkundigte sich Kobler. „Mir ist immer schlecht, lieber Herr“, lächelte Schmitz wehmütig und leerte sein Glas. „Ich bin halt ein halber Mensch“, fuhr er fort und wurde immer sentimentaler. „Mir fehlt manchmal was, ob das die Heimat ist oder ein Frauenzimmer? Der Sanitätsrat meint zwar, daß meine Depressionen mit meiner miserablen Verdauung zusammenhängen, aber was wissen schon die Mediziner!“ „Ich persönlich bin schon sehr dafür, daß es keinen Krieg mehr geben soll“, antwortete Kobler, „aber glaubens denn, daß sich so was durchführen läßt?“ „Armer Alois“, murmelte Schmitz, und plötzlich wurde die Luft sehr leise. Dem Kobler war dies unbehaglich, und dabei fiel ihm ein, daß dieser Heldentod seinerzeit die Mutter natürlich sehr mitgenommen hatte. Sie hatte es direkt nicht mehr vertragen wollen, daß die Sonne scheint. „Wenn ich nur von ihm träumen könnt“, hatte sie immer wieder gesagt, „damit ich ihn sehen könnt!“ – Sie tranken bereits die dritte Flasche Chianti, aber Schmitz schien noch immer an sehr deprimierende Dinge zu denken, denn er war direkt abwesend. Plötzlich jedoch gab er sich einen Ruck und unterbrach die unangenehme Stille: „Neuerdings“, sagte er, „wird in unserer Literatur das Todesmotiv vernachlässigt, es will halt alles nur leben.“ „Man soll sich mit so was gar nicht beschäftigen“, beruhigte ihn Kobler wegwerfend. Als Kind ist er zwar gern auf den Friedhof gegangen, um den Vater zu besuchen, die Großeltern oder die gute Tante Marie. Aber durch den Weltkrieg ist das alles anders geworden. „Hin ist hin!“ hatte er sich gesagt und ist nach München übergesiedelt. In München ging es damals (1922) drunter und drüber, und Kobler bot sich die Gelegenheit, die politische Konjunktur auszunutzen. Er hatte ja nichts zu beißen, und als Mittelstandsprößling stand er bereits und überzeugt politisch rechts und wußte nicht, was die Linke wollte – aber so sehr rechts stand er innerlich doch nie, wie seine neuen Bekannten, denn er besaß doch immerhin ein Gefühl für das Mögliche. „Es ist eigentlich alles möglich“, sagte er sich. Einer seiner neuen Bekannten gehörte sogar einem politischen Geheimbund an, mit dem seinerzeit die politische Polizei sehr sympathisierte, weil dieser Geheimbund noch rechtsradikaler war als sie selbst. Er hieß Wolfgang und verliebte sich in Kobler, aber dieser ließ ihn nicht ran. Trotzdem verschaffte ihm Wolfgang eine Stelle, denn er war nicht nur leidenschaftlich, sondern auch zu einer aufopferungsvollen Liebe durchaus fähig.

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So geriet Kobler in eine völkische Inflationsbank, und als der Bankier verhaftet wurde, wechselte Kobler in ein Fahrradgeschäft, hielt es aber nicht lange aus und wurde Reisender für eine württembergische Hautcreme und Scherzartikel. Dann hausierte er mit Briefmarken, und endlich landete er durch Vermittlung eines anderen Wolfgangs in der Autobranche. Wenn er heute an diese Zeit zurückdenkt, muß er sich direkt anstrengen, um sich erinnern zu können, wovon er meistens eigentlich gelebt hatte. Meistens ist er ja nur gerade noch durchgerutscht durch die Schlingen, die uns das Leben stellt. „Du mußt einen guten Schutzengel haben“, hatte ihm mal eine Prostituierte gesagt. Er dachte nicht gern an seine Vergangenheit, aber noch ungerner sprach er über sie. Er hatte nämlich häufig das Gefühl, als müßte er etwas vertuschen, als ob er etwas verbrochen hätte – und er hatte doch nichts verbrochen, was nicht in den Rahmen der geltenden Gesellschaftsordnung gepaßt hätte. Drum sprach er auch jetzt beim Chianti lieber über die Zukunft. „Der Weltkrieg der Zukunft wird noch schauerlicher werden“, erklärte er Schmitz, „aber es ist halt nicht zu verwundern, daß es bei uns in Deutschland Leute gibt, die wieder einen Krieg wollen. Sie können sich halt nicht daran gewöhnen, daß wir zum Beispiel unsere Kolonien verloren haben. Ein Bekannter von mir hat zum Beispiel in seinem Briefmarkenalbum die ehemals deutschen Kolonien schwarz umrändert. Er sieht sie sich jeden Tag an – alle andern Kolonien, englischen, italienischen, portugiesischen und so weiter hat er abgestoßen, noch dazu zu Schleuderpeisen, und die französischen Kolonien hat er, glaub ich, verbrannt.“ Schmitz hörte aufmerksam zu. „Ich, Rudolf Schmitz“, betonte er, „bin überzeugt, daß ihr Deutschen alle eure verlorenen Gebiete ohne Schwertstreich zurückbekommen werdet, und auch wir Deutsch-Österreicher werden uns ebenso an euch anschließen – ich sage nur eines: Heilige Allianz ist gleich Völkerbund. Napoleon ist gleich Stalin!“ „Das weiß ich noch nicht“, antwortete Kobler skeptisch, weil er nicht wußte, was die Heilige Allianz bedeuten sollte. „Wer ist denn Stalin?“ fragte er. „Das läßt sich nicht so einfach erklären“, meinte Schmitz zurückhaltend. „Kehren wir lieber zum Thema zurück: Ich, Rudolf Schmitz, bin überzeugt, daß es zwischen den europäischen bürgerlichen Großmächten zu keinem Krieg mehr kommen wird, weil man heutzutag eine Nation auf kaufmännisch-friedliche Art bedeutend billiger ausbeuten kann.“ „Das sag ich ja auch immer“, nickte Kobler. „Das freut mich aber!“ freute sich Schmitz und wurde wieder lebhaft: „Denkens doch nur an Amerika! Vergessens bitte nur ja nicht, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika Europa zu einer Kolonie degradieren wollen, und das werden sie auch, falls sich Europa nicht verständigen sollte, denn Europa ist ja schon ein Mandatsgebiet!“ „Ob wir uns aber verständigen werden?“ fragte Kobler und fühlte sich überlegen. „Wir müssen halt einen dicken Strich unter unsere Vergangenheit ziehen!“ ereiferte sich Schmitz. „Ich persönlich hätt nichts dagegen“, beruhigte ihn Kobler. „Diese Zoll- und Paßschikanen sind doch purer Wahnsinn!“ jammerte Schmitz. „Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet“, meinte Kobler gelassen, „haben Sie schon sehr recht, aber ich glaub halt, daß wir uns nur sehr schwer verständigen werden, weil keiner dem andern traut, jeder denkt, der andere ist der größere Gauner. Ich denk jetzt speziell an Polen.“ „Waren Sie schon in Polen?“ „Ich war noch nirgends.“

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„Aber ich war in Polen und hab mich sogar in eine Polin verliebt, es gibt halt überall anständige Menschen, lieber Herr! Einer muß halt mal beginnen, sich energisch für die Verständigungsidee einzusetzen!“ Er leerte energisch den Rest der vierten Flasche Chianti. „Wir trinken noch eine“, entschied Kobler, und während Schmitz bereitwilligst bestellte, fixierte er die Büfettdame. „Also das ist Italien!“ dachte er, und allmählich geriet er in exhibitionelle Stimmung. „Wenn ich was trink, kann ich lebhafter denken“, sagte er. Wenn schon! dachte Schmitz. „Wenn ich nichts trink, tut mir das Denken oft direkt weh, besonders über so weltpolitische Probleme“, fuhr er fort. Der Kellner brachte die fünfte Flasche, und Kobler wurde immer wißbegieriger. „Was bedeutet eigentlich ‚Pan‘?“ fragte er. „Das Universum zu guter Letzt“, dozierte Schmitz. „Und im Falle ‚Paneuropa‘ bedeutet es die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘.“ „Das weiß ich“, unterbrach ihn Kobler. Schmitz schlug mit der Faust auf den Tisch. „Aber ohne Großbritannien gefälligst!“ brüllte er und mußte dann plötzlich gähnen. „Pardon!“ riß er sich zusammen. „Ich hab jetzt gegähnt, aber ich bin noch gar nicht müd, das sind nur so Magengase, die sich bei mir besonders stark entwikkeln, wenn ich etwas angeheitert bin. Apropos: Kennen Sie meine Kriegsnovelle? Sie ist leider kein pekuniärer Erfolg, weil ich die grausige Realistik des Krieges mit meiner grausigen Phantastik verband, gewissermaßen ein Kriegs-Edgar-Allan-Poe. Ist Ihnen dieser Name ein Begriff?“ „Nein.“ „Ja, die Kunst hört allmählich auf“, murmelte Schmitz, ließ einen Donnernden fahren und wurde wieder sentimental. Er war eben ein Stimmungsmensch. „Ich les ja schon lieber wahre Geschichten als wie erfundene, wenn ich was les“, sagte Kobler. „Zwischen uns ist halt eben eine Generation Unterschied“, nickte Schmitz und lächelte väterlich. „Oft versteh ich Ihre Generation überhaupt nicht. Oft wieder scheinen mir Ihre Thesen schal, dürftig, adionysisch in einem höheren Sinn. In meiner Jugend hab ich den halben Faust auswendig hersagen können und den ganzen Rimbaud. Kennen Sie das trunkene Schiff? Pardon auf einen Moment! Ich muß jetzt mal naus.“ Und Kobler sah, daß Schmitz, wie er so hinausschritt, die Zähne zusammenbiß und die Fäuste krampfhaft ballte, so sehr nahm er sich zusammen, um nicht umzufallen. „Bin ich denn auch schon so voll?“ fragte er sich bekümmert. „Auf alle Fäll ist das ein interessanter Mensch.“ Und als der interessante Mensch wieder an den Tisch zurücktaumelte, wurde es allmählich Zeit, denn draußen auf dem Geleise standen bereits die durchgehenden Waggons nach Ventimiglia. Die beiden Herren sprachen noch etwas über die Politik an sich, über die Kunst an sich, und Schmitz beklagte sich noch besonders wegen der europäischen Zerfahrenheit an sich. Aber es wollte kein richtiges Gespräch mehr aufkommen, denn beide Herren konnten sich nicht mehr richtig konzentrieren. Kobler schrieb noch rasch eine Postkarte an die Perzl: „Bin soeben an Ihrer gewesenen Windmühle in Brescia vorbeigefahren. Gruß Kobler.“ Und darunter schrieb Schmitz: „Unbekannterweise Handküsse Ihr sehr ergebener Rudolf Schmitz.“ Dann zahlten die beiden Herren, und beide wurden vom Kellner betrogen, der sich hernach mit einem altrömischen Gruß empfahl. Und Schmitz hob den Arm zum Faschistengruß, und auch Kobler tat so. Und auch die Büfettdame tat ebenso.

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Als die beiden Herren aus dem warmen rauchigen Lokal in die frische Nachtluft traten, fielen sie fast um, denn sie hatten einen derartigen Rausch. Sie torkelten schon ganz abscheulich, und es dauerte direkt lang, bis sie endlich in einem der durchgehenden Waggons nach Ventimiglia saßen. Beide Herren waren voneinander überaus begeistert, besonders Schmitz freute sich grandios, daß er den Kobler kennengelernt hatte. Bewegt dankte er ihm immer wieder, daß er ihn nach Spanien begleiten darf. Dabei titulierte er ihn Baron, Majestät, General und Kommerzialrat. Aber plötzlich hörte Kobler kaum mehr hin, so glatt wurde er nun von der Müdigkeit, die ihn schon in Verona gepackt hatte, um ihm die Augen einzudrücken, niedergeschlagen. Also antwortete er bloß lakonisch, meist nur mit einem Wort. „Warum fahren Eminenz eigentlich nach Barcelona?“ fragte Schmitz. „Ägypten“, murmelte die Eminenz. „Wieso Ägypten, Herr Veterinär?“ „Standesamt“, stöhnte der Veterinär. „Politisch?“ „Möglich!“ „Das gibt aber jetzt ein Interview!“ brüllte Schmitz und geriet in hastige Begeisterung. „Ein Interview wie noch nie!“ Er riß sich ein Notizbuch aus der Brust, um sich Koblers Antworten gewissenhaft zu notieren, denn jetzt wußte er vor lauter Rausch nicht mehr, was er tat. „Darf man fragen“, legte er los, „was halten Herr Oberstleutnant von der GeistLeib-Bewegung? Und was von der Leib-Geist-Bewegung?“ Kobler riß die Augen auf und starrte ihn unsagbar innig an, ja er versuchte sogar zu lächeln. „Ich bin ganz der Ihre, gnädiges Fräulein“, lallte er. „Jetzt wird mir schlecht!“ brüllte Schmitz. „Jetzt wird mir plötzlich schlecht!“ Er fuhr entsetzt empor und raste hinaus, um sich zu erbrechen. Kobler sah ihm überrascht nach und machte dann eine resignierte Geste. „Frauen sind halt unberechenbar“, lallte er. – In einem solchen Zustand verließen die beiden Herren Milano, die Metropole Oberitaliens. Und dieser Zustand änderte sich auch kaum wesentlich während der restlichen Nacht. Zwar schliefen sie, aber ihr Schlaf war unruhig und quälend, voll dunkler, rätselhafter Träume. So träumte Schmitz zum Beispiel unter anderem folgendes: Er schreitet leichten Fußes und beschwingten Sinnes über arkadische Sommerwiesen. Es ist um das Fin de siècle herum, und er belauscht in einem heiligen Hain eine Gruppe sich tummelnder bildhübscher Helleninnen. „Paneuropa“, ruft er, und das ist die klassisch Schönste. Aber Paneuropa weist ihn schnippisch in seine Schranken zurück. „Wer weitergeht, wird erschossen!“ ruft sie ihm übermütig zu und lacht silbern. Doch da wird ihm die Sache zu dumm, er verwandelt sich in einen Stier, und zwar in einen Panstier, und der gefällt der Paneuropa. Keuchend wirft sie sich um seinen Panstiernacken und bedeckt seine Panstiernüstern mit den hingebungsvollsten Küssen – aber während sie ihn also küßt, verwandelt sich die klassisch schöne Paneuropa leider Gottes in die miese Frau Helene Glanz aus Salzburg. Und Kobler träumte bereits knapp hinter Milano von seinem armen Bruder Alois, der im Weltkrieg von einer feindlichen Granate zerrissen worden war. Nun trat dieser Alois als toter Soldat in einem weltstädtischen Kabarett auf und demonstrierte einem exklusiven Publikum, wie ihn seinerzeit die Granate zerrissen hatte. Dann legte er

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sich selber wieder artig zusammen, und das tat er voll Anmut. Und das Publikum sang den Refrain mit: „Die Glieder Finden sich wieder!“ 5

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Als die beiden Herren erwachten, ging es schon gegen Mittag. Sie hatten Genua glatt verschlafen, und nun näherten sie sich San Remo. Draußen lag das Meer, unsere Urmutter. Nämlich das Meer soll es gewesen sein, in dem vor vielen hundert Millionen Jahren das Leben entstand, um später auch auf das Land herauszukriechen, auf dem es sich in jener wunderbar komplizierten Weise höher und höher entwickelt, weil es gezwungen ist, sich anzupassen, um nicht aufzuhören. Schmitz fiel es ein, daß Kobler jetzt zum erstenmal das Meer sieht. „Was sagen Sie eigentlich zum Meer?“ fragte er. „Ich hab mir das Meer nicht anders gedacht“, antwortete Kobler apathisch. Er lag noch immer und sah noch sehr mitgenommen aus. „Beruhigen Sie sich, lieber Herr“, tröstete ihn Schmitz. „Mir tut der Schädel genau so weh wie Ihnen, aber ich beherrsch mich halt. Wir hätten uns in Milano nicht so besaufen sollen.“ „Wir hätten uns halt in Milano beherrschen sollen“, lamentierte Kobler. „Jahrgang 1902“, murmelte Schmitz. Sie fuhren nun am Meer entlang und hatten eigentlich nichts davon, trotzdem daß es zuerst die italienische Riviera di Ponente war und hernach sogar die französische Côte d’Azur. Zwischen den beiden mußten sie wieder mal so eine amtliche Zoll- und Paßkontrolle über sich ergehen lassen, nämlich im Grenzort Ventimiglia. Hier war es Kobler am übelsten, aber selbst Schmitz vertrödelte hier fast eine volle Stunde auf der Toilette. Sie mußten halt für ihren Mailänder Chianti bitter büßen, und das Bittere dieser Buße stand, wie häufig im Leben, im krassesten Mißverhältnis zur Süße des genossenen Vergnügens. Besonders Kobler konnte diese weltberühmte Landschaft überhaupt nicht genießen, er konnte auch nichts essen, übergab sich bei jeder schärferen Kurve und sah düster in die Zukunft. „Jetzt bin ich noch gar nicht am Ziel meiner Reise, und schon bin ich tot“, dachte er deprimiert. „Warum fahr ich eigentlich?“ Schmitz versuchte ihn immer wieder auf andere Gedanken zu bringen. „Sehens nur“, sagte er in Monte Carlo, „hier wachsen die Palmen sogar am Perron! Ich werd halt das Gefühl nicht los, daß Westeuropa noch bedeutend bürgerlicher ist, weil es den Weltkrieg gewonnen hat. Ich möcht aber nicht wissen, was sein wird, wenn die Westeuropäer mal dahinterkommen, daß sie den Weltkrieg zu guter Letzt auch nur verloren haben! Wissens, was dann sein wird? Dann werden auch hier die Sozialdemokraten Minister.“ Und in Nizza konstatierte Schmitz, daß man hier Rechtens die Uhr nicht um eine Stund, sondern gleich um vierzig Jahre zurückdrehen müßte – und hierbei lächelte er sarkastisch, aber wenn er allein war, fühlte er sich manchmal sauwohl in der Atmosphäre von 1890, obwohl er sich dann immer selbst widersprechen mußte. Und in Cap d’Antibes mußte Schmitz unter anderem an Bernard Shaw denken, und er dachte, das sei ein geistreicher Irländer, und von dem alten Nobel wär es schon eine sehr noble Geste gewesen, daß er den Nobelpreis gestiftet hätt, als er mitansehen mußte, wie sich die Leut mit seinem Dynamit gegenseitig in die Luft sprengen. –

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Nun verließ der Zug das Meer und erreichte es wieder in Toulon. „Wir sind jetzt bald in Marseille“, sagte Schmitz. Es war bereits spät am Nachmittag, und die Luft war dunkelblau. Draußen lag Toulon, ein Kriegshafen der französischen Republik. Und beim Anblick der grauen Torpedoboote und Panzerkreuzer stiegen in Schmitz allerhand Jugenderinnerungen empor. So erinnerte er sich auch, wie er einst als Kind mit der feschen Tante Natalie einen Panzerkreuzer der k. u. k. österreich-ungarischen Flotte in Pola hatte besichtigen dürfen. Die Tante hatte sich aber bald mit einem Deckoffizier unter Deck zurückgezogen, und er hatte droben fast eine halbe Stunde lang allein auf die Tante warten müssen. Und da hatte er sich sehr gefürchtet, weil die Kanonenrohre angefangen haben, sich von selber zu bewegen. „Ich versteh die französische Demokratie nicht“, dachte er nun in Toulon melancholisch. „Bei den Faschisten ist dieser Rüstungswahn nur natürlich, wenn man ihren verbrecherischen Egoismus in Betracht zieht, aber bei der französischen Demokratie mit ihrer europäischen Sendung? Sie werden sagen, daß La France halt gegen Mussolini rüsten muß, denn dieser Mussolini strebt ja nach Nizza und Korsika, und sogar den großen Napoleon will er für sich annektieren, und leider ist das halt logisch, was Sie da sagen, liebe Mariann!“ Endlich erreichten sie Marseille. Es ist bekannt, daß sich jede größere Hafenstadt durch ein farbiges Leben auszeichnet. Aber ganz besonders Marseille. In Marseille ist der Mittelpunkt des farbigen Lebens der alte Hafen, und der Mittelpunkt dieses alten Hafens ist das Bordellviertel. Wir werden darauf noch zurückkommen. Als nun die beiden Herren die breite Treppe vom Gare Saint-Charles hinabstiegen, ging es Schmitz schon deutlich besser, während Kobler sich noch immer recht matt fühlte. Auch war es ihm, als könnte er noch immer nicht wieder korrekt denken. „Hier in Marseille entstand die Marseillaise“, belehrte ihn Schmitz. „Nur nichts mehr wissen!“ wehrte sich Kobler mit schwacher Stimme. Bald hinter Toulon war es bereits Nacht geworden, und nun hatten die beiden Herren keinen sehnlicheren Wunsch, als möglichst bald in einem breiten, weichen französischen Bett einschlafen zu können. Sie stiegen in einem kleinen Hotel am Boulevard Dugommier ab, das Schmitz als äußerst gediegen und preiswert empfohlen worden war. Aber der ihm das empfohlen hatte, mußte ein äußerst boshafter Mensch gewesen sein, denn das Hotel war nicht gediegen, sondern ein Stundenhotel und infolgedessen auch nicht preiswert. Jedoch den beiden Herren fiel das bei ihrer Ankunft nicht auf, denn sie schliefen ja schon halb, als sie das Hotelbüro betraten. Sie gingen ganz stumm auf ihr Zimmer und zogen sich automatisch aus. „Hoffentlich sind Sie nicht mondsüchtig“, jammerte Schmitz. „Das wär ja noch das Geringste“, belustigte ihn Kobler und fiel in sein Bett.

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Die Nacht tat den beiden Herren sehr wohl. Befreit von der Monotonie der Schienen und Eisenbahnräder träumten sie diesmal nichts. „Heut bin ich neugeboren!“ trällerte Schmitz am nächsten Morgen und band sich fröhlich die Krawatte. Und auch Kobler war aufgeräumt. „Ich freu mich schon direkt auf Marseille“, meinte er. Als die beiden Herren angezogen waren, bummelten sie über die Canebière, jene weltberühmte Hauptverkehrsader. Dann fuhren sie mit einem Autobus über den

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Prado hinaus nach der Corniche, einer zufriedenen Straße, die immer am freien Meer entlang laufen darf. Hierauf fuhren sie mit dem Motorboot an alten, unbrauchbaren Festungen vorbei nach dem Inselchen des romantischen Grafen von Monte Christo. Hierauf fuhren sie mit einem kühnen Aufzug auf jenen unheimlich steilen Felsen, auf dem Notre Dame de la Garde steht. Von hier aus bot sich ihnen ein umfassendes Panorama. „Da unten liegt Marseille“, erklärte Schmitz die Situation. Hierauf fuhren sie mit der eisernen Spinne des Pont Transbordeurs, und zwar einmal hin und einmal zurück. Hierauf gingen sie in eines der populären Restaurants am alten Hafen, und zwar in das Restaurant „Zum Kometen“. Da gab es allerhand zu essen, und alles war billiger als in Deutschland und Österreich. Infolgedessen überfraßen sich die beiden Herren fast. Besonders die Vorspeisen, von denen man um dasselbe Geld nehmen konnte, soviel man wollte, taten es ihnen an. Und auch das weiche weiße Brot. Mit dem Wein gingen sie diesmal mißtrauischer um, trotzdem wurde Schmitz wieder recht gesprächig. Er erinnerte Kobler an das treffende Sprichwort vom lieben Gott in Frankreich und fragte ihn hernach, ob es ihm schon aufgefallen sei, daß hier zahlreiche Lokale, oft wahre Prachtcafés, keine Klosette hätten, und das wäre halt so eine südfranzösische Spezialität. Hierauf zählte er ihm die Spezialitäten der Marseiller Küche auf und bestellte sich eine Art Fischsuppe. „Das ist aber eine eigenartige Speis“, meinte Kobler vorsichtig und schnupperte. „Ich glaub, daß da viel exotische Zutaten drin sind.“ „Erinnern Sie sich an das Kolonialdenkmal auf der Corniche?“ erkundigte sich Schmitz mit vollem Munde. „Das war jenes Monumentaldenkmal für die im Kampfe gegen die französischen Kolonialvölker gefallenen Franzosen – natürlich stammt hier vieles aus den Kolonien, aber das stammt es überall! Auch unser berühmter Wiener schwarzer Kaffee wächst bei den Schwarzen. Hätten wir keine Kolonialprodukte, lieber Herr, könnten wir ja unsere primitivsten Bedürfnisse nicht befriedigen. Und glaubens mir, wenn man die armen Neger nicht so schamlos ausbeuten tät, wär das der Fall, denn dann wären ja alle Kolonialprodukte unerschwinglich teuer, weil dann halt die Plantagenbesitzer auch gleich das Tausendfache verdienen wollten – glaubens mir, mein sehr Verehrter, wir Weißen sind die größten Bestien!“ Jetzt mußte er plötzlich stark husten, weil er sich einen zu großen Bissen in den Rachen geschoben hatte. Als er sich ausgehustet hatte, fuhr er fort: „Wenn wir weißen Bestien ehrliche Leut wären, müßten wir unsere Zivilisation auf den Bedürfnislosen aufbauen, deren Bedürfnisse auch ohne Negerprodukte befriedigt werden könnten, also gewissermaßen Waldmenschen – das wären also dann Staaten, die kaum ein Bedürfnis befriedigen könnten, aber wo blieb dann unsere abendländische Kultur?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Kobler und sah gelangweilt auf seine Uhr. „Wann gehen wir denn ins Bordellviertel?“ fragte er besorgt. „Jetzt rentiert sichs noch nicht, es ist noch zu hell“, meinte Schmitz. „Wir können ja bis dahin vielleicht noch einige alte Kirchen anschaun. Garçon, bringen Sie mir encore eine Banane!“ 18

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Gleich hinter dem schönen Rathaus von Marseille beginnt das berühmte Bordellviertel, düster und dreckig, ein wahres Labyrinth – als hörte es nirgends auf. Je weiter man sich vom Rathaus entfernt, um so inoffizieller wird die Prostitution

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und um so vertierter gebärdet sie sich. Die Straßen werden immer enger, die hohen Häuser immer morscher, und auch die Luft scheint zu verfaulen. „Der Gott und die Bajadere“, fiel es Schmitz plötzlich ein, denn er war halt ein Literat. „Sehens dort jene Bajader?“ fragte er Kobler. „Jene fette Gelbe, die sich dort grad ihre schwarzen Füß wascht, ist das aber unappetitlich! Meiner Seel, jetzt fangt sie sich auch noch zu pediküren an! Das nennt sich Gottes Ebenbild!“ „Zum Abgewöhnen“, meinte Kobler. „Passens auf“, schrie Schmitz, denn er sah, daß sich ein anderes Ebenbild Kobler näherte. Dieses Ebenbild hatte einen verkrusteten Ausschlag um den Mund herum und wollte Kobler partout einen Kuß geben. Aber Kobler wehrte sich ganz ängstlich, während ein drittes Ebenbild Schmitz den Hut vom Kopf herunterriß und sehr nekkisch tat, worüber eine Gruppe singalesischer Matrosen sehr lachen mußte. „Ein interessantes Völkergemisch ist das auf alle Fäll“, konstatierte Schmitz, als er nach langwierigen Verhandlungen seinen Hut für fünf Zigaretten wieder zurückbekommen hatte. „Habens auch die japanische Hur gsehen?“ „Ich hab auch die chinesische gesehen!“ antwortete Kobler. „Man kann ja hier allerhand sehen. Ich versteh nur die Männer nicht, die sich mit so was einlassen.“ „Das ist halt der Trieb“, meinte Schmitz, „und die Matrosen sollen oft einen ganz ausgefallenen Trieb haben.“ „Ich versteh die Matrosen nicht“, unterbrach ihn Kobler mürrisch. Und dann fluchte er sogar und beschwerte sich ungeduldig darüber, daß es in Marseille anscheinend keine netten Huren gibt, sondern bloß grausam-abscheuliche. Er hätte sich diese Hafenstadt aber schon ganz anders vorgestellt. „Beruhigen Sie sich nur!“ beschwichtigte ihn Schmitz. „Ich werd Sie jetzt in ein vornehmes, hochoffizielles Puff führen, ich hab die Adresse aus Wien vom Ober vom ‚Bristol‘. Dort werden die Weiber sicher sehr gepflegt sein, und man soll dort allerhand erleben, auch wenn man sich nicht einläßt. In Hafenstädten soll man so was ja überhaupt nicht machen, schon wegen der gesteigerten Ansteckungsgefahr. Hier ist doch alles krank.“ „Ich hab noch nie was erwischt“, meinte Kobler, und das war gelogen. „Ich hab auch noch nie was erwischt“, nickte Schmitz, und das war auch gelogen. Dann wurde er wieder melancholischer. „Zu guter Letzt ist halt diese ganze Prostitution etwas sehr Trauriges, aber man kann sie halt nicht abschaffen“, lächelte er wehmütig. „Das ist auch meine Meinung“, pflichtete ihm Kobler bei. „Ich kenn einen Prokuristen, dem sein höchstes Ideal ist, mit der Frau, die er liebt, obszöne Bilder zu betrachten. Aber seine eigene Frau wehrt sich dagegen und behauptet, daß sie durch solche Photographien direkt lebensüberdrüssig werden tät. Also was bleibt jetzt dem Prokuristen übrig? Der Strich. Und wo eine Nachfrage ist, da ist halt auch ein Angebot da. Das sind halt so Urtriebe!“ „Was gibts doch für Viecher auf der Welt!“ dachte Schmitz und wurde wieder philosophisch. „Ich betracht auch die Prostitution von einem höhern Standpunkt aus“, erklärte er. „Ich hab mir jetzt grad überlegt, daß wir Menschen, seitdem wir da sind, eigentlich nur drei Triebe, nämlich Inzest, Kannibalismus und Mordgier unterdrückt haben, und nicht einmal diese drei haben wir total unterdrückt, wie das uns in letzter Zeit wieder mal der Weltkrieg bewiesen hat. Das sind Probleme, lieber Herr! Sehen Sie sich zum Beispiel mich an! Ich hab in meiner Jugend mit dem kommunistischen Manifest sympathisiert. Man muß durch Marx unbedingt hindurchgegangen sein. Marx behauptet zum Beispiel, daß mit der Aufhebung der bürgerlichen Produk-

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tionsverhältnisse auch die Prostitution verschwindet. Das glaub ich nicht. Ich glaub, daß man da nur reformieren kann. Und das gehört sich auch so.“ „Wie?“ „Das hat man eben noch nicht heraußen, wie sich das gehört, man weiß nur, daß es sich marxistisch nicht gehört, denn wir erlebens ja gerade, daß der Kommunismus weit darüber hinausgeht und unsere ganze europäische Zivilisation vernichten will!“ Er hielt plötzlich ruckartig. „So, und jetzt haben wirs erreicht“, sagte er. „Das dort drüben ist jenes Puff!“ – Der Ober im „Bristol“ hatte wirklich nicht übertrieben, als er Schmitz seinerzeit sein Ehrenwort gegeben hatte, daß das Haus „Chez Madelaine“ in jeder Hinsicht vorbildlich geführt wird, solid und reell. „Er hat ausnahmsweise nicht gelogen“, dachte Schmitz. „Ich werd ihm noch heut eine Ansichtskarte schreiben.“ Die Pförtnerin, eine freundliche Alte, führte die beiden Herren in den Empfangsraum, bot ihnen Platz an und bat, sich nur wenige Augenblicke zu gedulden. Der Empfangssalon war im Louis-XVI.-Stil gehalten, doch keineswegs protzig, eher schlicht. An den Wänden hingen Stiche nach Watteau und Fragonard, für die sich Schmitz rein mechanisch sofort interessierte. „Ob das nicht sehr teuer sein wird?“ fragte Kobler mißtrauisch, aber Schmitz konnte ihn nicht beruhigen, denn in diesem Augenblick betrat die Madame den Salon. Die Madame war eine ältere Dame mit wunderbar weißem Haar und sprechenden Augen, eine vornehme Erscheinung. Sie hatte etwas Königliches an sich und einen natürlichen Scharm. Aber auch etwas Strenges hatte sie um den Mund herum, und das mußte so sein, wenn sie den guten Ruf ihres Bordells hochhalten wollte. „Also das wird sehr viel kosten“, dachte Kobler besorgt, während sich die Madame taktvoll an Schmitz wandte, weil dieser der Ältere war. Sie begrüßte ihn sofort auf englisch, aber Schmitz unterbrach sie sofort, er sei kein Amerikaner, und sein Freund sei auch kein Amerikaner, sondern im Gegenteil. Der Madame schien das sehr zu gefallen, sie entschuldigte sich vielmals, lächelte überaus zuvorkommend und war nun nicht mehr reserviert, eher übermütig. „Habens den Tonwechsel bemerkt?“ flüsterte Schmitz dem Kobler zu, als sie der Madame in die Bar folgten. „Habens es bemerkt, wie verhaßt die Amerikaner in Frankreich sind? Hier möcht man halt auch keine amerikanische Kolonie werden!“ „Das ist mir jetzt ganz wurscht!“ unterbrach ihn Kobler unruhig. „Ich beschäftig mich jetzt nur damit, daß es hier recht viel kosten wird!“ „Was kann das schon kosten? Wir gehen jetzt einfach in die Bar und bestellen uns einfach zwei Whisky mit Soda, und sonst tun wir halt einfach nichts!“ Nun betraten sie die Bar. In der Bar sah man fast lauter uniformierte Menschen, Soldaten und Matrosen, die sich mit den halbnackten Mädchen mehr oder minder ordinär unterhielten. Auch saßen in einer Ecke zwei Gäste aus Indien, und in einer anderen Ecke saßen drei Sportstudenten aus Nordamerika, letztere mit hochroten Köpfen, aber mit puritanischem Getue. Und dann saßen noch zwei Herren da, um die sich die Mädchen aber nicht kümmerten: Der eine war ein eingefleischter Junggeselle, und der andere war bloß gekommen, um der Madame Turftips zu geben. Es war ein lebhafter Betrieb. Der Pianist spielte sehr talentiert, teils sentimental und teils unsentimental, er sah aus wie ein Regierungsrat. Und der Kellner sah aus wie Adolf Menjou und war sehr distinguiert. Alles war scharf parfümiert, und das mußte wohl so sein.

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Als die Madame den Salon betrat, riß es die Dirnen etwas zusammen, denn sie hatten eine eiserne Disziplin im Leibe, trotz ihres ausgelassenen Gebarens. Sie bildeten sofort einen regelmäßigen Halbkreis um Schmitz und Kobler, streckten ihre Zungen heraus und bewegten selbe je nach Veranlagung rascher oder langsamer hin und her, und das sollte recht sinnlich und lasterhaft wirken. „Alors!“ sagte die Madame, aber Schmitz erklärte ihr, sie wollten vorerst und vielleicht überhaupt nur eine einfache Kleinigkeit trinken. – „Très bien!“ sagte die Madame, worauf sich der Halbkreis wieder auflöste. Trotzdem ließ die Madame nicht so leicht locker und erkundigte sich, ob die beiden Herren nicht vielleicht eine Dame bloß zum Diskurieren haben wollten, sie hätte auch sehr intelligente Damen hier, mit denen man auch über Problematisches reden könnte. Insgesamt sprächen ihre Damen vierzehn Sprachen, und eine Deutsche sei auch unter ihnen, und sie wolle mal die Deutsche an den Tisch der beiden Herren dirigieren, und das würde natürlich absolut nichts kosten – solange es nämlich beim Diskurieren bleiben würde. Die Madame ging, um die Deutsche herbeizuholen, die gerade verschwunden war –, da schritt eine Negerin durch die Bar. Sie hatte einen grellroten Turban und einen ganz anderen Gang als ihre weißen Kolleginnen, und dies gab dem Schmitz wieder mal Gelegenheit, sich über die gemeinsame Note der Europäerinnen zu äußern und darüber hinaus zu bedauern, daß man das typisch Europäische bisher nur oberflächlich formuliert hat. „Oder könnten Sie auf diese Menschen hier schießen, nur weil sie keine Deutschen sind?“ Kobler verneinte diese Frage. Und Schmitz fuhr fort, daß es unter diesen Menschen da nicht nur Französinnen, sondern auch Rumäninnen, Däninnen, Engländerinnen und Ungarinnen gäbe, und er fragte triumphierend: „Na, was sagens jetzt zu dieser Organisation?“ „Da sind wir in Deutschland freilich noch weit zurück“, meinte Kobler. Nun trat die Deutsche an ihren Tisch. „Die Herren sind Deutsche?“ fragte sie deutsch und beugte sich über Schmitz. „Ich bin auch eine Deutsche, na, wer will als erster?“ „Das muß ein Irrtum sein“, wehrte sich Schmitz. „Wir dachten, du willst mit uns hier auf unser Wohl anstoßen und sonst nichts!“ „Wie mich die Herren haben wollen“, meinte die Deutsche und setzte sich artig, denn sie konnte auch wohlerzogen sein. Es stellte sich nun bald heraus, daß sie Irmgard heißt und aus Schlesien stammt. Sie kannte auch die Reichshauptstadt, dort wollte sie nämlich Verkäuferin werden, aber sie wurde Fabrikarbeiterin, und das war Schicksal. Denn die Maschinen gingen ihr sehr auf die Nerven, weil sie halt ein Landkind war. Ostern 1926 lernte sie einen gewissen Karl Zeschcke kennen, und der und die Maschinen wurden ihr wieder ein Schicksal. Sie bekam es bald im Kopf, und über Nacht fing sie an zu zeichnen und zu malen, und zwar lauter Hermaphroditen. Die Madame hatte recht, man konnte mit Irmgard tatsächlich amüsant diskurieren – und als sie nach einem Weilchen von einem der uniformierten Herren verlangt wurde und sich also verabschieden mußte, lächelte Schmitz direkt gerührt: „Du bist schon richtig, Irmgard! Nämlich ich bin Schriftsteller, und wenn du Schreibmaschine schreiben könntest, dann wärst du das richtige Weiberl für mich!“

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Noch in derselben Nacht verließen die beiden Herren Marseille, um nun über Tarascon, Cette und die spanische Grenze Port Bou ohne jede Fahrtunterbrechung direkt nach Barcelona zu fahren. Sie fuhren durch Arles. „Hier malte van Gogh“, erzählte Schmitz. „Wer war das?“ fragte Kobler. „Ein großer Maler war das“, antwortete Schmitz und sperrte sich traurig ins Klosett. „Hoffentlich werd ich jetzt endlich was machen können“, murmelte er vor sich hin, aber bald mußte er einsehen, daß er vergebens gehofft hatte. „Also das ist schon ein fürchterlicher Idiot!“ konstatierte er wütend. „Jetzt kennt der nicht mal meinen geliebten van Gogh! Jetzt probier ichs aber nochmal!“ Gesagt, getan, aber er konnte und konnte nichts machen. „Auch van Gogh ist verkannt worden“, resignierte er, „es versteht bald keiner den andern mehr, es ist halt jeder für sich sehr einsam.“ So blieb er noch lange sitzen und starrte grübelnd auf das Klosettpapier. Dann öffnete er plötzlich das Fenster, um auf andere Gedanken zu kommen. Die kühle Nachtluft tat ihm wohl. Neben dem Bahndamm stand das Schilf mannshoch, und das rauschte ganz romantisch-gespenstisch, wie der Expreß so vorüberbrauste. „Wie schön habens hier die Leut!“ dachte Schmitz verzweifelt. „Was haben die hier für eine prachtvolle Nacht! Man sollt ein Poem über diese südfranzösischen Herbstnächt verfassen, aber ich bin halt kein Lyriker. Wenn ich zwanzig Jahr jünger wär, ja, aber jetzt bin ich schon zu bewußt dazu.“ In Tarascon, der Vaterstadt Tartarins, des französischen Oberbayern, mußten sie auf den Pariser Expreß warten, weil aus diesem viele Reisende in ihren Expreß umsteigen wollten, teils nach Spanien und teils nur nach Nîmes. Bald erschien auch der Pariser Expreß, und bald darauf erschien in ihrer Abteiltür eine Dame und wollte gerade fragen, ob noch was für sie frei wäre, aber Schmitz ließ sie gar nicht zu Wort kommen, sondern rief sofort, alle Plätze wären frei! Und er riß ihr direkt den Koffer aus der Hand, verstaute ihn fachmännisch im Gepäcknetz und überließ der Dame höchst beflissen seinen Eckplatz. Es dürfte also überflüssig sein, zu bemerken, daß diese Dame sehr gut aussah, das heißt: Sie war jung, schlank und dabei doch schön rund, hatte Beine, die an nichts anderes zu denken schienen als an das, und einen seltsam verschleierten Blick, als tät sie gerade das, und zwar überaus gern und immer noch nicht genug. Dabei duftete sie mit einer gewissen Zurückhaltung, aber um so raffinierter, vorn und hinten, rauf und runter – und bald duftete das ganze Abteil nur mehr nach ihr, trotz der beiden Herren. Sie hatte also das bestimmte Etwas an sich, was man landläufig sex-appeal nennt. Die Dame nickte Schmitz einen freundlichen Dank, jedoch trotzdem einen reservierten, und ließ sich auf seinem ehemaligen Eckplatz nieder, und zwar in einer derart wollüstigen Art, als hätte sie was mit dem Eckplatz. Das regte den Schmitz natürlich sehr auf. Und auch Kobler war fasziniert. „Ägypten!“ durchzuckte es ihn plötzlich, als er dahinterkam, daß alles an dieser Frau sehr teuer gewesen sein muß. „Ich hab ja schon immer an die Vorsehung geglaubt!“ durchzuckte es ihn abermals. „Und wenn dieser Schmitz noch so glotzt, gegen mich kommt der –“ Er stockte mitten in seinen Kombinationen und wurde blaß, denn nun durchzuckte es ihn zum drittenmal, und das war direkt zerknirschend. „Ich kann ja kein Französisch, also kann ich sie ja gar nicht ansprechen, und ohne Reden geht doch so was nicht“ – so lallte es in ihm.

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Mit einer intensiven Wut betrachtete er den glücklichen Schmitz, wie dieser seine Ägypterin siegesgewiß nicht aus den Augen ließ. – „Jetzt wird er gleich parlieren mit ihr, und ich werd dabeisitzen wie ein taubstummer Aff! Solangs halt soviel Sprachen auf der Welt gibt, solang wirds halt auch dein Paneuropa nicht geben, du Hund!“ so fixierte er grimmig seinen paneuropäischen Nebenbuhler. Aber die Ägypterin schien sich mit Schmitz nicht einlassen zu wollen, denn sie reagierte in keiner Weise. Plötzlich schien ihr sein stereotypes Lächeln sogar peinlich zu werden – sie stand rasch auf und ging aufs Klosett. „Eine Vollblutpariserin!“ flüsterte Schmitz hastig und tat sehr begeistert. „Ich kenn das an den Bewegungen!“ Geh, leck mich doch am Arsch! dachte Kobler verstimmt. „Wie sie vom Klosett kommt, sprech ich sie an!“ fuhr Schmitz fort und kämmte sich rasch. „Sie werden ja leider nicht mit ihr reden können“, fügte er schadenfroh hinzu. Kobler dachte abermals dasselbe. Kaum saß die Vollblutpariserin wieder ihm gegenüber, nahm Schmitz seinen ganzen Scharm zusammen und sprach sie an, und zwar perfekt Französisch; sie hörte lächelnd zu und erklärte dann leise, sie könne nur äußerst gebrochen Französisch. „You speak English?“ fragte Schmitz. „Nein, Allemagne“, sagte die Vollblutpariserin, und da gab es Kobler einen Riesenruck, während Schmitz ganz seltsam unsicher wurde. – „Also gibts doch eine Vorsehung!“ dachte Kobler triumphierend, und Schmitz wurde ganz klein und häßlich. „Ich bin zwar in Köln geboren“, sagte Allemagne, „aber ich leb viel im Ausland. Im Sommer war ich in Biarritz und im Winter war ich in St. Moritz.“ „Die absolute Ägypterin!“ dachte Kobler, und Schmitz riß sich wieder zusammen: „Köln ist eine herrliche Stadt!“ rief er. „Eine uralte Stadt!“ „Oh, wir haben aber auch schöne neue Viertel!“ verteidigte die Ägypterin ihre Vaterstadt, und dies berührte Schmitz sehr sympathisch, denn er war auch der Ansicht, daß dumme Frauen eine akrobatische Sinnlichkeit besäßen. Und er liebte ja an den Frauen in erster Linie die leibhaftige Sinnlichkeit, besonders seit er mal ein seelisches Verhältnis hatte. Nämlich das war eine recht unglückliche Liebe, die sehr metaphysisch begann, aber mit Urkundenfälschung seitens der Frau endete. Er schonte die Frau bis zum letzten Augenblick, als sie aber eine Apanage von ihm haben wollte, schonte er sie nicht mehr, und als ihr dann die Bewährungsfrist versagt wurde, sagte er: „Ich bin halt ein Kind der Nacht!“ Es ist also nur verständlich, daß er jeder derartigen Erschütterung peinlichst aus dem Wege ging, beileibe nicht aus Bequemlichkeit, sondern infolge gesteigerter Sensibilität und einer sexuellen Neurasthenie. Er wollte nichts anderes als das Bett und ertappte sich oft dabei, wie er es gerade bedauert, daß Frauen auch Menschen sind und sogar sogenannte Seelen haben –, trotzdem konnte er das Bett nur durch seinen Geist erreichen, entweder unmittelbar oder indem er den Geist zuerst in Geld umgesetzt hatte, denn er hatte eben kein sex-appeal. Mit andern Worten: Er gelangte ins Bett nur durch seinen Geist, und so was ist natürlich direkt tragisch. Auch jetzt versuchte er dieser Rheinländerin mit seinem Intellekt zu imponieren: Er zählte ihr seine zwanzig speziellen Duzfreunde auf, und das waren lauter prominente Namen, einer prominenter als der andere, und sie fing schon an, ein ganz kleinlautes Gesicht zu schneiden. – „Jetzt wirds aber höchste Zeit“, dachte Kobler und unterbrach Schmitz brutal: „Kennen Sie Marseille?“ fuhr er seine Ägypterin an, die ihn deshalb ganz erschreckt betrachtete, und als sie ihn eingehender überblickt hatte, schien er ihr gar nicht zu mißfallen. – „Nein“, lächelte sie, und das ermunterte den Kobler sehr. „Marseille sollten Sie sich aber unbedingt anschauen, Gnädigste!“ er-

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eiferte er sich. „Es muß ja dort toll zugehen“, meinte die Gnädigste. „Das ist noch gar nichts, aber ich hab dort in einem verrufenen Hause Filme gesehen, die eigentlich verboten gehörten, Gnädigste!“ „Erzählen Sie, bitte!“ sagte die Gnädigste hastig und sah ihn dann still an, während sie Schmitz samt seinen prominenten Bekannten links liegen ließ. Und Kobler erzählte: Zuerst wurden er und Schmitz in den dritten Stock geführt, in ein geräumiges Zimmer, in dem eine weiße Leinwand aufgespannt war. Es standen da zirka zehn Stühle, sonst nichts, und man ließ ihn und Schmitz mutterseelenallein und tröstete sie damit, daß der Operateur jeden Augenblick erscheinen müsse, und dann ginge es sofort los. Aber es verging eine geraume Zeit, und es kam noch immer keine Seele, so daß es ihnen schon unheimlich wurde, weil man ja nicht wissen konnte, ob man nicht etwa umgebracht werden sollte, gelustmordet oder so – Hier wurde aber Kobler von Schmitz energisch unterbrochen, denn es mißfiel ihm im höchsten Grade, daß diese Rheinländerin dem Kobler seine schweinischen Filme seinen prominenten Freunderln vorzog – er hatte schon eine Weile gehässig Koblers hochmoderne Socken betrachtet, und nun schlug sein soziales Gewissen elementar durch. Er betonte jedes Wort, als er ihr nun auseinandersetzte, daß in keinem offiziellen Bordell der Welt jemals etwas Unrechtes vorkommen könnte, weil sich die offiziellen Bordellunternehmer einer Gesetzesübertretung nimmermehr aussetzen würden, da sie es eben nicht nötig hätten, weil sie ja die Prostituierten in einer derart verbrecherisch-schamlosen Weise ausbeuteten, daß sie auch im Rahmen der Gesetze einen glatten Riesengewinn aufweisen könnten. Und dann wandte er sich an Kobler und fragte ihn gereizt, ob er sich denn nicht erinnern könne, daß im ersten Stock zufällig eine Tür offenstand, durch die man den zuchthausmäßig einfachen gemeinsamen Speisesaal der Prostituierten sehen konnte, und ob er es denn schon vergessen hätte, wie furchtbar es im zweiten Stock nach Medikamenten gestunken hätte, trotz des aufdringlichen Parfüms, denn dort sei das Zimmer des untersuchenden Arztes gewesen. Aber nun ließ ihn die Gnädigste nicht weiterreden, denn das sei nämlich furchtbar desillusionierend, protestierte sie. Worauf Kobler sofort sagte: „Also endlich erschien der Operateur, und dann gings endlich los.“ – Aber Schmitz gab sich noch nicht geschlagen, und er bemerkte bissig, das hätte so lange gedauert, weil nämlich dieser Operateur gelähmt gewesen sei, zwar nur die Beine und nicht der Oberkörper, aber er hätte halt von zwei Männern die Treppen heraufgetragen werden müssen – – „Pfui!“ rief die Gnädigste. „Pardon!“ entschuldigte sich Schmitz korrekt und verließ wütend das Abteil. „Woher haben nur diese Deutschen das Geld, als verarmte Nation so zum Vergnügen herumzufahren?“ fragte er sich verzweifelt vor Wut. Er ging im Gang auf und ab. „Hab ich das notwendig, daß ich jetzt so zerknirscht bin?“ grübelte er zerknirscht. „Ja, ich hab das notwendig. Denn was ist der Grund zur größten Wut? Wenn man ein lebendes Wesen an der Ausübung des Geschlechtsverkehrs hindert, das ist halt eine Urwut!“ So ging er noch oft auf und ab – plötzlich überraschte er sich dabei, daß er stehengeblieben war und verstohlen in das Abteil glotzte, in welchem sich seine Vollblutpariserin den Inhalt einiger pornographischer Filme erzählen ließ, die natürlich immer auf dasselbe Motiv hinausgingen, ob sie nun auch in einem historischen, kriminellen oder zeitlosen Rahmen spielten. „Die gehört schon jenem“, dachte er, „die

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hängt ja direkt an seinen Lippen. Er ist ja auch zwanzig Jahr jünger als ich, was soll ich also machen? Die ganze Nacht kann ich wohl nicht da heraußenstehen, ich werd mich also wieder hineinsetzen müssen, die beiden da drinnen sind ja zusammen noch nicht so alt wie ich allein, die haben noch viel vor sich, was ich hinter mir hab, Jugend kennt halt keine Tugend“ – Und wie er so diese beiden Menschen, die sich gefielen, durch die Glastür beobachtete, kamen sie ihm allmählich immer entfernter vor, als lebten sie hundert Jahre später, und mit dieser Distanzierung wandelte sich auch allmählich seine Urwut in ahnungsvolle Erkenntnis ewiger Gesetze, natürlich nicht zuletzt auch infolge seines theoretischen Verständnisses der ganzen geschichtlichen Bewegung. „Die beiden jungen Leut da drin bestehen halt auch nur aus einzelnen Zellen“, dachte er, „aus Zellen, die sich halt schon zu einem grandios organisierten Zellenstaat durchgerungen haben, in dem das Zellenindividuum schon aufgehört hat – und das steht halt jetzt auch unsern menschlichen Staaten bevor, siehe Entwicklung der ebenfalls staatenbildenden Termiten, die akkurat um hundert Millionen Jahre älter sind als wir, wir sind halt grad erst geboren, als wir“ – dachte er, und plötzlich mußte er stark gähnen. „Jetzt wirds aber höchste Zeit, daß ich mich wieder setz!“ fuhr er fort. Er betrat also wieder das Abteil in einer väterlich-verständnisvollen Stimmung, und kaum hatte er sich gesetzt, hörte er den weiblichen Zellenstaat folgendes sagen: „Ja, ich fahr auch nach Barcelona! Nein, das ist aber interessant! Ja, ich bin noch gar nicht orientiert, wo man dort wohnen kann! Nein, Paris ist das Schönste, und was mir besonders dort gefällt, ist das, daß man sich dort elegant kleiden kann, was man bei uns in Duisburg ja kaum mehr kann, weil die Arbeiter so verhetzt sind, und wenn man elegant über die Straße geht, schauen sie einem fanatisch nach.“ „Da haben Sie schon sehr recht“, sagte Kobler. „Wer? Die Arbeiter?“ fragte Schmitz. „Nein, die Gnädigste“, sagte Kobler. Hör ich recht? dachte Schmitz. „Ja, die Juden machen die Arbeiter ganz gehässig“, ließ sich der weibliche Zellenstaat wieder vernehmen. „Nein, ich kann die Juden nicht leiden, sie sind mir zu widerlich sinnlich, überhaupt stecken die Juden überall drinnen! Ja, es ist sehr schad, daß wir kein Militär mehr haben, besonders für diese halbwüchsigen Arbeiter und das Pack! Nein, also diese Linksparteien verwerf ich radikal, weil sie immer wieder das Vaterland verraten. Ja, ich war noch ein Kind, als sie den Erzberger erschossen haben! Nein, und das hat mich schon damals sehr gefreut! Ja!“ „Ich bin auch sehr gegen jede Verständigungspolitik“, antwortete Kobler. Aber nun konnte sich Schmitz nicht mehr zurückhalten. „Was?“ unterbrach er ihn und sah ihn stechend an. „Ja“, lächelte Kobler. „Nein!“ brüllte Schmitz und verließ entrüstet das Abteil. Aber diesmal lief ihm Kobler nach. „Sie müssen mich doch verstehen“, sagte er. „Ich versteh Sie nicht!“ brüllte Schmitz und zitterte direkt dabei. „Sie sind mir einer! Ah, das ist empörend! Na, das is a Affenschand! Wie könnens denn so daherreden, wo wir jetzt drei Tag lang eigentlich nur über Paneuropa geredet haben!?“ „Im Prinzip haben Sie natürlich recht“, beschwichtigte ihn Kobler. „Aber ich muß doch so reden, weil das doch meine reiche Ägypterin ist, ihr Vater ist mehrfacher Aufsichtsrat und Großindustrieller, das hab ich schon herausbekommen, sie heißt Rigmor Erichsen und wohnt in Duisburg. Ägypten ist natürlich nur ein Symbol! Und was geht denn übrigens Ihr Paneuropa die Weiber an!?“

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„Sehr viel, Herr Kobler! Denken Sie nur mal an den Krieg und die Rolle der Mütter im Krieg! Haben Sie denn schon mal über die Frauenfrage nachgedacht?“ „Die Frauenfrage interessiert mich nicht, mich interessiert nur die Frau!“ sagte Kobler ungeduldig und wurde dann sehr ernst. „Übrigens, Herr Schmitz“, fuhr er fort, „möcht ich Sie nur bitten, mich jetzt ruhig emporarbeiten zu lassen; ich hab mir schon einen Plan zurechtgelegt: Ich werd die Dame da drinnen in Barcelona kompromittieren, begleit sie dann nach Duisburg, kompromittier sie dort noch einmal, und dann heirat ich ein in Papas Firma. Und ob diese Dame da drin für Paneuropa ist oder nicht, das kann doch Paneuropa ganz wurscht sein!“ „Auf das reden sich alle naus!“ sagte Schmitz und ließ ihn stehen. 20

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Sie fuhren bereits durch Montpellier, und Schmitz stand noch immer draußen auf dem Gang, während sich Kobler und Rigmor noch immer über die Marseiller Filme unterhielten und sich dabei menschlich näherkamen. „Und wegen so was ist der arme Alois gefallen!“ dachte Schmitz deprimiert. „Was tät es schon schaden, wenn man diesen Kobler samt seiner Rigmor erschießen tät? Nichts tät das schaden, es tät wahrscheinlich nur was nützen!“ „Armer Alois!“ seufzte er. „Ist es dir, armer toter Alois, schon aufgefallen, daß der Pazifismus infolge der großen russischen Revolution wieder ein Problem geworden ist? Ich meine, daß der Bolschewismus uns, die wir uns die geistige Schicht nennen, zwingt, unsere Stellungnahme zum Pazifismus einer gründlichen Revision zu unterziehen – denn hätts keinen Lenin gegeben, wär doch der Pazifismus für uns geistige Menschen kein Problem mehr. Er ist es nun plötzlich aber wieder geworden, infolge der Idee des revolutionären Krieges. – Meiner Seel, ich schwank umher, es gibt halt schon sehr schwierige Probleme auf dieser Malefizwelt! Ich sympathisier, ich muß halt immer wieder auf mich persönlich zurückkommen, mit Paneuropa, obwohl ich ja weiß, daß die Sowjets insofern recht haben, daß die paneuropäische Idee jeden Tag aufs neue verfälscht wird von unserer Bourgeoisie, wie halt jede Idee – und ich weiß auch, daß wir hier bloß eine Scheinkultur haben, aber ich freu mich halt über den Botticelli! Wenn die Sowjets nur nicht so puritanisch wären –! Meiner Seel, ich bin aus purem Pessimismus manchmal direkt reaktionär! Skeptisch sein ist halt eine Selbstqual – aber was hab ich denn auf der Welt noch zu suchen, wenn mal die Skepsis verboten ist?“ 21

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Aber noch vor Spanien versöhnte sich Schmitz abermals mit den beiden jungen Menschen, teils weil er draußen im Gang immer schläfriger wurde, teils weil er halt schon überaus gern entsagungsvoll tat. Also konnte er sich nun wieder schön weich setzen und schlummern, jedoch leider nur bis zur spanischen Grenze. Diese hieß Port Bou, und hier mußte man abermals umsteigen, und zwar mitten in der Nacht. Heute hat Kobler nur eine verschlafene Erinnerung an auffallend gekleidete Gendarmen und an einige höfliche Agenten der Exposición de Barcelona 1929, die ihm Prospekte und Kataloge ganz umsonst in die Hand drückten und dabei auf gut deutsch bemerkten, daß die angegebenen Preise natürlich keine Gültigkeit hätten. Schmitz jedoch erinnert sich noch genau, daß der spanische Anschlußzug nur erster

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und dritter Klasse hatte, da er im Gegensatz zu Kobler, der nachzahlen mußte, weil Rigmor natürlich erster fuhr, als Protest gegen diesen staatlichen Nepp allein in der dritten blieb und hier unhöfliche Gedanken über die spanischen Habsburger hatte. In Barcelona stiegen sie zusammen in einem Hotel ab, und das war fast ein Wolkenkratzer, ein Spekulationsobjekt in der Nähe der Weltausstellung, das sehr zerbrechlich war – wahrscheinlich brauchte es nur über die Dauer der Weltausstellung zu halten. Es lag in einer breiten, argentinisch anmutenden Straße namens Calle Cortes. Im Hotelbüro begrüßte sie der Dolmetscher, ein ehemaliger Ölreisender aus Prag. Auch zwei Portiers verbeugten sich vor ihnen. „Die Señorita hat zwei Rohrplattenkoffer, drei größere und vier kleinere Handkoffer“, sagte der Dolmetscher zu den beiden Portiers auf spanisch. „Der ältere Caballero ist sicher ein Redakteur, und der jüngere Caballero ist entweder der Sohn reicher Eltern oder ein Nebbich. Entweder zahlt er alles oder nichts.“ Hierauf stritten sich noch die beiden Portiers miteinander, ob sie dem Caballero Schmitz acht oder zehn Peseten abknöpfen sollten – sie einigten sich auf zehn, denn eigentlich war das ja kein Zimmer, sondern eine Kammer ohne Fenster, ohne Schrank, ohne Stuhl, nur mit einem eisernen Bett und einem eisernen Waschtisch. Daneben war Koblers Zimmer das absolute Appartement. Es hatte sogar zwei Fenster, durch die man die Weltausstellung von hinten sehen konnte. Aber Kobler sah kaum hin, sondern konzentrierte sich ganz auf sich, er zog sich ganz um, wusch und rasierte sich. „Sie gehört schon mir!“ dachte er, während er sich die Zähne putzte. „Das ist jetzt nur mehr eine Frage der Gelegenheit, wo und wann ich sie kompromittier.“ Er war seiner Sache schon sehr sicher. Bereits in Montpellier hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, hart und kalt, jede Möglichkeit erwägend und vor keinem sentimentalen Hindernis zurückschreckend, einen fast anatomisch genauen Plan zur Niederwerfung Ägyptens. „Was hat doch dieser Schmitz in Milano gesagt?“ fiel es ihm ein, als er sich kämmte: „‚Ihr junge Generation habt keine Seele‘, hat er gesagt. Quatsch! Was ist das schon, Seele?“ Er knöpfte sich die Hosen zu. „Man muß immer nur ehrlich sein!“ fuhr er fort. „Ehrlich gegen sich selbst, ich weiß ja, daß ich nicht gerade fein bin, denn ich bin halt ehrlich. Ich verschleier mich nicht vor mir, ich kanns schon ertragen, die Dinge so zu sehen, wie sie halt sind!“ 22

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Als endlich auch Rigmor säuberlich geputzt war, gingen sie gleich mal in die Weltausstellung. Also das war sehr imposant. Rigmor las laut vor aus ihrem Katalog: „Unter dem Schutze S. M. des Königs von Spanien und unter Mitwirkung der Königlichen Spanischen Regierung organisiert die Stadt Barcelona eine große Weltausstellung mit einem Kostenaufwand von hundert Millionen Goldmark.“ „Hundert Millionen!“ dachte Schmitz. „Also – das ist das nicht wert!“ Rigmor las weiter: „Barcelona ist die bedeutendste und größte Handels- und Fabrikstadt Spaniens; die Zahl ihrer Einwohner beträgt eine Million, und somit ist dieselbe die größte Stadt des Mittelmeeres.“ „Das Ganze ist halt eine politische Demonstration“, unterbrach sie Schmitz, „damit wirs sehen, daß Spanien aus seiner Lethargie erwacht.“ Rigmor las weiter: „Barcelona will durch dieses großartige Unternehmen der Welt den Aufschwung der Stadt und des Landes zeigen. Zweifelsohne dürfte nach dem Weltkriege

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von keinem Lande eine in so großzügiger Weise angelegte Ausstellung organisiert worden sein, wozu sich die Stadt Barcelona veranlaßt gefühlt hat, von dem Wunsche beseelt, sich die vielseitigen und dauernden Fortschritte der Neuzeit anzueignen.“ „Voilà!“ sagte Schmitz. Zuerst betraten sie den Autopalast, in dem es nur Autos gab. Vor einem Kabriolett mit Notsitz mußte Kobler plötzlich an den Herrn Portschinger aus Rosenheim denken – „Und so ist es auch mit dieser ganzen Politik“, dachte er, „der eine verkauft dem andern ein Kabriolett, Deutschland, Frankreich, Spanien, England, und was weiß ich, – alle kaufen sich gegenseitig ihre Kabrioletts ab. Ja, wenn das alles streng reell vor sich ging, dann wär das ein ideales Paneuropa, aber zur Zeit werden wir Deutschen von den übrigen Nationen bloß betrogen, genau so, wie ich den Portschinger betrogen hab. In dieser Weise läßt sich Paneuropa nicht realisieren. Das ist kein richtiger Geist von Locarno!“ Und im Palast des Königlich Spanischen Kriegsministeriums dachte Kobler weiter: „Wenn halt Deutschland auch noch so eine Armee hätt mit solchen Kanonen, Tanks und U-Bootgeschwadern, dann könnten wir freilich leicht unsere alte Vormachtstellung zurückerobern, und dann könnten wir Deutschen leichter der ganzen Welt unsere alten Kabrioletts verkaufen, à la Portschinger! Das wär ja entschieden das günstigste, aber so ohne Waffen gehört das halt leider in das Reich der Utopie. Am End hat halt dieser Schmitz doch wahrscheinlich recht mit seiner paneuropäischen Idee!“ Und dann betraten sie den Flugzeugpalast, in dem es nur Flugzeuge gab. Dann den Seidenpalast, in dem es nur Seide gab, was Rigmor sehr angriff. Und dann auch den Italienischen Palast, in dem es eigentlich nur den Mussolini gab. Hierauf den Rumänischen, den Schwedischen und hinter dem Stadion den Meridionalpalast, in dem es allerhand gab. Und dann betraten sie den riesigen Spanischen Nationalpalast, in dem es eigentlich nichts gab – nur einen leeren Saal für zwanzigtausend Personen – „in wilhelminischem Stil“, konstatierte Schmitz. „Und langweilige Ölbilder“, meinte Kobler. „Ich möchte jetzt aber endlich in den Missionspalast!“ begehrte Rigmor auf. Der Missionspalast war sehr interessant, nämlich das war eine original vatikanische Ausstellung. Man mußte extra Eintritt zahlen, aber außerdem wurde man auch noch in sinniger Weise auf Schritt und Tritt angebettelt, wie dies halt bei allen Vertretern des Jenseits üblich ist. Aber man konnte auch was sehen für sein Geld, nämlich was die Missionäre von den armen Primitiven zusammengestohlen und herausgeschwindelt hatten ad maiorem bürgerlicher Produktionsweise gloriam. Nach dieser heiligen Schau fuhren sie mit einem Autobus nach dem Restaurant „Miramare“ auf dem Mont Juich mit prachtvoller Aussicht auf Stadt und Meer. Das war ein sehr vornehmes Etablissement, und Rigmor schien sich wie zu Haus zu fühlen. Schmitz dagegen schien es peinlich, daß ihm gleich vier Kellner den Stuhl unter den Hintern schieben wollten, und Kobler wurde direkt blaß, als er die Preise auf der Speisekarte erblickte. „lm Katalog steht“, sagte Rigmor, „daß nach der Legende hier jener Ort gewesen sein soll, wohin Satan den Herrn geführt hatte, als er ihn mit den Herrlichkeiten der Erde verführen wollte.“ Jedoch Kobler gab ihr keine Antwort, sondern dachte etwas sehr Unhöfliches, und Schmitz erriet, was er dachte, und sagte bloß: „Bestellen Sie, was Sie wollen!“ In diesem himmlischen Etablissement ließen sich außer ihnen noch etwa zwölf vornehme Gäste neppen, denn es war ja auch zu schön. Am Horizont grüßten die Berge der Gralsburg herüber, und links unten grüßte aus dem Trubel der Großstadt

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die Säule des Kolumbus empor – und wenn man gerade Lust hatte, konnte man auch zusehen, wie emsig im Hafen gearbeitet wurde. Und alle diese arbeitenden Menschen, tausend und aber tausend, wurden, von hier oben gesehen, unwahrscheinlich winzig, als wäre man schon der liebe Gott persönlich. Als es dämmerte, wollte Rigmor mal unter allen Umständen mit der Achterbahn fahren. Also wandten sich die drei Herrschaften dem Vergnügungspark zu, sie schritten durch einen lachenden Park, den die Kunst der Gärtner, begünstigt durch das milde Klima, hatte entstehen lassen. Rasch wurde es Nacht. Und durch die fast exotischen Büsche sahen die drei Herrschaften in der Ferne vor dem Nationalpalast die herrlichen Wasserspiele, und das waren nun tatsächlich Fortschritte der Neuzeit. Vor den Toren der Weltausstellung stand das Volk, das den Eintritt nicht zahlen konnte, und sah also von draußen diesen Fortschritten zu, aber es wurde immer wieder von der Polizei vertrieben, weil es den Autos im Wege stand. 23 Was ist in Spanien das Spanischste? Natürlich der Stierkampf, auf spanisch: Corrida de Toros – besonders Rigmor konnte ihn kaum mehr erwarten. Die Stierkampfarena hatte riesige Dimensionen, und sie war noch größer, wenn man bedenkt, daß allein Barcelona drei solch gigantische Arenen besitzt. Trotzdem war alles ausverkauft, es dürften ungefähr zwanzigtausend Menschen dabei gewesen sein, und Schmitz erhielt nur mehr im Schleichhandel drei Karten im Schatten. Die Spanier sind eine edle Nation und schreiten gern gemessen einher mit ihren nationalen Bauchbinden und angenehmen weißen Schuhen. Sogar auf den Toiletten steht „Ritter“ statt „Herren“, so stolz sind die Spanier. Fast jeder scheint sein eigener Don Quichotte oder Sancho Pansa zu sein. Gleich neben dem Hauptportal erblickte Schmitz die Stierkampfmetzgerei, hier wurden die Stierleichen von gestern als Schnitzel verkauft. Ein großes Polizeiaufgebot sorgte für Ruhe und Ordnung. Drinnen in der Arena musizierte eine starke Kapelle, und der feierliche Einzug der Herren Stierkämpfer begann pünktlich. „Sie werden da etwas prachtvoll Historisches erleben“, erinnerte sich Kobler an die Worte des Renaissancemenschen von Verona. Und das war nun auch ein farbenprächtiges Bild. Die Herren Stierkämpfer traten vor das Präsidium in der Ehrenloge und begrüßten es streng zeremoniell. Und dann kam der Stier, ein kleiner schwarzer andalusischer Stier. Er war schon jetzt wütend, denn in seinem Rücken stak bereits ein Messer, und das war programmgemäß. In der Arena standen jetzt nur drei Herren mit roten Mänteln und ohne Waffen. Geblendet durch die plötzliche Sonne, hielt der Stier einen Augenblick, dann entdeckte er die roten Mäntel und stürzte drauf los, aber graziös wichen die Herren dem plumpen Tier aus. Großer Beifall. Auch Rigmor und Kobler applaudierten – da lauschte der Stier. Es schien, als fasse er es erst jetzt, daß ihm was Böses bevorsteht. Langsam wandte er sich seinem dunklen Zwinger zu, wurde aber wieder zurückgetrieben. Nun ritt ein Herr in die Arena, sein Pferd mußte von zwei Herren geführt werden, denn es war blind, ein alter, dürrer Klepper, ergraut in der Sklaverei. Der Herr auf dem Klepper hatte eine lange Lanze, und der Stier wurde mit allerhand Kniffen auf den Klepper gehetzt, der sehr zitterte. Endlich war er so nahe, daß ihm der Herr mit aller Gewalt die Lanze in den Rücken treiben konnte, und zwar in eine besonders empfindliche Partie. Natürlich überrannte nun der Stier den Klepper, und

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natürlich liefen die Herren davon. Auch der verzweifelte blinde Klepper suchte zu fliehen, aber der Stier zerriß ihm den Bauch, womit der Stier in der Gunst des Publikums beträchtlich zu steigen schien, denn sie taten sehr begeistert. Endlich ließ er von dem Klepper ab, worauf einige Herren dem Sterbenden Sand in die Bauchhöhle schaufelten, damit sein Blut die Arena nicht beschmutze. Nun betraten drei andere Herren die Arena, und jeder hatte in jeder Hand eine kurze Lanze, die oben mit bunten Bändern und unten mit Widerhaken verziert war. Die Herren stachen sie dem Stier in den Nacken, je zwei auf einmal, und das mußte dem Stier grauenhaft weh tun, denn er ging jedesmal trotz seiner Schwerfälligkeit mit allen vieren in die Luft, wand und krümmte sich, aber er konnte die Lanzen nicht abschütteln wegen ihrer überlegt konstruierten Widerhaken. Seine grotesken Bewegungen riefen wahre Lachsalven hervor. Großer Applaus – und plötzlich stand ein Herr allein in der Arena. Das war der oberste Stierkämpfer, der Matador. Er hatte ein grellrotes Tuch und darunter versteckt ein Schwert, mit dem er seinem Stier den Todesstoß versetzen mußte, er war also endlich der Tod persönlich. Dieser Tod hatte sehr selbstbewußte Bewegungen, denn er war ein Liebling des Publikums. Sicher näherte er sich seinem Opfer, aber das Tier griff ihn nicht an, es war halt schon sehr geschwächt durch den starken Blutverlust und all die Qual. Jetzt sah es den Tod sich nähern, jetzt wurde ihm bange. Der Matador hielt knapp vor ihm, aber das Tier ließ ihn stehen und wankte langsam wieder seinem Zwinger zu, doch das Publikum pfiff und verhöhnte es, weil es mit dem Tod nicht kämpfen wollte, – mit einer eleganten Bewegung entblößte der Matador sein Schwert, und die Zwanzigtausend verstummten erwartungsvoll. Und in dieser gespannten Stille hörte man plötzlich jemand weinen – das war der Stier, traurig und arm. Aber unerbittlich näherte sich ihm der Tod und schlug ihm mit seinem Tuch scharf über die verweinten Augen – da riß sich das Tier noch mal zusammen und rannte in das Schwert. Aus seinem Maule sprang sein Blut, es wankte und brach groß zusammen mit einem furchtbar vorwurfsvollen Blick. Nun geriet aber das Publikum ganz in Ekstase, hundert Strohhüte flogen dem Tod zu. Schmitz war empört. „Das ist ja der reine Lustmord!“ entrüstete er sich. „Diese Spanier begeilen sich ja an dem Todeskampf eines edlen, nützlichen Tieres! Höchste Zeit, daß ich meinen Artikel gegen die Vivisektion schreib! Recht geschiehts uns, daß wir den Weltkrieg gehabt haben, was sind wir doch für Bestien! Na, das ist ja widerlich, da sollt aber der Völkerbund einschreiten!“ Aber auf Kobler wirkte der Stierkampf wieder ganz anders. „So ein Torero ist ein sehr angesehener Mann und ein rentabler Beruf“, dachte er. „Es ist ja natürlich eine Schweinerei, aber er wird ja sogar vom König empfangen, und alle Weiber laufen ihm nach!“ Und auf Rigmor wirkte der Stierkampf wieder anders: sie hatte eine nervöse Angst, daß einem der Herren Stierkämpfer was zustoßen könnte – sie konnte kaum hinsehen, als wäre sie auch ein armes, verfolgtes Tier, immer öfter sah sie infolgedessen Kobler an, um nicht hinabsehen zu müssen, und kam dabei auf ganz andere Gedanken. „Möchten Sie, daß ich Torero wär?“ fragte er. „Nein!“ rief sie ängstlich, aber dann lächelte sie plötzlich graziös und schmiegte sich noch mehr an ihn, denn es fiel ihr was Ungehöriges ein.

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Am nächsten Morgen saß Schmitz bereits um sieben Uhr beim Morgenkaffee, und während er frühstückte, schrieb er einen Artikel gegen die Vivisektion und einen andern Artikel für Paneuropa – es sah aber aus, als täte er an was ganz anderes denken, während er schrieb, so groß war seine Routine. Als Kobler ihm guten Morgen wünschte, hatte er den zweiten Artikel noch nicht ganz beendet. „Ich arbeit grad an der Völkerverständigung“, begrüßte ihn Schmitz, „ich bin gleich fertig damit!“ „Lassen Sie sich nur ja nicht aufhalten“, sagte Kobler und setzte sich. Plötzlich meinte er so nebenbei: „Wenns nur nach der Vernunft ging, dann könnt man sich ja leicht verständigen, aber es spielen da noch einige Gefühlsmomente eine Rolle, und zwar eine entscheidende Rolle!“ Schmitz sah ihn überrascht an. Wo hat der das her? dachte er. Ich hab ihn anscheinend unterschätzt. Und laut fügte er hinzu: „Natürlich! Wir Verstandesmenschen sind bereits alle für die Verständigung, jetzt wird die Agitation in die große Masse der Gefühlsmenschen hineingetragen – das sind jene, die den historischen Prozeß weder analysieren noch kapieren können, weil sie halt nicht denken können. Auf diese kommts an, da habens natürlich recht, lieber Herr!“ „Trotzdem!“ antwortete Kobler. „Wieso?“ fragte Schmitz höchst interessiert. „Wenn ich jetzt an Polen denk, speziell an den polnischen Korridor“, meinte Kobler düster, „so kann ich halt kein Friedensgefühl aufbringen, da streikt das Herz, obwohl ich mit dem Verstand absolut nichts gegen Paneuropa hätt. So, aber jetzt reden wir von was Interessanterem!“ – und er teilte Schmitz mit, daß er die soeben verflossene Nacht mit Rigmor verbracht hätte. „Sie können mir unberufen gratulieren!“ sagte er und sah recht boshaft aus. „Ich hab halt die richtige Taktik gehabt, und sie ist sehr temperamentvoll!“ „Also das hab ich bis zu mir herübergehört“, winkte Schmitz ab. „Aber über mir waren welche, die waren anscheinend noch temperamentvoller, weil mir der ganze Mörtel vom Plafond ins Gsicht gfallen ist. Der Dolmetscher sagt mir grad, das sei ein Herr von Stingl und eine italienische Komteß. Aber auf das Körperliche allein kommts ja bekanntlich nicht an; hat sie sich denn überhaupt in Sie ernstlich verliebt? Ich mein – mit der Seele?“ „Ich bin meiner Sache sicher!“ triumphierte Kobler. „Herr Alfons Kobler“, sagte Schmitz und betonte feierlich jede Silbe, „glaubens mir, das Weib ist halt doch noch eine Sphinx, trotz der Psychoanalyse!“ Und dann fügte er rasch hinzu: „Jetzt müssens mich aber entschuldigen, ich hab nur noch rasch was fürs Feuilleton zu tun.“ Er schrieb: „Die kleine Rigmor läuft mir nach. Eine humoristische Schnurre von unserem Sonderkorrespondenten R. Schmitz (Barcelona). Motto: Und grüß mich nicht Unter den Linden!“

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Der Sonderkorrespondent schrieb gerade: „– nur Interesses halber folgte ich meiner rassigen Partnerin, denn ich bin mit Leib und Seele Literat“ – da betrat der Dolmetscher rasch das Lokal und bat Kobler, er möge sofort ins Konversationszimmer kommen, denn dort würde die Señorita auf ihn warten. „Warum denn dort, warum nicht hier?“ fragte Kobler und war sehr überrascht. „Woher soll ich das wissen?“ meinte der Dolmetscher. „Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Señorita sehr nervös ist.“ „Jetzt kommt die Sphinx“, dachte Schmitz, und Kobler tat ihm plötzlich leid, trotz der geweissagten Sphinx. Im Konversationszimmer ging Rigmor auf und ab, sie war tatsächlich sehr nervös, und ihr Rock hatte eine interessante unregelmäßige Linie. Als sie Kobler erblickte, ging sie rasch auf ihn zu und drückte ihm einen Kuß auf die Stirne. „Was soll das?“ dachte Kobler und wurde direkt unsicher. „Wie gehts?“ fragte er sie mechanisch. „Sag, ob du mir verzeihen kannst?“ fragte sie und sah dabei sehr geschmerzt aus. Es wird ihr doch nichts fehlen? dachte er mißtrauisch, und dann fragte er sie: „Was soll ich dir denn verzeihen, Kind?“ Aber da fing sie an zu weinen, und das tat sie vor lauter Nervosität. „Ich kann dir doch alles verzeihen“, tröstete er sie, „das bist du mir schon wert!“ Sie trocknete sich die Tränen und putzte sich die Nase mit einem derart winzigen Taschentuch, daß sich Kobler unwillkürlich darüber Gedanken machte. Dann zog sie ihn zu sich hinab und wurde ganz monoton. Es sei gerade vor einer halben Stunde was Unerwartetes passiert, beichtete sie, und dies Unerwartete sei ein Telegramm gewesen, und zwar aus Avignon. Der Absender des Telegramms sei ein Herr, und zwar ein gewisser Alfred Kaufmann aus Milwaukee, ein Kunstmaler und amerikanischer Millionär. Der Millionär hätte aber wegen seiner Hemmungen nicht künstlerisch genug malen können, und deshalb wäre er nach Zürich gefahren, um seine Libido kurieren zu lassen, und er hätt sie mindestens vier Wochen lang kurieren lassen wollen, aber anscheinend sei er nun unerwartet rasch mit seiner Libido in Ordnung gekommen. So würde er nun statt in vierzehn Tagen bereits heute früh unerwartet in Barcelona ankommen, und zwar könnte er jeden Moment hier im Hotel eintreffen, und das wäre ihr ganz entsetzlich grauenhaft peinlich, denn dieser Amerikaner sei ja ihr offizieller Bräutigam, ein sympathischer Mensch, aber trotzdem hätte sie lieber was mit einem Deutschen. Und dann weinte sie wieder ein bißchen, sie hätte sich jetzt schon so sehr gefreut auf diese vierzehn liebverlebte Tage mit ihm (Kobler), aber sie müsse halt den Mister Kaufmann heiraten, schon wegen ihres Papas, der dringend amerikanisches Kapital benötige, trotz der Größe seiner Firma, aber Deutschland sei eben ein armes Land, und besonders unter der Sozialversicherung litte ihr Papa unsagbar. Kobler war ganz weg. Da sah er sich nun seine Schlacht verlieren, und zwar eine Entscheidungsschlacht. Die U.S.A. kamen über das Meer und schlugen ihn, schlugen ihn vernichtend mit ihrer rohen Übermacht, trotz seiner überlegenen Taktik und kongenialen Strategie. „Das ist gar kein Kunststück!“ dachte er wütend, da erschienen U.S.A. persönlich im Konversationszimmer. Das war ein Herr mit noch breiteren Schultern, und Kobler lächelte bloß sauer, obwohl er Rigmor gerade grob antworten wollte. „Hallo, Rigmor!“ rief der Herr und umarmte sie in seiner albernen amerikanischen Art. „Der Professor sagt, ich bin gesund und kann sofort künstlerisch malen, wir fahren noch heut nach Sevilla und dann nach Athen! Wer ist dieser Mister?“

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Rigmor stellte vor. „Ein Jugendfreund aus Deutschland“, log sie. Der Amerikaner fixierte Kobler kameradschaftlich. „Sie sind auch Maler?“ fragte er. „Ich hab nichts mit der Kunst zu tun!“ verwahrte sich Kobler, und es lag eine tiefe Verachtung in seiner Stimme. „Was macht Deutschland?“ fragte der Amerikaner. „Es geht uns sehr schlecht“, antwortete Kobler mürrisch, aber der Amerikaner ließ nicht locker. „Wie denken Sie über Deutschland?“ fragte er. „Wie denken Sie über Kunst? Wie denken Sie über Liebe? Wie denken Sie über Gott?“ Kobler sagte, heut könne er überhaupt nichts denken, nämlich er hätte fürchterliche Kopfschmerzen. Und als er die Tür hinter sich zumachte, hörte er noch Rigmor sagen: „Er ist ein sympathischer Mensch!“ 26

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Noch am selben Tag fuhr Kobler wieder nach Haus, und zwar ohne Unterbrechung. Er wollte eben nichts mehr sehen. „Jetzt hab ich fast meine ganzen Sechshundert ausgegeben, und für was? Für einen großen Dreck!“ so lamentierte er. „Jetzt komm ich dann wieder zurück, und was erwartet mich dort? Lauter Sorgen!“ Er war schon sehr deprimiert. Schmitz, der ihn väterlich an die Bahn begleitet hatte, versuchte ihn zu trösten: „Mit Amerika kann man halt nicht konkurrieren!“ konstatierte er düster. Und dann setzte er ihm noch rasch auseinander, daß er sich an seiner (Koblers) Stelle eigentlich nicht beklagen würde, denn er (Kobler) hätte ja nun sein ehrlich erworbenes Geld nicht nur für einen großen Dreck ausgegeben, sondern er wäre ja jetzt auch um eine bedeutsame Erfahrung reicher geworden, und er würde es wahrscheinlich erst später merken, was das für ein tiefes Erlebnis gewesen sei, ein Erlebnis, das ganz dazu angetan wäre, jemanden total umzumodeln. Nämlich er hätte doch soeben den schlagenden Beweis für Amerikas brutale Vorherrschaft erhalten, am eigenen Leibe hätte er nun diese unheilvolle Hegemonie verspürt. „Und nun“, fuhr er fort und zwinkerte, „nun wird sich vielleicht auch Ihr Gefühl umstellen, nachdem Sie ja mit dem Verstand nichts gegen Paneuropa haben, wie Sie es mir heute früh erklärt haben. Große Wirkungen haben halt kleine Ursachen, und auch die größten Ideen …“ – so warb Schmitz um Koblers Seele. Und dann vertraute er ihm, daß er persönlich sich niemals für eine Amerikanerin interessieren könnte. Er wollte ihm auch noch einiges über den Völkerbund sagen, doch da fuhr der Zug ab. „Sie fahren doch über Genf?“ rief er ihm nach. „Also grüßen Sie mir in Genf den Mont Blanc!“ Kobler fuhr über Genf, aber den Mont Blanc konnte er nicht grüßen, denn es war gerade Nacht. Auch hatte er jetzt das Pech, bis zur deutschen Grenze keinen Mitreisenden zu treffen, der Deutsch sprach, also konnte er sich nicht ablenken und mußte allein sein. Und dieses Alleinseinmüssen plus endloser Fahrt bewirkten es, daß sich die Gestalt Rigmors seltsam auswuchs. Sie nahm direkt politische Formen an, diese Braut, in deren Papas Firma er nicht einheiraten durfte, weil Papa unbedingt nordamerikanisches Kapital zum Dahinvegetieren benötigt – diese verarmte Europäerin, die sich nach Übersee verkaufen muß, wurde allmählich zu einem deprimierenden Symbol. Über Europa fiel der Schatten des Mister A. Kaufmann mit der unordentlichen Libido. Kobler war sehr erbittert. Und als er endlich wieder deutsche Erde betrat, hegte er bereits einen innigen Groll gegen alle europäischen Grenzen. Noch in der deutschen Grenzstation kaufte er sich alle vorhandenen französischen, englischen

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und italienischen Zeitungen, obwohl er sie nicht lesen konnte – aber es war halt demonstrativ. Er konnte es kaum mehr erwarten, jemand zu treffen, der Deutsch verstand. Aber der Zug war ziemlich leer, und obendrein ergab sich keinerlei Gelegenheit, mit einem der Reisenden in ein politisches Gespräch zu kommen. Erst knapp vor München konnte er endlich einem älteren Herrn seine Gefühle und Gründe für einen unbedingt und möglichst bald zu erfolgenden Zusammenschluß Europas darlegen, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet, nicht zuletzt auch infolge der bolschewistischen Gefahr – aber der Herr unterbrach ihn spöttisch: „Auch ich war mal Europäer, junger Mann! Aber jetzt …“, und nun brach nationalistischer Schlamm aus seinem Maul hervor par excellence. Nämlich um die Jahrhundertwende hatte dieser Herr eine pikante Französin aus Metz geheiratet, die aber schon knapp vor dem Weltkrieg so bedenklich in die Breite zu gehen begann, daß er anfing, sich vor der romanischen Rasse zu ekeln. Es war keine glückliche Ehe. Er war ein richtiger Haustyrann, und sie freute sich heimlich über den Versailler Vertrag. „Soweit ich die Franzosen kenne“, schrie er nun Kobler an, „werden sie niemals das Rheinland räumen! Freiwillig nie, es sei denn, wir zwingen sie mit Gewalt! Oder glauben Sie denn, daß das so weitergeht?! Sehen Sie denn nicht, daß wir einem neuen europäischen Weltbrand entgegentaumeln?! Wissen Sie denn nicht, was das heißt: Amanullah und Habibullah?! Denken sie nur mal an Abd el Krim! Und was macht denn dort hinten der christliche General Feng?!“ Er war ganz fanatisiert: „Oh, ich kenne die Franzosen!“ brüllte er. „Jeder Franzose und jede Französin gehören vergast! Ich mach auch vor den Weibern nicht halt, ich nicht! Oder glauben Sie gar an Paneuropa?!“ „Ich hab jetzt keine Zeit für Ihre Blödheiten!“ antwortete Kobler und verließ verstimmt das Abteil. Er war sogar direkt gekränkt. Draußen im Gang entdeckte er einen freundlichen Herrn, der stand dort am Fenster. Kobler näherte sich ihm, und der Herr schien einem Diskurs nicht abgeneigt zu sein, denn er fing gleich von selber an, und zwar über das schöne Wetter. Aber Kobler ließ ihn nicht ausreden, sondern erklärte ihm sofort kategorisch, er sei ein absoluter Paneuropäer, und dies klang fast kriegerisch. Der Herr hörte ihm andächtig zu, und dann meinte er, Barcelona sei sehr schön, er kenne es zwar leider nicht, nämlich er kenne nur jene europäischen Länder, die mit uns Krieg geführt hätten, außer Großbritannien und Portugal, also fast ganz Europa. Es sei allerdings höchste Zeit, sagte der Herr, daß sich dieses ganze Europa endlich verständige, trotz aller historischen Blödheiten und feindseliger Gefühlsduseleien, die immer wieder die Atmosphäre zwischen den Völkern vergiften würden, wie zum Beispiel zwischen Bayern und Preußen. Zwar wäre das Paneuropa, das heute angestrebt würde, noch keineswegs das richtige, aber es würde doch eine Plattform sein, auf der sich das richtige Paneuropa entwickeln könnte. Bei dem Worte „richtig“ lächelte der Herr ganz besonders sonderbar, und dann meinte er, mit diesem Worte stünde es akkurat so wie mit dem Ausdruck „sozialer Aufstieg“. Nämlich auch diesen Ausdruck wäre man häufig gezwungen zu gebrauchen statt „Befreiung des Proletariats“. Und wieder lächelte der Herr so sonderbar, daß es dem Kobler ganz spanisch zumut wurde. Jetzt kam München. Der Herr hatte sich bereits höflich empfohlen, und also konnte es Kobler nicht mehr herauskriegen, wer und was dieser Herr eigentlich war.

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Zweiter Teil Fräulein Pollinger wird praktisch

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„Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.“

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Während der Herr Kobler verreist war, ereignete sich in der Schellingstraße nur das Übliche. Das Leben ging seine mehr oder weniger sauberen Wege, und allen seinen Bekannten stieß nichts Aufregendes zu, allerdings mit einer Ausnahme, aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Diese Ausnahme bildete das Fräulein Anna Pollinger, nämlich sie wurde aus heiterstem Himmel heraus plötzlich arbeitslos, und zwar total ohne ihre Schuld. Sie verlor ihre Stelle in der Kraftwagenvermietung infolge der katastrophalen Konjunktur. Diese Firma brach im wahren Sinn des Wortes über Nacht zusammen, von einem Dienstag zu einem Mittwoch. Am Mittwoch mittag standen daher zwounddreißig Arbeitnehmer auf der Straße, und auch der Arbeitgeber persönlich war nun bettelarm, denn teils hatten die räuberischen Zinsen und Wechsel seine Substanz vertilgt und teils hatte er die größere Hälfte dieser Substanz noch rechtzeitig auf den Namen seiner Frau umgeschrieben. Auch Anna erhielt nun ein weißes Kuvert; sie öffnete es und las: Zeugnis Fräulein Anna Pollinger war vom 1. III. 29 bis 27. IX. 29 in der Kraftwagenvermietung „National“ als Büromädchen tätig und bewährte sich selbe als ehrlich, fleißig und pflichtbewußt. Fräulein Pollinger scheidet aus infolge Liquidation der Firma. Auch unsere Firma wurde ein Opfer der deutschen Not. Andernfalls würden wir Fräulein Pollinger nicht gerne ziehen lassen und wünschen ihr alles Gute für ihr ferneres Leben. Kraftwagenvermietung „National“ gez. Lindt. 2 Anna wohnte bei ihrer Tante, denn sie hatte keine Eltern mehr. Aber das fiel ihr nur manchmal auf, denn ihren Vater hatte sie eigentlich nie gesehen, weil er ihre Mutter schon sehr bald verlassen hatte. Und mit ihrer Mutter konnte sie sich nie so recht vertragen, weil halt die Mutter sehr verbittert war über die schlechte Welt. Noch als Anna ganz klein war, verbot es ihr die Mutter immer boshafter, daß sie ihrer Puppe was vorsingt. Die Mutter hatte keine Lieder und war also ein böser Mensch. Sie gönnte keiner Seele was und auch ihrer eigenen Tochter nichts. Knapp nach dem Weltkrieg starb sie an der Kopfgrippe, aber Anna konnte beim besten Willen nicht so richtig traurig sein, obwohl es ein sehr trauriger Herbsttag war. Von da ab wohnte sie bei ihrer Tante in der Schellingstraße, nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete die Tante im vierten Stock zwei Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres

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seligen Mannes weiter, und das war kaum größer als eine Kammer. Darüber stand „Antiquariat“, und in der Auslage gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten. Das eine Zimmer hatte die Tante an einen gewissen Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich unvermietet, denn es war verwanzt. In diesem Zimmer konnte nun Anna vorübergehend schlafen statt bei der Tante in der Küche. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht, aber man konnte ihm nichts nachweisen, denn er war sehr raffiniert. Als nun Anna mit ihrem Zeugnis nach Hause kam, schimpfte die Tante ganz fürchterlich über diese ganze Nachkriegszeit und wollte Anna hinausschmeißen. Aber das war natürlich nicht ernstzunehmen, denn die Tante hatte ein gutes Herz, und ihr ewiges Geschimpfe war nur eine Schwäche von ihr. Anna war ja schon oft arbeitslos, und das letztemal gleich acht Wochen lang. Das war im vorigen Winter, und damals sagte der Herr Kastner zur Tante: „Ich höre, daß Ihre liebe Nichte arbeitslos ist. Ich habe beste Beziehungen zum Film, und es hängt also lediglich von Ihrer lieben arbeitslosen Nichte ab.“ Das mit dem Film war natürlich gelogen, denn der Herr Kastner hatte ganz andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel ist er im August mit ihr ins Kino gegangen. Man hat den Film „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ gegeben, und der Kastner hat sie dabei immer abgreifen wollen, aber sie hat sich sehr gewehrt, weil es ihr vor seinen Stiftzähnen gegraust hat. Der Kastner ist nachher sehr empört gewesen und hat sie gefragt, wie sie wohl darüber denke, daß man ein Fräulein in einen Großfilm einladet und dann „nicht mal das?!“ – Aber acht Tage später hat er sie schon wieder freundlich gegrüßt, denn er hatte inzwischen eine Kassiererin aus Augsburg gefunden, die ihm zu Willen gewesen ist. 3

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An diesem Abend ging Anna sehr bald zu Bett, und schon während sie sich auszog, hörte sie, daß nebenan der Kastner ausnahmsweise zu Hause geblieben ist. Er sprach mit sich selbst, als täte er etwas auswendig lernen, aber sie konnte kein Wort verstehen. Plötzlich verließ der Kastner sein Zimmer und hielt vor ihrer Tür. Dann trat er ein, ohne anzuklopfen. Er stellte sich vor sie hin wie vor eine Auslage. Er hatte seine moderne Hose an, war in Hemdsärmeln und roch nach süßlicher Rasierseife. Sie hatte sich im Bette emporgesetzt und konnte sich diesen Besuch nicht erklären, denn der Kastner schnitt ein seltsam offizielles Gesicht, als wollte er gar nichts von ihr. „Gnädiges Fräulein!“ verbeugte er sich ironisch. „Honny soit qui mal y pense!“ Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigentlich wollte er Journalist werden, jedoch damals war seine Mutter anderer Meinung. Sie hatte nämlich viel mit den Zähnen zu tun und konstatierte: „Die Zahntechniker sind die Wohltäter der Menschheit. Ich will, daß mein Sohn ein Wohltäter wird!“ Er hing sehr an seiner Mutter und wurde also ein Zahntechniker, aber leider kein Wohltäter, denn er hatte bloß Phantasie statt Präzision. Es war sein Glück, daß kurz nach Eröffnung seiner Praxis der Krieg ausbrach. Er stellte sich freiwillig und wurde Militärzahntechniker. Nach dem Waffenstillstand fragte er sich: „Bin ich ein Wohltäter? Nein, ich bin kein Wohltäter. Ich bin die typische Bohemenatur, und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und nicht in die Morgue.“ Er wollte wieder Journalist werden, aber er

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landete beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: „Der bethlehemitische Kindermord, oder Ehre sei Gott in der Höhe“. Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein bethlehemitisches Kind verkörperte, nackt photographierte. Nun schritt er vor Annas Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte daher los wie ein schlechtes Feuilleton. Zuerst setzte er ihr auseinander, daß es unnahbare Frauen nur in den Märchen und Sagen oder in Irrenhäusern gebe, nämlich er hätte sich mit all diesen Problemen beschäftigt, „er spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung“. So hätte er auch sofort erkannt, daß sie (Anna) keine kalte Schönheit sei, sondern ein tiefes stilles Wasser – „Was geht denn das Sie an?“ unterbrach ihn Anna auffallend sachlich, denn sie gönnte es ihm, daß er sich wieder mal über sie zu ärgern schien. Sie gähnte sogar. „Mich persönlich geht das natürlich nichts an“, antwortete der Kastner und tat plötzlich sehr schlicht. „Ich dachte ja nur an Ihre Zukunft, Fräulein Pollinger!“ Zukunft! Da stand es nun wieder vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Das war ein altes, verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur daß es noch älter war, noch schmutziger und verschlagener – – „Ich stricke, ich stricke“, nickte die Zukunft, „ich stricke Strümpfe für Anna!“ Und Anna schrie: „So lassens mich doch! Was wollens denn von mir?!“ „Ich persönlich will nichts von Ihnen!“ verwahrte sich der Kastner feierlich, und die Zukunft sah sie lauernd an. – Anna hatte keine Worte mehr, und der Kastner lächelte zufrieden, denn plötzlich ist es ihm aufgefallen, daß er auch Talent zum Tierbändiger hätte. Und er fixierte Anna, als wäre sie zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich dabei, daß er sich verbeugen wollte. „Was war denn das?!“ fuhr er sich entsetzt an, floh aus dem Zirkus, der plötzlich brannte, und knarrte los: „Zur Sache, Fräulein Pollinger! Was Sie nämlich in erotischer Hinsicht treiben, das läßt sich nicht mehr mitansehen! Nun sind Sie wieder mal arbeitslos, trotzdem hängen Sie sich ständig an Elemente wie an diesen famosen Herrn Kobler –“ „Ich häng mich an gar niemand!“ protestierte sie heftig. „So war das ja nicht gemeint!“ beruhigte er sie. „Mir müssen Sie nicht erzählen, daß Sie nicht lieben können, Fräulein! Sie können sich zwar mit jedem Kobler einlassen, aber wie Sie mal fühlen, daß Sie sich so richtig avec Seele verlieben könnten, kneifen Sie sofort, und dies soll natürlich kein Vorwurf sein, denn infolge Ihrer wirtschaftlichen Lage trachten Sie natürlich danach, jeder überflüssigen Komplikation aus dem Wege zu gehen – aber was ich Ihnen vorwerfe, ist einfach dies: daß Sie sich vergeuden! Heutzutag muß man auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Ich verlange zwar keineswegs, daß Sie sich prostituieren, aber ich bitte Sie um Ihretwillen, praktischer zu werden!“ „Praktisch?“ meinte Anna, und es war ihr, als hätte sie dieses Wort noch niemals gehört. Sie sollte wirklich mehr an sich denken, dachte sie vorsichtig weiter und hatte das Gefühl, als wäre sie blind und müßte sich vorwärts tasten. Sie denke zwar eigentlich häufig an sich, fuhr sie fort, aber wahrscheinlich zu langsam. Wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so hätte er eben diesmal recht. Sie müsse sich das alles genau überlegen – was „alles“?

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Seit es Götter und Menschen – kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: „Im Anfang war die Prostitution!“ „Diskretion Ehrensache!“ hörte sie den Kastner sagen, und als sie ihn wiedererkannte, schnitt er ein überaus ehrliches Gesicht. Das ist nämlich so: Als die Herrschenden erkannt hatten, daß es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend belustigender morden und plündern ließ – seit also dieser Gekreuzigte u.a. gepredigt hatte, daß auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit ist jenes „Diskretion Ehrensache!“ ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution. Wer wagt es also, die heute Herrschenden anzuklagen, daß sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhebenden Selbstbetruges entblößen, indem sie schlicht die Frage stellen: „Na, was kostet schon die Liebe?“ Kann man ihnen einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewußtsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tun? Nein, das kann man nicht. Sie sind nämlich überaus ehrlich. „Wieso?“ fragte Anna und sah den Kastner ratlos an. Doch dieser machte eine Kunstpause. Dann sagte er: „Ich biete Ihnen eine Gelegenheit, um in bessere Kreise zu gelangen. Kennen Sie den Radierer Achner? Ich bin mit ihm sehr intim, er ist künstlerisch hochtalentiert und sucht zur Zeit ein passendes Modell – Sie könnten sich spielend zehn Mark verdienen und hätten prächtige Entfaltungsmöglichkeiten! In seinem Atelier gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, lauter Leute mit eigenem Auto. Das sind Menschen! Liebes Fräulein Pollinger, es tut mir nämlich tatsächlich weh, daß Sie Ihre Naturgeschenke derart unpraktisch verschleudern!“ „Es tut mir weh“, hörte das liebe Fräulein Pollinger und lächelte. „So täuscht man sich halt“, meinte sie leise, und der Kastner tat ihr plötzlich leid, und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die großen und die kleinen. „Ich denke halt radikal selbstlos“, nickte ihr der Kastner zu und benahm sich direkt ergriffen. Aber natürlich war das radikal anders. Als er nämlich erfahren hatte, daß Anna arbeitslos geworden war, ist er sofort zu jenem Radierer geeilt und hat ihm ein preiswertes Modell angeboten – mittelgroß, schlank, braunblond, und es würde schon auch einen Spaß verstehen. Der Radierer hatte zufällig gerade ein solches Modell gesucht und ist infolgedessen sofort einverstanden gewesen. „Also“, hatte der Kastner gesagt, „wenn du dich dann ausradiert hast, werde ich erscheinen, Prunelle bring ich mit, Grammophon hast du – –“ Anna schwieg. „Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen“, fiel es ihr plötzlich ein, „und den könnte man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht.“

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Als der Kastner sie verließ, kam sie sich noch immer nicht klarer vor. Sie hatte ihm zwar das Ehrenwort gegeben, daß sie sich morgen zum Achner begeben wird, denn zehn Mark sind allerhand Schnee. Und das Modellstehen wäre doch etwas absolut Ordentliches, das wäre ja nur ein normaler Beruf. Aber das „Praktischwerden“ – das war ein folgenschwerer Rat, das wollte noch genau überlegt sein. Denn rasch kommt ein armes Mädchen auf die schiefe Bahn, und von dort kommt keine mehr zurück.

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Des Kastners verführerische Prophezeiungen ließen ihr keine Ruh, aber dann tauchten auch andere Töne auf, und das waren finstere Akkorde – sie mußte sich direkt anklammern, um mit dem logischen Denken beginnen zu können. Erst allmählich nahmen ihre Gedanken festere Konturen an und wurden auch immer stiller und verhielten sich abwartend. Jetzt stand jemand hinter ihr, aber sie sah sich nicht um, denn sie fühlte es deutlich, daß das ein unheimlicher Herr sein muß. Und plötzlich war das Zimmer voll von lauter Herren, die hatten alle ähnliche Bewegungen und kamen ihr sehr bekannt vor. „Wie war das doch?“ hörte sie den unheimlichen Herrn fragen, und seine Stimme klang grausam weich. „Das war so“, meldete sich einer der Herren. „Das war auf dem Oktoberfest, und zwar vor der Bude des Löwenmädchens Lionella. Anna dachte gerade, ob diese Abnormität auch noch Jungfrau wäre, da lernte sie ihren Akademiker kennen.“ „Wo steckt denn dieser Akademiker?“ erkundigte sich der Unheimliche. „Der Herr Doktor ist bereits tot“, antwortete ein anderer Herr und nickte Anna freundlich zu. „Der Herr Doktor sitzt in der Hölle“, fuhr er fort, „denn er hatte einen schlechten Charakter, nämlich er hatte der Anna ihre Unschuld geraubt, und das war keine besondere Heldentat, denn sie hatte einen Bierrausch.“ Aber da schnellte ein dritter Herr von seinem Stuhl empor. „Lügen Sie doch nicht so infam, Fräulein Pollinger!“ schrie er sie an. „Sie tun ja jetzt direkt, als hätten Sie nicht ständig danach getrachtet, endlich das zu verlieren. So antworten Sie doch!“ „Das ist schon wahr“, antwortete Anna schüchtern, „aber ich habs mir halt anders vorgestellt.“ „Egal!“ schnarrte der Dritte und wandte sich an den Unheimlichen: „Man muß es dem lieben Gott sagen, daß der Herr Doktor unschuldig in der Hölle sitzt!“ Jetzt unterbrach ihn jedoch ein vierter Herr, und das war ein melancholischer Kaffeehausmusiker. „Das Fräulein Pollinger ist ein braver Mensch“, sagte er, „bitte fragen Sie doch nur den Herrn Brunner!“ „Hier!“ rief der Brunner. Er saß auf dem Sofa und beugte sich über das Tischchen. „Liebe Anna“, sagte er ernst, „ich weiß, daß ich deine einzige große Liebe war, aber ich hab dich ja nur aus Mitleid genommen, denn du bist ja gar nicht mein Typ.“ Dann erhob er sich langsam, er war ein riesiges Mannsbild. „Anna“, fuhr er fort, und das klang fast zärtlich, „wenn man an nichts anderes zu denken hat, dann ist so eine große Liebe recht abwechslungsreich. Aber ich bin Elektrotechniker, und die Welt ist voll Neid.“ „Es dreht sich halt alles um das Geld“, lächelte Anna, und es tat ihr alles weh. „Richtig!“ murmelten die Herren im Chor, und einige sahen sie vorwurfsvoll an. „Ich hab noch nie Geld dafür genommen“, wehrte sie sich. „Wo ist denn der Kobler?“ fragte der Dritte ironisch. „Ach, der Kobler!“ schrie Anna und geriet plötzlich außer sich. „Der sitzt ja jetzt in Barcelona, während ich mit euch reden muß, er hätt mir leicht was geben können!“ „Na, endlich!“ rief ein Herr aus der Ecke und trat rasch vor. Er hatte einen Frack an. „Du hast jetzt endlich praktisch zu werden, Fräulein!“ sagte er. „Unten steht meine Limousine! Komm mit! Komm mit!“ 5

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Der Radierer Achner hatte sein Atelier schräg vis-à-vis. Er war ein komplizierter Charakter und das, was man im bürgerlichen Sinne als ein Original bezeichnet. Als er Anna die Tür öffnete, hatte er einen Pullover an und Segelschuhe. Die Sonne brannte durch die hohe Glasscheibe, und es roch nach englischen Zigaretten. Auf dem Herdchen lagen zwei verbogene Löffel, ein schmutziger Rasierapparat und

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die Briefe Vincent van Goghs in Halbleinen. Im Bette lag ein Grammophon, und auf einer Kiste, die mysteriös bemalt war, thronte Buddha. Das sei sein Hausaltar, meinte der Radierer. Sein Gott sei nämlich nicht gekreuzigt worden, sondern hätte nur ständig seinen Nabel betrachtet, er persönlich sei nämlich Buddhist. Auch er persönlich würde regelmäßig meditieren, zur vorgeschriebenen Zeit die vorschriftsmäßigen Gebete und Gebärden verrichten, und wenn er seiner Eingebung folgen dürfte, würde er die Madonna mit sechs Armen, hundertzwanzig Zehen, achtzehn Brüsten und sechs Augen malen. Er persönlich verachte nämlich die Spießbürger, weil sie nichts für die wahre Kunst übrig hätten. Aber manchmal träumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten, großen Augen und fettigem Haar. Es war alles so schön zu Haus gewesen, es ist gut gekocht und gern gegessen worden, und heute schien es ihm, als hätten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und an den Weihnachtsmann. Und manchmal mußte er denken, ob er nicht auch lieber ein Spießbürger geworden wäre mit einem Kind und einer rundlichen Frau. Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen, besonders, wenn er allein im Atelier saß. Dann sprach er laut mit sich selber, nur um nichts denken zu müssen. Oder er ließ das Grammophon singen, rezitierte Rainer Maria Rilke, und manchmal schrieb er sich sogar selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Überschrift:

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Raum für Mitteilungen, falls nicht zu Hause.

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Er haßte die Stille. Etwas in seinem Wesen erinnerte an seinen verstorbenen Onkel Eugen Meinzinger. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und saß oft stundenlang auf Kinderspielplätzen. Er starb bereits 1908 nach einem fürchterlichen Todeskampfe. Zehn Stunden lang röchelte er, redete wirres Zeug und brüllte immer wieder los: „Lüge! Lüge! Ich kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein kleines Mizzilein in den Kanal gestoßen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Ich hab ja nur an den Wädelchen getätschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!“ Und dann schlug er wild um sich und heulte: „Auf dem Diwan sitzt der Satan! Auf dem Diwan sitzt noch ein Satan!“ Dann wimmerte er, eine Straßenbahn überfahre ihn mit Rädern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: „Es ist strengstens verboten, mit dem Wagenführer zu sprechen!“ –

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Und Anna betrachtete Buddhas Nabel und dachte, das wäre doch bloß ein Schmerbauch. Dann trat sie hinter die spanische Wand. „Ziehen Sie sich nur ruhig aus, in Schweden badet alles ohne Trikot“, ermutigte sie der Buddhist, jedoch sie fand es höchst überflüssig, daß er sich verpflichtet fühlte, ihr durch derartige Bemerkungen das Entkleiden zu erleichtern, denn sie hatte schon seit vorigem Frühjahr nichts dagegen, daß man sie ansah. Der Kastner hatte ihr mal eine Broschüre über den Geist der Antike aufgenötigt, und da stand drinnen, daß das Schamgefühl nur eine schamlose Erfindung des Christentums wäre.

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Der Buddhist ging auf und ab. „Wir alle opfern auf dem Altare der Kunst“, meinte er so nebenbei, und das hatte zur Folge, daß sich Anna wieder mal über diese ganze Kunst ärgerte. Denn zum Beispiel: Wie gut haben es doch die Bilder in den Museen! Sie wohnen vornehm, frieren nicht, müssen weder essen noch arbeiten, hängen nur an der Wand und werden bestaunt, als hätten sie Gott weiß was geleistet! „Ich freu mich nur, daß Sie kein Berufsmodell sind!“ vernahm sie wieder des Buddhisten Stimme. „Ich hasse nämlich das Schema, ich bin krassester Individualist, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehöre zu jener ‚unsichtbaren Loge‘ wahrer Geister, die sich über ihre Zeit erhoben haben und über die gestern in den ‚Neuesten‘ ein fabelhaftes Feuilleton stand!“ So verdammte er den Kollektivismus, während Anna sich auszog. Aber am meisten ärgerte sie sich über die Glyptothek, in der die Leute alte Steintrümmer anglotzen, so andächtig, als stünden sie vor der Auslage eines Delikatessengeschäftes. Einmal war sie in der Glyptothek, denn es hat sehr geregnet, und sie ging gerade über den Königsplatz. Drinnen führte einer mit einer Dienstmütze eine Gruppe von Saal zu Saal, und vor einer Figur sagte er, das sei die Göttin der Liebe. Die Göttin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte, und sie mußte direkt lächeln, und einer aus der Gruppe lächelte auch und löste sich von der Gruppe und näherte sich ihr. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar, und er fragte sie, ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wolle, und sie trafen sich dann auf dem Sendlingertorplatz. Er kaufte zwei Logenplätze, aber da es ein nasser und kalter Sonntag war, war keine Loge ganz leer, und das verstimmte ihn, und er sagte, hätte er das geahnt, hätte er zweites Parkett gekauft, nämlich er sei sehr kurzsichtig. Und er wurde ganz melancholisch und meinte, wer weiß, wann sie sich wiedersehen würden, er sei nämlich aus Augsburg und müsse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren, und eigentlich liebe er das Kino gar nicht, und die Logenplätze wären verrückt teuer. Hernach begleitete ihn Anna an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, als sie sich trennten, und sagte: „Fräulein, ich bin verflucht. Ich hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Söhne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau sechsundfünfzig. Ich war immer Idealist. Fräulein, Sie werden noch an mich denken. Ich bin Kaufmann. Ich hab Talent zum Bildhauer.“ 7 Aber das Schicksal wollte es nicht haben, daß sie heute Modell steht, es hatte etwas anderes mit ihr vor. Nämlich unerwartet bekam der Buddhist Besuch, und der gehörte zu jenen besseren Kreisen, auf die sie der Kastner mit den Worten aufmerksam gemacht hatte: „Ich verlange zwar keineswegs, daß du dich prostituierst!“ Sie war erst halb ausgezogen hinter der spanischen Wand, als ein junger Herr elastisch das Atelier betrat. Er hieß Harry Priegler und war ein durchtrainierter Sportsmann. Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewußten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu haben, konnte er seine gesunden Muskeln, Nerven und Eingeweide derart rücksichtslos pflegen, daß er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eis-

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hockeysportes galt. Und er enttäuschte die Hoffenden nicht. Allgemein beliebt, wurde er gar bald der berühmteste linke Stürmer und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, daß er sich ein „Foul“ zuschulden kommen ließ, denn infolge seiner raffinierten Technik und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er dies nicht nötig. Für Kunst hatte er kaum was übrig. Zwar ließ er sich sein Lexikon prunkvoll einbinden, denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Auch las er gern Titel und Kapitelüberschriften, aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreißkalendern. Trotzdem fand ihn der Buddhist nicht unsympathisch, denn unter anderem ließ er ihn oft in seinem Auto fahren, und das war ein rassiger Sportwagen. – Jetzt unterhielten sich die beiden Herren sehr leise. Nämlich dem Buddhisten wäre es peinlich gewesen, wenn Anna erfahren hätte, daß er dem Harry vierzig Reichsmark schuldet, da er etwas auf sich hielt. „Sicher fährt sie mit!“ meinte er und betonte dies „sicher“ so überzeugt, daß es Anna hören mußte, obwohl sie nicht horchte. Nun wurde sie aber neugierig, denn sie liebte das Wort „vielleicht“. Scheinbar interessiert blätterte sie in den Briefen van Goghs und hörte, wie Harry von zwei Herren sprach, die ihm anläßlich seines grandiosen Spieles in der Schweiz persönlich gratulieren wollten. Als sie ihm aber ihre Aufwartung machten, da stahlen sie ihm aus seiner Briefmarkensammlung den „schwarzen Einser“ und den „sächsischen Dreier“. Einer dieser Herren habe sich hernach an eine lebensfreudige Baronin attachiert, doch der Baron sei unerwartet nach Hause gekommen und habe nur gesagt: „Pardon!“ Und dann habe er sich in der gleichen Nacht auf dem Grabe seiner Mutter erschossen. Und Harry meinte, er verstünde es nicht, wie man sich aus Liebe erschießen könnte. Und auch Anna schien dies schleierhaft. Sie dachte, was wäre das doch für eine Überspanntheit, wenn sie sich jetzt auf dem Grabe ihrer Mutter erschießen würde. Zwar hätte sie mal mit diesem Gedanken gespielt, zur Zeit ihrer einzigen großen Liebe, seinerzeit, da sie mit dem Brunner ging – aber heute kommt ihr das direkt komisch vor. Aus Liebe tun sich ja heut nur noch die Kinder was an! Erst heute begreift sie ihren Brunner, der da sagte, daß wenn zwei sich gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das Geschwätz von der Seele in der Liebe, das sei bloß eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch lediglich bloß eine Gefühlsroheit, wenn irgendeine Anna außer seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit Schmerzen, und warum sollte er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja keine Familie gründen, dann allerdings müßte er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammenzuleben, da gehörte schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zuviel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. – Als Anna Harry vorgestellt wurde, sagte er: „Angenehm!“ Und zum Buddhisten: „Verzeih, wenn ich wieder mal störe!“ „Oh, bitte!“ unterbrach ihn dieser höflich. „Für heut sind wir so weit! Ziehen Sie sich nur wieder an, Fräulein!“ Anna fürchtete bereits, von Harry nicht aufgefordert zu werden, und so sagte sie fast zu früh „ja“ und überraschte sich dabei, daß ihr seine Krawatte gefiel. Harry hatte sie nämlich gefragt: „Fräulein, Sie wollen doch mit mir kommen – nur an den Starnberger See –“

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Unten stand sein Sportwagen, und der war wirklich wunderbar. Und dann gings dahin . . . 8 5

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Nach einer knappen Stunde kam der Herr Kastner ins Atelier, wie er es gestern ausgemacht hatte – aber da der Buddhist dem Harry Priegler unter anderm vierzig Reichsmark schuldete, hätte er also unverzeihbar töricht gehandelt, wenn er seinem Gläubiger betreffs irgendeiner Anna nicht entgegengekommen wäre, nur um irgendeinem Kastner sein Versprechen halten zu können. Der Kastner war ein korrekter Kaufmann und übersah auch sofort die Situation. Alles sah er ein, und meinte nur: „Du hast wieder mal dein Ehrenwort gebrochen.“ Aber dies sollte nur eine Feststellung sein, beileibe kein Vorwurf, denn der Kastner konnte großzügig werden, besonders an manchen Tagen. An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja es war gar nicht so häßlich, es war eigentlich nichts. Das einzig Unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung. – „Ich hab extra einen Prunelle mitgebracht“, sagte er und lächelte resigniert. „Es wär sehr leicht gegangen mit deinem Grammophon, sie war ja ganz gerührt, daß ich ihr das hier beschafft hab, und sie hat eine feine Haut“ – So saß er da und stierte auf einen Fettfleck an der spanischen Wand. Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ging eines Tages in der Schellingstraße spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so daß diese einst so innig befreundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein außerordentliches Personengedächtnis besaß. „Hallo!“ rief der vierte Fettfleck. „Ihr kennt euch doch, wir wollen jetzt einen Prunelle trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns!“ Heut sprach der Kastner nicht gewählt, und auch auf seine Dialektik war er nicht stolz. „Heut hab ich direkt wieder gehinkt“, murmelte er vor sich hin, und die Sonne sank immer tiefer. Es war sehr still im Atelier, und plötzlich meinte der Buddhist: „Die Einsamkeit ist wie ein Regen, sie steigt vom Meer den Abenden entgegen, von Ebenen, die fern sind und entlegen, geht sie zum Himmel, der sie immer hat, und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt. Regnet hernieder in den Zwitterstunden, wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen und wenn die Leiber, welche nichts gefunden, enttäuscht und traurig voneinander lassen und wenn die Menschen, die einander hassen, in einem Bett zusammen schlafen müssen: Dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen –“

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„Das sind bulgarische Zigaretten“, antwortete der Kastner und sah seinen Fettfleck vertraulich an. „Bulgarien ist ein fruchtbares Land, ein Königreich. Das hier ist nicht der echte Tabak, denn die Steuern sind zu hoch, wir haben eben den Feldzug verloren. Es war umsonst. Wir haben umsonst verloren“ – So trank er seinen Prunelle, und es dauerte nicht lange, da war er einverstanden. Eine fast fromme Ergebenheit erfüllte seine Seele, und es fiel ihm gar nicht auf, daß er zufrieden war. Er kam sich vor wie ein gutes Gespenst, das sich über seine eigene Harmlosigkeit noch niemals geärgert hatte. Selbst da der Prunelle alle wurde, war er sich nicht bös.

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Als der Kastner den Fettfleck begrüßte, erblickte Anna den Starnberger See. Die Stadt mit ihren grauen Häusern war verschwunden, als hätte sie nie in ihr gewohnt, und Villen tauchten auf, rechts und links und überall, mit Rosen und großen Hunden. Der Nachmittag war wunderbar, und Anna fuhr durch eine aufregend fremde Welt, denn es ist ein großer Unterschied zwischen einem Soziussitz und einem wunderbaren Sportwagen. Sie hatte die Füße hübsch artig nebeneinander und den Kopf etwas nach hinten gezogen, denn auch der Wind war wunderbar, und sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem. Harry war ein blendender Herrenfahrer. Er überholte einfach alles und nahm die Kurven, wie sie kamen. Ausnahmsweise sprach er nicht über das Eishockey, sondern beleuchtete Verkehrsprobleme. So erklärte er ihr, daß für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgendein Fußgänger die Schuld trägt, und darum dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, wenn er, falls er solch einen Fußgänger überfahren hätte, einfach abblenden täte. In diesem Sinne habe er einen Freund in Berlin, und dieser Freund hätte mal mit seinem fabelhaften Wagen eine Fußgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über die Straße gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja sogar zum Prozeß sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fußgängerin Landgerichtsratswitwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, seinen Freund zur Zahlung einer Entschädigung zu verurteilen. „Es käme mir ja auf ein paar tausend Märker nicht an“, hätte der Freund gesagt, „aber ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen.“ Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fußgängerin nicht leid täte, trotz des verbotenen Lichtes. „Nein“, hätte er gesagt, „prinzipiell nicht!“ Er sei eben auf seinem Recht bestanden. Jedesmal, wenn Harry einen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusammenstoßen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann haßte er diesen Staat, der die Fußgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Überhaupt der deutsche Staat, meinte er, sollte sich lieber kümmern, daß mehr gearbeitet würde, damit wir endlich wieder mal hochkommen könnten! Fußgänger würden so und so überfahren, und nun erst recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Aus-

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landes, da er mit seinem Auto jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst zwecks Erholung von der anstrengenden Eishockeysaison ein Stückchen Welt durchfahre. Jetzt fuhren sie durch Possenhofen. Hier wurde eine Kaiserin von Österreich geboren, und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander verwandt, und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloß Berg. Es war eine vornehme Gegend. „Essen tun wir in Feldafing“, entschied Harry. „In Feldafing ist ein annehmbares Publikum, seit der Golfplatz draußen ist. In der Stadt kann man ja kaum mehr essen, überall sitzt so ein Bowel.“ Und dann erwähnte er auch noch, früher sei er öfters nach Tutzing gefahren, das liege nur sechs Kilometer südlicher; aber jetzt könne kein anständiger Mensch mehr hin, nämlich dort stünde jetzt eine Fabrik, und überall treffe man Arbeiter. 10

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In Feldafing sitzt man wunderbar am See. Besonders an solch einem milden Herbstabend. Dann ist der See still, und du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterscheiden, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend. Im Seerestaurant zu Feldafing saßen lauter vornehme Menschen. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die größte Mühe gab, anders auszusehen, und die Damen waren durchaus gepflegt, wirkten daher sehr neu, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett mußte, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal heimlich in der Nase bohrte oder sonst irgendwas Unartiges tat. Die Speisekarte war lang und breit, aber Anna konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. „Königinsuppe?“ hörte sie des Kellners Stimme, und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, nämlich das Knurren kränkte ihn, da er einen schlechten Charakter hatte. Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich, als hätten sie es nicht nötig zu essen. Als wären sie schon derart vergeistigt, und sind doch nur satt. Harry bestellte zwei Wiener Schnitzel mit Gurkensalat, ließ aber hernach das seine stehen, weil es ihm zu dick war, verlangte russische Eier und sagte: „Wissen Sie Fräulein, daß ich etwas nicht ganz versteh: Wieso kommt es nur, daß ich bei Frauen soviel Glück hab? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sichs vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann? Ich kann jede Frau haben, aber das ist halt nicht das richtige.“ Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: Das beste ist, ich wart, bis es finster ist, dann fahr ich zurück und bieg in einen Seitenweg – und wenn sie nicht will, dann fliegt sie halt raus. „Es ist halt nicht das richtige“, fuhr er laut fort. „Die Frauen sagen zwar, ich könnt hypnotisieren. Aber ob ich die Liebe find? Ob es überhaupt eine Liebe gibt? Verstehen Sie mich, was ich unter ‚Liebe‘ versteh?“ Es war noch immer nicht finster ge-

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worden, es dämmerte nur, und also mußte er noch ein Viertelstündchen Konversation treiben. „Zum Beispiel jene Dame dort am dritten Tisch links“, erzählte er, „die hab ich auch schon mal gehabt. Sie heißt Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstraße acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, daß sie verheiratet ist und daß ihr Mann sein Geschäftsfreund ist. Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishockey gespielt hab. Sie heißt Lotte Böhmer und wohnt in der Meineckestraße vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heißt Weber und wohnt in der Franz-Josef-Straße, die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: ‚Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stoßen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.‘ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stoßen wollte. Und hinter Ihnen – schauen Sie sich nicht um! – sitzt eine große Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestoßen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heißt Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstraße zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet, und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: ‚Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, daß du mich mit meiner Frau betrügst?‘ Ich hab gesagt: ‚Hand aufs Herz! Es ist wahr!‘ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: ‚Ich danke dir, lieber Harry!‘ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, daß ich ja nichts dafür könnt, denn er wüßt es genau, daß der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil wäre. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein großer Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heißt Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstraße bei der Gabelsbergerstraße.“ „Zahlen!“ rief Harry, denn nun wurd es Nacht. 11

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Im Forstenrieder Park bog Harry in einen Seitenweg, hielt scharf und starrte regungslos vor sich hin, als suchte er einen großen Gedanken, den er verloren hatte. Anna wußte, was nun kommen würde, trotzdem fragte sie, ob etwas los wäre. Aber er schwieg sich noch eine Weile aus. Dann sah er sie langsam an und sagte, sie hätte schöne Beine. Er war jedoch gar nicht erregt, und jetzt mußte er sich schneuzen. Das benutzte sie, um ihm zu sagen, daß sie spätestens um neun in der Schellingstraße sein müsse, worauf er sie fragte, ob sie denn nicht fühle, daß er sie haben wolle. „Nein“, sagte sie, „fühlen tu ich das nicht.“ „Ist das aber traurig!“ meinte er und lächelte scharmant. Die Septembernacht war stimmungsvoll, und Harry fühlte sich direkt verpflichtet, Anna zu besitzen, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, da sie nun mal in seinem Sportwagen saß und weil er ihr Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, obwohl er es ja bereits in Feldafing bemerkt hatte, daß sie ihn niemals besonders aufregen könnte. So kam alles, wie es kommen sollte, und Anna sah sich ängst-

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lich um. Ob sie denn etwas gehört hätte, fragte er. „Ja“, sagte sie, „es war nichts.“ Also näherte er sich ihr, und zwar in einer handgreiflichen Weise. Aber so rasch sollte er nicht an sein Ziel gelangen, denn nun hörte Anna wieder jenen Herrn im Frack – „Bitte, sei doch endlich praktisch!“ bat sie der Herr und streichelte sie wie ein großer Bruder. „So geht das nicht!“ sagte sie plötzlich, und ihre Stimme erschien ihr seltsam verändert, als gehörte sie einer neuen Anna. „Sondern?“ fragte Harry. „Zehn“, sagte die neue Anna, und jetzt wurd es grausam still – – „Fünf“, meinte Harry plötzlich und erhob sich energisch: „Dort drüben ist eine Bank!“ Sie gingen zur Bank. Auf der Banklehne stand: Nur für Erwachsene. Das war auf einer Lichtung, da sie zum erstenmal Geld dafür nahm. Droben standen die Sterne, und ringsum lag tief und schwarz der Wald. Sie nahm das Geld, als hätte sie nie darüber nachgedacht, daß man das nicht darf. Sie hatte wohl darüber nachgedacht, aber durch das Nachdenken wird die Ungerechtigkeit nicht anders, das Nachdenken tut nur weh. Es war ein Fünfmarkstück, und nun hatte sie keine Gefühle dabei, als wär sie schon tot.

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Dritter Teil Herr Reithofer wird selbstlos

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„Und die Liebe höret nimmer auf.“

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Wochen waren vergangen seit dieser Nacht, und nun wars Anfang November. Die Landeswetterwarte konstatierte, daß das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein und auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. Aber hier war der Herbst noch mild und fein, und so sollte er offiziell auch noch einige Tage bleiben. Seit vorgestern wohnte Anna nicht mehr bei ihrer Tante in der Schellingstraße, sondern in der Nähe des Goetheplatzes, und das kam so: Am Montag erschien ein Kriminaler bei der Tante, der einst mit ihr in die Schule gegangen war, und teilte ihr vertraulich mit, daß ihre Nichte schon öfter beobachtet worden sei, wie sie sich außer jedem Zweifel dafür bezahlen ließe. Der Kriminaler erwähnte das nur so nebenbei aus Freundschaft, denn eigentlich war er ja zur Tante gekommen, um den Herrn Kastner zu verhaften wegen gewerbsmäßiger Verbreitung unzüchtiger Schriften und eines fahrlässigen Falscheids – aber der Kastner saß gerade im Café, und so hatte der Kriminaler Gelegenheit, seine alte Schulfreundin darauf aufmerksam zu machen, daß in der Polizeidirektion bereits ein Akt vorhanden wäre, in dem eine gewisse Anna Pollinger als verdächtiges sträunendes Frauenzimmer geführt werde. Die Tante geriet ganz außer sich, und der Kriminaler bekam direkt Angst, es könnte sie der Schlag treffen, und drum suchte er sie zu beschwichtigen. Man könne auch die Freudenmädchen nicht so ohne weiteres verdammen, sagte er, so habe er eine Bekannte gehabt, bei der hätten nur so leichtfertige Dinger gewohnt, doch die wären peinlich pünktlich mit der Miete gewesen und hätten die Möbel schon sehr geschont, sauber und akkurat. Sie hätten sich ihre Zimmer direkt mit Liebe eingerichtet und nie ein unfeines Wort gebraucht. Aber diese Argumente prallten an der Tante ihrer katholischen Weltanschauung ab. Sie war fürchterlich verzweifelt, warf Anna aus ihrem Heim und brach jede verwandtschaftliche Beziehung zu ihr ab. – Auch den Herrn Kobler hatte Anna nie wieder gesprochen. Nur einmal sah sie ihn drüben an der Ecke stehen, und zwar mit dem Grafen Blanquez. Sie wollte hinüber, aber der Kobler wandte ihr derart ostentativ den Rücken, daß sie aufhörte, nach ihm zu fragen. „Ich kann sie nicht mehr sehen“, sagte er zu seinem Grafen, „ich bin halt diesen Verhältnissen hier schon etwas entwachsen und will nicht mehr runter von meinem Niveau.“ „Da hast du schon sehr recht“, nickte der Graf, „denn sie ist leider total verkommen.“ „Seit wann denn?“ erkundigte sich Kobler. „Schon lang“, meinte der Graf. „Neulich erzählte mir unser Freund Harry, daß sie fünf Mark dafür verlangt hat.“ „Nicht möglich!“ rief Kobler. „Das sind halt diese fürchterlichen Zeiten, Europa muß sich halt einigen, oder wir gehen noch alle zugrund!“ – An diesem Abend wäre Anna fast auf der Wache gelandet, denn sie hatte einen lauten Auftritt in der Augustenstraße. Ein Waffenstudent spuckte ihr ins Gesicht, weil sie ihn ansprach, trotzdem er Couleur trug. Noch lange hernach wimmerte sie

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vor Wut und Haß und legte einen heiligen Eid ab, sich nie wieder mit einem Herrn einzulassen, aber sie konnte diesen Schwur nicht halten, denn die Natur verlangte ihr Recht. Sie hatte nämlich nichts zu essen. – Die Natur ist eine grausame Herrin und gab ihr keinen Pardon. Und so fing sie bereits an, nur an das Böse in der Welt zu glauben, aber nun sollte sie ein Beispiel für das Vorhandensein des Gegenteils erleben, zwar nur ein kleines Beispiel, aber doch ein Zeichen für die Möglichkeit menschlicher Kultur und Zivilisation. 2

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Als Anna ihren Herrn Reithofer kennenlernte, dämmerte es bereits. Das war in der Nähe der Thalkirchener Straße vor dem Städtischen Arbeitsamt. Auch der Herr Reithofer war nämlich arbeitslos, und er knüpfte daran an, als er sie ansprach – man konnte es ihr ja noch nicht ansehen, durch was sie ihren Unterhalt bestritt, denn da sie es erst seit kurzem tat, war sie äußerlich noch die alte Anna. Aber drinnen saß die neue Anna und fraß sich langsam an das Licht. Der Herr Reithofer sagte, er sei nun schon ewig lange ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher, und sie sagte, sie sei nun auch schon zwei Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht, und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr angenehme Stadt, und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte gewollt, und er lächelte, er freue sich nun sehr, daß er sie kennengelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Aber sie fiel ihm ins Wort, man könne doch nicht das Reden verlernen. Nun zog eine Reichswehrkompagnie an ihnen vorbei, und zwar mit Musik. Als der Herr Reithofer die Reichswehr sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Gewalten, die leider stärker wären als der Mensch, aber so dürfte man nicht denken, denn dann müßte man sich halt aufhängen. Er solle doch nicht so traurig daherreden, unterbrach sie ihn wieder, er solle lieber in den Himmel schauen, denn dort droben flöge gerade ein feiner Doppeldecker. Jedoch er sah kaum hin, nämlich das wisse er schon, und die Welt werde immer enger, denn bald würde man von dort droben in zwei Stunden nach Australien fliegen können, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das von dem Herrn von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett hätte gehen wollen, aber derweil in den Himmel gekommen sei. Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, erst neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich großartig, daß der menschliche Geist solche Höhen erklimme, und sie werde es ja auch noch erleben, daß, wenn das so weitergehe, alle echten Menschen zugrund gehen würden. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse, und er habe gestern gelesen, daß sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil die Kapitalisten anfingen, sich zu organisieren – und er schloß: Auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen. Und während der Herr Reithofer so sprach, wurde es Anna sonnenklar, daß er sie verwechselt, und sie wunderte sich, daß sie noch nicht darauf zu sprechen gekommen sei, aber nun hatte sie plötzlich keinen Mut, davon anzufangen, und das war direkt seltsam. Sie sah ihn verstohlen an. Er hatte ein wohltuendes Geschau und auffallend

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gepflegte Hände. Was er denn für einen Beruf hätte, fragte sie. „Kellner“, sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute sicher in einem ausländischen Grand-Hôtel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Biskra. Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Sarajevo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der wo der österreichungarische Thronfolger gewesen sei, erschossen hätten. Und Anna antwortete, sie wisse es nicht, was dieses Sarajevo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, und soviel sie erfahren hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an diesen ganzen Weltkrieg nur schwach erinnern, denn als der seinerzeit ausgebrochen sei, wäre sie erst vier Jahr alt gewesen. Sie erinnere sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals hätte man ihre liebe Mutter begraben. Zwar hätte sie ihre Mutter nie richtig geliebt, sie sei sehr mager gewesen und so streng weiß um den Mund herum, und sie hätte oft das Gefühl gehabt, daß die Mutter denken täte: „Warum lebt das Mädel?“ Hier meinte der Herr Reithofer, daß jeder Mensch Verwandte hätte, der eine mehr und der andere weniger und jeder Verwandte vererbe einem etwas, entweder Geld oder einen großen Dreck. Aber auch Eigenschaften wären erblich, so würde der eine ein Genie, der zweite ein Beamter und der dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloß Nummern, die sich alles gefallen ließen. Nur wenige ließen sich nicht alles gefallen, und das wäre sehr traurig. Jetzt gingen sie über den Sendlinger-Tor-Platz. „Und was hat das Fräulein für einen Beruf?“ fragte er. Sie sah ihn forschend an, ob er es bereits erraten hätte, und überraschte sich dabei, daß es ihr peinlich gewesen wär – „Eigentlich hab ich das Nähen gelernt“, sagte sie und ärgerte sich nun über ihr ängstliches Gefühl. Denn die Männer sind feine Halunken, und daran ändert auch ihre Arbeitslosigkeit nichts. Ob wohl dieser feine Arbeitslose drei Mark habe, überlegte sie, und stellte ihn auf die Probe: „Ich möcht jetzt gern ins Kino da drüben“, sagte sie. Dem Herrn Reithofer kam dieser Vorschlag ziemlich unerwartet, denn er besaß nur mehr einen Zehnmarkschein, und es war ihm auch bekannt, daß er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anteil habe, und er erinnerte sich, daß er 1915 in Wolhynien einen Kalmücken sterben sah, der genau so starb wie irgendein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. „Ich möcht gern ins Kino“, wiederholte sich Anna und sah ihn mit Fleiß recht verträumt an. Und um den toten Kalmücken zu verscheuchen, dachte er: Auf die zwei Mark kommts schon auch nicht mehr an, und so freute er sich, daß er ihr die Freude bereiten kann, denn er war ein guter Mensch. „Nur schad, daß der Tom Mix nicht spielt!“ meinte er. Nämlich er liebte diesen Wildwestmann, weil dem immer alles gelingt, aber ganz besonders verliebt war er in dessen treues Pferd. Überhaupt schwärmte er für alle Vieher – so wäre er 1916 fast vor ein Kriegsgericht gekommen, weil er einem russischen Pferdchen, dem ein Granatsplitter zwei Hufe weggerissen, den Gnadenschuß verabreicht und durch diesen Knall seine Kompagnie in ein fürchterliches Kreuzfeuer gebracht hatte. Damals ist sogar ein Generalstabsoffizier gefallen. Leider sah er also nun im Kino keine Vieher, sondern ein Gesellschaftsdrama, und zwar die Tragödie einer schönen jungen Frau. Das war eine Millionärin, die Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah,

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wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren ließ, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in BadenBaden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge saß, im Karneval tanzte und überaus unglücklich den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten, jungen Millionärssohn, der sie dezent-sinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie dann auch im Ligurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua, und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich. Es war ein sehr tragischer Film und hatte nur eine lustige Episode: Die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe, und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein „großes“ Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure „groß“ aus. Aber der Chauffeur wußte nicht genau, wie die „große“ Welt Messer und Gabel hält und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige, und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint, und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig. – Im Kino war es natürlich dunkel, aber der Herr Reithofer näherte sich Anna in keiner Weise, denn so etwas tat er im Kino prinzipiell nie – und als jetzt die Vorstellung beendet war, da war es nun draußen auch schon dunkel. Drinnen hatte sich Anna direkt geborgen gefühlt, denn sie hatte sich vergessen können, aber als sie sich nun eingekeilt zwischen den vielen Fremden hinaus in die rauhe Wirklichkeit zwängte, war sie sich bereits darüber klar, in welcher Weise sie nun dem Herrn Reithofer begegnen sollte. Sie würde ihn einfach vor die Alternative stellen, obwohl er eigentlich ein netter Mann sei, aber das Nette an den Männern ist halt nur eine Kriegslist. Als sie sich von ihren Plätzen erhoben hatten, ist es dem Herrn Reithofer aufgefallen, daß sie kleiner sei, als er sie in der Erinnerung hatte. Und so dachte er nun, wie wäre es doch edel, wenn er ihr nur väterlich über das Haar streichen, ihr Zuckerln schenken und sagen würde: „Geh ruhig nach Haus, mein liebes Kind!“ Aber wie ist das halt alles unverständlich mit dem Liebesleben in der Natur! Da ist ein starkes Muß, doch steht es dir frei, mit dem Willen dagegen anzukämpfen, sofern du einen Willen hast. Und so sagte er nun: „Kommens, Fräulein, gehen wir noch ein bisserl spazieren, es ist ja eine unwahrscheinlich laue Novembernacht“ – Aber da trat sie von ihm weg und sagte ihren harten Spruch: „So einfach geht das nicht!“ „Wieso?“ erkundigte er sich harmlos, denn er konnte sich momentan nichts Genaues darunter vorstellen. „Weil das was kostet“, sagte sie und sah recht höhnisch drein, denn es tat ihr gut, wenn sich die Herren ärgerten, und nun wartete sie auf einen Ausbruch. Aber darauf sollte sie vergebens warten. Zwar hätte sie der Herr Reithofer niemals für eine Solche gehalten, und drum schwieg er nun eine ganze Zeit. „Also eine Solche bist du“, sagte er dann leise und sah sie derart resigniert an, daß es sie gruselte. „Ich bin noch nicht lang dabei“, entfuhr es ihr gegen ihre Absicht. „Das vermut ich“, lächelte er, „aber ich hab halt kein Geld.“ „Dann müssen wir uns halt verabschieden!“ – Jetzt sah er sie wieder so an. „Also ich hab ja keine Verachtung für dich“, meinte er, „aber daß du dich von einem Menschen in meiner wirtschaftlichen Lage ins Kino einladen laßt, das ist eine große Gemeinheit von dir!“ Dann ließ er sie stehen.

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Langsam ging er die Sendlinger Straße hinab und sah sich kein einziges Mal um, als sähe er eine schönere Zukunft vor sich. „Also, das war ein Mistvieh“, konstatierte er und haßte Anna momentan. Unwillkürlich fiel ihm seine erste Liebe ein, die ihm nur eine einzige Ansichtskarte geschrieben hatte. Aber bald dachte er wieder versöhnlicher, denn er war ein erfahrener Frauenkenner. Er sagte sich, daß halt alle Weiber unzuverlässig seien, sie täten auch glatt lügen, nur um einem etwas Angenehmes sagen zu können. Die Frau sei halt nun mal eine Sklavennatur, aber dafür könne sie eigentlich nichts, denn daran wären nur die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten. „Aber das war halt doch ein Mistvieh!“ schloß er seine Gedankengänge. In der Rosenstraße hielt er apathisch vor der Auslage eines Photographen. Drinnen hing ein vergrößertes Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie staken in ihren Sonntagskleidern, blickten ihn hinterlistig und borniert an, und alle acht waren außerordentlich häßlich. Trotzdem dachte nun der Herr Reithofer, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie sein eigen nennen könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus, und das Aussterben sei doch etwas Trauriges, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen Anspruch auf die reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung hätte. Und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los, und er konnte es sich gar nicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei. Es war ihm nämlich eingefallen, daß ein Blinder sagt: „Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche. Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!“ Nacht wars, und es wurde immer noch später, aber der Herr Reithofer wollte nicht nach Hause, denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er sehr müde war. Er war ja den ganzen Tag wieder herumgelaufen und hatte keine Arbeit gefunden. Sogar im „Kontinental“ hatte er sein Glück probiert, und als er dort seine hochmütigen Kollegen vor einem richtigen Lord katzbuckeln gesehen hatte, ist es nicht das erstemal gewesen, daß er seinen Beruf haßte. Und nun noch dazu dieses Abenteuer mit dem Mistvieh, das hatte ihn vollends um den Schlaf gebracht. Jetzt stand er in der Müllerstraße und war voll Staub, draußen und drinnen. Drüben entdeckte er ein Bierlokal, und das lag dort verführerisch. Lang sah er es an. „Also, wenn die Welt zusammenstürzt“, durchzuckte es ihn plötzlich, „jetzt riskier ich noch dreißig Pfennig und kauf mir ein Glas Bier!“ Aber die Welt stürzte nicht zusammen, sondern vollendete ihre vorgeschriebene Reise mit Donnergang, und ihr Anblick gab den Engeln Stärke, als der Herr Reithofer das Bierlokal betrat. Die unbegreiflich hohen Werke blieben herrlich wie am ersten Tag. 4

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Der Herr Reithofer war der einzige Gast. Er trank sein Bier und las in den „Neuesten“, daß es den Arbeitslosen entschieden zu gut gehe, da sie sich sogar ein Glas Bier leisten könnten. „Der Redner sprach formvollendet“, stand in der Staatszeitung, „und man war ordentlich froh, wieder mal den Materialismus überwunden zu haben –“, da fühlte er, daß ihn jemand anstarrte.

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Vor ihm stand eine fremde Dame. Er hatte sie gar nicht kommen hören, nämlich sonst hätt er aufgehorcht. „Guten Abend, Herr Reithofer!“ sagte die fremde Dame und meinte dann überstürzt, das sei ein großer Zufall, daß sie sich hier getroffen hätten, und über so einen Zufall könnte man leicht einen ganzen Roman schreiben, einen Roman mit lauter Fortsetzungen. Sie las nämlich leidenschaftlich gern. „Sie erlauben doch, daß ich mich zu Ihnen setz?“ fragte sie und freute sich sehr. „Seit wann sinds denn in München, Herr Reithofer? Ich bin schon seit vorigem Mai da, aber ich bleib nimmer lang, ich hab nämlich erfahren, in Köln soll es besser für mich sein, dort war doch erst unlängst die große Journalistenausstellung“ – so begrüßte sie ihn recht vertraut, aber er lächelte nur verlegen, denn er konnte sich noch immer nicht erinnern, woher sie ihn kennen konnte. Sie schien ihn nämlich genau zu kennen, aber er wollte sie nicht fragen, woher sie ihn kennen täte, denn sie freute sich aufrichtig, ihn wiederzusehen, und erinnerte sich gern an ihn. „Nicht jede Ausstellung ist gut für mich“, fuhr sie fort. „So hab ich bei der Gesoleiausstellung in Düsseldorf gleich vier Tag lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab vor lauter Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld, und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei eurer Gesoleiausstellung, und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, daß ich keine Geschäfte mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere ansprech. Da hab ichs erst gemerkt, daß ich vier Tag lang in der Gesundheitsabteilung gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon, und da hab ichs freilich verstanden, daß ich nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hats mir vor mir selber gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen, Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.“ Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Bibliotheksbau des Deutschen Museums in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine große vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau, und der Herr Reithofer dachte: „Ist das aber eine geschwätzige Person! Vielleicht verwechselt sie mich, es heißen ja auch fremde Leut Reithofer“ – da bemerkte er plötzlich, daß sie schielt. Zwar nur etwas, aber es fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Kriege in Preßburg gearbeitet hatte, und zwar im Restaurant Klein. Das ist ein kollegialer Charakter gewesen, ein großes Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieses Kind geheiratet und zu ihm gesagt: „Glaubs mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, aber nur ein bisserl, und sie hat ein gutes Herz.“ Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hieß Karl Swoboda. „Als mein Mann in Montenegro fiel“, sagte jetzt die geschwätzige Person, „da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer. Ich hab mir gedacht, ist der jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, daß Sie nicht gefallen sind, erinnern Sie sich noch an meine Krapfen?“ Jetzt erinnerte er sich auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt, und da hatte ihn dieser seiner jungen Frau vorgestellt, und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, daß die beiden Betten nicht zueinander paßten, aber er hatte dies nicht ausgenützt, und nach dem Pferderennen ist der Swoboda sehr melancholisch gewesen, weil er fünf Gulden

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verspielt hatte, und hatte traurig gesagt: „Glaubs mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!“ „Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reithofer“, sagte Karl Sowobodas Witwe und hatte dabei einen wehmütigen Ausdruck, denn sie war halt kein Sonntagskind. Zwar stand in ihrem Horoskop, daß sie eine glückliche Hand habe. Nur vor dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücksmonat, und dann gelänge ihr alles vorbei. „Dann dürft ich halt überhaupt nicht leben!“ hatte sie gewollt lustig gerufen, als sie dies erfahren hatte, denn sie hatte im April Geburtstag. Dies Horoskop hatte ihr die Toilettenfrau gestellt und dabei behauptet, daß sie das Weltall genau kennen täte, allerdings nur bis zu den Fixsternen. Sie hieß Regina Warzmeier und war bei den Gästen sehr beliebt, denn sie wußte immer Rat und Hilfe, und so taufte man sie die „Großmama“. Als der Herr Reithofer an die Preßburger Betten dachte, näherte sich ihm die Großmama. Wenn sie nämlich nichts zu tun hatte, stand sie vor ihren beiden Türen und beobachtete die Gäste, um noch mehr zu erfahren. So hatte sie nun auch bemerkt, daß das Gretchen den Herrn Reithofer wie einen großen Bruder behandelte, und für solch große Geschwister empfand sie direkt mütterlich – und also setzte sie sich an des Herrn Reithofers Tisch. Das Gretchen erzählte gerade, daß im Weltkrieg leider viele kräftige Männer gefallen sind und daß hernach sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Großmama meinte, für Offiziere sei es halt schon sehr arg, wenn so ein Weltkrieg verloren ginge. So hätten sich viele Offiziere nach dem Kriege total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte sie mal in einer großen Herrentoilette gedient und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe für ein Faß Bier hergeschenkt hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eierkognaks eingetauscht, und dieser Flieger sei derart versoffen gewesen, daß er statt mit „Guten Tag!“ mit „Prost!“ gegrüßt hätte. Und der Herr Reithofer meinte, der Weltkrieg hätte freilich keine guten Früchte getragen, und für so Offiziere wäre es freilich besser, wenn ein Krieg gewonnen würde, aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, daß er persönlich auch als Sieger unter derselben wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er nun schon ewig lang arbeitslos, und es bestünde nicht die geringste Aussicht, daß es besser werden wollte. Hier mischte sich ein älterer Herr ins Gespräch, der sich auch an den Tisch gesetzt hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, es wäre jammerschade, daß der Herr Reithofer kein Fräulein sei, denn dann hätte er für ihn sofort Arbeit. „Wie meinen Sie das?“ erkundigte sich der Herr Reithofer mißtrauisch, aber der ältere Herr ließ sich nicht verwirren. „Ich mein das gut“, lächelte er freundlich und setzte ihm auseinander, daß, wenn er kein Kellner, sondern eine Schneiderin wäre, so wüßte er für diese Schneiderin auf der Stelle eine Stelle. Er kenne nämlich einen großen Schneidergeschäftsinhaber in Ulm an der Donau, und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat, aber der Herr Reithofer dürfte halt auch keine Österreicherin sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher, und deshalb engagiere er nur sehr ungern Österreicher. Aber ihm zuliebe würde er vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch Schneiderin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen, und von diesem

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Kind dürfte die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett in Neu-Ulm, um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei. Dieser freundliche Herr war Stammgast und wiederholte sich oft. Auch debattierte er gern mit der Großmama und kannte keine Grenzen. So erzählte er ihr, daß seinerzeit jener Höhlenmensch, der den ersten Ochsen an die Höhlenwand gezeichnet hätte, von allen anderen Höhlenmenschen als geheimnisvoller Zauberer angebetet worden sei, und so müßte auch heute noch jeder Künstler angebetet werden (er war nämlich ein talentierter Pianist) – und dann stritt er sich mit der Großmama, ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heiße (er sammelte ja auch Briefmarken) –, worauf die Großmama meistens erwiderte, auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener große Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte, und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte, und sie könnte es sich schon gar nicht vorstellen, wie so etwas angefangen werden müßte, worauf er meinte, aller Anfang sei halt schwer, und er fügte noch hinzu, daß die Dreißigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewußtseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Großmama und dachte, der rechthaberische Mensch sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen. 5 Als der Herr Reithofer von der Stelle für das Fräulein hörte, dachte er unwillkürlich an das Mistvieh von zuvor, das ihn in jenes blöde Kino verführt hatte. Er sagte sich, das wäre ja ausgerechnet eine rettende Stelle für es, es hätte ihm ja erzählt, daß es erst seit kurzem eine Solchene und eigentlich Näherin sei. Vielleicht würde es ihn jetzt nur ein Wörtchen kosten, und sie würde morgen keine Solchene mehr sein, als wäre er der Kaiser von China. „Aber ich bin halt kein Kaiser von China“, sagte er sich, „und sie ist halt ein Mistvieh!“ Der ältere Herr hatte sich gerade erhoben, um sich die neue Illustrierte zu holen. „Er ist ein Sonderling“, meinte die Großmama ironisch, und der Herr Reithofer dachte: „Wahrscheinlich ist auch dieser Sonderling ein Mistvieh!“ „Aber es ist doch schön von ihm, daß er dem Herrn Reithofer helfen möcht“, meinte die Swoboda leise und blätterte abwesend in einer Zeitschrift. „Freilich ist das schön“, grinste der Herr Reithofer, und plötzlich fiel es ihm auf: „Er weiß ja gar nicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh bin! Ich bin doch auch eins, meiner Seel!“ Und er dachte weiter, und das tat ihm traurig wohl: „Wenn sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser, überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen, es ist doch direkt unanständig, wenn man einem nicht helfen tät, obwohl man könnt.“ – „Er lügt!“ sagte die Großmama. „Nein, das tut er nicht!“ verteidigte ihn die Swoboda und wurde heftig. „Das werden wir gleich haben!“ meinte der Herr Reithofer und wandte sich an den Sonderling, der nun mit seiner Illustrierten wieder an den Tisch trat: „Sagen Sie, Herr, ich kann ja jetzt leider nicht weiblich werden, aber ich wüßt eine für Ihren Kommerzienrat, eine erstklassige Schneiderin, und Sie täten mir persönlich einen großen Gefallen“, betonte er, und das war gelogen. Also das wäre doch gar nicht der Rede wert, unterbrach ihn der Sonderling, denn das kostete ihn nur einen Anruf, da sich jener Kommerzienrat zufällig seit gestern in München befände – und schon eilte er ans Telephon. „Also das ist ein rührendes

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Mistvieh“, dachte der Herr Reithofer, und die Swoboda sagte andächtig: „Das ist ein seltener Mensch und ein noch seltenerer Künstler.“ Aber die Großmama sagte: „Er lügt.“ Jedoch die Großmama sollte sich täuschen, denn nach wenigen Minuten erschien der seltene Mensch, als hätte er den Weltkrieg gewonnen. Der Kommerzienrat war pure Wahrheit, und so konnte er sich vor lauter Siegesrausch nicht sogleich wieder setzen. Er ging um den Tisch herum und erklärte dem Herrn Reithofer, sein Fräulein könne die Stelle auf der Stelle antreten, doch müßte sie sich morgen früh Punkt sieben Uhr dreißig im Hotel „Deutscher Kaiser“ melden. Sie solle nur nach dem Herrn Kommerzienrat aus Ulm fragen, und der würde sie dann gleich mitnehmen, er würde nämlich um acht Uhr wieder nach seinem Ulm zurückfahren. Und der Herr Reithofer fragte ihn, wie er ihm danken solle, aber der seltene Mensch lächelte nur: Eine Hand wasche halt die andere, und vielleicht würde mal der Herr Reithofer in die Lage kommen, ihm eine Stelle verschaffen zu können, wenn er kein Vertreter wäre, sondern eine Masseuse. Und er ließ sich auch das Telephon nicht bezahlen. – „Man telephoniert doch gern mal für einen Menschen“, sagte er. „Ich kann nicht nähen“, murmelte die Swoboda, „ich hab halt schon alles verlernt.“ Selbst die Großmama war gerührt, aber am tiefsten war es der seltene Mensch persönlich.

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Es war schon nach der Polizeistunde, und in stummer Ruh lag nun die Holzstraße neben der belebteren Müllerstraße. Hier irgendwo würde das Mistvieh wahrscheinlich herumlaufen, überlegte der Herr Reithofer, und er überlegte logisch. Er hatte es schon eine ganze Weile krampfhaft gesucht, und nun gings bereits auf halb zwei. Endlich stand es drüben an der Ecke. Es unterhielt sich gerade mit einem Chauffeur, der sehr stark auf Frauen wirkte. Man sah ihm dies an, und deshalb wartete der Herr Reithofer, bis sie sich ausgesprochen hatten. Dann näherte er sich ihr langsam von hinten und kam sich dabei so edel und gut vor, daß er sich leid tat. „Guten Abend, Fräulein!“ begrüßte er sie überraschend. – Anna sah sich um, erkannte ihn und erschrak derart, daß sie keinen Laut hervorbrachte. Aber er gab ihr keinen Anlaß dazu, sondern teilte ihr lediglich mit, daß er ihr eine solide Arbeitsmöglichkeit verschaffen könnte, aber sie müßte bereits um acht Uhr früh mit einem richtigen Kommerzienrat nach Ulm an der Donau fahren, und das wäre doch ein direkter Rettungsring für sie. Sie starrte ihn an und konnte ihn nicht verstehen, so daß er sich wiederholen mußte. Aber dann unterbrach sie ihn gereizt, er solle sich doch eine andere aussuchen für seine gemeinen Witze, und sie bitte sich diese geschmacklose Frozzelei aus, und überhaupt diesen ganzen Hohn. – Jedoch er ließ sie nicht aus den Augen, denn das Mistvieh tat ihm nun auch richtig leid, weil es den Kommerzienrat nicht glauben konnte. Es murmelte noch etwas von Roheit, und plötzlich fing es an zu weinen. Man solle es doch in Ruh und Frieden lassen, weinte es, es sei ja eh schon ganz kaputt. Und das gäbs ja gar nicht auf der Welt, daß ihr ein Mensch mit einem Rettungsring nachlaufe, nachdem sie diesen Menschen ausgenützt hätte. Aber der Herr Reithofer schwieg noch immer, und jetzt ließ auch das Mistvieh kein Wort mehr fallen. Es hatte ja bereits angefangen, nur an das Böse in der Welt zu glauben, aber nun erlebte es ein Beispiel für das Vorhandensein des Gegenteils, zwar nur ein kleines

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Beispiel, aber doch ein Zeichen für die Möglichkeit menschlicher Kultur und Zivilisation. Es schnitt ein anderes Gesicht und weinte nicht mehr. „Das hätt ich wirklich nicht gedacht“, lächelte sie, und das tat ihr weh. „Wissens Fräulein“, meinte der Herr Reithofer, „es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, und das ist halt die menschliche Solidarität.“ Dann ließ er sie stehen. Und er hatte dabei ein angenehmes Gefühl, denn nun konnte er es sich gewissermaßen selbst bestätigen, daß er einem Mistvieh geholfen hatte. Ungefähr so: Zeugnis Ich bestätige gern, daß das Mistvieh Josef Reithofer ein selbstloses Mistvieh ist. Es ist ein liebes, gutes, braves Mistvieh. gez. Josef Reithofer Mistvieh.

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Chronologisches Verzeichnis Konzeption 1: Roman einer Kellnerin Zu dieser Konzeption sind neben zahlreichen hs. Entwürfen auch einige Typoskripte überliefert, aus denen sich die Anlage des Romanprojekts vage erschließen lässt. Hinsichtlich des Titels liegen innerhalb des Materials drei verschiedene Varianten vor: So finden sich in den hs. Entwürfen u.a. die Werktitel Ursula. Roman einer Kellnerin (E3), Charlotte. Roman (E15), Lotte, die Kellnerin (E18) und schließlich Die Kellnerin (E20). Dementsprechend variiert der Name der weiblichen Protagonistin, die nach längerer Arbeitslosigkeit eine Anstellung als Kellnerin erhält. Während ihr Name zu Beginn „Ursula“ lautet, heißt sie vor allem in den späteren masch. Ausarbeitungen „Charlotte“. Teile der Lebensgeschichte der weiblichen Protagonistin wie die Tatsache, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter bei ihrer Tante lebt, sowie die Themen Arbeitslosigkeit und Prostitution gehen sowohl in den Roman Herr Reithofer wird selbstlos (K2) als auch in Der ewige Spießer (K4) ein. H1 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier, (183 × 150 mm), unregelmäßig gerissen, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E1 = Strukturplan in 3 Kapiteln mit Notizen, Repliken und Werktitel „Roman“

Bei E1 handelt es sich um den wahrscheinlich frühesten Entwurf zu Horváths Romanprojekt, das hier noch schlicht mit „Roman“ überschrieben ist. Die weibliche Protagonistin heißt Ursula. Nachdem Horváth erste Notizen („I. Ursula und ihre Tante II. Urs“) und den Werktitel gestrichen hat, legt er einen Strukturplan in drei Kapiteln vor. Dieser enthält erste Überlegungen zur projektierten Romanhandlung. So heißt es unter I. „Ursula erhält eine Stellung“, unter II. „Ursulas Abenteuer mit den Männern“ und unter III. „Ursulas Heimkehr. Ursula heiratet, trotz Wohnungsnot“. Unter I. hatte Horváth zunächst „Ursula wird Kellnerin bei“ notiert, diese Passage jedoch wieder gestrichen. Damit wird erstmals der Beruf der Protagonistin erwähnt, der später auch im Titel erscheint (vgl. E3). Die materielle Beschaffenheit von H1 lässt keine weiteren Schlüsse über die Einordnung dieses Entwurfs zu, da Horváth Papier dieses Formats und dieser Oberflächenstruktur innerhalb der Arbeiten am Spießer-Projekt nicht noch einmal verwendet. H2 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (327 × 209 mm), gebrochen, schwarze Tinte E2 = fragm. Strukturplan in 4 Kapiteln

H3 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (327 × 209 mm), gebrochen, schwarze Tinte E3 = fragm. Strukturplan in 2 Kapiteln mit Notizen und Werktitel „Ursula. Roman einer Kellnerin“

E2 und E3 stehen in einem engen genetischen Zusammenhang. Rein materiell lässt sich dies an den markant übereinstimmenden Bruchlinien ablesen. Vermutlich hat Horváth die beiden Bögen gleichen Formats nacheinander beschrieben und nach der

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Beschriftung gemeinsam gefaltet. E2 enthält einen fragm. Strukturplan in vier Kapiteln. Unter 1. notiert Horváth in Anlehnung an E1 „Ursula bekommt eine Stellung“. Unter 2. greift er die in E1 gestrichene Idee „I. Ursula und ihre Tante“ erneut auf. Unter 3. heißt es „Ursula und ihr Verehrer“, was an die Notiz „Ursulas Abenteuer mit den Männern“ in E1 erinnert. In E3 fixiert Horváth zum ersten Mal den Titel „Ursula. Roman einer Kellnerin“. Darüber hinaus hält er hier weiterführende Überlegungen zum I. Kapitel des Romans fest. Offenbar findet die Protagonistin Ursula durch eine Annonce in der Zeitung über Ostern eine Anstellung als „Aushilfskellnerin“. Bisher hat sie offenbar bei einer Wirtin gelebt, die eine „entfernte Tante“ ist und Zimmer an „Huren“ vermietet. Auch in Herr Reithofer wird selbstlos (K2) berichtet die Protagonistin Agnes im ersten Kapitel, dass sie bei ihrer Tante wohnt (vgl. K2/TS8/A2/BS 5 b, Bl. 73). Versuche zum II. Kapitel führt Horváth nicht aus und streicht die Kapitelüberschrift II: „Die Hu“. H4 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 209 mm), schwarze Tinte E4 = Strukturplan in 4 Kapiteln mit Notizen (oben) E5 = gestrichene Notizen zu „I. Gründonnerstag“ (mittig) E6 = Strukturplan in 4 Kapiteln (unten)

H5 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 209 mm), schwarze Tinte E7 = Werktitel „Roman“ und Kapiteltitel „Gründonnerstag“

H6 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 209 mm), schwarze Tinte TS1 = fragm. Fassung des I. Kapitels „Karfreitag“ (Korrekturschicht)

H7 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 209 mm), schwarze Tinte E8 = Notizen mit Werktitel „Ostern. Roman von Horváth“ (oben) E9 = Notizen mit Werktitel „Ostern“ (unten)

Für den genetischen Zusammenhang der Handschriften H4 bis H7 spricht, neben zahlreichen inhaltlichen Bezügen, die Verwendung der gleichen Papiersorte. Mit E4 liegt ein Strukturplan in vier Kapiteln vor, der als Kapitelüberschriften die Monate „Juni“, „Juli“, „August“ und „September“ enthält. Diesen ordnet Horváth Notizen zum Handlungsgeschehen zu. Unter I. präzisiert er seine Überlegungen aus den Entwürfen E1 bis E3: Ursula bekommt eine „Stellung als Kassierin“ (E4) auf dem Land und verlässt aus diesem Grund ihre Tante. Unter II. heißt es: „Ursula macht eine Bergtour mit Engelbrecht“, was einen neuen Aspekt in die Handlung bringt. Damit wird ein Thema eingeführt, das Horváth in den beiden Kurzprosatexten Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2/TS1) und Das Fräulein wird bekehrt (ET3/TS4) wieder aufgreift. Die Episode von der Bergtour eines Fräuleins findet später Eingang in das Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer (K3/TS3) sowie in den Roman Der ewige Spießer (K4/TS5). Unter III. notiert Horváth „Die Geschichte der Abtreibung“ (ein Motiv, das er ebenfalls weiter beibehält) und unter IV. „Ursula macht sich selbstständig“. Bemerkenswert ist die Erwähnung eines „elegante[n] Herr[n] vom Strandhotel“. Das „Strand-Hotel“ war ein renommiertes Hotel am Staffelsee, das 1878 erbaut worden

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Konzeption 1

war und zu den Lieblingslokalitäten Horváths in Murnau gehörte. In dem späteren Entwurf E8 wird der Besitzer des Hotels, Heinz Reichhard, namentlich erwähnt. In E5 ordnet Horváth dem bereits in E4 beschriebenen Handlungsgeschehen des I. Kapitels die neue Überschrift „Gründonnerstag“ zu, streicht seine Ausführungen dazu allerdings wieder. In E6 notiert er erneut einen Strukturplan in vier Kapiteln, der im Gegensatz zu E5 mit „Karfreitag“ beginnt, auf den „Karsamstag“, „Ostersonntag“ und „Ostermontag“ folgen. E7 enthält wie E1 den Werktitel „Roman“ sowie die Kapitelüberschrift „Gründonnerstag“, durch die sich ein genetischer Bezug zu E5 herstellen lässt. TS1 stellt die erste textliche Ausarbeitung von Konzeption 1 dar, die Horváth unter der Überschrift „I. Karfreitag“ formuliert und die in einem textgenetischen Naheverhältnis zu E6 steht. Auch dort war das 1. Kapitel mit „Karfreitag“ überschrieben. Erste Formulierungsversuche in TS1, die um die Datierung bzw. den Ort des Handlungsgeschehens kreisen (z.B. „Ostern naht“, „Der Winter war lang, kalt und nass“, „Ich wohne am Rande der nördlichen Kalkalpen“, BS 60 c [1], Bl. 5), streicht der Autor zunächst wieder. Im folgenden Bericht des Ich-Erzählers wird dann ein Ort beschrieben, der sich „am Rande der nördlichen Kalkalpen“ und „siebzig Kilometer südlich von München“ befindet, wobei es sich augenscheinlich um Murnau am Staffelsee handelt. Seit Anfang der 1920er-Jahre hielt sich Horváth regelmäßig über längere Zeiträume im Haus seiner Eltern in Murnau auf. Die Kleinstadt wird für ihn immer mehr zum Modell kleinbürgerlichen Lebens. Auch in den Notizen zum Roman einer Kellnerin lassen sich zahlreiche regionale Bezüge bzw. Persönlichkeiten aus dem Murnauer Umfeld (vgl. E8 und E9) wiederfinden, die vermuten lassen, dass Horváth – ähnlich wie in seinen Dramen Zur schönen Aussicht (1926/27) und Italienische Nacht (1931, zunächst unter dem Titel Wochenendspiel konzipiert) – plante, die Handlung seines Romanprojekts in der oberbayrischen Region anzusiedeln (vgl. auch E8 und E13). In TS1 greift er die Lebensgeschichte Ludwig II. und die Legenden auf, die sich um dessen Freitod ranken. In E8 notiert Horváth – scheinbar als Summe der bisherigen Überlegungen – den neuen Werktitel „Ostern“, nachdem er den Titel „Der Rom[an]“ gestrichen hat. Zwischenzeitlich heißt die Protagonistin, die eine Anstellung als Kellnerin erhält und zu diesem Zweck aufs Land nach „Murnau“ fährt, hier „Elsa“. In einer Liste führt Horváth die Namen weiterer Personen an, die in dem Hotel arbeiten, darunter „Reichard“ und „Gustl Müller“. Beide Namen erinnern an reale Personen aus Murnau: Mit „Reichard“ ist vermutlich Heinz Reichhard gemeint, der ehemalige Pächter des „StrandHotels“ und des Cafés „Almrose“. Horváth gehörte zu den Stammgästen des Hotels und war mit Reichhard gut bekannt (vgl. Elisabeth Tworek-Müller: Modell Murnau. Die Darstellung des Kleinbürgertums in den Stücken „Italienische Nacht“ und „Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horváth. München 1980, unveröffentlichte Staatsexamensarbeit, S. 50ff.). Gustl Müller war die Geliebte und spätere Ehefrau Reichhards (vgl. ebd.). Die Notizen in E9 auf dem gleichen Blatt überschreibt Horváth ebenfalls mit dem Werktitel „Ostern“. Die in E8 vorgenommene Namensänderung der Protagonistin wird hier wieder rückgängig gemacht, indem Horváth die Buchstabenfolge „Els“ streicht und durch „Ursula“ ersetzt. Die Notiz „Ursula lässt sich mit Reichhard ein“ wird durch weitere Figuren wie „Engelbrecht“, der bereits in E4 erwähnt wurde, „den Literaten“ und „Arnold“ ergänzt. Der auf der rechten Seite notierte und eingerahmte Name „Balletshofer“ verweist auf das real existierende Geschäft „Metzgerei, Charkutier & Gasthaus Johann Balletshofer“ in Murnau.

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H8 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 10 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 209 mm), schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E10 = Strukturplan in 3 Kapiteln mit Figurenlisten und Werktitel „Roman“

E10 lässt sich nur schwer einer genetischen Reihe zuordnen. Zwar greift Horváth hier auf das bereits in H4 bis H7 verwendete Schreibmaschinenpapier zurück, aber über die Notizen in E10 lassen sich nur wenige inhaltliche Bezüge zu anderen Entwürfen herstellen. Unter dem Werktitel „Roman“ versucht Horváth in E10 eine soziologische Dreiteilung, die er mit den Begriffen „Die Bourgoisie“, „Die Kleinbürger“ und „Das Proletariat“ überschreibt. Die Idee der Dreiteilung lässt er in den folgenden Entwürfen ab E11 wieder fallen, sodass sich der Hintergrund dieser Notizen nicht endgültig erschließen lässt. Auffallend ist jedoch, dass in späteren Bearbeitungsstufen die drei Stichworte immer wieder fallen. Bereits in E13 wird der Herkunft Charlottes das Stichwort „Bürgertum“ zugeordnet; in E19 erscheint unter „Erstes Buch“ der Hinweis „Unterhaltungsweise des Bürgertums“ und unter „Zweites Buch“ die Notiz „[d]as Kleinbürgertum“. Möglicherweise sollte dem Romanprojekt die Thematik gesellschaftlicher Gegensätze zugrunde gelegt werden. Die unter dem Stichwort „Die Kleinbürger“ und „Proletariat“ angesiedelten Figurennamen und die Auflistung unter dem Stichwort „Die Wirte“ erinnern stark an reale Personen aus dem Murnauer Umfeld. Heinrich Rambold (1872–1955) beispielsweise war ein Murnauer Gerbergeselle, der sich vor allem als Hinterglasmaler einen Namen gemacht hat (vgl. Markt Murnau am Staffelsee. Beiträge zur Geschichte. Bd. 1. Herausgegeben v. Markt Murnau am Staffelsee. Redaktion und Konzeption Dr. Marion Hruschka. St. Ottilien: EOS 2002, S. 339). Unter den Wirten findet sich der bereits in E9 erwähnte Name Balletshofer. Aber auch bei „Gilg“, „Pöttinger“ und „Zacherl“ handelt es sich um in Murnau ansässige zeitgenössische Hotels und Gastwirtschaften. Mit „Heinz“ ist vermutlich der bereits in E8 erwähnte Heinz Reichhard gemeint. Er war bis April 1926 Inhaber des „Strand-Hotels“, das er laut Informationen von Elisabeth Tworek-Müller noch vor Ablauf seiner Pacht an die Herren Kraus und Fernau, zwei Hoteliers in Partenkirchen, abtrat. Beide Namen werden unmittelbar unter dem Namen „Heinz“ angeführt. Mit „Posthalter“ ist August Wagner gemeint, ein alteingesessener Murnauer und Gastwirt des Hotels „Post“ (vgl. Tworek-Müller 1980, S. 54). Der Name „Kirchmeier“ verweist auf Ignatz Kirchmeir, den Besitzer der auf der Hauptstraße in Murnau ansässigen Gaststätte Kirchmeir. Horváth greift für die Notizen zu dem Werkprojekt „Hannes, das Arbeiterkind“ auf Briefpapier dieses Restaurants und Weinhauses zurück (vgl. ÖLA 3/W 335 – BS 12 b, Bl. 1). Der Name „Zacherl“ wiederum entspricht einer Brauerei und Gastwirtschaft in Murnau. Über die weiter unten notierte Figurenliste „Die Kellnerinen“ lässt sich ein textgenetischer Bezug zu E8 herstellen. Die bereits dort genannten Namen der Kellnerinnen tauchen hier erneut auf. Neben Elsa wurde in E8 „Lotte, eine andere Kellnerin“ erwähnt, die in E10 als „Charlotte“ an erster Position erscheint. Die Namensänderung der Protagonistin, die Horváth hier vornimmt, ist richtungweisend für alle weiteren Entwürfe dieser Konzeption. Darüber hinaus erwähnt er ein „Waschmädel“, das möglicherweise mit dem „Abwaschmädel“ in E8 identisch ist. Ganz unten findet sich mit der „Wirtschaftsführerin (Gustl Müller)“ ein Name, der ebenfalls bereits in E8 genannt wurde und (wie bereits beschrieben) auf die Ehefrau des Pächters des „Strand-Hotels“ in Murnau verweist.

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Konzeption 1

H9 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 7, 9 Insgesamt 2 Blatt, davon 1 Blatt unliniertes Papier (209 × 163 mm), unregelmäßig gerissen, 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 209 mm), gebrochen, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E11 = Titelvarianten (Bl. 7, oben) E12 = Strukturplan in 5 Kapiteln (Bl. 7, mittig) E13 = fragm. Strukturplan in 2 Kapiteln mit Notizen zum I. und II. Kapitel (Bl. 7 unten und Bl. 9 oben) E14 = Titelvarianten (Bl. 9, unten)

Die Reihenfolge der Entwürfe E11 bis E14 ergibt sich aus ihrer topografischen Anordnung auf den Blättern BS 60 c [1], Bl. 7 und 9, die sich aufgrund der Bruch- und Risskanten heftartig zusammenfügen lassen. In E11 notiert Horváth drei Titelvarianten. Dabei schwankt er zwischen „Charlotte, die Kellnerin“, „Der bürgerliche Osterspaziergang“ und „Charlotte“. Die Namensänderung der Protagonistin in „Charlotte“, die sich bereits in E10 angedeutet hatte, wird nun manifest. In E12 notiert Horváth eine Romangliederung analog zu den Tagen des Osterfests wie in E6. Dabei erweitert er die bis dahin geplante Struktur in vier Kapiteln auf fünf: I. „Gründonnerstag“, II. „Karfreitag“, III. „Karsamstag“, IV. „Ostersonntag“ und V. „Ostermontag“. In E13 werden die ersten zwei der fünf Kapitel inhaltlich präzisiert. Demnach soll das erste Kapitel offenbar die Genealogie Charlottes, die Beschreibung ihrer „Eisenbahnfahrt“ nach Murnau, eine Schilderung des dortigen Fremdenverkehrs sowie einen Überblick über Charlottes Tätigkeit im Hotel enthalten. Diesen Ablauf behält er im weitesten Sinne bis E21 bei. Unter „II. Karfreitag“ notiert Horváth „protest. und kath. Gegensatz“ sowie die Figuren „Hauptmann“, „Hausfreund des Zigarettenhändlers“, „Major“, „Waschfrau“ und „Sektlieferant“. Über Letzteren lässt sich ein Bezug zum Dramenprojekt Zur schönen Aussicht und zu der Figur Müller, einem Sekthändler und Vertreter der Firma Hergt und Sohn, herstellen. In der späteren Ausarbeitung TS8 wird der Vater Charlottes als „ein biederer braver ungebildeter Zigarettengeschäftsinhaber“ beschrieben. E14 enthält weitere Titelvarianten, in denen das Ostermotiv aufgegriffen wird. So notiert Horváth hier untereinander: „Der bürgerliche Osterspaziergang“, „Die bürgerliche Kreuzigung“ und „Des braven Bürgers Ostern“. H10 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 13 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 209 mm), schwarze Tinte und roter Buntstift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E15 = Strukturplan in 5 Büchern mit Werktitel „Charlotte. Roman von Ödön von Horváth“ (oben) TS2 = fragm. Fassung „Erstes Buch. Charlotte ist engagiert“ (Korrekturschicht: schwarze Tinte) (unten)

Der Zusammenhang von E15 und TS2 resultiert aus ihrer topografischen Anordnung auf H10. In E15 greift Horváth mit dem Titel „Charlotte. Roman von Ödön von Horváth“ auf E11 zurück, nachdem er in E11 und E14 auch noch andere Titelvarianten notiert hatte. Die Struktur in fünf Teilen wie in E12 behält er bei und ordnet sie hier den Büchern 1 bis 5 mit den Titeln „Gründonnerstag“, „Karfreitag“, „Karsamstag“, „Ostersonntag“ und „Ostermontag“ zu. Unter „Zweites Buch: Karfreitag“ notiert Horváth „[d]er römische Hauptmann“, „Barabas“ sowie die „[r]echten oder linken Schächer“. Mit dieser Notiz wollte er offenbar den biblischen Hintergrund des Osterfests

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Chronologisches Verzeichnis

noch einmal vor Augen führen. Evangelischen Berichten zufolge befand sich Barabbas zur gleichen Zeit wie Jesus in römischer Gefangenschaft und Pontius Pilatus soll das versammelte Volk vor die Alternative gestellt haben, entweder ihn oder Jesus freizulassen (vgl. Mt 27,16–26). Mit dem „[r]echten und dem linken Schächer“ sind in der christlichen Tradition jene beiden Männer gemeint, die zusammen mit Jesus gekreuzigt wurden. Sie werden in der christlichen Kunst häufig als Teil der Kreuzigungsszene dargestellt. In TS2 arbeitet Horváth den Beginn seines projektierten Romans gemäß den Überlegungen in E13 aus. Den Teiltitel „Die Eisenbahnfahrt“, mit dem er seine Ausarbeitungen zunächst überschreibt und der auf E13 zurückgeht, streicht er und ersetzt ihn durch „Charlotte ist engagiert“. Auffallend ist die hs. Paginierung 1, die Horváth seinen Ausarbeitungen auf der Mitte des Blattes voranstellt. Möglicherweise hat hier eine umfangreichere Textpassage vorgelegen, deren Rest jedoch nicht überliefert ist. In TS2 wählt Horváth als Ausgangspunkt des Romangeschehens die Gegend rund um die Münchner Schellingstraße. Die Verortung des Romans in München behält er bis in die Endfassungen der Romane Herr Reithofer wird selbstlos (K2) und Der ewige Spießer (K4) bei. Überdies zeichnet sich in TS2 die Idee ab, detailliert auf die Herkunft der weiblichen Protagonistin Charlotte einzugehen, auf die Horváth vor allem in den ersten Textstufen zu dem Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos (K2) wieder zurückkommt. H11 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 12 1 Blatt unliniertes Papier (235 × 209 mm), unregelmäßig gerissen, schwarze Tinte E16 = Notizen

Die genetische Zugehörigkeit der Notizen E16 lässt sich nicht endgültig klären. Vermutlich sind sie im zeitlichen Umfeld der Arbeiten an dem Roman einer Kellnerin entstanden. Bei der auf dem Blatt weiter unten angeführten Notiz „Gegen die NegerKultur“ könnte es sich möglicherweise um einen Artikel der München-Augsburger Abendzeitung („M.A.A“) handeln, auf den Horváth Bezug nimmt. Über den Namen „Rumpelstilzchen (Major Stein)“ ergibt sich ein Bezug zu dem Journalisten, Schriftsteller und Redaktionsleiter des Hugenberg-Konzerns Adolf Stein, der in den 1920erund 1930er-Jahren u.a. unter dem Pseudonym ‚Rumpelstilzchen‘ deutschnationale Polemiken veröffentlichte. In seinen politischen Schriften diffamierte er Politiker, u.a. den Zentrumspolitiker und Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, den er in einem Text als „Reichsschädling“ und „Riesenpolyp“ bezeichnete. Außerdem schreckte er nicht vor offenen Gewaltandrohungen gegenüber missliebigen Politikern zurück. Durch diese Art der Presseagitation aufgewiegelt, setzten Attentäter die Drohungen bald danach an Erzberger (erstes Attentat: 26. Januar 1920, überlebt; zweites: 26. August 1921) und Philipp Heinrich Scheidemann (4. Juni 1922, überlebt) in die Tat um. In E22 erwähnt Horváth neben der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau auch die von Erzberger. H12 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 4 1 Blatt kariertes Papier (165 × 108 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte E17 = Notizen mit Werktitel „Die Wahlversammlungen“ (oben) E18 = Strukturplan in 5 Büchern mit Werktitel „Lotte, die Kellnerin“ (unten)

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Konzeption 1

H13 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 3 1 Blatt kariertes Papier (165 × 103 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte E19 = Strukturplan in 5 Büchern mit Notizen und Werktitel „Lotte, die Kellnerin“

H14 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 3v 1 Blatt kariertes Papier (165 × 103 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte TS3 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

H15 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 6 1 Blatt kariertes Papier (165 × 105 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte E20 = fragm. Strukturplan in 3 Büchern mit Werktitel „Die Kellnerin. Roman von Ödön von Horváth“

Der genetische Zusammenhang der Handschriften H12 bis H19 lässt sich, neben inhaltlichen Bezügen, über die materielle Beschaffenheit der Textzeugen herstellen. Sie alle stammen aus einem Notizbuch, aus dem Horváth später einzelne Blätter herausgerissen hat. Das Notizbuch selbst ist nicht überliefert; die Blätter lassen sich aber über das Wasserzeichen (fünfzackige Sterne auf kariertem Papier) und den roten Blattschnitt eindeutig identifizieren. Der Zusammenhang von E17 mit dem vorliegenden Werkprojekt lässt sich nicht endgültig klären. Unter dem Teiltitel „Die Wahlversammlungen“ führt Horváth unter a.) lediglich den Namen „Knobloch“ und unter b.) einige Überlegungen zu „Rumpelstilzchen“ an. Damit ist vermutlich der schon in E16 erwähnte Redakteur und Schriftsteller Adolf Stein gemeint. Bemerkenswert ist der Wortlaut des zweiten Absatzes, der an die Schilderung von Charlottes Geburt in TS7/BS 60 a [2], Bl. 4 erinnert: „Als Rumpelstilzchen geboren wurde, war es tiefe Nacht, eine richtige kleinbürgerlich-romantische Sommernacht, die Sterne standen droben, drunten bewegte sich leise das Gras. Der schwarze Wald und die Weiher.“ (E17) E18 bis E20 stehen nicht nur aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit und dem Schriftbild, sondern auch inhaltlich in einem engen genetischen Zusammenhang. Alle drei Entwürfe tragen die Berufsbezeichnung „Kellnerin“ im Titel, die bereits in E3 sowie E11 als Untertitel aufgetaucht war. Überdies werden in ihnen – ausgenommen E20 – Strukturpläne in fünf Büchern festgehalten. In E18 notiert Horváth unter dem neuen Werktitel „Lotte, die Kellnerin“ einen Strukturplan in fünf Büchern, dem die Ostertage „Gründonnerstag“ bis „Ostermontag“ (wie in E6, E12 und E15) als Überschriften zugeordnet werden und der mit E15 übereinstimmt. Die Namensverkürzung von „Charlotte“ auf „Lotte“ im Werktitel ist markant für diese Arbeitsphase. Aus Platzgründen fügt Horváth dem Strukturplan in E18 nur wenige Notizen hinzu. Der Fokus des ersten Buches richtet sich offenbar auf die Herkunft Lottes („Lottes Eltern“) sowie die Darstellung der zeitgeschichtlichen Situation („wilhelminische Zeit“, „das 19. Jahrhundert“). In E19 und E20 wiederholt Horváth den Strukturplan aus E18 und behält dabei auch den Werktitel „Lotte, die Kellnerin“ bei. Im Unterschied zu E18 präzisiert er in beiden Strukturplänen das erste und zweite Buch („Gründonnerstag“ und „Karfreitag“) mit Hilfe weiterer Angaben zum Inhalt (neben „Die Eltern Lottes; 19. Jahrhundert; wilhelminische Zeit“ heißt es in E19 und E20: „Lebemänner“, „Weltkrieg und Revolution“,

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Chronologisches Verzeichnis

„das Engagement“ und allein in E19: „Der Ort; Die Wirte; Das Kleinbürgertum“). Offenbar plant Horváth im ersten Buch seines Romans die Herkunft der Protagonistin umfassend darzustellen. Stichworte wie „wilhelminische Zeit“, „das 19. Jahrhundert“, „Lebemänner“ und „Weltkrieg und Revolution“ dienen der Beschreibung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die die Protagonistin hineingeboren wird und die ihr Leben bis zu der Anstellung als Kellnerin bestimmen. Mit Hilfe von Pfeilen nimmt er Ergänzungen zum ersten und zweiten Buch vor bzw. stellt inhaltliche Bezüge her. Die Notizen „Der Ort; Die Wirte; Das Kleinbürgertum; Charlotte und Heinz; die übrigen Kellnerinnen; Seerose“ unter „Zweites Buch“ stehen in einem engen Zusammenhang mit den Überlegungen in E10. Dort hatte Horváth die Dreiteilung „Bourgoisie“, „Kleinbürger“ und „Proletariat“ sowie einige Notizen zu den in Murnau ansässigen Lokalitäten festgehalten. Das hier erwähnte „Café Seerose“ gehörte zu den bekannten Ausflugszielen Murnaus, die auch Horváth gern besuchte und in denen er unzweifelhaft Inspiration für seine schriftstellerische Arbeit fand (vgl. Elisabeth Tworek-Müller (Hg.): Horváth und Murnau. Murnau: Eigenverlag 1988, S. 50). Unter den Überschriften „Drittes Buch: Karsamstag“, „Viertes Buch: Ostersonntag“ und „Fünftes Buch: Ostermontag“ lässt Horváth jeweils Platz für Notizen, der jedoch nicht genutzt wird. TS3 lässt sich nicht eindeutig innerhalb der genetischen Reihe positionieren. Da sich die Textpassage jedoch auf der Versoseite von H13/BS 60 c [3], Bl. 3 befindet, ist davon auszugehen, dass sie im Umfeld dieser Arbeiten entstanden ist. Die Idee – „nur einmal in ihrem Leben Zeit“ (TS3) zu haben – taucht in Das Fräulein wird bekehrt (ET3) wieder auf. In E20 notiert Horváth erstmals den nun auf „Die Kellnerin“ reduzierten Werktitel mit dem Untertitel „Roman in fünf Büchern“. Darunter führt er die ersten drei Kapitelüberschriften von E18 und E19 noch einmal an. Da kein weiteres Blatt überliefert ist, das Notizen zum vierten und fünften Buch enthält, bleibt dieser Strukturplan fragmentarisch. Unter „Erstes Buch: Gründonnerstag“ schreibt Horváth Notizen zum familiären und zeitgeschichtlichen Hintergrund Charlottes aus E19 ins Reine. Der Platz unter den Kapitelüberschriften „Zweites“ und „Drittes Buch“ bleibt wiederum frei. H16 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 1, 2 2 Blatt kariertes Papier (165 × 105 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte und blauer Buntstift E21 = Strukturplan in 5 Teilen mit Notizen zum Buch „Gründonnerstag“ und Werktitel „Die Kellnerin. Roman von Ödön von Horváth“

Die beiden Blätter H16 befanden sich wahrscheinlich – das lassen die Risskanten am linken Rand vermuten – in demselben Notizbuch wie E17 bis E20 unmittelbar hintereinander und wurden zusammen aus diesem herausgetrennt. Während Horváth bis E20 an der groben Struktur seines Romanprojekts gearbeitet hat, wendet er sich in E21 dem ersten Kapitel seines Romans zu und führt Überlegungen aus E18 bis E20 detailliert aus. Unter dem Werktitel „Die Kellnerin“ konzentriert er sich unter der Überschrift „Gründonnerstag“ weiterhin auf die Genealogie Charlottes. Nachdem er in E18 bis E20 das erste Buch „Gründonnerstag“ jeweils mit Hilfe von losen Stichworten wie „Eltern Lottes“ (E19) und „wilhelminische Zeit“, „Weltkrieg und Revolution“ (E20) umrissen hatte, führt er in E21 eine Gliederung des ersten Buches mit den folgenden

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Konzeption 1

Punkten an: 1. „Die Eltern der Charlotte“, 2. „München zur Zeit von Charlottes Geburt“, 3. „Charlottes Kindheit und der Weltkrieg und die erste Liebe“, 4. „Der Zusammenbruch. Charlottes Sexualität. Der Beruf. Der Tod der Mutter“ und 5. „Charlottes Osterengagement“. Unter 2. bis 5. umreißt Horváth in kurzen Sätzen das Handlungsgeschehen der einzelnen Abschnitte. Dabei wird die Geburt Charlottes zeitlich in der „Starkbiersaison = Oktoberfest“ angesiedelt. Darüber hinaus wird hier erstmals der Alpinist Paul Preuss, „der berühmte Alleingeher“, der 1911 die Nordwestwand des Totenkirchls als Erster bestieg, erwähnt, der dann in TS7 und TS10 wieder auftaucht. Unter 3. bis 5. wird der zeitgeschichtliche Kontext beleuchtet, der das Leben Charlottes bestimmt (Krieg, Revolution und Arbeitslosigkeit). Unter 5. wird das Thema Prostitution direkt angesprochen: „man will sie zur Hure machen.“ H17 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 1v 1 Blatt kariertes Papier (165 × 105 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E22 = Strukturplan in 4 Teilen mit Notizen

H18 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 2v 1 Blatt kariertes Papier (165 × 105 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte E23 = Notizen

E22 und E23 sind auf den Versoseiten von H16 notiert. Vermutlich wollte Horváth in E22 den zuvor ausgearbeiteten Strukturplan E21 präzisieren und hat entsprechende Ideen auf der – im (nicht erhaltenen) Notizbuch – gegenüberliegenden Seite (Bl. 1v) notiert. Die Ergänzungen betreffen den 4. Teil, den der Autor in E22 weiter unterteilt. Unter der Überschrift „Tod der Mutter“ ordnet er hierfür unter 1. bis 4. die thematischen Schwerpunkte „Räterepublik. Arbeitslos“, „Zur Hure gemacht“, „Hitler. Hitlerputsch“ und „Ostern nach der Inflation. Das Engagement“ an. Diese ergänzt er durch aktuelle Fragen der Zeitgeschichte. So notiert er: „Die bürgerlichen Witze über die Arbeitslosigkeit. ‚M[ünchner] Illustrierte Presse‘“, „Der Fall Tegernsee“, „Miesbacher Anzeigen Rathenau und Erzbergermord“ sowie „Ruhreinbruch“. Möglicherweise verweist die Erwähnung der Münchner Illustrierten Zeitung sowie des Miesbacher Anzeigers auf konkrete Artikel, die Horváth vorlagen oder deren Lektüre einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen hat. Mit dem Rathenau- und Erzberger-Attentat sowie dem Ruhreinbruch führt Horváth konkrete zeithistorische Ereignisse vor Augen, die die politisch angespannte Situation in der Weimarer Republik nach dem 1. Weltkrieg beschreiben. Ursachen für die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau am 24. Juni 1922 sowie des ehemaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger am 26. August 1921 sind in der rechten Hetzpropaganda in der Weimarer Republik zu suchen. Bereits in E16 und E17 hatte Horváth den Namen Adolf Stein erwähnt und damit ein Indiz für die Beschäftigung mit diesem Thema geliefert. Das Stichwort „Ruhreinbruch“ verweist auf den Einmarsch Frankreichs im Ruhrgebiet Anfang 1923 und damit auf ein weiteres großes Problem der Weimarer Republik: Wegen geringer Rückstände in den Reparationsleistungen besetzten französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 das gesamte Ruhrgebiet, um die dortige Kohle- und Koksproduktion als ‚produktives Pfand‘ zur Erfüllung der deutschen Reparationszahlungen zu sichern.

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Chronologisches Verzeichnis

E23 enthält einige Notizen, deren inhaltlicher Zusammenhang mit E22 offensichtlich ist. Hier heißt es ähnlich wie in E22 unter 1. „Zusammenbruch. Räterepublik. Gegenrevolution.“ Unter 2. schreibt Horváth: „Der Englische Garten während dem Kriege“. Die Notiz „Seite 14“ am oberen Blattrand lässt keine weiteren Rückschlüsse zu, da ein Blatt mit der Paginierung 14 nicht überliefert ist. Die Notiz „vorige Seite“ bezieht sich hingegen vermutlich auf die Ausführungen auf der Vorderseite des Blattes. Unter 4. heißt es dort: „Verschiedene Stellen in München“ (E21), wozu auch der Englische Garten gehört. H19 = ÖLA 3/W 332 – BS 60 c [3], Bl. 5v 1 Blatt kariertes Papier (165 × 107 mm), (Notizbuch), unregelmäßig gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte TS4 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

TS4 lässt sich nicht eindeutig innerhalb der genetischen Reihe positionieren. Die Tatsache, dass sich diese fragm. Textausarbeitung auf dem gleichen Papier wie H12 bis H18 befindet, lässt sie jedoch in den Kontext der Entstehung der Entwürfe E17 bis E23 rücken. Offenbar versucht sich Horváth hier an den ersten Sätzen des ersten Buches seines Romanprojekts. Das lässt zumindest die Zeitangabe „Es war Gründonnerstag“ erahnen. In seiner Ausarbeitung konzentriert sich der Autor auf die Inflation, die ihm offensichtlich als zentrales Thema der Beschreibung des zeitgeschichtlichen Kontextes dient, was sich bereits in E20 und E23 abgezeichnet hatte. H20 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 14 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 210 mm), schwarze Tinte und roter Buntstift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS5 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Die hs. Ausarbeitung des Romananfangs TS5 ist fragm. überliefert, da nur ein Blatt mit der Paginierung 2 vorliegt. Horváth arbeitet hier wie auch in TS4 den Beginn seines Romanprojekts hs. aus. Die Textstufe weist etliche Bearbeitungsspuren auf, was auf eine frühe Ausarbeitung schließen lässt. Die zeitliche Verortung der Geburt Charlottes während der „Starkbierbacchanalien“ (TS5) hatte Horváth bereits in E21 notiert. Der Handlungsort „Englische[r] Garten“ wurde bereits in E23 genannt. H21 = ÖLA 3/W 331 – BS 60 c [1], Bl. 11 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 210 mm), schwarze Tinte TS6 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

TS6 erweist sich als Überarbeitung von TS5. Die dort hs. vorgenommenen Korrekturen werden hier umgesetzt und erfahren eine weitere Bearbeitung. Horváth feilt vor allem am ersten Satz. Der Textanfang lautet noch ähnlich wie in TS5: „Als Charlotte noch ungeboren war und, sofern man an eine persönliche Seele glaubt, entweder als ewiger Säugling auf Seerosen sass und sich von elyseischen Störchen füttern liess oder aber als apokalyptischer Verbrecher durch Milliarden Lichtjahre kopfüber fiel um auf unserem Planet aufzuschlagen, wie eine reife Pflaume –“. Nach der Überarbeitung des Textbeginns bricht Horváth ab; den ersten Satz übernimmt er fast wortwörtlich in TS9.

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Konzeption 1

T1 = ÖLA 3/W 327 – BS 60 a [2], Bl. 1–9 9 Blatt unliniertes Papier (328 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, rotem Buntstift und Bleistift, Paginierung 5–13 TS7 = fragm. Fassung (Korrekturschicht: schwarze Tinte, Bleistift) Druck in: KW 15, S. 23–33.

Die erste masch. Ausarbeitung des Projekts Roman einer Kellnerin ist nur fragm. überliefert. Die masch. Paginierung 5 auf BS 60 a [2], Bl. 1 lässt darauf schließen, dass weitere Blätter dieser Bearbeitungsstufe existiert haben. Hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung seines Romans folgt Horváth weitgehend den Überlegungen aus E13 bis E23. Im Zentrum steht die Genealogie der weiblichen Protagonistin. Ausgangspunkt ist die Zeugung Charlottes in der „Starkbiersaison“ (Bl. 1). Dieses Datum hatte Horváth erstmals in E21 notiert und in TS5 erneut aufgegriffen. In TS7 arbeitet er die Erlebnisse der Mutter und die gesellschaftlichen Befindlichkeiten während der Zeit von Charlottes Zeugung umfassend aus. Dabei holt er bei der Beschreibung der Redoute weit aus, indem er den „König Otto von Wittelsbach“ bzw. seinen Stellvertreter „Prinzregent Luitpold“ (Bl. 2) ins Spiel bringt (vgl. auch TS5). Zeitlich verorten lässt sich die Zeugung Charlottes im Jahr 1920, da Horváth den „Jagow“, der „auf die Leute schiessen liess“ (Bl. 2), erwähnt und damit auf die Niederschlagung des Kapp-Putsches verweist. Außerdem erwähnt er den Alpinisten „Paul Preuss“, den „wagemutigste[n] Alleingeher“ (Bl. 4), der 1913 verunglückte. Bei der Parallele („Da war aber Charlotte bereits vier Jahre alt“, Bl. 4) irrt Horváth jedoch: Offenbar hatte er als Todesjahr Preuss‘ 1923 im Sinn. Der Name des Alpinisten fand sich bereits in E21. T2 = ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 2, 3 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 224 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 1, 2 TS8 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

T3 = ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (282 × 224 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 1 TS9 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

T4 = ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 5–7 Insgesamt 3 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 224 mm), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (170 × 224 mm), unregelmäßig gerissen, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte und blauem Buntstift, Paginierung 4–6 TS10 = fragm. Fassung (Korrekturschicht: schwarze Tinte)

H22 = ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (143 × 224 mm), unregelmäßig gerissen, schwarze Tinte TS11 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

T5 = ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 226 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte und blauem Buntstift, Paginierung 3 TS12 = fragm. Fassung (Korrekturschicht), gedruckt als Teil von TS13/A4

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Chronologisches Verzeichnis

Der textgenetische Zusammenhang von T2 bis T5 und H22 ergibt sich aus der materiellen Beschaffenheit der Textträger. Horváth greift hier auf Schreibmaschinenpapier zurück, das aufgrund seiner Oberflächenstruktur und dem Grad der Vergilbung eindeutig zusammengehört. Dieses Papier hat er nur über einen kurzen Zeitraum verwendet. Über die materielle Beschaffenheit von Papier und Type lassen sich Parallelen zu dem Kurztext Aus den weissblauen Kalkalpen (ÖLA 3/W 191 – BS 47 c, Bl. 1, 2) herstellen, der vermutlich 1928 (Hinweis auf die Landtagswahlen in Bayern am 20. Mai 1928) entstanden ist. Mit TS8 ist die erste masch. Ausarbeitung des Romananfangs überliefert. Im Gegensatz zu TS7 beginnt diese Textfassung mit der Paginierung 1, was ein Indiz dafür ist, dass hier tatsächlich der Anfang des Romans vorliegt. Wie bereits in TS2 verortet Horváth das Handlungsgeschehen in München, genauer gesagt in der Schellingstraße. Nach einer kurzen Rechtfertigungsrede wendet sich der Ich-Erzähler der Genealogie Charlottes zu. Nach einer Beschreibung der Mutter Charlottes brechen die masch. Ausarbeitungen noch vor dem Ende des Blattes ab. In TS9 tippt Horváth den Beginn des Romans noch einmal, setzt dabei die hs. Korrekturen aus TS8 masch. um und kürzt den Text. Außerdem integriert er die in TS6 noch hs. ausgearbeitete Textpassage, die er geringfügig abändert: „Als Charlotte noch ungeboren war und, sofern man an eine persönliche Seele glaubt, entweder als ewiger Säugling auf Seerosen sass und sich von elyseischen Störchen füttern liess oder aber als apokalyptischer Verbrecher durch Milliarden Lichtjahre fiel, um kopfüber auf“ (TS9/Bl. 1). Damit bricht der Text am Fuße des Blattes ab. Ein Blatt mit der Paginierung 2 ist im Nachlass nicht überliefert. Von TS10 sind nur die Blätter mit der Paginierung 4 bis 6 überliefert. Der Text setzt unmittelbar mit der Geburt Charlottes ein; der Romananfang ist nicht überliefert. In TS10/BS 60 a [4], Bl. 5 fließen sämtliche Änderungen aus TS7/BS 60 a [2], Bl. 4 ein. Dabei kürzt Horváth die Textpassage, die um die Geburt und frühe Kindheit Charlottes kreist. Auf BS 60 a [4], Bl. 6 endet die masch. Ausarbeitung nach wenigen Zeilen mit: „Und Gott sprach: Es werde Weltkrieg! Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war.“ Diese Sätze hatte er in ähnlicher Form bereits in TS7/BS 60 a [2], Bl. 5 hs. notiert. Auffallend ist die äußere Form des Typoskripts: Offenbar arbeitet sich Horváth hier kapitelweise vor, indem er nach Abschluss einer Texteinheit den Rest des Blattes frei lässt. Auf BS 60 a [4], Bl. 7 setzt er seine Ausarbeitungen fort und tippt dabei etliche der hs. Korrekturen von TS7/BS 60 a [2], Bl. 6 ins Reine. Charlottes Erinnerungen an ein „hohe[s] Zimmer“ (TS10/BS 60 a [4], Bl. 7) gehen nur geringfügig verändert in den Roman Herr Reithofer wird selbstlos (K2/TS8) und später auch in die Endfassung von Der ewige Spießer (K4/TS5) ein. Die Blätter BS 60 a [4], Bl. 7, 8 bildeten ursprünglich eine Einheit, aus diesem Grund besteht zwischen TS10 und TS11 ein enger textgenetischer Zusammenhang. Offenbar hat Horváth, nachdem die masch. Ausarbeitungen auf der Hälfte des Blattes TS10/BS 60 a [4], Bl. 7 endeten, das restliche Blatt für weitere hs. Notizen verwendet und später auseinandergerissen. In TS11 notiert Horváth hs. eine weitere Textpassage, die vermutlich in einem nächsten Arbeitsschritt mit der Maschine getippt werden sollte. TS12 ist nur fragm. überliefert. Das Blatt BS 60 a [4], Bl. 4 trägt die masch. Paginierung 3. Die vorhergehenden Blätter sind nicht überliefert. Horváth schildert hier die Auswirkungen des Oktoberfests. Dafür übernimmt er einige Textpassagen aus TS7/BS 60 a [2], Bl. 1 und setzt hs. Korrekturen masch. um. Kurz vor Ende des Blattes

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Konzeption 1

bricht der Schreibvorgang ab. Die hs. Bearbeitungsspuren machen deutlich, dass der Autor dieses Blatt in einer späteren Arbeitsphase erneut aufgegriffen und bearbeitet hat (vgl. TS13/A4). T6 = ÖLA 3/W 326 – BS 60 a [1], Bl. 1–3, ÖLA 3/W 328 – BS 60 a [3], Bl. 1, ÖLA 3/W 329 – BS 60 a [4], Bl. 4 Insgesamt 5 Blatt, davon 3 Blatt unliniertes Papier (329 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte und blauem Buntstift, Paginierung 1, 5, 6 auf BS 60 a [1], Bl. 1–3; 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 2 auf BS 60 a [3], Bl. 1; 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 225 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte und blauem Buntstift, Paginierung 3 auf BS 60 a [4], Bl. 4 TS13/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 60 a [1], Bl. 1, 2 (Grundschicht) TS13/A2 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula Haringer. Ostern 1926“ konstituiert durch BS 60 a [1], Bl. 1, 2 (Korrekturschicht: schwarze Tinte) TS13/A3 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula Haringer. Ostern 1926“ konstituiert durch BS 60 a [1], Bl. 1–3 (Korrekturschicht: schwarze Tinte) TS13/A4 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula Haringer. Ostern 1926“ konstituiert durch BS 60 a [1], Bl. 1, BS 60 a [3], Bl. 1, BS 60 a [4], Bl. 4, BS 60 a [1], Bl. 2, 3 (Korrekturschicht)

TS13 stellt die letzte überlieferte Textstufe des Projekts Roman einer Kellnerin dar. In TS13/A1 tippt Horváth noch einmal den Beginn seines Romans. Hierfür fügt er die Ausarbeitungen von TS9 und TS10 zu einer neuen Fassung zusammen. Zunächst setzt er dabei sämtliche hs. Korrekturen aus TS9 masch. um. Die dort hs. eingefügte Ergänzung „Sie will gar nicht daran denken. Sie hat genug zu tun und man weiss nicht was kommt“ tippt er in A1/BS 60 a [1], Bl. 1 ins Reine, wobei er das Verb „tun“ in „denken“ ändert. Überdies streicht er in TS13/A1 die fantastisch anmutende Darstellung der Zeit vor der Geburt Charlottes: „Als Charlotte noch ungeboren war und, sofern man an eine persönliche Seele glaubt, entweder als ewiger Säugling auf Seerosen sass und sich von elyseischen Störchen füttern liess oder als apokalyptischer Verbrecher durch Milliarden von Lichtjahren fiel, um kopfüber auf“ (TS9/BS 60 a [4], Bl. 1). An diese Stelle tritt jetzt der Absatz vom „Kaisergebirge bei Kufstein“ einschließlich der Nennung der „Sünden“ (TS10/BS 60 a [4], Bl. 5) des Kleinkinds Charlotte sowie die daran anschließende Passage über „Gottes Tun“ (TS10/BS 60 a [4], Bl. 5). Die letzten beiden Passagen bleiben bis in die Endfassung Herr Reithofer wird selbstlos (K2/TS8) erhalten. In A2 überarbeitet Horváth A1 hs. und überschreibt das Typoskript mit „Die Erlebnisse der Kellnerin Ursula Haringer. Ostern 1926“ (BS 60 a [1], Bl. 1). Den Namen „Ursula“ hatte Horváth in den frühen Entwürfen (E1 bis E9) verwendet, ihn jedoch im Laufe des Arbeitsprozesses durch „Charlotte“ bzw. „Lotte“ ersetzt. Auch in dem vorliegenden Typoskript ist durchgehend von Charlotte die Rede und eine geplante Ersetzung des Namens wird an keiner Stelle ersichtlich. Bemerkenswert ist, dass Horváth an einer Stelle den Namen „Charlotte“ durch „Agnes“ (BS 60 a [1], Bl. 1) ersetzt. Dies erklärt sich möglicherweise daraus, dass Horváth in einer späteren Arbeitsphase auf dieses Material zurückgreift und dabei den Namen der weiblichen Protagonistin entsprechend den Überlegungen aus Herr Reithofer wird selbstlos (K2) angleicht. Hs. überarbeitet der Autor die Schlusspassage des Eingangskapitels auf BS 60 a [1], Bl. 2. In A3/BS 60 a [1], Bl. 3 führt er diese Passage masch. aus und erweitert sie. Im Anschluss daran notiert er hs. drei weitere Sätze, die vermutlich den

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Chronologisches Verzeichnis

Übergang zum nächsten Kapitel schaffen sollen: „Drei Tage später wurde Charlotte acht Jahre alt. An die Zeit vor 1914 kann sie sich nichtmehr erinnern. Ihr Leben beginnt mit der Kriegserklärung.“ (BS 60 a [1], Bl. 3) Der Zusammenhalt von Blättern aus verschiedenen Berliner Mappen in A4 lässt sich u.a. über das verwendete Schreibmaterial (blauer Buntstift) herstellen. Horváth verschiebt den Fokus in A4 geringfügig, indem er das Blatt mit der Signatur BS 60 a [1], Bl. 2 durch BS 60 a [3], Bl. 1 ersetzt und sich dabei stärker dem historischen Rückblick auf Bayern zuwendet. Der Richtungswechsel und neue Übergang wird mit dem hs. notierten Satz „Damals war Bayern noch Königreich“ (BS 60 a [1], Bl. 1) eingeleitet und die ursprüngliche Passage über das „Kaisergebirge bei Kufstein“ gestrichen. Dem schließt sich das neu getippte Blatt mit einer Passage über König Otto und die Entstehung des Oktoberfests an, die Horváth in ähnlicher Form in TS5 zunächst hs. und später in TS7 masch. ausgearbeitet hatte. Auf BS 60 a [3], Bl. 1 trägt Horváth hs. einen Pfeil als Zeichen des Textanschlusses ein. Dem schließt sich das Blatt BS 60 a [4], Bl. 4 an. Neben der Streichung von Textpassagen gleicht Horváth die Paginierung der Blätter aus A2 mit blauem Buntstift an (auf BS 60 a [1], Bl. 2 von 2 auf 5; auf BS 60 a [1], Bl. 3 von 3 auf 6). Ein Blatt mit der Paginierung 4, das sich in diese Fassung einfügen ließe, ist nicht überliefert.

Konzeption 2: Sechsunddreißig Stunden, später: Herr Reithofer wird selbstlos Zu dieser Konzeption liegen keinerlei hs. Entwürfe mit Struktur- oder Konfigurationsplänen vor. Vermutlich setzte Horváth sein Projekt, basierend auf Überlegungen der vorangegangenen Konzeption 1, direkt masch. um. Das 366 Blatt umfassende Textmaterial zu Herr Reithofer wird selbstlos wurde auf fünf verschiedenen Schreibmaschinen verfasst; dementsprechend lassen sich vor allem die frühesten Textstufen über die Schreibmaschinentype präzise abgrenzen. Vielfach verwendete Horváth in dieser Konzeption Durchschläge, die in spätere Textstufen weitergewandert sind (vgl. dazu die Übersicht Materialwanderung in diesem Band, S. 917). Bemerkenswert ist, dass der Autor den Titel seines Romans im Rahmen der Arbeiten an keiner Stelle nennt und auch kein Deckblatt überliefert ist, das Auskunft darüber erteilen könnte. Der Titel Sechsunddreißig Stunden findet sich zum ersten Mal im Vertrag mit dem Ullstein-Verlag über die Annahme des Romans vom 26. April 1929. Dort heißt es: „Wir […] bestätigen die mit Ihnen getroffene Abrede, wonach wir Ihren Roman ‚36 Stunden‘ in unsern Verlag nehmen. […] Der Roman wird im Propyläen-Verlag erscheinen.“ (Vertrag zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Ullstein Aktiengesellschaft, Berlin 26. April 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags Berlin, ohne Signatur) Drei Tage zuvor teilte Horváth dem Berliner Journalisten P. A. Otte, dem er kurz zuvor ein Manuskript des Romans zugesandt hatte, eine Titeländerung mit: „[S]eien Sie so gut, den Titel meines Romans zu ändern. Setzen Sie bitte […] statt ‚36 Stunden‘ – ‚Herr Reithofer wird selbstlos‘. Das soll nun der endgültige Titel sein.“ (Postkarte Ödön von Horváth an P. A. Otte, Berlin 23. April 1929. In: Horváth-Blätter, 1. Heft, 1983, S. 108) Der Ullstein-Verlag wurde über diese Titeländerung offenbar nicht informiert und so ist in sämtlichen vertraglichen Abmachungen von dem Roman Sechsunddreißig Stunden die Rede.

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Konzeption 2

T1 = ÖLA 3/W 136 – BS 5 a [4], Bl. 1–4 (= Teil von K2/T6) 4 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 1–4 TS1 = fragm. Fassung (Grundschicht)

T2 = ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 62, 67, 69–71, ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 1, 2 Insgesamt 7 Blatt, davon 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (268 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (221 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (231 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (173 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (88 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und schwarzgrüner Tinte sowie blauem Buntstift, Paginierung 6–8 auf BS 4 d [2], Bl. 69–71; 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (328 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit rotem Buntstift, Paginierung 9, 10 auf BS 5 a [3], Bl. 1, 2 TS2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 4 d [2], Bl. 67, 69–71, BS 5 a [3], Bl. 1, 2, BS 4 d [2], Bl. 62 (Grundschicht) Druck (teilweise) in: KW 12, S. 279–281, GA 4, S. 259–261.

Obgleich TS1 und TS2 mit der gleichen Schreibmaschine und auf demselben Papier verfasst wurden, liegen hier zwei voneinander abzugrenzende Textstufen vor. Mit TS1 arbeitet Horváth erstmals den Anfang seines Romans Herr Reithofer wird selbstlos masch. aus, der unmittelbar mit dem Kennenlernen der Protagonisten Agnes Pollinger und Karl (erst in der Korrekturschicht lautet sein Name Eugen) beginnt. Die Begegnung der beiden Protagonisten läuft in dieser frühen Arbeitsphase bereits nach einem Muster ab, das in allen folgenden Bearbeitungsstufen beibehalten wird: Karl spricht Agnes an, beide gehen zusammen über das Oberwiesenfeld in München und erzählen einander ihre Lebensgeschichten. Während des Spaziergangs mit Karl erzählt Agnes von ihren Eltern und beginnt daraufhin, ihre Familiengeschichte gedanklich aufzurollen. Dabei denkt sie zurück an ihre Mutter (= Frau Pollinger) und Großmutter (= Frau Biedermann). Nachdem Horváth in einem neuen Abschnitt die Lebensgeschichte der Großmutter von Agnes anreißt, bricht er diese Ausarbeitungen nach vier Zeilen ab (vgl. BS 5 a [4], Bl. 4). Mit dem hs. Vermerk „Fünfzig Jahre bürgerliche Familiengeschichte“ (Korrekturschicht BS 5 a [4], Bl. 4) liefert er allerdings einen Ausblick, in welche Richtung seine weiteren Überlegungen gehen. Über den Hinweis, dass die Großmutter „Tochter eines langsamen, melancholischen Färbermeisters“ (BS 5 a [4], Bl. 4) sei, lässt sich ein Bezug zu TS3 herstellen. Die Handlung siedelt Horváth „Ende August 1928“ (BS 5 a [4], Bl. 2) in München an. Der zeithistorische Kontext wird durch die Erwähnung des Schicksals des belgischen Bankiers Alfred Löwenstein, der im Juli 1928 während eines Fluges über den Ärmelkanal auf mysteriöse Weise ums Leben kam, verstärkt. Der Exerzierplatz in Oberwiesenfeld (vgl. BS 5 a [4], Bl. 1), den Agnes und Karl passieren, wurde bereits in K1/TS2 erwähnt. Ebenso war die Beschreibung des Zimmers, in dem sich Agnes in ihrer Kindheit aufgehalten hat, bereits in K1/TS10/BS 60 a [4], Bl. 7 enthalten. Mit TS2 liegen Teile einer Ausarbeitung vor, in der Horváth die auf BS 5 a [4], Bl. 4 hs. ergänzte Idee umsetzt, „Fünfzig Jahre bürgerliche Familiengeschichte“ (Korrek-

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Chronologisches Verzeichnis

turschicht BS 5 a [4], Bl. 4) schildern zu wollen. TS2 ist nur fragmentarisch überliefert. Die in der Grundschicht vorhandene Paginierung 6 bis 10 lässt vermuten, dass hier eine umfangreichere Fassung vorgelegen hat. Teile dieser Fassung (BS 4 d [2], Bl. 62, 67, 69–71) verwendet Horváth in TS6 wieder. Der Zusammenhalt von Blättern aus verschiedenen Mappen lässt sich aufgrund der materiellen Beschaffenheit der Textträger (verwendetes Papier, Schreibmaschinentype) und der Paginierung der Blätter rechtfertigen. In TS2 konzentriert sich Horváth auf die Genealogie Magdalena Biedermanns, der Mutter der Protagonistin Agnes Pollinger. Dabei beginnt er mit der Geschichte ihrer Großmutter Regina, die von einem Attaché geschwängert wird. Nach der Niederkunft wird sie von ihren Eltern verstoßen. Wenige Monate nach der Geburt des Kindes heiratet sie August Biedermann in Straubing und führt mit ihm eine „Josephsehe“ (BS 5 a [3], Bl. 1). Als Magdalena vier Jahre alt ist, stirbt August Biedermann. Die Beschreibung seines Sterbens (BS 5 a [3], Bl. 2) übernimmt Horváth fast wortwörtlich zur Charakterisierung Eugen Meinzingers, eines Onkels des Künstlers AML in der Endfassung von Der ewige Spießer (K4/TS5). Teile der Lebensgeschichte von Agnes waren bereits in den Beschreibungen Charlottes in Konzeption 1 enthalten. In K1/TS7 hatte Horváth die Vermutung formuliert, dass der Vater Charlottes ein Attaché gewesen sei (vgl. BS 60 a [2], Bl. 2f.). Außerdem hatte er dort die folgende Passage schriftlich fixiert, die er fast wortwörtlich in TS2 übernimmt: „Ihre Sünden bestanden vorerst darin, dass sie die Butter mit den Fingern angriff, sich des öfteren bemachte und furchtbar schrie wenn man sie in einer dunklen Kammer allein liess. Sie hatte Angst vor dem Kaminkehrer. Und, dass sie Pepperl, dem Hunde, auf die Schnauze küsste.“ (K1/TS7/BS 60 a [2], Bl. 4, vgl. BS 5 a [3], Bl. 1, 2) In der Endfassung von Herr Reithofer wird selbstlos schreibt Horváth die Kindheitsgeschichte Magdalenas etwas gekürzt der Klosettfrau Regina Warzmeier zu, die von allen „die liebe Frau ‚Grossmama‘“ (TS8/BS 5 b, Bl. 134) genannt wird. T3 = ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 63, 64, ÖLA 3/W 133 – BS 5 a [1], Bl. 1–9 Insgesamt 11 Blatt, davon 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (280 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 12, 13 auf BS 4 d [2], Bl. 63, 64; 9 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand, Paginierung 15–23 auf BS 5 a [1], Bl. 1–9 TS3 = fragm. Fassung (Grundschicht) Druck (teilweise) in: GA 4, S. 261–271.

T3 wurde auf einer anderen Schreibmaschine verfasst als T1 und T2 und ist daher rein materiell von beiden Textstufen abzugrenzen. Über die Schreibmaschinentype lässt sich der Zusammenhalt von Blättern aus verschiedenen Mappen absichern (BS 4 d [2], Bl. 63, 64 wandern weiter in TS6), der sich inhaltlich zudem anhand des mehrfach erwähnten Briefes mit der „Chiffre 8472“ (BS 4 d [2], Bl. 63 und BS 5 a [1], Bl. 2) rechtfertigen lässt. Die in der Grundschicht vorhandene masch. Paginierung 12 bis 23 lässt vermuten, dass hier eine umfangreichere Fassung vorlag, die nur fragm. überliefert ist, und dass TS3 als Anschlussstück von TS2 verfasst wurde. Nachdem in TS2 die Lebensgeschichte der Großmutter im Mittelpunkt stand, wird in TS3 die Geschichte Magdalenas (in der Korrekturschicht von TS6 heißt sie dann Margarethe Swoboda), der Mutter von Agnes, geschildert. Der Text beginnt mit dem

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Konzeption 2

Kennenlernen der Eltern Magdalena Biedermann, die Kellnerin in einer Konditorei ist, und dem Leutnant Alfons Pollinger und reicht zurück bis zur Schilderung der Lebens- und Familiengeschichte der Familie Pollinger. Diese Rückschau endet mit der Beschreibung eines Leberflecks, den Agnes von ihrer Großmutter geerbt hat, was bis in die Endfassung von Herr Reithofer wird selbstlos (TS8) erhalten bleibt: „Sie [die Großmutter, Anm.] hat es auch nie erfahren, dass dessen Frau der Grippe erlag, dass sie schon seit dreizehn Jahren Grossmutter war und, dass ihr Enkelkind, ein Mädchen namens Agnes, sogar an derselben Stelle, wie sie, denselben Leberfleck hatte, nur mit dem kleinen Unterschiede, dass die Alte stolz auf ihr ‚Schönheitspflästerchen‘ war, während Agnes es eckelhaft fand.“ (TS3/BS 5 a [1], Bl. 6) Die Charakterisierung Alfons Pollingers („So hatte er ‚eigentlich‘ keine Lust zum Leutnant, aber er hatte sich seinerzeit ‚eigentlich‘ widerspruchslos dem elterlichen Zwange gebeugt und war in des Königs Rock geschlüpft, weil er ‚eigentlich‘ nicht wusste, was er ‚eigentlich‘ wollte. ‚Eigentlich‘ konnte er sauber zeichnen, aber er wäre kein guter Künstler geworden, denn er war sachlich voller Ausreden und persönlich voller Gewissensbisse, statt umgekehrt.“ TS3/BS 5 a [1], Bl. 1) findet sich in der Endfassung Herr Reithofer wird selbstlos (TS8) und verkürzt auch in Der ewige Spießer (K4/TS5) wieder. Sie wird dort allerdings dem Vater Kastners, Alfons Kastner, zugeschrieben. An der Seite von Agnes agiert in TS3 weiterhin – wie in TS1 – der arbeitslose Kellner Karl. Deutlich erkennbar ist zudem der Bezug zu Konzeption 1. Beispielsweise findet sich in TS3 die Passage „ … da sprach der liebe Gott: ‚Es werde Weltkrieg!‘ Und es geschah also. Und Gott sah, dass er gut getan.“ (BS 5 a [1], Bl. 5), die in ähnlicher Form bereits in K1/TS10 und TS13/A1–A4 enthalten war. T4 = ÖLA 3/W 136 – BS 5 a [4], Bl. 1–3, ÖLA 3/W 140 – BS 5 a [8], Bl. 1–27, ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 1, 4 32 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, Paginierung 1–3 auf BS 5 a [4], Bl. 1–3; 4, 8 auf BS 5 a [9], Bl. 1, 4; 9–20, 26–40 auf BS 5 a [8], Bl. 1–27 TS4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 5 a [4], Bl. 1–3, BS 5 a [9], Bl. 1, 4, BS 5 a [8], Bl. 1–27 (Grundschicht), nicht gedruckt

Abgesehen vom Romananfang, den Horváth aus TS1 übernimmt, wurde ein Großteil von TS4 (BS 5 a [8], Bl. 1–27, BS 5 a [9], Bl. 1, 4) auf der gleichen Schreibmaschine verfasst wie TS3. Über die Type und das verwendete Papier lässt sich der Zusammenhang von Blättern aus verschiedenen Mappen absichern. Die markante erste Zeile auf BS 5 a [9], Bl. 1 („am Horizont mit violetten Wolken.“) lässt zudem vermuten, dass hier ein Textanschluss zu TS1/BS 5 a [4], Bl. 3 („Der Abend wartet“) vorliegt. Auf der neu getippten Anschlussseite BS 5 a [8], Bl. 1 schreibt Horváth den ersten Absatz von TS1/BS 5 a [4], Bl. 4 noch einmal ab. Mit TS4 ist eine fragm. Fassung überliefert (es fehlen die Blätter mit der Paginierung 5–7 und 21–25), die nur wenige hs. Korrekturen aufweist. Auffallend ist, dass Horváth bereits in der masch. Grundschicht eine Unterteilung des Textes in Kapitel vornimmt, die Merkmal der folgenden Bearbeitungsstufen TS5 bis TS8 ist. In der Grundschicht von TS4 verwendet er hierfür zunächst – wie auch in TS5 – römische Ziffern, was für ein Naheverhältnis beider Textstufen spricht. Erst in einem Korrekturvorgang ändert er hs. die Kapitelnummern in arabische Ziffern. Auch inhaltlich lässt sich die Positionierung von TS4 innerhalb der genetischen Reihe rechtfertigen:

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Chronologisches Verzeichnis

Im 9. Kapitel berichtet Agnes von ihrer Liebe zu Karl Moser, dem „melancholische[n] Caféhausmusiker“ und „schwermütige[n] Violinvirtuose[n]“ (BS 5 a [8], Bl. 16). In TS6 ändert Horváth den Namen der Figur Karl Moser hs. in „Brunner Karl“ (TS6/BS 5 a [9], Bl. 21), was belegt, dass TS4 vor TS6 entstanden ist. Horváth nimmt in dieser Bearbeitungsstufe grundlegende Änderungen vor, die bis in die Endfassung erhalten bleiben. Dazu gehört u.a. die Namensänderung des männlichen Protagonisten Karl in Eugen. Auf den aus TS1 übernommenen Blättern ändert er den Namen hs.; auf BS 5 a [9], Bl. 4 tippt er direkt Eugen. Gleichzeitig verschiebt Horváth in TS4 den Fokus seines Werkprojekts: Während er sich in TS1 bis TS3 auf eine ausführliche Darstellung der Genealogie von Agnes Pollinger konzentriert hatte und hierfür bis zur Lebensgeschichte der Großmutter Magdalena Biedermann zurückgegangen war, die von der Begegnung Agnes‘ und Karls gerahmt wurde, wendet er sich nun zunehmend der Darstellung der gegenwärtigen Situation zu, bei der die retrospektive Schilderung der Lebensgeschichte der Protagonisten erheblich gekürzt wird. Während des Spaziergangs mit Eugen Reithofer berichtet Agnes über die „liebe Verwandtschaft“ und bemerkt dabei, dass sie „fast nie an ihre Familienverhältnisse“ (BS 5 a [9], Bl. 4) zurückdenke. Diese Ausführungen enden bereits auf dem Blatt mit der Pagina 8 (BS 5 a [9], Bl. 4). Mit der Kürzung der Familiengeschichte von Agnes Pollinger gehen auch einige Namensänderungen einher: Die Mutter von Agnes, die in der Grundschicht von TS3 noch Magdalena hieß, trägt in TS4 nun den Namen „Helene Pollinger“ (BS 5 a [9], Bl. 1) und auch der Vater heißt nicht mehr Alfons, sondern „Martin Pollinger“ (BS 5 a [9], Bl. 1). Während Horváth in TS1 bis TS3 die Protagonisten fast ausschließlich Anekdoten aus ihrem Leben erzählen lässt, arbeitet er in TS4 die Handlung in der Gegenwart weiter aus. Er beschreibt die Unterhaltung der beiden auf ihrem Spaziergang durch München, von der Thalkirchnerstraße über „Sendlingtorplatz und Stachus, durch die Dachauerstrasse, dann die Augustenstrasse entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld“ (BS 5 a [4], Bl. 1). Nach dem Geschlechtsakt mit Eugen, den Agnes mehr oder minder über sich ergehen lässt, bringt er sie nach Hause. Beide verabreden sich für den folgenden Tag, „am Mittwoch um sechs Uhr Abend an der Ecke der Schleissheimerstrasse“ (BS 5 a [8], Bl. 11). Nach der Verabschiedung stehen zunächst die Erlebnisse von Agnes im Vordergrund. Horváth schildert ihre gegenwärtige Lebenssituation, liefert einen Rückblick auf ihre Männerbekanntschaften und ein Gespräch mit Alfred Kastner, dem Untermieter ihrer Tante, der ihr eine Stelle als Modell vermittelt. Nach einer kurzen Einführung der Tante von Agnes enden die masch. Ausarbeitungen auf BS 5 a [8], Bl. 27 (Pag. 40) noch vor dem Ende des Blattes. Mitten in der Ausarbeitung des XI. Kapitels (in der Korrekturschicht 15. Kapitel) bricht Horváth den Schreibvorgang ab und überarbeitet sein Typoskript hs. Auffällig ist dabei die Erweiterung der Kapitelnummerierung. Neben der bereits erwähnten Änderung der Kapitelnummern in arabische Ziffern fügt Horváth in der Korrekturphase zusätzlich neue Kapitelnummern ein und unterteilt damit den Text in kleinere Einheiten. Auf den Blättern BS 5 a [8], Bl. 20, 22, 24 und 25 notiert er „11.“, „12.“, „13.“ und „14.“ als neue Kapitelnummern. Folgerichtig muss er auf BS 5 a [8], Bl. 27 die Ziffer „XII“ hs. in „15.“ ändern.

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Konzeption 2

T5 = ÖLA 3/W 137 – BS 5 a [5], Bl. 1–22 Insgesamt 22 Blatt, davon 19 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), Durchschlag (Kohlepapier), 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (89 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (216 × 209 mm), Durchschlag (Kohlepapier), getippt von fremder Hand, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte und Bleistift von fremder Hand, Paginierung 35–53 TS5 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 5 a [5], Bl. 1, 3–6, 8–22 (Korrekturschicht)

TS5 lässt sich innerhalb der genetischen Reihe nicht eindeutig positionieren. Im Gegensatz zu T1 bis T4 liegt hier eine andere Maschinentype vor. Die verwendete Schreibmaschine besaß keine Umlaute und kein großes I; möglicherweise handelt es sich um ein britisches oder US-amerikanisches Modell. Wahrscheinlich wurde der Text von einer anderen Person getippt, denn die Verwendung von Kustoden gehört nicht zu Horváths typografischen Eigenheiten. Außerdem weist das Typoskript neben der Handschrift des Autors Korrekturen fremder Hand auf. Dabei handelt es sich meist um ausgebesserte Tippfehler (vgl. BS 5 a [5], Bl. 2, 8, 12). Von dem fragm. überlieferten Durchschlag mit der Paginierung 35 bis 53 (die die Blätter mit der Paginierung 36 (Bl. 2) und 38a (Bl. 7) in zweifacher Ausführung enthält) lässt sich kein Anschluss zu früheren Textstufen herstellen. Inhaltlich schließt TS5 jedoch an TS4 an, denn abgesehen von drei Sätzen liegt mit TS4/BS 5 a [8], Bl. 27 und TS5/BS 5 a [5], Bl. 1–3 bereits die Fassung des 15. Kapitels der Endfassung (TS8) vor. Auf materieller Ebene lässt sich dieser Textanschluss jedoch nicht herstellen, da TS4 mit der masch. Paginierung „– 40 –“ (BS 5 a [8], Bl. 27) endet, wohingegen TS5 mit der Paginierung „35“ (BS 5 a [5], Bl. 1) einsetzt. Auffallend ist die Kapitelnummerierung mit römischen Ziffern, die TS5 in die Nähe von TS4 rücken lässt. Auch die hs. Überarbeitungen von TS4 und TS5 wurden vermutlich in einem Zuge vorgenommen. Mit der Änderung der Kapitelnummerierung von römischen in arabische Ziffern findet bei beiden Textstufen eine Unterteilung statt, die sich bis TS5/BS 5 a [5], Bl. 3 fortsetzt. Die Anzahl der Kapitel in TS5 stimmt allerdings nicht mit der aller folgenden Textstufen überein. Der Anfang des Kapitels XII in TS5 („Als jener gesalbte Luestling im Antiquariat ueber die heilige Agnes sprach, betrat Agnes Pollinger den fuenften Stock des Hauses Schellingstrasse 104 und stand nun vor dem Atelier Arthur Maria Lachners.“ BS 5 a [5], Bl. 10) entspricht dem Anfang von Kapitel 18 der Endfassung (TS8). Offenbar unterteilt Horváth im weiteren Arbeitsverlauf umfangreichere Kapitel in mehrere kleinere (vgl. auch TS4). So fügt er beispielsweise auf BS 5 a [5], Bl. 3 hs. die Notiz „16. (Studienrat Niemeyer)“ ein und ändert den Eingangssatz „Und nun fragte diese Afra Krumbier die Tante“ in „Afra Krumbier fragte die Tante“. Die Ausarbeitungen zum Studienrat Niemeyer fehlen in der Grundschicht von TS5 noch und auch das 17. Kapitel erweitert Horváth erst in der weiteren hs. Bearbeitung. Ansonsten liegt mit TS5 eine Fassung vor, die nur wenige hs. Korrekturen aufweist und die in weiten Teilen in alle folgenden Textstufen eingeht. In TS5 konzentriert sich Horváth auf die Darstellung der Erlebnisse Agnes‘ nach der Begegnung mit Eugen Reithofer. Nachdem der Untermieter ihrer Tante, Alfons Kastner, Agnes am Vorabend eine Stelle als Modell beim Kunstmaler AML vermittelt hatte, sucht sie diesen am nächsten Tag auf. Parallel dazu schildert Horváth einen Tag im Antiquariat ihrer Tante. Für die Ausarbeitungen in TS5 übernimmt er etliche Passagen aus früheren Bearbeitungsstufen. So gleichen die Erinnerungen Lachners an seine Kindheit denen von Magdalena Biedermann, der Mutter von Agnes Pollinger, und die

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Chronologisches Verzeichnis

Beschreibungen des alten Biedermann (vgl. TS2/BS 5 a [3], Bl. 1, 2) werden hier dem verstorbenen Onkel Lachners, August Meinziger aus Graz, zugeordnet (vgl. BS 5 a [5], Bl. 17, 18). T6 = ÖLA 3/W 132 – BS 4 d [2], Bl. 1–84, ÖLA 3/W 136 – BS 5 a [4], Bl. 1–3, ÖLA 3/W 141 – BS 5 a [9], Bl. 1–29 Insgesamt 116 Blatt, davon 14 Blatt unliniertes Papier (329 × 209 mm), violettes Farbband, 12 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), violettes Farbband, 14 Blatt unliniertes Papier (329 × 210 mm), violettes Farbband, 6 Blatt hochkariertes Papier (285 × 225 mm), teilweise unregelmäßig gerissen, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (199 × 225 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (109 × 225 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (195 × 225 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (114 × 209 mm), Durchschlag (Kohlepapier), unregelmäßig geschnitten, 1 Blatt unliniertes Papier (231 × 210 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (231 × 210 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (137 × 210 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (64 × 210 mm), unregelmäßig geschnitten, 1 Blatt unliniertes Papier (120 × 210 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (122 × 210 mm) unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (154 × 210 mm) unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (126 × 210 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (124 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (94 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (173 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (141 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (138 × 209 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (100 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (120 × 209 mm) violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (179 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (130 × 209 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (177 × 209 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (221 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (195 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (137 × 208 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (266 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), unregelmäßig geschnitten, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (278 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), unregelmäßig geschnitten, 1 Blatt unliniertes Papier (109 × 209 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (222 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (230 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (170 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (88 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (91 × 208 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (120 × 208 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (98 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (99 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (109 × 208 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt hochkariertes Papier (150 × 225 mm), violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, rotem und blauem Buntstift sowie Bleistift, Paginierung 37–42 auf BS 4 d [2], Bl. 1–6 und 54–130 auf BS 4 d [2], Bl. 7–84; 3 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 1–3 auf BS 5 a [4], Bl. 1–3; 23 Blatt unliniertes Papier, dünn (329 × 209 mm), Durchschlag (Kohle- und Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (293 × 209 mm), teilweise Durchschlag (Blaupapier), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (430 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes

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Konzeption 2

Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 210 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (328 × 209 mm), teilweise Durchschlag (Blaupapier), geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (337 × 209 mm), geschnitten und geklebt, teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (210 × 209 mm), geschnitten und geklebt, Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte sowie rotem und blauem Buntstift, Paginierung 4–25 auf BS 5 a [9], Bl. 1–22; 27–29 auf BS 5 a [9], Bl. 23–25; 33 auf BS 5 a [9], Bl. 26; 34 auf BS 5 a [9], Bl. 27; 38 auf BS 5 a [9], Bl. 28; 41 auf BS 5 a [9], Bl. 29 TS6 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 5 a [4], Bl. 1–3, BS 5 a [9], Bl. 1–29, BS 4 d [2], Bl. 1–84 (Korrekturschicht)

Mit TS6 liegt eine Fassung vor, die sich aus früheren Textstufen (TS1), Durchschlägen früherer Textstufen (BS 5 a [9], Bl. 5–25, 27–29 und TS4/BS 5 a [8], Bl. 1–18, 20–22, 24–26 sind identische Durchschläge) sowie erst in dieser Bearbeitungsphase entwickelten, neuen Textpassagen zusammensetzt. Auf materieller Ebene spiegelt sich die Montage anhand zahlreicher Schnitt- und Klebekanten wider. Der Zusammenhalt der Materialien aus verschiedenen Mappen lässt sich von mehreren Seiten absichern: Erstens lässt sich über den markanten Textumbruch „Der Abend wartet“ (BS 5 a [4], Bl. 3) „am Horizont mit violetten Wolken“ (BS 5 a [9], Bl. 1) der Anschluss zu den folgenden Blättern herstellen. Zweitens liegen sowohl in der Mappe BS 5 a [9] als auch BS 4 d [2] zusammengeklebte Blätter vor, die eine durchgängige Neubearbeitung alten Materials erkennen lassen. Drittens stimmen die verwendeten Schreibmaterialien (schwarze und schwarzgrüne Tinte), mit denen die Korrekturen vorgenommen wurden, bei den Blättern beider Mappen überein. Viertens ist die Kapitelnummerierung markant, die in der Grundschicht des ersten Drittels von TS6 noch in römischen Ziffern vorliegt, in der Korrekturschicht von Horváth hs. geändert und überdies eingekreist wird, was für eine aktuelle und durchgängige Bearbeitung des Materials spricht. Auffallend ist, dass TS6 verschiedene Papiersorten enthält. Während Horváth im ersten Teil auf Durchschläge zurückgreift, bei denen er vor allem die letzten Blätter der Mappe BS 5 a [9] zerschneidet und durch neue Textpassagen auf anderem Schreibmaschinenpapier ergänzt, liegt in der Mappe BS 4 d [2] zumeist Schreibmaschinenpapier vor und nur selten tauchen Durchschlagblätter auf. Bei den Blättern BS 5 a [9], Bl. 2 und 3 hingegen handelt es sich offensichtlich um Durchschläge aus einer anderen Arbeitsphase (andere Schreibmaschinentype und Durchschlag Kohlepapier). Mit der Implementierung dieser Blätter verkürzt sich der Text, sodass Horváth die folgenden Seiten hs. neu paginieren muss. Die Blätter BS 5 a [9], Bl. 5–22, 24 sind augenscheinlich identisch mit TS4 und auch die Blätter BS 5 a [9], Bl. 23, 25, 27–29 enthalten Teile von TS4, die Horváth ergänzt, kürzt und neu zusammenstellt. So zerschneidet er BS 5 a [9], Bl. 23 auf der Hälfte des Blattes, tippt einen neuen Anschluss, in den er die Korrekturen aus TS4/BS 5 a [8], Bl. 20 aufnimmt und klebt diesen neuen Teil an das obere Blatt an. Auf der eingefügten Textpassage tippt Horváth die Kapitelnummerierung bereits in arabischen Ziffern (11.), was für eine aktuelle Änderung in der Überarbeitungsphase spricht. Ähnlich verfährt er mit BS 5 a [9], Bl. 25, indem er hier den Beginn des 12. Kapitel neu tippt und als Zwischenstück mit Hilfe einer Klebung einfügt. Das Blatt BS 5 a [9], Bl. 26 tippt er komplett neu. Bei den folgenden drei Blättern verfährt er wie zuvor, indem er Textpassagen neu tippt und mit Teilen vorhandener Durchschläge zusammenklebt. Das Blatt mit der Paginierung 26 (Grundschicht: 32) fehlt in TS6. Mit Hilfe von TS4/BS 5 a [8], Bl. 19 lässt sich

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Chronologisches Verzeichnis

jedoch ohne Weiteres ein Textanschluss herstellen. Wie in TS4 fehlen auch in TS6 die Blätter mit der Paginierung 21–25 (Grundschicht); der Text weist jedoch inhaltlich keine Lücke auf. Offenbar hat Horváth diese Textpassagen bereits in TS4 aus seinem Werkprojekt eliminiert. Da vor allem die ersten Blätter von TS6 durch ihre Übernahme aus TS4 noch die Kapitelnummerierung in römischen Ziffern enthalten und es durch die Neuzusammenstellung zu Verschiebungen kommt, nummeriert Horváth die Kapitel neu durch. Beispielsweise verschiebt er das 9. Kapitel nach vorn und versieht alle folgenden mit einer höheren Ziffer. Im Zuge der fortschreitenden Bearbeitungen tippt er auf BS 5 a [9], Bl. 23 erstmals die korrekte Kapitelnummer „11.“. Überdies lässt sich über die Type der neu erarbeiteten Textpassagen (BS 5 a [9], Bl. 23, 25–28) der Zusammenhalt mit den Materialien der Mappe BS 4 d [2] herstellen. Vermutlich hat Horváth im Zuge der Überarbeitung des ersten Teiles seines Romanprojekts neues Textmaterial getippt und dieses in TS6 einer erneuten hs. Bearbeitung unterzogen. Die Textpassagen aus der Mappe BS 4 d [2] wurden auf verschiedenen Materialien (kariertes Papier, Papier mit Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, unliniertes Papier) verfasst oder aus anderen Bearbeitungsstufen hierher verschoben und teilweise erheblichen Bearbeitungen (hs. Korrekturen sowie Schnitt- und Klebekanten) unterzogen, was die nachträgliche Zusammenstellung untermauert. So ist beispielsweise mit BS 4 d [2], Bl. 6 zugleich ein Blatt aus TS5 überliefert, das Horváth von BS 5 a [5], Bl. 2 abgeschnitten hat. Mit den Blättern BS 4 d [2], Bl. 62, 67, 69–71 gehen Materialien aus TS2 in TS6 ein. Mit BS 4 d [2], Bl. 63, 64 findet sich Material aus TS3 in dieser Textstufe. Nachdem Horváth in TS4 den Roman bis zum 15. Kapitel ausgearbeitet hatte und in 5 TS mit dem 31. Kapitel schließt, führt er in TS6 seinen Roman erstmals von Beginn bis zum Ende aus. Obgleich in TS6 Teile des Kapitels 15 und der Kapitel 17 bis 21, d.h. Blätter mit der Paginierung 43 bis 53 fehlen, liegt hier eine fast vollständige Fassung vor, die die Grundlage der Reinschrift des Romans Herr Reithofer wird selbstlos (TS8) gebildet hat. Abgesehen von der materiellen Übernahme von Text aus TS4 fällt auf, dass Horváth immer wieder Textpassagen aus früheren Textstufen abtippt und adaptiert. Im Zuge dessen ändert er Figurennamen bzw. ordnet bereits ausgearbeitete Lebensgeschichten anderen Figuren zu; beispielsweise ändert der Autor auf BS 4 d [2], Bl. 62 den Namen Magdalena hs. in Margarethe Swoboda. Auf diese Weise wird die Lebensgeschichte Magdalena Pollingers (in TS3 und TS4 Mutter von Agnes) der in TS6 neu entwickelten Figur Margarethe Swoboda zugeschrieben. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte der Regina Warzmeier. In diesem Fall übernimmt Horváth Textmaterial aus TS2 und Teile der Lebensgeschichte Margarete Biedermanns, der Großmutter von Agnes Pollinger, gehen in ihre Lebensgeschichte ein. Ein Überbleibsel davon ist die Bezeichnung „Grossmutter“, die Horváth zu „Grossmama“ (BS 4 d [2], Bl. 66) modifiziert. Auch die Lebensgeschichte Alfons Pollingers (TS3) baut Horváth in TS6 ein: Hier ist es der Vater Kastners, der „ursprünglich Offizier“ war, obwohl „er ‚eigentlich‘ keine Lust zum Leutnant“ (BS 4 d [2], Bl. 22) hatte. T7 = ÖLA 3/W 138 – BS 5 a [6], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (328 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzgrüner Tinte, Paginierung 32, 33 TS7 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

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Konzeption 2

T8 = ÖLA 3/W 142 – BS 5 b, Bl. 1–145 Insgesamt 145 Blatt, davon 72 Blatt unliniertes Papier, dünn (328 × 209 mm), Durchschlag (Kohlepapier), masch. Eintragungen mit violettem Farbband, hs. Eintragungen mit Kopierstift und Bleistift von fremder Hand, Paginierung 1–7, 27–33, 36–40, 58–73, 75–111; 73 Blatt unliniertes Papier, dünn (328 × 209 mm), Durchschlag (Kohlepapier), masch. Eintragungen mit violettem Farbband, hs. Eintragungen mit Kopierstift und Bleistift von fremder Hand, Paginierung 1–7, 27–33, 36–40, 58–111 TS8 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 5 b, Bl. 73–145 (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 478–577; KW 12, S. 10–125.

Mit TS7 und TS8 liegen die Durchschläge zweier Reinschriften von TS6 vor, die allerdings beide nur fragm. überliefert sind. In TS7 setzt Horváth Korrekturen aus TS6 masch. um. Von dieser Fassung existieren nur mehr die Blätter 5 a [6], Bl. 1, 2. Vermutlich hat Horváth in dieser Bearbeitungsstufe nur wenige Korrekturen vorgenommen, da sich die beiden überlieferten Blätter mit der Paginierung 32, 33 nahtlos in TS8 einfügen ließen, wobei TS7 eine frühere Fassung der Kapitel 13 und 14 darstellt. Die hs. Korrekturen, die Horváth hier vornimmt, fließen später in TS8 ein. Auch die in zwei Durchschlägen überlieferte Reinschrift TS8 liegt nur fragm. vor. Hier fehlen die Blätter mit der Paginierung 8–26, 34, 35, 41–57. Hs. Korrekturen aus TS6 und TS7 werden in TS8 masch. ins Reine geschrieben. Die Blätter aus der Mappe BS 5 b enthalten zudem masch. Korrekturen, die nachträglich masch. (violettes Farbband) eingetragen wurden. Wahrscheinlich hat Horváth nach der Fertigstellung der Reinschrift noch einige Änderungen vorgenommen, die er zugunsten der Lesbarkeit mit der Schreibmaschine tippt. Die wenigen hs. Eintragungen von fremder Hand lassen vermuten, dass sich die Durchschläge im Lektorat befanden und hier noch kleine Änderungen vorgenommen wurden. T9 = ÖLA 3/W 134 – BS 5 a [2], Bl. 1–6, ÖLA 3/W 135 – BS 5 a [3], Bl. 3–10, ÖLA 3/W 139 – BS 5 a [7], Bl. 1–24, ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 49, 58, 60, 61, 63, 65, 67–72, 81, 85–91 Insgesamt 56 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (327 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (194 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (254 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (277 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (273 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, rotem Buntstift und Bleistift, Paginierung 1, 5, 7 auf BS 5 a [2], Bl. 1, 4, 6; 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (142 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (114 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (99 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (188 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (138 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (55 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (62 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (50 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, rotem Buntstift und Bleistift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand, Paginierung 107, 108 auf BS 5 a [3], Bl. 9, 10; 19 Blatt unliniertes Papier, dünn (327 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn, (332 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (274 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (341 × 224 mm), unregelmäßig geschnitten

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Chronologisches Verzeichnis

und geklebt, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (83 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (255 × 209 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, rotem Buntstift und Bleistift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand, Paginierung 58, 67, 74, 78, 86–103, 109, 110 auf BS 5 a [7], Bl. 1–24; 1 Blatt unliniertes Papier (315 × 215 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt unliniertes Papier (347 × 218 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt unliniertes Papier (288 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (175 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (330 × 221 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (293 × 221 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 3 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), geklebt, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (305 × 221 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt unliniertes Papier (308 × 219 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (353 × 221 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 220 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (315 × 221 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 221 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (314 × 216 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 221 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (236 × 217 mm), unregelmäßig geschnitten und geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 217 mm), geklebt, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, Bleistift und rotem Buntstift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand und mit Kugelschreiber von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 133, 142, 144, 145, 147, 149, 151–156, 166, 170–176 auf BS 7 a, Bl. 49, 61, 63, 65, 67–72, 81, 85–91 TS9 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 5 a [2], Bl. 1, BS 5 a [3], Bl. 3, BS 5 a [2], Bl. 2–6, BS 7 a, Bl. 49, 58, 60, BS 5 a [7], Bl. 1, BS 7 a, Bl. 61, 63, 65, BS 5 a [7], Bl. 2, BS 7 a, Bl. 67–70, BS 5 a [7], Bl. 4, BS 7 a, Bl. 71, 72, BS 5 a [7], Bl. 5–11, BS 7 a, Bl. 81, S 5 a [7], Bl. 12–22, BS 7 a, Bl. 85–87, BS 5 a [3], Bl. 4, BS 7 a, Bl. 88, BS 5 a [3], Bl. 10, BS 7 a, Bl. 89, BS 5 a [3], Bl. 5, 8, BS 7 a, Bl. 90, BS 5 a [3], Bl. 6, 9, BS 7 a, Bl. 91, BS 5 a [3], Bl. 7, BS 5 a [7], Bl. 23, 24 (Korrekturschicht)

Mit T9 sind einige Durchschläge oder Teile von Durchschlägen von T4 (BS 7 a, Bl. 49 identisch mit BS 5 a [8], Bl. 19), T5 (BS 7 a, Bl. 58, 60 identisch mit BS 5 a [5], Bl. 18, 21, 22) sowie großteils Durchschläge von T8 (BS 5 a [2], Bl. 1–6 identisch mit BS 5 b, Bl. 73, 75–79; BS 5 a [3], Bl. 3–10 identisch mit BS 5 b, Bl. 74, 139–142; BS 5 a [7], Bl. 1–24 identisch mit BS 5 b, Bl. 92, 108, 118–137, 143, 144; BS 7 a, Bl. 49, 61, 63, 65, 67–72, 81, 85–91 identisch mit BS 5 b, Bl. 80, 93, 94, 99, 103, 106–110, 112, 113, 127, 137–142) überliefert. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Textstufen weist TS9 eine Reihe hs. Bearbeitungsspuren auf, die für eine spätere Entstehung sprechen und es rechtfertigen, eine zusammengehörige, wenngleich auch nur fragm. überlieferte Textstufe anzunehmen. Eines der zentralen Indizien für die Zusammenstellung von TS9 bildet eine von Horváth mit Tinte eingetragene Nummerierung auf dem linken Seitenrand (BS 5 a [2], Bl. 2, 3, 5, BS 5 a [3], Bl. 3, BS 5 a [7], Bl. 12, BS 7 a, Bl. 49, 58, 60, 61, 63, 65,

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Konzeption 2

67–72, 81, 85–87). Dabei handelt es sich unzweifelhaft um eine neue Paginierung, mit deren Hilfe der Autor einzelne Schnipsel zusammen mit vollständig überlieferten Blättern in eine Reihenfolge gebracht hat. Zu einigen der in den Mappen BS 5 a [3] und BS 5 a [7] überlieferten Schnipsel lassen sich in der montierten Fassung Der ewige Spießer (K4/TS3) Anschlussstücke finden (z.B. BS 5 a [3], Bl. 5, 10 an BS 7 a, Bl. 89; BS 5 a [3], Bl. 6, 8 an BS 7 a, Bl. 90; BS 5 a [3], Bl. 7, 9 an BS 7 a, Bl. 91; BS 5 a [7], Bl. 12 an BS 7 a, Bl. 81; BS 5 a [7], Bl. 22 an BS 7 a, Bl. 85). Teile der überarbeiteten Fassung TS9 sind also offenbar in die Neuzusammenstellung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS3) eingegangen. Vermutlich hat der Propyläen-Verlag oder auch P. A. Otte, dem Horváth den Text geschickt hatte, Änderungen vorgeschlagen, die der Autor, noch bevor er sich endgültig gegen das Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos entschieden hat, umsetzen wollte. Die hs. Korrekturen mit rotem Buntstift in TS9 deuten darauf hin, dass Horváth vor allem grundlegende Änderungen in der Gliederung seines Romanprojekts vornehmen wollte. So änderte er beispielsweise die Kapitelnummern „43“ in „28“, „44“ in „36“, „39“ in „43“, „40“ in „44“, „41“ in „45“ u.a., was für eine Neuanordnung der Kapitel spricht. Der Korrekturvorgang mit rotem Buntstift ist nach der Überarbeitung mit Tinte anzusiedeln, da Horváth die getippten Kapitelnummern zunächst nur mit Tinte eingekreist und erst später geändert hat. Außerdem wurden einige Blätter zerschnitten und neu zusammengeklebt (z.B. BS 5 a [7], Bl. 2, 4, 9) was die Annahme einer Neuordnung und gleichzeitigen Straffung des Textmaterials unterstreicht. Das belegt auch die auf dem Seitenrand eingetragene Paginierung. Eine Reihe der hs. Korrekturen von TS9 findet Eingang in K4/TS1 und später auch in die Endfassung des Romans Der ewige Spießer K4/TS5. Dazu gehört beispielsweise die Änderung der Figur des Pianisten in „ein älterer Herr“ (BS 5 a [3], Bl. 10 und BS 5 a [3], Bl. 5). D1 = Roman-Anfang In: Das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, 4. Januar 1929 TS10 = Fassung mit dem Titel „Roman-Anfang / Von Oedön von Horváth“

Mit TS10 liegt das erste Kapitel des Romans Herr Reithofer wird selbstlos in einer Druckfassung vor. Noch vor Annahme des Romans beim Propyläen-Verlag am 26. April 1929 druckte das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung am 4. Januar 1929 unter der Überschrift „Roman-Anfang“ einen Auszug aus Horváths Roman. Offenbar war sich der Autor zu diesem Zeitpunkt über den zukünftigen Titel seines Romans noch nicht im Klaren; in der Zeitung findet sich auch kein weiterer bibliografischer Nachweis zur Herkunft des Textes. Dem Abdruck werden lediglich ein paar einleitende Worte vorangestellt: „Eine Probe der Erzählkunst des deutsch-ungarischen Dichters, der mit seinem Drama ‚Die Bergbahn‘ heute zum ersten Male auf der Volksbühne zu Worte kommt.“ Im Gegensatz zu der entsprechenden Passage in TS8 erscheint der Text im Zeitungsabdruck etwas gekürzt. So fehlt die Passage der Wegbeschreibung „Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauerstrasse, dann die Augustenstrasse entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld.“ (TS8/BS 5 b, Bl. 73) Auch die Replik von Agnes („Sie sagte, jener amerikanische künstliche Mensch würde sie schon sehr interessieren. Er sagte, auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen.“ TS8/BS 5 b, Bl. 74), die Beschreibung des Wetters („Am Nachmittag hatte es

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zwar dreimal gedonnert, aber wieder nicht geregnet und nach Sonnenuntergang war es noch derart drückend schwül, als hätte die Luft Fieber. Erst um Mitternacht setzte sich langsam der Staub auf die verschwitzte Stadt.“ TS8/BS 5 b, Bl. 74), die Schilderung des Selbstmordversuchs von Agnes‘ Mutter („Dann habe sie das Licht ausgedreht, weil es plötzlich Nacht geworden sei, und den Gashahn aufgedreht und etwas vor sich hingemurmelt, das habe geklungen wie eine Prozession. Aber plötzlich sei es unheimlich licht geworden und das war überirdisch. Und Gottvater selbst sei zur Tür hereingekommen und habe zur Mutter gesagt: ‚Was tust Du Deinem Kinde? Das ist strengstens verboten Frau Pollinger!‘ Dann habe der Gottvater das Fenster aufgerissen und den Gashahn geschlossen.“ TS8/BS 5 b, Bl. 75) sind in TS10 nicht enthalten. Möglicherweise wurden diese Textpassagen aus Platzgründen weggelassen. Neben diesen Eingriffen lassen sich in TS10 weitere kleine textliche Änderungen feststellen; Rechtschreibfehler wurden ausgebessert.

Begleitende Einzeltexte Parallel zur Arbeit an dem Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos (K2) hat Horváth die Kurzprosatexte Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München (ET1), Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2) und Das Fräulein wird bekehrt (ET3) verfasst, die teilweise materielle oder inhaltliche Gemeinsamkeiten mit K2 aufweisen, jedoch nicht unmittelbarer Bestandteil des Romanprojekts sind.

Einzeltext 1: Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München T1 = ÖLA 3/W 213 – BS 65 b, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) ET1/TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München“ (Korrekturschicht) Druck in: KW 15, S. 13.

Mit T1 liegt ein masch. beschriebenes Blatt vor, das sich durch seine materielle Beschaffenheit nur schwer zuordnen lässt. Type, Material (Papier: Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“) sowie hs. Bearbeitungsspuren weisen Parallelen zu den Arbeiten an Flucht aus der Stille (vgl. ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 13–16, KW 11, 187f., Druck: Aus der Stadt in die Stille in: Berliner Tageblatt, 25. Mai 1930) auf. In der Grundschicht ist ET1/TS1 mit „Tanzstunde“ überschrieben; erzählt wird eine Episode aus dem Leben eines Mannes in Budapest. Darin schildert der Ich-Erzähler den Besuch einer Tanzschule. Auffallend sind die autobiographischen Bezüge zu eigenen Erlebnissen des Autors in dieser Zeit. Schließlich hat die Familie Horváth das Ende des Ersten Weltkriegs zum Teil selbst in Budapest erlebt, und der junge Horváth war unmittelbar mit den politischen Geschehnissen und Auswirkungen des Krieges konfrontiert. Inhaltlich lässt sich von ET1/TS1 kein Bezug zu einem anderen Werkprojekt herstellen. Durch seinen autobiographischen Charakter lässt sich der Text jedoch einer Reihe von Kurzprosatexten zuordnen, die Horváth Ende der 1920er-Jahre verfasst hat. Der mit Bleistift hs. eingetragene Titel „Aus den Erinnerungen des Fräu-

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Begleitende Einzeltexte

lein Pollinger aus München. (in dritter Person erzählt)“ rückt ET1/TS1 in die Nähe des Kurzprosatextes Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2/TS1), in dessen zeitlichem Umfeld der Text geschrieben oder zumindest überarbeitet wurde.

Einzeltext 2: Das Märchen vom Fräulein Pollinger T1 = ÖLA 3/W 207 – BS 4 b, Bl. 1–4 Insgesamt 4 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier (282 × 209 mm), violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 1, 2, ursprünglich geheftet und 2 Blatt unliniertes Papier (282 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), Paginierung 1, 2 ET2/TS1 = Fassung mit Werktitel „Das Märchen vom Fräulein Pollinger von Ödön Horváth“ konstituiert durch BS 4 b, Bl. 1, 2 (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 75f.

ET2/TS1 stellt eine abgeschlossene Kurzgeschichte mit dem Titel „Das Märchen vom Fräulein Pollinger“ dar, die samt einem Durchschlag (BS 4 b, Bl. 3, 4) überliefert ist. Möglicherweise plante Horváth, den Text ähnlich wie Das Fräulein wird bekehrt (ET3/TS4) in einer Anthologie oder Zeitschrift unterzubringen. Dafür spricht die äußere Form der vier überlieferten Typoskriptblätter, die ähnliche Charakteristika aufweisen wie eine Reihe Ende der 1920er-Jahre entstandener und im Nachlass überlieferter Kurzprosatexte, darunter Die gerettete Familie (ÖLA 3/W 197 – BS 47 g [1], Bl. 1–4; Erstdruck in: Simplicissimus, 35. Jg., Nr. 6, 5. Mai 1930, überarbeitet erschienen unter dem Titel „Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand“ in: Blätter des Deutschen Theaters, Heft 3, November 1931), Ein sonderbares Schützenfest (ÖLA 3/W 211 – BS 47 j, Bl. 1–4; nicht publiziert) und Mein Onkel Pepi (ÖLA 3/W 208 – BS 68, Bl. 1, 2; publiziert unter dem Titel „Pepis Album“ in: Berliner Tageblatt, 11. August 1929, 5. Beiblatt). In ET2/TS1 erzählt Horváth die Geschichte einer jungen Frau mit einer „Durchschnittsfigur“ und einem „Durchschnittsgesicht“ (BS 4 b, Bl. 1) namens Anna Pollinger, die ungewollt schwanger wird. Ihr Liebhaber Fritz rät ihr zu einer Bergtour, da „bekanntlich die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, dass sie kein Kind kriegt“ (BS 4 b, Bl. 2). Eingang findet der kurze Text zunächst in das Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer (K3), bevor er dann in den Roman Der ewige Spießer (K4) integriert wird. Neben einigen orthografischen Angleichungen ändert Horváth den Arbeitsplatz von Agnes Pollinger von „Kontor einer Autoreparaturwerkstätte“ (BS 4 b, Bl. 1) in „Kontor einer Kraftwagenvermietung“ (K4/TS4/BS 8, Bl. 30). Horváth hatte den Text offenbar ursprünglich auch als Szene für das Hörspiel Stunde der Liebe (1928/29) geplant. Im Nachlass ist die Vorarbeit „Eines jungen Mannes Tag“ zu dem Hörspiel überliefert, in der die Geschichte des Fräulein Pollinger aus der Sicht eines Herrn mit dem Vornamen Albert geschildert wird (vgl. ÖLA 3/ W 268 – BS 63 l, Bl. 1–3).

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Einzeltext 3: Das Fräulein wird bekehrt Der Text Das Fräulein wird bekehrt stellt ein Nebenprodukt der Arbeiten an Herr Reithofer wird selbstlos (K2) dar und ist vermutlich erst nach Abschluss des Romans entstanden. Dafür spricht u.a. die Tatsache, dass keinerlei Entwürfe und nur wenige, ausschließlich masch. Ausarbeitungen zu dem Projekt überliefert sind. Horváth entlehnt dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos (K2) etliche Figuren, Motive und Textpassagen, die später in mehr oder minder modifizierter Form auch in die Endfassung von Der ewige Spießer (K4) eingehen. Der Kurzprosatext, der im Herbst 1929 in der von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler erschienen ist, wurde vermutlich im Sommer 1929 verfasst. Der Text selbst liefert einen indirekten Datierungshinweis, da Horváth die Begegnung des Fräuleins mit Herrn Reithofer auf den 4. Juli legt, den Tag, an dem „der Reichskanzler operiert werden muß“ (TS4/S. 399). Tatsächlich ist der deutsche Reichskanzler Hermann Müller im Frühjahr 1929 immer wieder bzw. über längere Zeit krank gewesen und musste sich wiederholt Operationen unterziehen. Am 1. Juli 1929 schreibt die Coburger Zeitung: „Reichskanzler Müller, dessen Gesundheitszustand in den letzten Wochen einiges zu wünschen übrig ließ, wird sich anfangs nächster Woche zu einem einmonatigen Erholungsurlaub nach Bad Mergentheim begeben.“ T1 = ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 1–8 Insgesamt 8 Blatt, davon 7 Blatt unliniertes Papier (284 × 225 mm), violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Paginierung 2–4 und 6–9, 1 Blatt unliniertes Papier (112 × 225 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte ET3/TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

T2 = ÖLA 3/W 131 – BS 4 c [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 225 mm), violettes Farbband, Paginierung 6 ET3/TS2 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)

Zwischen ET3/TS1 und TS2 besteht ein textgenetisches Naheverhältnis; die Reihung ist jedoch unsicher. Beide Typoskripte wurden auf der gleichen Schreibmaschine verfasst (markante ch-Ligatur) und sind vermutlich auch im gleichen Zeitraum entstanden. ET3/TS1 ist nur fragm. überliefert. Es fehlt das Blatt mit der Paginierung 1, das vermutlich Ausführungen zur Genealogie des Fräuleins enthalten hat. In dieser Bearbeitungsphase hat das Fräulein noch keinen Namen. Der Buchhalter und Geliebte des Fräuleins heißt in der Grundschicht „Schultz“/„Schulz“ (ET3/TS1/BS 4 c [1], Bl. 2, 3), was Horváth allerdings in der Korrekturschicht hs. in „Wiedmann“ ändert. Wiedmann bekehrt das Fräulein zum politischen Denken, was sich in diesem Fall auf den gemeinsamen Besuch von „Versammlungen“ und die Teilnahme an der „Arbeiterwohlfahrtslotterie“ (ET3/TS1/BS 4 c [1], Bl. 2) beschränkt. In der Lotterie gewinnt das Fräulein 200 Mark und macht daraufhin Urlaub in den Alpen. Nach einer Bergtour mit einem Studenten kehrt die Frau durchnässt zurück und verbringt vier Tage ihres Urlaubs verkühlt im Bett. ET3/TS2 enthält eine fragm. überlieferte Episode der Bekehrung des Fräuleins zur Proletarierin. Hiervon liegt lediglich ein Blatt mit der Paginierung 6 vor. Der textgenetische Zusammenhang zu ET3/TS1 lässt sich in diesem Fall über die Figur Wiedmann herstellen, der in ET3/TS2 ein „Reisende[r] für Füllfederhalter“ ist. Einen Ver-

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Begleitende Einzeltexte

treter für Füllfederhalter hatte das Fräulein bereits in ET3/TS1/BS 4 c [1], Bl. 4 auf seiner Reise in die Alpen kennengelernt. In ET3/TS2 bekehrt Wiedmann das Fräulein zur Proletarierin. Ferner äußert das Fräulein auch hier seine Begeisterung für die „Berge“ und das „Nichtstun“ (ET3/TS2/BS 4 c [2], Bl. 1). T3 = ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 1–14 14 Blatt unliniertes Papier, dünn (287 × 226 mm), Durchschlag (Blaupapier), Paginierung 1–7 auf BS 4 a, Bl. 1–7 und auf BS 4 a, Bl. 8–14 ET3/TS3 = Fassung mit Werktitel „Das Fräulein wird bekehrt“ (Grundschicht) Druck in: GW III, S. 77–82.

D1 = Das Fräulein wird bekehrt In: 24 neue deutsche Erzähler. Hrsg. von Hermann Kesten. Berlin: Gustav Kiepenheuer 1929, S. 396–402 ET3/TS4 = Endfassung mit dem Titel „Das Fräulein wird bekehrt“

Wie in ET3/TS1 und TS2 agiert auch in ET3/TS3 und TS4 ein namenloses Fräulein. Ihm zur Seite wird nun ein Herr Reithofer gestellt, der den Angestellten Schultz in ET3/TS1 und den Vertreter für Füllfederhalter Wiedmann in ET3/TS2 ablöst. Das Fräulein ist auch in diesem Fall eine mittlere Angestellte, die sich wünscht, für einen Urlaub in den Bergen genügend Geld aufbringen zu können. Ferner wird auch hier an die Großmutter erinnert, die in Gedenken an den Großvater eine gepresste Rose im Gebetbuch hat (vgl. ET3/TS1/BS 4 c [1], Bl. 1, hier TS4/S. 398). Im Gegensatz zu ET3/TS1 und TS2 lässt sich die Entstehungszeit von ET3/TS3 und TS4 sehr präzise angeben. Bei ET3/TS3 muss es sich um die Reinschrift (bzw. einen Durchschlag der Reinschrift) handeln, die Horváth dem Herausgeber Hermann Kesten für den Druck in dessen Anthologie überlassen hat. Gegenüber der Druckfassung weist das Typoskript geringfügige Abweichungen auf. Beispielsweise heißt es in ET3/TS3: „Und Grossmama erzählte Märchen und dann schlief sie ein und wachte nimmer auf.“ (BS 4 a, Bl. 3) Dem folgt ein Absatz: „Das Gebetbuch mit der Rose wurde ihr in den Sarg gelegt, Grossmama liess sich nicht verbrennen, weil sie unbedingt wiederauferstehen wollte. Und beim Anblick einer Rose zieht noch heute eine sanfte Wehmut durch ihrer Enkelkinder Gemüt, die heute bereits Regierungsrat, Sanitätsratsgattin, Diplomlandwirt, Diplomingenieur und zwo Hausbesitzersgattinen sind.“ In der Anthologie lautet der Wortlaut: „Und Großmama erzählte Märchen und knapp vor dem Weltkrieg zog sie sich in ein besseres Jenseits zurück“ (S. 398). Weiters ist das Fräulein laut ET3/TS3 Angestellte einer „Eisenwarenhandlung“ (BS 4 a, Bl. 3); in der Druckfassung hingegen einer „Alteisenwarenhandlung“ (S. 398). In ET3/TS3 schreibt Horváth „kapitalistische Mache“ (BS 4 a, Bl. 4), in der Druckfassung hingegen ist von „kapitalistischen Machenschaften“ (S. 399) die Rede. Laut ET3/TS3 betritt ein “mittelgrosser stämmiger Mann, der allen Männern ähnlich sah“ (BS 4 a, Bl. 5) das Zimmer der Protagonistin, in der Druckfassung ist es ein „mittelgroßer stämmiger Herr, der dem Herrn Reithofer sehr ähnlich sah“ (S. 401). Auf Reithofers Frage nach dem Weg antwortet die Protagonistin in ET3/TS3: „Wohin?“ (BS 4 a, Bl. 6), im Druck jedoch „‚Ja‘, meinte sie“ (S. 401). Die Erklärung Reithofers wird im Druck hingegen um ein „nämlich“ erweitert: „Dort drüben ist nämlich die Luft noch besser“ (S. 401). Besonders auffallend ist, dass der Erzähler in ET3/TS3 eine „Frau Kommerzienrat“ zweimal direkt anspricht („so muss ich es Ihnen wohl sagen, Frau Kommer-

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zienrat“ (BS 4 a, Bl. 6) und „Gute Nacht, Frau Kommerzienrat“ (BS 4 a, Bl. 7), was in der Druckfassung entfällt. Die Streichung der Passagen der imaginierten Gesprächspartnerin Frau Kommerzienrat hatte vermutlich ökonomische Gründe: Dadurch konnte eine ganze Buchseite eingespart werden, denn der Text endet so exakt in der letzten Druckzeile von S. 402. Änderungen wie die Einfügung des „nämlich“ auf S. 401 sprechen dafür, dass Horváth den Text selbst redigiert hat. Die Druckfassung ET3/TS4 erschien 1929 in der von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler bei Gustav Kiepenheuer in Berlin. Thematisch gehört sie zum Komplex der Spießer-Prosa. Die Notiz in den bibliografischen Anmerkungen am Ende der Anthologie unterstreicht dies, wenn es heißt: „‚Herr Reithofer wird selbstlos‘ / Roman. Propyläen-Verlag, Berlin“ (Kesten 1929, S. 419). Textgenetisch betrachtet, findet die Arbeit an dem Text mit dem Druck (ET3/TS4) ihren Abschluss. Zu dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos (K2) zeigen sich in dem Kurzprosatext viele Parallelen. Horváth entlehnt dem Roman etliche Figuren, Motive und Textpassagen. Da ist z.B. die Großmutter, deren Geschichte den narrativen Ausgangspunkt der Werkprojekte Roman einer Kellnerin (K1) und Herr Reithofer wird selbstlos (K2) bildet. Wie in diesen beiden Projekten liefert Horváth auch in der Anfangspassage des Kurzprosatextes einen geschichtlich-soziologischen Abriss. Nicht zufällig arbeitet das Fräulein im Kontor einer Alteisenwarenhandlung in der Schellingstraße. Auch hinsichtlich der materiellen Beschaffenheit gibt es zwischen beiden Werkprojekten etliche Gemeinsamkeiten: Papier und Maschinentype (ch-Ligatur) der Typoskripte stimmen mit denen der Überarbeitungen einer späteren Textstufe von Konzeption 2 (K2/TS6) überein.

Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer Zu Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer sind neben einigen Textstufen etliche hs. Notizen überliefert, die Auskunft über die Entstehung des Romanprojekts geben. Sämtliche Entwürfe sind im Notizbuch Nummer 6 enthalten, das Horváth während seiner Reise zur Weltausstellung in Spanien im September 1929 verwendet hat. Darüber hinaus liegt eine Reihe masch. Ausarbeitungen vor; eine vollständig ausgearbeitete Fassung des Romans ist jedoch nicht überliefert. Vermutlich hat sich Horváth noch vor Abschluss der Arbeiten an Herr Kobler wird Paneuropäer gegen das Romanprojekt in dieser Form entschieden. Ein beträchtlicher Teil der ausgearbeiteten Textpassagen geht – in Form von Durchschlägen oder Abschriften – in die montierte Fassung von Der ewige Spießer K4/TS3 ein. H1 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 1, 4 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E1 = Strukturplan in 4 Kapiteln mit Notizen und Werktitel „Roman“

Mit E1 liegt der früheste Entwurf von Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer vor, der schlicht mit „Roman“ überschrieben ist. Er ist im Notizbuch Nummer 6 eingetragen, das Horváth vermutlich von September bis Dezember 1929 verwendet hat. Für diese Datierung sprechen verschiedene Indizien: Auf der Innenseite des Umschlags

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Konzeption 3

findet sich die Notiz „B.Z. 9. Nov. 29 Nr. 307 (Kritik)“. In dieser Ausgabe der Berliner Zeitung am Mittag war tatsächlich ein Beitrag zu der am 30. Oktober 1929 erschienenen und von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler enthalten. Horváth, der dieser Anthologie die Kurzgeschichte Das Fräulein wird bekehrt (ET3/TS4) beigesteuert hatte, wird in diesem Beitrag erwähnt. Ob die in dem Notizbuch enthaltenen Texte vor oder nach diesem Eintrag entstanden sind, lässt sich nicht endgültig klären. Auf ÖLA 3/W 363, Bl. 8v listet Horváth mit flüchtiger Hand Titel dreier seiner Stücke auf. Neben dem Dramentitel Sladek, der schwarze Reichswehrmann steht „(Lessingtheater)“, also jenes Theater, in dem das Stück am 13. Oktober 1929 uraufgeführt wurde. Auf ÖLA 3/W 363, Bl. 32v notiert Horváth verschiedene Zahlenkombinationen. Neben der mittleren der drei unteren Kolonnen ergänzt er „Bürgerliche Mitte“, „Splitter f Mieter“, „G.d.A.“ (= Gewerkschaftsbund der Angestellten) und „ “, was vermuten lässt, dass es sich hier um Wahlprognosen im Vorfeld der Murnauer Gemeinderatswahl vom 8. Dezember 1929 handelt (vgl. Markt Murnau am Staffelsee. Beiträge zur Geschichte. Bd. 1. Hg. v. Markt Murnau am Staffelsee. Redaktion und Konzeption Dr. Marion Hruschka. St. Ottilien: EOS 2002, S. 514f.). Außerdem enthält das Notizbuch zahlreiche Notizen, die unter dem unmittelbaren Eindruck des Besuchs der Weltausstellung in Barcelona im September 1929 entstanden sein müssen. Die materielle Beschaffenheit des Notizbuchs wirft einige Fragen auf. Bei der Übernahme des Nachlasses durch die Berliner Akademie der Künste lag das Notizbuch Nummer 6 vermutlich noch mit einigen herausgerissenen Einzelblättern vor. Im Rahmen von Restaurierungsmaßnahmen wurden diese Blätter teilweise in fehlerhafter Reihenfolge wieder eingeklebt. So gehören ÖLA 3/W 363, Bl. 1 und 4 inhaltlich ganz offensichtlich zusammen, dazwischen wurden jedoch ÖLA 3/W 363, Bl. 2 und 3 eingefügt, wodurch ein zusammengehöriger Strukturplan getrennt wurde. In ähnlicher Weise bildeten auch ÖLA 3/W 363, Bl. 3, 2 und 5 (Entwurf des Textes „Sie haben keine Seele“) eine Einheit, die jedoch im Zuge der Restaurierung auseinandergerissen und in die genetisch falsche Abfolge ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 2, 3 und 5 gebracht wurden. In E1 projektiert Horváth einen Roman in vier Kapiteln, der eine Reise nach Barcelona beschreibt. Die vier Kapitel „Fahrt bis zur Grenze“, „Genf“, „Lyon – Genf“ und „Lyon – Barcelona“ markieren die einzelnen Etappen. Als Protagonist des Romans ist in dieser Bearbeitungsstufe ein „Herr K.“ vorgesehen. An die einzelnen Stationen knüpfen sich Begegnungen mit anderen Reisenden, ferner wird auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse Bezug genommen oder es werden Beschreibungen des jeweiligen Landes gegeben. Im 1. Kapitel steht die Begegnung mit einem Reisenden im Vordergrund, der über Skandinavien berichtet. Im 2. Kapitel „Genf“ findet die Grundsteinlegung des Palais des Nations in Genf Erwähnung, die am 7. September 1929 stattgefunden hat. Vermutlich handelt es sich hierbei um eine zeitnahe Nennung des Ereignisses, das Rückschlüsse auf die Datierung des Notizbuchs zulässt. Daneben werden touristische Attraktionen der Region wie beispielsweise das „Reformationsdenkmal“, der „Lac Léman“ und der „Zusammenfluss Arve und Rhône“ genannt. Das 3. Kapitel „Lyon – Genf“ thematisiert die Weiterfahrt von Genf nach Lyon, auf der Amberieu und Rhônetal passiert werden. Daneben notiert Horváth Fragen zur Geschichte der Schweiz („wann trat Genf der Schweiz bei?“). Unter dem 4. Kapitel „Lyon – Barcelona“ finden sich die Notiz „Avignon = der katholische Gedanke“ und Überlegungen zu einem Dialog zwischen einem Reisenden und Herrn K. über „Katholizismus“, „Protestantismus“, „Juden“ und „über Religion“.

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Einen Großteil der Notizen in E1 hält Horváth mit schwarzer Tinte fest. In einem zweiten Arbeitsgang trägt er mit Bleistift einige Ergänzungen ein. Die unter dem Strukturplan eingetragene Notiz „Die sich begattenden Fliegen“ stammt aus dieser zweiten Phase. Der inhaltliche Zusammenhang mit dem vorliegenden Werkprojekt indes bleibt unklar. H2 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 1v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte, Bleistift und roter Buntstift E2 = Skizzen zum 1. und 2. Kapitel

H3 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 4v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E3 = Notizen

H4 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 6 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), Bleistift E4 = Skizzen

Die Entwürfe E1 bis E4 stehen in einem engen textgenetischen Zusammenhang. Sie wurden im Notizbuch Nummer 6 hintereinander notiert, größtenteils mit Tinte geschrieben, enthalten darüber hinaus hs. Ergänzungen mit Bleistift bzw. wurde E4 vollständig mit Bleistift ausgeführt. E2 notiert Horváth auf der Versoseite von H1/ÖLA 3/W 363, Bl. 1, demzufolge befand sich dieser Entwurf vermutlich zwischen dem ersten und zweiten Teil von E1. Diese topografische Lage lässt ihn in die unmittelbare Nähe zu E1 rücken. In E2 notiert Horváth Überlegungen zum ersten Kapitel seines Romans. Dabei nennt er erstmals den vollen Namen seines Protagonisten, der in dieser Bearbeitungsphase „Kakuschke“ lautet. Unter „I. Kapitel“ vermerkt er, dass Kakuschke ein Auto verkauft und durch Betrug zu Geld kommt, das er für eine Reise ausgeben will. Ein Freund rät ihm, ins Ausland, genauer gesagt zur Weltausstellung nach Barcelona zu fahren. Damit werden Anlass und Hintergrund der in E1 dargestellten Reise angegeben und ein Handlungsverlauf umrissen, der bis in die Endfassung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS5) erhalten bleibt. E3 befindet sich auf der Versoseite von H1/ÖLA 3/W 363, Bl. 4 und muss deshalb hinter E1 und E2 positioniert werden. Die Stichworte „Tarascon. (Tartarin)“ und „Das junge Hochzeitspaar“ sind mit Bleistift geschrieben. Darunter hält Horváth mit Tinte den Namen der französisch-spanischen Grenzstadt „Port-Bou“ und eine Beschreibung der Uniform der spanischen Polizisten fest. Dabei handelt er sich wahrscheinlich um Beobachtungen, die er auf seiner Reise nach Barcelona selbst gemacht hat und die später in den Roman einfließen. E4 befindet sich in dem Notizbuch einige Seiten weiter hinten. Auch bei diesem Blatt liegt die Vermutung nahe, dass es im Zuge der Restaurierung an falscher Stelle platziert wurde und eigentlich im Kontext der Blätter ÖLA 3/W 363, Bl. 1 und 4 anzusiedeln ist. Der Schriftduktus der mit Bleistift überarbeiteten Passagen stimmt mit dem von E2 und E3 überein. E4 enthält eine Notiz zur Charakterisierung Kakuschkes. Der Gedanke „Herr Kakuschke kann mit niemanden sprechen, desshalb führt er das

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Konzeption 3

erstemal in seinem Leben […] Selbstgespräche“ findet sich später noch einmal als Stichwort „Selbstgespräche“ in E17 wieder. Das Motiv „infolge eines geschlossenen Signals denkt er an den Tod“ greift Horváth in der Grundschicht von TS3/BS 7 a, Bl. 26 noch einmal auf, lässt es dann jedoch wieder fallen. H5 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 8 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E5 = gestrichene Notiz (Zugfahrplan)

E5 enthält einen Fahrplan mit den Zugverbindungen von Ventimiglia nach Innsbruck über Genf, Mailand, Verona und den Brenner, den Horváth wahrscheinlich während seiner Reise festhält. Es lässt sich nicht endgültig klären, ob er die Zugverbindung für seine eigene Rückreise aus Barcelona nach Deutschland oder als authentisches Detail für die Arbeit an dem Roman notiert. H6 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 9, 10 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E6 = Strukturplan in 12 Kapiteln mit Werktitel „Roman“ Druck in: KW 12, S. 318.

H7 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 11 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E7 = Werkverzeichnis (oben) E8 = Strukturplan in 3 Teilen mit Notizen und Repliken (unten) Druck in: KW 12, S. 319f.

H8 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 11v, 12 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und roter Buntstift E9 = Strukturplan in 5 Kapiteln (Bl. 11v, oben) E10 = Strukturplan in 7 Teilen mit Notizen und Textskizzen (Bl. 11v, unten; 12)

Die Entwürfe E6 bis E10 stehen in einem engen textgenetischen Zusammenhang. Neben ihrer Anordnung im Notizbuch Nummer 6 weisen die Notizen auch einen ähnlichen Schreibduktus auf. Es zeigt sich, dass Horváth intensiv an der Entwicklung des Handlungsgeschehens seines Romans arbeitet. E6 enthält einen Strukturplan in zwölf Kapiteln, der wie E1 mit dem Titel „Roman“ überschrieben ist. Gegenüber E1 präzisiert und erweitert Horváth den Aufbau in E6 jedoch wesentlich: In den ersten beiden Kapiteln steht die Planung der Reise nach Barcelona im Vordergrund. Die Überlegungen korrespondieren mit den Ausführungen in E2, in denen Horváth die Hintergründe der Spanienreise darlegt. Dort hatte er unter II. Kapitel „Kakuschkes Entschluß. (Reisebüro, usw.)“ (E2) notiert. In E6 vermerkt er unter I. „Das Geschäft. Der Entschluss zu einer Reise. Der Rat der Freunde“ und unter II. „Das Reisebüro. Das Wörterbuch“. Die folgenden sechs Kapitel enthalten Etappen der Reise: III. „Die Abfahrt. Die erste Grenze. (Österreich)“, IV. „Brenner“, V. „Verona – Mailand – Genua“, VI. „Rimini“, VII. „Marseille“ und VIII. „Tarascon – Carcassone – Portbou –

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Chronologisches Verzeichnis

Barcelona“. Das neunte und zehnte Kapitel konzentrieren sich auf die „Ausstellung“ und den „Stierkampf“; das elfte auf die Rückreise und das letzte auf die Ankunft in Genf. Die Städtenamen Tarascon und Portbou hatte Horváth bereits in E3 notiert. E7 enthält ein Werkverzeichnis: Neben den drei Dramentiteln „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“, „Die Bergbahn“ und „Rund um den Kongress“ werden die zwei Romantitel: „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Der europäische Spiessbürger“ angeführt. Die Erwähnung der beiden Romantitel nebeneinander ist ein Indiz dafür, dass Horváth zu diesem Zeitpunkt noch von zwei eigenständigen Projekten ausgeht: „Der europäische Spiessbürger“ sollte zu diesem Zeitpunkt vermutlich der Titel für den in der Konzipierungsphase befindlichen Roman „Herr Kobler wird Paneuropäer“ lauten. Der Strukturplan E8, den Horváth nicht bis zu Ende ausführt, konzentriert sich auf das erste Kapitel des Romans und den Handlungsort „in der Schellingstrasse“. Die drei Teile des Strukturplans stimmen inhaltlich mit Überlegungen aus E6 überein: 1.) „Herr Kakuschke verkauft ein Auto. Er betrügt dadurch einen Anderen.“ 2.) „Das Auskunftsbüro.“ und 3.) „Die Abfahrt.“ Darüber hinaus fügt Horváth einige Stichworte zum Handlungsverlauf des dritten Teils „Der Abschied“ sowie Figurennamen und Repliken ein. In E9 reduziert Horváth die Anzahl der Kapitel seines Romans auf fünf: Ausgangspunkt bleibt wie in E8 I. „In der Schellingstrasse“. Dem folgt nun II. „Nach Italien“, III. „Marseille“, IV. „Barcelona“ und V. „Genf“. Im Strukturplan E10 greift Horváth auf Überlegungen aus E6 und E8 zurück. Dabei konzentriert er sich auf den Beginn des Romans in der Schellingstraße. Im Gegensatz zu E8 geht er mehr ins Detail und unterteilt das 1. Kapitel in sieben Teile: I. „Der Autoverkauf“, II. „Der Graf“, III. „Die ältere Dame“, IV. „Abends im Café“, V. „Die Abschiedsnacht mit dem Mädchen“, VI. „Das Reisebüro“ und VII. „Die Abfahrt. – Die erste Grenze“. Den zwei in E8 noch unter dem 3. Kapitel angeführten Stichworten „[i]m Café“ und „bei dem Mädel“ räumt er in dieser Bearbeitungsphase einen größeren Stellenwert ein und stellt sie den Teiltiteln „Autoverkauf“, „Der Graf“, „Die ältere Dame“, „Das Reisebüro“ und „Die Abfahrt“ zur Seite. Unter dem VII. Teil skizziert Horváth einen Dialog, der in ähnlicher Form in die Endfassung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS5) einfließt. Ähnlich verhält es sich mit dem Namen „Kobler“, der in E10 zum ersten Mal erwähnt wird und der bis in die Endfassung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS5) erhalten bleibt. H9 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 13 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und roter Buntstift E11 = Replik (oben)

Schreibmaterial und -duktus von E11 entsprechen den vorhergehenden Entwürfen E6 bis E10. Unter den Stichworten „Gespräch im Bordell“ notiert Horváth eine kurze Replik, die sich in ähnlicher Form in der Endfassung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS5) wiederfindet. Mit rotem Buntstift wird diese Notiz später gestrichen. Zu erwähnen sind auch die Notizen zum Werkprojekt „Die Arbeitslosen“, die sich unter der Replik in H9 befinden. Sie wurden auf den beiden gegenüberliegenden Blättern des Notizbuchs mit Kopierstift und auf dem Kopf ausgeführt. Offenbar hat Horváth in einem späteren Arbeitsschritt das Notizbuch noch einmal von der anderen Seite her beschrieben.

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Konzeption 3

H10 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 14 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und roter Buntstift E12 = Strukturplan in 8 Teilen mit Notizen und Werktitel „Herr Alfons Kobler“ Druck in: KW 12, S. 320.

Mit dem Strukturplan in acht Teilen E12 fixiert Horváth das erste Kapitel seines Romans. Gleichzeitig wird der Namenswechsel des Protagonisten, der sich bereits in E10 abgezeichnet hatte, mit der Überschrift „Herr Alfons Kobler“ manifest. In E12 orientiert sich Horváth an den Überlegungen aus E10, die er nur geringfügig modifiziert: Unter 1. erscheint weiterhin der Autoverkauf; neu hinzukommen 2. „Architekt“ und 3. „Die Zimmervermieterin. / Eltern / Graf“. Der „Graf“ taucht nun unter 4. statt unter II. wie in E10 auf; dem schließt sich 5. „Die deklassierte Dame“ und „Abschied von Marion“ an. In E10 war nur von der „Abschiedsnacht mit dem Mädchen“ die Rede, das in E12 zwischenzeitlich den Namen „Marion“ erhält. Die beiden Teilüberschriften 6. „Abschied von Marion (Cafè)“ und 7. „Visum / Reisebüro“ entsprechen den Vorgaben aus E10; durch einen Pfeil wird jedoch die Veränderung ihrer Reihenfolge angezeigt.

H11 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 14v, 15 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und roter Buntstift E13 = Strukturplan in 5 Kapiteln mit Notizen (Bl. 15 oben) E14 = Strukturplan in 2 Kapiteln mit Notizen und Textskizzen zum II. Teil (Bl. 14v, 15 unten)

Bereits aufgrund ihrer topografischen Anordnung auf gegenüberliegenden Seiten des Notizbuchs stehen E13 und E14 in einem engen textgenetischen Verhältnis. Höchstwahrscheinlich hat Horváth zuerst die rechte Seite des aufgeschlagenen Notizbuchs (E13) beschrieben, bevor er den Strukturplan E14 auf der linken Seite weiter präzisierte. Beide Strukturpläne weisen eine ganze Reihe von Korrekturen bzw. Streichungen mit rotem Buntstift auf. Sie belegen eine zweite Bearbeitungsstufe, die möglicherweise im Zusammenhang mit der Erarbeitung der ersten masch. ausgearbeiteten Fassung TS1/A1 und A2 erfolgt ist. In E13 greift Horváth die Struktur in fünf Kapiteln aus E9 erneut auf und ergänzt sie. Dabei führt er einige neue Figuren wie den „Redakteur“, den „Konsul Schmidthuber“, den „Maler mit der Libido“ und die „Filmstatistin“ ein, deren Charakterzüge knapp umrissen werden. Weite Teile dieses Strukturplans streicht Horváth mit rotem Buntstift (vermutlich als erledigt), allein die Notiz „(Die Schwulen in Italien) Krupp, usw.“ rahmt er ein. E14 folgt weitgehend den Überlegungen aus E13. Horváth wendet sich hier jedoch stärker der Präzisierung des II. Kapitels „Nach Italien“ zu, nachdem er sich in E2, E6, E8, E10 und E12 auf den Beginn des Romans „I. In der Schellingstrasse“ konzentriert hatte. Das II. Kapitel gliedert er in acht Stationen: 1.) „Abfahrt“, 2.) „Grenze nach Österreich“, 3.) „Innsbruck“, 4.) „Berg Isel“, 5.) „Brennero“, 6.) „Brennero – Verona“ 7.) „In Verona“ und 8.) „Abfahrt nach Milano“. Des Weiteren finden sich in E14 einige der in E13 genannten Figurennamen wieder. Im Gegensatz zu E13 werden sie hier allerdings den Unterkapiteln zugeordnet. So erscheint der Konsul Schmidthuber unter 6.) „Brennero – Verona“, und die Begegnung mit dem „öster.-ungar. Journalisten“ wird in den 8. Teil „Abfahrt nach Milano“ verlegt. Im Zuge der Bearbeitung mit rotem

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Chronologisches Verzeichnis

Buntstift ändert Horváth die Unterteilung des II. Kapitels: 5.) „Brennero“ wird zu 4.), 6.) „Brennero – Verona“ wird zu 5.), der Unterpunkt „Südtirol“ wird zu 6.) und die weiter unten angeführte Notiz „Der neapolitanische Schaffner“ wird nun mit 7.) versehen. Außerdem werden die beiden Teile 7.) „In Verona“ und 8.) „Abfahrt nach Milano“ in das III. Kapitel verschoben. H12 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 16 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E15 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Notizen

H13 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 17–20 4 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E16 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Roman“ (Bl. 17, oben) E17 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Notizen (Bl. 17, unten, Bl. 18, 19, 19v, 20)

E15 bis E17 befinden sich im Notizbuch Nummer 6 auf unmittelbar aufeinander folgenden Seiten und sind vermutlich in einem Arbeitsgang entstanden. Horváth erweitert die Struktur von fünf (E9 und E13) in E15 auf sieben Kapitel, indem er den II. Teil „Nach Italien“ (E13) in II. „Verona“ und III. „Verona – Genua – Marseille“ (E15) unterteilt. Diese Aufspaltung hatte sich bereits in dem Strukturplan E14 abgezeichnet. Außerdem fügt er nach IV. „Marseille“ noch eine weitere Etappe „Marseille – Barcelona“ ein. IV. präzisiert Horváth mit Hilfe der Stichworte „Bonleibaisse“ (gemeint ist: Bouillabaisse), „Kino“, „Puff“, „Rundfahrt“, „Corniche“ und „Prado“. Im VII. Kapitel „Genf“ siedelt er die Begegnung mit einem „Skoda-Ingenieur“ an. E16 sieht weiterhin eine Struktur in sieben Kapiteln vor, allerdings verändert Horváth die Überschriften geringfügig: II. überschreibt er mit „Verona umsteigen“, III. mit „Das Meer“ und V. mit „Die Pyrenäen“; die Städtenamen aus E15 behält er in Klammern bei. Bemerkenswert ist der Werktitel „Roman“, der dem Strukturplan vorangestellt wird und der bereits in E1 und E6 erschienen war. In E17 präzisiert Horváth – dem Strukturplan E16 entsprechend und mit II. beginnend – die übrigen sechs Teile seines Romanprojekts. Unter II. führt er wie in E12 sieben Stichworte an, mit denen er die Gestalt des Kapitels umreißt. Neben den dem Reiseverlauf entsprechenden Stationen „Abfahrt“, „Die Grenze Mittenwald“, „Mittenwald – Brennero“, „Brennero – Südtirol“ führt er hier die Begegnung mit dem „Konsul Schmidthuber“ (vgl. auch E14) und später „Der Schaffner aus Neapel“ an. Ähnlich verfährt er mit III. „Das Meer“. Nach „Umsteigen in Verona in den Zug aus Venedig“ sieht Horváth hier die Begegnung mit dem „Redakteur aus Öster.-Ungarn“ vor, die in E14 noch unter dem II. Teil geplant war. Daneben notiert er „Der Wein in Milano“, „Die Fahrt nach Genua“, „Das Meer in der Frühe“, „Die italienische Riviera“ und „Die französische Riviera“. In E14 hatte Horváth bereits ein „Bordell in Genua“ erwähnt. Diesen Gedanken greift er in E17 unter IV. wieder auf, verlagert jedoch „Das Puffviertel“ und „Das Kino im Puff“ nach Marseille. Unter V. „Die Pyrenäen“ fixiert er den weiteren Reiseverlauf, den er mit den sieben Stichworten „Abfahrt von Marseille“, „In Tarascon steigt die Filmstatistin aus dem Pariser Zug ein“, „Gespräch“, „Grenze“, „Umsteigen“, „Nach Barcelona“ und „Ankunft in „Barcelona“ umreißt. Die „Filmstatistin“ hatte Horváth bereits in E13 erwähnt. Das VI. Kapitel „Barcelona“

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Konzeption 3

sollte den „Kampf“ zwischen Kobler und dem Redakteur um die Filmstatistin thematisieren, der durch das Auftauchen des Amerikaners beendet wird. Hier wird die Ersetzung des Figurennamens „Kakuschke“ durch „Kobler“ noch einmal sichtbar, da Horváth zunächst „Kak“ notiert, dies aber sofort mit „Kobler“ überschreibt. Das VII. Kapitel behandelt die Rückfahrt Koblers von Barcelona nach Genf. Neben dem Satz „Kobler fährt allein zurück“ sind hier lediglich die vier Stichworte „Selbstgespräche“, „Der Pfarrer (über Avignon)“, „Lyon (Herriot)“ und „Genf (Völkerbund.)“ eingetragen. Insgesamt gibt E17 bereits ziemlich präzise das Handlungsgeschehen des Romanprojekts Herr Kobler wird Paneuropäer vor, das dann später in dieser Form in den Roman Der ewige Spießer (K4/TS5) einfließt. H14 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 20v, 21, 22 3 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und roter Buntstift E18 = fragm. Strukturplan in 3 Kapiteln mit Notizen, Textskizzen und Werktitel „Roman“

E18 schließt unmittelbar an die Überlegungen von E16 und E17 an. Horváth überschreibt den fragm. Strukturplan wie in E1, E6 und E16 schlicht mit „Roman“. Nachdem er sich mit E16 einen Überblick über die Makrostruktur des Romans verschafft und diese in E17 präzisiert hatte, arbeitet er in E18 in dieser Form weiter. Dabei wiederholt er ausgehend von der Struktur in E16 die ersten drei Kapiteltitel, streicht die ersten beiden durch und wendet sich der Präzisierung des dritten Kapitels im Detail zu. Vermutlich hat Horváth zu diesem Zeitpunkt bereits mit der masch. Ausarbeitung seines Romanprojekts begonnen und kennzeichnet mit dem Durchstreichen der Kapitelüberschriften I. „In der Schellingstrasse“ und II. „Bis Verona“, dass diese beiden Kapitel bereits weitgehend fertig gestellt sind. Wie bereits in E17 unterteilt er in E18 das dritte Kapitel „Das Meer“ und trägt einige weiterführende Ideen und Textskizzen ein. Im Zuge dessen ändern sich auch einige Teiltitel. So heißt es beispielsweise unter III. statt „Der Redakteur aus Öster.-Ungarn“ (E17) jetzt „Das Einsteigen“, obgleich Horváth in Klammern dahinter weiterhin „Der Redakteur aus Öster.-Ungarn, der für alle Länder Korrespondent ist“, notiert. 6. „Die italienische Rivera“ verschiebt er unter 5. „Das Meer“, 7. „Die französische Rivera“ nach 6. und unter 7. notiert er „Der Kriegshafen in Toulon“. Auffallend ist, dass E18 ähnliche Überarbeitungsspuren mit rotem Buntstift aufweist wie E13 und E14. Im Zuge dessen ändert Horváth die Kapitelnummerierung von 5. „Das Meer“ in 6. und verbindet 6. „Die französische Rivera“ und 7. „Der Kriegshafen Toulon“, bevor er sämtliche Eintragungen unter dem III. Kapitel „Das Meer“ als erledigt streicht. Wahrscheinlich nimmt er diese Eintragungen im Zuge der parallel laufenden masch. Ausarbeitungen TS1/A1 vor. H15 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 24, 25 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E19 = Strukturplan in 9 Kapiteln mit Notizen und Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“

H16 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 28, 29 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E20 = Strukturplan in 9 Kapiteln mit Notizen und Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“

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Chronologisches Verzeichnis

Zwischen E19 und E20 besteht ein textgenetisches Naheverhältnis, obgleich sich zwischen diesen beiden Entwürfen einige Notizen zu den nicht ausgeführten Dramenprojekten „Wochenend am Staffelsee“ und „Unsere Universität“ (ÖLA 3/W 363, Bl. 25v, 26, 26v, 27v) sowie „Der Berufsspieler“ (ÖLA 3/W 363, Bl. 27) befinden. Die Strukturpläne E19 und E20 überschreibt Horváth mit dem Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“. Gegenüber E16 erweitert er die Romanstruktur der beiden Entwürfe auf neun Kapitel: Neu sind die Kapitel „Südbayern, Tirol und das neue Italien“, „Marseille und die Pyrenäen“ (dem wie in E16 „Barcelona“ folgt), „Corrida de Tores“, „Die Weltausstellung 1929“ und „U.S.A.“. Das erste Kapitel „In der Schellingstrasse“ unterteilt Horváth in E19 in acht Teile und nimmt inhaltliche Änderungen vor. Stichworte wie „Hofopernsängerin“, „Herr Portschinger“, „Graf“ und „Das Reisebüro“ waren bereits in ähnlicher Form in E12 gefallen. Neu ist in E19 3. „Der Herr Kakuschke“ und 4. „Koblers Kinderzeit, Jugend und Elternhaus“. Beide Teiltitel versieht er mit einer Klammer und führt in E20 unter 3. nur „Kakuschke“ an. Außerdem sind die Frauenfiguren „Natalie“ unter 6. und „Anna, das Mädchen“ unter 8. neu. Bemerkenswert ist, dass der Name Kakuschke hier wieder auftaucht, obwohl ihn Horváth bereits in E17 durch Kobler ersetzt hatte. Offenbar vergibt der Autor den Namen neu: In E12 wurde unter 2. nur ein „Architekt“ erwähnt, der in E19 den Namen Kakuschke erhält. Entsprechend taucht im 1. Kapitel der masch. Ausarbeitung TS1/A1 ein Architekt mit dem Namen „Kakuschke“ auf. In E20 entwirft Horváth eine leicht veränderte Struktur des ersten Kapitels in der Abfolge: 1. „Verkauf“, 2. „Die Hofopernsängerin“, 3. „Kakuschke“, 4. „Familie Perzl“, 5. „Graf Blanquez und die Perzl“, 6. „Reisebüro / Im Cafè“ und 7. „Anna, das Mädchen“. In E19 unterteilt er das zweite Kapitel in 1. „Bis Partenkirchen“, 2. „Mittenwald“, 3. „Innsbruck – Brennero“, 4. „Brennero“, 5. „Der Spitzel“ und 6. „Speisewagen / Schaffner“. In E20 reduziert er es zu 1. „Bis Mittenwald“, 2. „Bis Brenner“, 3. „Am Brenner“ und 4. „Nach dem Süden“. Das dritte Kapitel ist sowohl in E19 als auch in E20 mit „Herr Schmitz und das Meer“ überschrieben. In E19 führt Horváth die Teiltitel 1. „Verona“, 2. „Der Zug aus Venedig“, 3. „Milano“ 4. „Der Rausch. Der Traum“ und 5. „Das Meer. – Die Riviera. Ventimiglia. 1880“ an; den Ansatz einer weiteren Unterteilung (6.) streicht er. In E20 entfällt der 2. Teiltitel; alle anderen Teiltitel bleiben in ähnlichem Wortlaut bestehen. In der weiteren Ausarbeitung von E19 spart sich Horváth die Unterteilung und vermerkt unter dem vierten Kapitel „Marseille und die Pyrenäen“ lediglich „1.) – 7.)“, was annehmen lässt, dass er hier die Überlegungen aus E17 übernimmt. In E20 hält er ab hier nur die Kapitelüberschriften fest. Auffallend sind in diesem Strukturplan die Ziffern, die Horváth jeweils hinter den neun Kapiteln notiert. Vermutlich handelt es sich dabei um die Angabe des Seitenumfangs der einzelnen Kapitel. Darüber hinaus befinden sich hinter den sieben Teilen des 1. Kapitels Schlusszeichen, was vermuten lässt, dass Horváth mit der masch. Ausarbeitung dieser Textpassagen in TS1/A1 bereits begonnen hatte. H17 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 30 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E21 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ (oben) E22 = Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ (mittig) E23 = Werkverzeichnis (unten) Druck in: GW IV, S. 37*.

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Konzeption 3

Der textgenetische Zusammenhalt von E21 bis E23 wird durch die topografische Anordnung auf einer Seite vorgegeben. Den Strukturplan in E21 überschreibt Horváth wie E19 und E20 mit „Herr Kobler wird Paneuropäer“, allerdings kürzt er den Strukturplan wieder auf sieben Kapitel, indem er 5. „Barcelona“ wegfallen lässt und 7. und 8. zu „Die Weltausstellung 1929 und U.S.A.“ (E21) zusammenfasst. Unter II. ändert er „Südbayern“ (E19 und E20) in „Oberbayern“ (E21). Damit bezieht er sich nun deutlicher auf den Regierungsbezirk, nachdem er mit „Südbayern“ die südlich der Donau liegende Region im Blick hatte. In E22 wiederholt Horváth den Werktitel seines Romanprojekts, der seit E19 feststeht. In E23 stellt er den Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ in eine Reihe neben „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Fräulein Pollinger wird sinnlich“. Damit wird deutlich, dass Horváth nach wie vor von zwei eigenständigen Romanprojekten ausging. T1 = ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 1–68 68 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte sowie rotem Buntstift und Bleistift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand, Paginierung 1–68 TS1/A1 = fragm. Fassung mit Kapiteltitel „In der Schellingstrasse“ und „Oberbayern, Tirol und durch das neue Italien“ (Korrekturschicht), nicht gedruckt

Mit TS1/A1 liegt eine erste fragm. überlieferte Fassung des Romans Herr Kobler wird Paneuropäer vor. Die prägnante Gliederung des Textes in zwei Kapitel mit den Überschriften „In der Schellingstrasse“ und „Altbayern und das heilige Land Tirol“ lässt Parallelen zu den Strukturplänen in E19 bis E21 erkennen. Die Schlusszeichen hinter den einzelnen Kapiteln des I. Teils in E20 lassen vermuten, dass der I. Teil zu diesem Zeitpunkt schon ausformuliert vorlag. In E20 lautet der Titel des II. Teils noch wie in E19 „Südbayern, Tirol und das neue Italien“, in TS1/A1 hingegen wie in E21 „Oberbayern, Tirol und das neue Italien“ (E21 und TS1/A1/BS 6 a, Bl. 37). Wahrscheinlich hatte Horváth zum Zeitpunkt von E20 also noch nicht mit der Ausarbeitung des II. Teils begonnen und erst im Laufe der Schreibarbeiten eine Änderung der Überschrift vorgenommen. Bis E30 hält er diesen Zwischentitel bei. Erst ab E34 zeichnet sich eine Änderung in „Altbayern und das heilige Land Tirol“ ab, die auch inhaltliche Änderungen nach sich zieht (vgl. TS1/A2). Mit TS1/A1 liegt in weiten Teilen der Beginn des Romans Herr Kobler wird Paneuropäer vor, wie er später auch in den Roman Der ewige Spießer (K4/TS5) übernommen wird. Ausgehend vom erfolgreichen Autoverkauf Koblers schildert Horváth darin die Planung der Reise nach Barcelona, den Abschiedsabend im Restaurant sowie den Antritt der Spanienreise mit der Fahrt über Innsbruck nach Italien. Ein markanter Unterschied gegenüber der Endfassung im Roman Der ewige Spießer besteht hinsichtlich der Struktur in Kapiteln mit entsprechenden Kapitelüberschriften, wie sie in den Strukturplänen E19 bis E21 vorgegeben werden. Damit rücken in TS1 die einzelnen Stationen, die der Protagonist passiert, deutlicher in den Vordergrund. In Der ewige Spießer wird diese Unterteilung zugunsten kleinerer Abschnitte ohne Überschriften und einfacher Kapitelnummerierung aufgelöst. Die Ausarbeitungen von TS1/A1 brechen unmittelbar vor Verona bzw. dem mit „Herr Schmitz und das Meer“ (E19 bis E21) überschriebenen 3. Kapitel ab. Rein materiell betrachtet, finden weite Teile des Durchschlags von TS1/A1 Eingang in die montierte Fassung des Spießer-Romans K4/TS3/A1.

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Chronologisches Verzeichnis

Erwähnenswert ist, dass Horváth den Kurzprosatext Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2/TS1) in TS1/A1 integriert. Die Geschichte des Fräuleins dient hier der Einführung der weiblichen Protagonistin Anna. Aus diesem Grund nimmt er eine Namensänderung von „Fräulein Pollinger“ in „Anna“ vor. Auf BS 6 a, Bl. 33 wird der Leser mit der Frage „Kennt Ihr das Märchen von Anna, dem Mädchen?“ unmittelbar angesprochen. H18 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 30v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E24 = Werkverzeichnis

H19 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 31 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E25 = Werkverzeichnis mit Notizen

H20 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 31v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E26 = Werkverzeichnis

H21 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 32 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E27 = Notizen mit Werktitel „Novellenband“

H22 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 33 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E28 = Werkverzeichnis mit Notizen

Dass die Entwürfe E24 bis E28 in kurzer Zeit hintereinander entstanden sind, legt ihre Anordnung auf einander folgenden Seiten innerhalb des Notizbuchs Nummer 6 nahe. In E24 wiederholt Horváth die bereits in E23 angeführten Werktitel und fügt die Gattungen der einzelnen Werke hinzu: Unter „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Herr Kobler wird Paneuropäer“ notiert er „Roman“, unter „Fräulein Pollinger wird sinnlich“ hingegen „Novellen“. Außerdem nennt er vier weitere Werke, darunter die Dramentitel „Unsere Universität“ und „Die Arbeitslosen“. Zu beiden Werkprojekten hatte Horváth im Notizbuch Nummer 6 etliche Strukturpläne notiert, die Stücke selbst jedoch nicht textlich ausgearbeitet. In E25 führt Horváth ein weiteres Werkverzeichnis an, bei dem allerdings „Fräulein Pollinger“ durch „Fräulein Schmidt“ ersetzt wird. Darüber hinaus fügt er einige Notizen zur Präzisierung des Novellenbandes ein: Offenbar sollen in diesem Band neun verschiedene Figuren einen Gesinnungswandel (z.B. „Herr Berger wird religiös“, „Frau Stern wird katholisch“, „Herr Sachs wird Kommunist“) durchlaufen. Diese Idee greift Horváth in E27 in ähnlicher Weise noch einmal auf. E26 enthält ein Werkverzeichnis, das neben der Sammelüberschrift „Volksstücke, Historie und Posse“ und den beiden Dramentiteln „Unsere Universität“ sowie „Die Ar-

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Konzeption 3

beitslosen“ auch die Romantitel „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Herr Kobler wird Paneuropäer“ erwähnt. In E27 greift Horváth die Überlegungen zu einem Novellenband aus E25 noch einmal auf. Im Gegensatz zu E25 schreibt er hier nicht konkreten Personen bestimmte Wandlungen zu, sondern formuliert allgemeiner: „Sieben Personen werden teils sinnlich, teils religiös“. In E28 wiederholt er die ersten drei Werktitel aus E26 und führt darunter – in Anlehnung an E27 und die Idee eines Novellenbandes – die Notiz „[z]ahlreiche Leute werden sinnlich, {erscheinen} religiös […]“ an. H22 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 34 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E29 = fragm. Strukturplan in 3 Kapiteln mit Notizen und Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“

H23 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 34v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E30 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ E31 = Werkverzeichnis

H24 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 35 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E32 = Strukturplan in 7 Teilen mit Notizen und Werktitel „Herr Schmitz und das Meer“ E33 = fragm. Strukturplan in 7 Kapiteln

E29 bis E33 befinden sich im Notizbuch Nummer 6 unmittelbar hintereinander und wurden vermutlich in einem Zug niedergeschrieben. E29 entspricht weitgehend dem Strukturplan in E21. Horváth führt diesen Plan hier allerdings nicht bis zu Ende aus, sondern konzentriert sich auf die Präzisierung des dritten Kapitels „Herr Schmitz und das Meer“. Bereits in E17 und E18 hatte er Notizen zu diesem Kapitel festgehalten, die er schrittweise bis E29 überarbeitet und ergänzt hat. Dabei variiert er hinsichtlich der Anzahl der Teile, bevor er in E29 sieben Teile endgültig fixiert. Auch E30 folgt weitgehend den Überlegungen von E21. Allerdings notiert Horváth wie in E17 zwei Kapitel IV. „Marseille“ und V. „Pyrenäen, Barcelona und die Wacht am Rhein“. Neu ist in dieser Bearbeitungsstufe die Erwähnung der „Wacht am Rhein“ (E30). Deutsch-patriotisches Gedankengut hatte Horváth bereits zuvor mit dem Hinweis auf Andreas Hofer (vgl. E14) in seinen Notizen festgehalten. Gleichzeitig geht mit der Aufspaltung von IV. „Marseille und die Pyrenäen“ (E21) eine Verschiebung der letzten drei Kapitel einher: V. „Corrida de Toros“ wird zum VI. Kapitel und unter VII. werden die beiden Unterkapitel VI. und VII. aus E21 zu „U.S.A. und Genf“ zusammengefasst. Das in E31 festgehaltene Werkverzeichnis erinnert an E28. Dort hatte Horváth bereits „Volksstück, Historie und Posse“, „Herr Reithofer wird selbstlos“, „Herr Kobler wird Paneuropäer“ sowie „Zahlreiche Leute“ angeführt. Hinzu kommen in E31 die Dramentitel „Unsere Universität“ und „Die Eishokeyleut“. Zu beiden Stücken finden sich im Notizbuch Nummer 6 zahlreiche Notizen (vgl. z.B. ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 23, 23v, 24v, 25v). E32 enthält einen detaillierten Strukturplan zum dritten Kapitel „Herr Schmitz und das Meer“, der an E29 angelehnt ist und die dort formulierten Überlegungen noch ein-

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Chronologisches Verzeichnis

mal zusammenfasst: Die Stichworte „Verona“, „Herr Schmitz und Kobler“, „Schmitz (Lebensgeschichte)“, „Milano“, „Traum“, „Das Meer – Riviera“ und „Toulon“ weisen gegenüber E29 nur geringe Änderungen auf. 5. „Milano“ rückt auf Position IV. und „Traum“ auf V. Der 6. Teil „Das Meer – Ventimiglia – Toulon“ (E29) wird in E32 aufgespalten in VI. „Das Meer – Rivera“ und VII. „Toulon“. Die topografische Anordnung von E33 lässt vermuten, dass hier eine Seite (vermutlich eine Doppelseite, da es sich um die Falzinnenseite handelt) aus dem Notizbuch Nummer 6 entfernt wurde, auf dem höchstwahrscheinlich der Beginn des Strukturplans enthalten war. Wahrscheinlich hat Horváth auf der herausgetrennten Versoseite den Beginn des siebenteiligen Strukturplans notiert, bevor er aus Platzgründen auf die gegenüberliegende Seite (ÖLA 3/W 363, Bl. 35) ausgewichen ist und dort weitergeschrieben hat. Der auf diese Weise fragm. überlieferte Strukturplan gleicht hinsichtlich der letzten vier Kapitel dem Strukturplan aus E30. H24 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 37 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E34 = Strukturplan in 7 Kapiteln mit Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“

In E34 nimmt Horváth gegenüber E30 nur wenige Änderungen vor. Den Titel des II. Kapitels ändert er in II. „Altbayern und das heilige Land Tirol“ und „Durch das neue Italien“ verschiebt er unter III. Damit entfällt III. „Herr Schmitz und das Meer“. Der Begriff „Altbayern“ impliziert weit mehr einen spezifischen Kulturraum als der bisher verwendete und auf den Regierungsbezirk bezogene Begriff „Südbayern“ (E19 und E20) bzw. der eher auf die Region verweisende Begriff „Oberbayern“ (E21). Abgesehen von V., dessen Überschrift auf „Die Pyrenäen“ gekürzt wird, bleiben alle weiteren Kapitelüberschriften erhalten. Hinter I. und II. setzt Horváth Schlusszeichen, was vermuten lässt, dass die Ausarbeitung der beiden Kapitel zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war. Hinter III. bis VII. hingegen notiert er Ziffern, die wie E20 vermuten lassen, dass es sich um Angaben zum Seitenumfang dieser Kapitel handelt. Darüber hinaus findet sich auf H24 ein Briefentwurf an einen gewissen „Flachs“, in dem Horváth ihm zur Verlobung gratuliert. Wer sich hinter diesem Namen verbirgt, konnte nicht ermittelt werden. T1 = ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 1–36, 38–62, 64–68, ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 6–8 (= Teil von K3/TS3) Insgesamt 69 Blatt, davon 66 Blatt unliniertes Papier (284 × 224 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte sowie rotem Buntstift und Bleistift, 3 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), violettes Farbband, hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 1–36, 38–62, 64–68 auf BS 6 a, Bl. 1–36, 38–62, 64–68, Paginierung 37, 63, 64 auf BS 6 b, Bl. 6–8 TS1/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 6 a, Bl. 1–36, BS 6 b, Bl. 6, BS 6 a, Bl. 38–62, BS 6 b, Bl. 7, 8, BS 6 a, Bl. 64–68 (Korrekturschicht), nicht gedruckt

Mit TS1/A2 liegt eine geringfügig überarbeitete Fassung von TS1/A1 vor. Horváth nimmt hier einige Detailänderungen vor, die Parallelen zu dem Strukturplan in E34 aufweisen, der vermutlich im Kontext dieser Überarbeitung entstanden ist. In TS1/A2 tippt er lediglich drei neue Blätter, um neue Kapitelüberschriften einzufügen und die entstandenen Übergänge anzugleichen. Von diesen drei Blättern sind im Nach-

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Konzeption 3

lass außerdem Durchschläge (BS 6 b, Bl. 9–11) überliefert, die jedoch keine Bearbeitungsspuren aufweisen und aus diesem Grund im Rahmen der Edition keine Berücksichtigung finden. In TS1/A2 ersetzt Horváth die Überschrift des 2. Kapitels „Oberbayern, Tirol und durch das neue Italien“ (TS1/A1/BS 6 a, Bl. 37) durch „Altbayern und das heilige Land Tirol“ (BS 6 b, Bl. 6) und nimmt marginale textliche Änderungen vor. Das Blatt TS1/A1/BS 6 a, Bl. 63 ersetzt er durch BS 6 b, Bl. 7, 8 und fügt dabei die Kapitelüberschrift „Durch das neue Italien“ ein. Gleichzeitig passt er die Paginierung den neuen Textpassagen entsprechend an. Die neue Textgliederung entspricht den Vorgaben im Strukturplan E34, der die Unterteilung des zweiten Teils vorgesehen hatte. Aus diesem Grund ist TS1/A2 in der genetischen Reihe frühestens nach E34 einzuordnen. Auch die Schlusszeichen hinter dem II. Teil in E34 lassen vermuten, dass die Überarbeitung von TS1/A2 zur gleichen Zeit stattgefunden hat. H26 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 37v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E35 = Werkverzeichnis

Das Werkverzeichnis in E35 korrespondiert mit den Werkverzeichnissen in E24, E26, E28 und E31. Nach wie vor erscheinen die Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“ nebeneinander, was für die Eigenständigkeit beider Projekte spricht. Den Dramentitel „Die Arbeitslosen“ präzisiert Horváth in einem Korrekturvorgang mit Hilfe der attributiven Ergänzung „Eschendorfer“. Neu ist auch der Untertitel von „Die Eishokeyleut“. Hier ergänzt er „Das Propagandaspiel“ und „Ein Lustspiel“. Überlegungen zu dieser Titelvariante hatte er bereits auf ÖLA 3/ W 363 – o. BS, Bl. 23 festgehalten. Als Letztes notiert Horváth den Titel „Grossmütterleins Redoute“. Konkrete Ausarbeitungen zu einem Projekt mit diesem Titel sind nicht überliefert. Der Werktitel erinnert jedoch an die Überlegungen in Konzeption 1: Roman einer Kellnerin. In K1/TS7 hatte Horváth die Redoute in München geschildert, auf der die Großmutter Charlottes von einem Attaché geschwängert wird. Neben E35 finden sich auf H26 außerdem ein Personenverzeichnis und einige Notizen zu dem Hörspiel „Ein Tag eines Mannes“. H27 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 40v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E36 = Strukturplan in 2 Kapiteln mit Notizen und Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“

Der Strukturplan E36 ist nur fragm. überliefert. Vermutlich wurden hier Blätter aus dem Notizbuch herausgetrennt. In E36 greift Horváth Ideen aus E20 auf. Das I. Kapitel verändert er dabei nur geringfügig, indem er den Besuch im „Reisebüro“ und im „Schellingsalon“ (womit vermutlich das Café gemeint ist) trennt und damit die Zahl der Teile von sieben auf acht erhöht. Im II. Kapitel zeichnen sich gegenüber E20 jedoch gravierende Veränderungen ab: „Diskurs in Oberbayern“, „Zugspitze und Konkordat“, „Der Chauffeur“, „Durch die nördlichen Kalkalpen“, „Andreas Hofer und die Juden“ und „Brenner“ sind zwar Stichworte, die in den Entwürfen E10, E14 und E17 genannt wurden, aber ihre Zusammenstellung ist neu. Offenbar ordnet Horváth die ein-

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Chronologisches Verzeichnis

zelnen Themenkomplexe im II. Kapitel neu an. Welche Strategie er mit dieser Neuordnung verfolgt, bleibt jedoch unklar. Zudem spricht er hier wieder von „Oberbayern“, nachdem er in E34 das II. Kapitel mit „Altbayern und das heilige Tirol“ überschrieben und diese Änderung in TS1/A2 masch. fixiert hatte.

H28 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 41 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), Bleistift E37 = Strukturplan in 13 Kapiteln mit Notizen

E37 markiert innerhalb der Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer den Übergang zu einer neuen Struktur. Horváth gibt die Anlage des Romans in sieben Kapiteln mit Unterteilungen zugunsten einer gleichrangigen Anordnung in dreizehn Kapiteln auf. Dabei konstruiert er eine Kreisstruktur, an deren Anfang und Ende jeweils die „Schellingstrasse“ steht. Abgesehen von den neuen Kapitelüberschriften II. „Inflation der Sieger“ und III. „Anna, das Mädchen“ rücken die einzelnen Stationen der Reise stärker in den Vordergrund, wenn es heißt: IV. „Hundert Kilometer Altbayern“, V. „Durch die nördlichen Kalkalpen“, VI. „Durch das neue Italien“ usw. Außerdem notiert Horváth in E37 einen „Vorspruch“, der bereits stark an das Vorwort des Romans Der ewige Spießer (vgl. K4/TS5/S. 7) erinnert: „In diesem Buche wird versucht den werdenden europäischen Kleinbürger zu schildern –“. Bemerkenswert sind überdies die Schlusszeichen, die Horváth hinter den Kapitelüberschriften I bis VIII setzt. Vermutlich war die Be- bzw. Überarbeitung der Textfassung dieser Kapitel zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Hinsichtlich der materiellen Beschaffenheit von H28 ist die veränderte Schreibrichtung auffallend: Horváth beschreibt das Notizbuch mit Bleistift von der anderen Seite und auf dem Kopf. Da der Entwurf zu dem Kurzprosatext „Mein Selbstmord“, von dem keine weiteren Ausarbeitungen erhalten sind, auf der Versoseite ebenfalls auf dem Kopf steht und es sich in diesem Fall um ein wieder eingeklebtes Blatt handelt, lässt sich nicht endgültig klären, ob das Blatt im Zuge der Restaurierung des Notizbuchs falsch eingefügt wurde.

T2 = ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 4, 5 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), violettes Farbband, hs. Eintragungen mit Bleistift und rotem Buntstift, Paginierung 10, 11 TS2 = fragm. Fassung (Grundschicht) Druck in: KW 12, S. 308f.

Bei TS2 handelt es sich um zwei ausgeschiedene Blätter einer Überarbeitung, die im Anschluss an TS1/A2 stattgefunden hat. Sowohl Schreibmaschinentype (markante Type mit verwischten Buchstaben), verwendetes Papier (entspricht den Neubearbeitungen von TS1/A2/BS 6 b, Bl. 6–8) als auch die masch. Paginierung 10, 11 lassen TS2 als Neubearbeitung identifizieren. TS2 selbst lässt sich jedoch weder inhaltlich noch materiell in die überlieferten Textstufen integrieren. Wahrscheinlich war TS2 als Teil des IX. Kapitels „Marseille“ (E37) gedacht, wo Kobler in TS3/BS 7 a, Bl. 20f. rückblickend das Erleben einer Filmvorführung im Bordell schildert. Möglicherweise entspricht die Prostituierte mit dem Namen „Inge“ (BS 6 b, Bl. 4) auch der später er-

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Konzeption 3

wähnten „Irmgard“ (TS3/BS 7 a, Bl. 15). Das Gespräch zwischen Kobler und Schmitz über den Lustmord hingegen geht später in ähnlicher Weise in die Beschreibung des Stierkampfes (vgl. TS3/BS 7 a, Bl. 35) ein. T3 = ÖLA 3/W 143 – BS 6 a, Bl. 1–36, 38–62, 64–68, ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 6–8, 12, ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 62–78, 80, 81, ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 2–32, 35–41, 44 Insgesamt 131 Blatt, davon 66 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte sowie rotem Buntstift und Bleistift, Paginierung 1–36, 38–62, 64–68 auf BS 6 a, Bl. 1–36, 38–62, 64–68; 3 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), violettes Farbband, 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), 1 Blatt unliniertes Papier (239 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, hs. Eintragungen mit Bleistift, schwarzgrüner Tinte und rotem Buntstift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 37, 63, 64 auf BS 6 b, Bl. 6–8, Paginierung 60, 61, 62 auf BS 6 b, Bl. 12–14; 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (281 × 222 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (188 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (306 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (293 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), violettes Farbband, hs. Bearbeitungen mit Bleistift und schwarzer Tinte, 1 Blatt unliniertes Papier (315 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (337 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (394 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (334 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (311 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (353 × 222 mm), Durchschlagpapier, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (322 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (309 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (267 × 222 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 223 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (222 × 222 mm), violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzer und schwarzgrüner Tinte, rotem und blauem Buntstift sowie Bleistift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 64–80, 82, 83 auf BS 7, Bl. 62–78, 80, 81; 17 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 7 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 218 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (221 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (383 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (384 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (363 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (293 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (238 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (171 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (250 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (294 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (301 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (334 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (306 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (318 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (391 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband,

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Chronologisches Verzeichnis

1 Blatt unliniertes Papier (312 × 220 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, Bleistift und rotem Buntstift; hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand und mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 38–59, 62–68, 71 auf BS 7 a, Bl. 1–32, 35–41, 44 TS3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 6 a, Bl. 1–36, BS 6 b, Bl. 6, BS 6 a, Bl. 38–62, BS 6 b, Bl. 7, 8, BS 6 a, Bl. 64–68, BS 7, Bl. 62–78, 80, 81, BS 7 a, Bl. 2–32, BS 6 b, Bl. 12, BS 7 a, Bl. 35–41, 44 (Korrekturschicht: schwarze und grüne Tinte, Bleistift)

Im Zuge der Arbeiten an TS3 setzt Horváth die Aus- und Überarbeitung des Romans gemäß den Überlegungen in E37 fort. Zwar ist aus dieser Arbeitsphase keine zusammenhängende Fassung überliefert, ein Teil der in die montierte Spießer-Fassung (K4/TS3) eingegangenen Blätter weist jedoch unzweifelhaft Merkmale einer Bearbeitung auf, die noch im Rahmen von Konzeption 3 vorgenommen wurde und die sich als Fortsetzung der Arbeiten an TS1/A2 und TS2 identifizieren lassen. So handelt es sich beispielsweise bei den ersten Blättern von K4/TS3 (BS 7, Bl. 3–34) um Durchschläge von TS1/A1/BS 6 a, Bl. 1–68, die Spuren einer hs. Bearbeitung aufweisen. Auch die Blätter mit der markant verwischten Type aus der Mappe BS 7 a lassen sich dieser Arbeitsphase zuzuordnen. Zudem sind sowohl in der Grund- als auch Korrekturschicht der montierten Fassung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS3) Kapitelüberschriften zu entdecken, die aus der Arbeit an Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer stammen und mit denen im Strukturplan E37 übereinstimmen. So trägt Horváth auf K4/TS3/A1/BS 7, Bl. 29 hs. die Kapitelüberschrift „Anna, das Mädchen“ ein, bevor er sie in einem weiteren Bearbeitungsschritt wieder streicht. Darüber hinaus finden sich in der masch. Grundschicht die Kapitelüberschriften „Durch das neue Italien“ (BS 6 b, Bl. 8), „Milano umsteigen“ (BS 7, Bl. 75), „Durch die Pyrenäen“ (BS 7 a, Bl. 16) und „Endlich in Barcelona“ (BS 7 a, Bl. 27), die den Vorgaben in Strukturplan E37 entsprechen. Während der Arbeit am Kobler-Projekt hat Horváth einzelne Kapitel jeweils mit der Paginierung 1 begonnen. Erst im Rahmen der Neuzusammenstellung in Konzeption 4 gleicht er die Paginierung hs. an. Die ursprüngliche masch. Paginierung bildet ein eindeutiges Indiz einer früheren Arbeitsphase. Beispielsweise auf BS 7, Bl. 63–70 findet sich die Paginierung 2 bis 11, was annehmen lässt, dass Horváth das Kapitel „In Verona umsteigen“ mit der Paginierung 1 begonnen hatte. Auch die Kapitel „Durch die Pyrenäen“ (BS 7 a, Bl. 16) und „Endlich Barcelona“ (BS 7 a, Bl. 27) setzen mit der Paginierung 1 ein. Aufgrund all dieser Charakteristika lässt sich TS3 als letzte zusammengehörige, aber nur fragm. überlieferte Fassung des Kobler-Projektes konstitutieren. Auf einigen Blättern bzw. eingeklebten Blattteilen (ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 8, 10, 16, 25, 27, 36, 38, 41) finden sich mit Bleistift römische Kapitelnummerierungen eingetragen, die Horváth darüber hinaus mit rotem Buntstift markiert. Das Material, auf dem er diese Ergänzungen ausführt, verwendet er erst im Zuge der Bearbeitung in Konzeption 4. Aus diesem Grund ist die Kapitelnummerierung auch dieser Arbeitsphase zuzuordnen und wird dementsprechend in der vorliegenden Textstufe nicht dargestellt. Vermutlich hatte Horváth den Roman fast vollständig ausgearbeitet, bevor er sich gegen das Projekt in dieser Form entschied und Teile der Ausarbeitungen in den Roman Der ewige Spießer übernahm. Da die montierte Spießer-Fassung (K4/TS3/A1) etliche Schnitt- und Klebekanten aufweist, ist davon auszugehen, dass Horváth für die Integration des Romans Herr Kobler wird Paneuropäer in die Spießer-Fassung

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Konzeption 4

Kürzungen vorgenommen hat. Der Handlungsverlauf von TS3 sowie die Textgliederung mit Zwischenüberschriften entsprechen jedoch den Vorgaben im Strukturplan E37. H29 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 36v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), Bleistift E38 = fragm. Strukturplan in 67 Teilen und Notizen

Obgleich sich E38 innerhalb des Notizbuchs einige Seiten vor E37 befindet, ist davon auszugehen, dass dieser Entwurf wahrscheinlich erst nach Ausarbeitung von Herr Kobler wird Paneuropäer (TS3) auf einer leeren Seite eingetragen wurde. Die Strukturierung in 67 Teilen, die Horváth durch die Nummerierung vorgibt, aber nicht im Detail ausführt, ist neu. Inhaltlich greift der Autor dabei auf Ideen aus seinem Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos (K2) zurück, wenn er etwa das Kennenlernen von Herrn Reithofer und Fräulein Pollinger umreißt. So heißt es: 1.) „Der Herr Reithofer spricht das Frl. Pollinger an und dann spricht man über allerhand“, 2.) „Die Liebe auf den ersten Blick“, 3.) „Man spricht wieder über allerhand“, 4.) „Der Herr Reithofer fangt mit {der} Gräfin an“, 5.) „Und jetzt gehts halt so dahin“ und 6.) „Der Herr Reithofer markiert den Kavalier“. Auch das Stichwort „Der Kanari“ unter 7.) ist dem Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos zuzuordnen. Danach bricht Horváth die Aufzählung ab und notiert am Fußende des Blattes „67) Epilog“. Vermutlich stammen diese Notizen aus der Übergangsphase zum Roman Der ewige Spießer (K4) und markieren gleichzeitig das konzeptionelle Ende des Romanprojekts Herr Kobler wird Paneuropäer.

Konzeption 4: Der ewige Spießer Zu dieser Konzeption sind nur wenige hs. Entwürfe in den Notizbüchern Nummer 3 und Nummer 5 überliefert. Über die Entwürfe im Notizbuch Nummer 3 lässt sich der Beginn der Schreibarbeiten an dem Roman auf das Frühjahr 1930 datieren. Die masch. Ausarbeitungen insbesondere der ersten Gesamtfassung TS3 weisen eine Besonderheit auf: Sie machen deutlich, dass Horváth hier weder inhaltlich noch materiell einen wirklich neuen Text erarbeitet hat, sondern vorwiegend auf Material aus früheren Bearbeitungsstufen zurückgreift, das er zu einer neuen Fassung montiert. Hierzu verwendet er Durchschläge und originale Textteile aus den Konzeptionen 2 und 3, die er (indem er schneidet und klebt) neu zusammenstellt, textlich überarbeitet und für die er neue Textübergänge schafft. TS3 erweist sich so als eine Montage vor allem der Endfassungen von Herr Reithofer wird selbstlos (K2/TS8) und Herr Kobler wird Paneuropäer (K3/TS1 und TS3), die bereits selbst einen teilweise recht starken Montagecharakter aufgewiesen haben. Anhand der Schreibmaschinentype, Papierqualität und anderer materialer Merkmale lassen sich in TS3 insgesamt zwölf verschiedene Materialschichten nachweisen, die aus verschiedenen Arbeitsphasen stammen. Um dies sichtbar und den Entstehungsprozess von TS3 transparent zu machen, erläutert eine Aufstellung (in diesem Band, S. 918–20) die Beschaffenheit der einzelnen Schichten; eine Übersichtsgrafik (in diesem Band, S. 917) weist das erstmalige Vorkommen des jeweiligen Materials im Entstehungsprozess sowie die kom-

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Chronologisches Verzeichnis

plexen Materialwanderungen nach. Auch im Abdruck des Lesetextes von TS3 wird der Wechsel der Materialschichten angezeigt, sodass der auffällige Montagecharakter der Textstufe im Detail nachvollzogen werden kann. Bei der nachfolgenden Fassung TS4 handelt es sich bereits um das Einreichmanuskript für den Verlag. Laut einer Anmerkung auf dem letzten Blatt des Typoskripts wurde es am 11. Juli 1930 satzfertig in die Setzerei des Ullstein-Verlags gegeben. Es enthält neben letzten Korrekturen des Autors auch zahlreiche Korrekturen des Lektors und Markierungen des Setzers. In Buchform erschien Der ewige Spießer im Propyläen-Verlag am 6. Oktober 1930 in zwei textidentischen Ausgaben, broschiert zu 3 und in Leinen gebunden zu 4,50 Reichsmark. H1 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 4v, 5 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E1 = Werkverzeichnis mit Werktitel „Der ewige Spiesser. Roman in drei Teilen“ (rechts oben) E2 = Werkverzeichnis mit Werktitel „Der ewige Spiesser. Roman“ (links)

Horváth eröffnet das Notizbuch Nummer 3 mit dem Entwurf einer Entgegnung auf einen Artikel im „‚Murnauer Tagblatt‘ Nu 60 vom 13. März 30“ (ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 1). Auf ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 8, 9 finden sich Notizen zu dem Text Brief aus Hinterhornbach, der am 30. März 1930 im Berliner Tageblatt erschienen ist. Auf ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 21, 22 notiert Horváth einen Briefentwurf an Heinrich Mann, mit dem er auf dessen am 4. April 1930 in der Literarischen Welt erschienene Rezension (Heinrich Mann: „Gelegentlich der jüngsten Literatur“) der von Hermann Kesten im Berliner Kiepenheuer-Verlag herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler reagiert. Sämtliche Notizen zum Roman Der ewige Spießer finden sich im Notizbuch Nummer 3 zwischen dem erst- und drittgenannten Text eingetragen, wodurch sie auf die Zeit zwischen Mitte März und Anfang April 1930 zu datieren sind. Außerdem befinden sich in dem Notizbuch auch Überlegungen zu dem im Herbst 1930 vom Ullstein-Verlag angenommenen Drama Ein Wochenendspiel (später: Italienische Nacht), an dem Horváth zeitgleich gearbeitet hat. Die genetische Reihe von E1 bis E7 ist durch ihre Abfolge im Notizbuch vorgegeben. Der Zusammenhalt von E1 und E2 ergibt sich durch ihre topografische Anordnung auf einer Doppelseite des Notizbuchs. E1 enthält den Romantitel „Der ewige Spiesser“, der hier erstmals genannt wird. Mit dem Untertitel „Roman in drei Teilen“ wird die Idee der Dreiteilung des Romans erstmals erwähnt. Unter dem Romantitel notiert Horváth den Titel „Stunde der Liebe 1930. Ein Hörspiel“, was die entstehungsgeschichtliche Nähe beider Werke unterstreicht. Beide Werktitel werden gestrichen. Rechts daneben schreibt Horváth noch einmal „Stunde der Liebe 1930 / 7 Szenen für Rundfunk“. In E2, der sich auf dem gegenüberliegenden Blatt befindet, hält Horváth den Romantitel „Der ewige Spiesser“ neben der Sammelüberschrift „Dramatische Skizzen“ fest, unter der die Titel „Die Bergbahn / Historie vom Schwarzen Reichswehrmann / Stunde der Liebe / Rund um den Kongress“ angeführt werden. Diese Aufzählung streicht der Autor wieder und notiert sie darunter erneut. Des Weiteren ergänzt er in E2 den Titel „Ein Wochenendspiel. in drei Akten“.

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Konzeption 4

H2 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 7 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E3 = Werkverzeichnis mit Werktitel „Herr Reithofer wird selbstlos“ und Strukturplan in 3 Teilen E4 = Notizen und 3 Motti

Das Werkverzeichnis in E3 führt neben dem Dramentitel „Ein Wochenendspiel in drei Akten“ den Romantitel „Herr Reithofer wird selbstlos“ an und gibt mit den Titeln „Herr Kobler wird Paneuropäer“, „Fräulein Pollinger wird praktisch“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“ eine Dreiteilung vor. Unklar bleibt, ob Horváth zu diesem Zeitpunkt von zwei Romanprojekten ausgeht, nämlich von „Der ewige Spiesser. Roman in drei Teilen“ (E1) und „Herr Reithofer wird selbstlos“, der laut E3 die Struktur des späteren Spießer-Romans haben soll, oder ob es sich um ein und dasselbe Projekt mit verschiedenen Werktiteln handelt. E4 enthält Notizen und drei Motti. Als 1. notiert Horváth unter „Zitat: von Freud“ den Ausspruch: „Denn das höchste auf der Welt, das ist die menschliche Solidarität“. Offenbar geht er irrtümlich davon aus, dass dieser Gedanke von Freud stammt, obwohl der Satz eher sozialdemokratischem Gedankengut zuzuordnen ist. Unter 2. notiert er „Spiesser = Mehrig“ und darunter „Grethe“. Es bleibt unklar, was damit gemeint ist, zumal der Name „Mehrig“ ansonsten in den Materialien zur Spießer-Prosa nicht auftaucht. Unter 3. erscheint der Ausspruch aus Nietzsches Gedicht „Aus hohen Bergen“ (Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 6. Abteilung, 2. Band: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886–1887). Berlin: de Gruyter 1969, S. 151ff.) „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“. Den unter 4. angeführten Spruch aus dem ersten Brief an die Korinther „Und die Liebe höret nimmer auf“ (1 Kor 13,8), der auch Motto des 1932 entstandenen Volksstücks Kasimir und Karoline ist, stellt Horváth später dem 3. Teil des Romans Der ewige Spießer als Motto voran. H3 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 11v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E5 = fragm. Strukturplan

E5 enthält einen fragm. gebliebenen Strukturplan in zwei Teilen, der den Titel „Das Märchen vom Fräulein Pollinger“ enthält. Den Kurzprosatext hatte Horváth bereits für den Roman Herr Kobler wird Paneuropäer (K3) adaptiert. Offenbar plante er auch eine Aufnahme in das Romanprojekt Der ewige Spießer, in das der Kurzprosatext dann tatsächlich Eingang findet (vgl. TS4/BS 8, Bl. 30). Die Positionierung an erster Stelle des Strukturplans lässt allerdings vermuten, dass dem Text ursprünglich eine bedeutsamere Funktion als die einer Anekdote zugedacht war. Möglicherweise versucht sich Horváth hier erstmals an der Konzeption eines mehrteiligen Romans, wie er ihn in E7 entwirft, bricht diesen Entwurf jedoch nach dem ersten Teiltitel ab.

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H4 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 13 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E6 = Werkverzeichnis mit Personenverzeichnis

E6 enthält ein Werkverzeichnis, das die Romantitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“ nebeneinander (wie bereits in K3/E26) und darüber hinaus den Dramentitel „Ein Wochenendspiel“ anführt, dem ein Personenverzeichnis beigestellt wird. Den Werktitel „Herr Reithofer wird selbstlos“ versieht Horváth mit dem Untertitel „Ein Spiesserbuch“; vermutlich wollte er dem bis dato unveröffentlichten Roman eine deutlichere thematische Ausrichtung verleihen. Gleichzeitig deutet der Untertitel den Übergang zum Spießer-Projekt an, was mit dem Strukturplan in E7 unterstrichen wird. Vermutlich sollte das Projekt zum damaligen Zeitpunkt eine andere Form erhalten, als sie in der Endfassung (TS5) vorliegt. Die Nennung der beiden Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“ nebeneinander macht deutlich, dass Horváth nach wie vor an zwei selbstständigen Projekten festhält. Hinter beiden Werktiteln ist eine Umfangsangabe von „200 Seiten“ eingetragen. H5 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 16, 17 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte TS1 = Fassung mit Werktitel „Marianne oder: Das Verwesen / Eine Novelle“ (Grundschicht) Druck in: KW 15, S. 16

H6 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 17v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E7 = Werkverzeichnis mit Werktitel „Herr Kobler wird Paneuropäer. Roman“ und Werktitel „Herr Reithofer wird selbstlos. Ein neues Spiesserbuch“ mit Strukturplan Druck in: GW IV, S. 38*, KW 12, S. 320f.

H7 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 22v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E8 = gestrichener Werktitel „Marianne oder: Das Verwesen“

TS1 und E7 befinden sich im Notizbuch in unmittelbarer Nachbarschaft und gehören thematisch zu E8. In TS1 arbeitet Horváth den Kurzprosatext „Marianne oder: Das Verwesen“ hs. aus und versieht ihn mit der Gattungsbezeichnung „Novelle“. Auf den ersten Blick lässt dieser Text keine inhaltlichen Bezüge zu dem Romanprojekt Der ewige Spießer erkennen. Er ist jedoch aus zweierlei Gründen interessant: Auf der einen Seite stellt der Text eine Station innerhalb der Genealogie des Horváth’schen Fräuleins dar, die Dramen wie Geschichten aus dem Wiener Wald, Rund um den Kongreß und die Spießer-Prosa verbindet. Mit der Namensnennung „Marianne“ wird vermutlich zum ersten Mal der Name der weiblichen Protagonistin des Volksstücks Geschichten aus dem Wiener Wald erwähnt (vgl. Klaus Kastberger: Der Nachlaß Ödön von Horváths am Österreichischen Literaturarchiv. Perspektiven für die Forschung. In: Ute Karlavaris-Bremer, Karl Müller, Ulrich N. Schulenburg (Hg.): Geboren in

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Fiume. Ödön von Horváth 1901–1938. Lebensbilder eines Humanisten. Wien: Löcker/ Sessler, 2001, S. 27–42, hier S. 34f.) Die Aussage „Kampf der Triebe gegen die Kultur“ (TS1) verweist auf den Grundtenor der Volksstücke Horváths. Der beschriebene Prozess der Verwesung kann als Allegorie dafür gelten, was den weiblichen Figuren in Horváths Stücken auf der Bühne widerfährt: Durch widrige soziale Umstände werden sie immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt und verstummen im Bühnengeschehen zunehmend (vgl. z.B. Geschichten aus dem Wiener Wald, Glaube Liebe Hoffnung, Eine Unbekannte aus der Seine). Dieses Schicksal teilt Anna Pollinger in Der ewige Spießer in gewisser Hinsicht mit anderen Fräuleinfiguren in Horváths Texten: Durch wirtschaftliche Not gerät sie auf Abwege, gibt emotionale Beziehungen zu Männern zunehmend auf und wird zur Prostituierten. Auf der anderen Seite ordnet Horváth den Text „Marianne oder: Das Verwesen“ der Spießer-Prosa zu. In E7 grenzt er die beiden Romanprojekte „Herr Kobler wird Paneuropäer“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“ wie in E6 noch einmal deutlich voneinander ab. Letzteres bezeichnet er erneut als „neues Spiesserbuch“ und notiert eine Struktur in acht Teilen. Teiltitel sind neben „Marianne oder die Verwesung“ „Fräulein Pollinger wird praktisch“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“, die bereits in E3 genannt wurden, „Frau Schmidt wird sinnlich“, „Herr Maxheimer wird gottlos“, „Herr Studienrat Niemeyer wird korrekt verrückt“, „Herr Alfred Kastner stirbt“ und „Hochwürden werden sinnlich“. Der Strukturplan verdeutlicht, dass Horváth in dieser Arbeitsphase unter dem Werktitel „Herr Reithofer wird selbstlos“ ein anderes Werkprojekt entwirft als in Konzeption 2. Der hier projektierte Roman soll sich offenbar aus einer Reihe abgeschlossener Geschichten zusammensetzen, in denen individuelle Entwicklungen einzelner Figuren geschildert werden, die sich unter der Überschrift „Spiesserbuch“ subsumieren lassen. Hinsichtlich der Struktur weist E7 Parallelen zu K3/E25 bis E28 auf. Dort hatte Horváth bereits einen Novellenband entworfen, in dem der Gesinnungswandel einzelner Figuren dargestellt werden sollte. Einige der in E7 erwähnten Figurennamen sind bereits aus den Werkprojekten Herr Reithofer wird selbstlos (K2) oder Herr Kobler wird Paneuropäer (K3) bekannt. So findet sich in K2/TS5 erstmals der Hinweis auf einen „Studienrat Niemeyer“, und K2/TS6 enthält eine Episode über einen „Studienrat Niemeyer“ aus der Schellingstraße. Dort wird er u.a. als „[g]eistig gebrochen“ (BS 4 d [2], Bl. 4) beschrieben, nachdem er seinen Sohn im Krieg verloren hatte. Auch der Name Alfred Kastner wird bereits in Konzeption 2: Herr Reithofer wird selbstlos erwähnt. Im Nachlass Ödön von Horváths ist zudem ein Kurzprosatext mit dem Titel „In memoriam Alfred“ (ÖLA 3/W 209 – BS 47 o, Bl. 1, 2) überliefert, der sich mit dem Tod Alfred Kastners auseinandersetzt. Hinsichtlich seiner Gestalt ähnelt er den Kurzprosatexten, die Horváth Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre verfasste. Vermutlich war der Text Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET2/TS1) für die Einzelpublikation in einer Zeitung vorgesehen. Möglicherweise plante Horváth in E7 eine Zusammenstellung solcher anekdotenhafter Kurzprosatexte, wie er sie Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre vielfach geschrieben hatte. Die Werkaufstellung in E7 führt außerdem den Titel „Hannes, das Arbeiterkind. Ein Märchenbuch“ an. Zu diesem Werkprojekt ist im Nachlass nur ein hs. Entwurf (ÖLA 3/W 335 – BS 12 b [3], Bl. 4) überliefert, der mit 11. Juni 1930 datiert ist. Der Prosatext, der um den Jungen Hannes kreist, der sich aufgrund seiner herausragenden Intelligenz als etwas „Besonderes […], etwas ganz grosses“ (BS 12 b [3], Bl. 1) empfindet, wurde von Horváth nicht zu Ende ausgeführt.

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E8 enthält noch einmal den Werktitel „Marianne oder: Das Verwesen“ als Einzeltitel, wird von Horváth jedoch wieder gestrichen. Auf dem Blatt darunter befindet sich ein Personenverzeichnis zu dem ebenfalls 1930 erarbeiteten Stück „Ein Wochenendspiel“ (später: Italienische Nacht). T1 = ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 1–3 Insgesamt 3 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier (283 × 223 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (112 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag, (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, Bleistift und rotem Buntstift, Paginierung 9, 13 TS2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 6 b, Bl. 3, 1, 2 (Korrekturschicht)

Bei T2/BS 6 b, Bl. 1–3 handelt es sich um Durchschläge von K3/TS1/A1/BS 6 a, Bl. 9, 13 und 8, die im Zuge der Montagearbeiten von TS3 ausgeschieden wurden. Die Blätter weisen hs. Korrekturen mit Tinte, Bunt- und Bleistift auf, die frühestens im Rahmen der Überarbeitungen von Konzeption 4 entstanden sein können. Offenbar hat sich Horváth nach der Überarbeitung im Zuge der Montage des Romans Der ewige Spießer gegen diese Textpassagen entschieden. Dafür spricht u.a. die Tatsache, dass BS 6 b, Bl. 3 von dem in TS3 eingegangenen Blatt BS 7, Bl. 10 abgeschnitten wurde. Alle drei Blätter weisen zudem markante Streichungen auf, die mit rotem Buntstift und Bleistift vorgenommen wurden. T2 = ÖLA 3/W 144 – BS 6 b, Bl. 12–14, ÖLA 3/W 145 – BS 7, Bl. 1–81, ÖLA 3/W 146 – BS 7 a, Bl. 1–91 Insgesamt 175 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), 1 Blatt unliniertes Papier (239 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzgrüner Tinte, Bleistift und rotem Buntstift, Paginierung 60–62 auf BS 6 b, Bl. 12–14; 36 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Durchschlag (Blaupapier), 6 Blatt unliniertes Papier (284 × 224 mm), Durchschlag (Blaupapier), 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes Farbband, 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 221 mm), Durchschlag (Blaupapier), 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (172 × 223 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (161 × 223 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (287 × 223 mm), Durchschlagpapier, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (358 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (301 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (163 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (391 × 223 mm), Durchschlagpapier, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (222 × 224 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (293 × 223), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, teilweise Durchschlag (Kohlepapier), teilweise schwarzes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (225 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (327 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, teilweise Durchschlag (Blaupapier), teilweise violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (291 × 225 mm), Durchschlagpapier, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (281 × 222 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (188 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (306 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-

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Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (293 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (315 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (337 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (394 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (334 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (311 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (353 × 222 mm), Durchschlagpapier, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (322 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (309 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (267 × 222 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 223 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (222 × 222 mm), violettes Farbband, hs. Eintragungen mit schwarzer und schwarzgrüner Tinte, rotem und blauem Buntstift sowie Bleistift, hs. Eintragungen mit Kugelschreiber von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 3–83 auf BS 7, Bl. 1–81; 31 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), violettes Farbband, 7 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 3 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 218 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (221 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (383 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (384 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (363 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (293 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (238 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (171 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (250 × 223 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (294 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (301 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (334 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (306 × 222 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (318 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (391 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (312 × 220 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt liniertes Papier (328 × 208 mm), violettes Farbband, 1 Blatt liniertes Papier (190 × 208 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (315 × 215 mm), unregelmäßig geschnitten, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 220 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (235 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (180 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (308 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (195 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (280 × 218 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt unliniertes Papier (341 × 218 mm), unregelmäßig geschnitten, Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt unliniertes Papier (288 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt unliniertes Papier (175 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (330 × 221 mm), unregelmäßig geschnitten, teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 221 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (293 × 221 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (305 × 221 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Kohlepapier), 1 Blatt un-

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liniertes Papier (308 × 219 mm), unregelmäßig geschnitten, teilweise violettes Farbband, Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 219 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (328 × 221 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (338 × 225 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (307 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (258 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (288 × 222 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (353 × 221 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (335 × 221 mm), violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (302 × 221 mm), unregelmäßig geschnitten, violettes Farbband, 1 Blatt unliniertes Papier (329 × 220 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (315 × 221 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 221 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (314 × 216 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 221 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (236 × 217 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 217 mm), teilweise violettes Farbband, teilweise Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte, Bleistift und rotem Buntstift, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand und mit Kugelschreiber von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), Paginierung 28–71, 129–158, 160–176 auf BS 7 a, Bl. 1–91 TS3/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 7, Bl. 1–81, BS 7 a, Bl. 1–32, BS 6 b, Bl. 12–14, BS 7 a, Bl. 35–91 (Korrekturschicht) TS3/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 7, Bl. 1–81, BS 7 a, Bl. 1–91 (Korrekturschicht); nicht gedruckt

TS3/A1 stellt die früheste überlieferte Fassung und gleichzeitig die erste Gesamtfassung des Romans Der ewige Spießer dar. Der Zusammenhalt des Materials, das aus verschiedenen Berliner Mappen stammt, lässt sich aus mehreren Gründen rechtfertigen: Laut der ursprünglichen Paginierung (Grundschicht) des Materials aus der Mappe BS 7 setzt der Text mit Pag. 1 ein. Durch die Beigabe des Vorworts und die Teilüberschrift „Herr Kobler wird Paneuropäer“ (BS 7, Bl. 2) musste diese Paginierung von Horváth nachträglich hs. angeglichen werden. Das letzte Blatt der Mappe BS 7, Bl. 81 trägt in der Grundschicht die Paginierung 27. Daran schließt das erste Blatt der Mappe BS 7 a, Bl. 1 mit der Paginierung 28 an. Offenbar hat Horváth die hs. Korrektur der Paginierung nicht konsequent weitergeführt und das Material aus der Mappe BS 7 a unabhängig von dem aus der Mappe BS 7 bearbeitet. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Kapitelzählung bei diesem Anschluss nicht stimmt und die Mappe BS 7 mit dem Kapitel XIV endet, wohingegen die Mappe BS 7 a mit Kapitel XVI einsetzt. Dessen ungeachtet liegt bei den Blättern beider Mappen eine Kapitelnummerierung mit römischen Ziffern vor, die, sofern sie auf den überarbeiteten Seiten bereits in der Grundschicht vorlag, von Horváth mit rotem Buntstift eingekreist oder nachgetragen wurde. Die Kapitelnummerierung mit römischen Ziffern ist Kennzeichen der vorliegenden Bearbeitungsstufe; in der folgenden Fassung TS4 verwendet Horváth wieder arabische Ziffern. Auch textlich schließt das Material von BS 7 a unmittelbar an das der Mappe BS 7 an. Mit dem Material aus diesen beiden Mappen liegt der erste Teil „Herr Kobler wird Paneuropäer“ des Romans Der ewige Spießer vollständig vor. Der zweite und dritte Teil weisen ähnliche Bearbeitungsspuren auf. Auch hier kreist Horváth in einem Korrekturvorgang die Kapitelnummerierung mit rotem Buntstift ein. Auffallend ist die Paginierung: Während der erste Teil mit der masch. Paginierung 71 endet, beginnt der zweite mit der masch. Paginierung 129. Der erste Teil

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Konzeption 4

umfasst jedoch mehr als 71 Blatt. Wenn man die Blätter zählt, kommt man auf einen exakten Umfang von 127. Möglicherweise hat Horváth, ohne eine neue durchgehende Paginierung vorzunehmen, die Folgeblätter durchgezählt, sich dabei vertan oder ein Zwischenblatt vorgesehen. Auf dem ersten Blatt des zweiten Teiles (BS 7 a, Bl. 45) trägt er dementsprechend Pagina 129 ein. Mit seinen zahlreichen Schnitt- und Klebekanten weist TS3/A1 einen starken Montagecharakter auf, innerhalb dessen sich insgesamt zwölf Materialschichten, die in diesem Band mit Siglen versehen wurden, unterscheiden lassen (vgl. dazu die Übersichten Materialwanderung und Materialschichten, in diesem Band, S. 915ff.). Als Montagematerial verwendete Horváth Teile der Romane Herr Reithofer wird selbstlos (K2) und Herr Kobler wird Paneuropäer (K3). Der erste Teil von TS3/A1 „Herr Kobler wird Paneuropäer“ besteht zu einem Großteil (BS 7, Bl. 3–47, 49–61) aus Durchschlägen von K3/TS1/A1 und A2 (BS 6 a, Bl. 1–8, 14–22, 24–36, 38–49, 51, 55, 56, 59–62, 64–68) sowie K3/TS3/BS 6 b, Bl. 6–8, die der Autor teilweise beschneidet, neu zusammenstellt und innerhalb derer er die Textübergänge anpasst. Im Detail lassen sich anhand der Type und Papierqualität folgende Materialschichten identifizieren: Bei den Blättern BS 7, Bl. 3–19, 21–34, 36–47, 49–54, 57–61 und BS 7 a, Bl. 44 handelt es sich um vollständige oder Teile von Durchschlägen, die aus K3/TS1/A1 stammen und die Materialschicht MAT4 bilden. In Konzeption 3 hat Horváth einige dieser Blätter im zweiten Ansatz K3/TS1/A2 teilweise ersetzt. Teile der Durchschläge dieser Blätter sind mit BS 7, Bl. 20, 21, 35, 55, 56 als MAT5b in Konzeption 4 eingegangen. Noch in K3/TS3 führt Horváth das Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer textlich weiter aus. In der Montagefassung stellen die Blätter BS 7, Bl. 62–78, 80, 81 und BS 7 a, Bl. 2–14 oder Teile davon die Materialschicht MAT6 dar. Einer späteren Bearbeitung aus Konzeption 3 entstammen die Durchschläge oder Teile der Durchschläge BS 7 a, Bl. 15–44, die sich innerhalb der montierten Spießer-Fassung als MAT7 identifizieren lassen. Um sämtliche Durchschläge oder Teile von Durchschlägen aus Konzeption 3 sinnvoll in TS3 integrieren zu können, musste Horváth im ersten Teil des Spießer-Romans neue Übergänge formulieren. Diese ergänzenden Blätter im ersten Teil lassen sich aufgrund ihrer materialen Beschaffenheit eindeutig bestimmen, denn Horváth greift hier auf Schreibmaschinenpapier mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“ zurück. Dementsprechend bilden die Blätter oder Teile der Blätter BS 7, Bl. 2, 11, 16, 17, 35, 37, 45–48, 50, 62, 65, 66, 68–74, 76, 77, 79 sowie BS 7 a, Bl 1–4, 14, 15, 27, 29, 30, 32 die Materialschicht MAT8. Zusammen mit der Übernahme alten Textmaterials aus K3 zeigt sich hierin der Übergang von der Kobler- zur Spießer-Konzeption. In dieser Bearbeitungsstufe folgt der Text des ersten Teils des Romans Der ewige Spießer weitgehend der in K3/E37 dargestellten Abfolge. Im letzten Schritt seiner Überarbeitungen streicht Horváth die noch aus K3/TS3 vorhandenen Zwischentitel und ersetzt sie durch eine Kapitelnummerierung mit römischen Ziffern. Der zweite und dritte Teil von TS3/A1 „Fräulein Pollinger wird praktisch“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“ weisen ähnliche Bearbeitungsspuren auf wie der erste. Im Gegensatz zum ersten Teil „Herr Kobler wird Paneuropäer“ ändert der Autor jedoch den Fokus des in Konzeption 2 geplanten Romans Herr Reithofer wird selbstlos grundlegend, um ihn in die Spießer-Trilogie einzupassen. Dementsprechend gehen in TS3/A1 nur einzelne Durchschlagblätter aus Konzeption 2 ein: Dazu gehört der Teil eines Durchschlags von K2/TS4/BS 5 a [8], Bl. 19, der als MAT1 in TS3/A1/BS 7 a, Bl. 49 übernommen wird. Die Blätter BS 7 a, Bl. 58, 60 erweisen sich als Durchschläge oder Teile von Durchschlägen von K2/TS5/BS 5 a [5], Bl. 18, 21, 22. Sie bilden in Konzep-

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Chronologisches Verzeichnis

tion 4 die Materialschicht MAT2. Bei den Blättern BS 7 a, Bl. 49, 61, 63, 65, 67–72 handelt es sich um Durchschläge der Blätter K2/TS8/BS 5 b, Bl. 80, 93, 94, 99, 103, 106–110, 112, 113. Horváth montiert sie in geschnittener Form oder als ganzes Blatt in Konzeption 4 ein, wo sie MAT3b bilden. Einen Großteil der masch. Ausarbeitungen des zweiten Romanteils „Fräulein Pollinger wird praktisch“ erarbeitet Horváth neu. Dazu verwendet er die gleiche Schreibmaschine wie bei den textlichen Überarbeitungen des Kobler-Teils. Allerdings greift er in dieser Bearbeitungsstufe zunächst auf liniertes Papier zurück. Dementsprechend lassen sich die Blätter bzw. Teile der Blätter BS 7 a, Bl. 47–49 als MAT9 identifizieren. Für alle weiteren masch. Ausarbeitungen MAT10 verwendet Horváth normales Schreibmaschinenpapier. Die Blätter BS 7 a, Bl. 45, 46, 50–59, 61, 62, 64–67, 69, 71, 73, 74 gehören dieser Materialschicht an. Beim dritten Teil des Spießer-Romans „Herr Reithofer wird selbstlos“ geht Horváth ähnlich vor: Hier sind es Teile der Durchschläge von K2/TS8/BS 5 b, Bl. 127, 137–142, die er an die Blätter BS 7 a, Bl. 81, 85–91 anklebt. Sie sind der Materialschicht MAT3b zuzuordnen. Die Blätter oder Teile der Blätter BS 7 a, Bl. 75–91 lassen sich hingegen als Überarbeitungen der MAT10 identifizieren, sind rein materiell betrachtet also erst in Konzeption 4 entstanden. Für die Neuzusammenstellung alten Textmaterials klebt Horváth häufig Teile von Durchschlägen auf Schreibmaschinenpapier zusammen, um ihre Reihenfolge zu fixieren. Diese Blätter dienen oft als reine Materialträger, und es findet sich auf ihnen nur eine Paginierung oder eine Kapitelnummer eingetragen. Diese Blätter (BS 7, Bl. 15, 21, 51, 75 und BS 7 a, 31, 37–39, 41, 60, 68, 70, 72, 86, 87) bilden MAT11. Im Anschluss an die materielle Montage tippt der Autor auf BS 7, Bl. 1 ein Vorwort, welches der letzten Materialschicht MAT12 angehört. Die Entwicklung auf materieller Ebene ist der veränderten thematischen Ausrichtung des Romans Der ewige Spießer geschuldet: In Konzeption 4 wendet sich Horváth der expliziten Charakterisierung des Spießers seiner Zeit spürbar stärker zu als in den Konzeptionen 1 bis 3. Um die neue Intention herauszustellen und den episodenhaften Charakter des Romans zu rechtfertigen, erklärt er im Vorwort: „Verfasser versucht nun ab Seite 4 in Form eines Romanes einige Beiträge zur Biologie dieses werdenden Spiessers zu liefern. Er wagt natürlich nicht zu hoffen, dass er durch diese Seiten ein gesetzmässiges Weltgeschehen beeinflussen könnte, jedoch immerhin.“ (TS3/A1/BS 7, Bl. 1) Mit der Montage des vorhandenen Textmaterials gehen strukturelle Veränderungen einher. Während Horváth im ersten Teil seines Romans „Herr Kobler wird Paneuropäer“ weite Teile des in Konzeption 3 erarbeiteten Romans übernimmt und lediglich marginale Änderungen und Kürzungen vornimmt, entwickelt er im zweiten und dritten Teil einen völlig neuen Gesamttext. Dabei übernimmt er zwar Textteile aus Konzeption 2, der Fokus der Geschichte ändert sich jedoch grundlegend. Die in Herr Reithofer wird selbstlos parallel ausgelegten Handlungsstränge, die einerseits die Erlebnisse von Agnes Pollinger und andererseits diejenigen von Eugen Reithofer am Tag nach ihrem Zusammentreffen beinhalteten, werden jetzt nicht nur in zwei Teile aufgespalten, sondern auch anders ausgerichtet. Der zweite Teil des Romans konzentriert sich ausschließlich auf die Lebensumstände der weiblichen Protagonistin, deren Vorname Agnes (K2) in Konzeption 4 durch „Anna“ (vgl. BS 7 a, Bl. 60, 63) ersetzt wird. Die noch in Konzeption 2 von Kastner formulierte Aussage „Man muss auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten!“ (K2/TS8/A2/BS 5 b, Bl. 84) radikalisiert Horváth. In Der ewige Spießer lässt er Kastner sagen: „Heutzutag muss man auch

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Konzeption 4

seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Ich verlange zwar keineswegs, dass Sie sich prostituieren, aber ich bitte Sie um Ihretwillen, praktischer zu werden!“ (BS 7 a, Bl. 51) Dieser Gedanke bestimmt in Konzeption 4 das Handeln des Fräuleins Anna Pollinger: Als Harry Priegler sie zum Geschlechtsverkehr drängt, fordert sie dafür eine Bezahlung (vgl. BS 7 a, Bl. 73f.). Im dritten Teil des Romans wird die Begegnung Reithofers mit Anna Pollinger durch die Tatsache überschattet, dass sie, die nun schon seit einigen Wochen als Prostituierte tätig ist, ihn finanziell ausnutzen will. Während er sich über ihr Handeln ärgert, begegnet er in einer Bar Margarethe Swoboda, der Witwe eines alten Bekannten. Es entwickelt sich zwischen ihnen und anderen Barbesuchern ein Gespräch. Die dabei in Aussicht gestellte Stelle für eine Schneiderin vermittelt Reithofer am Ende selbstlos Anna Pollinger und stellt sich dafür ein Zeugnis als „liebes gutes braves Mistvieh“ (BS 7 a, Bl. 91) aus. Bemerkenswert sind die Namensänderungen in TS3: Neben den Vornamen der zentralen Figuren (Agnes Pollinger = Anna Pollinger) ersetzt Horváth auf BS 7, Bl. 30 den Namen „Kakuschke“ durch „Schaal“ und „Reithofer“ durch „Dünzl“. Außerdem ändert er die Kurzgeschichte „das Märchen von Anna, dem Mädchen“ in Konzeption 4 in „das Märchen vom Fräulein Pollinger“ (BS 7, Bl. 31). TS3 ist in zwei Ansätzen überliefert, die sich lediglich hinsichtlich der Beschreibung des Stierkampfs unterscheiden. In A1 greift Horváth auf eine Textpassage aus K3/TS3/BS 6 b, Bl. 12 zurück, zu der er – möglicherweise noch im Rahmen der Arbeiten an K3 – einen neuen Anschluss tippt. Während auf BS 6 b, Bl. 12 in der Grundschicht noch die ursprüngliche Paginierung 2 erkennbar ist, die von Horváth hs. in 60 korrigiert wird, werden in A1 die Folgeblätter BS 6 b, Bl. 13, 14 bereits während des Schreibvorgangs masch. mit 61, 62 paginiert. A1 beschreibt umfassend das Zeremoniell der Eröffnung des Stierkampfs mit dem Einritt der Herolde und der Begrüßung des Präsidiums (vgl. BS 6 b, Bl. 12). In A2 kürzt Horváth die Eingangspassage des Stierkampfs, setzt die hs. Korrekturen aus A1 masch. um und tippt einen neuen Übergang, den er an BS 7 a, Bl. 35 anklebt. T3 = ÖLA 3/W 147 – BS 8, Bl. 1–183 Insgesamt 183 Blatt, davon 82 Blatt unliniertes Papier, dünn (280 × 219 mm), Durchschlag (Blaupapier), 48 Blatt unliniertes Papier (283 × 218 mm), Durchschlag (Blaupapier), 15 Blatt unliniertes Papier (282 × 224 mm), Durchschlag (Blaupapier), 23 Blatt unliniertes Papier (282 × 218 mm), Durchschlag (Blaupapier), 3 Blatt unliniertes Papier (279 × 217 mm), Durchschlag, (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (279 × 218 mm), Wasserzeichen „Original Phoenix“, Durchschlag (Blaupapier), 2 Blatt unliniertes Papier (282 × 213 mm), Durchschlag (Blaupapier), 8 Blatt unliniertes Papier (287 × 221 mm), Durchschlag (Blaupapier), 1 Blatt unliniertes Papier (283 × 220 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit schwarzer und grüner Tinte sowie Bleistift, hs. Eintragungen mit Kopierstift, Bleistift, grünem, rotem und blauem Buntstift von fremder Hand (Lektorat und Satz Ullstein-Verlag), Paginierung 3–184 TS4 = Endfassung (Korrekturschicht: schwarze und grüne Tinte, Bleistift, grüner, roter und blauer Buntstift) Druck in: GW III, S. 145–278 (nach dem Text der Erstausgabe).

Bei TS4 handelt es sich um die letzte von Horváth bearbeitete Textstufe und zugleich um das Einreichmanuskript für den Verlag, das vermutlich im Frühsommer 1930 entstanden ist. Laut einer Anmerkung auf dem letzten Blatt des Typoskripts TS4/BS 8, Bl. 183 wurde es am 11. Juli 1930 satzfertig in die Setzerei des Ullstein-Verlags gegeben. Es enthält neben letzten Korrekturen des Autors auch zahlreiche Korrekturen

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Chronologisches Verzeichnis

fremder Hand, bei denen es sich vermutlich um Eingriffe des Lektors und Markierungen des Setzers handelt. Offenbar hat Horváth das für den Verlag bestimmte Manuskript nochmals überarbeitet und dabei selbst einige hs. Änderungen vorgenommen. Neben kleineren textlichen Überarbeitungen ist die Änderung der Kapitelnummerierung von römischen Ziffern in arabische bemerkenswert. Die Korrekturen des Lektorats beziehen sich größtenteils auf die Richtigstellung grammatikalischer und orthografischer Fehler sowie die Umsetzung typografischer Gepflogenheiten. Die Streichung von „Ende des ersten Teiles“ (Bl. 127), „Ende des zweiten Teiles“ (Bl. 159) und „Ende des dritten und letzten Teiles“ (Bl. 183) hingegen stellt einen verfälschenden Eingriff in die Druckvorlage Horváths dar. Ebenso korrigiert das Lektorat den Tippfehler „nich“ (Bl. 145) entgegen dem Verständnis in „nicht“, obgleich hier eigentlich „noch“ gemeint ist. D1 = Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen (Exemplar in: ÖLA 27/94) Erstdruck Proypyläen-Verlag, Berlin 1930 TS5 = Endfassung mit dem Titel „Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen von Ödön Horváth“ (Korrekturschicht); nicht gedruckt Druck in: GW III, S. 145–278, KW 12, S. 127–275

Der Roman Der ewige Spießer (Berlin: Propyläen 1930) erschien am 6. Oktober 1930 in zwei textidentischen Ausgaben, broschiert zu 3 Reichsmark und in Leinen gebunden zu 4,50 Reichsmark, und wurde mit einem von Olaf Gulbransson gestalteten Schutzumschlag versehen. Die Erstveröffentlichung stellt die Grundlage des Romanabdrucks in der von Traugott Krischke herausgegebenen Werkausgabe (GW III, S. 145–278) sowie in allen nachfolgenden Druckfassungen dar. H8 = ÖLA 3/W 278 – BS 3 c [1], Bl. 1 1 Blatt kariertes Papier (221 × 143 mm), schwarze Tinte E9 = Werkverzeichnis (oben)

E9 lässt sich innerhalb der genetischen Reihe nicht eindeutig positionieren. Das Werkverzeichnis ist im Umfeld der Arbeiten an dem Dramenprojekt „Der dumme Hans“ entstanden, zu dem sich auf H8 zwei Strukturpläne in acht bzw. sieben Bildern befinden. Das Werkverzeichnis führt neben den Romantiteln „Der ewige Spiesser“ und „Der Mittelstand“ eine Liste „Fünf Volksstücke“ an. Darin enthalten sind die Werktitel „Die Bergbahn“, „Es lebe die Liebe!“, „Der dumme Hans“, „Du wirst ihnen nicht entrinnen!“ sowie „Ein Wochenendspiel“. Der letzte Dramentitel lässt vermuten, dass dieses Blatt noch vor dem Druck des Stückes Italienische Nacht verfasst wurde, da das Drama am 18. November 1930 noch unter dem Werktitel „Ein Wochenendspiel“ vom Ullstein-Verlag angenommen wurde (vgl. Vertrag zwischen Ödön von Horváth und dem Verlag Ullstein Aktiengesellschaft, 18. November 1930, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags Berlin, ohne Signatur) und erst später umbenannt wurde. H9 = IN 221.000/44 – BS 38 d [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (224 × 284 mm), gebrochen, schwarze Tinte und Kopierstift E10 = Werkverzeichnis (mittig)

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Konzeption 4

H10 = IN 221.000/3 – BS 37 b, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (224 × 284 mm), gebrochen, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E11 = Werkverzeichnis (links unten) E12 = Werkverzeichnis (rechts)

Die Werkverzeichnisse in E10 bis E12 sind im Umfeld der Arbeiten an dem Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald nach dem Druck des Romans Der ewige Spießer entstanden. Das Blatt BS 38 d [1], Bl. 1 enthält neben Konfigurationsplänen zu drei der sieben Bilder auch eine Besetzungsliste zum Stück. Daneben hält Horváth in E10 die vier Werktitel „Der ewige Spiesser“, Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ sowie „Kinder und Militär die Hälfte“ fest. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Romantitel „Der ewige Spiesser“ den Untertitel „Erbaulicher Roman“ trägt, den er erst in der Druckfassung (TS5) erhalten hat. Die ersten beiden Werktitel sind zudem mit einem Schlusszeichen versehen, was dafür spricht, dass beide Werke zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen waren. Demzufolge sind diese Notizen vermutlich Ende des Jahres 1930 entstanden. E11 und E12 enthalten noch einmal Werkverzeichnisse mit den vier Titeln, die Horváth nun um „Der Mittelstand / Roman“ ergänzt. In E12 nimmt er eine Unterteilung in „Volksstücke“ und „Romane“ vor. Sowohl in E11 als auch in E12 versieht er den Romantitel „Der ewige Spiesser“ und den Dramentitel „Italienische Nacht“ mit Schlusszeichen. H11 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, schwarze Tinte E13 = Werkverzeichnis

E13 findet sich im Notizbuch Nummer 5 eingetragen. Horváth hat es vermutlich im Vorfeld der Premiere seines Stückes Geschichten aus dem Wiener Wald am 2. November 1931 verwendet. Das Notizbuch enthält neben einer Reihe von Notizen zu Karoline, die Schönheit von Haidhausen (vgl. WA 4, S. 25–53), einer Vorarbeit zum Volksstück Kasimir und Karoline, etliche Auflistungen von Figuren- und Schauspielernamen zur Uraufführung der Geschichten aus dem Wiener Wald. In diesem Kontext notiert Horváth das Werkverzeichnis, das neben dem Romantitel „Der ewige Spiesser“ auch den seines Kurzprosatexts „Das Fräulein wird bekehrt“ enthält. Vermutlich notiert Horváth hier seine erst kürzlich publizierten Werke. H12 = IN 221.001/4 – BS 45 a [4], Bl. 7 1 Blatt kariertes Papier (208 × 150 mm), (Handelsregister), unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte E14 = gestrichenes Werkverzeichnis (oben)

E14 ist im Umfeld der Arbeiten an dem Volksstück Kasimir und Karoline entstanden. Insofern steht es in engem textgenetischen Zusammenhang mit E13, ist jedoch hinsichtlich seiner Entstehung erst nach jenem anzusiedeln. Unter der Überschrift „Prosa und frühe dramatische Arbeiten“ führt Horváth hier neben „Bergbahn“ und „Sladek“ den Roman „Der ewige Spiesser“ an. Darunter listet er die Volksstücke “Italienische Nacht“ „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“ sowie

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Chronologisches Verzeichnis

ein ansonsten unbekanntes Werkprojekt mit dem Titel „Die Kleinen, die man hängt“ auf. Darunter führt er unter „Zauberpossen“ das Stück „Himmelwärts“ an.

Herr Reithofer wird selbstlos (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung des Romans Herr Reithofer wird selbstlos ist die fragm. überlieferte Reinschrift K2/TS8, die durch Textteile früherer Fassungen (K2/TS4, TS5, TS6) komplettiert wird. Die Konstitution folgt im Wesentlichen dem von Traugott Krischke im Abdruck des Romans in KW 12, S. 5–125 gewählten Verfahren, bietet allerdings zahlreiche Abweichungen im Detail. Im Gegensatz zu den KrischkeFassungen (vgl. dazu das Vorwort in diesem Band, S. 3, Fußnote 9) wird der Text, zu dem kein Deckblatt überliefert ist, unter dem letzten von Horváth genannten Titel Herr Reithofer wird selbstlos publiziert. Die emendierte Endfassung folgt den zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Uneinheitliche Schreibungen wie beispielsweise „Witwe“ – „Wittwe“, „Kalmücke“ – „Kalmüke“, „Pinscher“ – „Pintscher“, „Münchener“ – „münchener“ usw. wurden angeglichen; Fehler wie „poussierlich“ – possierlich, „unretouschiert“ – unretuschiert wurden ebenso korrigiert wie der Name der US-amerikanischen Unternehmerfamilie Vanderbilt, der im Typoskript als „Vanderbildt“ erscheint. Auch falsch bzw. abweichend geschriebene Orte und Straßen wie „Pressburg“, „Forstenriederpark“, „Meinickestrasse“ (Preßburg, Forstenrieder Park, Meinekestraße) wurden richtiggestellt. Schreibmaschinenbedingte Unregelmäßigkeiten, wie etwa die Darstellung der Umlaute als ae, oe, ue in K2/TS5, werden in korrekter Schreibung dargestellt. Vereinheitlicht wurde die Zeichensetzung; die Kapitelzählung wurde ausgehend von der letzten Fassung TS8 angeglichen. Im Zuge dieser Anpassung entfällt die Unterteilung des 10. Kapitels auf BS 5 a [8], Bl. 19. Außerdem fehlt in TS8 das Kapitel 53; in der emendierten Fassung wurde diese falsche Zählung behoben.

Der ewige Spießer (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung ist die Erstausgabe des Romans Der ewige Spießer, die im Herbst 1930 beim Propyläen-Verlag (= K4/D1) erschienen ist. Die emendierte Endfassung folgt den zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Abweichungen wie „einzigesmal“ („einziges Mal“), „Canebiere“ („Canebière“), „Cote d’Azur“ („Côte d’Azur“), „das geringste“ („das Geringste“), „Serajevo“ („Sarajevo“), „Schofför“ („Chauffeur“) und „übrighätten“ („übrig hätten“) wurden entsprechend korrigiert. Überdies wurde der Name der Stadt „Sette“ (Sète) durch die in den 1930erJahren üblichere Form „Cette“ ersetzt. Demgegenüber wurde die damals übliche Schreibung Chikago sowie die heute ungewöhnliche Schreibung von „Scharm“ gemäß den damaligen Rechtschreibregeln beibehalten. Typografische Unregelmäßigkeiten des Erstdrucks wurden gemäß den gängigen Konventionen angeglichen.

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Konzeption 4

Übersichtsgrafiken

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Chronologisches Verzeichnis

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Übersicht Materialwanderung

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Übersicht Materialschichten

Übersicht Materialschichten (K4/TS3) Schicht

Type/Papier

erstes Vorkommen

weitere Verwendung

MAT1

rundliche Type, gerade Anführungszeichen; vorhanden als Durchschlag (Blaupapier) in drei Exemplaren auf dünnem Papier

K2/TS4, ursprünglich in drei Durchschlägen vorhanden

ein Durchschlag wird als Ganzes in K2/TS6 übernommen Teile eines anderen Durchschlags werden in K4/TS3 montiert

gerade Anführungszeichen, „a“ überhängend, kein „I“, keine Umlaute; vorhanden als Durchschlag (Kohlepapier) in zwei Exemplaren auf dünnem Papier

K2/TS5, ursprünglich in zwei Durchschlägen vorhanden

MAT3a

schmale, hohe Type, gerade Anführungszeichen, Trennungszeichen Doppelstrich, vorhanden als Durchschlag (Kohlepapier), in zwei Exemplaren auf dünnem Papier

K2/TS8, ursprünglich in drei Durchschlägen vorhanden, einer davon = MAT3b

Teile eines Durchschlags werden in K4/TS3 montiert

MAT3b

Type wie MAT3a; vorhanden als Durchschlag (Blaupapier) in einem Exemplar auf dünnem Papier

ursprünglich einer der Durchschläge von K2/TS8

bildet in hs. Überarbeitung K2/TS9; Teile davon werden in K4/TS3 montiert

MAT4

rundliche Type, meist „˝o“ statt „ö“ (ungarische Schreibmaschine), gerade Anführungszeichen; vorhanden als Durchschlag (Blaupapier) in zwei Exemplaren auf Schreibmaschinenpapier

K3/TS1, ursprünglich in zwei Durchschlägen vorhanden

ein Durchschlag konstituiert gemeinsam mit MAT5a, MAT6 und MAT7 K3/TS3

MAT2

ein Blatt eines Durchschlags wird in K2/TS6 montiert ein Blatt eines Durchschlags wird in K4/TS3 montiert

ein Durchschlag wird in K4/TS3 montiert

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Übersicht Materialschichten

Schicht

Type/Papier

erstes Vorkommen

weitere Verwendung

MAT5a

„e“ unterhängend, „u“ überhängend, ch-Ligatur, gebogene Anführungszeichen, violettes Farbband, verwischte Type; vorhanden als Originaltyposkript (3 Blätter) in einem Exemplar auf Schreibmaschinenpapier

ersetzt einzelne Blätter in K3/TS1

K3/TS1 wird als Ganzes in K3/TS3 übernommen

MAT5b

Type wie MAT5a, verwischte Type; vorhanden als Durchschlag (Blaupapier) einzelner Blätter in zwei Exemplaren auf Schreibmaschinenpapier

Durchschläge ersetzen einzelne Blätter in K3/TS1

Durchschläge einzelner Blätter werden in K4/TS3 montiert

MAT6

Type wie MAT5a, verwischte Type; vorhanden als Originaltyposkript einzelner Blätter auf Schreibmaschinenpapier

konstituiert gemeinsam mit MAT4, MAT5a und MAT7 K3/TS3

gesamtes Material in K4/TS3 montiert

MAT7

Type wie MAT5a, saubere Type; vorhanden als Originaltyposkript einzelner Blätter auf Schreibmaschinenpapier

konstituiert gemeinsam mit MAT4, MAT5a und MAT6 K3/TS3

gesamtes Material in K4/TS3 montiert

MAT8

Type wie MAT5a, saubere Type; vorhanden als Originaltyposkript einzelner Blätter auf Schreibmaschinenpapier mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“

Bestandteil von K4/TS3, zur Montage von MAT4, MAT5b, MAT6, MAT7 im KoblerTeil des Romans verwendet

MAT9

Type wie MAT5a, saubere Type; vorhanden als Originaltyposkript einzelner Blätter auf liniertem Papier

Bestandteil von K4/TS3, verwendet in der Überarbeitung des Pollinger-Teils

ein Durchschlag der drei Blätter (= MAT5b) wird in K4/TS3 montiert

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Übersicht Materialschichten

Schicht

Type/Papier

erstes Vorkommen

MAT10

Type wie MAT5a, saubere Type; vorhanden als Durchschlag einzelner Blätter auf Schreibmaschinenpapier

Bestandteil von K4/TS3, verwendet in der Überarbeitung des Pollinger-ReithoferTeils (Neufassung umfangreicher Textpassagen)

MAT11

ausschließlich hs. Einträge (Kapitelnummerierungen), verschiedene Papiersorten (Durchschlagpapier, „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, Schreibmaschinenpapier)

Bestandteil von K4/TS3, verwendet zur Montage unterschiedlichen Textmaterials

MAT12

gerade Anführungszeichen, violettes Farbband; vorhanden als Originaltyposkript (ein Blatt) auf Schreibmaschinenpapier

Bestandteil von K4/TS3, verwendet für das Vorwort

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weitere Verwendung

Übersicht Materialschichten

Anhang

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Übersicht Materialschichten

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Editionsprinzipien

Editionsprinzipien Die Wiener Ausgabe (WA) sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist eine historischkritische Edition. Sie umfasst alle abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Werke sowie alle verfügbaren Briefe und Lebensdokumente des Autors. Den Ausgangspunkt bilden die umfangreichen werkgenetischen Materialien aus dem Nachlassbestand des Autors im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (teilweise als Leihgabe der Wienbibliothek im Rathaus). Die einzelnen Bände der WA sind in Vorwort, Text- und Kommentarteil gegliedert. In ihrem Zusammenspiel machen diese Teile den Entstehungsprozess der Werke transparent und bieten die Möglichkeit eines schrittweisen Nachvollzugs bis in die Letztfassungen der Texte. Das Vorwort skizziert die Entstehungsgeschichte unter Miteinbeziehung der zeitgenössischen Rezeption. Der Textteil reiht die genetischen Materialien chronologisch, wobei die Edition in Auswahl und Textkonstitution auf Lesbarkeit zielt. Dem Lesetext ist ein kritisch-genetischer Apparat beigegeben. Dieser macht die Änderungsprozesse des Autors deutlich, auf denen die konstituierten Fassungen basieren, ferner verzeichnet er alle Eingriffe der Herausgeber. Die Endfassung der Werke werden zusätzlich in emendierter Form dargestellt. Im Kommentarteil findet sich ein chronologisches Verzeichnis, das alle vorhandenen Textträger formal und inhaltlich beschreibt und Argumente für die Reihung der darauf befindlichen Entwürfe (E) und Textstufen (TS) sowie für die Konstitution der innerhalb der Textstufen vorliegenden Fassungen liefert. Übersichtsgrafiken dienen zur Darstellung komplexer genetischer Vorgänge.

1 Textteil 1.1 Genetisches Material Das genetische Material wird in zwei unterschiedlichen Formen zur Darstellung gebracht: Entwürfe erscheinen in diplomatischer Transkription, Fassungen innerhalb von Textstufen werden linear konstituiert.

1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) Von genetischen Materialien, deren Topografie sich nicht in eine lineare Folge auflösen lässt, wird eine diplomatische Transkription geboten. Hierbei handelt es sich um sogenannte Entwürfe (E), in denen Horváth auf meist nur einem Blatt in Form von Strukturplänen u.ä. das grobe Konzept von Werken und Werkteilen oder knappe Textskizzen entwirft. Die diplomatische Transkription versteht sich als eine Orientierungshilfe zur Entzifferung des nebenstehend faksimilierten Originals und gibt dessen Erscheinungsbild nicht in allen Details, sondern nur insofern wieder, als dies der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre dient. Den verwendeten Schriftgrößen kommt dabei keine distinktive Funktion zu; sie dienen dazu, die räumlichen Verhältnisse des Originals annähernd wiederzugeben. Folgende Umsetzungen finden statt:

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Editionsprinzipien

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x

Überschriebene Zeichen oder Wörter werden links neben den ersetzenden wiedergegeben, wobei der ursprüngliche Ausdruck gestrichen und der neue Ausdruck mittels zweier vertikaler Linien eingeklammert wird: tä|e|xt; text |text|. Unleserliche Wörter erscheinen als { }, gegebenenfalls mehrfach gesetzt; unsicher entzifferte Zeichen und Wörter als: te{x}t, {text}. Gestrichener Text in Zeilen erscheint als: text. Vertikale oder kreuzförmige Streichungen werden als solche dargestellt. Mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie gekennzeichneter Text wird als solcher wiedergegeben. Unterstreichungen erscheinen als: text, text. Eingerahmte oder in eckige Klammern gestellte Ziffern, Wörter und Textpassagen erscheinen als: [text], gegebenenfalls auch über mehrere Zeilen gestellt. Der vom Autor zur Strukturierung verwendete Stern (manchmal eingekreist und bis hin zu dicken schwarzen Punkten intensiviert) erscheint als: . Das vom Autor zur Strukturierung verwendete große X erscheint als: . Die im Zuge der Berliner Bearbeitung von Horváths Nachlass partiell vorgenommene Transkription schwer leserlicher Wörter bzw. allfällige Kommentare direkt in den Originalen erscheinen kursiv und in grau 50 %: text. Liegen auf einem Blatt mehrere Entwürfe nebeneinander, werden diese ab dem zweiten Entwurf zur besseren Unterscheidung grau hinterlegt. Aktuell nicht relevanter Text (Entwürfe zu anderen Werken und Werkvorhaben) erscheint in grau 50 %: text. Verweispfeile und Linien werden schematisch dargestellt, sofern sie Wörter und Textblöcke miteinander verbinden. Dienen solche Zeichen der Abgrenzung von Textteilen, werden sie nicht wiedergegeben.

1.1.2 Lineare Textkonstitutionen (Fassungen) Textausarbeitungen des Autors, die eine lineare Lektüre zulassen, werden (ohne Faksimileabdruck) konstituiert. Hierbei handelt es sich um Fassungen oft im Rahmen umfänglicher Textstufen (TS). Folgende Prinzipien kommen zur Anwendung: x

x

x

x

Schichtwahl: Im Lesetext wird entweder die Grundschicht oder die in der jeweiligen Arbeitsphase gültige Korrekturschicht einer Textstufe ediert. Die Grundschicht wird im Allgemeinen dann gewählt, wenn es um die Präsentation frühester Schreibansätze geht; in eher seltenen Fällen liegen Typoskripte auch ohne handschriftliche Korrekturschichten vor. Ein genauer Ausweis der Schichtwahl (im Fall des Vorliegens komplexer Schichtungen differenziert nach unterschiedlichen Schreibwerkzeugen und Farben – z.B. schwarze Tinte, roter Buntstift) erfolgt im chronologischen Verzeichnis. Punktuelle Streichungen und Einfügungen, die aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, weil das Material im Laufe des Produktionsprozesses dorthin weitergewandert ist, werden im Lesetext nicht berücksichtigt. Besondere Auffälligkeiten werden gegebenenfalls im chronologischen Verzeichnis beschrieben. Textausarbeitungen, die linear in eine Fassung nicht sinnvoll integriert werden können, aber offensichtlich aus der gegenwärtigen Bearbeitungsphase stammen, erscheinen im Lesetext eingerückt und grau hinterlegt. Deutlich gesetzte Leerzeilen werden in entsprechender Anzahl wiedergegeben.

924

Editionsprinzipien

Emendiert (und im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesen) werden offensichtliche Schreib- und Tippfehler des Autors sowie inkonsequente Ersetzungen oder offensichtlich falsche Setzungen von Figuren- oder Ortsnamen. Autortext erscheint in Times New Roman 11,75 pt. Herausgebertext innerhalb des Autortexts wird unter Backslashes in Helvetica 8,75 pt. gesetzt; im Einzelnen umfassen diese Eintragungen den Abbruch von Textbearbeitungen ohne Anschluss an den folgenden Text bzw. am Ende von Texten durch den Eintrag: \Abbruch der Bearbeitung\ sowie den Verlust von Text (z.B. durch Abriss oder Blattverlust): \Textverlust\. Unsicher entzifferte Buchstaben bzw. unsicher entzifferte Wörter erscheinen als: te{x}t, {text}; unleserliche Wörter (gegebenenfalls mehrfach gesetzt) als: { }. Blattwechsel wird durch 얍 angezeigt, die Angabe des neuen Textträgers mit Signatur erfolgt in der Randspalte. Die Ansatzmarke: text kennzeichnet im Lesetext Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungsvorgängen des Autors oder Eingriffen der Herausgeber hervorgegangen sind; nachgewiesen wird beides im kritisch-genetischen Apparat. In der editorischen Darstellung der stark montierten, ersten Gesamtfassung des Romans Der ewige Spießer (K4/TS3) – und nur dort – wird eine Differenzierung nach Materialschichten (MAT) vorgenommen. Der Begriff der Materialschicht bezeichnet ein im Verlauf des Produktionsprozesses auftretendes, eindeutig identifizierbares Erscheinungsbild des Materials. Die einzelnen Materialschichten, die sich in K4/TS3 unterscheiden lassen, werden nach Schreibmaschinentype, Papiersorte und gegebenenfalls auch inhaltlichen Bestimmungen unterschieden (vgl. dazu die Übersicht Materialschichten in diesem Band, S. 918) und gemäß ihrer chronologischen Abfolge im Produktionsprozess sigliert (z.B. MAT1, MAT2). Im Lesetext wird in der Darstellung von K4/TS3 ein Wechsel der Materialschicht durch das Zeichen ; samt Eintrag der entsprechenden Sigle in der Randspalte angezeigt. Fällt ein Materialschichtwechsel mit einem Blattwechsel zusammen, wird dazu das kombinierte Zeichen : verwendet. Die Angabe der Materialschichtsigle erfolgt hier im Anschluss an die Angabe der Blattsignatur in der Randspalte. B

N

1.1.3. Kritisch-genetischer Apparat Werden Fassungen in der Grundschicht ediert, verzeichnet der kritisch-genetische Apparat die Veränderungsprozesse nur in dieser Schicht (Sofortkorrekturen). Werden Fassungen in der Korrekturschicht ediert, verzeichnet er alle Änderungsprozesse im Übergang von der Grundschicht zur Korrekturschicht; Sofortkorrekturen in der Grundschicht werden hier nicht mehr verzeichnet, sondern als Ausgangspunkt gesetzt. Ferner weist der kritisch-genetische Apparat alle Eingriffe der Herausgeber nach (diese werden von Herausgeberkommentaren eingeleitet, wie z.B. korrigiert aus:, gestrichen:, gemeint ist:). Autortext erscheint in Times New Roman 8,5 pt., Herausgebertext in Helvetica 7 pt.

925

Editionsprinzipien

1.2. Emendierter Text (Endfassung) Die Endfassung des Textes wird zusätzlich in emendierter Form wiedergegeben. Die Basis dafür bieten die zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Horváth selbst hatte gegen die Normierung von Texten, die er zum Druck gab, nichts einzuwenden. Dies gilt für seine selbstständigen Publikationen ebenso wie für den Abdruck von Texten in Zeitschriften und Zeitungen. Gegenüber den (nicht immer konsequent gepflogenen) Eigentümlichkeiten von Horváths Schreibung ergeben sich Abweichungen vor allem in folgenden Punkten: x

x x

x

x x

x

x

x

Zusammengeschriebene Wörter und Wortgruppen wie „garnicht“, „garkein“, nichtmehr“ werden getrennt. Doppel-s anstelle von ß wird berichtigt. Falschschreibung von Fremdwörtern wird korrigiert, sofern es sich nicht um stilistische Setzungen handelt. Fehlende Accents werden nachgetragen, ebenso fehlende Punkte, auch in „usw.“ etc. Gedankenstriche, die in Typoskripten als -- realisiert sind, erscheinen als –. Die groß geschriebene Anrede „Du“, „Ihr“ etc. wird klein gesetzt, die Höflichkeitsform erscheint groß. Kleinschreibung am Beginn ganzer Sätze nach Doppelpunkten und Gedankenstrichen wird korrigiert. Kommasetzung, im Einzelnen: – Überzählige Kommata in als- und wie-Vergleichen werden getilgt. – Fehlende Kommata in vollständigen Hauptsätzen, die durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, werden ergänzt; ebenso in Relativsätzen und erweiterten Infinitiv- und Partizipialgruppen. Grammatikalische Fehler werden nur so weit korrigiert, als es sich dabei nicht um stilistische Setzungen handelt; alle dialektal geprägten Formen bleiben erhalten.

2 Kommentarteil 2.1. Chronologisches Verzeichnis Das chronologische Verzeichnis beschreibt alle zu einem Werk vorhandenen Textträger und sichert die Reihung der darauf befindlichen werkgenetischen Einheiten argumentativ ab. Textträger und Text werden getrennt sigliert: Die Materialsigle bezeichnet den Textträger und unterscheidet Handschrift (H), Typoskript (T) und Druck (D). Die Textsigle bezeichnet die auf dem Textträger befindliche werkgenetische Einheit und differenziert Entwürfe (E) und Textstufen (TS) mit teilweise mehreren Ansätzen (A).

926

Editionsprinzipien

Die Beschreibung des Textträgers umfasst folgende Elemente: Signatur: Wiener Signatur (ÖLA bzw. IN) des Nachlassbestands und Berliner Signatur (BS), gegebenenfalls auch andere Angaben zu Bezeichnung und Herkunft des Textträgers Materielle Beschreibung: Umfang, Papierart samt Angaben über spezielle Erscheinung, Größe in Millimeter, Angabe über Teilung, Faltung, Reißung o.ä., Wasserzeichen, Schreibmaterial, Paginierung vom Autor samt Seitenzahlen und Blattnachweisen, Eintragungen von fremder Hand Der Beschreibung des Textträgers folgt eine Auflistung und formale Beschreibung der auf dem jeweiligen Textträger befindlichen Entwürfe, Textstufen und Ansätze. Umfasst ein Textträger mehrere werkgenetische Einheiten und ist eine dieser Einheiten im Entstehungsprozess weiter hinten einzuordnen, wird sie erst dort verzeichnet. Die Beschreibung des Textträgers wird an der späteren Stelle wiederholt. Auch das Weiterwandern von Textträgern (durch Übernahme von Blättern in spätere Fassungen) wird vermerkt. Sofern die Entwürfe und Fassungen veröffentlicht sind, wird deren Erstdruck in einer abschließenden Zeile verzeichnet. Das konkrete Erscheinungsbild der Texte in den Erstdrucken weicht jedoch von den in der Wiener Ausgabe gebotenen Neueditionen oftmals gravierend ab. Der nachfolgende werkgenetische Einzelkommentar beschreibt die Entwürfe, Textstufen und Ansätze auch inhaltlich. Argumente für deren Reihung (manchmal in Form von gesetzten Wahrscheinlichkeiten) werden genannt und Beziehungen zu anderen Einheiten im werkgenetischen Material hergestellt; gegebenenfalls wird auch auf den Zusammenhang mit anderen Werken des Autors verwiesen. Folgende werkgenetische Begriffe finden Verwendung: Konzeption Als Konzeption (K) gilt eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (etwa Anzahl von Teilen, Bildern, etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt. Vorarbeit Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten (VA) zugeordnet. Im Falle des Vorliegens mehrerer Vorarbeiten werden diese nach genetischen Zusammenhängen gruppiert und/oder in eine Folge gebracht.

927

Editionsprinzipien

Begleitende Einzeltexte Abgeschlossene oder weitgehend abgeschlossene Kurzprosatexte, in denen der Autor einzelne Elemente aus Konzeptionen oder Vorarbeiten aufgreift oder aus denen er einzelne Elemente oder Textteile in andere Konzeptionen oder Vorarbeiten übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als begleitende Einzeltexte (ET) zugeordnet. Entwurf In einem Entwurf (E) legt Horváth die Gesamtstruktur eines Werkes oder eines einzelnen Strukturelements (Buch, Teil, Kapitel, …) fest. Entwürfe sind fast ohne Ausnahme handschriftlich ausgeführt und zumeist auf ein einziges Blatt beschränkt. Zur näheren Beschreibung stehen (spezifisch für den Prosatext) folgende Begriffe zur Verfügung: x

x x

Strukturplan: Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z.B. Gliederung in Bücher, Teile, Kapitel, Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren). Skizze: Punktuell bzw. schematisch ausgearbeitete Textsequenz. Darüber hinaus können Entwürfe auch lose Notizen zu Motiven, Figuren, Schauplätzen, Dialogpassagen oder Handlungselementen enthalten.

Textstufe Eine Textstufe (TS) bezeichnet eine klar abgrenzbare Arbeitseinheit im Produktionsprozess, die intentional vom Anfang bis zum Ende einer isolierten Werkeinheit (Buch, Teil, Kapitel, Unterkapitel, …) reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes dient. Materiell umfasst der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder Übernahme aus einer frühen Arbeitsphase zur Zusammenstellung aktueller Fassungen verwendet hat. Ansatz Ein neuer Ansatz (A) liegt dann vor, wenn der Autor innerhalb einer Textstufe eine materielle Ersetzung von Textträgern oder Teilen davon (Blattbeschneidungen, Austausch von Blättern) vornimmt. Innerhalb einer Textstufe bilden die einander folgenden Ansätze eine genetische Reihe; textlich repräsentiert sich in ihnen in der jeweils gültigen Textschicht die jeweils aktuelle Fassung des Textes. Der letzte Ansatz einer Textstufe, d.h. der letztmalige Austausch von Textträgern, bildet die materielle Grundlage der letzten Fassung innerhalb der jeweiligen Textstufe. Fassung Der Begriff der Textstufe ist ein dynamischer; er bezeichnet die Gesamtheit des in einer Arbeitsphase vorliegenden genetischen Materials, das in Grund- und Korrekturschicht und in verschiedene Ansätze differenziert sein kann. Der Begriff der Fassung bezeichnet im Gegensatz dazu die konkrete Realisation eines singulären Textzustands (z.B. K4/TS3/A1 – Korrekturschicht). Die Fassungen, die im Textteil konstituiert werden, stellen eine Auswahl innerhalb einer Vielzahl von Möglichkeiten dar. Der Produktionsprozess wird von ihnen an möglichst aussagekräftig gesetzten Punkten unterbrochen und ein jeweils aktuelles Textstadium linear fixiert.

928

Editionsprinzipien

Vorarbeiten und Konzeptionen, Entwürfe, Textstufen und Ansätze werden im chronologischen Verzeichnis über Siglen gereiht, die Reihung von TS und E erfolgt innerhalb der jeweiligen Kategorie, sodass sich als genetische Abfolge z.B. ergeben kann: K2/E1, K2/TS1, K2/TS2/A1, K2/TS2/A2, K2/E2, K2/E3, K2/TS3 usw.

2.2. Übersichten: Materialschichten, Materialwanderung Die Übersicht Materialschichten (in diesem Band, S. 918ff.) listet die in K4/TS3 unterscheidbaren Materialschichten in tabellarischer Form auf, beschreibt sie äußerlich und weist ihr erstmaliges Vorkommen sowie ihre weitere Verwendung im Produktionsprozess nach. Die Übersicht Materialwanderung (in diesem Band, S. 917) stellt eine vereinfachte und schematisierte Übersicht über den Produktionsprozess des Romans Der ewige Spießer dar und dient dessen Veranschaulichung. Gezeigt werden die materielle Entwicklung des Romans in der Abfolge der Textstufen sowie die Wanderung von Material in Bezug auf die stark montierte Fassung des Romans K4/TS3. Die Textstufen finden sich, nach Konzeptionen unterschieden, in ihrer im chronologischen Verzeichnis erstellten Abfolge untereinander angeordnet. Sind Textstufen in mehreren Ansätzen überliefert, so werden diese Differenzierungen nur dann dargestellt, wenn sie Auswirkungen auf einen Materialschichtwechsel von K4/TS3 haben. In ihrem Gesamtzusammenhang tatsächlich überlieferte Textstufen werden in Rahmen mit durchgängiger Strichführung gesetzt und mit einer Umfangsangabe sowie einer stichwortartigen Beschreibung ihres Inhalts versehen. In strichpunktiertem Rahmen finden sich Textstufen, die unter Zuhilfenahme von weitergewandertem Material konstituiert wurden. Die materiellen Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Textstufen werden durch Linien und Pfeile verdeutlicht: Die punktierte Linie zeigt eine inhaltliche Übernahme einer vorangegangenen Textstufe an; der strichpunktierte Pfeil die Übernahme von Durchschlägen früherer Textstufen; der durchgängige Pfeil eine tatsächliche Übernahme von Material. In jenen Textstufen, in denen sich Material findet, das in K4/TS3 eingegangen ist, wird die entsprechende Materialschichtsigle eingetragen.

929

Siglen und Abkürzungen

Siglen und Abkürzungen Schriftarten (allgemein) Times New Roman

Autortext

Helvetica

Herausgebertext, im Autortext in Backslashes

Diplomatische Transkriptionen (Entwürfe) text, text

getilgtes Zeichen, getilgter Text. Tilgungen über mehrere Zeilen (meist durch Kreuz) werden grafisch entsprechend dargestellt

tä|e|xt

überschriebenes und ersetztes Zeichen

text |text|

überschriebener und ersetzter Text

text

unterstrichener Text

text

unterwellter Text; mit Fragezeichen überschriebener Text wird grafisch entsprechend dargestellt

[text]

eingerahmter oder in eckige Klammern gestellter Text oder Ziffer; falls über mehrere Zeilen reichend, grafisch entsprechend dargestellt Strukturierungszeichen: Stern, Punkt Strukturierungszeichen: großes

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unleserliches Wort, ggf. mehrfach gesetzt

Times New Roman, 50 % grau

Eintragung von fremder Hand, Berliner Bearbeitung

Times New Roman, 50 % grau

aktuell nicht relevanter Text grau hinterlegte Fläche zur Abgrenzung verschiedener Ent-

\E1\

würfe

Lineare Konstitutionen (Fassungen) textN, B N

Ansatzmarke; kennzeichnet Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungen des Autors hervorgegangen sind, sowie Eingriffe der Herausgeber



Blattwechsel; Angabe des Textträgers in der Randspalte

;

Materialschichtwechsel; Angabe der Materialschicht (MAT) in der Randspalte

:

Blatt- und Materialschichtwechsel; Angabe des Textträgers und der Materialschicht (MAT) in der Randspalte

B

eingerückt, grau hinterlegt. Textzusätze des Autors in der aktuellen Fassung, die sich in den Lesetext linear nicht integrieren lassen

930

Siglen und Abkürzungen

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unleserliches Wort, ggf. mehrfach gesetzt

\Abbruch der Bearbeitung\ \Textverlust\

Herausgebertext im Autortext

Kritisch-genetischer Apparat text\e/

nachträglich eingefügtes Zeichen

\text/

nachträglich eingefügter Text

text[e]

getilgtes Zeichen

[text]

getilgter Text

t[ä]|e|xt,

getilgtes Zeichen in Verbindung mit Ersetzung

[text] |text|

getilgter Text in Verbindung mit Ersetzung

[text]|text|

überschriebener Text

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unleserliches Wort, ggf. mehrfach gesetzt

[text]

rückgängig gemachte Tilgung

text

mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie versehener Text

!text"!text"

durch Verweisungszeichen des Autors umgestellter und gegenseitig ausgetauschter Text

text f text [text]f x

Text von bis Textverschiebung

text

x

neuer Textanschluss

text2 text1

geänderte Wortfolge

(1), (2) …

Variantenfolge

gestrichen: gemeint ist: verweist auf K2/TS3: Korrektur von fremder Hand: Absatz vom Autor getilgt

irrrorrrp

korrigiert aus:

Herausgeberkommentare in Helvetica 7,5 pt.

Signaturen ÖLA

(ehemals: Österreichisches) Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

BS

Berliner Signatur

IN

Inventarnummer (Signatur der Wienbibliothek im Rathaus)

ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 5

Signatur Literaturarchiv

IN 221.003 – BS 12 d, Bl. 3

Signatur Wienbibliothek im Rathaus

931

Siglen und Abkürzungen

Abkürzungen K

Konzeption

VA

Vorarbeit

H

Handschrift

T

Typoskript

D

Druck

TS

Textstufe

A

Ansatz

E

Entwurf

ET

Einzeltext

MAT

Materialschichtsigle

SB

Stammbuch

Bl.

Blatt

Pag.

Pagina (vom Autor eingefügt)

hs.

handschriftlich

masch.

maschinenschriftlich

fragm.

fragmentarisch

r

recto (Vorderseite)

v

verso (Rückseite)

932

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis GW GWA

GA

KW

KW 15 KW 16 WA

WA 4

WA 9

Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Dieter Hildebrandt/Walter Huder/Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970–71. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Hg. v. Dieter Hildebrandt/Walter Huder/Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2., verbesserte Auflage 1978. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (= Gedenkausgabe anlässlich des 50. Todestags, Abdruck von Texten und genetischem Material aus den Gesammelten Werken und Bibliothek Suhrkamp-Bänden, der 5. Band mit Skizzen, Fragmenten und Gesamtkommentar ist nicht erschienen). Ödön von Horváth: Kommentierte Werkausgabe in 14 Einzelbänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–88. Ödön von Horváth: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Ödön von Horváth: Ein Fräulein wird verkauft und andere Stücke aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Hg. v. Klaus Kastberger. Berlin: de Gruyter 2009ff. Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar (= Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. v. Klaus Kastberger, Band 4). Berlin: de Gruyter 2009. Ödön von Horváth: Don Juan kommt aus dem Krieg. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar (= Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. v. Klaus Kastberger, Band 9). Berlin: de Gruyter 2010.

Bartsch, Kurt: Ödön von Horváth. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. Gaupp, Fritz: Oedön Horvath: Der ewige Spießer. In: Literarische Umschau (Beilage zur Vossischen Zeitung), 30. November 1930. K[ristl], [Wilhelm Lukas]: Drei Dichter lesen. In: Münchner Post, 24. März 1930. Kastberger, Klaus: Der Nachlaß Ödön von Horváths am Österreichischen Literaturarchiv. Perspektiven für die Forschung. In: Ute Karlavaris-Bremer, Karl Müller, Ulrich N. Schulenburg (Hg.): Geboren in Fiume. Ödön von Horváth 1901–1938. Lebensbilder eines Humanisten. Wien: Löcker/ Sessler 2001. Kesten, Hermann: 24 neue deutsche Erzähler. Berlin: Gustav Kiepenheuer 1929. Kesten, Hermann: Oedön Horvath: Der ewige Spießer. Propyläen-Verlag, Berlin. In: Die literarische Welt, 26. Juni 1931. Krischke, Traugott: Ödön von Horváth: Ein Lesebuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. [2. Aufl. 1981] Kuh, Anton: Oedön Horvath, Der ewige Spießer, Propyläen-Verlag, Berlin. In: Der Querschnitt, X. Jg., Heft 12, 1930, S. 97. Lunzer, Heinz/Lunzer-Talos, Victoria/Tworek, Elisabeth: Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg, Wien, Frankfurt am Main: Residenz 2001. Markt Murnau am Staffelsee. Beiträge zur Geschichte. Bd. 1. Hg. v. Markt Murnau am Staffelsee. Redaktion und Konzeption Dr. Marion Hruschka. St. Ottilien: EOS 2002. Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-

933

Literaturverzeichnis

nari. 6. Abteilung, 2. Band: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886–1887). Berlin: de Gruyter 1969. sch.: Der ewige Spießer. In: Berliner Zeitung, 24. Dezember 1930. Tworek-Müller, Elisabeth: Modell Murnau. Die Darstellung des Kleinbürgertums in den Stücken „Italienische Nacht“ und „Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horváth. München 1980 (= unveröffentlichte Staatsexamensarbeit). Tworek-Müller, Elisabeth (Hg.): Horváth und Murnau. Murnau: Eigenverlag 1988. Walter, Fritz: Der ewige Spießer. In: Berliner Börsen-Courier, 21. Dezember 1930.

934

Inhalt (detailliert)

Inhalt (detailliert) Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Konzeption 1: Roman einer Kellnerin . . . . . . . . . Strukturplan in drei Kapiteln (K1/E1) . . . . . . . Strukturplan in vier Kapiteln (K1/E2) . . . . . . . Strukturplan in zwei Kapiteln (K1/E3) . . . . . . . Strukturpläne in vier Kapiteln, Notizen (K1/E4–E6) Werk- und Kapiteltitel (K1/E7) . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS1) . . . . . . . . . Notizen (K1/E8–E9) . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Kapiteln (K1/E10) . . . . . . . Titelvarianten, Strukturpläne (K1/E11–E14) . . . . . Strukturplan in fünf Büchern (K1/E15) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS2) . . . . . . . . . Notizen (K1/E16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen, Strukturplan in fünf Büchern (K1/E17–E18) Strukturplan in fünf Büchern (K1/E19) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS3) . . . . . . . . . Strukturplan in drei Büchern (K1/E20) . . . . . . . Strukturplan in fünf Teilen (K1/E21) . . . . . . . . Strukturplan in vier Teilen (K1/E22) . . . . . . . . Notizen (K1/E23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS4) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS5) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS6) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS7) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS8) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS9) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS10) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS11) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS13/A1) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS13/A2) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS13/A3) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K1/TS13/A4) . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 18 20 22 24 26 29 30 32 34 38 41 42 44 46 49 50 52 56 58 60 61 63 64 72 74 75 76 77 79 81 83

Konzeption 2: Sechsunddreißig Stunden, später: Herr Reithofer wird selbstlos Fragmentarische Fassung (K2/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K2/TS10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

87 89 92 97 105 118 184 186 232 264

Begleitende Einzeltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET1/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung (ET2/TS1). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269 273 277

935

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt (detailliert)

Fragmentarische Fassung (ET3/TS1) . Fragmentarische Fassung (ET3/TS2) . Fassung (ET3/TS3) . . . . . . . . . . Endfassung (ET3/TS4) . . . . . . . .

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Konzeption 3: Herr Kobler wird Paneuropäer . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in vier Kapiteln (K3/E1). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skizzen zum 1. und 2. Kapitel (K3/E2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen (K3/E3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skizzen (K3/E4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notiz (Zugfahrplan) (K3/E5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in zwölf Kapiteln (K3/E6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis, Strukturplan in drei Teilen (K3/E7–E8) . . . . . . . . . . Strukturpläne in fünf Kapiteln, sieben Teilen (K3/E9–E10) . . . . . . . . . Replik (K3/E11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in acht Teilen (K3/E12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturpläne in fünf und zwei Kapiteln (K3/E13–E14) . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K3/E15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturpläne in sieben Kapiteln (K3/E16–E17) . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Kapiteln (K3/E18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in neun Kapiteln (K3/E19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in neun Kapiteln (K3/E20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln, Werktitel, Werkverzeichnis (K3/E21–E23) . Werkverzeichnis (K3/E24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis mit Notizen (K3/E25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K3/E26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen (K3/E27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis mit Notizen (K3/E28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Kapiteln (K3/E29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln, Werkverzeichnis (K3/E30–E31) . . . . . . Strukturpläne in sieben Teilen, sieben Kapiteln (K3/E32–E33) . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (K3/E34) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K3/E35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in zwei Kapiteln (K3/E36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in 13 Kapiteln (K3/E37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K3/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in 67 Teilen (K3/E38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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295 296 300 302 304 306 308 312 314 316 318 320 322 324 334 338 342 346 348 350 352 354 356 358 360 362 364 366 368 370 373 375 450

Konzeption 4: Der ewige Spießer . . . . . . Werkverzeichnisse (K4/E1–E2). . . . . . . Werkverzeichnis, Notizen (K4/E3–E4) . . . Strukturplan (K4/E5) . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K4/E6) . . . . . . . . . Fassung (K4/TS1) . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis mit Strukturplan (K4/E7) Werktitel (K4/E8) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K4/TS2) . . . . Fragmentarische Fassung (K4/TS3/A1) . . Endfassung (K4/TS4) . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K4/E9) . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K4/E10) . . . . . . . . . Werkverzeichnisse (K4/E11–E12) . . . . . . Werkverzeichnis (K4/E13) . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K4/E14) . . . . . . . . .

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453 454 456 458 460 463 464 466 469 471 574 702 704 706 708 710

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Inhalt (detailliert)

Herr Reithofer wird selbstlos – Endfassung, emendiert . . . . . . . . . . . . . . . . . .

713

Der ewige Spießer – Endfassung, emendiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

775

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

853

Chronologisches Verzeichnis Konzeption 1 . . . . . . . Konzeption 2 . . . . . . . Begleitende Einzeltexte . Konzeption 3 . . . . . . . Konzeption 4 . . . . . . . Endfassungen, emendiert

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855 855 868 880 884 901 914

Übersichtsgrafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht Materialschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht Materialwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

915 917 918

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

921

Editionsprinzipien

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923

Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

930

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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