Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 1 Frühe Dramen 9783110631371, 9783110621648

This volume is the first unabridged publication of Horváth’s early dramatic works. The earliest texts, An Epilogue and M

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German Pages 542 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Lesetext
Ein Epilog – Dramatische Skizze
Mord in der Mohrengasse – Schauspiel in drei Akten
Niemand – Tragödie in sieben Bildern
Revolte auf Côte 3018 – Volksstück in vier Akten / Die Bergbahn – Volksstück in drei Akten
Zur schönen Aussicht – Komödie in drei Akten
Rund um den Kongreß – Posse in fünf Bildern
Werkverzeichnisse
Ein Epilog (Endfassung, emendiert)
Mord in der Mohrengasse (Endfassung, emendiert)
Niemand (Endfassung, emendiert)
Die Bergbahn (Endfassung, emendiert)
Zur schönen Aussicht (Endfassung, emendiert)
Rund um den Kongreß (Endfassung, emendiert)
Kommentar
Chronologisches Verzeichnis
Übersichtsgrafik
Anhang
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Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 1 Frühe Dramen
 9783110631371, 9783110621648

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Ödön von Horváth Wiener Ausgabe

I

Ödön von Horváth

Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Historisch-kritische Edition Am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz herausgegeben von Klaus Kastberger

Band 1

De Gruyter II

Ödön von Horváth

Frühe Dramen

Herausgegeben von Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Martin Vejvar

De Gruyter III

Die Forschungsarbeiten an der Wiener Ausgabe werden unterstützt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF; P 23563-G20) und von der Kulturabteilung der Stadt Wien. Dank an die Österreichische Nationalbibliothek (Wien) für die Überlassung von Reprorechten an den Faksimiles. Die Forschungsarbeiten an der Wiener Ausgabe werden seit Oktober 2015 am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz durchgeführt.

ISBN 978-3-11-062164-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063137-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063014-5

Library of Congress Control Number 2019933514

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen www.degruyter.com

IV

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Ein Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Mord in der Mohrengasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Niemand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Zur schönen Aussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Rund um den Kongreß

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

Werkverzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Ein Epilog. Dramatische Skizze (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Mord in der Mohrengasse. Schauspiel (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

Niemand. Tragödie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

Die Bergbahn. Volksstück (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

Zur schönen Aussicht. Komödie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

Rund um den Kongreß. Posse (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

447

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

489

Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersichtsgrafik Tab1: Textvergleich Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

491

V

511

Inhalt

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Editionsprinzipien . . . Siglen und Abkürzungen Literaturverzeichnis . . Inhalt (detailliert) . . .

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VI

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Vorwort

Vorwort Ein Epilog. Dramatische Skizze Uraufführung: wurde bis heute nicht aufgeführt. Dauer der Schreibarbeiten: vermutlich 1923/24. Umfang des genetischen Materials: 10 Blatt des Typoskripts der Endfassung. Erstdruck: Ein Epilog. In: Hans F. Prokop (Hg.): Ödön von Horváth 1901–1938. Ausstellungskatalog. Wien: Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur 1971, o. Pag. (S. 12–14). Mord in der Mohrengasse. Schauspiel Uraufführung: 5. Oktober 1980 am Akademietheater in Wien (Regie: Klaus Höring). Dauer der Schreibarbeiten: vermutlich 1923/24. Umfang des genetischen Materials: insgesamt 46 Blatt, davon 1 Blatt mit Entwürfen und 45 Blatt des Typoskripts der Endfassung. Erstdruck: Mord in der Mohrengasse. Schauspiel in drei Akten. In: GW I, S. 383–405. Niemand. Tragödie Uraufführung: 1. September 2016 am Theater in der Josefstadt in Wien (Regie: Herbert Föttinger). Dauer der Schreibarbeiten: vermutlich 1923/1924. Umfang des genetischen Materials: 97 Blatt des Typoskripts der Endfassung. Erstdruck: Niemand. Tragödie in sieben Bildern. Hg. vom Verein der Freunde der Wienbibliothek und dem Thomas Sessler Verlag. Wien: Sessler/Wienbibliothek 2016. Revolte auf Côte 3018. Volksstück / Die Bergbahn. Volksstück Uraufführung: Revolte auf Côte 3018 am 4. November 1927 in den Hamburger Kammerspielen (Regie: Hanns Lotz), Die Bergbahn am 4. Jänner 1929 an der Volksbühne in Berlin (Regie: Viktor Schwanneke). Dauer der Schreibarbeiten: Ende 1926/Anfang 1927 bis Mai 1927 (Revolte auf Côte 3018), November/Dezember 1927 (Die Bergbahn). Umfang des genetischen Materials: 2 Blatt (zu Revolte auf Côte 3018), davon 1 Entwurfsblatt, Original verschollen, als Diapositiv überliefert, und 1 Typoskriptblatt. Erstdrucke: Revolte auf Côte 3018. Volksstück in vier Akten. Berlin: Volksbühnen Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H. 1927; Die Bergbahn. Volksstück in drei Akten. Berlin: Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H. 1927.

1

Vorwort

Zur schönen Aussicht. Komödie Uraufführung: 5. Oktober 1969 am Schauspielhaus in Graz (Regie: Gerald Szyszkowitz). Dauer der Schreibarbeiten: Ende 1926/Anfang 1927 bis Herbst 1927. Umfang des genetischen Materials: 1 Entwurfsblatt (zur Vorarbeit Nach der Saison), Original verschollen, als Diapositiv überliefert. Erstdruck: Zur schönen Aussicht. Komödie in drei Akten. Berlin: Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H. 1927. Rund um den Kongreß. Posse Uraufführung: 5. März 1969 am Theater am Belvedere in Wien (Regie: Irimbert Ganser). Dauer der Schreibarbeiten: Frühjahr bis Herbst 1929. Umfang des genetischen Materials: kein genetisches Material überliefert. Erstdruck: Rund um den Kongress. Posse in fünf Bildern. Berlin: Arcadia Verlag 1929.

Datierungen und Drucke Bereits als Jugendlicher hat Ödön von Horváth erste literarische Versuche unternommen. Sein Bruder Lajos bezeugt, dass er „unheimlich viel“ schrieb, vieles davon habe er aber gleich wieder „vernichtet“, weil er „unglücklich“ damit war.1 Überliefert ist indes ein Minidrama, das Horváth für seinen Bruder verfasste: Luci in Macbeth: Eine Zwerggeschichte.2 Luci war Lajos‘ Spitzname. Das Minidrama ist mit Ed. von Horváth (Ed. für Edmund, der deutschen Form von Ödön) gezeichnet und vermutlich 1916 in München entstanden.3 München war auch der Ort von Horváths erster Buchpublikation. Siegfried Kallenberg, Münchener Komponist, den Horváth „eines Abends“4 wahrscheinlich Ende 1920 kennenlernte,5 fragte den jungen Studenten, der sich zu der Zeit noch keineswegs als Autor empfand, ob er für ihn eine Pantomime schreiben könne, zu der er die Musik komponieren wollte.6 So entstand Das Buch der Tänze, das im Münchener SchahinVerlag mit Copyright 1922 erschienen ist und am 7. Februar 1922 im Rahmen des „Ersten Abends des Kallenberg-Vereins“ mit Musikbegleitung gelesen wurde. Horváths Texte wurden dabei von Annie Marée gesprochen.7 Erst 1926 fand die szenische Uraufführung am Osnabrücker Theater statt.8 Horváth hat diesen literarischen Erstling nach negativen Rezensionen, die die Aufführung in Osnabrück erfuhr, verworfen 1

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7 8

Lajos von Horváth im Film Das Porträt: Ödön von Horváth (BRD 1966, R: Traugott Krischke/ WDR); vgl. KW 1, S. 283. Überliefert in einer Reinschrift mit Zeichnungen des Autors in ÖLA 3/W 205 – BS 72 c, Bl. 1. Vgl. Traugott Krischke: Horváth-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 21. Willi Cronauer: Interview [mit Ödön von Horváth]. In: KW 11, S. 196–206, hier S. 199. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 30. Vgl. die Fassungen des autobiographischen Textes Wenn sich einer bei mir erkundigt [Inc.] bzw. Ödön von Horváth im Nachlass Horváth, ÖLA 3/W 243 – BS 64 m [1], Bl. 3 und ÖLA 3/W 244 – BS 64 m [2], Bl. 1v. Vgl. KW 11, S. 263. Vgl. ebd.

2

Vorwort

und mithilfe seines Vaters alle verbliebenen Exemplare vom Verlag aufgekauft und aus öffentlichen Bibliotheken entfernen lassen.9 Das Buch der Tänze lässt den späteren sozialkritischen Autor Horváth noch nicht erkennen. Es nimmt den Exotismus der Literatur der Jahrhundertwende aufs Korn. Leicht kann dieser ironische Gestus aber übersehen werden, wodurch sich ein KitschVerdacht aufdrängt. Am 25. Februar 1922 exmatrikuliert Horváth, ohne sein Studium abgeschlossen zu haben.10 Die Zusammenarbeit mit Siegfried Kallenberg hält jedoch an, für den der Autor weitere Lieder schreibt, die der Komponist vertont.11 Horváths erste wirklich ernstzunehmende dramatische und erzählerische Arbeiten fallen in die Jahre 1923/24. Zu der Zeit schreibt der Autor an einem Drama über einen ungarischen Bauernführer namens Dózsa (Dósa), das jedoch fragmentarisch bleibt.12 Ebenfalls in den Jahren 1923/24 entstehen die ersten Sportmärchen und Kurzprosatexte des Autors, die insbesondere in der Münchener Satire-Zeitschrift Simplicissimus und in der B.Z. am Mittag veröffentlicht werden.13 Außerdem unternimmt Horváth mehrere dramatische Versuche, die deutlich unter expressionistischem Einfluss stehen, so die dramatische Skizze Ein Epilog, das Schauspiel Mord in der Mohrengasse (beide 1923/24) und die Tragödie Niemand (1924). Während Ein Epilog und Mord in der Mohrengasse bis heute gar nicht bzw. nur selten aufgeführt wurden und trotz ihrer materiellen Überlieferung als Typoskripte aus der Hand des Autors wenig Beachtung erfuhren, wurde die Tragödie Niemand nach ihrem Auftauchen im Rahmen einer Auktion als „literarische Sensation“14 und „literarhistorische Entdeckung ersten Ranges“15 gefeiert. Horváths Tragödie war 1924 vom Berliner Verlag Die Schmiede, der u.a. auch Kafka, Joseph Roth und Döblin verlegte, als Typoskript vervielfältigt worden. Dieses war lange Zeit verschollen und seine Existenz nur durch einen Hinweis Lajos von Horváths belegt.16 Das einzige von Niemand überlieferte Typoskript befindet sich heute im Bestand der Wienbibliothek im Rathaus. Die Jahre 1924–1927 sind geprägt von den Erfahrungen, die Horváth in der Marktgemeinde Murnau am Staffelsee in Oberbayern macht. Seine Eltern lassen dort 1924 eine Villa bauen, in der der Autor in den genannten Jahren viel Zeit verbringt.17 Im Murnauer Kontext bekommt er die Anregungen zu seinem ersten Volksstück Revolte auf Côte 3018 bzw. Die Bergbahn und zu der Komödie Zur schönen Aussicht. Das Volksstück Revolte auf Côte 3018 war bereits im Mai 1927 fertig, wie sich einem Brief Horváths an den bekannten Berliner Theaterkritiker Herbert Ihering entnehmen 9 10 11 12 13 14

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Vgl. ebd., S. 264. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 33. Vgl. ebd., S. 35 und KW 11, S. 39–43. Vgl. KW 1, S. 283f.; vgl. auch KW 16, S. 11–32. Vgl. WA 13. Vgl. Hubert Spiegel: 95 Seiten, die noch niemand las. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.3.2015, Peter von Becker: Unbekannter Horváth für 11 000 Euro versteigert. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 24.3.2015 und Thomas Kramar: „Niemand“: Verschollenes Stück von Ödön von Horváth. In: Die Presse (Wien), 23.9.2015. Hubert Spiegel: Unser Innerstes? Kein schöner Anblick. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.9.2016. Vgl. auch Klaus Kastberger: Die Gewalt des Zusammenhangs oder: Ein frühes Wettrennen zum Mond. In: Ödön von Horváth: Niemand. Programmheft des Theaters in der Josefstadt (Wien). Spielzeit 2016/17, o. Pag. (S. 8–12). Vgl. KW 1, S. 283. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 37.

3

Vorwort

lässt, dem er sein Stück zur Lektüre bereits in Form des gedruckten Stammbuchs des Volksbühnen-Verlags vorlegt.18 Außerdem belegen Anzeigen in den Dramaturgischen Blättern vom Juli 1927 und im Anzeigenblatt des Volksbühnen-Verlags vom August 1927 die Drucklegung und Annahme des Stückes durch die Hamburger Kammerspiele.19 Zur schönen Aussicht dürfte teilweise parallel zur Revolte entstanden sein. Dies legt zumindest ein Blatt nahe, auf dem sich Entwürfe zu beiden Stücken befinden.20 Die Dramaturgischen Blätter bestätigen im November 1927 die Drucklegung der Komödie im Volksbühnen-Verlag.21 Beide Stücke haben einen realen Bezugspunkt im unmittelbaren Murnauer Umfeld: Im Fall des Volksstücks ist dies der Bau der Tiroler Zugspitzbahn, den Horváth vermutlich in den lokalen Zeitungen mitverfolgt hat, und im Fall der Komödie das Hotel Schönblick in Murnau, in dem die Familie Horváth vor dem Bau der eigenen Villa nachweislich einmal genächtigt hatte, bzw. das Strandhotel ebendort.22 Nach der negativen Aufnahme der Uraufführung seines Volksstücks Revolte auf Côte 3018 im November 1927 hat der Autor dieses in sehr kurzer Zeit zu der Neufassung unter dem Titel Die Bergbahn umgearbeitet, die wahrscheinlich auch noch 1927 fertig wurde, denn das Stammbuch von Die Bergbahn aus dem Volksbühnen-Verlag trägt ebenfalls den Copyright-Vermerk 1927. Neben seinen ausgedehnten Aufenthalten in Murnau weilt der junge Autor in diesen Jahren auch immer wieder in Berlin. Er verarbeitet sein lebensgeschichtliches Pendeln zwischen Land und Stadt schließlich in der autofiktionalen Erzählung Aus der Stille in die Stadt, die am 25. Mai 1930 im Berliner Tageblatt erscheinen wird.23 Mit dem Leiter des Volksbühnen-Verlags Bruno Henschel, der Revolte auf Côte 3018, Die Bergbahn, Zur schönen Aussicht (alle 1927) und beide Fassungen des Sladek24 (1928/29) verlegte, verband Horváth eine enge Beziehung, wie besonders aus einem Brief Henschels an Horváth vom Juli 1929 hervorgeht.25 Bereits im März 1923 war vom Völkerbund eine „achtköpfige Kommission zur Bekämpfung des Mädchenhandels“ eingesetzt worden.26 Sie liefert das Vorbild für den „internationalen Kongress für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels“27 in Horváths Posse Rund um den Kongreß, die 1929 entstanden ist. Die Posse stellt, obwohl kaum bekannt, einen Schlüsseltext in Horváths Werk dar. Sie bildet den Auftakt zu einer Reihe von Stücken, die um das Thema des Mädchenhandels kreisen. Sie ist zudem der erste Dramentext Horváths, der in dem zum UllsteinKonzern zählenden Arcadia Verlag erscheint, bei dem Horváth seit dem 11. Jänner 1929 unter Vertrag steht und von dem er monatliche „Pränumerando-Zahlungen“ 18

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Vgl. den Brief Ödön von Horváths an Herbert Ihering vom 19. Mai 1927, maschinenschriftliches Original im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Ihering-Archiv, M. 1593. Vgl. Dramaturgische Blätter, 4. Jg., Nr. 4, Juli 1927 und Anzeigenblatt für die Dramatischen Werke der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H., Nr. 2, August 1927. Vgl. den Abschnitt „Die genetischen Konvolute und ihre Chronologie“, dort die Ausführungen zu Revolte auf Côte 3018 und Zur schönen Aussicht. Vgl. Dramaturgische Blätter, 4. Jg., Nr. 6, November 1927. Und zwar im Juli 1921; vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 31 und KW 1, S. 291. Vgl. WA 13/ET20/TS12. Vgl. WA 2. Vgl. den Brief Bruno Henschels an Ödön von Horváth vom 23. Juli 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein-Buchverlags (Berlin), ohne Signatur. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 35. RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 38.

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Vorwort

von zunächst 500, dann (ab März 1929) 300 Reichsmark bekommt.28 Offensichtlich hatte Horváth mit Ullstein um das Honorar gefeilscht und war vor allem aus materiellen Gründen vom Volksbühnen-Verlag zu Ullstein gewechselt. In dem erwähnten Brief Bruno Henschels an Horváth schreibt Ersterer: Lieber Herr Horvath, wir müssen also, so sehr wir es bedauern, in den sauren Apfel beissen und auf Ihre Posse „Rund um den Kongress“ verzichten. Uns bleibt nur noch die Hoffnung, dass der Ullstein Verlag recht viel von Ihnen ablehnt und wir dadurch doch noch etwas von Ihnen herausbringen können. Darf ich Sie bitten, mir von allem, was Sie Ullstein zum Vertrieb anbieten, ein Leseexemplar zu senden; denn ich nehme persönlich so stark an Ihrem Schaffen teil, dass ich es schmerzlich empfinden würde, erst durch die Presse davon zu erfahren. Sie werden doch, lieber Herr Horvath, meine Bitte erfüllen, gelt? Ich verstehe Ihre Entscheidung durchaus und bedaure nur, dass der Volksbühnenverlag nicht in der Lage ist mit Ullstein zu konkurieren. Hoffentlich tritt auch hier bald eine Wandlung ein.29

Beim Arcadia Verlag des Ullstein-Konzerns erscheinen in weiterer Folge auch Horváths bekannte Volksstücke Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald (beide 1931), Kasimir und Karoline (1932) und Glaube Liebe Hoffnung (1933) als Theaterdrucke (Stammbücher). Alle diese Stücke fokussieren letztlich auf das Thema der (Ver-)Käuflichkeit des weiblichen Körpers in unterschiedlichen Schattierungen, sei es aus Gründen der politischen Spionage, im Rotlichtmilieu, durch die Fahrt in einem Kabriolett oder durch den Verkauf an die Anatomie. Von Italienische Nacht und Geschichten aus dem Wiener Wald werden 1931 überdies Buchausgaben im zum Ullstein-Konzern gehörenden Propyläen-Verlag gedruckt, der schon Horváths Roman Der ewige Spießer (1930) verlegt hatte. Der Vertrag mit dem Ullstein-Verlagskonzern besiegelt Horváths erfolgreiche Initiation in die Berliner Theater- und Literaturszene. 1929 wurden in Berlin Die Bergbahn im Jänner an der Volksbühne und Sladek, der schwarze Reichswehrmann im November am Lessingtheater uraufgeführt.30 Damit wurde Horváth erstmals von wichtigen Proponenten der Berliner Theaterkritik wahrgenommen und wenn nicht gefeiert, so doch zumindest als Talent anerkannt. Beide Stücke waren noch im Volksbühnen-Verlag als Stammbücher verlegt worden. 1931 gelingt dem Autor schließlich mit der Uraufführung von Italienische Nacht am Theater am Schiffbauerdamm unter der Regie von Francesco von Mendelssohn der endgültige Durchbruch als Dramatiker. Italienische Nacht war, nach Rund um den Kongreß, das zu Horváths Lebzeiten unaufgeführt blieb, sein zweites Stück im Arcadia Verlag. Noch im selben Jahr, noch vor der Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald, wird der Autor gemeinsam mit Erik Reger mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet.31 Die Druckgeschichte der frühen Dramen ist aufgrund der unterschiedlichen Überlieferungslage relativ disparat. Ein Epilog wurde erstmals im Katalog zur Ausstellung Ödön von Horváth 1901–1938 von Hans F. Prokop abgedruckt.32 Das Schauspiel Mord 28

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Vgl. den Vertrag zwischen dem Ullstein Verlag und Ödön von Horváth vom 11. Jänner 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein-Buchverlags (Berlin), ohne Signatur. Brief Henschels an Horváth vom 23. Juli 1929 (Anm. 25). Vgl. in diesem Band WV/E1 und den Abschnitt „Uraufführungen und Rezeption“. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 75. Hans F. Prokop (Hg.): Ödön von Horváth 1901–1938. Ausstellungskatalog. Wien: Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur 1971, o. Pag. (S. 12–14).

5

Vorwort

in der Mohrengasse wurde in den Gesammelten Werken von 1970/71 durch Traugott Krischke veröffentlicht.33 Die Tragödie Niemand ist nach ihrer Neuentdeckung im Jahr 2016 als Druckschrift der Freunde des Thomas-Sessler-Verlags und dem Verein der Freunde der Wienbibliothek sowie als Beilage des Juni-Hefts 2017 der Zeitschrift Theater heute erschienen.34 Die Volksstücke Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn, die Komödie Zur schönen Aussicht und die Posse Rund um den Kongreß sind in den Gesammelten Werken von 1970/71 erstmals gedruckt worden.35

Die genetischen Konvolute und ihre Chronologie Das genetische Konvolut zu den frühen Dramen ist sehr schmal. Horváth hat in seinen frühen Jahren als Schriftsteller fast alle Vorstufen von einmal fertiggestellten Werken vernichtet, wie er in einem Brief vom 22. März 1930 an den Leiter der Münchner Stadtbibliothek, Hans Ludwig Held, der ihn offensichtlich um Manuskripte für das Archiv gebeten hatte, bestätigt: Sehr verehrter Herr Held, vor allem danke ich Ihnen herzlichst für Ihre Aufforderung, Ihnen eine handschriftliche Fassung eines meiner Stücke oder Romane zu übersenden -- und ich bitte Sie um Verzeihung, dass ich erst heute antworte, aber leider erhielt ich Ihre freundlichen Zeilen, über die ich mich sehr freue, erst heute, da ich nun drei Tage verreist war. Natürlich bin ich sehr bereit, für Ihre Sammlung, über die ich schon viel las und hörte, ein Manuscript zu übersenden, aber leider habe ich eben die üble Angewohnheit, meine Manuscripte, sobald sie in irgendeiner Form vervielfältigt vorliegen, zu verbrennen. Ich verspreche es Ihnen aber, sehr verehrter Herr Held, das Manuscript meines nächsten Stückes -- das ich ungefähr Mitte Juni beendet haben werde -- nicht zu verbrennen, sondern es Ihnen sobald als möglich zukommen zu lassen.- Und ich würde mich sehr freuen, wenn es Sie interessieren könnte. Nochmals vielen Dank! Mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener Ödön Horváth36

Der vorliegende Band umfasst die folgenden Stücke, von denen in den meisten Fällen nur die Typoskripte oder Stammbücher der Endfassungen überliefert sind: Ein Epilog – Dramatische Skizze Mord in der Mohrengasse – Schauspiel in drei Akten Niemand – Tragödie in sieben Bildern Revolte auf Côte 3018 – Volksstück in vier Akten / Die Bergbahn – Volksstück in drei Akten Zur schönen Aussicht – Komödie in drei Akten Rund um den Kongreß – Posse in fünf Bildern 33 34 35 36

GW I, S. 383–405. Horváth 2016 und Horváth 2017. Vgl. GW I, S. 19–58 und S. 59–99, GW II, S. 7–74 und S. 75–138. Brief Ödön von Horváths an Hans Ludwig Held vom 22. März 1930, maschinenschriftliches Original in der Stadtbibliothek Monacensia (München), Signatur A I/2.

6

Vorwort

Ein Epilog – Dramatische Skizze Zu Ein Epilog ist nur das Typskript der Endfassung in der Mappe ÖLA 27/W 1 überliefert, das 10 Blatt umfasst, welche das genetische Konvolut zu diesem Werkprojekt bilden. Die dramatische Skizze ist wahrscheinlich 1923/24 entstanden. Der Titel lässt vermuten, dass sie als eine Art Nachspann oder Abgesang zu einem nicht im Stück behandelten Geschehen zu verstehen ist. Es kommen lediglich zwei Figuren darin vor: ein schwangeres Mädchen und ein junger Mann. Diese „zerfleisch[en]“ (EE/K/TS1/ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 6) sich in Gesprächen über das Glück und das Elend des Lebens, bis das schwangere Mädchen zu dem Schluss kommt: „Seitdem ich sah, daß heiligstes Glück zu widerwärtigstem Unglücke werden muß, vergaß ich das Hoffen.“ (ebd., Bl. 9) Daraufhin reicht sie dem jungen Mann einen Revolver, und ohne dass er abdrückt, bricht sie tot zusammen, worauf der junge Mann „tief, befreit“ (ebd., Bl. 10) aufatmet, vielleicht auch deshalb weil er jetzt keine Alimente für das Kind zahlen muss, ein vor allem im späteren Werk Horváths wiederholt vorkommendes Thema. Damit endet das Stück.

Mord in der Mohrengasse – Schauspiel in drei Akten Das genetische Konvolut zum Schauspiel Mord in der Mohrengasse umfasst 46 Blatt, davon ein Manuskriptblatt und 45 Blatt des Typoskripts der Endfassung aus der Hand des Autors, die nur in dieser Form überliefert ist. Das Blatt ÖLA 3/W 272 – BS 20 [1], Bl. 1, auf dem MM/K/E1 eingetragen ist, ist zugleich Teil der Werkgenese des frühen dramatischen Fragments Dósa, an dem Horváth nachweislich Ende 1923/Anfang 1924 geschrieben hat.37 Dies lässt die Entstehungszeit auch von Mord in der Mohrengasse für diese Zeitspanne annehmen. In MM/K/E1 notiert der Autor eine Figurenliste zu dem „Schauspiel in vier Bildern“, wie es hier noch heißt, mit dem Werktitel „Mord in der Mohrengasse“. Dabei hat er offensichtlich schon eine klare Vorstellung der Akte, denen er die Figuren zuteilt. Die für das erste Bild notierten Figuren Erich, Lia, ein Kellner, die Gräfin, Wenzel Klamuschke und der Mister kommen – mit Ausnahme von Wenzel Klamuschke – in der Endfassung des Stückes MM/K/TS1 nicht mehr vor. Es ist anzunehmen, dass Horváth das erste Bild im weiteren Arbeitsprozess gänzlich weggelassen hat, was nicht nur das Verschwinden der dafür genannten Figuren, sondern auch die in der Folge entwickelte Struktur in drei Akten erklärt. Die für das zweite Bild genannten Figuren Herbert Müller, Mutter Klamuschke, Ilse, Paul und Mathilde Klamuschke bilden auch das Personal des ersten Aktes der Endfassung MM/K/TS1. Zum dritten Bild vermerkt Horváth in MM/K/E1 ebenfalls Figuren, die großteils bis zur Endfassung erhalten bleiben, darunter drei Dirnen, ein Einäugiger, die Altmodische, ein Polizist, ein Kommissar, ein Detektiv u.a. Die einzige zentrale Figur, die in der Figurenliste MM/K/E1 fehlt, ist der jüdische Juwelier Simon Kohn, der in MM/K/TS1 von Wenzel beraubt und ermordet wird und diesen schließlich in den Selbstmord treibt. Die Endfassung des Schauspiels in drei Akten Mord in der Mohrengasse (MM/ K/TS1), die in der Mappe ÖLA 3/W 1 – BS 13 a überliefert ist, lässt eine klare Straffung der Handlung gegenüber der Figurenliste MM/K/E1 erkennen, in der Horváth 37

Vgl. Anm. 12.

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Vorwort

noch eine Struktur in vier Bildern mit einer Art Vorspiel plante. Dieses Vorspiel – in einer Bar oder einem Café, beliebten Topoi bei Horváth – fällt mit MM/K/TS1 weg. Im ersten Akt der Endfassung von Mord in der Mohrengasse (MM/K/TS1) führt uns der Autor in die Welt der Familie Klamuschke ein: Mutter Klamuschke, Tochter Ilse, deren Verehrer Herbert Müller und Schwiegertochter Mathilde. Die Handlung beginnt im „[b]ürgerliche[n] Wohnzimmer“ der Klamuschkes. Vom Sohn Paul Klamuschke erfährt man, dass er bei einer Bank arbeitet, weshalb alle ständig auf ihn warten müssen. Die Stimmung ist eher gedämpft, die Schilderung der Familiensituation in expressionistischer Manier auf die Konfliktpotenziale fokussiert.38 Herbert Müller erklärt auf eine Frage der Mutter, dass er derzeit an einem wissenschaftlichen Werk über das „Ketzer- und Hexenwesen mit besonderer Berücksichtigung der Schwangerschaft“ (MM/K/TS1/BS 13 a, Bl. 6) arbeite. Seit „frühester Kindheit“ reize ihn „das Verbrecherische“ (ebd., Bl. 6f.). Während die schwangere Mathilde Kartoffeln schält, weigert sich Ilse, die lieber Bücher liest, mitzuhelfen. Konflikte zwischen Ilse und Mathilde, aber auch zwischen dieser und Mutter Klamuschke werden angedeutet. In der Folge tauchen Paul und nach ihm Wenzel Klamuschke auf. Von Wenzel wird angenommen, dass er Geld brauche und seine Familie nur deshalb „beehr[e]“ (ebd., Bl. 10). Er beteuert aber, nur gekommen zu sein, um zu sehen, wie es seiner Familie gehe. Nachdem er die Wohnung verlassen hat, setzen sich alle zu Tisch. Der zweite Akt spielt in der „Mohrengasse“ (ebd., Bl. 16). Neben dem Juwelierladen von Simon Kohn befindet sich ein heruntergekommenes Hotel, daneben eine Bar, in der Musik gespielt wird: eine für Horváth charakteristische Straßen-Situation.39 Vor dieser ‚Fassade‘40 treten nun verschiedene Figuren auf, zunächst drei Dirnen, dann ein Verwachsener, eine Altmodische, ein Polizist, ein Eisenbahner und sein Weib, sowie Wenzel Klamuschke und ein Sechzehnjähriger (vgl. MM/K/E1). Fast alle dieser Figuren haben dunkle Absichten. Horváth zeichnet mit ihnen neuerlich ein Milieu des Verbrechens: Diebstahl, Mord, Unzucht. In einem Monolog äußert Wenzel deutlich expressionistisch gefärbte und verknappte Sätze wie: „Siehst Du den Satanas? Nur Dich selbst! Kein Teufel, da kein lieber Gott!“ (MM/K/TS1/BS 13 a, Bl. 23) Oder: „Und unerschöpflich strömt die Latrine der Ewigkeit über die Planetensysteme. Wir sind der Dung.“ (ebd.) Und: „Die Häuser riechen nach Leichen und Sauerkraut. Man sollte sich selber erbrechen können. --- Alles ist tot.“ (ebd., Bl. 23f.) Dann tritt er vor Simon Kohns Juwelierladen und spricht: „Wollte doch nur einbrechen, den Schmuck stehlen, ich schwöre: wollte nur stehlen! Hören Sie mich? Stehen Sie doch wieder auf, liegen ja unterm Pult! Setzen Sie sich wieder! Und nehmen Sie Stock und Hut! Stehen Sie auf, auf ---“ (ebd., Bl. 24). Auf seine Beschwörungen hin erscheint Simon Kohn und hält mit ihm ein Zwiegespräch. Wenzel scheint alles zu bereuen und gibt einer Frau die Schuld. Sie habe ihn gezwungen einzubrechen. Kohn bzw. seine Erscheinung verschwindet schließlich wieder. Stattdessen tauchen Polizisten und

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Vgl. die Strindberg-Bezüge Horváths in Mord in der Mohrengasse, am deutlichsten dargestellt in Herbert Gamper: Horváths Auseinandersetzung mit Strindberg – Sein erstes Stück Mord in der Mohrengasse. In: Traugott Krischke: Horváths Stücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 54–65. Am bekanntesten die „stille Strasse im achten Bezirk“ in Geschichten aus dem Wiener Wald, vgl. WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 13. Vgl. Ingrid Haag: Ödön von Horváth: Fassaden-Dramaturgie. Beschreibung einer theatralischen Form. Frankfurt am Main: Peter Lang 1995. (= Literarhistorische Untersuchungen, Bd. 26)

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Dirnen auf. Der Mord am Juwelier wird entdeckt. Der Akt endet mit der Flucht Wenzels vor den Polizisten. Der dritte Akt spielt wieder im „bürgerliche[n] Wohnzimmer“ (ebd., Bl. 33) der Familie Klamuschke. Zunächst treten Ilse und Herbert auf, der mehr von ihr haben, als sie ihm zugestehen will. Als es an der Türe klingelt, fahren die beiden erschrocken auseinander. Ein Kommissar und zwei Detektive erscheinen. Paul kommt aus einem Zimmer und wird nach seinem Bruder gefragt, den er verleugnet. Als Licht gemacht wird, entdecken die Anwesenden den erhängten Wenzel in einer Ecke des Wohnzimmers. Schließlich taucht auch Mutter Klamuschke auf, die angesichts des Toten klagt: „Gott, jetzt vergass ichs wieder: hab ja keine Wohnung mehr. Alles wurd mir genommen --- Kinder, meine Kinder, warum folgt Ihr mir nie? Wenn der Vater nur noch lebte ---“ (ebd., Bl. 41). Schließlich kommt es zum familiären Eklat, den die Mutter mit den Worten beendet: „Will keine Kinder, bin keine Mutter! Will frei sein! Werf Euch ab!“ (ebd., Bl. 42) Daraufhin verlässt sie das Zimmer und Ilse die Wohnung, um zu Herbert zu gehen. Zurück bleiben Mathilde und Paul. Fast eskaliert die Situation auch zwischen ihnen, weil Mathilde Paul vorwirft, „unempfindlich“ (ebd., Bl. 43) zu sein. Zuletzt beteuert sie: „Du, ich hab solch Angst: um das, das kommen wird ---“ (ebd., Bl. 45). Während Paul sie in die Arme schließt, fällt der Vorhang.

Niemand – Tragödie in sieben Bildern Zu der Tragödie in sieben Bildern Niemand ist kein genetisches Material überliefert. Die Endfassung NIE/K/TS1 ist in Form eines Typoskripts erhalten, das nicht aus der Hand des Autors stammt, sondern vom Verlag Die Schmiede 1924 als Stammbuch erstellt wurde. Dieses enthält jedoch wenige handschriftliche Korrekturen in Bleistift, die eindeutig von Horváths Hand stammen. Diese wurden in der Transkription von TS1 berücksichtigt. Auch die Tragödie Niemand steht noch deutlich unter expressionistischen Vorzeichen. Die Handlung kreist um den Pfandleiher Fürchtegott Lehmann, der von Kind an ein „Krüppel“ (NIE/K/TS1/SB Schmiede 1924, Bl. 4) ist und auf zu kurzen Beinen nur mit Krücken gehen kann. Er ist zu Beginn des Stückes ein autoritärer Herrscher über das Zinshaus und seine Bewohner, das ihm gehört und in dem die ganze Handlung spielt. Als die junge Arbeitslose Ursula auftaucht, um sich bei Gilda Amour im Erdgeschoss als Dirne zu verdingen, bietet ihr Lehmann an, bei ihm zu essen, statt sich zu prostituieren. Schnell wird man sich einig, und die beiden heiraten. Von dem Tag an vollzieht sich eine Wandlung in Lehmann. Er wird milde. Doch die Ehe der beiden steht von Anfang unter einem schlechten Stern. Die Brautnacht lässt beide frustriert zurück. Parallel zu der Handlung um Lehmann und Ursula entwickelt sich ein Handlungsstrang um Gilda und ihren Freier Wladimir. Dieser tötet für einen gefälschten Ring den alten Stutzer Max Maria Lehmann, der mit Fürchtegott nicht verwandt ist, und landet so im Gefängnis. Als Lehmanns Bruder Kaspar auftaucht, nimmt die Handlung neuerlich eine tragische Wendung. Ursula und Kaspar verlieben sich ineinander. Fürchtegott stirbt schließlich, und Kaspar bittet Ursula, Fürchtegotts Krücken für ihr Kind aufzuheben, denn: „Es gibt kein Erbarmen“, wie Kaspar meint. Doch Ursula entgegnet ihm: „Doch --- --- denn es gibt Wunder.“ (NIE/ K/TS1/SB Schmiede 1924, Bl. 94) Kaspar beteuert, nicht an Wunder glauben zu können, doch Ursula vermutet, es habe sich schon eines ereignet, weil die Krücken ver-

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schwunden sind. Auf Kaspars skeptische Frage nach dem Morgen, erwidert sie: „Nicht fragen --- --- ---“ (ebd., Bl. 95). Damit endet das Stück, das ähnlich wie Mord in der Mohrengasse mit dem Blick auf ein Paar und seine Ängste vor der Zukunft schließt. Gegenüber dem Schauspiel scheint der Ausblick jedoch in der Tragödie – entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung – etwas optimistischer zu sein. Durch das Stück hindurch tauchen immer wieder dieselben Namen auf, ein Hinweis Horváths auf die Austauschbarkeit und Entindividualisierung der Menschen im Zeitalter der Masse.

Revolte auf Côte 3018 – Volksstück in vier Akten / Die Bergbahn – Volksstück in drei Akten Das genetische Konvolut zu den beiden Volksstücken Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn umfasst insgesamt zwei Blatt, davon ein Manuskriptblatt, das jedoch nicht mehr im Original, sondern nur in Form eines Diapositivs erhalten ist, sowie ein Typoskriptblatt, das jedoch erst nach der Fertigstellung von Revolte auf Côte 3018 entstanden ist. Die Endfassungen der beiden Volksstücke sind nicht als Typoskripte aus der Hand des Autors, sondern nur in Form zweier Stammbücher des Volksbühnen-Verlags (Berlin) von 1927 erhalten. Auf einem nur noch als Diapositiv mit der Signatur ÖLA 84/S 59/F5/Bild 67 erhaltenen Manuskriptblatt im Nachlass Traugott Krischke (ÖLA 84) im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek befinden sich drei Entwürfe, die die Parallelität dreier Werkprojekte belegen. Einerseits ist dies ein „Novellen-Band“, den Horváth konzipiert, aber letztlich nicht realisiert und der eine Reihe von Sportmärchen und anderen Kurzprosatexten aus der Mitte der zwanziger Jahre enthalten sollte, zweitens ist dies ein Stück mit dem Titel „Nach der Saison“, einer Vorstufe des Volksstücks Zur schönen Aussicht, zu dem der Autor eine Figurenliste notiert,41 und drittens eines mit dem Titel „Revolte auf Punkt 3018“ (BB/K1/E1), von dem Horváth unter den neuerlich genannten „Novellen“ nur den Titel vermerkt. Das Blatt dürfte Ende 1926/Anfang 1927 entstanden sein.42 Der Bau der Tiroler Zugspitzbahn, der Thema der beiden Volksstücke Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn ist, begann im Mai 1925 und dauerte bis zum Juli 1926.43 Auslöser für die Arbeit Horváths an Revolte auf Côte 3018 könnten Berichte des Staffelsee-Boten (Murnau) vom Mai 1926 gewesen sein, in denen davon die Rede ist, dass die Einweihung der Zugspitzbahn am 14. Juni 1926 gefährdet sei, weil „neuerdings Differenzen zwischen den Arbeitern und der Firma ausgebrochen [seien], die eine Unterbrechung der Arbeiten bei der Zugspitzbahn befürchten lassen“.44 Am 5. Juli 1926 wurde die „Seilschwebebahn“ von Ehrwald (Tirol) auf die Zugspitze dann schließlich doch eingeweiht, nachdem die Differenzen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmensführung offensichtlich beigelegt waren.45

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Vgl. WA 13/WP1/E1 und in diesem Band die Ausführungen zu der Komödie Zur schönen Aussicht, insbesondere zu ZSA/VA/E1. Vgl. dazu die Ausführungen im „Chronologischen Verzeichnis“ in diesem Band. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 39f. Zitiert nach ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 42.

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In Horváths Revolte auf Côte 3018 (BB/K1/TS1) kommt es jedoch gar nicht mehr zur Einweihung der Bahn. Stattdessen entwirft der Autor ein Szenario, in dem die Fertigstellung der Bahn essenziell bedroht ist, da es zu einer Reihe von Todesfällen kommt, die nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch den Ingenieur des Bauwerks betreffen. Die Handlung von Revolte auf Côte 3018, einem Volksstück in vier Akten, sieht im Detail folgendermaßen aus: Der arbeitslose Friseur Max Schulz kommt aus dem norddeutschen Stettin nach Bayern, weil er gehört hat, dass beim Bau der Zugspitzbahn noch Arbeiter gesucht werden. Er trifft in der Arbeiterbaracke auf die Köchin Veronika, die die Arbeiter versorgt. Ursprünglich wird er wegen seiner schmächtigen Konstitution abgelehnt, doch der Ingenieur nimmt ihn dann doch in die Riege seiner Arbeiter auf, von denen manche mit dem Vornamen, andere hingegen nur mit dem Nachnamen bezeichnet werden: Moser, Karl, Xaver, Oberle, Sliwinski, Reiter, Simon, Hannes und Maurer. Von Anfang an spielt das Wetter eine entscheidende Rolle in dem Stück. Ein baldiger Wintereinbruch droht, weshalb der Ingenieur die Arbeiterschaft zu noch schnellerem Arbeitstempo aufruft. Im dann schon beginnenden Schneefall verunglückt Schulz. Der dazukommende Ingenieur fordert die Belegschaft auf weiterzuarbeiten. Doch diese weigert sich und will zunächst den verunglückten Schulz ins Tal bringen und aufbahren. Es kommt zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen dem Ingenieur und den Arbeitern, bei der Oberle vom Ingenieur erschossen, Moser schwer verletzt wird und der Ingenieur schließlich abstürzt. Zuletzt stirbt auch der den Abstieg nicht mehr bewältigende Moser im immer dichter werdenden Schneetreiben. Zum genetischen Konvolut von Revolte auf Côte 3018 ist auch ein Typoskriptblatt zu rechnen, das Horváth kurz vor der Uraufführung des Stückes in den Hamburger Kammerspielen am 4. November 1927 geschrieben hat. Es handelt sich dabei um eine maschinenschriftliche Reinschrift der Autobiographischen Notiz (BB/K1/TS2), die vermutlich auf Anfrage der Kammerspiele von Horváth verfasst wurde und dann in deren Programmheft Der Freihafen. Blätter der Hamburger Kammerspiele abgedruckt wurde (BB/K1/TS3). Durch die teils sehr negativen Reaktionen46 auf die Uraufführung von Revolte auf Côte 3018 fühlte sich Horváth veranlasst, sein Stück zu überarbeiten.47 Aus dieser Überarbeitung ist kein genetisches Material überliefert, Ergebnis dieses Überarbeitungsprozesses ist jedoch das Volksstück in drei Akten Die Bergbahn, das ebenfalls noch 1927 im Volksbühnen-Verlag als Stammbuch gedruckt wurde. Die Überarbeitung sieht, vereinfacht, folgendermaßen aus: Horváth überarbeitete den Beginn des Stückes leicht, legte den ersten und zweiten Akt von Revolte auf Côte 3018 in Die Bergbahn zusammen, wodurch eine Struktur in drei Akten entsteht, und ändert im Schlussakt, der jetzt der dritte statt dem vierten ist, die Abfolge der letzten Szenen, sodass das Stück nicht mit Mosers Tod, sondern mit dem Dialog zwischen Reiter, Simon, Veronika und Hannes mit dem Aufsichtsrat, vor allem aber mit Hannes‘ schallendem Lachen über den Aufsichtsrat und dessen Angst endet.48

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Vgl. dazu den Abschnitt „Uraufführungen und Rezeption“. Vgl. Herbert Gamper: Horváths komplexe Textur. Dargestellt an frühen Stücken. Zürich: Ammann 1987, S. 200–210. Gamper weist hier detailliert alle „Ungereimtheiten“ Horváths in der Fassung Die Bergbahn nach und sieht in der Umarbeitung von Revolte auf Côte 3018 zu Die Bergbahn zusammengefasst eine „Verunstaltung“ (ebd., S. 209). Für alle weiteren Details der Überarbeitung vgl. das „Chronologische Verzeichnis“ und die Übersichtsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes.

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Die beiden Stücke Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn sind Horváths erste deklarierte Volksstücke. Sie eröffnen den Reigen der berühmten Volksstücke, die bis heute die Bedeutung und die Bekanntheit des Autors wesentlich mitbegründen: Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald (beide 1931), Kasimir und Karoline (1932) und Glaube Liebe Hoffnung (1933). Horváth hat sich in Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn erstmals einer stark dialektal gefärbten Sprache bedient. In der den beiden Stücken vorangestellten „Randbemerkung“ schreibt er dazu: Dialekt ist mehr als ein philologisches, ein psychologisches Problem. Verfasser befolgte im Folgenden weder philologische Gesetze, noch hat er einen Dialekt (hier Dialekte des ostalpenländischen Proletariats) schematisch stilisiert, sondern er versuchte Dialekte als Charaktereigenschaft der Umwelt, des Individuums, oder auch nur einer Situation, zu gestalten.49

Die sprachliche Färbung der Figurensprache, die eindeutig als süddeutsch-bairisch zu klassifizieren ist, unterscheidet Horváths frühe Volksstücke Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn deutlich von den vier großen Volksstücken der frühen dreißiger Jahre.50 Die in Letzteren von Horváth eingesetzte Kunstsprache ist Ausdruck einer „Zersetzung der eigentlichen Dialekte […] durch den Bildungsjargon“, wie der Autor 1932 in der Gebrauchsanweisung schreiben wird.51 Außerdem ordnet er den Schauspielern im selben theoretischen Text an, dass sie keinen Dialekt sprechen dürfen, sondern: „Jedes Wort muss hochdeutsch gesprochen werden, allerdings so, wie jemand der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwingt, hochdeutsch zu reden.“52 In Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn fällt indes Horváths Bemühen um eine authentische dialektale Sprache auf. Auch die Form des Volksstücks scheint hier noch in direkter Linie eines Anzengrubers oder Ganghofers zu stehen. Der Autor wird sich jedoch in den folgenden Jahren und in den Volksstücken der frühen dreißiger Jahre auch theoretisch mit dem Volksstück auseinandersetzen und in der Form zu neuen Wegen finden. Symptomatisch dafür ist wieder ein Abschnitt aus der Gebrauchsanweisung, in der er darauf hinweist, dass er ein „neue[s] Volksstüc[k]“ entwickeln will, oder besser gesagt: bereits entwickelt hat. Es ist dies die bekannte Passage: Mit vollem Bewusstsein zerstöre ich nun das alte Volksstück, formal und ethisch – und versuche die neue Form des Volksstückes zu finden. Dabei lehne ich mich mehr an die Traditionen der Volkssänger an und Volkskomiker an, denn an die Autoren der klassischen Volksstücke.53

Dieser Reformwille hat nicht nur auf die Sprache und die Form, sondern auch auf die Wahl der Schauplätze des ‚neuen Volksstückes‘ deutliche Auswirkungen. Während die Handlung in Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn – sowie in Italienische Nacht – noch im ländlichen Milieu spielt, ist dies in Geschichten aus dem Wiener Wald, Kasimir und Karoline und Glaube Liebe Hoffnung nicht mehr der Fall. Mit der zunehmenden auch biographischen Verlagerung nach Berlin ändert sich so gesehen auch das Milieu der Stücke Horváths. Er richtet seinen Blick auf die Metropolen – Wien, München, Berlin – und dort nicht auf die Arbeiterschaft, sondern auf die kleinen Leute, auf die Verlierer der Wirtschaftskrise, auf den verarmten oder in Verarmung begrif49 50 51 52 53

BB/K2/TS1/SB Volksbühne 1927b, o. Pag. (S. 5). Vgl. Gamper 1987 (Anm. 47), S. 191. Ödön von Horváth: Gebrauchsanweisung. In: Horváth 2009a, S. 160–166, hier S. 163f. Ebd., S. 164. Ebd.

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fenen „Mittelstand“54, und innerhalb dessen im Besonderen auf die arbeitslosen „Fräulein“55, die aufgrund mangelnder (Aus-)Bildung und fehlender Arbeitsplätze erst gar nicht in den Fluss der Waren und des Geldes eintreten können, es sei denn über die Vermarktung ihres Eigensten, ihres Körpers. Zum genetischen Konvolut von Die Bergbahn zählt auch ein kurzer Text, den Horváth am Tag der Uraufführung des Stückes, am 4. Jänner 1929, in der Berliner Zeitschrift Tempo publiziert hat. Der Text mit dem Titel Natur gegen Mensch besteht aus drei Abschnitten. Im ersten stellt sich Horváth vor und schreibt von seiner mehrsprachigen Kindheit. Dabei verweist er auch auf sein spätes richtiges Erlernen der deutschen Sprache: „Erst auf der Universität lernte ich richtig Deutsch, obwohl meine Muttersprache die deutsche ist.“ (BB/K2/TS2) Im zweiten Abschnitt erläutert der Autor seine Sicht auf den Dialekt als „psychologisches Problem“. Er übernimmt dabei die Passage aus der „Randbemerkung“ zu seinen beiden Stücken Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn.56 Im dritten Abschnitt setzt sich Horváth mit dem Gegensatz zwischen Mensch und Natur auseinander. Dabei beginnt er mit folgendem Postulat: „Die Beherrschung der Natur ist das Endziel der menschlichen Gesellschaft. Die Natur ist der große Feind.“ (ebd.) Die Menschen würden sich bisher aber nur einbilden, die Natur besiegt zu haben. Er schließt deshalb mit folgendem Fazit: „Solange wir uns selbst belügen und betrügen lassen, solange schlägt uns die Natur. Auf der ganzen Linie.“ (ebd.)

Zur schönen Aussicht – Komödie in drei Akten Das genetische Konvolut zu der Komödie Zur schönen Aussicht umfasst nur ein einziges Manuskriptblatt, das jedoch nicht mehr im Original, sondern nur in Form eines Diapositivs erhalten ist. Es handelt sich dabei um dasselbe Blatt aus dem Nachlass Traugott Krischke (ÖLA 84) am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, das auch schon zum genetischen Konvolut zu Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn zu rechnen war. Die Endfassung von Zur schönen Aussicht ist nicht als Typoskript aus der Hand des Autors, sondern nur in Form eines Stammbuchs des Volksbühnen-Verlags (Berlin) von 1927 erhalten. Dieses enthält wenige handschriftliche Eintragungen mit schwarzer Tinte, die von Horváths Hand stammen dürften, eventuell aber auch von fremder Hand vorgenommen wurden, und in der Transkription von ZSA/K/TS1 berücksichtigt wurden. Der auf dem Blatt des Diapositivs mit der Signatur ÖLA 84/S 59/F5/Bild 67 neben den Entwürfen zum „Novellen-Band“ und zu „Revolte auf Côte 3018“ enthaltene Entwurf ZSA/VA/E1 trägt den Titel „Nach der Saison“ und liefert eine Figurenliste zu dieser Vorarbeit der Komödie Zur schönen Aussicht. Er dürfte aufgrund der einigermaßen sicheren Datierung der für den „Novellen-Band“ genannten Sportmärchen 54

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Vgl. auch das für Horváths Denken der frühen dreißiger Jahre so zentrale Romanprojekt Der Mittelstand in WA 13/WP13. Vgl. Klaus Kastberger/Nicole Streitler: Vampir und Engel. Zur Genese und Funktion der Fräulein-Figur im Werk Ödön von Horváths. Wien: Praesens 2006. Vgl. BB/K1/TS1/SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. 2) und BB/K2/TS1/SB Volksbühne 1927b, o. Pag. (S. 5).

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und Kurzprosatexte Ende 1926/Anfang 1927 entstanden sein. Er lässt überdies vermuten, dass die Genesen von Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn und Nach der Saison / Zur schönen Aussicht etwa zeitgleich verlaufen sein dürften oder zumindest zeitgleich eingesetzt haben. An Figuren finden sich in ZSA/VA/E1: Reichardt, Fräulein Stein, Gustl Müller, Gräfin, Graf, Kohberger, Rittmeister, Schnepf, Engelhardt, Oberst und Charlotte Klaus. Damit ist zwar keine Figur namentlich genannt, die in der Endfassung von Zur schönen Aussicht (ZSA/K/TS1) vorkommen wird, wohl aber können einige Figuren als Vorläufer der späteren Strasser, Christine, Ada von Stetten und ihres Bruders Eduard gedeutet werden. Reichardt dürfte den späteren Strasser präfigurieren und verweist auf den gleichnamigen Besitzer des Murnauer Strandhotels.57 Vorbild für Horváths Hotel „Zur schönen Aussicht“ war dieses und das Murnauer Hotel Schönblick.58 Die Gräfin und der Graf lassen die spätere Freifrau und den Freiherrn von Stetten erahnen, wobei auch Erstere ein Vorbild im realen Murnauer Leben hatte.59 In Charlotte Klaus kann man eine Präfiguration der späteren Christine sehen. Vermutlich sind auch der Kellner Max und der Chauffeur Karl sowie der Mitarbeiter der Sektfirma Hergt & Sohn, Müller, schon in der Figurenliste angelegt. Außerdem weist die Figur des Reichardt voraus auf Ein Wochenendspiel (1930) und jene des Rittmeisters auf Geschichten aus dem Wiener Wald.60 Die Endfassung der Komödie in drei Akten Zur schönen Aussicht (ZSA/K/TS1) kann als frühes und äußerst gelungenes Beispiel für Horváths Auseinandersetzung mit der Tradition der Verwechslungskomödie im Stile eines Molière, Goldoni oder Nestroy gesehen werden. Auch die zentrale Rolle, die der Eheanbahnung und dem Geld in dem Stück zukommt, verweist auf die große Komödientradition. Die Handlung, der immens viel Situationskomik innewohnt, ist Folgende: Strasser führt das heruntergekommene Hotel „Zur schönen Aussicht“ in einem „mitteleuropäischen Dor[f], das Dank seiner geographischen Lage einigen Fremdenverkehr hat“ (ZSA/K/TS1/SB Volksbühne 1927c, o. Pag. (S. 3)). Hinter dieser Beschreibung ist deutlich die Marktgemeinde Murnau am Staffelsee zu erkennen, in der die Familie Horváth seit 1921 regelmäßig Urlaub machte, und die von 1924 bis 1933 Horváths einziger fester Wohnsitz war.61 Strassers Angestellte sind Karl, der Chauffeur, und Max, der Kellner. Die Freifrau Ada von Stetten, eine Mittfünfzigerin im Stile der späteren Valerie in Geschichten aus dem Wiener Wald, ist der einzige Gast des Hotels. Dies ist sie aber dauerhaft. Erotische Beziehungen zu Strasser, aber auch zu Karl werden in der Komödie deutlich angezeigt oder aber nur angedeutet. Insgesamt ist dem ganzen Hotel ein schmuddeliger und leicht schlüpfriger Anstrich verpasst. Als die junge Christine auftaucht, gerät das solcherart gesponnene Netz aus erotischen und materiellen Abhängigkeiten ins Wanken. Christine hatte im Jahr zuvor zwei Wochen in dem Hotel Strassers gewohnt und mit diesem eine Affäre gehabt. Aus dieser Affäre ist ein Kind hervorgegangen, das Christine nolens volens alleine versorgen musste. Aufgrund ihrer Schwangerschaft hat sie auch ihren Job verloren. In ihrer Not hat sie Strasser zahlreiche Liebes- und Bittbriefe geschrieben, auf die dieser aber nicht geantwortet hat. Nun hat sich die Situation entspannt, denn Christine hat von 57 58 59 60 61

Vgl. KW 1, S. 291. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch den Kommentar im „Chronologischen Verzeichnis“ sowie WA 2 und WA 3. Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 31.

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einer Tante 10.000 Mark geerbt. Sie drückt dies am Beginn des Stückes mit folgenden kryptischen Worten aus: „Ich wurde abgebaut, und wenn der liebe Gott mir nicht geholfen hätte, wäre ich untergegangen ---“ (ebd., S. 23). Sie verrät aber zunächst nicht, was sie unter „der liebe Gott“ versteht, und deshalb versteht Strasser nicht, dass sie inzwischen kein Geld mehr braucht, sondern aus ganz anderen Gründen zu ihm kommt. Sie möchte sein Hotel sanieren und es mit ihm gemeinsam führen. Er aber soll die Vaterschaft anerkennen und ihr und ihrem Kind ein Heim bieten. Glückliche Fügung und weibliche Intuition hindern Christine zu Beginn der Komödie daran, die Erbschaft preiszugeben, und so wird sie Teil einer Verschwörungsaktion, in der Strasser, Max, Karl, Müller und Adas Bruder Eduard ihr vorspielen, dass sie mit ihnen allen im Vorjahr ein Verhältnis hatte, um sie damit von unliebsamen Forderungen abzubringen. Erst bei der dritten Erwähnung des „lieben Gottes“ im dritten Akt fragt Strasser nach: „Was verstehst du unter ‚Lieber Gott‘?“, und Christine antwortet lapidar: „Zehntausend Mark.“ (ebd., S. 58) Als die vier „werten Herren“ (ebd., S. 60 und 79) erkennen, dass Christine kein Geld haben, sondern umgekehrt Geld bringen will, kehren sie den Spieß um und machen ihr plötzlich alle den Hof und zahlreiche Eheversprechen. Sie aber erkennt, dass sie nur um des Geldes willen geliebt wird und verlässt deshalb so schnell wie möglich den Schauplatz ihrer Demütigung. Strasser gibt es sogar zu, dass er sie nur liebt, weil sie Geld hat: Ich weiss nur, dass ich dich nun liebe, weil du zehntausend Mark hast. Ohne diese Summe hätte ich auch keine Reue empfunden. Du kannst doch nicht verlangen, dass einer, der wirtschaftlich zu Grunde gerichtet worden ist, sich in eine Bettelprinzessin verliebt. (ebd., S. 79f.)

An dieser Stelle bricht Horváth deutlich mit der Komödientradition, wo der düpierte oder seiner eigenen Düperie überführte Mann dann doch noch reuig und glücklich in den Hafen der Ehe einläuft. Auf Strassers Vermutung, dass Christine dennoch bei ihm bleiben und den Zug versäumen wird, wehrt sich die junge Frau und verlässt das Hotel „Zur schönen Aussicht“ mit den Worten: „Nein, ich werde nichts versäumen -Lass mich fort, bitte -- Wenn mich das Kind nicht mehr braucht, so komme ich dich besuchen -- sollte dies Haus dann noch stehen --“ (ebd., S. 81). Zurück bleiben fünf Männer, die an der Frau nur das Eine suchen: Geld, ein pessimistischer Befund in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre.

Rund um den Kongreß – Posse in fünf Bildern Zu der Posse Rund um den Kongreß ist kein genetisches Material überliefert. Die Endfassung ist nicht als Typoskript aus der Hand des Autors, sondern nur in Form eines Stammbuchs des Arcadia Verlags (Berlin) von 1929 erhalten. Dieses enthält eine Reihe von handschriftlichen Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, die von Horváths Hand stammen. Sie werden in der Transkription von RK/K/TS1 berücksichtigt. Mit der Posse Rund um den Kongreß nimmt sich Horváth eines Themas an, das sein weiteres Werk prägen wird: die Frage des Mädchenhandels. Dabei wird dies aber in keinem späteren Stück so explizit verhandelt wie in der Posse. Die Handlung setzt mit einer Begegnung zwischen Ferdinand, dem Bruder des ‚Mädchenhändlers‘ Alfred, und dem Journalisten Schminke ein. Dieser hatte einen Artikel über Prostitution geschrieben und dazu die Schwester Ferdinands und Alfreds befragt, jedoch ohne ihr dafür eine Entlohnung zu geben, was ihm Ferdinand jetzt vorwirft. Letzterer ist auf

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der Suche nach seinem Bruder Alfred. Dieser macht dem Fräulein ein Angebot, nämlich sie zu einem Herrn Ibanez in Parana zu vermitteln, wo sie monatlich „fünfhundert Mark“ (RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 14) verdienen könne. Über die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Parana meint Alfred: „Ein Haus, ein Fräulein! Das ist Gesetz in Parana, um die schamlose Ausbeutung der Fräuleins zu verhindern und den anständigen Mädchenhandel zu schützen.“ (ebd., S. 14f.) Luise Gift, eine ältere, lesbisch veranlagte Prostituierte, möchte jedoch den Verkauf des Fräuleins nach Südamerika verhindern und lädt sie ein, bei ihr zu wohnen. Dabei äußert sie den bereits von der Figur der Ada in Zur schönen Aussicht bekannten Satz: „Ich bin ja ganz anders, aber ich komme so selten dazu --“ (ebd., S. 15).62 Das Fräulein flieht jedoch vor Luises Zudringlichkeit. Im zweiten Bild treffen Ferdinand und Alfred im „Café Klups“ zusammen. Ferdinand erzählt seinem Bruder, dass ihm der „liebe Gott“ (ebd., S. 20) geholfen habe. Wie in Zur schönen Aussicht der Hotelbesitzer Strasser fragt hier Alfred: „Was verstehst Du unter lieber Gott?“, und Ferdinand antwortet lapidar wie Christine: „Zweitausend Mark.“ (ebd.) Alfred verspricht Ferdinand, dass er seinen „lieben Gott“ „verdoppeln“ könne, wenn er in seine „Stellenvermittlung nach Südamerika“ (ebd., S. 20f.) einsteige. Ferdinand ist zunächst skeptisch, verspricht dann aber, sich daran zu beteiligen. Unterdessen werden alle Gebäude der Stadt für den „Kongress für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels“ (ebd., S. 38) „beflaggt“ (ebd., S. 25). Der Hinweis des Kellners auf die „Spree“ (ebd., S. 27) lässt erkennen, dass die Posse in Berlin spielt. Luise versucht in der Folge, den Journalisten Schminke, der eine „Denkschrift“ (ebd., S. 29) an den Kongress verfasst hat, dazu zu bewegen, sich für das Fräulein einzusetzen. Doch dieser wehrt ab, indem er versichert, sich nicht für „Einzelschicksale“ zu interessieren (ebd., S. 28). Im dritten Bild tagt der Kongress. Schminke überreicht dem Kongress seine „Denkschrift“ (ebd., S. 31), in der es heißt: „Mit Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse verschwindet auch die aus ihnen hervorgehende offizielle und nicht offizielle Prostitution.“ (ebd.) Der Generalsekretär des Kongresses wirft ihm Kommunismus vor und erwidert auf Schminkes Entgegnung: Also: ich bestätige hiermit den Einlauf Ihrer sogenannten Denkschrift, die der Kongress zu den Akten legen wird, da die Prostitution bekanntlich unausrottbar, ja kaum bekämpfbar ist, weil das Prinzip der käuflichen Liebe zu tief in uns verankert ist, man möchte fast sagen: die käufliche Liebe ist ein wesentlicher Bestandteil des Menschlichen schlechthin. (ebd., S. 32)

Schminke wird daraufhin aufgefordert, seinen Platz zu räumen. Doch er weigert sich und wird bildlich „füsiliert“ (ebd., S. 34). Dabei tritt ein sogenannter „Hauptmann“ auf, der abwechselnd „österreichisch“ und „preussisch“ (ebd.) spricht und eine durchwegs komische Figur im Stile der Komödientradition abgibt. Das vierte Bild spielt im Hafen, dort wo die Schiffe nach Südamerika abfahren. Ferdinand hat Alfred nur den „halbe[n] liebe[n] Gott“ (ebd., S. 39) mitgebracht. Luise taucht auf, die Alfred erzählt, dass sie die Geschichte des Fräuleins dem Kongress verraten habe. Alfred ist darüber einigermaßen beunruhigt. Das Fräulein erscheint, und Luise schenkt ihr ein Gedicht, eine Art Liebeserklärung. Doch Alfred erklärt ihr, dass alles bereit sei für die Abfahrt am nächsten Morgen. Schließlich 62

Vgl. auch ZSA/K/TS1/SB Volksbühne 1927c, S. 73, dort: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“

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tritt der Generalsekretär des Kongresses auf und verkündigt, dass der Kongress „Damen und Herren aus dem Personenkreise der Prostitution über die Prostitution zu befragen [wünscht], um die Prostitution wirklich bekämpfen zu können“ (ebd., S. 48). Im Besonderen soll das Fräulein verhört werden. Alfred willigt ein, weist aber darauf hin, dass das Fräulein unmittelbar vor der Abfahrt nach Südamerika steht und sie die „Ueberfahrt“ nicht „versäum[en]“ (ebd., S. 49) dürfe. Schließlich erscheint Ferdinand und erklärt, dass das Fräulein einmal seine Frau gewesen ist (vgl. ebd., S. 50). Das fünfte und letzte Bild zeigt das Fräulein vor dem Kongress. Der Kongress erscheint wenig glaubwürdig, weil es ihm nur am „Fressen und Saufen“ (ebd., S. 52 et passim) gelegen ist. Das Fräulein antwortet auf die Frage, ob Sie von Alfred zur Prostitution gezwungen wurde, dass sie es sich selbst „überlegt“ habe und dass sie ihm direkt „nachgelaufen“ (ebd., S. 55) sei. Alfred meint dazu: „Es gibt überhaupt keinen Mädchenhandel. Es gibt lediglich Stellenvermittler und das gewaltsame Fortschleppen der Fräuleins ist Quatsch!“ (ebd.) Dann tritt jedoch Schminke auf und beteuert, dass es bei der Prostitution nur um „wirtschaftliche Not“ (ebd., S. 56) gehe. Der Kongress kontert jedoch damit, dass die Prostitution „zu tief“ im Menschen „verankert“ (ebd., S. 59) sei und dass es nicht in seiner Macht liege, die „wirtschaftliche Not zu beseitigen“ (ebd., S. 61). In der Folge wird das Fräulein gefragt, wieso sie sich verkaufe und nicht einfach umbringe. Sie antwortet darauf: „Ich wollt mich schon mal umbringen, aber dann hab ich mir gedacht, ich verkauf mich doch lieber. Weil es leichter geht.“ (ebd., S. 62) Zuletzt wird das Fräulein gefragt, ob sie die „reine Liebe“ (ebd., S. 63) kenne. Sie erwidert darauf, dass es eine solche nicht gebe und erzählt, wie ihr Mann sie verlassen und wie sie von einem „fremden Herrn“ (ebd.) dann auch sitzengelassen wurde. Der Kongress kommt letztlich zu dem Schluss, dass es sich bei dem Fräulein um „einen Fall ausserordentlicher Gefühlsroheit“ (ebd., S. 65) handle. Als das Fräulein schon bereit ist, sich nach Südamerika einzuschiffen, taucht Ferdinand auf und fordert von Alfred seinen „halben lieben Gott“ (ebd., S. 68) zurück, denn er wolle nicht, dass „gerade dieses eine Fräulein“ (ebd., S. 69) verkauft werde. Er wolle sie stattdessen heiraten. Schminke wehrt sich „gegen diese Verfälschung der wirklichen Verhältnisse durch die sogenannte Menschlichkeit“ (ebd., S. 70). Auch das Fräulein meint, sie könne jetzt nicht mehr zurück. Schließlich taucht ein „Vertreter des Publikums“ auf und beschwert sich darüber, dass er eine „Karte“ für eine Posse gekauft habe und jetzt gehe das Stück „auf einmal tragisch“ (ebd., S. 72) aus. Schminke schaltet sich ein und moniert, dass das halt „die Wahrheit“, „[d]ie unerbittliche Wahrheit“ (ebd., S. 72) sei. Schließlich setzt sich jedoch das Publikum durch, und Ferdinand schließt das Fräulein in seine Arme. Gleichzeitig ertönt ein „Hochzeitmarsch“, und Luise Gift taucht auf, die dem Paar „einen riesigen Strauss“ (ebd., S. 73) überreicht. Einziger Misston dieses konventionellen Komödienschlusses: ein „Rülpse[r]“ (ebd.) Luises, der alle zusammenzucken lässt. Die inhaltliche Zusammenfassung macht deutlich, dass Horváth die Konventionen der Posse formal bricht, etwa durch die Involvierung des Publikums in die Komödienhandlung und durch die Diskussion über das mögliche Ende des Stückes. Im Verlauf der Handlung spielen Situationskomik und komische Figuren wie etwa der österreichisch parlierende Hauptmann eine wichtige Rolle. Dennoch wird man dem Stück tragische Untertöne und eine prinzipiell tragisch angelegte Grundproblematik nicht absprechen. Rund um den Kongreß (1929) reiht sich damit unter die Tragikomödien

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Horváths ein, zu denen etwa auch Zur schönen Aussicht (1927), Hin und her (1933), Figaro läßt sich scheiden (1936) oder Ein Sklavenball / Pompeji (1937) zu zählen sind. Der Autor hat mit der Posse Rund um den Kongreß zweifellos ein Thema aufgegriffen, das in der Luft lag. Die Frage des Mädchenhandels und der Prostitution beschäftigte ihn mindestens seit dem Sommersemester 1921, als er an der Universität München bei Prof. von Notthaft eine Vorlesung zum Thema „Die Bekämpfung der Prostitution“ besuchte.63 1923 war überdies, wie bereits erwähnt, vom Völkerbund eine „Kommission zur Bekämpfung des Mädchenhandels“64 eingesetzt worden. Außerdem lief im Jahr 1927 in Deutschland ein Unterhaltungsfilm an, der den Titel Mädchenhandel. Eine internationale Gefahr (D 1927, R: Jaap Speyer) trug.65 Im Zentrum des Films steht eine junge Berlinerin, der ein Job in einem Nachtclub in Budapest angeboten wird. Von dort wird sie entführt und nach Athen gebracht, wo sie in einem Bordell landet. Einflüsse dieses Filmes auf Horváths Werke der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre sind unbedingt anzunehmen, zumal viele von ihnen um den Begriff des Mädchenhandels kreisen. Nachdem die Posse Rund um den Kongreß unmittelbar nach ihrem Erscheinen nicht aufgeführt wurde, hat sich Horváth in einigen anderen Werkprojekten, die deutlich unter dem Einfluss der Posse stehen, noch einmal mit der expliziten Thematik des Mädchenhandels beschäftigt. In einem fragmentarisch gebliebenen dramatischen Werkprojekt mit den alternativen Titeln Die Mädchenhändler und Von Kongress zu Kongress (1929/30), das man als Nacharbeit zur Posse verstehen könnte, wollte Horváth die Thematik und den Kongress zur Bekämpfung des Mädchenhandels noch einmal neu aufrollen. Die VA2 zu Geschichten aus dem Wiener Wald, das Dramenprojekt Ein Fräulein wird verkauft (1930), ist nicht nur personell, sondern auch inhaltlich eng mit der Posse verwandt, blieb aber ebenfalls Fragment.66 Der Transfer der Figurennamen und ganzer Textpassagen ist jedenfalls von Rund um den Kongreß zu Ein Fräulein wird verkauft erfolgt, das erst etwa ein Jahr nach der Posse entstanden ist. Der Mädchenhandel bzw. der Verkauf des weiblichen Körpers aus wirtschaftlicher Not ist, wie erwähnt, auch das zentrale Thema von Horváths großen Volksstücken Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald (beide 1931), Kasimir und Karoline (1932) und Glaube Liebe Hoffnung (1933). In ihnen hat Horváth die Thematik subtiler und möglicherweise auch realitätsnaher dargestellt und konnte damit sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik landen.

Uraufführungen und Rezeption Mit den hier versammelten frühen Dramen bahnte sich Horváths Karriere als Dramatiker auf deutschen Bühnen an. Seine ersten nennenswerten dramatischen Versuche Ein Epilog, Mord in der Mohrengasse und Niemand wurden zu Lebzeiten des Autors nicht aufgeführt. Während die dramatische Skizze Ein Epilog bis heute unaufgeführt 63

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Vgl. Krischke 1988 (Anm. 3), S. 31 und das Faksimile des Inskriptionsformulars Horváths vom Sommersemester 1921 in Heinz Lunzer/Viktoria Lunzer-Talos/Elisabeth Tworek: Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg/Wien: Residenz 2001, S. 25. Vgl. oben und Anm. 26. Vgl. Horváth 2009b, S. 222. Vgl. WA 3/VA2.

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ist, wurden Mord in der Mohrengasse 1980 und Niemand, nach der Wiederentdeckung des bis 2015 verschollenen Stückes, 2016 in Wien uraufgeführt. Das erste Stück Horváths, das auf die Bühne gebracht wurde, war Revolte auf Côte 3018.67 Bereits am 20. Juni 1927 schrieb der Autor an den Theaterkritiker Herbert Ihering: Sehr verehrter Herr Ihering, leider kann ich Sie nun nicht persönlich über mein Stück „Revolte auf Côte 3018“ sprechen, da ich vor ungefähr 14 Tagen Berlin plötzlich verlassen musste. Da Sie mir aber Anfang Juni telephonisch mitteilten, dass ich bis Mitte des Monats Ihr Urteil hören könnte, erlaube ich mir nun mich schriftlich an Sie zu wenden und wäre Ihnen sehr dankbar um wenige Worte. – Falls Sie das Buch nicht mehr gebrauchen sollten, legen Sie es, bitte, in das beiliegende Couvert. Ich besitze nämlich kaum Exemplare. Mit vorzüglicher Hochachtung! Ihr Ödön Horváth68

Horváth hatte dem bekannten Kritiker sein Stück bereits im Mai 1927 zur Lektüre vorgelegt.69 Leider ist kein Antwortschreiben Iherings überliefert, sodass nicht nachgewiesen ist, ob er das Stück je gelesen bzw. wie es ihm gefallen hat. Im August 1927 wurde im Anzeigenblatt für die dramatischen Werke des Volksbühnen-Verlags auf Horváths Volksstück hinwiesen: „Ein junger, noch unbekannter Autor, legt hier eine überraschende Talentprobe ab.“70 Zugleich wurde im Anzeigenblatt gemeldet, dass das Stück von den Hamburger Kammerspielen und den Vereinigten Deutschen Theatern Brünn angenommen worden war.71 Revolte auf Côte 3018 wurde schließlich am 4. November 1927 unter dem Titel Revolte auf Höhe 3018 in der Regie von Hanns Lotz an den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt. Das Bühnenbild stammte von Johannes Schröder.72 Folgende Schauspieler kamen zum Einsatz: Gerhard Mittelhaus (Karl), Hans Stiebner (Schulz), Lotte Brackebusch (Veronika), Herbert Köchling (Xaver), Herbert Gernot (Sliwinski), Bruno Herrfurth (Reiter), Siegfried Schürenberg (Moser), Eugen Klimm (Oberle), Jakob Buoni (Hannes), Ernst Fritz Fürbringer (Simon), Egon Clander (Maurer), Hans Hinrich (Ingenieur) und Hermann Bräuer (Aufsichtsrat).73 Die Besprechungen waren größtenteils negativ und fanden an Horváths Volksstück wenig Lobenswertes. Im Hamburger Echo vom 5. November 1927 etwa hieß es: Dieses Volksstück von Ödön von Horváth ist soziale Kolportage, Theater in grellem Buntdruck, das wohl ein Bühnentalent offenbart, aber als Ganzes keine Bereicherung des Repertoires ist.

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Nicht als Drama gewertet wird Das Buch der Tänze, eine Folge von Prosaskizzen, die am 19. Februar 1926 im Städtischen Theater in Osnabrück als „Tanzfolge“ uraufgeführt wurden. Vgl. dazu den Abschnitt „Datierung und Drucke“ in diesem Vorwort und KW 11, S. 263 sowie Traugott Krischke (Hg.): Horváth auf der Bühne. 1926–1938. Eine Dokumentation. Wien: Edition S 1991, S. 11–18. Brief Ödön von Horváths an Herbert Ihering vom 20. Juni 1927, zitiert nach dem maschinenschriftlichen Original im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Ihering-Archiv, M. 1593. Vgl. oben und Anm. 18. Anzeigenblatt Nr. 2, 1927 (Anm. 19). Vgl. ebd. Vgl. Krischke 1991 (Anm. 67), S. 19. Vgl. ebd. und KW 1, S. 285.

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Horváth zeigt einige wirklich gelungene Szenen, die mit Geschick entworfen sind. Aber damit ist’s auch aus. Inhaltlich soll eine zwar unklare, aber anständige Gesinnung mangelnde Qualität ersetzen.74

Noch deutlicher formulierte der Kritiker seinen Vorbehalt in folgenden Zeilen: Ginge das Ganze als dramatischer Entwurf, Skizzen zu einem Drama oder dramatisches Fragment, dann wäre man immerhin zufrieden gewesen. Diese Szenen aber als Volksstück auszugeben, ist eine reichlich überhebliche Anmaßung.75

Der Vorwurf der Anmaßung überrascht, zumal das Stück vom heutigen Standpunkt aus äußerst konventionell und organisch gebaut erscheint. Den Vorwurf der Skizzenhaftigkeit wird sich Horváth jedoch noch lange und von wesentlich prominenteren Kritikern anhören müssen.76 In den Kritiken zu Revolte auf Côte 3018 sind sich die Rezensenten größtenteils einig, dass das alles zu skizzenhaft sei: „Dieses Stück ist kein Stück. Es ist allenfalls eine Studie. Und ob man es als solche eine Talentprobe nennen darf, ist zum mindesten fraglich.“77 Da ist von der „totgeborenen Sache“78 die Rede und dem Autor wird vorgeworfen: [W]as dazu gehört, einen dramatischen Gedanken künstlerisch zu gestalten oder ein brauchbares Theaterstück fest auf die Beine zu stellen, das ist ihm [dem Autor; Anm.] anscheinend noch nicht recht klar geworden.79

Der Rezensent des Hamburger Fremdenblattes kommt deshalb zu dem Fazit: „Ich habe noch nicht oft in vier Akten so viel Überflüssiges beieinander gesehen.“80 In den Hamburger Nachrichten ist sogar die Rede davon, dass es angesichts dieses Stückes erstaunlich sei, daß nicht im Publikum Revolte ausbrach. Revolte gegen die Zumutung, Zeuge von Untalentproben sein zu müssen; gegen dramatische Schülerarbeiten; gegen die Notzüchtigung des Publikums mit unoriginellem Gewäsch, mit dem ewigen Klischee von der gewissenlosen Ausbeutung des Arbeiters durch Kapitalismus und Streber.81

Auch der Kritiker der Münchener Zeitung formuliert wenig Schmeichelhaftes zu Stück und Autor: Die Hamburger Kammerspiele haben einem bisher unbekannten Autor, Ödön von Horváth, zur Aufführung eines seiner Stücke verholfen. Horváth ist Ungar, in Fiume geboren, in Deutschland aufgewachsen, er lebt in Murnau und ist erst 26 Jahre alt. Eine Hoffnung für das Theater? Nach diesem Volksstück in bayerischer Mundart, das aus fünf dürftigen Bildern und einer Reihe kaum umrissener blasser Figuren besteht, kann man leider nicht viel von ihm erwarten. […] Mit dem 74

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Br.: „Revolte auf Höhe 3018“. Uraufführung in den Hamburger Kammerspielen. In: Hamburger Echo, 5.11.1927. Ebd. Vgl. etwa WA 2, S. 10 und WA 3, S. 5f. und 29. C M-R [i.e. Carl Müller-Rastatt]: Revolte auf Höhe 3018. Ur-Aufführung in den Hamburger Kammerspielen. In: Hamburgischer Correspondent, 5.11.1927. E.A.G.: „Revolte auf Höhe 3018“. Uraufführung in den Hamburger Kammerspielen. In: Hamburger Fremdenblatt, 5.11.1927. Ebd. Ebd. O Sch [i.e. Otto Schabbel]: „Revolte auf Höhe 3018.“ Volksstück von Ödön Horvárth. Uraufführung in den Hamburger Kammerspielen. In: Hamburger Nachrichten, 5.11.1927.

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gröbsten Realismus des Wortes und der Wirkung wird die Handlung zur Katastrophe getrieben; am Ende gibt es vier Tote.82

Einige Kritiker sahen immerhin den „ganz begabten Versuch eines Anfängers“83, hatten aber Zweifel, dass das ausreiche: „Ob das Talent des jungen deutschschreibenden Ungarn stark genug ist, einmal reiche Früchte hervorzubringen, läßt sich aus diesem schwachen Versuch mit unzureichenden Mitteln noch kaum erkennen.“84 Ein Kritiker äußerte sich immerhin hoffnungsvoll, was die Zukunft des Autors Horváth betrifft: „Der Autor, von dem ich sehr feine Novellen kenne, hat den Beweis, daß er ein Theaterstück schreiben könne, nicht erbracht. Er hat ihn doch erbracht. Er wird es noch können.“85 Horváth war von den größtenteils negativen Kritiken einigermaßen betroffen, was ihn dazu bewog, sein Stück umzuschreiben. So kam es zu der Neufassung unter dem Titel Die Bergbahn, die ebenfalls noch 1927 im Volksbühnen-Verlag als Stammbuch vervielfältigt wurde. Statt vier Akten umfasste die Neufassung nur noch deren drei.86 Die Uraufführung der Bergbahn fand am 4. Jänner 1929 an der Berliner Volksbühne, dem Theater am Bülowplatz, statt. Regie führte Viktor Schwannecke, das Bühnenbild stammte von Edward Suhr. Folgende Schauspieler teilten sich in die Rollen: Wolfgang Helmke (Karl), Wolfgang Staudte (Schulz), Grete Bäck (Veronika), Siegmund Nunberg (Xaver), Friedrich Gnas (Sliwinski), Hans Baumann (Reiter), Ernst Karchow (Moser), Adolf Manz (Oberle), Paul Kaufmann (Maurer), Ernst Ginsberg (Hannes), Fritz Klaudius (Simon), Peter Ihle (Ingenieur) und der Regisseur Viktor Schwanneke (Aufsichtsrat) selbst.87 Die Besprechungen der Uraufführung von Die Bergbahn fielen nicht wesentlich besser aus als jene zu Revolte auf Côte 3018, begründeten aber Horváths Ruf als sozialkritischer Autor mit Hang zum Marxismus. Das Stück wurde in allen wichtigen Medien des Berliner Kulturbetriebs und von prominenten Kritikern besprochen. Alfred Kerr verquickte im Berliner Tageblatt das Schicksal des Stückes unmittelbar mit dem Schicksal der Volksbühne: I. Wenn der stürmische Beifall dieses Abends die Volksbühne festigt: so wird es den Freunden einer grossartigen Unternehmung willkommen sein. Sie darf nicht gesprengt werden; sie darf nicht zerspalten werden; sie darf nicht genullt werden. Ein Arbeiter, Neft, hat sie hochgebracht. Es ist ohne Beispiel. Sie selber hat ihresgleichen in keinem Lande der Welt an Macht und Umfang. Die Theatre Guild in New-York; das Théâtre Populaire in Paris: Anfänger sind es gegen dies Werk an der Spree.88

Dem langen Vorsatz (in vier Absätzen) über die Vorzüge und Probleme der Volksbühne folgt ein kurzer Absatz über Horváths Stück: 82 83

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ng.: Hamburger Uraufführung. „Revolte auf Höhe 3018“. In: Münchener Zeitung, 12.11.1927. Nicht eruierte Rezension aus dem Archiv Steinfeld, Köln, zit. nach Krischke 1991 (Anm. 67), S. 27. Nicht eruierte Rezension aus dem Archiv Steinfeld, Köln, zit. nach Krischke 1991 (Anm. 67), S. 26. Nicht eruierte Rezension aus der Sammlung Krischke, zit. nach ebd. Zu den Details der Umarbeitung vgl. Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes. Vgl. Krischke 1991 (Anm. 67), S. 29. Alfred Kerr: Oedön Horvath: „Die Bergbahn“. Volksbühne. In: Berliner Tageblatt, 5.1.1929.

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V. Soviel über das Stück von Oedön Horvath. Nein – es hat ausserdem ein Verdienst: indem es Proletarier des Gebirgs mit ihrem beginnenden Dämmer von Klassenwillen, mit ihrem Uebergang von Klage zur Anklage zeigt. Ein Hinüberwehen von der industriellen Ebene zur Bergeinsamkeit. Alles in empfundener und kitschfreier Art. Es ist (relativ) ein ausgezeichneter Griff; für die Volksbühne. Just noch das Mass, das ihre Kleinbürger willig schlucken. Das sie (wir leben in Deutschland) nicht nur nachdenken lässt, sondern sie zu einem gemässigt-festen Handeln spornt… ohne dass sie von der rechtsbezahlten Falle gekapert würden. Wir leben in Deutschland.89

Kerrs Hinweis auf Horváths „empfunden[e] und kitschfrei[e] Art“ muss man als großes Lob aus dem Munde dieses streitbaren Kritikers ansehen. Relativierend ist freilich der Nachsatz zu verstehen, dass das Stück ein „ausgezeichneter Griff“, aber eben ‚nur‘ „für die Volksbühne“ sei. Dem linksbürgerlichen Kerr ist Horváths Blick auf das Proletarier-Milieu jedenfalls willkommen. Zumindest sieht er darin Möglichkeiten, das kleinbürgerliche Publikum der Volksbühne zu begeistern und zum Nachdenken, ja sogar zum Handeln anzuregen. Kerr hebt damit die klassenkämpferischen und klassenbewusstseinsbildenden Aspekte des Stückes positiv hervor. Wichtig ist auch sein Hinweis darauf, dass mit Stücken wie demjenigen Horváths die Proletarier eventuell vor dem Abdriften ins rechte Lager bewahrt werden können. Deutlich kritischer nimmt sich Emil Faktor im Berliner Börsen-Courier aus: Wenn Oedön Horváth noch sehr jung ist, kann man sich da und dort an einen Streifen Charakteristik, vielleicht auch an den symbolischen Leitsatz halten: „Einmal schlägt ein jedes Wetter um“. Gesinnung ist auch da, in einer Form freilich, die unter dem Niveau abgedroschener Versammlungsphrasen steht. Die Dramatik selbst ist Stilvermanschung mit Konflikten, die nicht stichhalten. Dem Autor schwebt die Tragödie eines Bergbahnbaues vor, bei welchem die Arbeiterschaft revoltiert. Sein Stück schildert das sinnlose Tempo eines selbst gepeitschten Ingenieurs, der ebenso sinnlos bei Schneegestöber in die wegen Entlassung sich auflehnende Belegschaft hineinknallt. […] Ohne Unglücksfälle ist seit der Erfindung der Lokomotive kein noch so bescheidener Bahnbau durchgekommen. Sie wären beklagenswert häufiger, wenn die Ingenieure ihre Werke so mangelhaft und widernatürlich konstruieren würden wie Horváth seine Bergbahnkonflikte.90

Faktor stellt auch den Bezug zur Volksstück-Tradition her, wenn er schreibt: „Selbst bei Ganghofer wird besser geraaft und witziger gutgemacht.“91 Sein Fazit lautet deshalb: „Alles in allem ein naturalistischer Jahrmarkt mit antikapitalistischen Redensarten und auch, wie gesagt, symbolisch.“92 Und er fügt dem hinzu: „Im besten Falle hätte man von Horváth ein nächstes Stück einfordern sollen.“ Auch Julius Knopf kommt in der Berliner Börsen-Zeitung zu keinem wesentlich besseren Urteil: Felssprengungen mit Dynamit, daß die Kulissen nur so zitterten – krachendes, brüllendes, bullerndes, nicht endendes Gebirgsgewitter – knatternde Revolverschüsse – wenn diese aufreizenden, ohrenbetäubenden Geräusche als Wertmesser eines Schauspiels dienen dürften, so könnten wir ausrufen: habemus papam! Sehet, der neue Dramatiker ist uns erstanden! Aber der deutschschreibende Ungar Horváth verübt damit nur Attentate gegen das Trommelfell. Sie erschüttern 89 90 91 92

Ebd. Emil Faktor: Die Bergbahn. Theater am Bülowplatz. In: Berliner Börsen-Courier, 5.1.1929. Ebd. Ebd.

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die Luft und nicht die Seele. Gleichwie die ach! so oft gehörten Schwulstreden gegen Kapitalismus, Unternehmertum, Ausbeutung. Tiraden, die ihre billigen Wirkungen nur auf ein kritiklos darauf eingestelltes Publikum erzielen können.93

Immerhin wird Horváth jedoch, der „kein Dramatiker“ sei, zugestanden, eine „annehmbare Begabung für die photographisch getreue Zeichnung von Menschen“ zu haben: „Er spricht ihre Sprache – oft zu bewußt vulgär in den Kraftausdrücken der Gasse – und stellt sie mit beiden Beinen fest auf den Boden der Wirklichkeit.“94 Horváth sei „Zustandsschilderer, Neonaturalist“, aber: „In dem photographischen Kunsthandwerk erschöpft sich sein Talent, das das Manko an dramatischem Können durch äußerliches Kulissenlärmen zu ersetzen vermeint.“95 Genau das echte Empfinden, das ein Kerr noch wahrgenommen hatte, wird Horváth von Knopf abgesprochen. Der Autor habe kein „Herz“ und kein „Mitgefühl“: „[D]as Mitleid meldet sich nicht, weil der Verfasser es nicht vermag, Mitleid zu wecken.“96 Und so wird Horváth von Knopf als „Peripherieschriftsteller“ und „Klischeeschriftsteller“ bezeichnet.97 Sein Aufsichtsrat sei „nach der Schablone der kommunistischen Dutzendliteratur“ gestaltet.98 Auch Horváths Ingenieur-Figur wirft er vor, „am Kaffeehaustisch geboren“ zu sein.99 Die Regie aber habe das „volksstückmäßig massive Tendenzstück“ durch die Fülle der „Sensationen“, die sie aus der Drehbühne hervorgezaubert habe, zu einem „Schaustück“ gemacht.100 Gänzlich anders sieht das Franz Leppmann in der B.Z. am Mittag, in der einige von Horváths Kurzprosa-Texte der Mitte der zwanziger Jahre erschienen waren. Er hält dem Autor vor allem soziale Empathie, dialektale Ausdruckskraft und das Überschreiten der Klassengrenzen zu Gute: Gestern hat sich im Theater am Bülowplatz mit einem lärmvollen Stück ein junger Mann, ein neuer Mann vorgestellt, der wohl so etwas ist wie ein junger Dichter, ein neuer Dichter. Heißt Ödön von Horváth, 1901 in Fiume geboren, Vater ungarischer Diplomat, Halbkroate, Mutter halb Deutsche halb Tschechin, die ganze ehemalige k. u. k. Monarchie hat Anteil an ihm. Und nicht genug damit: lebt in Oberbayern, was sage ich: hat dort tiefe Wurzeln geschlagen. Sieht, hört, schmeckt, riecht bayrisches Volk, bayrisches Vo l k , als wäre er nicht als gemischtblütiger Aristokrat auf die Welt gekommen, sondern als Holzknecht in der Gegend von Murnau am Staffelsee. Die Schranke seiner Nationalität hat er nicht weniger wirksam durchbrochen als die seiner Klasse. Er hat dem Proletariat bayrischer Färbung nicht nur aufs Maul geguckt, sondern auch in die Seele. Er weiß, wie es denkt und fühlt, und wo es der Schuh drückt. Er hat seinen Ton weg, seine Derbheit, seine Dumpfheit, seinen Haß, seine Ratlosigkeit. So formen sich Gestalten rücksichtsloser Echtheit, keine Salontiroler.101

Ähnlich respektvoll äußert sich Kurt Pinthus im 8-Uhr-Abendblatt: Das knappe Stück des siebenundzwanzigjährigen Ungarn Ödön von Horváth, der, in Fiume geboren, nach Schulbesuch in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien in deutscher Sprache schreibt, 93

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Julius Knopf: Ödön Horváth: „Die Bergbahn“. Volksbühne am Bülowplatz. In: Berliner BörsenZeitung, 5.1.1929. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Franz Leppmann: Die Bergbahn. Theater am Bülowplatz. In: B.Z. am Mittag, 5.1.1929.

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ist ein Volksbühnenstück, ist ein Gesinnungsstück. Der Sproß des adligen Diplomaten schrieb ein soziales Zeitstück, das in die Zukunft weist, auch in die Zukunft des Autors, auch in die Zukunft der Volksbühne. Kein Meisterstück; aber ein begabtes, klares, reinliches Stück.102

Anders etwa als Faktor und Knopf nimmt Pinthus in Horváths Menschengestaltung keine billigen Schablonen und Klischees wahr, sondern sogar eine erhebliche soziale Ausgewogenheit: Wie die Proletarier keine Edelinge und Gütemenschen, so sind, umgekehrt, die Höherklassigen keine ausgemachten Bösewichte. Der Ingenieur: Opfer seines Ehrgeizes und des tyrannischen Kapitals; der Kapitalist: Opfer seiner A.G. Sämtliche Personen des Stücks sind arme Teufel. Opfer einer unmöglich gewordenen Schichtung der Menschheit. Das ists, was der junge Dramatiker kann; er kann auch, ohne spannende Handlung, Spannungen geben; kann, ohne agierenden Helden, das Geschehen vorwärtstreiben. Denn er gibt ein kollektivistisches Stück, das für Piscator hätte geschrieben sein können. – Was er noch nicht kann, ist das Aufbauen, das Auflösen des Dramas. Er führt nicht zu Ende, sondern macht ein Ende. Er macht ein gewaltsames Ende, technisch wie tatsächlich, wenn der Ingenieur auf Bergeshöh‘ ohne Not auf die in Not verzweifelnden Arbeiter schießt, bei furchtbarem Ausbruch der Bergwelt.103

Bruno E. Werner kam in der Deutschen Allgemeinen Zeitung zu keinem so wohlwollenden Urteil. Auch wenn er Horváth „unbedingte[s] Talent und feine[s] Gefühl“ zugesteht, vermag er dem „Tendenzdrama“ keine wirklichen Vorzüge abzugewinnen und sieht in Horváth das Opfer einer „verkünderischen Epoche“: In einer anderen Zeit wie der unseren würde der Autor vielleicht eine menschliche Tragödie geschrieben haben, die die gleiche dramatische und bühnentechnische Ungeschicklichkeit aufwiese, die jedoch Aussicht und Entwicklung erlaubte. In einer verkünderischen Epoche wie der unseren, die Erscheinungsform mit Wesen, Tendenz mit Sinn verwechselt, warf er sich hoffnungslos billigstem, scheinrevolutionärem Filmbluff in die Arme. Der Kampf der Kapitalistenschweine mit den im Grunde edlen Proletariern wird in längstens 5 Jahren keinen Hund mehr hinter dem Ofen vorlocken.104

Auch Monty Jacobs sieht in Horváth ein Opfer, dieses Mal eines der Regie, namentlich des Regisseurs Viktor Schwanneke: Die oberste Pflicht des Spielleiters gebot ihm, die Schwächen seines Neulings auszugleichen, Akzente zu setzen, die dieser geborene Epiker nicht in sein Werk gekerbt hatte, das allzu Breite schlank werden zu lassen. Statt dessen ging sein Sinnen dahin, den vom Dichter freigebig vorgeschriebenen Radau zu verstärken, die alpinen Sprengungen und Sturmstöße jedesmal als Trommelfeuer dröhnen zu lassen, bis der Zuhörer sturmreif zum Endapplaus werde.105

Horváth habe die „Aufsässigkeit sozialer Menscheninstinkte“ und „Klassenkampf“ dargestellt.106 Gewiß er wird dargestellt, aber nicht so armselig plakatiert, wie wir es auf Piscators Bühne erlebt haben. Horvath läßt seine armen Leute freilich noch oft in Pointen sprechen, die nach der Schreibmaschine schmecken. Sein Ingenieur ruft: „Hier gibt es Hetzer?“ „Und Gehetzte!“, antwortet prompt ein Arbeiter. Das ist Literatur. Aber vorher hat einer der Proletarier gefragt: „Was gehört dem armen Mann? Wenn die Sonne scheint, der Staub, wenn’s regnet, der Dreck.“ Das ist 102 103 104 105 106

Kurt Pinthus: Horváth: „Die Bergbahn“. Volksbühne. In: 8-Uhr-Abendblatt (Berlin), 5.1.1929. Ebd. Bruno E. Werner: „Die Bergbahn“. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 5.1.1929. Monty Jacobs: Horvaths „Bergbahn“. Volksbühne. In: Vossische Zeitung (Berlin), 5.1.1929. Ebd.

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so echt wie die Wut, die sich im voraus gegen die Fahrgäste der ungebauten Bahn richtet. Das ist vor allem kein Leitartikel, sondern der Stoßseufzer eines Herzens. Wes das Herz voll ist, des läuft Horvaths Mund noch über. Ohne Akzente, ohne Einkerbungen, die seiner Jugend hoffentlich noch beschert werden, damit sein unbezweifelbares Talent auch vom Geiste des Dramas gesegnet werde. Er lasse nur noch den Humor Macht über sich gewinnen, Humor, wie er ein wenig in der Figur seines Aufsichtsrats keimt.107

Dieser von Jacobs geforderte Humor, die „Synthese aus Ernst und Ironie“,108 wird Horváths Volksstücke erst nach dem von Jacobs in derselben Besprechung gelobten „Roman-Anfang“ kennzeichnen, beginnend mit Italienische Nacht.109 In Die Bergbahn flackert dieser Humor nur stellenweise auf, wie Jacobs richtig feststellt. Dies dürfte mit ein Grund gewesen sein, wieso das Stück auch Erich Kästner nicht überzeugen konnte. In einer humoristischen Kritik mit dem Titel Berufsberatung im Theater unterstellt er dem Theater am Bülowplatz, mit seinen Stücken von gefährlichen Berufen abzuraten: „In Weisenborns ‚U S4‘ warnte es aufs lebhafteste davor, Matrose zu werden; mit Ödön von Horváths ‚Bergbahn‘ sucht es, die Seinen vom Beruf des Gebirgsbahnarbeiters abzuhalten.“110 Fehle nur noch ein Stück mit dem Titel „Die Feuerwehr“.111 An Horváths Stück aber lässt Kästner wenig Gutes: [M]an vermutet, zwei Akte lang, es handle sich um einen Lehr- und Propagandafilm irgendeiner Oberlandbahn-AG. Damit man doch endlich mal weiß, wie Kabel gerollt werden! Und das würde wohl auch im dritten Akt nicht anders werden, wenn nicht plötzlich schlechtes Wetter einträte. Da reißt dem Stück endlich die Geduld: Es schneit; der Weiterbau ist gefährdet; die Arbeiter wollen Feierabend machen; der Bergingenieur schießt einige von ihnen tot; die übrigen werfen ihn in eine Schlucht. Das hat er davon. Vier Tote bedecken die Volksbühne. Die anderen zucken die Achsel und erklären, abschließend, der Polizei einen Besuch machen zu wollen.112

Und hämisch setzt Kästner fort: Zur Ermunterung des Publikums dienen die Geräuschmaschinen. Es wird gesprengt; es blitzt und donnert; der Wind heult wie im Märchen; Steine prasseln, Ohrfeigen auch. Deshalb spricht sich der Autor mehrfach gegen den Bau von Bergbahnen aus. Arme Leute können die teuren Fahrkarten doch nicht bezahlen. Und so hat, da hilft kein Lachen, das Stück auch seine soziale Tendenz weg.113

Kästners Fazit fällt deshalb äußerst ambivalent aus: „Das Bedürfnis vieler Autoren, dramatische Reportagen zu liefern, ist arg, solange sie keine Dramatiker sind.“114 Die Rezeption der Bergbahn war somit äußerst kontrovers. Der Vorwurf der „Tendenz“ und des „Tendenzstückes“, der die meisten Besprechungen explizit oder implizit prägt, traf Horváth und sein Stück auch bei der zweiten Uraufführung, die er 1929 erlebte, nämlich bei der seines Dramas Sladek, der schwarze Reichswehrmann, uraufgeführt am 13. Oktober 1929 als Matinee am Lessing-Theater in Berlin.115 Einen 107 108 109

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Ebd. Horváth 2009a, S. 164. Vgl. den Vorabdruck des „Roman-Anfangs“ aus Sechsunddreißig Stunden / Herr Reithofer wird selbstlos, der K2 von Der ewige Spießer, im „Unterhaltungsblatt“ der Vossischen Zeitung am 4.1.1929; vgl. WA 14/K2/TS10. Erich Kästner: Berufsberatung im Theater. In: Neue Leipziger Zeitung, 8.1.1929. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. WA 2, S. 11f.

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wirklichen Erfolg bei Publikum und Kritik brachte ihm erst die Uraufführung von Italienische Nacht am 20. März 1931 im Theater am Schiffbauerdamm durch Francesco von Mendelssohn.116 Mit diesem Stück beginnt der Reigen der erfolgreichen, ‚neuen‘ Volksstücke Horváths, in denen er sich nicht nur vom Naturalismus der alten Volksstücke entfernte, sondern auch seinen ganz eigenen Stil der „Synthese aus Ernst und Ironie“117 fand. Mit der Uraufführung von Die Bergbahn endet die Reihe der Uraufführungen der im vorliegenden Band versammelten frühen Dramen Horváths zu seinen Lebzeiten. Erst das Jahr 1969, als die Horváth-Renaissance auf ihrem Höhepunkt war, brachte wieder zwei Uraufführungen früher Dramen. Als Erstes wurde am 5. März 1969 im Theater am Belvedere in Wien, einem kleinen Kellertheater, die Posse Rund um den Kongreß uraufgeführt. Regie führte Irimbert Ganser. Die Bühne stammte von Robert Sylvester. In den Hauptrollen spielten Helmut Scherzer (Alfred), Gerhard Matten (Ferdinand), Margot Skofic (Luise Gift), Gertraud Frey (Fräulein) und Helmut Werthausser (Schminke). In der Wiener Zeitung schrieb Gunther Martin: Unverständnis oder mangelndes Interesse kann nicht schuld daran sein, daß die Posse „Rund um den Kongreß“ so lange, nämlich genau 40 Jahre, ruhte. In seinem „Theater am Belvedere“ brachte Dr. Irimbert Ganser im Nachholverfahren nun die Uraufführung. Ein literarhistorisches Verdienst, ansonsten aber ziemlich verlorene Liebesmüh‘ um Frühwerksschwächen. Gewisse Grundstimmungen, Charakterzeichnungen, Situationen und Dialogpassagen lassen wohl schon den typischen Horvát-Stil anklingen, zeigen aber deutlich, wie weit sich der Autor von fremden Einflüssen, etwa denen der gesellschaftskritischen Farce eines Walter Hasenclever, freischreiben mußte, um zu den ureigenen Höhepunkten seines Schaffens zu gelangen. Eine Etüde im Schanigarten der echten, falschen und manipulierten Gefühle.118

Auch Gotthard Böhm titelte in der Presse „Horváth kündigt sich an“ und verbucht die Posse wie Martin unter dem vorbereitenden Frühwerk:119 Ein interessantes Stück, 1929 entstanden, zwei Jahre vor „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und zehn Jahre vor dem tragisch-grotesken Unfalltod Horvaths in Paris, enthält es vorgeformt bereits alle Elemente, die den späteren Dramen und Romanen des Autors die eigene Note geben.120

Böhms Fazit lautet: „Kurz: ‚Rund um den Kongreß‘ ist eine Etüde, nicht ein genialer erster Wurf.“121 Immerhin sei Horváths Renommee am Theater aber schon derart gefestigt, dass ihm diese schwächere frühe Posse nicht schaden könne: „Das Publikum ging so interessiert mit, als bestünde es aus Literaturstudenten. Womit bewiesen wäre, daß Horvath ganz in unserem Besitz ist.“122 116 117 118

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Vgl. ebd., S. 224–226. Horváth 2009a, S. 164. Gunther Martin: Im Schanigarten der Gefühle. Uraufführung eines Horváth-Stückes im Theater am Belvedere. In: Wiener Zeitung, 7.3.1969. Gotthard Böhm: Horvath kündigt sich an. Uraufführung der Posse „Rund um den Kongreß“ im Theater am Belvedere. In: Die Presse (Wien), 7.3.1969. Ebd. Ebd. Ebd.

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André Müller konstatierte in der Illustrierten Kronen Zeitung: „Kein erster Gehversuch eines Jünglings, sondern ein schlechtes Stück des schon genialen 28jährigen.“123 Dem Theaterleiter und Regisseur wird auch von ihm ein literarhistorischer Anspruch unterstellt: „Am Belvedere ist man hausbacken, brav, penetrant wissenschaftlich.“124 Und sein Resümee lautet: „Wem solch naiver Idealismus das Herz höher schlagen läßt, der kommt auf seine Rechnung.“125 Ulf Birbaumer hat in den Salzburger Nachrichten deutlich mehr Verständnis für das Stück, das er durchaus anerkennend zu den „politisch und sozialkritisch aggressiven Frühwerke[n]“ zählt, lobt aber vor allem die Regie: „Ein Erfolg ehrlicher Arbeit (trotz geringer Mittel) und ein Erfolg gezielter Dramaturgie. Ich schlage eine geschlossene Vorstellung für die Direktoren großer Wiener Theater vor.“126 Fast wortident mit Gunther Martin konstatiert Michael Glaser in der Münchener Abendzeitung: „Und tatsächlich ist die fünfbildrige Posse ‚Rund um den Kongreß‘ eine Etüde, kein genialer Erstlingswurf.“127 Dennoch hält er das Stück für „interessant“: Ein Blick in die Werkstatt eines geborenen Dramatikers. Vorgeformt alles, was etwa „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“ oder „Hin und her“ zu unverlierbaren Werken des Repertoires macht. Da duckt sich Bestialität hinter spießiger Fassade, da kämpft ein Mensch gegen Lüge, Phrase, Dummheit. Auch Horvaths Sprache, jene zwangshaft im Süddeutschen angesiedelte, die Alltagswendungen bedeutungsvoll macht, trifft man hier schon an. Sonst aber: expressionistischer Krampf, symbolistische Schlacken, dramaturgische Grobheit, unmäßige Übersteigerung grotesker Züge.128

Sein „Fazit“ lautet dennoch: „eine lohnende Begegnung.“129 Der Kritiker der kommunistischen Volksstimme Hugo Huppert sieht in der frühen Posse kein „unreifes Jugendwerk, das etwa nur dünne Gedanken und eine schwächliche Fabel zu bieten hätte“, sondern eher „das Gegenteil“: „zu viel auf einmal!“ Nennen wir die angeschlagenen Themen: Sittlichkeit und Kriminalität im kleinen, Heuchelei der bürgerlichen Moralpredigten, Geschäftspraktiken des Mädchenhandels, Tarnungen des SexMarktes, lesbische Liebe und Prostitution, erotische Börse und Zerfall der Familienethik, weltweite Vereinsmeierei einer sexuellen „Stellenvermittlung“, Zusammenhang zwischen Produktionsverhältnissen und Verwandlung der Frau in die international quotierte Ware.130

Das Problem sei nur, dass „[a]lles“ „angeschlagen“ ist, aber „nichts konsequent durchgeführt“.131 Die „Motive“ des Stückes würden für vier Stücke reichen.132 123

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André Müller: Immerhin eine Uraufführung. Horvaths Posse „Rund um den Kongreß“ im Theater am Belvedere. In: Illustrierte Kronen Zeitung (Wien), 7.3.1969. Ebd. Ebd. Ulf Birbaumer: Verhöhntes Humanitätsgefasel. Horvath-Uraufführung im Wiener Theater am Belvedere. In: Salzburger Nachrichten, 12.3.1969. Michael Glaser: Lüge, Phrase, Dummheit. Horváth-Uraufführung im Wiener Theater am Belvedere. In: Abendzeitung (München), 11.3.1969. Ebd. Ebd. Hugo Huppert: Späte Horvath-Uraufführung. „Rund um den Kongreß“ im Theater am Belvedere. In: Volksstimme (Wien), 7.3.1969. Ebd. Vgl. ebd.

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Warum die Posse Rund um den Kongreß, die bereits 1929 als Stammbuch des zum Ullstein-Verlagskonzerns gehörenden Arcadia Verlags veröffentlicht wurde, zu Lebzeiten Horváths keine Uraufführung erfuhr, darüber ist nichts bekannt. Vermutlich war das Stück, das bereits wesentliche Ingredienzien der späteren Volksstücke, vor allem deren „Ironie“ enthält, mit seiner expliziten Thematisierung der Prostitution bzw. des Mädchenhandels im labilen Klima der späten zwanziger Jahre nicht aufführbar. Leichter drang Horváth dort mit den die Thematik weniger explizit verhandelnden Volksstücken der frühen dreißiger Jahre durch. Die bereits 1927 als Stammbuch verlegte Komödie Zur schönen Aussicht hätte noch 1929 am Dresdner Residenztheater von dem von Paul Verhoeven gegründeten „Studio Dresdner Schauspieler“, das sich „als Uraufführungsbühne experimenteller Werke“ verstand, uraufgeführt werden sollen. Doch aus Geldmangel des Ensembles wurde die Produktion schließlich fallen gelassen.133 Weitere Interessenten für das Stück fanden sich zu Lebzeiten des Autors nicht. Dabei läutete die Komödie gewissermaßen bereits den Ton der ‚neuen‘ Volksstücke Horváths der frühen dreißiger Jahre ein. Zur schönen Aussicht wurde jedoch erst am 5. Oktober 1969 im Rahmen des Festivals „Steirischer Herbst“ am Grazer Schauspielhaus unter der Regie von Gerald Szyszkowitz uraufgeführt. Die Bühne stammte von Wolfgang Skalicki. Es spielten Fritz Holzer (Strasser), Lotte Marquardt (Christine), Ruth Birk (Ada von Stetten), Branko Samarowski (Max), Wolfram Berger (Karl), Walter Kohls (Müller) und Heribert Just (Emanuel von Stetten).134 Rudolf Kellermayr lobte in der Kleinen Zeitung die Regie, hatte aber gegenüber dem Stück doch deutliche Bedenken: Es ist ein Frühwerk, 1926 geschrieben, bitterer, böser, galliger und weniger versöhnlich als manch späteres „Volksstück“; grellere Charaktere, weniger realistische Typen als in den nächsten Dramen; zum Teil recht sorglos in der Machart; Themen werden aufgenommen und wieder fallengelassen; der übersichtlicheren Konstruktion wegen – das erinnert an Dürrenmatt, der sich allerdings von seinen „Bombeneinfällen“ oft nicht mehr freimachen kann; ein eigenwilliger, unverwechselbarer Text, in nach-expressionistischer Diktion, sehr deutlich auf assoziativem Wege entstanden und nach Portionen, brockenweise aufgeteilt auf die verschiedenen Stimmen dramatis personarum – ein Text, dem die hintergründige Naivität und der heimliche Zusammenhang der späteren Dialoge Horváths noch fehlt, der aggressiver, direkter und bewußter auf die Pointe hin entwickelt ist.135

Dem kann man nur bedingt zustimmen, stellt doch Zur schönen Aussicht aus heutiger Sicht einen wesentlichen Stein im Mosaik der Horváth’schen Komödien und Volksstücke dar. Immerhin legt der Kritiker der Kleinen Zeitung neben dem Hinweis auf Dürrenmatt noch weitere Fährten zur Literaturgeschichte, die vermuten lassen, dass Horváths Komödie doch einiges an literarhistorischer Bedeutung hat: Es ist ein groteskes Ballett menschlicher Niedertracht, Armseligkeit und Bosheit, das sich hier abspielt, und das im Ansatz bereits Themen und Gestalten der heutigen Dramatik aufweist, Bezugspunkte setzt, die zu Anouilh ebenso führen wie zu Sartre, zu den sogenannten Absurden und zu Dürrenmatt.136 133 134

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Vgl. KW 1, S. 291. Eine Film-Fassung von Zur schönen Aussicht, in derselben Besetzung und Regie (ergänzt um Hermann Lanske als Filmregisseur), kam 1970 heraus, vgl. www.imdb.com/title/tt1237826. Rudolf Kellermayr: Ballett menschlicher Niedertracht. In: Kleine Zeitung (Graz), 7.10.1969. Ebd.

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Der Hinweis auf Anouilh und Sartre legt eine Interpretationsachse, die Horváths Stück als Kammerspiel begreift, eine Lesart, die bis heute Gültigkeit beanspruchen kann. Der Bezug zu Dürrenmatt ist auch (aber nicht nur) dem spezifischen theatergeschichtlichen Hintergrund der sechziger Jahre geschuldet, mag aber vielleicht heute nicht mehr unbedingt naheliegen. Vielmehr fällt die Nähe zur Wiener Volkskomödie eines Nestroy oder Raimund vor oder zu den Verwechslungskomödien eines Molière oder Goldoni auf, als eine zu den (tragischen) Kammerspielen der französischen Existentialisten oder zur Tragikomödie Dürrenmatts. Herbert Nedomansky resümiert in der Wiener Presse: Kein großer Wurf, dieses Werk, 1926, im Jahre der „Revolte auf Côte 3018“ in Berlin entstanden. Dennoch schon der ganze Horvath. Prototypen für spätere Figuren und Stücke stecken darin, auf die er dann auch prompt zurückgegriffen hat. Dieses Modell- und Etüdenhafte, das sich hier in Skizze und Entwurf offenbart, zur schönen Aussicht auf nachfolgende Arbeiten wird, macht die Begegnung mit dem Frühwerk aufschlußreich.137

Wie bei der Rezeption so vieler spät uraufgeführter früher Dramen, wird auch Zur schönen Aussicht in der Kritik meist auf das spätere Werk bezogen und nur in seiner Funktion als Vorläufer und Wegbereiter gesehen. Nedomansky sieht das ebenso, erkennt aber auch die genuine Werkhaftigkeit von Zur schönen Aussicht: Da ist schon die Vivisektion der brüchigen Charaktere, die Gabe, das Gemeine sichtbar zu machen, die Menschen in ihrer Schäbigkeit vorzuführen, in ihrer Niedrigkeit, Roheit und Lächerlichkeit. Da ist auch schon die rechthaberische Art, Komödie zu nennen, was doch nur die Kehrseite der Komik zeigt, die Antithese, die Desillusion. Zugegeben, hier wird von Horvath noch fleißig experimentiert, ausprobiert, was vom frühen Brecht, was von Wedekind, was vom Expressionismus der ersten zwanziger Jahre des dramatischen Laboratoriums Berlin brauchbar, verwertbar, haltbar sein könnte. Da ist aber auch schon der Blick und der Spürsinn fürs Atmosphärische, fürs Milieu, für das Zeitkolorit.138

Das besondere Augenmerk Nedomanskys gilt der weiblichen Hauptfigur des Stückes, Christine: In ihr „zeichnen sich schon Horvaths spätere Mädchengestalten ab, von der Marianne (in „Geschichten aus dem Wiener Wald“) bis zur Unbekannten aus der Seine“: Mit ihrem Auftritt schürzt sich der dramatische Knoten. Mit ihr bricht Leben in das Panoptikum ein; sie, die anfangs Verfemte, von allen Gehetzte, die einfach fertiggemacht werden soll, und die dann zur Vielumworbenen wird, als sie sich als reiche Erbin deklariert, geht aus dem Spelunkendasein dieser Gesellschaft „von Stand“ als einzig Heilgebliebene mit der schönen Aussicht auf ein besseres Leben hervor.139

Nedomanskys Fazit lautet: Eine gallbittere Komödie also, durchsetzt mit lyrischen Passagen, durch die ein Stück jener späteren Horvath-Metaphysik schimmert, die sich hier schon ankündigt. Wohl ist noch vieles Fragment, bloße Andeutung. Dennoch schon der ganze Horvath.140 137

138 139 140

Herbert Nedomansky: Dennoch schon der ganze Horvath. Uraufführung der Komödie „Zur schönen Aussicht“ in Graz. In: Die Presse (Wien), 7.10.1969. Ebd. Ebd. Ebd.

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Als „kleine literarische Sensation“ pries Harald Kaufmann in der Grazer Zeitung Neue Zeit die Uraufführung von Zur schönen Aussicht an.141 Die notorische Kritik an der Unfertigkeit und dem unorganischen Bau der Horváth’schen Werke, insbesondere des Frühwerks, weist der Kritiker entschieden zurück. Vielmehr sieht er Horváth als ganz wesentlichen und frühvollendeten Proponenten eines „Abbaus herkömmlicher dramaturgischer Form“, mit der Horváth nur nicht ganz „zu Ende“ gekommen sei.142 Was für ein Prophet war dieser Frühvollendete, wie hat er in der Entwicklungslosigkeit seiner Dramen die Entwicklung vorausgeahnt, in stationärer Atmosphäre gründlich Illusionen durchsichtig gemacht? Das früh von seinen Bewunderern erkannte Talent Horváths, dichte, knappe Dialoge von bittersüßer Wirklichkeitsnähe schreiben zu können, seine genialische Kraft, im Gestammel eines künstlich gezüchteten Bühnendialekts in die Seele der Figuren zu treffen, überragen in heutiger Sicht das Unfertige.143

Und Kaufmann resümiert: „Bewundernswert an der Komödie […] ist der Reichtum an bereits unverwechselbar Horváthischer Musik.“144 Und: „Jede der hier auftretenden Typen könnte auch in den späteren Stücken Horváths vorkommen.“145 Bemerkenswert ist auch, was er zur Sprache des Stückes schreibt: Die Sprache des Stücks ist in sich reif und vollendet. Es ist dieser geliebt ins Schriftdeutsch hochgestochene Dialekt mit den vielen Interpunktionszeichen, der hier, fertig wie Minerva aus dem Haupt des Zeus, vor sein Publikum spaziert, dieses Mischmasch aus jüdelndem Leopoldstadt-Wienerisch, Ungarndeutsch, Böhmakeln, Bayrisch und schnoddrig dazwischengestreuten Berliner Brocken. Diese heimatlose Sprache der vielen Heimaten beherrscht Horváth hier schon mit verblüffender Virtuosität.146

Auch in den deutschen Zeitungen wurde die Uraufführung eines Horváth-Stückes wahrgenommen. Klaus Colberg tut die Komödie im Münchner Merkur, in bewährter Tradition, als „Etüde“ ab: Erkennbar ist die Absicht, durch Zusammendrängung des Bösen das für gewöhnlich Nicht-Erkennbare erkennbar zu machen. Doch eben diese Komprimierung des Bösen ist hier noch allzusehr Konstruktion, Kolportage und einschichtige Typologie geblieben. Der Dichter hatte hier noch nicht seine wirkungsvolle, bald unheimliche, bald versteckt satirische Sprache gefunden.147

Und er schließt mit den Worten: „Eine Nicht-Uraufführung von Horvath hätte dem festlichen Programm des ‚Steirischen Herbst‘ besser zu Gesicht gestanden.“148 Gänzlich anders sieht dies Dietmar Grieser im Main-Echo. Die Uraufführung von Zur schönen Aussicht habe einen „ungehobenen Schatz ans Licht gebracht“.149 Das Stück sei

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Harald Kaufmann: Ein unbekannter Ödön von Horváth zu entdecken. Uraufführung der frühen Komödie „Zur schönen Aussicht“ im Grazer Schauspielhaus – Eine kleine literarische Sensation. In: Neue Zeit (Graz), 7.10.1969. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Klaus Colberg: Jagd nach Liebe & Geld in einem miesen Hotel. Uraufführung in Graz: Ein früher Horvath. In: Münchner Merkur, 8.10.1969. Ebd. Dietmar Grieser: Kitsch als Dichtung. Horvath – nunmehr komplett auf der Bühne. In: MainEcho (Aschaffenburg), 8.10.1069.

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eine Komödie der Niedertracht, die zutiefst packt; ein Stück grausam-galliges Desillusionierungstheater, das kein freundlicheres Fazit zuläßt als dieses: Man glaubt nicht ungestraft an das sogenannte Gute im Menschen.150

Und der bei Grieser mit seiner wegweisenden Horváth-Monographie151 ausführlich zitierte Kurt Kahl schlägt in der Stuttgarter Zeitung in dieselbe Kerbe. Er wundert sich, wieso die Komödie „jetzt erst auf die Bühne gelangt“152 ist, denn: Vehementer hat Horváth das Publikum kaum jemals gepackt, eindringlicher hat er die Brutalität des Menschen, die Folge materiellen Desasters, nicht gestaltet. Zum erstenmal zeigt er sich in diesem bösen Spiel im vollen Besitz seiner dramatischen Mittel.153

Mit dem Titel seiner Besprechung, Besuch der jungen Dame, stellt Kahl wie Kellermayr den Bezug zu Dürrenmatt her und verortet Horváths Komödie damit in der zeitgenössischen dramatischen Gegenwart. Auf die Uraufführung 1969 folgten eine Ausstrahlung der in gleicher Besetzung eingespielten Film-Fassung im März 1970 im Österreichischen Rundfunk154, die wohlwollend aufgenommen wurde,155 sowie zahlreiche Inszenierungen im gesamten deutschen Sprachraum, u.a. in Zürich, München, Köln, Frankfurt, Wien und Hamburg. Das Stück gehört bis heute zu den am meisten gespielten Stücken Horváths und steht innerhalb der frühen Dramen auf dem ersten Rang, was die Präsenz auf den deutsch- und fremdsprachigen Bühnen betrifft. Anders als Kellermayr, Kaufmann und Grieser dies in ihren Besprechungen behaupteten, war damit jedoch noch lange nicht das letzte Horváth-Stück uraufgeführt.156 Zwei weitere Uraufführungen folgten noch. Nach einer Audio-Aufnahme, die 1977 mit Vera Borek und Helmut Qualtinger eingespielt wurde,157 fand am 5. Oktober 1980 am Akademietheater in Wien die Uraufführung des Schauspiels Mord in der Mohrengasse statt. Regie führte Klaus Höring. Die Bühne stammte von Xenia Hausner. In den Hauptrollen spielten Franz Morak (Wenzel), Inge Brücklmeier (Mutter Klamuschke), Marika Adam (Ilse), Kurt Schossmann (Paul), Helma Gautier (Mathilde), Paul Baur (Herbert Müller), Blanche Aubry (Altmodische) und Fritz Grieb (Juwelier Kohn). Kurt Kahl lästerte im Wiener Kurier, dass mit dem zweifelhaften Jugenddrama Horváths „Renommee verletzt“ worden sei: „Ob es überhaupt sinnvoll ist, die Jugendsünden von Autoren vor die Öffentlichkeit zu zerren, wird eine Streitfrage bleiben.“158 Immerhin findet er an dem Stück aber interessant, „was Horváth später daraus gemacht hat“, „denn Phrasen, Charaktere und Situationen hat er in andere 150 151

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Ebd. Kurt Kahl: Ödön von Horváth. Velber bei Hannover: Friedrich 1966. (= Friedrichs Dramatiker des Welttheaters, Bd. 18) Kurt Kahl: Besuch der jungen Dame. Oedön von Horváths frühe Komödie „Zur schönen Aussicht“ in Graz. In: Stuttgarter Zeitung, 13.10.1969. Ebd. Vgl. Anm. 134. Vgl. Liselotte Reichert: Theaterdokumente. In: Die Presse (Wien), 5.3.1970. Vgl. Kellermayr 1969 (Anm. 135), Kaufmann 1969 (Anm. 141) und Grieser 1969 (Anm. 149). Helmut Qualtinger & Vera Borek lesen Ödön von Horváth. Mord in der Mohrengasse. Der ewige Spießer. Aufnahmeleitung: Jürgen E. Schmidt. Wien: Preiser Records 1977. Kurt Kahl: Mordfall aus der Schublade. Uraufführung eines Horváth-Jugendwerkes. In: Kurier (Wien), 7.10.1980.

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Werke übernommen“.159 Alles in allem bleibt sein Urteil jedoch skeptisch: „Wer das Frühwerk gesehen hat, lernt die ausgenüchterten, durch Ironie abgekühlten späten Stücke Ödön von Horváths schätzen.“160 Zu einem ähnlichen Fazit kommt auch Hans Heinz Hahnl in der Arbeiter-Zeitung. Er spricht von der „Horvath-Verwertungsgesellschaft“, die hier dem Autor keinen guten Dienst erwiesen habe, und moniert, dass die Autoren umso „wehrloser“ würden, je „bekannter“ sie seien: Der Nachlaß von Ödön von Horvath wird unbarmherzig ausgeschlachtet. Die Theater brauchen lange, bis sie einen entdecken, aber wenn sie ihn entdeckt haben, sind sie nicht mehr zu halten, dann spielen sie auch seine Abfälle.161

Auch Hahnl teilt Kahls Einsicht, dass vieles, was das spätere Werk kennzeichnet, schon angedeutet ist, „aber das Gleichgewicht stimmt noch nicht“: „Horvath war ein Frühvollendeter, aber kein Jugendgenie. Der Reifeprozeß zu den Meisterwerken war kurz, aber intensiv.“162 Das Schauspiel Mord in der Mohrengasse, genauso wie das am selben Abend szenisch aufgeführte Hörspiel Stunde der Liebe, seien „etwas für Horvath-Philologen“, aber eben nicht für das breite Publikum.163 Das Fazit Hahnls lautet deshalb: „Ein Klub zum Schutze Horvaths vor tantiemensüchtigen Erben und ehrgeizigen Theaterleuten wird fällig. Aber ich fürchte, die Horvath-Verwertungsgesellschaft ist nicht zu stoppen.“164 Karin Kathrein kam in der Presse zu einem ausgewogeneren Urteil: Der „Mord in der Mohrengasse“, Horváths frühestes erhaltenes Stück, von dem knapp Zwanzigjährigen geschrieben, zeigt den Niedergang, das Auseinanderbrechen, das Abkippen ins Asoziale einer kleinbürgerlichen Familie, die einst bessere Tage gesehen hat. Was an dem Schauspiel vor allem faszinieren kann, ist die Verquickung einer Fülle von Elementen, die wir heute als typische für Horváth ansehen, mit expressionistischem wie auch naturalistischem Material. Nicht nur sprachlich, sondern auch thematisch bildet der Expressionismus einen Grundpfeiler, aber, charakteristisch für Horvath, wird der Hoffnung auf den „neuen Menschen“ schon früh eine radikale Absage erteilt.165

Doch auch Kathrein äußert ihre Skepsis gegenüber solchen „Ausgrabungen“ von Frühwerken: Ödön von Horváths „Mord in der Mohrengasse“, hiermit uraufgeführt, und sein Hörspiel „Stunde der Liebe“, in dieser Zusammenstellung ebenfalls erstmals auf der Bühne zu sehen, erlauben den Blick in die Werkstatt eines Dichters – und einem Werkstatt-Theater wären diese Torsi, frühen Entwürfe und Skizzen auch angemessen. Im Akademietheater wirken sie dagegen fatal, weil sie Überlegungen provozieren, wieso gerade die Bühne, die für exemplarische Horváth-Aufführungen mit ersten Schauspielern prädestiniert erscheint, an Marginalien herumbasteln muß. Verleger, Erben und die einschlägig verantwortlichen Herren sollten sich an der Nase nehmen und schämen.166 159 160 161

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Ebd. Ebd. Hans Heinz Hahnl: Die Horvath-Verwertungsgesellschaft. Ödön-von-Horvath-Uraufführung im Akademietheater. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 7.10.1980. Ebd. Ebd. Ebd. Karin Kathrein: Blick in die Dichterwerkstatt. Horváths „Mord in der Mohrengasse“ und „Stunde der Liebe“ im Akademietheater. In: Die Presse (Wien), 7.10.1980. Ebd.

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Die Furche schrieb gar davon, dass mit diesen Uraufführungen „Horváth exekutiert“ worden sei und: Ein Glück, daß Horváth seine unreife Frühproduktion zum Großteil vernichtet hat. Unvorstellbar, was uns sonst noch bevorstünde, die Vermarkter Horváthscher Jugendsünden kennen keine Pietät.167

Auch in den großen deutschen Tageszeitungen wurde die späte Horváth-Uraufführung wahrgenommen. Auch dort äußern die Kritiker ähnliche Bedenken gegenüber dem Frühwerk und Vermutungen gegenüber den für die Aufführung Verantwortlichen. Erik G. Wickenburg nimmt an, dass das Wiener Burgtheater mit seinen letzten Premieren, „eine Lanze für die Arbeit der Regisseure brechen“ habe wollen, „indem es zwei aus der Gilde auf schlechthin ungeeignete Objekte ansetzte“: Der anschließend [an Stunde der Liebe; Anm.] aufgeführte „Mord in der Mohrengasse“ war wohl ein Original, eine Uraufführung gar, die aber bloß die pubertären, expressionistischen Anfänge Horváths offenbarte. Ohne die ebenfalls von Klaus Koering [sic] besorgte Regie und den Vorschuß, den man dem Autor heute mit Recht gewährt, wäre das Stück glatt durchgefallen.168

Paul Kruntorad kommt in der Frankfurter Rundschau zu folgendem Fazit: Nur im ersten Akt ist der spätere Horváth präformiert, in der knappen treffenden Skizze einer Familie, die sich an ihre Gutbürgerlichkeit klammert und ihre Konflikte gehemmt und rücksichtslos gleichzeitig austrägt. Im zweiten Akt ist das Huren- und Zuhältermilieu deutlich überzeichnet, Horváth kann die Handlung nur vorantreiben, indem er den ermordeten Juwelier als Gespenst auftreten läßt. Im dritten Akt setzt sich Horvath, wie später immer wieder, mit der Brutalität einer Justiz auseinander, die den Buchstaben, nicht den Geist der Gerechtigkeit wahrt. […] So viel Energie, Talent und Können würde man sich gerade im Burgtheater, wo man die Pflege Horváths den anderen großen Wiener Bühnen überlassen hat […] für eines der Hauptwerke wünschen.169

Hilde Spiel schließlich schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Einen Horváth, bevor er der Horváth ist, zu zeigen“, wie der Schauspieler und Regisseur Klaus Höring sich vorgenommen hatte, mag ungemein reizvoll sein. Doch es war sehr die Frage, ob die um nahezu sechzig Jahre verspätete Uraufführung des Erstlingsdramas „Mord in der Mohrengasse“ im eleganten Wiener Akademietheater besser aufgehoben sein würde als auf einer Werkstattbühne – und der Premierenabend gab eine negative Antwort darauf.170

Der zentrale Vorbehalt dieser Kritik trifft aber nicht das Stück, sondern dessen Inszenierung: Nicht allein den Sprechstil, den Stil des ganzen Stücks verfehlt diese Inszenierung, weil sie mit den Mitteln des Staatstheaters pathetisiert, was lediglich scharf, trocken und fast ironisch aus den zwanziger Jahren heraufgeholt werden kann. An Sternheim, […] an Hasenclever hätte Höring denken müssen.171 167 168

169

170

171

Hellmut Butterweck: Horváth exekutiert. In: Die Furche (Wien), 8.10.1980. Erik G. Wickenburg: Nacht der Mohrengasse. Nachgelassener Horváth in Wien uraufgeführt. In: Die Welt (Hamburg), 7.10.1980. Paul Kruntorad: Immer das gleiche. „Mord in der Mohrengasse“ – eine Horváth-Uraufführung. In: Frankfurter Rundschau, 23.10.1980. Hilde Spiel: Frühes von Horvath. Späte Uraufführungen in Wien. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.1980. Ebd.

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Vorwort

Die äußerst negative Aufnahme der Uraufführung des Schauspiels Mord in der Mohrengasse konnte jedoch nicht verhindern, dass 1981 zwei Erstaufführungen des Stückes in Düsseldorf und St. Gallen folgten. 1984 wurde das Schauspiel auch in Linz und 1993 neuerlich in Wien gegeben.172 Als letztes der frühen Dramen wurde am 1. September 2016 am Theater in der Josefstadt in Wien Horváths Tragödie Niemand uraufgeführt. Regie führte Herbert Föttinger, Direktor des Theaters in der Josefstadt. Die Bühne stammte von Walter Vogelweider. Es spielten Florian Teichtmeister (Fürchtegott Lehmann), Gerti Drassl (Ursula), Raphael von Bargen (Kaspar), Martina Stilp (Gilda), Roman Schmelzer (Wladimir) und Dominic Oley (Klein). Nachdem das Stück, das 1924 vom Verlag Die Schmiede als Stammbuch vervielfältigt wurde, erst im Jahr 2015 wiederaufgetaucht war, erwarteten sich Publikum und Kritik eine literarische Sensation.173 Doch diese blieb bei der Uraufführung in Wien und der 2017 folgenden deutschen Erstaufführung in Berlin aus. Vielmehr waren sich Publikum und Kritik in seltener Weise darüber einig, dass das Stück eben ein typisches Frühwerk sei und nicht mit den Volksstücken der frühen dreißiger Jahre mithalten könne. Ähnlich wie im Fall von Mord in der Mohrengasse wurde jedoch bemerkt, dass viel Horváth-Typisches in dem Stück schon angelegt war, etwa der kritische Einsatz bildungsbürgerlicher Zitate und Redewendungen, die symbolische Aufladung der Handlung und die zentrale Fräulein-Figur, die aus sozialer Not und Arbeitslosigkeit in eine Ehe ohne Liebe flüchtet. Was dem Stück fehlt, ist das, was Monty Jacobs noch an Die Bergbahn moniert hatte, der Humor, oder, um es mit Horváth zu sagen: die Ironie. Stattdessen bricht das Stück unter expressionistischem Existentialismus fast in sich selbst zusammen. Hubert Spiegel formulierte das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgendermaßen: Ödön von Horváth, ebenso alt wie Büchner in seinem Todesjahr, wollte alles: gellenden Expressionismus und kälteste Sozialkritik, das Sittenbild und die Kriminalgeschichte, keusche Jungfrauen und lüsterne Huren, reichlich Nietzsche, aber auch ein bisschen Brecht, zarte Sehnsuchtsträume und die schockierende Brutalität der Verhältnisse. Eines wollte er damals indes noch nicht: aus den wie morsches Holz brechenden Seelen seiner Figuren einen Komödienstoff gestalten. „Niemand“ ist das einzige seiner Stücke, das die Bezeichnung „Tragödie“ trägt.174

Spiegel bringt diese Einsichten noch auf den Punkt, wenn er schreibt: „Seine Themen hat Horváth in diesem Frühwerk bereits gefunden, seinen Ton noch nicht.“175 Aber sein Fazit lautet dennoch: „Niemand soll sagen, diese Entdeckung habe sich nicht gelohnt.“176 Etwas skeptischer sieht dies Guido Tartarotti im Wiener Kurier, der seine leise Enttäuschung nicht zu verbergen mag: Vielleicht waren die Erwartungen einfach zu groß. Wäre das das Erstlingswerk eines unbekannten Autors, man wäre vielleicht restlos begeistert. Aber da der Text von Ödön von Horváth 172

173 174 175 176

Vgl. die dazu existierenden Materialsammlungen im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek, Sammlung Sessler Verlag / Theaterdokumentation Horváth, ÖLA 28. Vgl. Spiegel 2015 und Kramar 2015 (beide Anm. 14). Spiegel 2016 (Anm. 15). Ebd. Ebd.

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Vorwort

stammt, diesem Großmeister der verdichteten, sich selbst entlarvenden Sprache, kann man sich die zarte Enttäuschung kaum vom Leib halten, so sehr man sich auch bemüht.177

Das „Hauptproblem“ des Textes sieht Tartarotti in Folgendem: Die Figuren reden einfach zu viel. Würde man zwei von drei Sätzen streichen, dann wäre es der Horváth, den man kennt: Verdichtet bis hart an die Grenze des Verschwindens. Sprache, die von ihrem eigenen Verlust erzählt.178

Und so lautet sein „Fazit“: Ein 100 Minuten langer, stellenweise auch langatmiger Abend, der aber dennoch spannend und lohnend ist. Und eine Erkenntnis: So virtuos der junge Horváth bereits schreiben konnte, fehlte ihm dennoch damals vielleicht noch die Distanz zum eigenen Talent.179

Die Regiearbeit Föttingers, der das Stück mehr oder weniger vom Blatt spielen und dabei sogar die Regie- und Szenenanweisungen sprechen ließ, wurde von den meisten Kritiken lobend erwähnt. Die Uraufführung eines bis dato unbekannten Textes eines „Großmeisters“ könne keinesfalls inszenatorische Experimente anstellen. Solche „Interpretationen“ seien späteren Inszenierungen vorbehalten.180 Anders sahen dies lediglich die Salzburger Nachrichten, wo zu lesen war, dass Föttinger „allzu brav vom Blatt“ inszeniert habe.181 Die Kritik fällt insgesamt ernüchternd aus: „Dynamik fehlte dem Abend ebenso wie Magie.“182 Und: „Ein Konnex zum Heute konnte in der Josefstadt jedoch nicht hergestellt werden.“183 Bereits wenige Wochen vor der Uraufführung hatte Ronald Pohl das Stück folgendermaßen beurteilt: Der titelgebende „Niemand“ ist ein Gott, der sich von seiner Schöpfung abgewandt hat. Horváths Figuren haben hier noch deutlich den Schaum des Expressionismus vor dem Mund. „Niemand“ ist ein unvollkommener Dramentext, der voller bedeutender Schönheiten steckt. Er verbindet die Zeitdramatik eines Ernst Toller mit späteren Horváth-Schöpfungen wie den „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Er wird seinen Weg auf dem Theater machen.184

Damit hatte Pohl zweifellos recht, denn das Stück wurde nach der Uraufführung auch in Linz, Berlin (beide 2017) und Salzburg (2018) inszeniert. Ob sich Niemand nach den eher verhaltenen Besprechungen der bisherigen Aufführungen auch in den folgenden Jahren auf den Bühnen halten wird können, muss zumindest als fraglich angesehen werden. Die deutsche Erstaufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin, an dem Haus also, an dem Geschichten aus dem Wiener Wald am 2. November 1931 so erfolgreich aufgeführt worden war,185 fand am 25. März 2017 statt. Regie und 177 178 179 180 181

182 183 184

185

Guido Tartarotti: Die Figuren reden ziemlich viel. In: Kurier (Wien), 2.9.2016. Ebd. Ebd. Vgl. Spiegel 2016 (Anm. 15) und Tartarotti 2016 (Anm. 177). Anonym: Kein Triumph: Horváths „Niemand“ in Wien uraufgeführt. In: Salzburger Nachrichten, 2.9.2016. Ebd. Ebd. Ronald Pohl: Ödön von Horváths „Niemand“. Ein Mietshaus voller Narren in einer preisgegebenen Welt. In: Der Standard (Wien), 19.8.2016. Vgl. WA 3.

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Vorwort

Bühne gestaltete Duˇsan David Paˇrízek. Die Rollen waren auf Marcel Kohler (Fürchtegott Lehmann), Wiebke Mollenhauer (Ursula), Franziska Machens (Gilda), Frank Seppeler (Kaspar), Elias Arens (Klein), Lisa Hrdina (Kellnerin, Nachfolgerin, Backfisch) und Henning Vogt (Wladimir) verteilt. Wolfgang Höbel schrieb zu der Inszenierung und zum Stück im Spiegel: In unterhaltsamen zwei Stunden schildert Parízeks „Niemand“ eine sehr ferne Welt. Das macht einerseits die Stärke und die Aufrichtigkeit dieses Theaterabends aus: dass er gar nicht erst so tut, als könnte das Los der Elendsmenschen, die der Autor Horváth hier mit etwas großkotziger Jungdichter-Attitüde vorführt, den heutigen Zuschauerinnen und Zuschauern ans Herz gehen und einen Spiegel der Gegenwart vorhalten. Andererseits enttäuscht diese nette Revue die Sehnsucht nach einem großen Horváth-Streich, die der Rummel um das wiedergefundene StückManuskript geweckt hatte. Schuld an dieser Enttäuschung ist nicht der Regisseur, sondern die an diesem Abend offensichtliche Erkenntnis: In „Niemand“ übte der Dichter Horváth noch.186

Ulrich Seidler sah das in der Berliner Zeitung ähnlich. Zwar nimmt auch er wahr, dass in dem Stück vieles schon vorweggenommen ist, was den späteren Horváth ausmacht: Vieles in „Niemand“, das Horváth unter dem frischen Eindruck der Hyperinflation geschrieben hat, deutet auf den späteren Dramatiker hin. Es treten prekäre Gestalten auf – gefallene Fräuleins, Prostituierte, Diebe, Zuhälter, Missgestaltete – deren Notlage moralische Abgründe aufreißt und dramatische Konflikte spannt.187

Doch auch er relativiert die Einschätzung vieler Kommentatoren bei der Wiederentdeckung des Stückes, dass es sich bei dem Fund um eine literarhistorische ‚Sensation‘ handle, denn: „Das ist schon alles ziemlich etüdisch, konstruiert und aufgeladen, vor allem machen die Gestalten, anders als man es heute von Horváth gewohnt ist, sehr viele Worte.188 Auch Seidler verteidigt letztlich den Regisseur gegenüber dem Stück: Die deutsche Erstaufführung, die am Sonnabend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Premiere feierte, durfte freier mit dem Text umgehen. Der 1971 im tschechischen Brno geborene Regisseur Dusan David Parizek mochte aber bei allen Strichen nicht auf die originalen, interessanten Mängel des Stückes verzichten. Er hat die Unreife, den rohen Pathos und den verschwatzten Furor nicht herausgefiltert, sondern er geht auf Abstand. Zwei Projektoren werfen besagte Typoskriptseiten an die getäfelte Rückwand, die Schauspieler sitzen neben der Szene, wenn sie nicht dran sind, kommentieren das Geschehen, machen sich auch übereinander lustig und stellen ihre Theatermittel aus. Diese Verkünstlichung ist ein kluger Zugriff, mit dem auch jeglicher Sozialkitsch vermieden wird, der eigentlich zwangsläufig entsteht, wenn sich wohlsituierte Zuschauer unreflektiert mit armen Elenden identifizieren.189

Der ‚Rummel‘ um Niemand verebbt allmählich. Was bleibt, ist die Tatsache, dass sich Horváth mit seinen frühen Dramen allmählich seine eigene Handschrift herausgeschrieben hat. Dies zeigen vor allem Stücke wie Niemand, Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn, Zur schönen Aussicht und Rund um den Kongreß, in denen der Autor einerseits mit der Form der Tragödie und des (tragischen) Volksstücks, andererseits mit 186

187

188 189

Wolfgang Höbel: Als der Dichter noch übte. Horváth-Entdeckung als deutsche Erstaufführung. In: Spiegel online, 26.3.2017. Ulrich Seidler: Deutsche Erstaufführung. Ödön von Horváths „Niemand“ im Deutschen Theater. In: Berliner Zeitung, 27.3.2017. Ebd. Ebd.

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Vorwort

der Form der Komödie bzw. Posse experimentierte. Beide werkgenetischen Linien verbinden sich schließlich in den tragikomischen Volksstücken der frühen dreißiger Jahre, in denen er die von ihm selbst postulierte „Synthese aus Ernst und Ironie“190 realisierte, die letztlich seinen Ruhm und seine Geltung bis zum heutigen Tag begründete. In der literaturwissenschaftlichen Forschung war das Frühwerk bisher selten im Fokus. Wegweisend und begriffsprägend war Herbert Gampers Studie Horváths komplexe Textur.191 Folgt man seinem strukturalistisch-psychoanalytischen Zugang, so ist in die frühen Texte, in deren dichtes Textgewebe, ihre „Textur,“ wesentlich mehr untergründig eingearbeitet, als es auf den ersten Blick scheint. Dies weist Gamper an den Stücken Mord in der Mohrengasse, Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn und Zur schönen Aussicht nach. Gemeinsam sei diesen drei Stücken „trotz der augenfälligen stilistischen Unterschiede“ „die Auseinandersetzung mit Strindberg und expressionistischer Dramatik; sie sind außerdem unterschwellig verbunden durch die Themen von Sündenfall, Gericht und Erlösung“.192 Diese Texte gehören für Gamper zur ersten Werkphase, in der Horváth „mit verschiedenen Traditionen experimentierte“.193 Die zweite Werkphase umfasse den Sladek, Rund um den Kongreß, die „neuen Volksstücke“ und die Spießer-Prosa, in denen die „Lektüre von Schriften Freuds“ eine „[p]sychoanalytische Symbolik“ bewirke, „die Horváth in seinem Fatalismus bestärkte“ und die die christliche des Frühwerks verdränge.194 In der dritten Phase gewinne die „metaphysische Dimension“ erneut „an Bedeutung“, in dem Horváth etwa durch Eine Unbekannte aus der Seine wieder den „Bogen“ zurückschlage zu Mord in der Mohrengasse.195 Zu Letzterem schreibt Gamper: Das kurze Stück, in dem zum Teil noch pathetische Rhetorik objektivierende Gestaltung ersetzen muß, ist doch mehr als bloß eine Talentprobe, indem es, zu unheilvoll lastender Atmosphäre verdichtet, schon zentrale Bilder, Motive, Figurenmuster und Konstellationen enthält, die für Horváth charakteristisch bleiben. Es enthält insbesondere, im mittleren Bild, bereits die von Hildebrandt so genannte Passagen-Dramaturgie mit ihrem nie ganz geheuren, latent traumhaften Kommen und Gehen von Figuren, wie sie mit der „stillen Straße“ der Geschichten aus dem Wienerwald [sic] zur Vollendung gelangen wird.196

Auch bei Gamper wie in vielen Besprechungen anlässlich der Uraufführung also der Hinweis, dass der spätere Horváth in dem Stück schon vorweggenommen ist. Als Vorbilder Horváths nennt Gamper „Dantons Tod von Büchner“, aber „vor allem Strindbergs Traumspiel (die Szenen vor dem Theater), vielleicht auch Mittsommer und der erste Akt von Gespenstersonate“.197 Gampers Erkenntnisse über die „Mehrschichtigkeit“198 der Horváth‘schen Texte können ohne weiteres auch auf das wiederentdeckte Drama Niemand und die späteren Volksstücke übertragen werden. Augenfällig wird dies, wenn man sich die Text190 191 192 193 194 195 196 197 198

Horváth 2009a, S. 164. Gamper 1987 (Anm. 47). Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 9.

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genese etwa von Geschichten aus dem Wiener Wald oder Kasimir und Karoline ansieht, von denen eine Fülle genetischen Materials überliefert ist, was für die frühen Stücke nicht gilt.199 An den genannten Volksstücken lässt sich paradigmatisch verfolgen, wie die Prozesse der Sublimierung und Verdichtung bei Horváth funktionieren und wie die „komplexe Textur“ über viele Zwischenschritte erst allmählich im Laufe des Entstehungsprozesses zustande kommt. Gamper hält Zur schönen Aussicht für Horváths „komplexestes und schwierigstes Stück“200 und er erläutert dessen „Textur“ folgendermaßen: Der ungewöhnliche Beziehungsreichtum leitet sich her aus dem Versuch, einem psychologisch, soziologisch und historisch bereits differenziert und lückenlos motivierten Text zusätzlich ein Mysterienspiel bzw. das Negativ eines solchen einzuschreiben, nämlich als Möglichkeit von Sinngebung, wie sie im Bewußtsein des Autors als frag-würdige, zweifelhafte und wünschenswerte vorhanden ist, doch in die heillose Wirklichkeit als bewegende Kraft nicht, oder nur ansatzweise, einzudringen vermag. So bleiben ‚reales‘ Geschehen und Deutung, statt daß diese jenes in sich aufheben, es beseelen würde in durchgängiger Transparenz des Symbols, getrennt, wie sehr auch artifiziell untereinander verwoben.201

Ähnlich wegweisend wie Gampers Monographie war Ingrid Haags Studie FassadenDramaturgie, die mit der Dialektik von „Zeigen und Verbergen“ ein wesentliches dramaturgisches Verfahren im Werk Horváths beschrieben hat.202 Demnach werden in seinen Dramen „Fassaden“ errichtet, die den „ewige[n] Kampf zwischen Bewusstsein und Unterbewustsein“203 verbergen, der sich dahinter abspielt. Zugleich werde, gemäß der militärischen Strategie der „Banalisierung“, vieles in den Vordergrund, in die Auslage, gestellt, um es so weniger sichtbar zu machen.204 Die Fassade bedeutet aber auch eine Form der Verstellung: „Das im Text Vorgezeigte (Ausgesprochene) ist nicht als bare Münze zu nehmen, sondern als Maske dessen, was nicht gezeigt (gesagt) werden darf.“205 Bei Horváths berühmter „Demaskierung des Bewusstseins“206 gehe es dem Autor jedoch nicht darum, die Wahrheit hinter der Verstellung aufzuzeigen, denn eine solche gebe es (meist) gar nicht, sondern die „Verstellungsmechanismen zu beschreiben“207. Die Verstellung, das „Maskenspiel“208 der Horváth’schen Figuren, hat aber zumeist fatale Folgen: „Der strategische Einsatz von Floskeln, Gemeinplätzen und ‚schönen Sprüch‘ zwecks Banalisierung von Gewalt und Verbrechen führt zur Tragödie des Fräuleins.“209

199 200 201 202

203 204 205 206 207 208

209

Vgl. oben den Brief Horváths an Hans Ludwig Held (Anm. 36). Gamper 1987 (Anm. 47), S. 211. Ebd. Haag 1995 (Anm. 40) und Ingrid Haag: Zeigen und Verbergen. Zu Horváths dramaturgischem Verfahren. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 138–153. Horváth 2009a, S. 160. Vgl. Haag 1995 (Anm. 40), S. 6. Haag 1983 (Anm. 202), S. 138. Horváth 2009a, S. 162. Haag 1983 (Anm. 202), S. 139. Klaus Kastberger: Horváth. Ein Maskenspiel. In: Matthias Kratz/Gabi Rudnicki-Dotzer (Hg.): Leben ohne Geländer. Internationales Horváth-Symposium Murnau 2001. Murnau am Staffelsee: Markt Murnau 2003, S. 22–34. Haag 1995 (Anm. 40), S. 11.

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Vorwort

Haag hat ihre Erkenntnisse im Wesentlichen anhand der drei Stücke Geschichten aus dem Wiener Wald (1931), Glaube Liebe Hoffnung (1933) und Eine Unbekannte aus der Seine (1934) gewonnen. Sie können aber mit Abstrichen auch auf die frühen Stücke übertragen werden. Besonderes Augenmerk widmet Haag, wie zuvor Gamper, dem Topos der Straße, der bei Horváth eine ganz zentrale Funktion hat. Die Straße ist der „exklusive Schauplatz des Alltagslebens“, die „Bühne des Alltagslebens: Bühne auf der Bühne, wo sich eine Gesellschaft – stets vor Publikum – zur Schau stellt“.210 In den frühen Stücken ist sie vor allem in Mord in der Mohrengasse (schon im Titel), in Niemand und in Rund um den Kongreß anzutreffen. Sie wird als Schauplatz ergänzt durch Orte wie das Zinshaus bzw. Treppenhaus (Niemand), das bürgerliche Wohnzimmer (Mord in der Mohrengasse), die Arbeiterbaracke (Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn), das Hotel (Zur schönen Aussicht), den Hafen, den Kongresssaal und das Café (Rund um den Kongreß), von denen die meisten jedoch nur einen „Annex“211 der Straße darstellen. Immer gilt dabei die von Freuds epochaler Schrift Die Traumdeutung (1900) inspirierte Einsicht: „Der Ort des Gezeigten und gesellschaftlich Zeigbaren ist gleichzeitig der Ort, wo die Spuren der Wiederkehr des Verdrängten aufzudecken sind.“212 An jüngsten Forschungen zu Horváths Werk sei hier nur Mirjam Ropers Arbeit über den Dialog in den späten Dramen hervorgehoben.213 Im Resümee ihrer Studie widmet sie sich auch der notorischen „Frühwerk-Spätwerk-Diskussion“ in Bezug auf Horváths Schreiben.214 Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass sich Horváth in der Art der Produktion seiner Texte treu geblieben ist. Die Dialogstruktur im Spätwerk entspricht der seiner Frühwerkstücke, weshalb man nicht von „eine[r] Akzentverschiebung“, sondern von einer „Einheit des Werkes“ sprechen sollte.215

Horváths Dialogsprache, die das Früh- wie das Spätwerk kennzeichne, beschreibt Ropers folgendermaßen: Die Stücke erweisen sich als ein streng durchkomponiertes Netz aus wiederkehrenden Worten und Sätzen. Wie schon im Frühwerk liefern die rekurrierenden Worte zum einen den Figuren Anknüpfungspunkte für ihre oberflächliche Kommunikation, die durch ständige semantische und paradigmatische Regelverletzungen ein sukzessives Voranschreiten des Dialogs verhindern. Zum anderen geben diese sich wiederholenden Schlüsselworte, Gesten oder Phrasen dem Rezipienten ein Deutungsgerüst, eine Art Entschlüsselungs-Code für die Texte. Als Meister ausgefeilter Texte verschiebt Horváth sein Textmaterial nach Belieben, was ein ausgeprägtes fotographisches Gedächtnis voraussetzt. Als sprachliche Hilfsmittel im Dialog verwendet er dabei Nebentexte, Stille und Gedankenstriche sowie Lieder und Symbole.216

Das sprachliche Repertoire, auf dem Horváths Dialogsprache fußt, setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen:

210 211 212 213

214 215 216

Ebd. Ebd. Ebd., S. 12. Mirjam Ropers: Der Dialog in den späten Dramen Ödön von Horváths. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2012. Ebd., S. 181. Ebd., S. 183. Ebd., S. 182.

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Vorwort

Religiöse Redewendungen, Bildungszitate und Sprichwörter, Schimpfworte sowie dialektale Einsprengsel bilden den Wortschatz, der aufgrund der allgemeinen Bekanntheit eine einfache Identifikation ermöglicht. Diese oberflächliche Sprachmaske wird von Horváth durch Anachronismen und Differenzen zwischen Reden und Handeln der Figuren unterlaufen. Gegenläufiges nonverbales Verhalten der Protagonisten, das in den Nebentexten offengelegt wird, unterstreicht die Diskrepanzen. Solche dramaturgischen Mittel entlehnt Horváth der Komödientechnik. Sie bedingen eine ironische Brechung des Gesagten und führen vordergründig vielfach zu humoristischen Effekten. In einem weiterführenden Schritt erschließen sie bei Horváth jedoch im externen Kommunikationsraum für den Rezipienten eine zusätzliche Kommentarebene.217

Zuletzt macht Ropers deshalb für Horváth den „Montage“-Begriff fruchtbar, insofern als er in seine Dialogsprache verschiedenartigste Fremdtexte aufnehme: Bei Horváth speist sich dieses ‚fremde Textkorpus‘ zum einen aus Bibelzitaten, sprichwörtlichen Redewendungen oder Liedtexten, zum anderen besonders in den späten Dramen aus antiken Stoffen und Texten.218

Horváth verdecke jedoch diese Anleihen nicht, sondern er gehöre in seiner Arbeitsweise, anders als etwa Büchner oder Thomas Mann, zu den Vertretern eines „demonstrativen, offenen Montageverfahren[s]“.219 Die „scheinbare Einfachheit der Sprache“220 Horváths erweise sich so „als kompliziertes Konstrukt, das in seiner Entstehung der modernen Film- und Computersprache nahekommt“.221 Außerdem dürfte Horváth vom politischen Theater Erwin Piscators beeinflusst worden sein.222 Dies lässt vor allem die plakative (sozio-)politische Praxis vermuten, die er in den frühen Dramen Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn und Rund um den Kongreß angewandt hat. Insgesamt erweist sich für Ropers die Modernität Horváths in der „spezielle[n] Art seiner Dialoggestaltung, die den Textfluss durch eine doppeldeutige Form der Dialoge aufbricht“.223 Dass Ironie dabei eine wesentliche Rolle spielt, wurde bereits erwähnt.224 Auch und insbesondere in der Dialogkunst zeigt sich damit Horváths Janusköpfigkeit der „Synthese aus Ernst und Ironie“.225 Die frühen Dramen Horváths sind von den Bühnen und der Leserschaft teils noch zu entdecken. Der Impuls, der vom Wiederauftauchen des Manuskripts der verschollenen frühen Tragödie Niemand auf die Bühnen und die Feuilletons ausgegangen ist, könnte einen neuen Blick auf das Frühwerk Horváths insgesamt initiieren.

217 218 219 220

221 222 223 224 225

Ebd., S. 181. Ebd., S. 185. Ebd. Klaus Kastberger, zitiert bei Ropers 2012 (Anm. 213), S. 184. Vgl. auch Klaus Kastberger: Revisionen im Wiener Wald. Horváths Stück aus werkgenetischer Sicht. In: Klaus Kastberger (Hg): Ödön von Horváth: Unendliche Dummheit – dumme Unendlichkeit. Mit einem Dossier „Geborgte Leben. Horváth und der Film“. Wien: Zsolnay 2001 (= Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs, Bd. 8), S. 108–129, hier S. 108. Ropers 2012 (Anm. 213), S. 184. Vgl. ebd., S. 185. Ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 181. Horváth 2009a, S. 164.

40

Endfassung

Lesetext

Lesetext

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Endfassung

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Endfassung Ein Epilog

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Ein Epilog – Dramatische Skizze

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Endfassung Ein Epilog

Lesetext

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Endfassung Ein Epilog

EE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Konzeption: Ein Epilog – Dramatische Skizze

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Endfassung Ein Epilog

EE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 EIN EPILOG von BÖdönN Josef von H o r v á t h .

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 1

얍 Die Menschen:

D a s M ä d c h e n und Der junge Mann.

5

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 2

Der Raum: Die Dämmerung. 10

얍 Das Mädchen und der junge Mann sehen sich an: BprofilN. B

15

(Eine lange Stille.) N

B

N

D ER JUNGE M ANN - Wie lange ist das jetzt her? D AS M ÄDCHEN Sieben Tage. (sie senkt den Kopf.) D ER JUNGE M ANN Mit Sonnenaufgang kam Dein Schreiben und sah in meine Augen auf denen tiefdunkle Schleier der Nacht rauschten. Und langsam lösten sie sich und lange glitten sie entlang an mir und leise aus weiter Ferne sah ich rufen: mich aus Dir Es waren nur wenige Worte, - Mutter B

N

B

20

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 3

N

Es ist mir als sang ich wie morgensonnenerschaute nebelbefreite Gefilde 25

Du senkst den Kopf im Glück D AS M ÄDCHEN (hebt den Kopf und sieht ihn an.) Was ist Glück? D ER JUNGE M ANN Weißt Du das nicht -? D AS M ÄDCHEN Nein. D ER JUNGE M ANN (mit rieselndem Lächeln) - - Mutter D AS M ÄDCHEN - Sieben Nächte träume ich : - laufe von unsichtbaren Feinden verfolgt durch unendliche, enge Straßengewirre. Und die Erde zittert und die himmelstrebenden Bauten 얍 werden Trümmer im Staube. Ich fühle, daß sie mich nicht zermalmen werden, denn in diesen furchtbaren Augenblicken der Verzweiflung weckt mich gellend jemand aus meinem Traum. B

30

B

N

N

35

Dann fliehe ich nicht. Aengstige mich nicht: - bin, wie blühende Bäume in der Erde sind, und l e b e Und dann murmeln wieder die Zweifel und werden lauter und lauter und kreischen mich an; ob die Straßenwände mich begraben werden -? Die Angst - -

40

2 11 13 13 15

B

ÖdönN ] profilN ] B(EineN ] BStille.)N ] Bher?N ]

16 26 30

B

B

Kopf.)N ] an.)N ] BichN ] B

[O]|Ö|[e]dön profi[f]|l| korrigiert aus: Eine korrigiert aus: Stille. korrigiert aus: her ? überzählige und fehlende Zeichenabstände werden in TS1 stillschweigend emendiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis. korrigiert aus: Kopf). korrigiert aus: an).

i[st]|ch|

46

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 4

Endfassung Ein Epilog

EE/K/TS1 (Korrekturschicht)

D ER J M ANN Weiß Deine Mutter? D AS M ÄDCHEN Alles. D ER J . M ANN (wendet sich ab) - Deine Mutter haßt mich und Du hast alles ihr gesagt. D AS M ÄDCHEN (verfolgt ihn mit dem Blicke und nickt: nein) Sie fühlt es, sagt sie. B

5

Lesetext

N

(Eine lange Stille.)

10

15

20

D ER J . M ANN Ich glaube, wir sind D AS M ÄDCHEN Hast Du denn nie gelernt, daß wir nicht leben können, wie wir wollen? Ruhte noch nie die Hand dessen auf Dir, der rücksichtslos all unsere Hoffnungen zerstört und seien sie noch so zart gewebt. - Dämmert es endlich bei Dir? D ER J . M ANN (tonlos) Ja. - Es dämmert 얍 D AS M ÄDCHEN - Manchmal fühle ich ihn Wenn in der Einsamkeit die Finsternis gläsern durch die Fensterscheiben stiert, höre ich ihn Und wenn Menschen um mich herum stehen, sehe ich ihn -: irgendwo Jetzt ist er wieder hier - D ER J . M ANN (leise) Wer ist das? D AS M ÄDCHEN (ebenso) Ja: wer?

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 5

(Ein Strahl der sinkenden Sonne blendet die beiden .) B

25

30

35

40

45

N

D ER J . M ANN (streift sich mit der Hand über die Augen.) - - eine Erinnerung. Ich meine es müßte ein Menschenleben vergangen sein, das alles Erlebte in einer Nacht erträumt hat Es war an einem Sommernachmittag als ich Dich zum ersten Male sah. Der Sonne Schein hauchte Dein Kleid an Deine Formen. Und eine heilige Sehnsucht war in mir. Ich lief Dir nach: eine Ewigkeit währende Zeit: bis vor das steinerne Haus mit dem schweren Tore aus Ebenholz. Und stand unten und wartete - wartete. Und stierte in ein bleiches Licht in einem Fensterrahmen, das mich zu einem andern machte, so daß ich brannte: lichterloh Kühl umrauschte die Dämmerung meine pochenden Schläfen. Die schweren dunklen Wolken zerfleischten sich am Himmel und heulten vor un얍 stillbaren Schmerzen und ihr kaltes Blut schoß in meine Wangen. Doch ich wartete und wartete und kein noch so greller Blitz und kein noch so brüllender Donner konnte mich verjagen D AS M ÄDCHEN - Du hast mich gesehen. Das war der Heimweg durch den uralten Wald, als wir am ersten sonnigen Frühlingstage vor die Stadt gingen. Du schienst mich zu tragen: so wunderleicht schritt ich den Weg dahin, der wie endlos war. - Stundenlang 3 23

B B

allesN ] beidenN ]

korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Beiden

47

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 6

Endfassung Ein Epilog

5

10

EE/K/TS1 (Korrekturschicht)

D ER J . M ANN - Ich hörte einmal ein Märchen erzählen von einer kleinen, schwarzhaarigen Prinzessin. Die war die Tochter eines steinreichen Königs, der einem Lande befahl, das eine weite Wüstenei war. Und er liebte sein Kind so sehr, daß er es vor den Menschen behüten wollte. „Die lügen -“, knurrte er mit lebendem Barte, wenn Mütter ihre Kinder und Männer ihre Frauen und Söhne ihre Väter beklagten. Und ein jedesmal, wenn der erste Lichtstrahl die Nacht aus den verdorrten Geästen der schlanken Cypressen scheuchte, daß sie sich reckten und streckten, sah man viele Erhängte. Doch der König vergaß all das, wenn er sich mit der Prinzessin zu Füßen seines 얍 purpurnen Thrones am weichen Eisbärfelle spielte. Und da geschah es auch, daß er lachte. Und wurde er einsam, so erkannte er: sie darf nicht erfahren, was leben ist: denn Leben ist Elend. Und er baute ihr mit des Volkes Händen ein Schlösschen aus edelsten Steinen auf dem höchsten der hohen Glasbergketten. Da war alles das Kostbarste: der Boden aus Persien, das Bett aus Cedernholz vom Libanongebirge und die kleinen Pölster und Decken aus Seide aus dem Reiche der Mitte. Da hauste sie lange Zeit. Und obwohl sie vom Elend nie etwas hörte noch sah, war sie doch nicht glücklich. Eine Sehnsucht nach etwas Schönem lebte in ihr, das nur so lange schön war, so lange es unbekannt blieb D AS M ÄDCHEN - Und eines klangvollen Frühmorgens kam ein Prinz weit her über das mächtige wogende Meer. Er ließ sich Schuhe mit eisernen Nägeln anfertigen, die waren so groß wie die Nase eines vertrunkenen Riesen und so scharf, wie Zähne eines Leoparden. Und sechsmal mußte er umkehren. Aber zum siebten Male, nachdem er sieben Nächte und Tage geklettert war und sein Leben in höchster Gefahr schweben sah, erfaßte er den sonnenbeschienenen Gipfel. Und trat ein in das Schloß. Und die Prinzessin erschrak furchtbar und wurde ohnmächtig: sie hatte noch nie 얍 einen Prinzen gesehen. Und dann, als sie die Augen in die Seinen hob, staunte sie ihn an und hatte ein Gefühl, das sich ihr bisher nur ahnend offenbarte. Und sie glaubte, sie habe sich überessen, doch dann sah sie, daß alles unberührt in den goldenen Schüsselchen lag: der Taubenbraten, das saftige Obst und der süße Wein Da fühlte sie zum ersten Male, daß sie verliebt war und sie ließ den Prinzen gewähren und sie rutschten hinab an den Gebirgswänden und gingen in die weite Wüste B

15

20

25

30

35

N

B

B

40

Lesetext

11 36 37

ThronesN ] allesN ] BSchüsselchenN ] B B

N

korrigiert aus: Trones korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Schüßelchen

48

N

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 7

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 8

Endfassung Ein Epilog

EE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

(Eine Stille.) D ER J . M ANN Auch Du kennst das Märchen -? D AS M ÄDCHEN 5

(Eine lange Stille.) (Die Sonne ist untergegangen und die Nacht webt ihre Schatten um die beiden .) D ER J . M ANN (legt seine Hände auf ihre Schultern.) Vergessen. Die lange Nacht wird uns verbergen und wenn es Morgen geworden, erwachen wir in einer fremden Stadt. Dort sind wir allein. Mieten uns eine Wohnung und stellen Blumen in die kleinen Fenster Mädchen -: jemand ruft mich (Eine lange Stille.) 얍 D AS M ÄDCHEN Traum: Wunderbar schön gebaute Gebilde unserer Seele? Die nur in uns atmen können. An die Wirklichkeit gesetzt, verwelken sie langsam an ihr. D ER J . M ANN - Komm -! D AS M ÄDCHEN - Kann nicht. D ER J . M ANN - Deine Mutter D AS M ÄDCHEN - Da ich nackt vor ihr stehe, muß ich sie verlassen. D ER J . M ANN Ich danke Dir. B

N

B

10

15

20

B

N

N

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 9

(Eine Stille.) 25

30

35

40

D AS M ÄDCHEN Wenig wissen ist dumm und viel ist schädlich. Ich baute auf Dich und habe mich gewehrt und doch bin ich durch den Schlamm gezogen worden. Und wurde von dem Schmutze geblendet und nun unfähig das Schöne zu erkennen. Was ist mir das Leben? D ER J . M ANN Wie meinst Du das -? D AS M ÄDCHEN Seitdem ich sah, daß heiligstes Glück zu widerwärtigstem Unglücke werden muß, vergaß ich das Hoffen. Und denke an das Kind und frage Dich über seine Zukunft. Meine Mutter haßt es schon in mir. Du mußt stark sein, willst du mich nicht verlassen, denn ich wende meinen Rücken dem Lieben und dem Hassen Denn ich sehne mich nach Ruhe D ER J . M ANN (entsetzt fragend) - Du -?! D AS M ÄDCHEN (flehend gebietend) Du - (reicht ihm einen Revolver.) 얍 D ER J . M ANN (nimmt ihr ihn, wie im Traume, aus der Hand) (Eine Stille.) D ER 6 7 15

JUNGE

M ANN Du machst mich wieder klein -

Stille.)N ] beidenN ] BDieN ] B B

korrigiert aus: Stille). korrigiert aus: Beiden korrigiert aus: die

49

ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 10

Endfassung Ein Epilog

EE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Ich war groß und stark, da ich ein Wesen fand, das schwächer war als ich. Laß mich helfen - D AS M ÄDCHEN (sieht ihn an und entfernt sich langsam von ihm und bleibt stehen.) D ER JUNGE M ANN (hebt, wie unter Einwirkung einer fremden Macht, den Revolver und hält ihn starr auf sie gerichtet.) B

5

B

N

N

(Eine lange Stille.) D AS M ÄDCHEN (wirft plötzlich die Arme in die Höhe und schreit gellend auf) Nein!! (greift sich ans Herz und wirft den Kopf zurück und bricht leblos zusammen.) B

N

10

(Eine große Stille.) D ER JUNGE M ANN (ganz leise und fast stockend) - Das Leben - (läßt den Revolver fallen und fährt sich mit der Hand durch das Haar und atmet tief, befreit auf.) 15

(Es ist Nacht geworden -) Und die Bühne schließt sich.

3 5 9

stehen.)N ] gerichtet.)N ] Bzusammen.)N ] B B

korrigiert aus: stehen). korrigiert aus: gerichtet). korrigiert aus: zusammen).

50

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Mord in der Mohrengasse – Schauspiel in drei Akten

51

Lesetext

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

52

Lesetext

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Konzeption: Mord in der Mohrengasse – Schauspiel in drei Akten

53

Lesetext

Endfassung Figurenliste Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht) ÖLA 3/W 272 – BS 20 [1], Lesetext Bl. 1

54

Endfassung Mord in der Mohrengasse Figurenliste

MM/K/TS1 (Korrekturschicht) MM/K/E1

55

Lesetext

Endfassung Mord in der Mohrengasse



MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

MORD IN DER MOHRENGASSE Schauspiel in drei Akten von Ödön von Horváth . B

5

N

얍 Personen: 10

15

20

25

30

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 1

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 2

Herbert Müller Ilse Klamuschke Mutter Klamuschke Mathilde Klamuschke Paul Klamuschke Wenzel Klamuschke Drei Dirnen ein Verwachsener die Altmodische ein Polizist ein Eisenbahner sein Weib ein Sechzehnjähriger Simon Kohn Zwei Polizisten Bargäste ein Kommissar Polizisten zwei Detektive. E r s t e r A k t : Bürgerliches Wohnzimmer. Z w e i t e r A k t : Mohrengasse. D r i t t e r A k t : Bürgerliches Wohnzimmer. Spielt innerhalb zwölf Stunden.

35

얍 Erster Akt.

40

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 3

얍 Bürgerliches Wohnzimmer. Im Hintergrunde zwei Türen: die rechts führt in ein kleines Vorzimmer und ist sie offen wird die Haustüre sichtbar. Links über einem runden Tische die Lampe. Rechts ein Fenster neben einem Sofa. An den Wänden Familienphotographien in goldenen Rahmen. Spätnachmittag.

45

5

B

HorváthN ]

Horv[a]|á|th

56

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 4

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

H ERBERT M ÜLLER (am Fenster: wartet; erblickt auf dem Tische einen Teller Backwerk; fixiert ihn; nähert sich ihm; lauscht --- steckt sich rasch ein Stück in den Mund: kaut) 5

I LSE K LAMUSCHKE (achtzehnjährig altklug; tritt durch die linke Türe ein) M ÜLLER (schluckt) I LSE Sogleich kommt Mama. Sogleich. M ÜLLER (verlegen: nur um etwas zu sagen) Ilse. Ich dachte mir eben wieder: in zwei Jahren --I LSE (unterbricht ihn) Man soll nie Pläne machen. M ÜLLER Man muss Pläne machen! Freilich: ob selbe Körperlichkeit annehmen steht in einem besonderen Kapitel. I LSE (zerbeisst ein Lachen) M ÜLLER (denkt an das Backwerk) Warum lachst Du? 얍 I LSE Sei nicht böse, bitte. Nur: unlängst fiel mir auf wie häufig Du das Wort „Kapitel“ gebrauchst. Hör ich es nun, muss ich lachen. M ÜLLER (atmet unterdrückt erleichtert auf) Folglich erscheine ich Dir häufig lächerlich. Danke. I LSE Aber! (er stockt, da) M ÜLLER (gereizt) Folglich ist ein Kapitel für sich, dass --I LSE (ihn erschrocken anstarrt) M ÜLLER (lächelt) Hast es nicht gehört? I LSE Was? M ÜLLER Das Wort. I LSE Nein. M ÜLLER (innig und eitel) Ilselein. Siehst Du: Mann soll der Mann sein und die Frau überhört ihr eigenes Lachen und --I LSE (gereizt) Quatsch! Ich hab es doch gehört! M ÜLLER Was? I LSE Das Wort. Wähle nun: lachen oder lügen? 얍 M ÜLLER (starrt sie an) B N

B

10

15

20

25

N

B

B

30

N

B N

N

N

M UTTER K LAMUSCHKE (tritt durch die linke Türe ein) Es freut mich Sie endlich begrüssen zu können, Herr Müller. Meine Tochter hat mir vieles über Sie erzählt und ich habe Sie also bereits gekannt eh ich Sie sah. M ÜLLER (verbeugt sich und lächelt überlegen) M UTTER (setzt sich und bietet ihm Platz an) M ÜLLER (setzt sich) (Stille) B

35

B

7

9 20 20 20 27 34

B N

]

Jahren ---N ] dass ---N ] B N] Bstockt,N ] Bund ---N ] BvielesN ] B B

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 5

N

Absatz getilgt; alle überzähligen Absätze zwischen Figurennamen und Dialogtext, aber auch zwischen Regieanweisungen und anschließendem Dialogtext werden in TS1 stillschweigend getilgt; vgl. Chronologisches Verzeichnis. korrigiert aus: Jahren korrigiert aus: dass Absatz getilgt korrigiert aus: stockt korrigiert aus: und korrigiert aus: Vieles

57

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 6

Endfassung Mord in der Mohrengasse

5

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

M UTTER Seit mein Mann starb ist es still bei uns geworden, obwohl mein Sohn mit seiner Frau zu uns zog. Sie kennen ja meinen Sohn? Früher: vom Schwimmverein. Das ist nun auch vorbei. Er ist den ganzen Tag über in der Bank beschäftigt. Wir eigentlich warten nur auf ihn. (Stille) M UTTER Ich hörte Sie arbeiten an einem wissenschaftlichen Werke --M ÜLLER Oh. M UTTER Sie tanzen wohl gerne? M ÜLLER Manchmal. (wichtig) Ich behandle gegenwärtig auf Grund intuitiver Beobachtungen das Ketzer- und Hexenwesen mit besonderer Berücksichtigung der Schwangerschaft. Seit frühester Kindheit reizt mich nämlich 얍 das Verbrecherische irgendwie. (es dämmert stark) I LSE (dreht das Licht an) M UTTER (starrt ihn an) M ÜLLER Es ist sehr interessant. M UTTER (nickt) M ÜLLER (weicht ihrem Blicke aus: betrachtet seine Schuhspitzen; dann die Lampe) M UTTER (erhebt sich) Sie müssen mich entschuldigen. Es ist sehr interessant. Doch: wenn Ilse noch essen will bevor Sie tanzen gehen --M ÜLLER (verabschiedet sich) Versteht sich! Dann: in einer guten Stunde hole ich Fräulein Ilse ab. Gnädigste! I LSE (begleitet ihn ins Vorzimmer; schliesst die Türe) B N

10

B

B

15

20

25

N

N

M UTTER (allein; denkt nach: nickt, murmelt; setzt sich) M ATHILDE K LAMUSCHKE (ist schwanger im siebenten Monat; tritt von links her ein; leise) Ist er fort? M UTTER (erhebt sich wie geweckt) Ja. M ATHILDE Wo nur Paul so lange bleibt? M UTTER Monatsende, Abschluss: das gibt Arbeit. --- Hast Du die Kartoffeln schon geschält? 얍 M ATHILDE Alle Kartoffeln?! Ilse soll doch auch --B

30

B

35

40

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 7

N

I LSE (ist wieder eingetreten; unterbricht sie) Ich tu schon! Tu schon. M ATHILDE Aber nichts Richtiges! Bücher lesen und so! I LSE Du Kuh! M UTTER Schweigt! Der Müller hört das noch ins Treppenhaus! (Stille) I LSE Ich zieh mich jetzt um. M ATHILDE Und ich soll die Kartoffeln schälen. I LSE Ach, Du Aschenbrödel! M ATHILDE (reisst sich die Schürze vom Leibe) Eher verhunger ich! 9 10 13 27 33

] Ketzer-N ] BdämmertN ] Blinks herN ] Bauch ---N ] B N B

Absatz getilgt korrigiert aus: Ketzer korrigiert aus: dämmer korrigiert aus: linksher korrigiert aus: auch

58

N

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 8

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

I LSE Einmal geht man aus. M UTTER Zieh Dich nur um. I LSE (ab durch die linke Türe) 5

10

M ATHILDE Was ist denn dieser Müller für ein Mensch? M UTTER Er scheint recht klug zu sein. 얍 M ATHILDE Klüger als Ilse? M UTTER (ruhig) Sag: kannst Du klagen, dass ich mein eigenes Kind besser behandle? M ATHILDE (boshaft) Welches Kind? M UTTER (starrt sie an) Bist ein schlechter Mensch, Thilde. M ATHILDE Vielleicht bin ich einer geworden. Gewesen bin ichs nicht. Doch, wenn man sieht --- und ständig diese Leichenhausmiene seit das Kind unterwegs --M UTTER (unterbricht sie) Das ist nicht wahr! M ATHILDE Doch, das ist wahr. Niemand kennt Rücksicht: muss genauso kochen, räumen, schuften --M UTTER Wer übernahm die Führung meines Hauses? M ATHILDE Nie wollt ich Dich verdrängen. M UTTER Aber Du hast es getan. M ATHILDE Glaub: auch ich könnt mich beklagen. M UTTER Dann nörgle nicht! Sondern tus! M ATHILDE Nein. Es ist ja zwecklos: er ist den ganzen Tag über in der 얍 Bank --- und ich hätte die Hölle. M UTTER Die haben wir alle . B

B

15

20

B

25

30

N

B

N

12 14 23 25 29 29 33

unterwegs ---N ] genausoN ] BalleN ] Brechts herN ] BWer ---N ] B N] BzuwenigN ] B B

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 10

N

N

B N

B

35

N

P AUL K LAMUSCHKE (tritt in Hut und Mantel verstört von rechts her ein; lässt die Vorzimmertüre offen) M ATHILDE Endlich! --- Was ist Dir denn? P AUL (zur Mutter: leise) Er steht drunten. (begreift: verstummt; dann leise) Hast ihn gesprochen? M UTTER Wer --P AUL (barsch) Nein, das weisst Du! --- Nur gesehen: unten am Gitter. Schien zu überlegen ob er uns beehren soll. M ATHILDE Dass er immer wieder kommt! P AUL Als hätten wir Geld! Als hätt er uns noch zuwenig bestohlen! M ATHILDE Still! DIE D REI (lauschen) (Stille; dann ertönt kurz die Glocke) M UTTER Lasst mich allein. P AUL (unterdrückt) Aber gib ihm nichts! 얍 M UTTER (nickt: nein) Mathilde: die Kartoffeln. B

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 9

korrigiert aus: unterwegs korrigiert aus: genau so korrigiert aus: Alle korrigiert aus: rechtsher korrigiert aus: Wer Absatz getilgt korrigiert aus: zu wenig

59

N

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 11

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

M ATHILDE Nein. Ich werde Wurst aufschneiden. P AUL (nach links)

B N

Lesetext

(ab mit)

M UTTER (allein; geht langsam durch das Vorzimmer und öffnet die Haustüre) 5

10

15

20

25

30

W ENZEL K LAMUSCHKE (verwahrlost; tritt ohne Gruss an ihr vorbei in das Wohnzimmer; geht umher; bleibt manchmal vor einem Gegenstande stehen und lächelt) M UTTER (folgte ihm mit den Blicken) Was willst Du? W ENZEL Ja --M UTTER Geld hab ich keins. W ENZEL (fixiert sie) (Stille) W ENZEL Schäm Dich nicht. M UTTER Meinst Du ich schämte mich vor Dir? W ENZEL Ach so. (er geht wieder umher) Vor mir darf man sich ja nicht schämen. Bin ja ein Dieb. Hab vom fremden Tellerchen gegessen. Und --- Freilich, freilich. 얍 Aber dieser Tisch! Am Sonntag gab es Rostbraten mit Endiviensalat. Oder Endiviensalat mit Rostbraten. Und dann stritt man sich dort um den Eckplatz am Sofa. Einer schrie, Einer gab nach und las Lokalnachrichten: immer wieder. Jeden Tag. --- Eine soll mir sogar ähnlich sehen wurde behauptet. M UTTER Bist nur gekommen um wieder weh zu tun? W ENZEL (sachlich) Nein. Ich wollte auch nie weh tun. Jedoch es ist mein Fehler, dass ich laut denke und tue. Bin nämlich der verlorene Sohn, nur möcht ich wissen wer mich verloren hat. M UTTER Wie gerne Du Dich reden hörst. W ENZEL Ja: wenn man unverstanden bleibt. M UTTER Boshaft wie immer. W ENZEL Nein: dumm. M UTTER (horcht auf) (Stille) M UTTER (leise) Wenzel --W ENZEL (unterbricht sie) Jetzt geh ich. M UTTER (schlägt um) So geh! Wir haben doch nichts miteinander gemein. W ENZEL Glaubst Du? (Stille) 얍 M UTTER Was willst Du noch hier? W ENZEL (sieht um sich) Wollte nur sehen --- wie es Euch geht. (er grinst) M UTTER (starrt ihn an) Jetzt wird mir bange. W ENZEL (leise) Es ist nichts geschehen. Nichts. --- Ich ging nur vorbei --- (er geht an die Haustüre und öffnet sie; überlegt einen Augenblick: schlägt die Türe von innen zu und bleibt während des Folgenden im Vorzimmer stehen von niemand bemerkt) B N

B

35

N

B N

40

B

1 15 32 38 42

] ] BWenzel ---N ] B N] BniemandN ] B N B N

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 12

Absatz getilgt Absatz getilgt korrigiert aus: Wenzel Absatz getilgt korrigiert aus: Niemanden

60

N

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 13

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

P AUL (von links her ) M UTTER (dumpf) Wieder gehorcht. P AUL Ja. Er hätte Dich auch wieder schlagen --B

Lesetext

N

B

N

B N

(er stockt, da) B

N

5

I LSE (in einem billigen Ballkleid eintritt; zur Mutter) Da: bitte: den Knopf krieg ich nicht zu. M UTTER (knöpft ihr am Rücken einen Knopf zu) I LSE (ruft) Mathilde! Das Essen! 10

M ATHILDE (tritt eben mit Schüssel und Tellern ein) Zu Befehl, gnädiges Fräulein! Zu Befehl! (sie deckt den Tisch) 얍 A LLE (setzen sich um ihn und essen) W ENZEL (hinter der rechten Türe: sieht ihnen eine kleine Weile zu; geht dann indem er die Haustüre geräuschlos öffnet und schliesst) B N

15

DIE

20

V IER (essen)

Ende des ersten Aktes. 얍 Zweiter Akt.

25

30

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 14

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 15

얍 Mohrengasse. Von links nach rechts: Ein geschlossener Laden mit Schildaufschrift: Diamanten. Gold. Simon Kohn. Kauf. Verkauf. Eine schmale Hoteltüre, die in einen matt erleuchteten Korridor mündet. Vor dem ersten Stocke halbkreisförmig trübelektrische Buchstaben: Hotel. Eine Bar. Hinter der schmutzigen Fensterscheibe, auf der ein altes Plakat klebt, geigt ein Schatten. Man hört aber keine Musik. Es ist Nacht und still.

35

D REI D IRNEN ( zwei rechts, eine links vor dem Laden; horchen) E RSTE Klopf nochmal. Z WEITE (klopft an den Laden) B

2 4 4 4 12 36 36

links herN ] schlagen ---N ] B N] Bstockt,N ] B N] BzweiN ] BeineN ] B B

N

B

N

korrigiert aus: linksher korrigiert aus: schlagen Absatz getilgt korrigiert aus: stockt Absatz getilgt korrigiert aus: Zwei korrigiert aus: Eine

61

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 16

Endfassung Mord in der Mohrengasse

N

B

10

15

20

DIE

D REI (stellen sich bereit: verstellen die Gasse)

D IE A LTMODISCHE (gekleidet nach der Mode vor fünfundzwanzig Jahren und dichtverschleiert; kommt von links und bleibt vor der Hoteltüre stehen) 얍 DIE D REI (beobachteten sie: sehen sich nun an --- eine seufzt boshaft --- kichern und eilen in die Bar)

35

B

N

B N

B N

40

N

P OLIZIST (erscheint rechts und sieht sich um) A LTMODISCHE (klebt regungslos an der Wand) P OLIZIST (erblickt sie; hält langsam auf sie zu; leise) Ihre Papiere. Seit wann sind Sie hier? A LTMODISCHE (kramt geziert umständlich ihren Ausweis hervor; gefällig) Seit heute, mein Herr. P OLIZIST (gutmütig) Sie sollen sich aber nicht so auffallend anziehen. Das ist verboten. A LTMODISCHE Auffallend?! Ein einfaches Strassenkleid! P OLIZIST (lächelt) Aus Urgrossmutters Zeiten. A LTMODISCHE Ich habe kein anderes. P OLIZIST Das gibt es doch gar nicht! (er blickt in ihre Papiere) Der Schein. Stimmt. (er blättert; mechanisch) Gestern entlassen? Aus welcher Strafanstalt? A LTMODISCHE Sankt Lazarus. EIN

30

2 8 24 35 38 39

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 17

N

B

25

Lesetext

E IN V ERWACHSENER (tritt aus der Bar und lässt die Türe offen: gedämpft Musik) Wie lange --E RSTE (unterbricht ihn) Pst! Schliess die Türe! V ERWACHSENER (schliesst sie und horcht) (Stille) 얍 Z WEITE Niemand. Er ist nicht zuhause. V ERWACHSENER Wie lange wollt Ihr noch warten? Versetzt. Ich sags. Z WEITE (nähert sich den anderen ) Das tat er noch nie. Der alte Schuft! D RITTE Vielleicht ist etwas geschehen. E RSTE Was denn? D RITTE Man kann nie wissen. Z WEITE Pah! (Stille) E RSTE Ich weiß nur: hab kalte Füsse und kann kaum mehr stehen. Und nun kommt so nichts mehr. V ERWACHSENER (sieht auf die Uhr) Was Richtiges sicher nicht. Z WEITE Still! Es kommt wer. V ERWACHSENER (verschwindet in der Bar) B

5

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

lange ---N ] anderenN ] BeineN ] BEinN ] B N] B N] B B

korrigiert aus: lange korrigiert aus: Anderen korrigiert aus: Eine korrigiert aus: ein Absatz getilgt Absatz getilgt

62

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 18

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

P OLIZIST (horcht auf; liest) 얍 A LTMODISCHE (wird unruhig)

5

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 19

W ENZEL (von rechts; will nach links; erblickt den Polizisten: zögert und bleibt vor dem alten Plakate am Barfenster stehen: als würd er lesen) P OLIZIST (spricht nun noch leiser) Also: zweiundzwanzig Jahre waren Sie dort. Und: weshalb ? A LTMODISCHE Das muss ich nicht sagen. Bin begnadigt. P OLIZIST Das tut nichts zur Sache! Ich muss wissen wen ich im Revier habe --A LTMODISCHE (tonlos) Aufforderung zum Mord. P OLIZIST Den Schleier. Lüften. A LTMODISCHE (hebt ihn: ein maskenhaft leeres Antlitz umrahmen grauweisse Haare) P OLIZIST (weicht etwas zurück; vergleicht rasch) Es ist schon gut. Und: die Vorschrift kennen Sie ja. (er geht an Wenzel vorbei nach rechts ab) B

N

B

10

N

B N

15

W ENZEL (ohne Blick für die Altmodische langsam nach links ab) A LTMODISCHE (allein; lehnt den Kopf an die Wand und wimmert; verstummt und horcht; rafft sich verschleiert empor) 20

E ISENBAHNER (von links her mit seinem) W EIBE (leise) Ich weiss Du liebst mich nicht mehr. 얍 E ISENBAHNER (blickt nach der Altmodischen) Quatsch doch nicht immer solch Zeug! W EIB (dumpf) Es ist schon so. Wirst schon sehen --E ISENBAHNER (lächelt) Willst mich vergiften? Dummes Ding --- Wart, hol nur Zigaretten. (ab in die Bar) B

EIN

25

N

W EIB (sieht sich scheu um) A LTMODISCHE (glotzt sie an) 30

W ENZEL (kommt langsam wieder von links her ) W EIB (rasch an die Bartüre; will hinein, doch) B

35

N

E ISENBAHNER (tritt soeben heraus; Zigarette im Mundwinkel) Was hast Du denn schon wieder? W EIB Angst. Komm --- Lass mich nur nicht allein. E ISENBAHNER Ja, wer das könnte. W EIB Will auch nichts mehr sagen. (ab mit ihr nach E ISENBAHNER (gähnt) Bin auch müde. Der ewige Dienst --rechts) B

40

W ENZEL (steht nun wieder vor dem Plakate) 7 9 14 21 31 39

weshalbN ] habe ---N ] B N] Blinks herN ] Blinks herN ] B N] B B

korrigiert aus: wesshalb korrigiert aus: habe Absatz getilgt korrigiert aus: linksher korrigiert aus: linksher Absatz getilgt

63

N

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 20

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

A LTMODISCHE (nähert sich ihm) Pst! Hören Sie --얍 W ENZEL (unterbricht sie) Nein. (Stille) A LTMODISCHE Wollen Sie kein liebes Frauchen? W ENZEL (schweigt) A LTMODISCHE (neben ihm; liest laut das Plakat) Wohltätigkeitsfest. Unter dem Protektorate Ihrer Hoheit. Tombola und Tanzturnier. Bazar. Montag am zweiten --Das war doch schon. W ENZEL Ja. A LTMODISCHE Und trotzdem lernen Sies auswendig? W ENZEL Ja. A LTMODISCHE Nein. Sie schauen in den Spiegel. Das soll man nie in der Finsternis : man wird verrückt oder sieht den Satanas neben sich. W ENZEL Ich sehe Sie. A LTMODISCHE Und ich Sie. Wir gehören zusammen. W ENZEL Jawohl. A LTMODISCHE Also: wollen wir nichts unternehmen? W ENZEL Ich hab kein Geld. 얍 A LTMODISCHE Ich noch weniger . Das Leben ist zu teuer für die kleinen Frauen. W ENZEL (wendet sich ihr zu) Hören Sie: Sie werden sich doch etwas erspart haben: in zweiundzwanzig Jahren. A LTMODISCHE (prallt zurück) Woher wissen Sie das? W ENZEL Zufällig. Zuvor. Verzeihen Sie mir, dass ich es hörte. A LTMODISCHE Nichts wissen Sie! W ENZEL Wieso? A LTMODISCHE Du kannst umsonst! Wann Du willst --- nur wissen Sie nichts! Wissen Sie nichts! W ENZEL (lacht irr) B

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S ECHZEHNJÄHRIGER (blass hochaufgeschossen; erscheint links und bleibt unschlüssig stehen) W ENZEL (zum Sechzehnjährigen) Nach Ihnen! Umsonst --A LTMODISCHE Bist verrückt?! W ENZEL Herr! Kauen Sie nicht an den Fingernägeln! Spucken Sie aus und treten Sie näher! Es kostet nur das Zimmer! A LTMODISCHE (zischt) Ich bete für Dich. 얍 W ENZEL Nur Wohltätigkeit! Unter meinem Protektorate! A LTMODISCHE (zum Sechzehnjährigen) Komm! So komm! Es ist doch umsonst! (ab ins Hotel)

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EIN

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Lesetext

N

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B N

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S ECHZEHNJÄHRIGER (folgt ihr verschüchtert)

1 12 19 34 34 38

Sie ---N ] FinsternisN ] BwenigerN ] BKauenN ] BSpuckenN ] B N] B B

korrigiert aus: Sie korrigiert aus: Finsterniss korrigiert aus: Weniger korrigiert aus: kauen korrigiert aus: Spuken Absatz getilgt

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ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 23

Endfassung Mord in der Mohrengasse

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MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

W ENZEL Fahrwohl! Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar. Sentimental und mit Pickeln im Gesicht. Gute alte Zeit! Der Tisch, der Tisch --- ich werde verrückt, verrückt! (er presst die Stirne an das Barfenster) Siehst Du den Satanas? Nur Dich selbst! Kein Teufel, da kein lieber Gott! Nur zwei Augen, Nase, Mund, eine Stirne, niemals zwei, ein Hut um sechsfünfzig und die Gnade nur selten von der Wahrheit besucht zu werden. Das ist alles . Oder nichts. Bist erkannt Du Dreck! Erkannt! --- Doch ich will nicht mit Trauerfahnen jubilieren. (ein Hotelfenster wird hell) W ENZEL (sieht empor) Hm. Jetzt betritt er das Zimmer. Kostet zwei Mark. Teuer. Und billig. Jetzt zieht sie den Vorhang vor --- bald leckt das Mysterium hündisch vier Sohlen. Und unerschöpflich strömt die Latrine der Ewigkeit über die Planetensysteme. Wir sind der Dung. Wie seelisch unser Tun blüht! (er lächelt irr; starrt dann vor sich hin) Alles ist hohl und leer. Die Häuser riechen nach Leichen und Sauerkraut. Man sollte sich selber erbrechen können. --- Alles 얍 ist tot. (Stille; dann geht er langsam an den Laden und liest) W ENZEL Diamanten. Gold. Kauf. Verkauf. Simon Kohn --- Kennt Ihr Simon Kohn? Der tat nur kaufen und verkaufen: Splitter und Staub aus Afrika. Und tat es unters Kopfkissen und überall glitzerte das Falsche. Die Imitation --- (er spricht unterdrückt in den Laden hinein) Herr Kohn. Lassen Sie mit sich reden. Ruhig reden. Ich irrte. Reden, Herr Kohn! Wollte ja alles anders, immer alles anders! Wollte doch nur einbrechen, den Schmuck stehlen, ich schwöre: wollte nur stehlen! Hören Sie mich? Stehen Sie doch wieder auf, liegen ja unterm Pult! Setzen Sie sich wieder! Und nehmen Sie Stock und Hut! Stehen Sie auf, auf --- (er trommelt an den Laden) B

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S IMON K OHN (mit Hut und Rohrstöckchen; erscheint links und tippt mit dem Stöckchen auf Wenzels Schulter) W ENZEL (fährt um) Herr Kohn! K OHN Leise, junger Mann, leise. Wir vertragen den Lärm nicht. --- Sie haben sich geirrt? Haben die Imitation mitgenommen? W ENZEL (reicht ihm ein Schmuckkassettchen ) Hier --K OHN (unbeweglich) Sie wollen mir den Schmuck zurückbringen? W ENZEL Nehmen Sie! Nehmen Sie! K OHN Die Imitation? Sie schlugen um den Echten zu und wollen es mit 얍 dem Falschen wieder ungeschehen machen? Hihihi. W ENZEL Sie sind ja wieder --K OHN (unterbricht ihn) Immer! Und überall! Hier, im Bett, am Tisch --- aber auch: B

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B

6 13 17 19 21 21 24 32 37

allesN ] ] BW ENZEL N ] B N] BallesN ] BallesN ] B N] BSchmuckkassettchenN ] Bwieder ---N ] B

B N

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korrigiert aus: Alles Absatz getilgt eingefügt Absatz getilgt korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Alles Absatz getilgt korrigiert aus: Schmuckkasettchen korrigiert aus: wieder

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Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

unterm Pult! Ich schlürfe durch die Lüfte, obs windstill ist oder braust, und bade mitten im Meere. Und bin dabei doch unterm Pult! W ENZEL Herr Kohn: verflucht sei das Weibsbild --K OHN (unterbricht ihn) Das interessiert mich nicht! W ENZEL Aber mich! Denn sie war es, die mich tun liess, was sie nie getan hätte. Nie tun wollte: wie ich! Und doppelt büss ich, da ich weder bereuen kann, weil ich nichts zu bereuen habe, noch Opfer bin, da jene für die ich mich opfere selbst geopfert werden. Sie liebt mich nämlich. K OHN (lächelt) Was Sie nicht sagen. W ENZEL Es ist nur die Reihenfolge. Sehe so klar, dass mir die Sprache schwindet --Lachen Sie nur, lachen Sie! Wenn man nur lieben könnte! Irgendetwas. Fratzen! Masken! Orchester ohne Ton! Unecht wie Ihr Schmuck! K OHN (toternst) Nur, dass Simon Kohn unterm Pulte liegt bleibt echt. Sehen Sie: wies klafft? Echt. (er lüftet den Hut) W ENZEL (starrt ihn an) Schlagen Sie zu Simon Kohn. 얍 K OHN (hebt langsam das Stöckchen) Echt! Echt! --- Haben Sie Angst? Hihihi! (er lässt das Stöckchen sinken und sticht schäkernd nach ihm) Angst hat er! Angst! Um den Trug! Um das Hohle! Um den Dung! Um die Nase! Die Augen --Hihihi! Die Kreatur! Soll ich die Polizei holen? Hihihi --- Reihenfolge, junger Mann! Mein Kamel ist bereits durchs Nadelöhr --- Hihihi! Die Kreatur! (er verschwindet) B

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Z WEI P OLIZISTEN (erscheinen rechts; wechseln unhörbar Worte; halten auf Wenzel zu) E RSTER Können Sie sich ausweisen? (im Hotelzimmer erlischt das Licht) DIE Z WEI (sehen empor) W ENZEL Ich stehe nur so hier. Nur so. E RSTER Was taten Sie hier am Laden: zuvor? W ENZEL Nichts. (er stockt, da eben der) Z WEITER Aber wir haben beobachtet --B

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S ECHZEHNJÄHRIGE (aus dem Hotel tritt; rasch ab nach rechts) 35

A LTMODISCHE (aus dem Hotel; erblickt die Polizisten; 얍 erschrickt; will zurück) 3 7 14 16 17 18 18 18 18 19 20 20 31 31 31

Weibsbild ---N ] jeneN ] B N] B N] BschäkerndN ] BUmN ] BUmN ] BUmN ] BDieN ] BDieN ] BDieN ] B N] Bbeobachtet ---N ] B N] Bstockt,N ] B B

korrigiert aus: Weibsbild, korrigiert aus: Jene Absatz getilgt Absatz getilgt korrigiert aus: schäckernd korrigiert aus: um korrigiert aus: um korrigiert aus: um korrigiert aus: die korrigiert aus: die korrigiert aus: die Absatz getilgt korrigiert aus: beobachtet Absatz getilgt korrigiert aus: stockt

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ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 27

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

E RSTER Halt! Sie bleiben! Z WEITER Sie haben Jugendliche angelockt! W ENZEL (ab nach links) 5

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A LTMODISCHE (in grösster Angst) Ich habe niemanden angelockt! Z WEITER (lacht) E RSTER Schreien Sie nicht! Kommen Sie! Gehen wir! A LTMODISCHE Nein!! E RSTER (ergreift ihren Arm) Nein? Was erlauben Sie sich?! A LTMODISCHE (schreit) Ihr sollt mich nicht wieder!! Lasst mich doch, lasst --B

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G ÄSTE (treten auf den Lärm hin aus der Bar) Z WEITER Halten Sie Ihr Maul! A LTMODISCHE Zweiundzwanzig Jahre! Ihr habt mich schon einmal begraben! Zwei(sie schlägt um sich: verliert Hut und undzwanzig, zweiundzwanzig!! Schleier) A LLE (weichen etwas zurück) Z WEITER Das ist Widerstand! 얍 A LTMODISCHE Begrabt mich! Verscharrt mich!! Z WEITER (führt sie nach rechts ab) E INIGE (folgen den beiden ) ALLE

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E RSTE D IRNE Immer das gleiche : Kleine hängen, Grosse --P OLIZIST (unterbricht sie) Das verbitt ich mir! Wir tun unsere Pflicht! A LLE (murmeln) D RITTE D IRNE Dann schauen Sie mal nach: da drüben: beim Kohn. (Stille) P OLIZIST Was wollen Sie damit sagen? V ERWACHSENER (zur Dritten; gereizt) Was weisst denn Du? D RITTE Nichts! Aber er hat uns noch nie versetzt. Klopft man gibt er keine Antwort. Und er ist doch immer zuhause. P OLIZIST (tritt an den Laden) (ein leiser Wind hebt an) V ERWACHSENER Das kommt über uns. P OLIZIST (klopft an den Laden) A LLE (horchen) (Stille) P OLIZIST (zur Dritten; leise) Wo ist denn der Eingang? 얍 D RITTE Hinten: um die Ecke. P OLIZIST (ab) N

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5 15 21 23 23 24

niemandenN ] ] BbeidenN ] Bdas gleicheN ] BGrosse ---N ] BverbittN ] B

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korrigiert aus: Niemanden Absatz getilgt korrigiert aus: Beiden korrigiert aus: dasgleiche korrigiert aus: Grosse korrigiert aus: verbiet

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Endfassung Mord in der Mohrengasse

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V ERWACHSENER Aas! Musst quatschen! D RITTE Es ist doch etwas geschehen! V ERWACHSENER Ebendeshalb ! (eine Türe wird eingedrückt) A LLE (lauschen) V ERWACHSENER (zur Dritten) Komm! B

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MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

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P OLIZIST (kommt wieder; bleich, ernst; zur Dritten) Halt! Was wissen Sie über den Fall? D RITTE Über welchen Fall? P OLIZIST Sie sagten doch --- (er pfeift Alarm) A LLE (ziehen sich etwas zurück) D RITTE (will sich unauffällig entfernen) P OLIZIST Sie bleiben! V ERWACHSENER (zur Dritten) Hörst es? P OLIZIST (zum Verwachsenen) Und Sie auch. 얍 (er pfeift nochmals) D RITTE Was ist denn geschehen?! P OLIZIST Mord. B N

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P OLIZISTEN (darunter ein) K OMMISSAR (eilen herbei) P OLIZIST (berichtet unhörbar dem Kommissar) V ERWACHSENER (horcht) K OMMISSAR (zum Polizisten indem er die Dritte und den Verwachsenen fixiert) Also: das Schloss war beschädigt? Und ausgekannt muss er sich haben --- Sie warten hier! (er begibt sich mit einem Polizisten um die Ecke in den Laden) B N

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Z WEITE D IRNE (zum Polizisten) Herr, jetzt fällt mir ein: sah hier einen herumlungern --P OLIZIST Richtig! (er sieht sich forschend um) Nicht mehr da. (im Laden wird das Licht angezündet) A LLE (treten hin und spähen durch Ritzen hinein: murmeln; verstummen) (Totenstille) B N

S IMON K OHN (kommt langsam von links; unterdrückt 얍 zum Polizisten) Sehen Sie nicht hin! Er sieht her. Dort drüben: unterm Haustor. Dort steht einer --P OLIZIST (schielt vorsichtig nach links) Aha. (er winkt unauffällig einem) P OLIZISTEN (und eilt mit ihm plötzlich nach links ab) B

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3 11 16 26 30 36 37

EbendeshalbN ] ] B N] B N] B N] BeinerN ] B N] B

B N

korrigiert aus: Ebendesshalb Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt korrigiert aus: Einer Absatz getilgt

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ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 31

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

(man hört „Halt!“ rufen) A LLE (starren nach der Richtung) (man hört Laufen und Rufen; dann wie einer stolpert, zur Erde sinkt und festgehalten wird. --- Das Licht im Laden erlischt) B

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Ende des zweiten Aktes.

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얍 Dritter Akt.

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얍 Das bürgerliche Wohnzimmer. Die Türe rechts ist geöffnet. Sturmnacht.

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I LSE (tritt durch die Haustüre ein und wendet sich auf der Schwelle) M ÜLLER (zu, der im erleuchteten Treppenhause steht) I LSE (leise) Dass Du mich bis herauf begleitest war doch unnötig. Geh nun bitte. M ÜLLER (leise) Wann sehen wir uns wieder? I LSE Ich dachte Du wolltest mich nicht mehr sehen. M ÜLLER Quatsch! Wenn Du --I LSE Schrei doch nicht so! (sie lauscht in die Wohnung; der Wind wimmert; dumpf) Einmal geht man aus. M ÜLLER Ilse. Vergib, wenn ich grob und ungeduldig war. Aber Deine Ansichten --I LSE (unterbricht ihn) Ich habe ja gar keine Ansichten. 얍 M ÜLLER Du hast sogar vortreffliche, jedoch auch --I LSE (unterbricht ihn wieder) Jetzt schweig endlich! Und geh, geh --M ÜLLER Nein. I LSE Ich schliess die Türe. M ÜLLER (stemmt sich dagegen) I LSE Ich schrei. M ÜLLER (ergreift ihr Handgelenk) Schrei. I LSE Herbert lass mich, au! Tust weh! Bitte, ich --M ÜLLER (trat ein; schliesst die Türe: Finsternis ; umarmt sie) I LSE Nein! nicht --(Stille) I LSE (atemlos) Jetzt geh. Bitte. M ÜLLER Nur zwei Minuten. Alles schläft. Niemand kommt. I LSE Das kann niemand wissen, Du --B

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einerN ] WennN ] BDu ---N ] B N] BAnsichten ---N ] Bauch ---N ] BFinsternisN ] B B

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korrigiert aus: Einer korrigiert aus: wenn korrigiert aus: Du Absatz getilgt korrigiert aus: Ansichten korrigiert aus: auch korrigiert aus: Finsterniss

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Endfassung Mord in der Mohrengasse

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MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

(Stille; unten schlägt der Wind eine Türe zu) M ÜLLER Du. Heut Abend. Ich fühle so, wenn wir uns quälen: haben eine Seele --얍 I LSE Nimm die Hand fort, nicht --- oh! (die Hausglocke ertönt) DIE Z WEI (fahren auseinander) I LSE (schreit unterdrückt auf) Jesus Maria! M ÜLLER Vielleicht ein Telegramm. I LSE Wir bekommen nie ein Telegramm. Still, geh --- es ist wer im Zimmer! (in der Ecke links im Hintergrunde fällt ein Stuhl um; jemand röchelt; es läutet nochmals: kräftiger) M ÜLLER (öffnet rasch die Haustüre und prallt zurück: draussen stehen der) B

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K OMMISSAR (und) 15

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B N

ZWEI

D ETEKTIVE .

N

M ATHILDE (erscheint in der Türe links) K OMMISSAR Sie verstehen: unsere Pflicht ist nachforschen. Überall. Also auch hier. P AUL Bitte. (er dreht das Licht im Wohnzimmer an: in der Ecke links im 얍 Hintergrunde mit Hosenträgern an einem Haken erhängt Wenzels Leichnam; am Boden ein umgeworfener Stuhl) M ATHILDE (gellend) Herrgott!! A LLE (starr --- dann schneiden die beiden) D ETEKTIVE (die Leiche ab und betten sie auf das Sofa) K OMMISSAR Da: Wenzel Klamuschke. I LSE (zu Müller) Das halt ich nicht aus! Er sah mich an, komm! B N

B

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9 13 17 36 37

jemandN ] ] BAber ---N ] B N] BHakenN ] B

B N

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 35

N

P AUL (tritt verschlafen in Hemd und Hose durch die linke Türe ein) K OMMISSAR (zu Müller) Sie bleiben! M ÜLLER Aber --K OMMISSAR (drängt ihn zurück) Kein aber! Licht! P AUL (dreht das Licht im Vorzimmer an) DIE A NDEREN (erblicken ihn) K OMMISSAR Polizei. Wer ist Herr Paul Klamuschke? 얍 P AUL Ich. M ÜLLER (zu Paul) Hatte Fräulein Ilse nur nachhause begleitet. K OMMISSAR (grinst; zu Müller) Sie heissen? M ÜLLER Herbert Müller. Student. P AUL (begreift nicht) Ja: aber was soll das? K OMMISSAR Wir suchen Ihren Bruder. P AUL Herr, ich habe keinen Bruder! K OMMISSAR Das sind doch nur Wörter! P AUL Es sind nicht nur Wörter! Doch bleiben wir sachlich. K OMMISSAR Gut! Wenzel Klamuschke steht im Verdachte einen Raubmord verbrochen zu haben. Sie hatten ihn bereits gefasst, aber er entkam den beiden Agenten. B

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Lesetext

N

korrigiert aus: Jemand Absatz getilgt korrigiert aus: Aber Absatz getilgt korrigiert aus: Hacken

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ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 37

Endfassung Mord in der Mohrengasse

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B

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K OMMISSAR (zu Paul) Sie wussten, dass er hier war. P AUL Nein. 얍 K OMMISSAR Wer öffnete dann? P AUL (zuckt die Achsel) K OMMISSAR Es riecht nach Mitwissen. Wir führen strenge Untersuchung. Der Tod des Täters kann keinen Beteiligten begnadigen. M ATHILDE Dass immer so viele mitgestraft werden --K OMMISSAR Nur die Schuldigen! P AUL (grinst) M ÜLLER Herr Kommissar, darf ich nun gehen? Hatte ja Fräulein Klamuschke nur nachhause begleitet. K OMMISSAR Nein. Muss erst sehen --- (er denkt nach; notiert) B

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P OLIZIST ( hünenhaft ; erscheint in der Haustüre) K OMMISSAR Niemand verlässt die Wohnung! M ATHILDE (ist anderswo ; tonlos) Er kommt wieder, er kommt wieder --P AUL Thilde! EIN D ETEKTIV (hat die Leiche untersucht) Tot. K OMMISSAR Verständigen Sie 57 8 12. Rasch! D ETEKTIV (ab) EIN

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MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 38

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M UTTER (erscheint in der Türe links: erblickt Wenzel; nickt und starrt vor sich hin) P AUL (zum Kommissar) Meine Mutter. (Stille) K OMMISSAR (zu Mutter; leise) Sie liessen ihn ein. M UTTER (als müsse sie sich besinnen) Ja: konnte nicht einschlafen. Hörte läuten. Immer läuten. Viele, viele Glocken: als wären Dämme durchbrochen oder Feuer --und er sagte die Nacht sei neblig und kalt und ob er am Sofa da schlafen dürfe. 얍 K OMMISSAR Wissen Sie etwas --M UTTER (unterbricht ihn) Man kann alles wissen. Hat zwar Augen, Ohren, Kopf, Herz --- kann aber alles wissen. (sie lächelt irr) M ATHILDE Mutter, hast Du den Verstand verloren?! M UTTER (lacht) Aber Thilde! (sie erblickt wieder Wenzel: ernst, leise) Er rührt sich nicht, rührt sich gar nicht --- sagt mir: ist er tot?! (Stille) M UTTER Sagt mirs doch. Bitte --K OMMISSAR Er hat sich selbst gerichtet. B

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B N

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2 4 16 21 30 31 32 32 34

hünenhaftN ] anderswoN ] BvieleN ] B N] Betwas ---N ] BallesN ] BallesN ] B N] B N] B B

korrigiert aus: hühnenhaft korrigiert aus: Anderswo korrigiert aus: Viele Absatz getilgt korrigiert aus: etwas korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Alles Absatz getilgt Absatz getilgt

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ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 39

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

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M UTTER (langsam) Sich selbst --- freilich: man kann tun was man will. Hat Arme, Beine, Kopf --- kann tun was man will. (zum Kommissar) Sehen Sie das Sofa? Es lehnt noch an derselben Wand. Still! Treten Sie beiseite: die Nebel ballen sich im All. Bitte beiseite: er will ja auf mich zu. Es ist erst März, doch der Sturm schlägt die Türen zu und hier innen wirds wohlig und warm. Wird schon werden. Seine Brust wölbt sich mir entgegen, doch sehen Sie: die Photographie: seine Mutter, dort im Rahmen! Hängt über uns und lächelt, dass man das Zahnfleisch sieht --- Hilfe! Hilfe! Das 얍 Gesetz! --- Er will es Ilse oder Wenzel taufen. Hören Sie das Sofa knarren? Es kommt über mich: weicher als mein Bett! (sie wimmert) K OMMISSAR (verbeugt sich vor Paul: will ab) M UTTER Halt! Hören Sie Herr Polizei! Ich wusst es: alles . Versprechen Sie mir: lassen Sie ihn nie mehr los! Riegeln Sie fest zu! Er kann nämlich nicht anders. Ist verflucht --K OMMISSAR (geht mit der Polizei, indem er) M ÜLLER (winkt, der sich ebenfalls entfernen will) B N

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M UTTER Guten Tag, Herr Müller! M ÜLLER (stutzt; verbeugt sich verlegen; rasch ab) 20

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(Stille) M UTTER (lächelt) Jetzt kommt der Prozess. M ATHILDE Mutter! M UTTER Bin nicht Deine Mutter! P AUL (zur Mutter) Beruhige Dich. M UTTER Schweig! Hast nicht mitzureden! Wer mein Kind verleumdete soll das Maul halten! Es ist nicht wahr, dass er den Kanari damals verbrannte! Nicht wahr , Ilse, Du weisst es? P AUL Fragst Du die, deren Ring er stahl? 얍 M ATHILDE Paul! Denk an mich! M UTTER (schrill) Ilse wars! Ilse! I LSE Lüge! M UTTER Dann war es Paul! P AUL Meinst vielleicht auch: ich morde? M UTTER Dir trau ichs zu! P AUL (grinst) Ihm freilich nicht! M ATHILDE Still, es liegt ja ein Toter im Zimmer --I LSE Sie ist verrückt. M UTTER Wer: sie?! Beschimpft Ihr mich wieder? Immer wieder! Hinaus aus meiner Wohnung! Hinaus mit Euch, Ihr Pack! Hinaus!! B

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2 3 3 8 9 12 26 27–28

] EsN ] BTretenN ] BErN ] B N] BallesN ] BHastN ] BNicht wahrN ] B N B

Absatz getilgt korrigiert aus: es korrigiert aus: treten korrigiert aus: er Absatz getilgt korrigiert aus: Alles korrigiert aus: hast korrigiert aus: Nichtwahr

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ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 41

Endfassung Mord in der Mohrengasse

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MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

(Stille) M UTTER (weinerlich) Gott, jetzt vergass ichs wieder: hab ja keine Wohnung mehr. Alles wurd mir genommen --- Kinder, meine Kinder, warum folgt Ihr mir nie? Wenn der Vater nur noch lebte --P AUL Wär es anders gekommen. M UTTER (schlägt plötzlich um) Ja: Du hättest kuschen müssen! 얍 P AUL Und Du auch. M UTTER Lüg doch nicht immer! Was weisst denn schon Du? P AUL Nur was ich sah. M UTTER Was Du nicht sahst, darauf kommt es an. Weisst Du denn wie er war, da Du noch nicht warst? Weisst Du, wir haben uns oft im Café getroffen. Man soll gar nicht darüber reden --- Du hättest ihn nicht wiedererkannt: er hat mich auf Händen getragen. Jaja, Vater war ein kräftiger Mann. Aber seit er damals so über Nacht alles verlor --- da musst ich ihn tragen. Hab schon viel getragen. Zuviel. Hab Euch getragen, zuerst im Bauch, dann am Buckel --- doch bevor ich zusammenbreche, werf ich Euch ab! Hört Ihr? Ab! Will keine Kinder, bin keine Mutter! Will frei sein! Werf Euch ab! Ilse, nimm den Finger aus der Nase! Und --- wenn er, dieser Klamuschke kommt, so sagt ihm, ich, das Fräulein, bin bereits im Unterholz und will in den windstillen Wald. (sie verbeugt sich) Empfehle mich meine Herrschaften! Ihr Hunde! Brüllt, flennt, heult --- ich höre nichts! Nichts! Glotzt doch nicht so dämlich! (ab durch die linke Türe) B

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Lesetext

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 42

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M ATHILDE (setzt sich) I LSE (hält plötzlich auf die Haustüre zu) P AUL Wohin? 얍 I LSE Fort. P AUL Zum Müller? I LSE (schweigt: lauert) P AUL Hast recht . I LSE (ab) B

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(Stille) M ATHILDE Es gibt keine Gerechtigkeit. P AUL Wie gerne Du Dich quälst. M ATHILDE Ich weiss , dass Du unempfindlich bist. P AUL Was heisst das? M ATHILDE (verwirrt) Gott, was hab ich nur wieder gesagt?! Paul! Es ist zu furchtbar, alles ! Wollte ja etwas anderes --P AUL (unterbricht sie) Nein. Das wolltest Du nicht. M ATHILDE Schweig! Sonst seh ich es noch ein! Oh, was soll man denn nur tun? B

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ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 43

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CaféN ] allesN ] B N] B N] BrechtN ] BweissN ] BallesN ] Banderes ---N ] B B

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korrigiert aus: Cafe korrigiert aus: Alles Absatz getilgt Absatz getilgt korrigiert aus: Recht korrigiert aus: weis korrigiert aus: Alles korrigiert aus: anderes

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Endfassung Mord in der Mohrengasse

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MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

P AUL Auf den Arzt warten. M ATHILDE (weint) Himmel --얍 P AUL Lass das! Der liebe Gott spielt Skat im himmlischen Bilderbuch und hört uns nicht, wenn es überhaupt so etwas gibt! M ATHILDE Ich bin aus anderem Holz. Spürs, wenn man mich schlägt. P AUL Ich auch. Aber das Martyrium reizt mich nicht. Ich weiss : manchmal hassest Du mich, genau wie sie, weil ich aus dem Unabänderlichen nie mein Gefühlskapital erhöhe. Doch ich leide weder wegen gleicher Eltern noch lass ich mich für fremde Taten bestrafen. M ATHILDE Aber das ist ja gar nicht wahr! P AUL Es muss wahr sein! Sonst gehen wir unter. (Der Morgen graut) M ATHILDE (setzt sich) P AUL (tritt ans Fenster) M ATHILDE (sieht nach dem Fenster: nach Paul; fröstelt) Ein neuer Tag. Mich friert. P AUL Mich auch. (Stille) M ATHILDE Wir müssen uns anziehen. P AUL Oder ins Bett legen. (Stille) 얍 M ATHILDE (starrt auf Wenzel; dumpf vor sich hin) Er kommt wieder, er kommt wieder --- (sie sieht sich scheu um und lauscht; springt dann plötzlich empor und eilt wimmernd auf Paul zu) Du, ich hab solch Angst: um das, das kommen wird --P AUL (schliesst sie in seine Arme) B

10

15

20

Lesetext

B N

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Ende des dritten und letzten Aktes.

6 22

B

weissN ] ]

B N

korrigiert aus: weis Absatz getilgt

74

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 44

N

ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 45

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

Niemand – Tragödie in sieben Bildern

75

Lesetext

Endfassung Mord in der Mohrengasse

MM/K/TS1 (Korrekturschicht)

76

Lesetext

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Konzeption: Niemand – Tragödie in sieben Bildern

Lesetext

Endfassung Niemand



NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

NIEMAND.

SB Die Schmiede, Berlin 1924, o. Pag. (Bl. I)

Tr a g ö d i e i n s i e b e n B i l d e r n von Oedön von Horváth.

5

============ 얍

Personen:

SB Schmiede 1924, o. Pag. (Bl. II)

10

B

15

Klein Gilda Ursula Vi e r s c h w a r z g e k l e i d e t e M ä n n e r Hausmeisterin Konditor Fürchtegott Lehmann

N

B N

Wladimir Malermeister Glasermeister Schreinermeister Kellnerin D e r g r o s s e Wi r t Die Nachfolgerin Fremder Uralter Stutzer Zwei Detektive B a c k fi s c h Uralte Jungfrau Betrunkener

20

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30

============ 35



Erstes Bild.

SB Schmiede 1924, o. Pag. (Bl. 1)

Bühnenbild:

40

Ein Treppenhaus. Unten links im Hintergrunde das offene Haustor --- draussen die Strasse. Nach rechts leiten Stufen auf den ersten Stock. Unten rechts eine Schenktüre mit Milchglasscheibe und kleinem Pult. Darüber an der Wand: „ Café zum grossen Wirt“. Links von der Schenktüre im Hintergrunde ein schmales Tor nach dem von hoB

14 18 42

Vi e r f M ä n n e r N ] ] BCaféN ] B

B N

korrigiert aus: Vier f Männer

[K a s p a r ] korrigiert aus: Kaffee

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N

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

hen grauen Mauern engumklammerten kahlen Hof. Unten links und oben rechts je eine Tür zu einer Wohnung. Vom ersten Stock führen die Stufen links weiter empor --B

5

N

Es ist Abend. K LEIN (mit einer Geige unter dem Arm steht vor der geöffneten Tür rechts oben) G ILDA (tritt durch die Haustür herein --- geht auf die Tür links unten zu) K LEIN (spricht in die offene Tür) --- war das Ihr letztes Wort? G ILDA (bleibt stehen und lauscht) (Die Tür rechts wird oben zugeschlagen) K LEIN (starrt auf die Tür --- wendet sich dann langsam von ihr ab und steigt die Stufen herab --- erblickt Gilda) Haben Sie gehört? --- : sein „letztes Wort“. (er lächelt leise) G ILDA Nein. Kam eben erst von draussen. K LEIN Unser Herr Hausherr lässt mich nur mehr eine Woche lang hier wohnen, da ich die Miete für meine Dachkammer nirgends auftreiben kann. (er lächelt) 얍 G ILDA Lachen Sie nicht, Herr Klein! K LEIN Ist es nicht lächerlich ein „letztes Wort“ sagen zu wollen? G ILDA Immer hält er sein Wort. Und unerbittlich! K LEIN Ich bitte nie, --- und, wenn er auch immer sein Wort hält / höchstens schlaf ich drüben im Stadtpark. G ILDA Draussen schlafen --- ich danke! K LEIN Und, wenn ich auch nicht schlafen kann --- man muss doch nicht schlafen um träumen zu können. Und solange ich nur träumen kann, ist es mir gleich, ob ich in einem Himmelbett oder auf einer Bank --G ILDA (öffnet ihre Tür links im Vordergrunde) Das verstehe ich nicht. K LEIN „ Selig sind die im Geiste Armen“ --G ILDA Was heisst das?! --- Klein, Du weisst, dass ich Dich schon mal umsonst liess --- und jetzt beschimpfst Du mich --K LEIN (verbeugt sich leicht) Nein! Ich beneide Dich! G ILDA Das versteh ich wieder nicht. Entweder ist es zu klug oder zu dumm. K LEIN Es ist zu dumm! Alles ist zu dumm! --- Siehst Du: ich lebe / bin da: ob ich will oder nicht. Muss leben! Und da muss man doch auch schlafen und also muss man bezahlen für etwas, was man muss. Ist das nicht zu dumm? G ILDA (starrt ihn an --- versteht nichts) K LEIN --- Sag: ist das wahr, dass Dich damals der Wladimir verprügelte, weil Du mit mir umsonst --G ILDA Er hat mich nicht verprügelt, nur geohrfeigt. K LEIN Dass man alles bezahlen muss! G ILDA Du hast doch umsonst! 얍 K LEIN Umsonst?! --- ich ziehe doch in einer Woche aus. Man müsste ins Wasser gehen, könnte man nicht mehr träumen. B N

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B N

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B

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B

rechtsN ] ] B N] Bgehört? ---N ]

11 26 41

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] SeligN ] BmehrN ] B

N

B N

SB Schmiede 1924, Bl. 2

N

B

1 8 11 11

B

N

korrigiert aus: recht Absatz eingefügt Absatz getilgt korrigiert aus: gehört?--- überzählige und fehlende Zeichenabstände werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis. Absatz getilgt korrigiert aus: Seelig korrigiert aus: mher

79

SB Schmiede 1924, Bl. 3

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

G ILDA (deutet auf ihre Stirn, als hielte sie ihn für etwas verrückt) --- Gute Nacht! (verschwindet in ihrer Wohnung und schliesst die Tür) K LEIN (allein --- wendet sich dem Haustor zu) U RSULA (tritt durch das Haustor ein --- bleibt im Gange stehen --- zu Klein) Verzeihen Sie ---: wo wohnt Fräulein Amour, Fräulein Gilda Amour? K LEIN (deutet auf Gildas Tür --- geht auf die Strasse) U RSULA (allein --- sieht ihm nach --- geht dann rasch an die Tür links unten) (Draussen auf der Strasse fährt lautlos ein grosser schwarzer Wagen vor das Haustor) U RSULA (erschrickt --- fasst sich ans Herz --- starrt hinaus) V IER SCHWARZ GEKLEIDETE M ÄNNER (steigen aus dem Wagen und treten ein in das Treppenhaus) E RSTER (erblickt Ursula) Wissen Sie, wo Meyers wohnen? U RSULA (nickt: nein) Nein. Bin heute das erste Mal hier. Z WEITER Im dritten Stock. D RITTER Im vierten. E RSTER (sieht sich um --- leise: fast wie zu sich selbst) Im ersten Stock haust der Lehmann --V IERTER Im zweiten. E RSTER (braust auf) Im ersten, sag ich! (Stille) V IERTER (kleinlaut) Im zweiten. E RSTER Hölle! Ich werde doch noch wissen wo der Pfandleiher Lehmann wohnt / ich, den der Krüppel erst unlängst betrog! 얍 V IERTER --- den meinen Sie? Ich dachte ---: die Leiche. Z WEITER (und) D RITTER (grinsen) V IERTER (zu den beiden ) Was gibt es da zu grinsen?! Irren ist menschlich, hat der heilige Joseph schon gesagt, als die Jungfrau gebar --D IE V IER (lachen schallend) H AUSMEISTERIN (tritt aus der schmalen Hoftüre rechts im Vordergrunde) U RSULA (presst sich an die Wand links) H AUSMEISTERIN Lacht doch nicht so laut! D IE V IER (verstummen) H AUSMEISTERIN Es liegt eine Leiche im Haus. E RSTER (grinst) Das ist uns ganz neu! D IE V IER (lachen wieder schallend) H AUSMEISTERIN Wie man da nur lachen kann! --- Uebrigens: wen sucht Ihr hier? E RSTER Eben die Leiche. Z WEITER (neben der Hausmeisterin) Kennt Ihr mich denn nicht mehr, Hausmeisterin? Ich trug doch damals auch des Hausmeisters Sarg --H AUSMEISTERIN (begreift --- erblickt draussen den Wagen) Der Wagen --E RSTER Ja, der Wagen --- Sagen Sie nun: wo wohnen Meyers? H AUSMEISTERIN Im zweiten Stock.

B N

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B N B

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] ] BV IER f GEKLEIDETE N ] BbeidenN ] B N B N

N

Absatz getilgt Einzug getilgt korrigiert aus: V I E R S C H W A R Z G E K L E I D E T E korrigiert aus: Beiden

80

SB Schmiede 1924, Bl. 4

Endfassung Niemand

5

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

V IERTER Hört Ihr? ich hab es gleich gesagt! (er grinst) E RSTER Ich sprach nur von Lehmann --Z WEITER (und) D RITTER (und) V IERTER (steigen empor in den zweiten Stock) H AUSMEISTERIN Der Lehmann! Würden Sie nur lieber schon dessen Sarg fortschaffen! 얍 E RSTER Nur warten! Niemand lebt ewig! H AUSMEISTERIN Aber der überlebt uns alle --- lebt ja von uns / das ganze Haus ist sein und ich fange schon an zu glauben auch wir selbst. E RSTER Abwarten! H AUSMEISTERIN Und die Meyerin war solch eine seelengute Frau / neulich erst schenkte sie mir wieder zwei fast ganz neue Unterröcke --- aber der Lehmann, dieser Leuteschinder, würde einem auch noch den allerletzten ausziehen --E RSTER (grinst) Schau, schau --H AUSMEISTERIN Pfui! Schämen Sie sich! Wie kann man nur Witze neben dem Tod --E RSTER Eben neben dem Tod! Euch graust davor, weil Ihr ihn kaum kennt, aber wir wurden abgehärtet! denn jeden Tag durchschnittlich fünf bis zehn Leichen abholen müssen / in allen Grössen / vom Säugling bis zum Greis / Männer und Weiber / aus Palästen und Mansarden ---: während sie nebeneinander leben wünscht einer des anderen Tod, doch fährt dann der Wagen vor, heulen sie! Immer das gleiche Bild! H AUSMEISTERIN Nicht immer! Herr und Frau Meyer lebten wie Turteltauben. E RSTER Was wissen Sie wie Turteltauben leben?! H AUSMEISTERIN Man sagt halt so --E RSTER Weil man das nicht wissen kann! (er grinst) H AUSMEISTERIN (dumpf) Ich weiss das allerdings nicht / mein Mann hockte den ganzen Tag über drüben beim grossen Wirt --- aber Herr Meyer sah man nie ohne Frau Meyer. E RSTER Das ist noch kein Beweis. K ONDITOR (kommt durch das Haustor mit einer Torte --- grüsst die Hausmeisterin) Ich hab hier die Torte für Meyers ---: zur silbernen Hochzeit. 얍 E RSTER ( grinst) Zum Leichenschmaus . K ONDITOR (entrüstet) Wie können Sie so etwas sagen, Sie --H AUSMEISTERIN Frau Meyer ist gestorben / heute Nacht. K ONDITOR Frau Meyer ---? (Stille) K ONDITOR (sieht auf den Ersten --- zur Hausmeisterin) Ja, ich wollte schon fragen ---: der schwarze Wagen --Z WEITER (und) D RITTER (und) B

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Lesetext

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SB Schmiede 1924, Bl. 5

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9 21 21 21–22 33 33 38

alleN ] einerN ] BanderenN ] Bdas gleicheN ] Bgrinst)N ] BLeichenschmausN ] B N] B B

korrigiert aus: Alle korrigiert aus: Einer korrigiert aus: Anderen korrigiert aus: dasgleiche korrigiert aus: grinst( korrigiert aus: Leichenschmauss Absatz getilgt

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SB Schmiede 1924, Bl. 6

Endfassung Niemand

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SB Schmiede 1924, Bl. 7

B N

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Lesetext

V IERTER (kommen nun wieder herab und tragen den Sarg an den Untenstehenden vorbei --- stellen ihn auf den Wagen) H AUSMEISTERIN (zum Konditor) --- Da / der Sarg --- und sie wollten doch morgen silberne Hochzeit --E RSTER (lächelt geheimnisvoll) Wollten --K ONDITOR Was soll ich jetzt nur mit der Torte ---? E RSTER Die einen sterben, ein Wagen fährt vor und dann wird die Wohnung leer / andere heiraten, und wieder fährt ein Wagen vor: sie ziehen ein in dieselbe Wohnung --- manchmal glaube ich schon, es ist auch derselbe Wagen. Das greift ineinander wie Zahnräder: weiter und weiter und immer --- --- Und es würde mich auch gar nicht wundern, wenn es hier noch in dieser Woche eine Hochzeit geben würde, selbst wenn der Bräutigam Lehmann hiesse --- Nur warten! K ONDITOR Warten! Eine Woche hat sieben Tage, aber nach zwei Tagen ist diese Torte bereits Dreck! Wer will sich denn Zähne ausbeissen oder Magen verderben?! --Was soll ich jetzt nur mit der Torte? ---: verlang ich nun vom Meyer Bezahlung, das wäre herzlos --- Sehen Sie: ich muss wieder mal den Schaden tragen. E RSTER Einer muss bezahlen! (er grüsst lautlos und geht --- steigt ein in den grossen schwarzen Wagen, der unhörbar fortfährt) 얍 K ONDITOR (zur Hausmeisterin) Warum soll jetzt eigentlich ausgerechnet ich bezahlen? H AUSMEISTERIN Man muss manchmal herzlos sein --K ONDITOR Ja, man müsste --- aber dann würd er es mir nachtragen und ich verliere einen alten Kunden. H AUSMEISTERIN (geht durch die Hoftüre) Ach so --K ONDITOR Ja, ich bin viel zu gut --- (er wendet sich wieder dem Haustore zu --- erblickt) U RSULA (die sich die ganze Zeit über fast ängstlich an die Wand drückte) K ONDITOR Wissen Sie hier auch nicht jemanden , der etwa eine Torte zufällig --U RSULA Bin hier fremd --- --- Hätte zwar Hunger, aber habe kein Geld. K ONDITOR Ja, es bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Torte selbst zu fressen / und, wenn ich auch platzte. Ja, ich bin viel zu gut! (er verlässt sie durch das Haustor) U RSULA (allein vor Gildas Türe --- scheint unschlüssig zu sein --- läutet jedoch dann, wie unter einem plötzlichem Entschlusse, zweimal kurz an --- wartet) G ILDA (öffnet die Türe --- erblickt sie --- ist überrascht --- unterdrückt) Ursula ---! U RSULA (leise) Ich bins. (Stille) G ILDA (leise) Also ---: Du hast es nicht vergessen: zweimal anläuten. U RSULA Nein. Ich vergesse nicht so bald / und das ist vielleicht eine schwere Sünde. G ILDA „Sünde“ --- dies Wort hatte ich schon vergessen --- --- Also: hast es Dir nun überlegt? 얍 U RSULA Habe nichts zu überlegen: trage Fetzen statt Kleider am Leibe / habe es satt zu Hungern / und heut hab ich meine Hände im Spülwasser verbrüht / und hab B

10

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

N

B

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7 8 25 28 35 43

einenN ] andereN ] B N] BjemandenN ] BUrsulaN ] B N] B B

korrigiert aus: Einen korrigiert aus: Andere Absatz getilgt korrigiert aus: Jemanden korrigiert aus: Ursola

[ich]

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SB Schmiede 1924, Bl. 8

Endfassung Niemand

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N B

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Lesetext

einen Krug zerbrochen / habe nichts zu überlegen ---: hatte nichts mehr, nur das ---: zweimal anläuten bei Fräulein Amour. G ILDA Und das ist nicht das Schlechteste. U RSULA Ja, jetzt nicht. Was später wird --G ILDA Später? An-die-Zukunft-denken ist Luxus / den kann sich nur der leisten, dem das Jetzt keine Gedanken mehr macht: --- Jetzt ---: komm! drinnen ist noch etwas Torte und Tee / und Wäsche auch / zwar keine aus Seide, aber sie sieht so aus und fühlt sich so an --- und das ist der Witz! U RSULA (küsst ihr die Hand) Bist so gut --G ILDA Vielleicht --- Kannst mir ja alles zurückgeben / wird Dir leicht fallen / mit Zinseszinsen / vielleicht schon morgen / wenn man so gut gebaut ist und noch jung --- nur der Rock muss kürzer werden und die Haare musst Du anders kämmen: müssen die Stirne verdecken --- --- bist doch höchstens erst siebzehn. U RSULA Nein. Ich werde schon achtzehn. G ILDA (lächelt) Achtzehn --(Es dämmert) F ÜRCHTEGOTT L EHMANN (auf Krücken --- tritt aus der Türe rechts oben in das Treppenhaus und humpelt oben hin und her) U RSULA (fährt zusammen --- leise) Was geht da oben --- hin und her? 얍 G ILDA (horcht --- leise) Hin und her? ---: das ist Herr Lehmann, Hausherr --- und Pfandleiher / der kann hier nie hinaus, denn er kann nicht die Treppen herunter / so humpelt er oft im Treppenhause: hin und her / seine Wohnung, hörte ich, sei noch enger, wie meine und man braucht doch Bewegung von wegen der Verdauung / er soll noch nie einen Wald gesehen haben --- --- man sollte eigentlich Mitleid haben, aber, wenn einer solch ein gemeiner Wucherer --L EHMANN (oben --- stolpert: fällt fast --- humpelt dann wieder weiter) D IE BEIDEN (unten --- lauschen) (Stille) G ILDA (leise) Da oben in seiner Tändlerei wächst mit jedem Ding, das er kauft oder verkauft, mit allem , was er tut, das Verbrechen --- aber nie erscheint die Polizei, weil es im Gesetzbuche nur zwischen den Zeilen steht --- --- Aber, wenn unsereins nur einmal in einer anderen Strasse auf den Strich geht, wird er eingesteckt! Ja, die Gerechtigkeit scheint wirklich blind zu sein --U RSULA (leise: wie zu sich selbst) Ja, man müsste Mitleid haben --G ILDA Aber vielleicht lebt noch die Rache! W LADIMIR (tritt aus dem Café zum grossen Wirt durch die Schenktüre ein) G ILDA --- da ist Wladimir! W LADIMIR (grüsst kaum --- betrachtet Ursula --- zu Gilda) Was ist das da? G ILDA Das ist Ursula. Ich erzählte Dir doch von ihr / mit der ich neulich in der Bar sprach / draussen auf „für Knaben“ die mir die Nadel gab, als meine Strümpfe B

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

10 17 17 21 27 30 36 38

allesN ] ] BF ÜRCHTEGOTT L EHMANN N ] BhierN ] BBEIDEN N ] BallemN ] BCaféN ] B N] B

B N

korrigiert aus: Alles Einzug getilgt korrigiert aus: F Ü R C H T E G O T T L E H M A N N korrigiert aus: hir korrigiert aus: B EIDEN korrigiert aus: Allem korrigiert aus: Kaffee Absatz getilgt

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SB Schmiede 1924, Bl. 9

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

platzten / Du weisst doch: die hellen Seidenstrümpfe , die Du mir in der 얍 verregneten Nacht mitbrachtest --- (sie macht die Geste des Stehlens) Die Kleine --deren Mutter sitzt, weil sie --- (sie macht wieder die Geste des Stehlens) W LADIMIR Ist das die, die noch nie ---? G ILDA Ja, das ist die! W LADIMIR (fixiert Ursula) Noch nie ---? (er grinst) U RSULA (weicht zurück) G ILDA (hat ihre Türe geöffnet --- lacht heiser meckernd ) W LADIMIR (gröhlt) Noch nie!!! L EHMANN (oben --- bleibt plötzlich stehen und lauscht) G ILDA (starrt Wladimir an) Bist wieder besoffen ---? W LADIMIR (roh) Das geht Dich einen Dreck an! Halt Dein Maul --- sonst ---! (er hebt die Faust) G ILDA (kreischt) Unterstehe Dich!! W LADIMIR Wer will mich hindern?! Wer will meine Faust halten, wenn ich will?! Nicht mal der da oben!! G ILDA Lästere nicht! W LADIMIR Mir wagte sich noch Niemand in den Weg zu stellen!!! Noch nie!! (er grinst) --- noch nie / Gilda ---: Dich auch noch nie ---? G ILDA (grinst) Du Sau! W LADIMIR (stiert sie an --- fasst nach ihr) G ILDA (wehrt sich) Lass mich / Du / lass --- Du / Sau! W LADIMIR (reisst sie an sich --- hebt sie empor --- und trägt sie in ihre Wohnung --schlägt die Türe zu) (Tiefe Stille) U RSULA (stiert auf die Türe --- setzt sich dann auf die Stufen --- nimmt den Hut ab und vergräbt das Gesicht in den Händen: wartet) 얍 L EHMANN (beugt sich über das Treppengeländer und folgt ihr von oben mit seinen Blicken) U RSULA (hebt langsam den Kopf und fängt nun an leise und manchmal falsch eine alte Weise vor sich hinzusummen) L EHMANN (hört ihr zu) (In der Ferne erklingt die Armesünderglocke ) U RSULA (ist still geworden --- lauscht --- sieht empor und erblickt Lehmann --- erschrickt etwas) D IE BEIDEN (sehen sich an) (Stille) L EHMANN (leise) Auf was warten Sie? U RSULA (weicht aus) --- wieviel ist die Uhr? L EHMANN Ich habe nie eine Uhr bei mir. Aber ---: es wird wohl bald Nacht. U RSULA (erhebt sich) Nacht --- --- ich danke, Herr Lehmann. L EHMANN Woher wissen Sie, wer ich bin? U RSULA (zögert) Von --- die hier im Hause wohnen. B

5

Lesetext

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SB Schmiede 1924, Bl. 10

B N

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1 1 6 8 33 36

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SeidenstrümpfeN ] ] B N] BmeckerndN ] BArmesünderglockeN ] BBEIDEN N ] B

B N

korrigiert aus: Seidenstrümpfte gestrichen: G ILDA Absatz getilgt korrigiert aus: mekkernd korrigiert aus: arme Sünderglocke korrigiert aus: B EIDEN

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SB Schmiede 1924, Bl. 11

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

L EHMANN Die hier im Hause wohnen? --- dann wissen Sie ja ganz genau, wer ich bin ---: ein schmutziger Schuft. Oder ---: hörten Sie anderes ? U RSULA (nickt: ja) Ich hörte auch, dass man eigentlich Mitleid haben sollte --L EHMANN Hörten Sie? --- und: warum? U RSULA (zögert wieder) Weil --L EHMANN Sagen Sie es nur: weil ich ein Krüppel bin! (er grinst) Mitleid? Wie schön das klingt / aber es klingt nur so --- denn was ist Mitleid? ---: zum Schwachsein stempeln! Ich danke!! Lasse mich nicht niederzwingen!! --- --Wohl blieben meine Beine, wie sie mit acht Jahren waren und bin kaum grösser als ein 얍 Kind --- aber alle Beine in diesem Hause zwang ich in meine Schuld und dadurch wuchs ich zum Riesen! Alle Beine wurden mein! und die Wohnungen, die Wäsche, die Torten und der Tee --- alles !! Pfeife auf Mitleid! Bin stark!! U RSULA Ich glaube nicht, dass Sie so schlecht sind --- denn trotz allem tun Sie mir leid. L EHMANN Trotz allem ---? U RSULA (nickt: ja) Vielleicht ---: weil Sie noch nie einen Wald sahen --L EHMANN (sehr leise) Nie einen Wald --- --- (er schrumpft zusammen: wird fast noch kleiner --- fängt an wieder hin und her zu humpeln --- bleibt stehen --- leise: wie zu sich selbst) Wissen Sie, was wohl das Furchtbarste ist? ---: nie von hier hinauskönnen --- nie! U RSULA Vielleicht --L EHMANN Es ist nicht nur: vielleicht. Doch freilich: das können Sie nicht beurteilen, weil Sie nie so „hierherinnensein“ können, wie ich / denn solch Kinderbeine sind ungehorsame Untergebene: beachten weder Bitte noch Befehl. Aber Sie können immer hinaus --- Sie müssen nur wollen. U RSULA Nur wollen? (Stille) L EHMANN (dumpf) Nein. Wollen kann ja jeder / auch ich / aber können kann keiner --nur, wenn er darf. Aber ich darf nie können! Bin Ausnahme! Abnormität! Wäre mein Vater nicht auch schon Pfandleiher gewesen, würden sie mich vielleicht in Jahrmarktsbuden begaffen / unter abgerichteten Affen / um drei Kreuzer! Hereinspaziert, meine Damen und Herren! Sehen Sie ---: Alles sehnt sich / ich auch. Alles darf hoffen --- ich nicht!! Wird man nicht schwer 얍 bestraft, wenn man ein hilfloses Kind mitten im Urwald aussetzt, in dem es verderben muss? Ist es nicht grausam einen so wie mich auf diese Erde zu schleudern? ohne das, was man zum Leben braucht? ---: ohne Hoffnung . Unheilbar --- --- Manchmal glaube ich, hier wäre die Hölle. U RSULA Hier ist die Hölle. B

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Lesetext

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anderesN ] ] B N] BallesN ] BallemN ] BallemN ] Bdenn solchN ] BDamenN ] B N] BHoffnungN ] B

B N

N

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SB Schmiede 1924, Bl. 12

N

korrigiert aus: Anderes Absatz getilgt gestrichen: L EHMANN korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Allem korrigiert aus: Allem korrigiert aus: denn.solch

Damen[,

]

gestrichen: L EHMANN korrigiert aus: Hofnnung

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SB Schmiede 1924, Bl. 13

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

(Stille) U RSULA (will gehen) L EHMANN Warum wollen Sie nicht mehr warten? U RSULA Kann nicht mehr. Muss fort. L EHMANN Muss ---? U RSULA --- Wissen Sie, Herr Lehmann, was wohl das Furchtbarste ist? L EHMANN Ohne Hoffnung sein. U RSULA Hoffnung?! --- Ich habe Hunger, Herr Lehmann. D IE BEIDEN (sehen sich wieder an) (Stille) L EHMANN (langsam, leise) Mein Leben ist Nehmen: Mitleid oder Wucherzins --- erlauben Sie, dass ich mal geben darf ---: Sie können auch bei mir essen --U RSULA (starrt ihn an --- langsam, leise) ---: was wollen Sie dafür ---? L EHMANN (leise) Nichts --- --- nichts --U RSULA (steigt langsam die Stufen empor) L EHMANN (verbeugt sich tief)

5

B

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N

B N

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Ende des ersten Bildes. 20



Zweites Bild.

Mittag.

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SB Schmiede 1924, Bl. 14

Draussen auf der Strasse gehen ab und zu Menschen vorbei. M ALERMEISTER (unten --- streicht den Hausgang grün an) G LASERMEISTER (oben --- steigt die Stufen herab --- trägt einige Winterfenster unter dem Arm) Hast noch lange zu tun, Malermeister? M ALER Ja, noch sehr lange. G LASER (ist nun unten angekommen) Ich habe Schluss gemacht. (er lehnt die Winterfenster an die Wand) Heut hab ich die Winterfenster herausgenommen / überall / wieder mal Frühling. M ALER Ja, wieder mal Frühling --- aber ich werde wohl bald überhaupt Schluss machen müssen --G LASER Ich warte. Wir haben ja denselben Weg. M ALER Fast denselben Weg --- --- sag: wieviel ist die Uhr? Glaser Das weiss ich nicht, weil meine Uhr ins Leihhaus lief / in Lehmanns Leihhaus / und betrogen hat er mich auch noch obendrein, der Schuft! Aber ---: es wird wohl bald Mittag. B N

B

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9 13 32 33

BBEIDEN N

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] B N] BhabN ] B N

lief /N ]

]

N

korrigiert aus: B EIDEN Absatz getilgt Absatz getilgt korrigiert aus: hab’ Apostrophe werden in TS1 stillschweigend getilgt; vgl. Chronologisches Verzeichnis. korrigiert aus: lief

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Endfassung Niemand

5

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

M ALER Wieder Mittag. Manchmal meine ich schon dies Treppenhaus ist wie das liebe Märchenvieh, dessen Köpfe, wenn man sie abschlug, immer wieder nachwuchsen / ohne End ---: immer wieder eine Türe, ein Geländer, eine Wand --S CHREINERMEISTER (tritt durch das Haustor ein mit einem leeren Steinkruge in der Hand --- grüsst den Malermeister und geht an die Schenke rechts im Vordergrunde --- stellt den Krug auf das Pult, klopft an die Glasscheibe --- wartet) G LASER (zum Maler) Wer ist das? M ALER (immer die Wand anstreichend) Von nebenan der Schreinermeister / der der Frau Meyer den Sarg und jetzt dem Lehmann das zweite Bett zimmerte. 얍 G LASER (erstaunt) Das zweite Bett ---? M ALER Weisst es denn noch nicht? ---: dass der Krüppel heiratet. G LASER Heiratet ---? M ALER (nickt: ja) Deshalb steh ich ja auch nur hier und streiche dies Treppenhaus an / er hat es noch nie anstreichen lassen / aber jetzt will er auf einmal alles neu herrichten ---: das ist die Liebe --- (er lächelt) S CHREINER (grinst) Ja, die Liebe --(Stille) G LASER Unwahrscheinlich! M ALER Was ist „wahrscheinlich“? ---: Alles / auch das Unwahrscheinliche. G LASER Mit Dir kann man nicht reden --- bist ein Philosoph, Malermeister. M ALER Vielleicht! --- wenn mein Vater nicht Glasermeister gewesen wäre. S CHREINER (grinst wieder) G LASER Wie meinst Du das?! M ALER (immer die Wand anstreichend) --- und da mein Vater nur ein Glasermeister war, so sagte er immer nur: das ist wahrscheinlich und das ist unwahrscheinlich --so wurde ich ein Malermeister / und ich wollte doch einst ein Baumeister werden / trug stolze Träume voll Kathedralen , Palästen und Pyramiden --- aber Träume sind ja immer „unwahrscheinlich“ / und nun kann ich nichts anderes , als nur all das anstreichen, das ich einst bauen wollte --- grün / grün / grün --- (er streicht die Wand an) S CHREINER (klopft wieder an die Glasscheibe der Schenke: diesmal fest --- murmelt) Herrgott! --- wie lange soll ich denn noch warten ---: um ein Krug Bier?! 얍 (er geht ungeduldig in einem kleinen Kreis) G LASER (sieht dem Malermeister zu) Grün ist die Hoffnung. M ALER (lächelt leise) Ja, grün ist die Hoffnung --G LASER (grinst) M ALER (hört auf zu malen --- sieht ihn an) G LASER (sieht um sich --- grinst) Grün / grün / grün --M ALER (legt die Hand auf seine Schulter) Höre: meine Uhr lief schon lange ins Leihhaus / in Lehmanns Leihhaus / wie die Deine --- aber ich habe sieben Kinder und Du hast noch keins und doch hast Du schon keine Uhr mehr --- --- soll man alles schwarz bemalen ---? G LASER (starrt ihn an --- ist sehr ernst geworden) B

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allesN ] KathedralenN ] BanderesN ] B N] BallesN ] B B

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korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Kathedrahen korrigiert aus: Anderes Absatz getilgt korrigiert aus: Alles

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

S CHREINER (bleibt plötzlich stehen --- zum Malermeister) Höre: jetzt muss ich hier wohl warten bis meine kurze freie Zeit vorbei --- und dann erhalt ich mein Krug Bier! M ALER (zum Schreinermeister) Hast viel Arbeit? S CHREINER Hätt ich nur keine! M ALER (streicht wieder die Wand an) Erinnerst Du Dich noch? ---: als wir draussen auf den Strassen herumlungerten und auf Bauplätzen nächtigten / damals sagten wir mindestens hundertmal am Tage: „hätt ich nur Arbeit!“ --- Wie sich die Zeiten verändern! S CHREINER (scheint nachzudenken) Aber eigentlich nur die Zeiten. M ALER (lächelt leise) Ja, wir bleiben ewig jung --S CHREINER Nein! --- aber schau: damals hätt ich ewig hier warten können, aber kein Teufel hätte mir auch nur einen Tropfen Bier gegeben, weil man bekanntlich nichts umsonst bekommt. Heute bin ich grau und ich könnte mir ganze Fässer Bier kaufen, jedoch / Du siehst ---: bis ich nur einen Krug voll erhalte, habe ich schon fast keine Zeit mehr auch nur einen Tropfen zu trinken! 얍 M ALER Nie würd ich meine ganze freie Zeit in einem Treppenhause --S CHREINER Ohne Bier pfeif ich auf meine ganze freie Zeit! M ALER Dann musst Du eben warten, bis --W LADIMIR (kommt aus dem Café zum grossen Wirt --- reisst die Schenktüre auf und wirft dadurch des Schreinermeisters Krug zu Boden, der zerbricht) S CHREINER Sakrament!! Mein Krug!! Sie --W LADIMIR Seien Sie nur ganz stille! S CHREINER Bin nicht stille!! W LADIMIR Dann schreien Sie nur! aber nicht mit mir!! Ich wollt ihn ja nicht zerbrechen! S CHREINER Aber Sie haben ihn zerbrochen!! W LADIMIR Nein!! --- Und übrigens: Scherben bringen Glück. S CHREINER Verzichte auf die Hoffnung! Verzichtete auch auf das Bier --- hätt ich nur meinen Krug wieder! W LADIMIR Grosse Sache: ein Krug! S CHREINER (betrachtet die Scherben) Vierzig Jahre hab ich aus diesem Krug getrunken --- Jetzt werd ich bald siebzig und nun soll ich aus einem anderen trinken / ich glaube fast es wird mir nicht mehr so schmecken / das Bier --W LADIMIR (grinst) Bier ist Bier! K ELLNERIN (öffnet die Glasscheibe der Schenke) Wer will hier Bier? S CHREINER Bier?! (er lacht kurz hellauf --- verstummt --- starrt auf die Scherben --leise: wie zu sich selbst) Ich wollte / und endlich könnte ich / da zerbricht der Krug. Und die ganze freie Zeit vertrödelt mit dem ewigen Warten --K ELLNERIN (tritt in das Treppenhaus --- erblickt die Scherben --- sieht Wladimir an: vorwurfsvoll) Ich konnte nicht kommen. 얍 G ILDA (tritt aus ihrer Tür) S CHREINER Ihr Weiber müsst auch immer --K ELLNERIN Nein, nicht ich! der Wladimir --- (sie erblickt Gilda --- stockt) G ILDA (fixiert Wladimir) B

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korrigiert aus: Arbeit!’ korrigiert aus: pfeiff korrigiert aus: Kaffee

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SB Schmiede 1924, Bl. 18

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

W LADIMIR (zu den beiden ) Rutscht mir am Buckel herunter!! Ihr Weiber ---!! G ILDA Das --- mir ---? K ELLNERIN Mir ---? die ich den grossen Wirt betrüge, damit nur Du Bier umsonst --G ROSSER W IRT (erscheint in der Schenktüre) G ILDA Die ich Dir alles umsonst --W LADIMIR Umsonst?! --- Das glaubt Ihr wohl selber nicht, Ihr Weiber!! (er grinst) G ILDA (erblickt den grossen Wirt) K ELLNERIN (starrt Wladimir an --- dumpf) Nein, jetzt glaub ich nicht mehr. Jetzt erwart ich die Rechnung --- (sie senkt das Haupt) G ILDA (zur Kellnerin) Dann bezahlen Sie! (sie deutet nach dem grossen Wirt) K ELLNERIN (fährt zusammen --- dreht sich ruckartig um --- erblickt den grossen Wirt --- prallt zurück) G ROSSER W IRT (grinst) G ILDA (lacht höhnisch meckernd ) K ELLNERIN (zu Wladimir --- tonlos) Dein Bier --G ILDA (verstummt plötzlich) G ROSSER W IRT (fixiert Wladimir) H AUSMEISTERIN (stürzt atemlos durch das Haustor herein --- zu Wladimir) Sie kommen, Herr! 얍 W LADIMIR (zum grossen Wirt) Was kann ich dafür, dass sie betrog?! Hätte die heiligsten Eide geschworen, dass sie Ihnen mein Bier bezahlte!! K LEIN (steigt aus seiner Dachstube herab --- mit der Geige unter dem Arme und einem Bündel in der Hand) H AUSMEISTERIN Sie kommen schon ---!! K ELLNERIN (starrt die Scherben am Boden an --- tonlos) Was werd ich noch alles bezahlen müssen --H AUSMEISTERIN (zu Wladimir) Kommen Sie doch!! K LEIN (ist unten angekommen --- zur Hausmeisterin) Wer kommt? H AUSMEISTERIN (gibt ihm keine Antwort --- zerrt Wladimir an das Haustor) K LEIN (zur Kellnerin) Wer kommt, bitte ---? K ELLNERIN (hört ihn nicht --- starrt immer noch auf die Scherben am Boden) S CHREINER (zu Klein) Mein Krug --(Draussen auf der Strasse fährt lautlos ein grosser schwarzer Wagen vor) K LEIN (zu allen ) Bitte --- wer kommt, bitte ---? L EHMANN (auf seinen Krücken --- in Schwarz mit Zylinderhut --- und) U RSULA (als Braut --- treten durch das Haustor ein) (Draussen fährt der grosse schwarze Wagen wieder lautlos fort) L EHMANN (betrachtet Wladimir) H AUSMEISTERIN Er sagt, er sei Ringkämpfer, Herr Lehmann. L EHMANN (zu Wladimir) Sie werden wahrscheinlich schon wissen: kann über keine Stufen --- Ich sehe: Sie sind stärker als jener, der mich heut früh heruntertrug / der liess mich fast fallen und ich wollte doch auf das Standesamt --- und den Kragen brechen? ---: heute ---? (er wendet sich Ursula zu und lächelt) 얍 W LADIMIR Fühlen Sie mal --- (er hält seinen Arm vor Ursulas Nase) B

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korrigiert aus: Beiden Absatz getilgt korrigiert aus: mekkernd korrigiert aus: Allen

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SB Schmiede 1924, Bl. 20

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

U RSULA (weicht zurück) W LADIMIR (grinst --- sieht nach Gilda) G ILDA (lächelt „lieblich“ und legt ihre Hand auf Wladimirs Schulter --- sieht „triumphierend“ auf die Kellnerin) H AUSMEISTERIN Niemand ist stärker! K ELLNERIN (erblickt Gildas Hand auf Wladimirs Schulter --- lächelt leise) Niemand --W LADIMIR (hört plötzlich auf zu grinsen --- nimmt Gildas Hand von seiner Schulter) K ELLNERIN (bemerkt es kaum --- lächelt wehmütig) G ILDA (wütend --- zum grossen Wirt) Rufen Sie doch die Polizei! W LADIMIR (versetzt ihr einen Rippenstoss) G ILDA (taumelt an die Wand) Willst dies Weibsbild gar beschützen?! Schutzengel Du!! W LADIMIR (unterdrückt) Dies Weib ---? Du dummes Luder ---: mich! L EHMANN --- Was geht hier vor? S CHREINER (sieht auf die Uhr --- mürrisch) Vorbei! ---: mein Krug wurde zerbrochen --- (Er geht durch das Haustor hinaus) K ELLNERIN (tonlos) Ja, ein Krug --- sonst nichts. G ILDA (kreischt) Wie sie lügt!! W LADIMIR (versetzt Gilda wieder einen Rippenstoss) G ILDA (taumelt an die Wand und wimmert) L EHMANN Was geht hier vor?! (Stille) M ALER Ja, eigentlich wurde nur ein Krug zerbrochen --- der Schreiner stellte ihn auf jenes Pult und dieser Herr hier riss die Schenktüre auf und dadurch kam der Schreiner um sein Bier / er hätte den Krug in der Hand behalten sollen, 얍 aber, wenn einer so lange warten muss --- denn die Kellnerin hat mit diesem Herrn --W LADIMIR Quatsch! G ILDA Zur Sache! M ALER Das ist eben die Sache! ---: denn sonst wäre die Kellnerin gleich gekommen und der Krug wäre nicht zerbrochen worden und der Schreiner hätte auch sein Bier. W LADIMIR Dass er es nicht hat dafür kann ich nichts! Nicht ich habe den Krug zerbrochen. M ALER Wer denn ---? W LADIMIR Niemand!! M ALER --- also sagen wir: Niemand. So was lässt sich ja auch nicht genau feststellen. Ich hörte nur dann das Geschrei als die Kellnerin kam --G ILDA --- auf das Geschrei hin sah ich hier nach. M ALER Und dann gab es erst ein Geschrei! Kreuz und quer! Einer wollte des anderen Verbrechen hinausbrüllen und derweilen traten eigentlich ihre eigenen ans Licht. Und auf den Lärm hin erschien der grosse Wirt / gerade als seine Kellnerin selbst sagte, dass sie ihn betrog. Jetzt will er sie einsperren lassen / aber ich B N

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Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt gestrichen: M ALER eingefügt korrigiert aus: Anderen

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SB Schmiede 1924, Bl. 21

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

glaube, dass nicht nur die Kellnerin, sondern auch die anderen zwei, falls sie einen grossen Wirt hätten --W LADIMIR Herr!! Malen Sie lieber weiter!! (er macht Miene ihn anzugreifen) M ALER Sonst schlagen Sie mich nieder --- doch ich male trotzdem nicht weiter / ich gehe --- da Sie Ringkämpfer sind. K ELLNERIN Es gibt keine Gerechtigkeit!! M ALER (tonlos) Nein, jetzt mal ich nicht mehr --G ILDA Quatschkopf! 얍 M ALER (zum Glaser) Komm! D IE BEIDEN (verlassen das Treppenhaus durch das Haustor) (Stille) L EHMANN (leise: wie zu sich selbst) Keine Gerechtigkeit --H AUSMEISTERIN (zu Lehmann) Soll er Sie nun empor ---? L EHMANN (winkt: warten --- wendet sich der Kellnerin zu) Aber --- Wieviel haben Sie getrunken und nicht bezahlt? K ELLNERIN Ich habe nichts getrunken. W LADIMIR Sieben Liter: gestern fünf, heute zwei. L EHMANN Sie ---? G ILDA (grinst) Er war ihr Gast / sein Brustkorb hat ihr imponiert. K ELLNERIN (senkt das Haupt) W LADIMIR (zu Gilda) Kusch!! L EHMANN (zum grossen Wirt) Ich werde bezahlen. A LLE (starren ihn an) (Stille) L EHMANN (zum grossen Wirt) Da es keine Rolle spielt, wer trinkt, so dürfte es also auch keine Rolle spielen, wer die Rechnung bezahlt. Und Ihnen kann doch das auch gleichgültig sein. Streichen Sie, bitte, die sieben Liter --- jedoch nur: wenn Sie die Polizei nicht rufen. G ROSSER W IRT (zuckt die Achsel und nickt: ja --- geht und schliesst die Schenktüre) K ELLNERIN (wendet sich Lehmann zu --- will danken) Ich --L EHMANN (unterbricht sie) Nicht danken! Ich habe nicht gezahlt, um zu erhalten --(zu Wladimir) Bitte nun --- nur bis in den ersten Stock. W LADIMIR (will ihn emporheben --- dadurch lässt aber) L EHMANN (seine Krücken fallen) K LEIN (hebt sie auf) 얍 L EHMANN Ich danke schön, Herr Klein --K LEIN Ich werde sie Ihnen nachtragen. L EHMANN (bemerkt das Bündel in Kleins Hand) Was haben Sie in dem Bündel? K LEIN (lächelt) Mein „Alles“ ---: da ich doch heute ausziehen muss / die Woche ist ja heute vorbei --(Stille) L EHMANN Und Sie tragen mir dennoch die Krücken nach? K LEIN Die paar Stufen schaden mir ja nichts. L EHMANN (lächelt) Ich vergass: Sie können ja gehen --B N

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

K LEIN Aber vergessen Sie nicht: ich muss nicht --- --- Doch: ich gratuliere, Herr Lehmann. (er verbeugt sich leicht) L EHMANN Danke. Sie sind der einzige Mensch hier --- --- Herr Klein, Sie können noch eine Woche wohnen --K LEIN (will ihm die Krücken zurückreichen) „Ich habe nicht gezahlt, um zu erhalten“ --L EHMANN (nimmt die Krücken nicht an) Verzeihen Sie / erlauben Sie --- verzeihen Sie, bitte / wollte Sie nicht beleidigen / wollte doch nur Gutes tun --- Verstehen Sie denn das nicht?! K LEIN Ich kann nur bleiben, wenn ich bezahlen darf. L EHMANN „Kann“ ---: wollen Sie wohl sagen. --- Für Ihr „Alles“, samt der Geige, können Sie drei Tage hier wohnen / nur drei Tage --K LEIN Das weiss ich --- doch ich kann auf meiner Geige spielen. L EHMANN Und ---: wer hört zu? K LEIN (dumpf) Ja, ich vergass ---: Niemand. L EHMANN (lächelt leise) Nur „Niemand“ ---? K LEIN (will gehen) L EHMANN (leise) Bleiben Sie! Bitte, bleiben Sie --- ich will Ihnen zuhören . 얍 K LEIN (bleibt stehen und starrt ihn erstaunt an) G ILDA (grinst nun) U RSULA (an --- die unruhig wird) W LADIMIR (stützt mit der einen Hand Lehmann und räumt mit der anderen Speisereste aus einem hohlen Zahn) H AUSMEISTERIN (geht durch die Hoftüre hinaus) K ELLNERIN (sah immer nur Lehmann an --- kehrt nun mit den Füssen die Scherben am Boden in eine Ecke) L EHMANN (zu Klein --- leise) Sie staunen? Ja, Fürchtegott Lehmann will ein anderer werden: Jetzt will er Ihnen zuhören --- (er winkt ihn ganz in seine Nähe --- sehr leise) Bitte, treten Sie näher, Herr Klein / denn sie soll es noch nicht erfahren / soll überrascht werden --- Hören Sie: mein Plan: gestern bot mir der Herr Meyer aus dem zweiten Stock, dessen Frau vor einer Woche am Tage vor ihrer silbernen Hochzeit starb, ein Bild an und ich kaufte es für unser Schlafzimmer: ein Geiger bringt einem Brautpaar ein Ständchen / der Mond scheint in einer kleinen Stadt / es ist vielleicht kein Kunstwerk, aber mir gefällt es --- und, wollen Sie heut Abend vor unserer Tür spielen? --- doch es soll eine Melodie sein, die man nie mehr vergisst. Und, damit bezahlen Sie ja auch gleich die Miete für drei Tage --Sagen Sie: wollen Sie spielen, Herr Klein? K LEIN (verbeugt sich) L EHMANN (zu Wladimir) Dann ---: los! W LADIMIR (trägt ihn empor in den ersten Stock) U RSULA (geht hinterher) K LEIN (trägt die Krücken nach --- Oben angelangt überreicht er sie) L EHMANN (der) 얍 W LADIMIR (entlohnt und mit) B N

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

U RSULA (durch die Tür rechts in seine Wohnung tritt) G ILDA (sah von unten aus zu --- grinst) K LEIN (steigt nun wieder empor in seine Dachstube) W LADIMIR (steigt wieder herab) K ELLNERIN (trat an die Schenke --- will hinein in das Café zum grossen Wirt, jedoch die Türe ist von innen verriegelt --- sie klopft an die Glasscheibe --- wartet) G ILDA (sieht ihr zu --- lacht höhnisch) W LADIMIR (ist nun unten angekommen) G ILDA (zu Wladimir) Die glaubt scheints wahrhaftig, dass sie noch Kellnerin ist beim grossen Wirt! K ELLNERIN Der Lehmann hat doch bezahlt --G ILDA Und es kommt auch keine Polizei! Aber Sie sind entlassen! W LADIMIR Das versteht sich doch von selbst. (zu Gilda) Jetzt bekam ich aber allerhand Durst! Der Kerl ist schwerer, als wie er aussieht! Doch dafür gab er mir auch Geld, dass ich mir nun leicht gleich sieben Liter Bier / bei Gott, der Wucherer hat sich verändert! G ILDA Es sieht wenigstens so aus. K ELLNERIN (trommelt an die Glasscheibe) Nein!! Es ist doch alles bezahlt! G ILDA (zur Kellnerin) Wetten, dass Sie schon eine Nachfolgerin haben? W LADIMIR (tritt an die Schenke und pocht an die Scheibe) Bier!! N ACHFOLGERIN (öffnet die Glasscheibe --- sie ist der Kellnerin sehr ähnlich) Wer will hier Bier? W LADIMIR Ich / habe aber keinen Krug. N ACHFOLGERIN Wenn Sie den Einsatz bezahlen --W LADIMIR Ich trinke gleich hier. 얍 N ACHFOLGERIN (reicht ihm ein Krug Bier) G ILDA (zur Kellnerin) Sehen Sie --- (sie grinst) K ELLNERIN (starrt die Nachfolgerin an) W LADIMIR (sauft das Ganze auf einen Zug aus --- bezahlt dann und überreicht ihr den Krug und erfasst dabei wie zufällig ihre Hand --- lächelt sie „lieblich“ an) G ILDA (schöpft Verdacht --- grinst nun nicht mehr) Gebt nur Acht, dass der Krug nicht zerbricht --N ACHFOLGERIN (schliesst rasch die Glasscheibe) W LADIMIR (wendet sich langsam Gilda zu und grinst) Lass ihn nur immer ruhig zerbrechen --- ich hab ja schon getrunken. Und Einsatz geb ich nie! das weisst Du! --Aber / jetzt hab ich Hunger. G ILDA Ich hab zwar noch etwas --W LADIMIR Torte und Tee? Danke! G ILDA Nein! Schweinefleisch --W LADIMIR Ah! (er geht schnurstracks auf) G ILDA (zu und hängt sich bei ihr ein und verschwindet mit ihr in ihrer Wohnung) (Stille) K ELLNERIN (allein --- dumpf --- tonlos) Ich habe keine Torte, keinen Tee, kein Schweinefleisch, kein Bier / und bin auch keine Kellnerin mehr --- nichts mehr --hab nichts mehr zu überlegen --- --- Zwei Häuser weit / Parterre / Tür links --- und B

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Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

zweimal anläuten / zweimal --- --(sie pocht plötzlich stark an die Glasscheibe --- schreit) Nein!! Lasst mich hinein!! Ich will auch nie mehr betrügen. Hört Ihr mich denn nicht?! ---: nie mehr!! Lasst mich nur wieder Kellnerin sein --es ist doch alles bezahlt --- --B

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Ende des zweiten Bildes. 얍

Drittes Bild.

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Nacht. Draussen liegt die Strasse still und leer. Drinnen leuchtet ein trübes Licht. 15

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F REMDER (tritt langsam durch das offene Haustor ein --- sieht um sich --- will die Stufen emporsteigen) (Von Obenher ertönt das Stimmen einer Geige) F REMDER (bleibt stehen und lauscht) K LEIN (steigt aus seiner Dachstube herab ---: immer seine Geige stimmend --- und hält im ersten Stock vor Lehmanns Tür: immer seine Geige stimmend) G ILDA (kommt vom Strich --- mit einem) U RALTEN S TUTZER F REMDER (zieht sich zurück in eine dunkle Ecke) D IE Z WEI (erblicken ihn nicht --- halten vor Gildas Tür) S TUTZER (sieht sich um --- leise: etwas stotternd) Also: hier --- Dies Treppenhaus ist mir nicht unbekannt. G ILDA Warst aber noch nie bei mir. S TUTZER Möglich. Aber hier war ich schon oft / droben im dritten Stock --- dort wohnte einst meine Braut: Fräulein Teresia Müller. (er grinst) G ILDA Das Deine Braut ---? S TUTZER --- Kennst Du sie denn? G ILDA Nur vom Sehen aus: Ich rieche nicht gerne „Jungfrau“ --- (sie grinst) S TUTZER (grinst) Jungfrau! G ILDA Bis der Wagen vorfährt! S TUTZER Doch nicht der Hochzeitswagen! 얍 G ILDA Wenn man mal so uralt ist --S TUTZER Ja, es ist schon etliche Jährchen her --- jedoch: ich hab mich konserviert! G ILDA (lächelt) Wollen es hoffen! S TUTZER (horcht) --- Musik? Sogar Musik? G ILDA Ja, Du --- heut haben wir sogar Musik. S TUTZER Phänomenal! Aber aufrichtig ---: ich verstehe den Zusammenhang nicht. G ILDA Wer versteht denn den Zusammenhang? S TUTZER Ja, wer? Niemand --- nur der liebe Gott. G ILDA Der wird sich hüten ihn uns mitzuteilen --- Man hängt eben zusammen --(sie lächelt und steckt den Schlüssel in das Schlüsselloch) B

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

S TUTZER Ach, Du --- mit Dir möchte ich immer zusammenhängen! G ILDA Immer? S TUTZER Nur eine Nacht --G ILDA Jede Nacht, wenn --S TUTZER (hebt die Hand) Halt! Um Irrtümer zu vermeiden: ich trage zwar bei jedem Wetter Lackhalbschuhe und reinseidene Socken / bei Sonne, Sturm und Schnee / und da hat man nie Geld / bei Sonne, Sturm und Schnee, Halt! ---: sieh diesen Ring / aus purem Golde / er sei Dein: um eine Nacht --- aus purem Golde --- den gab mir einst meine Braut / Fräulein Teresia Müller / mit der Inschrift: und die Liebe höret nimmer auf --- Halt! Um Irrtümer zu vermeiden: diese Inschrift trug nur der Ring, nicht die Braut! --- und das war äusserst peinlich! (er grinst) G ILDA (grinst) Die Jungfrau --S TUTZER Damals heulte ich --- aber man stumpft ab! Heute bind ich mich nur mehr „auf eine Nacht“. 얍 K LEIN (versucht auf seiner Geige leise einige Walzertakte zu spielen) S TUTZER (horcht) --- Mein Verlobungswalzer! Und der Zeit zum Trotz: ich kann noch tanzen! (er versucht einige Walzerschritte) Bin noch jung --- Walzer ---! G ILDA Hach nein! Du Mumie! S TUTZER Mumie!! (er knickt fast ganz zusammen --- betastet sein Kreuz) Wäre sicherlich ein begabterer Bräutigam, wie so mancher andere . G ILDA Auf alle Fälle begabter, wie Lehmann --- Komm! (sie öffnet die Türe) S TUTZER (wird plötzlich sehr ernst --- fixiert sie) Lehmann? wie meinst Du das? willst mich verlachen? G ILDA Wieso? S TUTZER Ich heisse Lehmann, Max Maria Lehmann. G ILDA (lacht) Nein, der Zusammenhang! Sei nicht böse: wusste, beim heiligen Antonius nicht, wie Du heisst! S TUTZER Aber Du konntest es doch wissen --- zufällig. G ILDA Aber ich wusste es nicht! --- „zufällig“: wenn es Dir so gefällt. Tue ja alles was Dir gefällt. S TUTZER Um einen Ring --G ILDA --- mit der Inschrift: und die Liebe höret nimmer auf. (sie lacht) S TUTZER Lach nicht! G ILDA (verbeisst das Lachen) Sei mir nicht böse ---: woher sollte ich denn Deinen Namen kennen / sehe Dich doch zum ersten Male. S TUTZER Das kann man nie wissen. G ILDA Aber ich weiss: sprach nur von dem Pfandleiher 얍 Lehmann, dessen Brautnacht eben vom Stapel läuft / dort oben / hinter jener Türe, vor welcher der Kerl seine Geige stimmt: soll ihm ein Ständchen bringen / ein Ständchen / und das hat er auch sehr nötig. S TUTZER Wieso? G ILDA Er ist zwar erst in den Dreissigern, aber ist ein Krüppel auf Krücken: nicht mal die Treppen kann er herunter / zur Trauung wurd er getragen. B

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Sonne\, Sturm/

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korrigiert aus: jung -,korrigiert aus: Andere korrigiert aus: Alles gestrichen: G ILDA

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Endfassung Niemand

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S TUTZER Wie überaus peinlich! G ILDA Niemand hat Mitleid mit ihm! Alles wünscht ihm nur das Böse, weil er ein Betrüger ist! S TUTZER Etwas muss er doch sein. K LEIN (versucht auf seiner Geige wieder leise zu spielen: diesmal einige Takte des Hochzeitsmarsches) G ILDA Und der Hochzeitsmarsch! Der Bräutigam! den möcht ich sehen, wenn er --marschiert! (sie grinst) S TUTZER Und die Braut? G ILDA Ein junges Ding --- kaum achtzehn / halb verhungert / ich kenne sie / gut / sogar sehr gut --- Aber was nachher wird! wenn sie satt sein wird ---! (sie grinst wieder) --- komm! gib mir jetzt den Ring! S TUTZER (nickt: nein) Nachher. G ILDA Nachher? Glaubst Du, ich lasse mich betrügen?! S TUTZER (will gehen) Gute Nacht! G ILDA (reisst ihn zurück) Nein! Komm --S TUTZER (grinst --- kämpft dann mit einem Hustenanfall) G ILDA (klopft ihm auf den Rücken) DIE BEIDEN (verschwinden in Gildas Türe) (Stille) 얍 F REMDER (fährt sich mit der Hand über die Augen --- steigt dann langsam halb empor in den ersten Stock --- grüsst lautlos den Herrn Klein) Sagen Sie --- ist es wahr, dass Herr Lehmann heiratet / heute / Herr Fürchtegott Lehmann ---? K LEIN Ja, das ist wahr. F REMDER Wollte ihn nur sehen / war lange fort / und --- eigentlich hat sich nichts verändert --- Werde wieder gehen / und wieder kommen / vielleicht schon morgen / doch nein! ---: nicht stören will ich die Flitterwochen --- --- Vielleicht übermorgen --- Aber: sagen Sie --- (er will ihn fragen --- überlegt es sich aber wieder im letzten Augenblicke und schweigt --- grüsst stumm und geht: fast etwas verstört) K LEIN ( grüsst auch lautlos und fängt dann an den Hochzeitsmarsch zu spielen) F REMDER (bleibt stehen und lauscht --- lächelt --- geht dann durch das Haustor hinaus auf die Strasse --- verschwindet in der Nacht) K LEIN (allein im Treppenhaus --- spielt) L EHMANN (auf seinen Krücken --- tritt langsam, leise aus seiner Türe --- lauscht dem Spiele Kleins, der ihm den Rücken zuwendet --- klopft dann mit der Krücke auf den Boden --- tonlos) Herr Klein --K LEIN (bricht erschreckt das Spiel ab und dreht sich ruckartig um --- erblickt Lehmann) L EHMANN Bitte, brechen Sie das Spiel ab, Herr Klein --- warum starren Sie mich so an? K LEIN Ich dachte Sie wären ein Gespenst. 얍 L EHMANN Wär ich nur ein Gespenst! --- es ist zu entsetzlich: wenn man leben muss und nicht mehr träumen kann. K LEIN Das wäre mein Tod. L EHMANN Das ist mein Leben! --- Bitte, brechen Sie das Spiel ab, Herr Klein. B

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korrigiert aus: B EIDEN korrigiert aus: grü st

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SB Schmiede 1924, Bl. 32

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

K LEIN (fast verstört --- verbeugt sich und steigt langsam wieder empor in seine Dachstube) L EHMANN (allein --- hat das Haupt gesenkt --- und fängt an hin und her zu humpeln) (Stille) U RSULA (mit offenem Haar --- erscheint in Lehmanns Türe) L EHMANN (hörte ihr Kommen --- blieb stehen --- wendet sich nun ihr zu und lächelt) U RSULA (unsicher --- langsam, leise) Warum / bist Du / hinaus ---? (Stille) U RSULA (ebenso) Warum --- hast Du Dich / wieder / angezogen? L EHMANN (wird sehr ernst --- langsam, leise) Warum / hast Du / das Licht --- auslöschen wollen? U RSULA (senkt das Haupt) L EHMANN (sehr leise) Hast Dich geschämt ---? (er grinst) Nein! Antworte nicht! Ich will Dich nicht zwingen zu lügen / ich will Dich nicht fragen / ich weiss: das war nicht Scham / das war auch nicht einer keuschen Seele Angst / das war Abscheu! Ekel!! Still! Antworte nicht! ---: ich will Dir nicht das Lügen lernen --- verstehe ja die Wahrheit, 얍 selbst, wenn sie mich noch so sehr foltert / verstehe nur die Gerechtigkeit nicht --- Dich versteh ich / nur war ich bisher blind: Bräutigam --- zum Schieflachen! was?! --- --- Wäre ich Du, würd ich auch bitten: lösch das Licht aus, wenn solch Gebeine sich um mich schlingen wollen / meine Beine --- verstehe Dich / nicht aus Schwäche / es nimmt sich nur vielleicht so aus / aber ich bin stark! nur meine verkrüppelten Kinderbeine --- --- Geh, Ursula / lege Dich nur ruhig nieder / ich bleibe hier draussen / werde mich nicht wieder neben Dich legen / werde mich nie wieder vor Dir entkleiden / werde wachen / ganz ungestört kannst Du schlafen --- und träumen --U RSULA Glaubst Du, dass ich jetzt schlafen kann? --- Oh, wäre alles nur ein Traum!! L EHMANN Pst --- Still! Alles erwacht ja ---: und man feiert seine Brautnacht doch nicht in einem Treppenhaus --- (er grinst: fast irr) U RSULA Das ist grauenhaft! Könnt ich nur fort ---! (Stille) L EHMANN (wurde plötzlich sehr ernst) Sag: warum wurdest Du mein Weib? U RSULA (tonlos) Das frage Dich. L EHMANN Nein, nicht ich! ---: wollte ja nichts / nichts --U RSULA Du gabst mir zu essen --L EHMANN Aber ich verlangte doch keine Bezahlung / hab mich ja nur gefreut, dass Du satt wurdest. Doch, als Du dann gingst --- hab ich Dich wieder gerufen / mit wem sollte ich denn auch sprechen können? Alle wurden mir Feind, 얍 weil ich bewies, dass ich auf ihr Mitleid verzichten kann / jetzt kommen sie nur zu mir, wenn sie etwas kaufen oder verkaufen / und ich blieb allein --- und habe Dich immer wieder gerufen, wenn Du fort warst / und Du kamst auch wieder --U RSULA Ich habe „ja“ sagen müssen. --- --- Habe einmal einen Krug zerbrochen, dort, wo ich diente / ich öffnete nur eine Türe und dadurch fiel er von einem Pult / eigentlich hat ihn Niemand zerbrochen / aber ich musste „ja“ sagen und da B N

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B

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N

B N

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B

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] allesN ] B N] BNiemandN ] B N B

N

gestrichen: L EHMANN korrigiert aus: Alles gestrichen: L EHMANN korrigiert aus: niemand

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SB Schmiede 1924, Bl. 33

SB Schmiede 1924, Bl. 34

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

musst ich gehen --- und jetzt musst ich kommen / immer wieder kommen und gehen / musste zu allem immer nur „ja“ sagen --- sonst wär ich verhungert oder draussen ---: auf der Strasse und dann / später verhungert. L EHMANN Ich will es nicht glauben! ---: nur fürs Fressen! U RSULA Nein, nicht nur fürs Fressen. Es war auch Mitleid --L EHMANN Mitleid! --- Bettle schier um Liebe / hasse das Mitleid und aus --- Bin ich denn verflucht?! U RSULA (entsetzt) Fürchtegott! (sie flieht in die Wohnung) (Stille) L EHMANN (allein --- starrt ihr nach --- grinst irr) „Fürchtegott, bitte, lösch das Licht aus ---“ (Jemand lacht höhnisch irgendwo oben --- ein Sturmwind braust durch das Treppenhaus und löscht das Licht aus) L EHMANN (schreit) Licht!! B

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N

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Ende des dritten Bildes.

N

Vi e r t e s B i l d .

SB Schmiede 1924, Bl. 35

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Tr ü b e r S p ä t n a c h m i t t a g . Z WEI D ETEKTIVE (stehen unten links vor Gildas Türe – läuten wieder an --- warten) (Stille) E RSTER D ETEKTIV Niemand zuhause. K LEIN (steigt aus seiner Dachstube die Stufen herab) Z WEITER D ETEKTIV Da kommt wer. Ob wir den fragen sollen? E RSTER Wird der was wissen? Z WEITER Das kann man nie wissen. E RSTER Gut: fragen Sie. Ich melde unterdessen, dass Niemand zuhause. Z WEITER Gut: ich spüre unterdessen umher / im ganzen Treppenhaus --- und überall! E RSTER Sehr gut. (er grüsst kurz und geht) K LEIN (ist nun unten angekommen) Z WEITER (grüsst --- weist sich aus) Polizei. Ich bitte um Auskunft. K LEIN Bitte --Z WEITER (notiert) Sie wohnen hier im Hause? K LEIN Ja --- im vierten Stock / ich heisse Klein / Andreas Klein --- nach der Mutter --Z WEITER (notiert) Ihre Beschäftigung? K LEIN Ich habe keine Beschäftigung. Z WEITER (wird aufmerksam) Keine --얍 K LEIN Habe nur eine Geige / suche immer eine Beschäftigung / Café , Kino, Cabaret / aber ich finde keine --B

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B

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allemN ] Ende f Bildes.N ] BTüre f wiederN ] BK LEIN N ] BCaféN ] B B

korrigiert aus: Allem korrigiert aus: Ende f Bildes.

\Türe – [{läuten}] |läuten| wieder/ korrigiert aus: K ELIN korrigiert aus: Kaffee

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N

SB Schmiede 1924, Bl. 36

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Z WEITER (lächelt --- notiert) Ja, das ist alles schon dagewesen --- also: nur eine Geige. K LEIN Ja, und die gehört eigentlich auch nicht mehr mir / sondern dem Wucherer --wollte sagen: Lehmann. Z WEITER (fixiert ihn) Lehmann, sagen Sie ---? K LEIN Warum wundert Sie das? Z WEITER (scharf) --- Wissen Sie, dass Lehmann ermordet wurde --K LEIN (entsetzt) Ermordet ---?! Z WEITER Ein Angestellter der städtischen Strassenreinigung fand seine Leiche auf dem Bauplatz in der Nachbarschaft / neben den uralten Kehrrichttonnen / der Schädel ward ihm mit einem stumpfen Gegenstande zertrümmert --- --- und die Spuren weisen nach diesem Hause. K LEIN Ja, das glaube ich gerne. Z WEITER Haben Sie Verdacht? K LEIN (weicht aus) --- das ganze Haus gehört ja ihm. Aber: das ist furchtbar! Z WEITER Zuvor sagten Sie, er sei ein Wucherer und jetzt sagen Sie: es ist furchtbar! Wie reimt sich das zusammen? K LEIN Wissen Sie --- er hat gestern geheiratet --- und seit der Zeit tat er mir leid. Z WEITER (grinst) K LEIN Wirklich ---: seit seiner Brautnacht --- er tat mir leid der Fürchtegott Lehmann. Z WEITER Fürchtegott? --- Er heisst ja gar nicht Fürchtegott --- er heisst Max, Max Maria Lehmann! 얍 K LEIN Max --- --- also: nicht Fürchtegott? Z WEITER Max Maria Lehmann. (Stille) Z WEITER Noch eine Frage: kennen Sie Fräulein Amour, Gilda Amour? --- eigentlich: Schulze. Gilda Schulze. K LEIN Schulze ---? also nicht Amour? Z WEITER Schulze! K LEIN (lächelt) Ich kenne nur Fräulein Amour. Z WEITER Verstehe. K LEIN --- Darf ich jetzt gehen? Z WEITER (klappt das Notizbuch zu) Ja. K LEIN (geht hinaus auf die Strasse) Z WEITER (allein --- kaut an seinem Bleistifte --- sieht sich um --- steigt dann rasch die Stufen empor --- bis in die Dachstube) (Stille --- es dämmert leicht) U RSULA (tritt oben aus ihrer Türe und will hinab --- sie hat wieder das alte abgetragene Kleid an, in dem sie kam) L EHMANN (auf seinen Krücken --- erscheint hinter ihr in der Tür) Also ---: war das Dein letztes Wort? U RSULA (bleibt stehen) L EHMANN (leise: ganz ohne Vorwurf) Wieder fort --U RSULA (senkt das Haupt) L EHMANN Wieder allein. Immer nur alles hinunterwürgen. Du gehst und wieder hör ich die Verlassenheit schweigen / sie hockt am Herde und stiert tief in mein Herz B

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Lesetext

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B

allesN ]

korrigiert aus: Alles

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SB Schmiede 1924, Bl. 37

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

hinein / und all das alte Gerümpel da drinnen starrt mich noch hasserfüllter an / und am verbissensten hasst mich die Pup-얍penküche / wohl weil ich ihr nicht die gleiche grosse tiefe Liebe entgegenbringen kann, wie jenes kleine Mädchen, dessen Vater Wucherer / andere Wucherer / in den Konkurs trieben: er musste selbst die Puppenküche verkaufen. Warte! --- ich irre ab / ich irre ab! U RSULA Warten! ---: auf was? L EHMANN Ja, auf was --- ich irre ab / vergass: darf ja nicht hoffen --- aber deshalb muss ich wohl reden / reden --(Stille) L EHMANN Also --U RSULA (ohne ihn anzusehen --- ganz ohne Schärfe: leise) Was „also“? L EHMANN Also --(Stille) U RSULA (sieht ihn plötzlich an) Du wolltest doch sprechen --L EHMANN (sieht sie an --- lächelt leise und weicht aus) Geh nur, Ursula. U RSULA Wir sassen den ganzen Tag drinnen, und sprachen nichts --- seither bis jetzt. Jetzt muss ich gehen: da drinnen erwürgt mich die Luft. L EHMANN Hast recht. --- Verzeihe: aber ich vergesse immer wieder, dass ich diese Nacht in einem Treppenhause humpelte: hin und her / und, dass ich hörte --- (er stockt --- sieht empor) Geh nur. (er verschwindet in der Wohnung --- schliesst die Türe) U RSULA (allein --- wie versteinert --- rast dann plötzlich die Treppen herab --- trifft im Haustor auf) G ILDA (und) W LADIMIR (die eben eintreten wollten) 얍 G ILDA (ist betrunken) Sieh da: Ursula! Verzeihung! Ich vergesse immer wieder ---: Frau Lehmann. Wir haben uns lange nicht mehr gesprochen / gratuliere gnädige Frau --- ist sie auch recht glücklich, die junge Frau? (sie lacht höhnisch meckernd ) W LADIMIR (zu Gilda) Lass sie doch! (er geht weiter --- bleibt vor Gildas Türe stehen) G ILDA (zu Ursula) Nein, im Ernst: höre ---: dass Du Dir so rasch und obendrein noch diesen gutsituierten und gutaussehenden jungen Mann! ---: das hätt ich Dir nimmermehr zugetraut! Alle Achtung! Ich gratuliere! W LADIMIR (vor Gildas Türe) Oeffne!! G ILDA (zu Wladimir) Schau einer an! der Ton! Willst wohl Gorilla markieren?! U RSULA (flieht entsetzt auf die Strasse) W LADIMIR Oeffne, sag ich Dir! Sofort!! G ILDA (torkelt) Bist wohl wahnsinnig geworden --- warte! ich besorge Dir die Zwangsjacke! (sie will wieder gehen) W LADIMIR (reisst sie roh zurück) Dageblieben!! (er zwingt sie auf die Kniee) G ILDA (wimmert) Au! Du tust mir weh! --- Lass mich, bitte, lass aus --- (sie krümmt sich am Boden) W LADIMIR (lässt sie los) Wurm. (Stille) B

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B

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B

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meckerndN ] U RSULA N ] Bwarte!N ] B B

korrigiert aus: mekkernd korrigiert aus: U RSULA ( korrigiert aus: warte ’

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N

SB Schmiede 1924, Bl. 38

SB Schmiede 1924, Bl. 39

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

W LADIMIR (ganz ruhig) Zwar bist Du blau --- aber ich glaube, dass Du mich dennoch verstehen wirst --- und das rat ich Dir! G ILDA (am Boden) Verzichte auf Ratschläge! 얍 W LADIMIR Das sagst Du jetzt: weil Du besoffen bist! Verzichte lieber auf den Ring! G ILDA --- mit der Inschrift: und die Liebe höret nimmer auf. (sie grinst betrunken) W LADIMIR Grins nicht! Der Ring gebührt mir! G ILDA Dir ---? --- Wen hat er denn --- ---: Dich oder mich --W LADIMIR Dich! Aber frag lieber: wen hat er betrogen? ---: Dich! G ILDA Hast ihn wohl meinetwegen niedergeschlagen? --- Du willst doch den Ring! W LADIMIR Deinetwegen! Um Dir seidene Strümpfe kaufen zu können! G ILDA Damit ich Dich geiler mache! --- oder: sogar vielleicht, damit das Geschäft besser geht / Dein Geschäft --- Betrug! Z WEITER D ETEKTIV (kommt aus dem Hofe rechts im Hintergrunde --- bleibt aber in der schmalen Hoftüre stehen --- lauscht) W LADIMIR Hündin!! Sag: wer hat ihm den Schädel mit dem Hammer?! wer trug die Leich hinüber auf den Bauplatz?! wer hat gemordet?! Ich! Ich!! --- Du Vieh!! --(er will ihr eine Ohrfeige geben) Z WEITER (tritt in das Treppenhaus) Im Namen des Gesetzes! G ILDA (schnellt auf vom Boden --- flüchtet sich hinter den zweiten Detektiv) W LADIMIR (zum Zweiten) Weg da!! G ILDA (lacht laut auf --- hinter dem Detektiv) W LADIMIR Kanaille!! (er reisst sein Messer hervor) Z WEITER (zieht den Revolver) W LADIMIR Weg!! --- Mir hat sich noch Niemand in den Weg gestellt! Noch nie!! Nicht mal der da oben!! (er deutet gegen den Himmel: als würde er schwören wollen --- stürzt sich auf den zweiten Detektiv) 얍 Z WEITER (schiesst --- zertrümmert seine hocherhobene Hand) W LADIMIR (lässt die Hand sinken --- starrt sie an: totenbleich) Z WEITER Im Namen des Gesetzes! W LADIMIR (lacht heiser auf --- stürzt hinaus auf die Strasse) Z WEITER (ihm nach) G ILDA (allein --- atmet tief auf --- bindet sich die Schuhbänder) (Es ist Nacht geworden) L EHMANN (tritt aus seiner Wohnung, in der die Lampe brennt, in die Dunkelheit --sieht sich um: aber sieht nichts, da er von dem Lichtstrahl, der durch die Türe hinausfällt, geblendet ist) (Das Licht im Treppenhause flammt auf: wie auf einen höheren Befehl) L EHMANN (erblickt) G ILDA (die eben ihre Strumpfbänder richtet) L EHMANN (sieht ihr zu ---) G ILDA (bemerkt ihn) (Stille) L EHMANN (leise) --- wer hat hier geschossen? B

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Lesetext

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Dich\!/

B

Dich!N ] NiemandN ] BNachtN ]

korrigiert aus: niemand korrigiert aus: Nachts

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SB Schmiede 1924, Bl. 40

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SB Schmiede 1924, Bl. 41

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

G ILDA Nichts von Bedeutung. --- Warten Sie, Herr Lehmann --- (sie holt aus ihrem Strumpf den Ring hervor --- trägt ihn etwas torkelnd zu Lehmann empor in den ersten Stock) Hier --- was zahlen Sie mir dafür? L EHMANN (sah ihr zu --- nimmt ihr nun den Ring ab --- betrachtet ihn) Ein Ring / und eine Inschrift / darf man die Inschrift lesen? ---: und die Liebe höret nimmer auf. G ILDA Es ist Gold. L EHMANN Nein ---: es ist nur vergoldet. 얍 G ILDA Wollen Sie mich betrügen? ich weiss: es ist Gold! L EHMANN Es ist Blech --- vergoldet. G ILDA Blech ---? Das lügen Sie! L EHMANN Blech. (gibt ihr den Ring zurück) Dafür zahle ich keinen roten Heller. (Stille) G ILDA Und ich dachte es wäre Gold / pures Gold --- was habe ich alles tun müssen für diesen Ring! habe ihm eine ganze Nacht gegeben für diesen Ring / diesem uralten Hund / mit seinen verfaulten Zähnen / er stank aus dem Maule nach Tabak und Geilheit! --- hätte so viel verdienen können in dieser Nacht / es war wieder ein Frühlingsfest und da wimmelt es vor Besoffenen --- aber ich dachte es wäre Gold / pures Gold --- --- was wurde schon alles getan für diesen Ring! Was ich alles tat! Ich Vieh / ich Sau! ---: was er nur von mir verlangte --- und noch mehr / viel mehr --- Alles tat ich! Alles!! Alles --(Stille) L EHMANN (leise) Was --- mussten Sie --- alles tun ---? G ILDA (stutzt --- sieht ihn an --- begreift --- lächelt) Alles --L EHMANN (erregt --- sehr leise) Was --- alles ---? G ILDA (nähert sich ihm --- fasst ihm unters Kinn) Soll ich erzählen ---? ---: Alles ---? L EHMANN (nickt hastig: ja --- fasst nach ihr) G ILDA (weicht zurück) Nein! Zuerst: kaufst Du mir den Ring ab als wäre er pures Gold ---? L EHMANN (nickt: ja) ---: als wäre er pures Gold --- (er fasst wieder nach ihr) 얍 G ILDA Noch nicht! Erst zahlen! L EHMANN Gleich! Lass Dich nur mal anfassen --- (er ergreift ihren Arm) lass mich wärmen / mich friert hier immer / wie warm Dein Fleisch ist --- (er will ihr in die Bluse tasten) G ILDA (schlägt ihm auf die Hand) Erst zahlen! L EHMANN (lässt sie los --- humpelt rasch in seine Wohnung --- kommt wieder --- legt Münzen in ihre Hand) Hier --- als wäre es pures Gold. G ILDA (zählt das Geld --- hebt dann wieder ihren Rock hoch und steckt es in ihren Strumpf) L EHMANN (starrt auf ihr Bein) Lass den Rock so oben --G ILDA (lacht) So oder so ---? (sie hebt ihn noch etwas höher) L EHMANN (stöhnt --- will sich auf sie werfen --- lässt die Krücken fallen ---) G ILDA (weicht ---: die Stufen hinab) L EHMANN (stürzt längs die Stufen hinab) G ILDA (lacht laut) Ausgerutscht, Wucherer!! --- und wie stürmisch, Du Süsser!! --Komm doch zu mir! hier bin ich! --- warum kommst Du denn nicht? B

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Lesetext

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allesN ] allesN ] BallesN ] B B

korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Alles

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SB Schmiede 1924, Bl. 42

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SB Schmiede 1924, Bl. 43

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

L EHMANN (auf den Stufen) Ich will ja, --- aber ich kann nicht --- meine Krücken --wo sind meine Krücken --G ILDA Weiss ich, wo sie sind?! Such sie Dir! L EHMANN Gib mir meine Krücken --G ILDA (in der Türe zu ihrer Wohnung) Und was noch?! ---: kalte Umschläge und Klosettschlüssel! Wenn Du nicht bald kommst gehe ich / habe keine Zeit! Zähle noch bis drei: eins --- zwei --- --- drei!! Leb wohl! Auf Wiedersehen! (sie schlägt die Türe zu) (Stille) 얍 L EHMANN (allein --- presst das Antlitz in den Boden --- weint leise --- hebt den Kopf) Was kriecht so heiss über meine Hände ---? ---: Blut ---? --- ich habe mir den Schädel eingeschlagen --- (er brüllt) Ursula!!! (Tiefe Stille) D IE N ACHFOLGERIN (tritt aus der Schenktüre) L EHMANN (wimmert) N ACHFOLGERIN (zuckt zusammen und lauscht --- sieht sich um und erblickt Lehmann auf den Stufen --- starrt ihn einen Augenblick lang an --- begreift) Himmel!! (sie eilt auf ihn zu) Was geschah nur da --- (sie kniet neben ihm nieder und bemüht sich um ihn) L EHMANN (misstrauisch, gebrochen, leise) Nichts! Lassen Sie mich! Was wollen Sie von mir ---? N ACHFOLGERIN Will Ihnen helfen. --- Hörte hier eben „Ursula“ schreien und sah nach wer mich rief. L EHMANN Sie ---: Ursula? (er grinst) Wer sind Sie? N ACHFOLGERIN Ich bin die Kellnerin --L EHMANN Die Kellnerin --- (er erinnert sich) Ja, es gibt keine Gerechtigkeit!! (seine Stimme schnappt über in ein Gestöhn --- er fasst sich an den Kopf) N ACHFOLGERIN Geben Sie Acht, Herr Lehmann! Sie bluten --L EHMANN (stutzt --- starrt sie an) Woher wissen Sie, wer ich bin ---N ACHFOLGERIN (lächelt leise) Ich kenne Sie gut, Herr Lehmann --L EHMANN „Gut“?! (er grinst wieder) Dann wissen Sie ja, dass ich der Schlechteste --N ACHFOLGERIN Still! Wenn einer das Mitleid zurückweisen kann ohne die 얍 Treppen herunterzukönnen, der kann auch nicht leben ohne beschimpft zu werden. Aber Sie haben einmal einer Kellnerin Rechnung bezahlt --L EHMANN Woher wissen Sie das ---? K ELLNERIN (lächelt wieder leise) Warum wird Ihnen bange --- / --- Hören Sie: eben trat eine Dame in das Café und verlangte eine Nadel von mir, denn ihre hellen Strümpfe waren geplatzt / und während ich die Naht zunähte erzählte sie mir, dass auch sie hier Kellnerin war und, dass Sie, Herr Lehmann, ihr einmal geholfen hätten --- wenn ihr dann die Zukunft auch keine guten Gaben brachte / aber sie wären noch schlechter geworden wären Sie damals nicht gewesen und sehen Sie: jetzt will ich Ihnen helfen / bin zwar nur die Nachfolgerin / aber da es keine Rolle spielt, wer das Bier trinkt und wer bezahlt, so spielt es also auch keine Rolle wer es zurückbezahlt. Sie haben einmal einer Kellnerin Rechnung bezahlt / und jetzt B

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Lesetext

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B B

einerN ] CaféN ]

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korrigiert aus: Einer korrigiert aus: Kaffee

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SB Schmiede 1924, Bl. 44

SB Schmiede 1924, Bl. 45

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

bin ich die Kellnerin --- bis wieder ein Krug zerbricht / Sie haben Gutes getan und ich freue mich es Ihnen jetzt zurückzahlen zu dürfen --L EHMANN (starrt sie an --- bange) Wer sind Sie ---? --- Sie sind kein Mensch --N ACHFOLGERIN Vielleicht --- Wenn man Gutes tun darf ist man mehr als nur ein Mensch. L EHMANN Ja --- und dem man Gutes tut ist noch weniger als nur ein Mensch. Ich verzichte auf alles Gute, bekommt man es nur dann, wenn man als Krüppel die Treppen herunterfiel. N ACHFOLGERIN Sagen Sie das nicht! Können Sie Gutes tun ohne zu helfen? 얍 L EHMANN Mitleid?! Verzichte!! (er röchelt) N ACHFOLGERIN (beugt sich über ihn) --- Wie Sie bluten! L EHMANN (ist ohnmächtig geworden: liegt nun wie leblos auf den Stufen) N ACHFOLGERIN (hält seinen Kopf in ihrem Schoss) (Tiefe Stille) U RSULA (tritt durch das Haustor ein --- bleibt einen Augenblick lang stehen und lehnt sich an die Wand: abgehetzt, als wäre sie nach einer Flucht --- stiert vor sich hin und will dann langsam die Treppen empor --- erblickt die Nachfolgerin --stutzt --- erblickt Lehmann --- starrt ihn an --- will schreien, aber beisst nur in ihre Hand) N ACHFOLGERIN (zu Ursula --- leise) Still! U RSULA (starrt noch immer die beiden an --- geht dann langsam und scheu die Treppen empor und kniet neben Lehmann nieder --- bebend) Was / was ist denn nur geschehen ---?! L EHMANN (wimmert schwach --- leise: als würde ein anderer aus ihm sprechen) Ich blute --U RSULA Das ist furchtbar!! N ACHFOLGERIN (fixiert Ursula) U RSULA --- ---: Ich musste fort / lief die Strassen kreuz und quer, ohne Ziel / nur fort --- und bog eben um eine Ecke, da hört ich meinen Namen rufen / vor mir stand einer auf Krücken: er war nicht grösser --- und zog den Hut und verbeugte sich tief und trug mir einen goldenen Ring an, wenn ich mit ihm zu Abend esse --Ich lief und lief / aber er lief schneller auf seinen Krücken / sah ich mich um, grinste er: „nichts, nichts“ --- und er hätt mich eingeholt, wenn ihn nicht einer überrannte verfolgt von 얍 Polizei --- Ich sah nicht mehr wohin ich mich wand / lief nur, lief --- und plötzlich stand ich wieder vor diesem Haustor / atemlos flüchtete ich herein. --- Noch hör ich sein Wimmern, da er am Pflaster lag: „ich blute, ich blute ---“ --- und, jetzt, hört ich es wieder aus seinem Munde --- das ist --L EHMANN (murmelt in der Ohnmacht) N ACHFOLGERIN (beugt sich über ihn --- lauscht) U RSULA (zur Nachfolgerin) --- Was ---? N ACHFOLGERIN (hebt langsam ihr Haupt) „Ein Wunder ---“ U RSULA (starrt die Nachfolgerin an --- bange) Ein Wunder --- --- Woher weiss er das?! N ACHFOLGERIN Wer sind Sie? B

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beidenN ] andererN ] BeinerN ] B B

SB Schmiede 1924, Bl. 46

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korrigiert aus: Beiden korrigiert aus: Anderer korrigiert aus: Einer

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SB Schmiede 1924, Bl. 47

Endfassung Niemand

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Ende des vierten Bildes.

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Lesetext

U RSULA (weicht ihren Blicken aus --- sehr leise) Ich --- bin sein Weib. (sie senkt das Haupt) (Draussen auf der Strasse fährt lautlos ein grosser schwarzer Wagen vorbei) N ACHFOLGERIN (sieht sich um) Was ---? U RSULA (gellend) Der Wagen!! (Tiefe Stille) N ACHFOLGERIN (beugt sich über Lehmann --- lächelt leise) Nein --- --- Er fuhr nur vorbei.

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Fünftes Bild. E s i s t M o rg e n . Draussen auf der Strasse stehen graugelbe Nebel. U RSULA (tritt aus ihrer Türe mit einem Mülleimer) (Ein leises Wimmern ertönt aus Lehmanns Wohnung) U RSULA (lauscht) (Stille) U RSULA (will die Stufen herab) F REMDER (trat durch das offene Haustor ein --- steigt die Stufen empor --- trifft Ursula noch vor der Türe --- grüsst unhörbar --- spricht leise, etwas unsicher) Sagen Sie --- ich möchte nichts kaufen noch verkaufen --- könnte ich Herrn Lehmann sprechen, Herrn Fürchtegott Lehmann ---? U RSULA Mein Mann ist nicht zu sprechen. F REMDER Ihr Mann --U RSULA Wundert Sie das ---? F REMDER (will ausweichen --- lächelt) --- warum soll mich das wundern ---? B EIDE (wechseln Blicke) (Wieder ertönt das leise Wimmern aus Lehmanns Wohnung) F REMDER (fährt zusammen --- lauscht) (Stille) F REMDER (leise) Was war das ---? U RSULA (leise) Er. --- Gestern ---: am Abend ging ich noch was vor das Haus / und als ich wiederkam lag er blutend auf diesen Stufen / hat sich die Stirne zerschunden: wie mit 얍 einem Hammer --F REMDER Ein Schwächeanfall? U RSULA Wer weiss --- --- er fieberte die ganze Nacht / fantasierte von einem Ringe der ihn erdrosselt / einem Ringe mit der Inschrift: und die Liebe höret nimmer auf. Ich trug ihn ins Bett --- jetzt schläft er schon lange / wimmert nur manchmal im Schlafe ---: wird wohl bald erwachen. Oder ---: soll ich ihn wecken? F REMDER Nein! ---: nicht wecken. Werde später wiederkommen. (er geht und) U RSULA (steigt auch die Stufen hinab --- mit dem Mülleimer in der Hand) F REMDER (unten angelangt) Wohin gehen Sie ---? U RSULA Nur an die Kehrrichttonnen --7

B

(beugtN ]

korrigiert aus: beugt

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SB Schmiede 1924, Bl. 48

SB Schmiede 1924, Bl. 49

Endfassung Niemand

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den)N ] besterN ] BallesN ] BWeshalbN ] BSuppenN ] BeinerN ] B B

SB Schmiede 1924, Bl. 50

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Lesetext

F REMDER (grüsst wieder unhörbar) U RSULA (dankt lautlos --- geht durch die schmale Türe rechts in den Hof) F REMDER (allein --- wendet sich dem Haustor zu) G ILDA (im Morgenmantel --- tritt aus ihrer Türe in das Treppenhaus --- sucht Post im Briefkasten: keine da --- gähnt --- streckt sich --- erblickt den) F REMDEN (der sie betrachtet) (Stille) G ILDA (lächelt „süss“) F REMDER (sieht um sich) Verzeihen Sie, wenn ich frage ---: aber als ich dieses Haus verliess, wohnte hier ein Stadtschreiber namens Einfalt. Er war einst mein bester 얍 Freund. G ILDA Einfalt? ---: den kenne ich nicht! (sie lächelt wieder „süss“ --- winkt --„haucht“) Komm --F REMDER (lächelt) Wie dumm von mir! ---: nach etwas fragen, das über zehn Jahre vorbei! Wissen Sie: wenn man so lange fort war und dann, trotz aller Sehnsucht, doch wie plötzlich, wieder in dem Treppenhause steht, in dem man schon als Kind spielte --- dann glaubt man im Augenblick die Zeit saust zurück --- und es wird alles wieder so, wie es war ---G ILDA Quatsch nicht so viel! --- --- meinst, ich will mir hier Lungenentzündung holen?! hab doch nur den Mantel an ---! F REMDER (zuckt zusammen --- begreift) --- jetzt am Morgen? G ILDA Weshalb nicht? wenn man die Nacht über schlief! --- also: willst Du ---? F REMDER Ich bin die Nacht über im Stadtpark gegangen: hin und her --- und hatte die letzten zwei Tage nur zwei Teller Suppen --- doch das geht an mir vorbei. Alles geht an mir vorbei! --- aber ob es auch an Dir vorbeigeht --- ? ---- --- sonst: sehr gerne --G ILDA (grinst) Du gefällst mir, Kerl! auch, wenn Du „ohne“ bist! Und da ich gestern einen guten Tag hatte / bekam Gold! von einem Krüppel, der dann obendrein noch die ganzen Treppen herunterfiel --- (Wieder wimmert Lehmann in seiner Wohnung --- aber nur der) F REMDE (hört ihn --- ist entsetzt) Die Treppen herunterfiel --얍 G ILDA (nickt: ja) Ohne Mitleid! (sie grinst) Hast Du Angst? F REMDER Gehen Sie! Für wen halten Sie mich?! Gehen Sie!! G ILDA (lächelt --- nähert sich ihm) Für ein Herzblättchen! und ausserdem habe ich noch mehr, als einen Teller Suppe --F REMDER (sieht ihr in die Augen --- grinst) G ILDA Ja, lach nur über Dich! F REMDER Hast recht! Was kann ich dafür, wenn einer die Treppen herunterfällt! Komm ---! G ILDA (grinst) Dummer Hund! F REMDER (horcht) Rasch! da kommt sie! B EIDE (verschwinden in Gildas Wohnung) B

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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korrigiert aus: den korrigiert aus: besster korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Wesshalb dialektal gefärbter Ausdruck, gemeint ist: Suppe korrigiert aus: Einer

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SB Schmiede 1924, Bl. 51

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

U RSULA (kommt durch die schmale Türe rechts mit dem entleerten Mülleimer aus dem Hofe zurück --- steigt wieder die Stufen empor) L EHMANN (tritt auf seinen Krücken aus seiner Türe --- in Hemd und Hose --- mit einer Binde um die Stirne) U RSULA (erblickt ihn --- will aufschreien --- unterdrückt) Wie Du mich erschrecktest! L EHMANN Verzeihe! Das wollte ich nicht. U RSULA Bist erwacht --L EHMANN Nein, Ursula --- denn ich war schon wach --- --- und dann sprachst Du hier mit jemandem / habe es gehört --- aber nur halb --U RSULA Ein Fremder war hier / wird wiederkommen / doch will er weder kaufen noch verkaufen. L EHMANN Weder kaufen noch verkaufen ---? Wer war das? Was 얍 will er von mir? U RSULA Will Dich nur sprechen. L EHMANN (ist anderswo ) Nur sprechen --U RSULA (will in die Wohnung) Gehts wieder besser? L EHMANN (in der Türe --- lächelt) Soweit ich gehen kann ---: ja. B EIDE (sehen sich an) L EHMANN Und ---: ich danke Dir, dass Du mich die Nacht über gepflegt / Deine kühle Hand brachte den Frühling von draussen auf meine Stirne / und verzeihe ---: dass ich gestern so zu Dir war. U RSULA Wie war ---? L EHMANN (weicht ihren Blicken aus) So --- Verzeihe. (Stille) U RSULA Ich hätte nicht fortgehen dürfen --- gestern. (Ein Sonnenstrahl bricht durch die graugelben Nebel draussen und fällt nun von obenher auf die beiden ) L EHMANN --- die Sonne! schau: jetzt kommt die Sonne. U RSULA (sieht empor --- lächelt) L EHMANN Wenn die Sonne so über mich scheint erscheint mir die Kindheit. Höre Vater und Mutter nebenan sprechen. Es ist Sonntagvormittag. Mutter kocht und Vater liest die Zeitung. Und ich hocke in der Ecke und weine weil der Bruder / das Kasperle / mir die Puppe nahm, die mir alles war: die ganze grosse Welt. (er sieht sie an und lächelt) 얍 B ACKFISCH (fünfzehnjährig --- mit einer grossen weissen Schleife im offenen Haar --trat durch das Haustor in das Treppenhaus --- steigt die Stufen empor zu Lehmanns) (Der Sonnenstrahl taucht wieder unter im graugelben Nebel) B ACKFISCH Ist hier die Tändlerei? L EHMANN (als würde er erwachen) Ja. --- was wünscht das Fräulein? B ACKFISCH Ich hörte, Sie hätten auch Bücher zu verkaufen / traf eben Anna Gross und die sagte: billiger als anderswo . B

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dieN ] jemandemN ] BanderswoN ] B N] BbeidenN ] BallesN ] B N] BanderswoN ] B B

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korrigiert aus: der korrigiert aus: Jemandem korrigiert aus: Anderswo Absatz eingefügt korrigiert aus: Beiden korrigiert aus: Alles Absatz eingefügt korrigiert aus: Anderswo

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SB Schmiede 1924, Bl. 53

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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L EHMANN Was soll es denn sein? B ACKFISCH (siegesbewusst) „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“. L EHMANN Hat mir leider noch Niemand verkauft. B ACKFISCH Wie schade! (grüsst kurz und geht wieder) L EHMANN (verbeugt sich) (Stille) L EHMANN (streicht sich mit der Hand über die Augen) Ich hörte einst, dass nur das Wesen unsere Kindheit versteht, das nahe an unserem Herzen steht und --U RSULA (lacht plötzlich laut auf) L EHMANN (befremdet) Du lachst? U RSULA (lacht) Es war zu komisch ---: das Mädchen! L EHMANN (leise ---: wie zu sich selbst) Ja, es war zu komisch --- aber ich wollte Dir eben sagen, dass --- --- und Du lachst über das --얍 U RSULA (kämpft krampfhaft mit dem Lachen) L EHMANN Lach nur! Lach nur! U RSULA ( wird plötzlich sehr ernst) Darf ich denn nicht einmal mehr lachen? L EHMANN Doch! Doch! Lach nur! Aber ---: warum lachst Du denn nicht mehr ---? B EIDE (wechseln Blicke) (Stille) L EHMANN Jetzt ist die Sonne fort --- wieder gehen nur Nebel um das Haus. Nebel! (er fängt an hin und her zu humpeln) U RSULA (will in die Wohnung) L EHMANN (immer hin und her humpelnd) Wer sandte uns dieses Mädchen? U RSULA (in der Türe --- wendet sich wieder ihm zu) Anna Gross, sagte sie. L EHMANN Und Anna Gross weiss es von ihrem Vater, denn der verkaufte mir ja ihre Puppenküche / einst / weisst Du: die Puppenküche, die mich so sehr hasst --- habe sie auch zu sehr degradiert: zu billig berechnet / ja: es rächt sich alles --- nur die Rache ist ein Elefant und ein Falter nur die Tat --- ja: Alles wird zurückbezahlt, auch das Gute --- (er grinst --- wird wieder ernst --- wie zu sich selbst) Ich habe einmal helfen wollen und es kam auch keine Polizei / aber sie ist trotzdem keine Kellnerin mehr, sondern geht auf den Strich. Ich bezahlte vorgestern nur 얍 den Preis von sieben Liter Bier --- und habe seit gestern wieder anfangen dürfen: glauben und hoffen / allerdings erst nachdem ich Gold gab um mir den Schädel einzuschlagen --- Nicht verzweifeln müssen / seit gestern / Aber heute ---! Verzichte auf alles Gute, wenn man es um sein Blut erkaufen muss, und dann, wenn man es erhält schon vom nächsten Tage als Trug entlarvt wird! --- Dieser Richter ist „gerecht“! (er grinst wieder) U RSULA Niemand ist gerecht. L EHMANN Ja, Niemand --- --- Aber: wer sandte zu mir den Vater Gross? U RSULA Vielleicht Niemand . L EHMANN Wer ist dieses ewige „Niemand“?! Wer?! (er bleibt plötzlich stehen und lauscht) Still! --- hast Du gehört? U RSULA Was? B

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korrigiert aus: Gesellschaft“ korrigiert aus: Wird korrigiert aus: humpeln). korrigiert aus: Alles korrigiert aus: niemand

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SB Schmiede 1924, Bl. 55

Endfassung Niemand

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L EHMANN Jetzt hab ich ihn wieder gehört! das ist furchtbar!! U RSULA Was ist furchtbar?! L EHMANN Höre: damals, da ich noch glaubte das Licht werde leuchten in der Nacht / in der ich derweilen hier / allein / hin und her --- Es war still um mich, ganz still. Und da hörte ich auf einmal, hoch über mir, jemanden höhnisch lachen / und dann gingen alle Lichter aus --- hörte noch keinen Menschen so lachen / glaube, wenn ich ihn gesehen hätte, wär ich verrückt geworden --- --- Und jetzt war er wieder 얍 da! Aber zuerst verdunkelte sich die Sonne --U RSULA Es war doch nur der Backfisch da. L EHMANN „Nur“ der Backfisch --U RSULA Niemand hat so gelacht! L EHMANN „Niemand“! Das ist ER! U RSULA Wer „er“? L EHMANN Gott!! U RSULA Mann, bist Du wahnsinnig geworden?! L EHMANN Vielleicht! Denn nun fange ich an zu verstehen --- und wer sich den Geheimnissen entgegenstellt, der soll ja zermalmt werden, heisst es. (Stille) L EHMANN Als ich klein war und traurig ward, weil ich in diesem Treppenhause nicht so herumspringen konnte / herauf und hinab / wie all die anderen Kinder / da erzählte mir meine Mutter immer das Märchen vom lieben Gott, der weint über unser Leid / nur manchmal soll er auch lächeln über unsere Dummheiten --- Aber das war nur ein Märchen. Ich habe Gott lachen hören! und wer so lachen kann, der kann nicht weinen! U RSULA Fürchtegott!! L EHMANN Nein!! Lästere Gott!! Muss mich doch verteidigen! Wär ich kein Krüppel würd ich kämpfen wie Jakob mit dem Engel! Aber auf Krücken kann ich nur meine Stimme in das All schleudern. Und ich klage an: nicht den Tag, der sich nicht verdunkelte, als 얍 jener Krüppel meine Mutter erschreckte, da sie mich trug / nicht die Nacht, dass sie nicht zur grellen Sonne wurde, als Vater Mutter mich zeugten: vielleicht gar besoffen --- / und auch nicht den kleinen Falter, dessen Summen mich erweckte an jenem Morgen, an dessen Abende wir uns trafen: denn hätte er nicht so laut gesungen, hätt ich länger geschlafen und wäre erst später in dies Treppenhaus getreten und dann wärest Du schon nicht mehr dagewesen und so vor Dich hingesummt ---: wie der kleine Falter --- --- Aber ich klage an dessen Geste nur sind Tag und Nacht ---: DICH! der den Winden befahl, den Falter in meine Stube zu wehen --- Ich klage an --- DICH!! der mich zu seinem Spasse erschuf!! Lach nur über mich!! Bin doch nur ein Witz!! DEIN Witz!! --U RSULA (leise) Wie stark Du sein kannst --L EHMANN (fasst sich ans Herz) Weh mir --- Jetzt wird mein Hirn Herr in mir und knechtet mich und quält mich / und mein Hirn ist doch nicht ich! Nie würd ich fragen: wieso? weshalb? warum? Zum Teufel mit allen Theorien! All diese Hirngespinste würden Quatsch, wenn Du nur --(Stille) B

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korrigiert aus: Jemanden korrigiert aus: DEIn

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

U RSULA (sehr leise) Manchmal glaube ich, ich habe keine Seele --- aber heute würd ich das Licht nicht auslöschen wollen --- vielleicht --얍 L EHMANN Aus Mitleid --- Nein, nie!! U RSULA (starrt ihn an) Nein. Jetzt seh ich Dich ohne Krücken --L EHMANN Ursula! U RSULA (sehr leise) --- aber: heute --- kann ich nicht. (sie senkt das Haupt) (Stille) L EHMANN (sehr leise: zu sich selbst --- schrumpft fast zusammen) Ja, heute nicht --und morgen --- als Trug entlarvt --- (er grinst irr) U RSULA (hebt das Haupt und weicht zurück --- kalt: fast scharf) Warum grinst Du? L EHMANN (hört sie nicht --- zu Niemand) Betrug!! (er lacht irr hellauf) U RSULA (scharf) Rohling!! L EHMANN (hört sie --- zuckt zusammen --- lacht nicht mehr --- starrt sie an --- begreift) Ich --U RSULA Wer so lachen kann, der kann nicht weinen! (sie verschwindet voll Abscheu in der Wohnung) L EHMANN (allein --- stiert auf die Türe --- tonlos) --- kann nicht weinen --- (er grinst wieder irr) Und lachen?! --- auch nicht! (er humpelt hin und her) Nur hin und her --- Immer nur hin und her müssen / von wegen der „Verdauung“ --- (er grinst, wird aber sofort wieder ernst und bleibt ruckartig stehen --- starrt vor sich hin und schreibt mit dem Finger in der Luft --- nickt --- leise) Ja ---: 얍 man muss doch verdauen können, wenn man leben muss --- denn eigentlich kann ER alles vertragen, nur das Fragen nicht: aus Angst erkannt zu werden --- --- Feigheit ists, weshalb er uns hetzt: hin und her --- (er humpelt wieder hin und her) Immer nur hin und her! und alles Tun im selben Takte --- irgendeiner Melodie --(Im Hofe ertönt eine Drehorgel: keck und ausgeleiert) L EHMANN (scheint sie gar nicht zu hören --- humpelt weiter hin und her: aber doch so, als hörte er nur mehr den Drehorgeltakt --- aber dächte immer weiter und weiter ---: jedoch dabei immer hin und her im Drehorgeltakt) F REMDER (tritt aus Gildas Türe) (Die Drehorgel verstummt) L EHMANN ( bleibt plötzlich stehen --- senkt das Haupt --- hebt es wieder und humpelt weiter hin und her genau im Takte, als würde er noch immer die Drehorgel hören) F REMDER (ging nach rechts --- bleibt aber nach einigen Schritten stehen --- fasst sich an den Hals: als stünde er unter einem Galgen --- bindet sich die Kravatte --pisst dann an die Wand) Z WEI D ETEKTIVE (treten durch das Haustor ein --- halten vor Gildas Türe) E RSTER Achtung! 얍 Z WEITER Weiss: zweimal anläuten. (er läutet zweimal kurz an) E RSTER Er hat alles gestanden: auch das! B

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korrigiert aus: nicht, korrigiert aus: Alles korrigiert aus: wesshalb korrigiert aus: Alles Absatz eingefügt korrigiert aus: Bleibt korrigiert aus: Galgen -Absatz getilgt korrigiert aus: Alles

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Z WEITER Er war mürbe geworden! E RSTER Wenn einer so viel Blut verlor --Z WEITER Es ist alles geklärt, nur das nicht: warum gab der Lehmann der Gilda Schulze nicht den Ring, da er doch nur aus Blech war? E RSTER Weil er ihn wahrscheinlich selbst für Gold hielt --- Still! G ILDA (im Hemde --- verschlafen --- öffnet die Türe) Nein, jetzt kann ich doch nicht wieder --- Komm später / bin so müde --- und gar zwei auf einmal! (sie will wieder die Türe schliessen) E RSTER (ergreift sie am Arm) Halt! Z WEITER Im Namen des Gesetzes! G ILDA Macht doch keine blöden Witze! lasst mich! E RSTER Nein! Wir machen die Wahrheit! Der Raubmörder Wladimir wurde verhaftet / beim Morgengrauen / er war am Verbluten --- und hat alles gestanden: behauptet, dass Sie es waren, die ihn zu morden zwang! G ILDA (kann kaum sprechen) Ich --- ---? E RSTER Sie! Z WEITER Folgen Sie! E RSTER Freiwillig, oder ---: wir müssen mit Gewalt! Z WEITER Sie zwingen uns dazu! G ILDA (leise, gebrochen: wie zu sich selbst) Niemand 얍 zwingt Euch --L EHMANN (blieb stehen --- horchte --- tritt nun an das Geländer und erblickt den) F REMDEN (der eben seine Hose zuknöpft) B EIDE (starren sich an) Z WEITER (zu Gilda) Wirds bald?! G ILDA (leise: als wäre sie anderswo ) Hatte eben so fest geschlafen und geträumt --- ---: dass ich einen Krug zerbrach / aber eigentlich hat ihn Niemand zerbrochen --E RSTER Im Namen des Gesetzes! G ILDA (zuckt zusammen: als würde sie jetzt erst erwachen --- bange) Wohin ---?! E RSTER Vielleicht nur zur Zwangsarbeit! Vielleicht --G ILDA (schreit gellend auf) Nein!! Alles um einen Ring aus Blech ---!! E RSTER Blech oder nicht Blech! ---: Mord ist Mord!! (Draussen auf der Strasse taucht aus den graugelben Nebeln ein grosser schwarzer Wagen auf und fährt lautlos vor das Haustor) G ILDA (in wahnsinniger Angst) Der Wagen!! mein Sarg ---!! ich will noch nicht sterben!! Lasst mich noch leben! --- Kommt! Beide / bitte, bitte / kommt mit mir --seht her, seht her ---!! (sie sinkt in die Kniee und reisst sich das Hemd auf über der Brust) ---: wie schön fest noch alles ist / und wie jung! Ich blühe ja noch! und es kostet Euch keinen roten Heller! und 얍 tue alles was Euch gefällt / umsonst!! E RSTER Alles umsonst!! B

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

korrigiert aus: Einer korrigiert aus: Alles

Mach\t/ korrigiert aus: Alles korrigiert aus: G ILDQ korrigiert aus: Anderswo korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Alles

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SB Schmiede 1924, Bl. 62

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

G ILDA Nein!! Ich will noch nicht in den Sarg!! bin ja noch nicht verwelkt!! will noch leben --- leben --- Satan!! Z WEITER (hält ihr den Mund zu --- und) B EIDE (schleifen sie hinaus --- in den Wagen) (Der grosse schwarze Wagen fährt wieder lautlos fort --- verschwindet in den graugelben Nebeln --- ---) (Stille) L EHMANN (und der) F REMDE (sahen nicht was um sie vorging --- sahen nur sich) L EHMANN (unterdrückt --- leise) Bruder?! F REMDER (lächelt) Ja, Fürchtegott --- bin Kaspar, Dein Bruder ---: Kaspar Lehmann / das Kasperle --- erinnerst Du Dich? L EHMANN (nickt: ja) K ASPAR Was starrst Du mich so ---? hab ich mich so sehr verändert? Das ist wahr, zwischen dem Ladenschwengel Kaspar Lehmann mit den vielen Mitessern auf der Stirne und dem Kaspar Lehmann der vor Dir steht, liegen das Nordlicht und das Kreuz des Südens / liegen lange schon / zwischen dem ---: Was wünscht der Herr? was befiehlt die Dame? Etwas Käse / oder Knöpfe / Mayonnaise / oder Himbeersaft ---? (er steigt die Stufen empor --- steht nun vor Lehmann) Willst Du mir nicht die Hand reichen ---? --- kom-얍me ohne Hass zu Dir. L EHMANN Theater! K ASPAR Ich spiele nie! das weisst Du! ---: denn als alles Mitleid mit Dir hatte, schlug ich Dich! L EHMANN Wir haben uns gehasst --- weil einer der Stärkere war. K ASPAR Weil keiner wusste wer der Stärkere war! L EHMANN --- und jetzt steigst Du ohne Hass die Stufen zu mir empor / jetzt tu ich Dir leid --- --- willst Du den Stärkeren spielen ---? B EIDE (fixieren sich) (Stille) L EHMANN Warum starrst Du mich so an ---? K ASPAR (lächelt wieder leise) Du hast Dich nicht verändert --L EHMANN Kann ich mich verändern ---? kann ich schöner werden? auf Krücken ---? kann ich wachsen? auf Kinderbeinen ---? kann ich verzeihen, wenn ich nicht schlagen kann ---?! K ASPAR Niemand hat das Recht mir zu „verzeihen“! L EHMANN (sieht empor --- leise) Niemand --K ASPAR Komme zwar ohne Hass, aber niemals werde ich bereuen, was ich tat! Niemals!! --- --- denn: erinnerst Du Dich ---? ---: Alles verwöhnte Dich / Du bekamst eine Puppe, ich keine --- und dann hat Vater die Tändlerei und dies ganze Haus und alles , was da war, Dir vermacht. Nichts hast Du aus Kraft er-얍schafft! ---: sondern nur aus Mitleid! Ich wurde auf die Strasse geworfen! Weil Du nicht hinauskannst, musste ich hinaus! ---: weil Du der „Schwächere“ warst. In Wahrheit B N

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Absatz eingefügt korrigiert aus: Mayonaise korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Einer korrigiert aus: Keine korrigiert aus: Alles

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SB Schmiede 1924, Bl. 64

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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wurdest Du dadurch der Stärkere und ich der Lahme ---: ihr Mitleid saugte meine Kraft in Dich! Und als ich das klar sah, kurz nach Vaters Tode, da schlug ich Dich / musste schlagen! --- und alle nahmen Deine Partei / selbst Einfalt, mein bester Freund, sah über mich hinweg. Alles kreischte: wie furchtbar gemein, Dich, der sich nicht wehren kann, zu schlagen! Keiner sah, dass ich mich nur verteidigte! Einer muss immer hinaus! Und immer der Schwächere! ---! Du wuchst durch Mitleid! L EHMANN (hält sich die Ohren zu) Das kann ich nicht hören! K ASPAR Theater! L EHMANN Ich hasse das Mitleid! K ASPAR Dann hasse auch Dein Leben! denn wird es Dir versagt --- stürzt Du die Treppen herab! L EHMANN (bestürzt) Woher weisst Du das ---?! K ASPAR (grinst leise) Was denkst Du wohl ---? L EHMANN (dicht vor ihm) Du hast --K ASPAR Ja, ich habe --- und umsonst! L EHMANN Umsonst --- --- Und Ursula: Sag ihr nichts!! K ASPAR Für wen hältst Du mich? L EHMANN Für einen, der zu allem fähig ist! K ASPAR (lächelt) Ja, das ist auch nur eine Erkenntnis. 얍 L EHMANN (verzweifelt) Bitte, sag ihr nichts! hab Mitleid mit mir!! K ASPAR Mitleid ---? L EHMANN Bin nicht feig! aber bin doch nur ein Krüppel!! versteh es doch! K ASPAR Verstehe Dich --- aber auch mich! (Stille) L EHMANN (leise) Wollte zwar einst ein neues Leben beginnen / Liess alles neu anstreichen --K ASPAR (sieht sich um --- lächelt leise) Grün / grün / grün --L EHMANN (dumpf, leise) Ja, grün ist die Hoffnung --- aber das ist nur Anstrich. Darunter gähnt die Wand grau wie Dreck und darunter wieder die Ziegel rot wie Blut --- man müsste das ganze Haus niederreissen / aber was dann? ---: dann kommt der Winter mit dem Eis und wo soll man schlafen? Nur der eine versprach aufzubauen in drei Tagen --K ASPAR (grinst) „Versprach“! Und auch nur sein Haus --- niemals das unsere! L EHMANN Und alles was wir bauen ist aus Blut und Dreck! K ASPAR Aus was sollen wir denn bauen können?! L EHMANN Ja, wir stehen allein und haben Niemand --- (er reicht ihm seine Hand hin) Gib mir Deine Hand --K ASPAR Hier --- aber ohne Reue! L EHMANN Manchmal glaube ich schon, es muss so sein, dass die stark sein sollen, die andere schlagen. B

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korrigiert aus: Alle korrigiert aus: besster korrigiert aus: hälst korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Eine korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Anderen

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얍 K ASPAR Ja; denn sonst könnten sie doch nicht stark werden! Es muss so sein! Ich weiss, dass damals ein BanderesN meine Hand zur Faust Bballte,N nicht ich! Du zischtest mir nur ein Wort entgegen, ein so kleines Wort, dass ich es bereits längst vergass --- glaubst Du denn, dass nur dies Wörtchen meine Faust hätte erheben können? --- --- aber schlagen wir dann, dann krallt sich sofort etwas fest in uns und hält uns von Binnen herN einen Spiegel vor, der uns entgegenruft: Ihr tut unrecht! --- Und dann trachten wir wieder gut zu machen ---: bereuen / büssen für einen unbekannten Sünder, dessen Werkzeuge wir waren: Fürwahr; dies Werk, genannt Erde, ist teuflisch eingerichtet! würde ich jemals zu einem Gotte beten, ich würde ihn „Satan“ anrufen! Aber ich lasse mich nicht quälen!! bin doch nur Werkzeug! Habe Gericht gehalten über das Gewissen und der Spiegel zerfiel in millionen Scherben und ich habe mich zum Alleinherrscher ausgerufen --- denn nun hatte ich den Mut zur Macht! L EHMANN Ich höre Dir ging es immer gut. K ASPAR Mir geht es nicht gut, mir geht es nicht schlecht! L EHMANN Gib acht! ---: bekamst bisher umsonst und man bekommt nichts umsonst --- die Rechnung folgt! K ASPAR Soll ich bezahlen was ich nicht bestellte?! L EHMANN Aber Du lebst! 얍 K ASPAR Ja, ich lebe! und bin nicht gut und bin nicht schlecht! --- „seelisch leiden“ ---? --- bin doch nicht blöd! (er grinst) Und habe ich Hunger --- muss ich zu Fressen bekommen / wenn nicht heut, so morgen! Aber ich muss! ---: denn ich lebe, so lange ich nicht Schluss machen will! L EHMANN Muss! K ASPAR Ich will immer was ich muss! Diese Erkenntnis beugte mich unter mein Schicksal --- aber dadurch wurde ich Herr über mein Leben! L EHMANN (leise) Durch eine Verbeugung --K ASPAR --- voller Hohn --- zum Thron! L EHMANN Und jetzt steht Dein Leben unter den Schmeichlern / die verbeugen sich um den Thron --- voller Hohn --- --- Warum willst Du Dich selbst betrügen? K ASPAR Betrüge mich nie!! L EHMANN Still! Höre, wie schadenfroh Dein Untertan kichert, während er sich doch demütig bis zur Erde neigt --- aber selbst allein: nur sein Hohn gehört Dir / die Verbeugung dem Schicksal --- das unsichtbar und unnahbar hinter Dir steht. K ASPAR (hält sich die Ohren zu) Das kann ich nicht hören! L EHMANN Oder ---: musst Du Dich betrügen? Nimm Dich in Acht --- vor der Rechnung! ---: der Abrechnung! K ASPAR (grinst gewollt) Fürchtegott --(Stille) 얍 L EHMANN --- kann ich dafür, dass ich diesen Namen erhielt? Ein BjederN erhält einen Namen, Kasperle --- (er lächelt) K ASPAR (ist sehr ernst geworden) Ich heisse wie Vater, Du wie Grossvater --- --- Niemand kann dafür.

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anderesN ] ballte,N ] Binnen herN ] BjederN ] B B

korrigiert aus: Anderes

ballte[.]|,| korrigiert aus: innenher korrigiert aus: Jeder

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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L EHMANN Niemand --- Hüte Dich! Nicht nur Namen, auch Schicksale teilen sich, verdoppeln sich, vermehren sich --- und immer spielt einer die Rolle des anderen weiter --- ---: könntest Du Dich auch meinem Schicksale beugen ---? K ASPAR Weiss nicht / weiss nur: niemals werde ich Fürchtegott heissen! L EHMANN (lächelt) Kasperle --K ASPAR (zuckt zusammen --- sieht plötzlich in das Weite ---: als sehe er dort ein Bild --- sehr leise) Kasperle --L EHMANN (ist ernst geworden --- beobachtet ihn --- leise) Sag ---: warum eigentlich / kamst Du wieder ---? K ASPAR (sehr leise) ---: um Mutter zu sehen --- --- --- Ich wagte es nicht zu erwähnen --- aber jetzt sagtest Du: Kasperle, wie Mutter --- und ich sah mich: klein und ungezogen. --(Stille) L EHMANN (leise) Im November werden es vier Jahre --- im November, meint man, gehen die Tage immer nur durch 얍 den Abend / durch irgendeinen Abend --- --Sie schlief sanft ein --- ihr Tod war still wie ihr Leben --K ASPAR (sehr leise) Die Mutter --- (er senkt das Haupt) (Stille) L EHMANN Sie hätte Dich noch gerne gesehen, obwohl Du damals ohne Gruss gingst --- --- und sie trat oft hier heraus ---: glaubte Deine Schritte zu hören --- die Mutter --K ASPAR Manchmal hörte ich ihre Schritte --- Still! Hörst Du sie ---?! U RSULA (tritt aus der Wohnung --- will zu Lehmann sprechen --- erblickt Kaspar --stutzt) L EHMANN --- das ist Kaspar, mein Bruder / das Kasperle --- ich erzählte Dir von ihm --U RSULA (sieht Kaspar an) --- der Dir die Puppe nahm --L EHMANN (lächelt) Ja, die mir alles war: die ganze grosse Welt --- --- und das ist Ursula, mein --K ASPAR (sieht Ursula an) Wir sprachen uns schon. U RSULA Die Suppe steht am Tisch. L EHMANN (zu Kaspar) Weisst Du denn schon ---? K ASPAR (zu Lehmann) Alles! --- Du willst doch, dass ich nichts weiss --L EHMANN Ja: nichts! und alles --- --- Komm! D IE D REI (treten ein in Lehmanns Wohnung) B

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Ende des fünften Bildes.

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Sechstes Bild. Es ist Abend. U RSULA (oben --- beugt sich über das Treppengeländer: wartet) H AUSMEISTERIN (im Haustor --- schaut auf die Strasse) 2 2–3 28 34

einerN ] anderenN ] BallesN ] BallesN ] B B

korrigiert aus: Einer korrigiert aus: Anderen korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Alles

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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(Stille) K LEIN (mit der Geige unter dem Arme und seinem Bündel in der Hand steigt aus der Dachstube herab --- will auf die Strasse --- geht unhörbar grüssend an) U RSULA (vorbei --- die ihn aber nicht bemerkt) H AUSMEISTERIN (hört ihn kommen --- wendet sich ihm zu) Nun ---: was sagen Sie? K LEIN Ich fange allmählich an zu glauben, es spielt überhaupt keine Rolle was ich sage. U RSULA (oben --- wartet nicht mehr --- geht in ihre Wohnung) K LEIN Uebrigens: zu was soll ich mich denn äussern? H AUSMEISTERIN Na der Mord! K LEIN Ach so, der Mord. Nun ---: was kann man sagen, da man die Zusammenhänge doch nicht kennt. H AUSMEISTERIN Wenn man bedenkt, dass man mit solchem Gesindel unter demselben Dache --K LEIN Gross gesehen hausen wir alle ja nur unter einem Dach. H AUSMEISTERIN Würd mich bedanken! --- Neben diesen zweien ist ja selbst der Lehmann noch Gold! K LEIN Blech sind wir Alle --- nur höchstens: vergoldet. H AUSMEISTERIN (entrüstet) Erlauben Sie --얍 K LEIN (unterbricht sie) Erlauben Sie! Das weiss ich! H AUSMEISTERIN Was wissen denn schon Sie?! K LEIN Allerdings nur Tatsachen! Hören Sie! ---: es ist zwar schon lange her / da fand eine Hausmeisterin in den Kehrrichttonnen draussen im Hofe einen Ring / mit der Inschrift: und die Liebe höret nimmer auf --- einen Ring aus purem Golde --H AUSMEISTERIN (starrt ihn entsetzt an) K LEIN Weiter! ---: sie wusste gar wohl: das war einer armen Näherin Verlobungsring, die nur ein einziges Paar Schuhe besass / aber trotzdem gab sie ihn ihr nicht wieder, obwohl sie selbst ihn nie trug: aus Angst versteckte sie ihn am Abort --- und das Mädchen musste sich einen anderen Ring kaufen, aber das Geld langte nun nur mehr zu Blech, allerdings: vergoldet --- und der Bräutigam schwor zwar auf Gold / aber es war halt doch kein pures Gold mehr / und --H AUSMEISTERIN Es ist nicht wahr! Lüge!! K LEIN (sieht sich um) Still! --- --- Sehen Sie jetzt --- ---?: (er deutet auf die) URALTE J UNGFRAU (die eben von oben die Stufen herabsteigt) K LEIN (leise zur Hausmeisterin) --- die Braut --- wurde uralt und blieb Jungfrau / Fräulein Teresia Müller dritter Stock, links --URALTE J UNGFRAU (kam nun unten an) H AUSMEISTERIN (starrt sie an) URALTE J UNGFRAU (lächelt schwachsinnig --- nickt der Hausmeisterin zu --- zirpt) Wundern Sie sich, dass ich noch so 얍 spät hinaus ---? Nein, es ist nicht das Frühjahr, dass ich nicht schlafen kann, sondern heut hab ich dunkle Gedanken zu Besuch ---: hätt ich nur damals den Ring nicht verloren / alles wäre anders geworden / denn so konnt ich ihm doch nie mehr ganz in die Augen schauen und B

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alleN ] ] BallesN ] BihmN ] B

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korrigiert aus: Alle gestrichen: URALTE J UNGFRAU korrigiert aus: Alles korrigiert aus: ihn

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Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

da fing er an zu glauben, dass ich etwa mit einem anderen --- und hatte doch nichts / hatte nur Angst, weil der Ring Blech war. Und eines Tages sah er mir überhaupt nicht mehr in die Augen, obwohl er glaubte es sei Gold / und dann, noch später, hörte die Liebe auf / wegen einem Ringe mit der Inschrift: und die Liebe höret nimmer auf --- Jaja: er war ein eleganter Mensch, mein Herr Bräutigam, und trug bei jedem Wetter Lackhalbschuhe und reinseidene Socken: bei Sonne, Sturm und Schnee --- jaja: fast hiesse ich Frau Max Maria Lehmann --(sie lächelt wieder schwachsinnig) K LEIN (zuckt zusammen) URALTE J UNGFRAU (hebt den dürren Zeigefinger) Jaja: --- fast! (sie nickt wieder der Hausmeisterin zu und geht durch das Haustor) (Stille) K LEIN (lächelt geheimnisvoll --- leise) „Fast“ --- --- Wissen Sie, wer Max Maria Lehmann --- ? ---: der Ermordete. Dieser Zusammenhang! --- Und das von dem Ringe --H AUSMEISTERIN Nein, das ist nicht wahr!! K LEIN Doch! Denn das erzählte mir, da er noch lebte, Ihr Herr Gemahl / drüben beim grossen Wirt --얍 H AUSMEISTERIN Da war er besoffen! K LEIN Er war immer besoffen!! Aber Sie werden wohl wissen, warum ---: als er nämlich entdeckte, dass sein Weib den Ring unterschlug, da schlug er Sie! Und dann ging er hinüber zum grossen Wirt und soff / weil er vergessen wollte / alles vergessen wollte! Soff --- bis in den Sarg / bis der Wagen vorfuhr! --- Sie haben einen goldenen Ring gestohlen, und trotzdem kam keine Polizei, aber Sie haben Ihren Mann verloren. Nichts bekommt man umsonst! (Stille) H AUSMEISTERIN (gebrochen, dumpf) Ja, nichts ---: das ist wahr. Sie verlor den ihren, ich den meinen ---: weil ich den Ring behielt. K LEIN Oder: weil sie ihn verlor. H AUSMEISTERIN Man müsste den Ring zurückgeben --K LEIN Zu spät! H AUSMEISTERIN Trotzdem würd ich den Ring zurückgeben --- wenn ich ihn nur noch hätte. Aber ich hab ihn / kurz, nachdem ihn mein Mann entdeckte / in den Ausguss fallen lassen / zufällig --K LEIN (lächelt wieder geheimnisvoll) „Zufällig“ ---! Möglich. Aber ich glaube: weil er wohl seine Rolle hier zu Ende spielte / vorläufig zu Ende spielte --- und er konnte um so mehr beruhigt mit dem Dreck nach dem Flusse fliessen, da er ja doch bereits auch einen Vertreter hatte: Einer aus Blech spielte seine Rolle weiter, als wäre er der aus Gold. Manchmal scheint es schon ganz gleichgültig zu sein, ob echt oder 얍 falsch --- und, vielleicht, hat den Verlorenen schon wieder jemand gefunden: „zufällig“ / sicher spielt er schon wieder irgendeine Rolle / vielleicht wird nun er für Blech gehalten / vielleicht, liegt gar schon jemand erschlagen --Sehen Sie / vielleicht: wenn Sie „Gilda“ hiessen, hätten Sie auch einen RaubB

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anderenN ] allesN ] B N] BjemandN ] BjemandN ] B B

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korrigiert aus: Anderen korrigiert aus: Alles gestrichen: K LEIN korrigiert aus: Jemand korrigiert aus: Jemand

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SB Schmiede 1924, Bl. 74

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

mord --- Wie kann man wagen zu urteilen, da doch keiner dafür kann, wie er heisst! H AUSMEISTERIN (tonlos) Niemand kann dafür. U RSULA (tritt aus ihrer Wohnung --- beugt sich wieder über das Treppengeländer: wartet) DIE Z WEI (unten --- hörten ihr Kommen --- schweigen) (Stille) K LEIN Vergessen wir! H AUSMEISTERIN Kann nicht vergessen / jetzt --K LEIN Dann reden wir von etwas anderem! Wollen uns doch nicht streiten, jetzt, wo ich gehe --H AUSMEISTERIN Gehen? K LEIN Sie wissen doch: kann die Miete nicht bezahlen / und: nichts bekommt man umsonst. H AUSMEISTERIN Ja, ich vergass. K LEIN Hätte bereits vor drei Tagen ausziehen sollen / aber da geschah etwas, das ein Wunder sein könnte ---: der Lehmann hat mir zugehört / allerdings nicht lange: erkaufte mir drei Tage Dachstube um einen halben Hochzeitsmarsch. Aber nun gingen auch die drei Tage vorbei / alles geht vorbei --- und nun steh ich wieder da mit meiner Geige und dem Bündel, wie vor drei Tagen / auf dem gleichen 얍 Fleck / nur die Zeit hat sich geändert. Aber, vielleicht, ändert sich doch auch mal mein Leben, wenn ich gehe. Wer weiss, vielleicht liegt schon an der nächsten Ecke eine Zitronenschale --H AUSMEISTERIN (begreift nicht) Zitronenschale ---? U RSULA (oben --- wartet nun wieder nicht mehr --- geht in ihre Wohnung zurück) K LEIN (lächelt leise) Ja --- und ein Herr biegt rasch um die Ecke und gleitet über sie aus und fällt / ich hob ihn auf, wie damals seine Krücken, und dann erkenn ich ihn den Intendanten der gesamten Opernhäuser der Welt --- und dann, am nächsten Tage, hören mir Millionen zu / und es war doch nur eine Zitronenschale. H AUSMEISTERIN Das ist verrückt! K LEIN Sagen Sie das nicht! --- vielleicht ist es auch ein goldener Ring --- --- Was ist nicht verrückt? K ELLNERIN (tritt durch das Haustor ein --- sie ist genau so gekleidet, wie Gilda, als sie auf den Strich ging und sie scheint ihr nun sogar etwas ähnlich zu sehen --- sie bleibt stehen --- wird fast unsicher, da) K LEIN (und die) H AUSMEISTERIN (sie überrascht anstarren) (Stille) H AUSMEISTERIN Himmel!! Jetzt dacht ich, Sie wären die Gilda --K ELLNERIN Ich heisse ja auch Gilda. H AUSMEISTERIN Nein, nein --- Sie sind aber nicht die Gilda / wenn Sie auch das gleiche Kleid anhaben / ich kenne Sie: 얍 waren hier die Kellnerin --K ELLNERIN Das hab ich schon fast vergessen! H AUSMEISTERIN Jetzt bin ich aber erschrocken! B

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keinerN ] allesN ] B N] B N] B B

korrigiert aus: Keiner korrigiert aus: Alles gestrichen: K LEIN gestrichen: H AUSMEISTERIN

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

K ELLNERIN Warum? H AUSMEISTERIN Diese Aehnlichkeit --K ELLNERIN Was ist denn mit der Gilda? H AUSMEISTERIN Die Polizei kam --K ELLNERIN Es gibt doch eine Gerechtigkeit!! K LEIN Warum? Weil es eben in Ihren Kram passt? Jetzt freuen Sie sich und im nächsten Augenblick fluchen Sie vielleicht wieder! K ELLNERIN (hört ihn garnicht --- zur Hausmeisterin) Weshalb sitzt sie nur? H AUSMEISTERIN Vielleicht hängt sie schon! ---: Raubmord. (Stille) K ELLNERIN Wie alles zusammenhängt! Eben fluchte ich noch, weil ich plötzlich ohne eigentlicher Ursache Durst bekam / war auf einmal ganz ausgedörrt, als säss ich mitten in der Sahara --- und wollte nun hier nur rasch einen Krug Bier --Phänomenal! Denn wissen Sie ich suche eine Wohnung und vielleicht kann ich nun gleich in die ihre einziehen --- (sie deutet auf Gildas Wohnung) B ETRUNKENER (reisst die Schenktüre auf und tritt torkelnd aus dem Café in das Treppenhaus --- er sieht Wladimir sehr ähnlich) DIE D REI (wenden sich ihm zu) K ELLNERIN (unterdrückt) Wladimir! K LEIN Das ist ja gar nicht der Wladimir --얍 B ETRUNKENER (lallt) Ich / finde den / Ort nicht --- wo kann man --H AUSMEISTERIN (deutet auf den Hof) B ETRUNKENER Danke! --- Nicht mehr nötig. K ELLNERIN (lacht laut auf) B ETRUNKENER Wer von den Damen hat hier so melodisch gelacht? (er nähert sich taumelnd der Hausmeisterin) Sie, Geliebte ---? (er fasst nach ihr) H AUSMEISTERIN (wehrt ihn ab) Lassen Sie das! Sie Besoffener --B ETRUNKENER Das geht Dich einen Dreck an! Halt Dein Maul --- sonst ---! (er hebt die Faust) H AUSMEISTERIN (kreischt) Unterstehe Dich!! B ETRUNKENER Wer will mich hindern?! Niemand kann meine Faust halten, wenn ich will!! Niemand!! K LEIN (lächelt) H AUSMEISTERIN (flieht in den Hof) B ETRUNKENER (wendet sich Klein zu) Sie, meine Dame ---? (er nähert sich ihm) K LEIN Ich bin doch keine Dame! B ETRUNKENER Ich will auch keine Dame! ich will eine Hur!! Heut hab ich Geld wie Mist! und das kam so: --- ich habe eines Raubmörders Schlupfwinkel entdeckt / ganz zufällig / und habe seine Festnahme erwirkt / beim Morgengrauen --- und nun hab ich schon sieben Liter Bier in mir. (er grinst) K ELLNERIN (hat sich ihm genähert) B ETRUNKENER Dein Vorname? K ELLNERIN Gilda. B ETRUNKENER Schön. Geboren? Beruf? Religion? B

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allesN ] einenN ] Bgleich inN ] BCaféN ] B B

korrigiert aus: Alles korrigiert aus: ein

gleich\ /in korrigiert aus: Kaffee

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K ELLNERIN Komm! wir wollen tanzen! 얍 B ETRUNKENER Schön! Musik! Gold für Musik! Wer spielt?! Niemand!! K ELLNERIN (deutet auf Klein) Der da! B ETRUNKENER (zu Klein) Aber es soll eine Melodie sein, die man nie vergisst! K LEIN (verbeugt sich) B ETRUNKENER (zur Kellnerin --- leise) Und, wenn ich kein Geld mehr habe --komm ich zu Dir! (er grinst) K ELLNERIN (starrt ihn an --- nickt: ja, fast wie unter einem fremden Zwang --- leise) Dein Vorname? B ETRUNKENER Wladimir --- doch noch nicht: Raubmörder. Aber was nicht ist, kann noch werden --- (er grinst wieder) Also: wenn mir die Kellnerin da drinnen nichts mehr leiht, komm ich zu Dir --- --- Kommt! DIE D REI (treten durch die Schenktüre in das Café zum grossen Wirt) (Das Treppenhaus bleibt eine Zeitlang leer --- dann tritt) U RSULA (wieder aus ihrer Wohnung --- beugt sich wieder über das Treppengeländer: wartet) (Stille) L EHMANN (auf den Krücken --- mit der Binde um der Stirne --- erscheint in seiner Türe) Noch immer nicht gekommen? U RSULA (ohne ihn anzusehen --- nickt: nein) Nein. Aber bald muss er kommen ---: wollte doch nur seine Sachen hierherbringen / da er nun bei uns wohnen wird. L EHMANN (wie zu sich selbst) Er wollte aber nicht bei uns wohnen. U RSULA (wendet sich ihm ruckartig zu) Willst Du Deinen Bruder weiter im Wartesaal schlafen lassen ---? L EHMANN Nein, das will ich nicht. 얍 U RSULA Also --D IE BEIDEN (wechseln Blicke) (Es dämmert) U RSULA (beugt sich wieder über das Treppengeländer: wartet weiter auf Kaspar) L EHMANN (streicht sich mit der Hand über die Stirne) Ich glaube mein Schädel wurde ein Kessel, den bald der Dampf zersprengt / wie er braust und saust ---: Wie der alte Kastanienbaum --- ja, das ist diese Frühlingsluft, die alles erblühen lässt --aber mir säuselt sie nur Schmerzen in die Schläfen / diese Schwüle --- --- Wieder ein Tag vorbei --- ich gehe zu Bett --- (er will zurück in die Wohnung) U RSULA Da ist er! L EHMANN (bleibt stehen) K ASPAR (trat durch das offene Haustor ein --- mit einem kleinen Bündel in der Hand --- steigt die Stufen empor) U RSULA Guten Abend, Kaspar! Endlich! K ASPAR Guten Abend! U RSULA (nimmt ihm das Paket ab) Gib her --K ASPAR (lächelt) Mein „Alles“ --- (zu Lehmann) Guten Abend, Bruder --- habe Dich gleich gar nicht gesehen! B

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

kommN ] dasN ] BCaféN ] BD IE BEIDEN N ] BallesN ] B B

komm[t] [c]|d|as korrigiert aus: Kaffee korrigiert aus: DIE B EIDEN korrigiert aus: Alles

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Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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L EHMANN (lächelt leise --- verbeugt sich leicht) K ASPAR Hier ist so dunkel / draussen wird es zwar auch bald Nacht, aber hier blendet einen die Finsternis --L EHMANN (lächelt leise) Ja, draussen --U RSULA (zu Lehmann) Er muss noch ein Kissen haben, sonst liegt er so schlecht am Sofa --- gib mir das Deine / meines gab ich schon her --얍 K ASPAR Es ist schon gut so. U RSULA Nein / wenn man so tief liegt, steigt einem das ganze Blut in den Kopf --und das bringt Kopfschmerzen --L EHMANN Ich kann es Dir nicht geben --- ich habe Kopfschmerzen. K ASPAR Ich bekomme keine Kopfschmerzen. U RSULA Doch! (zu Lehmann) --- Du liegst auch gut ohne --L EHMANN (scharf) Ich liege nicht gut ohne ---! U RSULA --- dann nimm ich es mir! K ASPAR Ursula! --- ich brauch es nicht! U RSULA Doch! (sie eilt in die Wohnung) L EHMANN (und) K ASPAR (sehen sich an) L EHMANN (lächelt leise --- verbeugt sich vor Kaspar) Sieh: ich verbeuge mich vor Dir --- (er humpelt in die Wohnung) K ASPAR (allein --- starrt ihm nach) U RSULA (erscheint in der Türe) K ASPAR (starrt sie an) U RSULA Komm! --- nun wirst Du gut träumen können. K ASPAR Ich träume nie. (Stille) U RSULA (langsam, sehr leise) Bist Du / böse / auf mich ---? K ASPAR --- Nein. Aber ---: das war nicht gut von Dir. U RSULA Wollte doch nur Dir Gutes. DIE Z WEI (sehen sich an) K ASPAR (sehr leise: wie zu sich selbst) Wollte nicht wiederkommen / und werde auch wieder gehen --- das, glaube ich, ist unser Bestes. 얍 U RSULA Warum gehst Du dann nicht ---? K ASPAR (sieht sie an --- wird unsicher --- lächelt verlegen) Weil --- --- Wie Du schauen kannst! U RSULA Wie ---? K ASPAR (weicht aus) So --- --- Weiss nicht wie --(Stille) K ASPAR (langsam, leise) Warum gehst Du nicht schlafen? U RSULA Ich kann nicht schlafen --- wenn draussen die Nacht so blau und lau / die Leute lassen all die Fenster offen / weiss nicht, wie mir ist ---: bin nicht müde und möchte doch immer liegen --- aber bin nicht müde --- --- (sie lehnt sich an die Wand --- starrt empor --- Stille) Denke jetzt, ich könnte durch die Decke gehen ---: im zweiten Stock wohnt der fette Herr Huber / im dritten die uralte Jungfrau mit der spitzen Nase: Fräulein Teresia Müller / und unter dem Dachstuhl haust der Herr Klein / hauste --- gestern noch ging er an mir vorbei mit einer grossen Frau --- --- das Zimmer muss gerade über mir sein und es soll so eng sein, dass eigentlich nur ein Bett Platz haben kann --- ---

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SB Schmiede 1924, Bl. 81

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

(Stille --- dann flammt das Licht auf) U RSULA (schaut in die Flamme) Das Licht --- --- Warum starrst Du mich so an ---? K ASPAR (fängt an unruhig hin und her zu gehen) (Stille) U RSULA (erinnert sich ---: wie zu sich selbst) Lösch das Licht aus --K ASPAR (bleibt plötzlich stehen --- fixiert sie) Was heisst 얍 das? U RSULA (lächelt geheimnisvoll) Nichts. --- Nur eine Erinnerung. K ASPAR (geht wieder hin und her) (Stille) U RSULA (sieht empor) Graugelb war der Tag, aber am Abend kam die Sonne --Weisst Du: am liebsten möchte ich eine Wolke sein und über dies Haus hinwegziehen / über alle Häuser hinwegziehen / die ganze Nacht hindurchziehen / unter den vielen weissen Sternen --- und dann, wenn die Sonne aufsteht, dann weit fort sein / über fremden Ländern, wo der Himmel und die Meere dunkler erblühen --- --- Vielleicht war ich schon einmal weit fort, weil ich mich so sehr danach sehne --- vielleicht war ich schon einmal eine Lieblingsfrau / sass an silbernen Fontänen, von denen Du mir heute nach Tisch erzähltest --- Sag: was ist das ---: ein Eunuche? (Stille) U RSULA --- Hast Du mir nichts mehr zu sagen? K ASPAR Nichts. (Stille) U RSULA Glaubst Du, dass die Sehnsucht so stark sein kann, dass sie töten könnte ---? K ASPAR (bleibt wieder ruckartig stehen --- scharf) Was sprichst Du da? U RSULA (lächelt) Das weiss ich nicht --K ASPAR Hüte Dich! U RSULA Warum? K ASPAR Das ist Hexerei! (er geht wieder hin und her) 얍 U RSULA --- Es gibt doch keine Hexen mehr. K ASPAR Man braucht keine Hexe zu sein um hexen zu können. (Stille) U RSULA (plötzlich) Geh nicht immer so hin und her! K ASPAR (zuckt zusammen --- bleibt ruckartig stehen) U RSULA Warum gehst Du immer hin und her?! K ASPAR (starrt sie an) Weil ich nicht schlafen kann --U RSULA (leise) Du auch nicht? --- Warum ---? K ASPAR Frag mich nicht immer! (er geht wieder hin und her ---Stille) U RSULA (leise) Ich dachte nur ---: Du musst doch wissen --K ASPAR Nein, ich weiss nichts! Aber Du scheinst zu wissen. U RSULA Nein. Ich frag Dich ja. (Stille) K ASPAR (immer hin und her) --- nicht schlafen / nicht träumen können --- immer nur hin und her / her und hin --- warum? Kann ich antworten, wenn ich selbst fragen muss? Kann man überhaupt antworten ---? --- --- Ich habe einmal meinen Bruder geschlagen --B N

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U RSULA Hast Du das? K ASPAR (dicht vor ihr --- fixiert sie) --- freut denn Dich das? --U RSULA --- weiss nicht ---: denn ich weiss: er wird mich sicher mal schlagen --K ASPAR Schlagen ---? Bist Du irr?! U RSULA Er ist irr! K ASPAR Schlagen? ---: auf Krücken? (er lächelt) U RSULA Mit Krücken! --- und ich kann doch nicht sein Weib werden! K ASPAR Bist doch sein Weib! 얍 U RSULA Ja, Frau Ursula Lehmann --- Aber ich bin es nicht / heisse nur so. K ASPAR Nur Dein Name! --- Jetzt sehe ich wieder alles anders --U RSULA Alles richtig! K ASPAR Vielleicht --(Stille) U RSULA (sehr leise) Kann mich nicht loslösen von der Wirklichkeit / stecke zu tief in Erde / sehe immer nur seine Beine / die Kinderbeine --- Mich beherrscht mein Fleisch. (in dem Café zum grossen Wirt spielt nun Klein Tanzmusik) DIE Z WEI (lauschen) K ASPAR Es wird getanzt --U RSULA Drunten / beim grossen Wirt --K ASPAR Habe lange nicht mehr getanzt. U RSULA Habe noch nie getanzt. K ASPAR (geht wieder hin und her) Jetzt ist es ganz aus mit dem Schlafen --U RSULA Habe hier noch nie recht geschlafen / in solcher Luft --K ASPAR Ja, diese Luft --U RSULA Und ist auch keine Tanzmusik unten / und fährt auch kein Wagen durch die Strassen / ist auch alles still geworden --- dann hör ich all das alte Gerümpel atmen / und dann hab ich böse Geister zu Besuch / sie kauern am Bettrand und küssen meine Gurgel --- und ich träume wie ein Gefangener, der beim Morgengrauen hingerichtet wird --- und sich fortsehnt --- --- Ginge so gerne hinunter zum grossen Wirt ---: tanzen lernen! K ASPAR (hält wieder dicht vor ihr) Ich habe einmal meinen Bruder geschlagen --U RSULA --- und hast gefragt ob ich mich freue. (Stille) 얍 K ASPAR (sehr leise) --- wenn er erwacht ---? U RSULA Er wird nicht erwachen! K ASPAR (starrt sie an) Wie Du das sagst! U RSULA Wie ---? K ASPAR Als wüsstest Dus sicher! ---: dass er nicht mehr erwacht --- nie mehr erwacht --- --- Doch was kümmert das mich?! Ich lasse mich nicht quälen!! ---: Komm! (er eilt mit ihr die Stufen hinab --- in das Café zum grossen Wirt) B

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Kaffee gestrichen: es korrigiert aus: micht korrigiert aus: Kaffee

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SB Schmiede 1924, Bl. 85

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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(Die Bühne ist leer – Klein spielt nun im Café zum grossen Wirt den Hochzeitsmarsch – man hört die Gäste gröhlen und lachen.) B

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Siebentes Bild.

SB Schmiede 1924, Bl. 86

Mitternacht. Aus dem Café zum grossen Wirt tönt noch immerwährend Kleins Tanzmusik. Die Lampen erloschen schon lange und nun steht in dem Treppenhause ein mattes Zwielicht --- von irgendwoher. L EHMANN (allein auf seinen Krücken --- humpelt in einem langen weissen Hemde oben hin und her --- bleibt stehen und lauscht den Tanzweisen --- versucht einen Tanzschritt, zerknickt jedoch fast --- grinst irr) Muss tanzen lernen --- tanzen lernen --- (er summt die Melodie nach) (Stille) U RSULA (und) K ASPAR (rasch durch die Schenktüre herein --- angeheitert --- bemerken nicht) L EHMANN (der oben stehen blieb und nun horcht) U RSULA (will die Stufen empor --- jedoch) K ASPAR (ergreift ihren Arm) Bleib!!! U RSULA (will sich losreissen --- unterdrückt) Still! ---: er hört selbst Gott grinsen --K ASPAR (grinst) Lass ihn grinsen! --- ich will noch tanzen! U RSULA Torkelst ja! K ASPAR Hab doch nichts getrunken! U RSULA Das viele Bier! ---: war das „nichts“? K ASPAR Bezahlt hab ich nichts! Aber es folgt noch die Abrechnung --- (er grinst) Frag mich jetzt nicht! Will nicht antworten müssen, will überhaupt nicht mehr antworten müssen! Will keine Fragen mehr hören, will nur Trompeten hören --und tanzen! U RSULA Bringst ja die Beine kaum auseinander! K ASPAR Bringst denn Du sie auseinander ---? Bleib! --- Vielleicht / 얍 jetzt möcht ich ein Wettrennen zum Monde veranstalten! Quer durch das Weltall! --- (er fährt sich mit der Hand über die Stirne) Weiss nicht ---: was ist denn heut für eine Nacht?! U RSULA Still! ---: Walpurgisnacht! K ASPAR Da reitet des Teufels Geliebte auf dem Besenstiel ---! U RSULA Ja, reitet! K ASPAR Willst wohl auch seine Geliebte sein ---?! --- Würdest Du dann reiten, würd ich auf dieser dreckigen Erde unter Dir mit Dir mitlaufen / wohin immer ---: denn ich will in den Himmel schauen! (er presst sie an sich) U RSULA Lass mich ---! Lass! B

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korrigiert aus: Kaffee korrigiert aus: Kaffee Absatz getilgt gestrichen: K ASPAR

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SB Schmiede 1924, Bl. 87

Endfassung Niemand

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NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

K ASPAR Reiten!! (er beisst in ihren Hals) U RSULA (reisst ihn an den Haaren) Nicht --- nicht ---! K ASPAR (presst sie noch fester an sich --- lächelt) Wie bist Du stark Ursula --U RSULA (wehrt sich plötzlich nicht mehr --- sieht ihn an --- lässt die Arme sinken ---) (Unten im Treppenhause zerfliesst alles in Finsternis) L EHMANN (oben --- stiert lange in die Dunkelheit --- horcht --- windet sich --- grinst irr und wird wieder sofort sehr ernst --- klopft mit der Krücke auf den Holzboden) Licht! (Unten teilt sich die Finsternis) U RSULA (und) K ASPAR (fahren auseinander --- starren ihn an) (Die Tanzmusik verstummt --- --- Tiefe Stille) L EHMANN (äusserst freundlich) Licht, Frau Lehmann --- Warum starren Sie mich so an, Herr Lehmann? Kennt Ihr mich denn nicht mehr? Habt Ihr mich schon vergessen? ---: und der Wagen fuhr ja noch gar nicht vor ---: zwar dies Hemd ist wie ein Totenhemd / aber ist 얍 nur mein Nachthemd / war mein Brauthemd --- (er grinst) Haben Sie viel getanzt, Frau Lehmann? --- Treten Sie doch ein, meine Herrschaften! ---: man feiert seine Brautnacht doch nicht in einem Treppenhause --- Treten Sie nur ein! --- und spielen Sie meine Rolle weiter, Herr Lehmann --- --- Ich heisse auch Lehmann, aber Fürchtegott Lehmann --- (er lädt die beiden mit einer tiefen Verbeugung ein einzutreten) U RSULA (und) K ASPAR (sehen sich an und steigen dann langsam die Stufen empor) L EHMANN (sehr leise) Und: verzeihen Sie: wollte nicht horchen, aber ich habe wohl zu lange schweigen müssen und da verfeinert sich das Gehör --- und die Wände hier sind dünn gebaut / wollte einschlafen, aber man hört selbst das kleinste Wort: wäre es fast auch ohne Leut --- Verzeihen Sie --- (er verbeugt sich wieder tief vor den) B EIDEN (die nun oben angelangt sind) U RSULA (sehr leise) --- fast ohne Leut ---: dann musst Du mich verstehen --L EHMANN (grinst irr) Verstehe Niemand --U RSULA (entsetzt --- zu Kaspar) Warum lacht er jetzt wieder so ---?! L EHMANN (wird plötzlich wieder sehr ernst) Lachen ---? Glaubst Du, dass man lachen kann, wenn man leben muss? U RSULA (sieht ihn starr an --- langsam, leise) Niemand zwingt Dich zu leben --K ASPAR (zu Ursula) Hüte Dich!! L EHMANN Ja ---: wer zwingt mich zu leben? Niemand!! --- Ich will / Dich ---!! (er hebt seine Krücken drohend gegen den Himmel --- aber sie fallen hinab bis unten in das Treppenhaus, als hätte sie ihm jemand aus den Händen geschlagen --- er krallt sich in 얍 das Geländer und röchelt) U RSULA (schreit gellend auf) B

N

B N

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B

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B

B N

5 16 21 21 39 40

allesN ] ] BbeidenN ] BeinN ] BjemandN ] B N] B

B N

SB Schmiede 1924, Bl. 88

N

B

40

Lesetext

korrigiert aus: Alles gestrichen: L EHMANN korrigiert aus: Beiden eingefügt korrigiert aus: Jemand gestrichen: L EHMANN

125

N

SB Schmiede 1924, Bl. 89

Endfassung Niemand

10

N

B

15

20

Lesetext

(Unten im Café spielt nun Klein wieder: es ist dieselbe Weise, die am Morgen die Drehorgel spielte) L EHMANN (horcht --- grinst irr) Die Drehorgel!! Hin und her --- Nein! Muss doch noch tanzen lernen! Bin doch noch jung! Habe noch all meine Zähne / Sehnen und Muskeln / und Haare und --- Alles ist da! und bin stark! ---: nur meine Beine sind tot / ich lebe! (er summt irr die Melodie nach) Lebe!! --- Noch ist mein Brauthemd nicht vermodert / noch stosst mich der Sensenmann nicht auf die Bahre / noch hab ich Zeit alle Tänze zu erlernen! (er fasst sich ans Herz und stöhnt) Gestern ---: bin ich sogar über die Treppen --- und fast wäre ich nun wieder hinuntergerasselt / und die Wunde ist doch noch nicht mal verheilt. Jaja: aber gestern war es die Hur und nicht Sie, werter Herr Niemand --- --- aber ich kann es nicht glauben, dass, wenn Sie nicht so grausam wären, die Hur hier gewesen wäre / doch: es ist wahr: Sie liessen mir von einer Kellnerin die Krücken reichen, aber nur um sie mir nicht mal vierundzwanzig Stunden später wieder aus den Händen schlagen zu können --- Oh, Sie sind die Güte! (er grinst) Pfui! wie feig Sie sind, verehrtester Herr Niemand: Jakob hat auch nur mit dem Engel gerungen und nicht mit Ihnen / Sie sind ewig unnahbar, unsichtbar / haben es sich sehr bequem eingerichtet: Sie sind nichts! --- Nichts! ---: Niemand --- Stehen immer nur im Hinterhalt und blasen einem meuchlings winzige Falter ins Gesicht / Falter, die in dieser Luft zu Drachen wachsen und uns zerfleischen --- oder zerbrechen einen Krug dessen Scherben unser Leben werden --- und werfen ein Korn Gold in den Topf voll Erde und rütteln den Brei und grinsen dazu --- --- Jaja: und die Liebe höret 얍 nimmer auf / denn, sonst würden Ihre Witze aussterben --- (seine Stimme ward immer schwächer und er schrumpft zusammen) U RSULA (zu Kaspar --- entsetzt) Er stirbt!! L EHMANN (zu den beiden ) Warten! Warten! --- wenn Ihr meint, ich werde immer nur hier hocken / in diesem Treppenhause / und immer nur sehen, wie alle an einem vorbeigehen --- so irrt Ihr Euch! Gewaltig!! Und ich will auch noch nicht in die Grube --- Muss nur noch lernen, dann kann ich auch tanzen / nur Geduld --- Warten! (er stöhnt und wimmert) --- Geduld bringt Rosen / aber ich bekomme immer nur Dornen / meine Stirne blutet / die Dornenkrone --- Habt Mitleid mit mir ---: bin doch nur ein armer Krüppel und Niemand hat Mitleid mit mir / Niemand --hört Ihr? ---: darf nicht hoffen, muss verzweifeln / und alles , was ich ersehne, wird was ich hasse, wenn es in meinen Schoss gefallen ---: hässlich das Schöne / böse das Gute / Gold wird Blech / Liebe Mitleid --- (er schreit) Behaltet Euer Mitleid!! Ich will verrecken ---!! (er ist zusammengerochen --- wimmert am Boden: leise) U RSULA (verzweifelt --- zu Kaspar) Hilf ihm doch!! K ASPAR (starr --- tonlos) Kann nicht --- Hilf ihm Du --U RSULA Kann nicht ---!! Das ist furchtbar!! --- Hilf mir, Du bist doch der Stärkere! K ASPAR Niemand ist der Stärkere!! B

5

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

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B N

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B

N

B

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1 11 23 26 27 33

CaféN ] werterN ] B N] BbeidenN ] BalleN ] BallesN ] B B

korrigiert aus: Kaffee korrigiert aus: wehrter gestrichen: L EHMANN korrigiert aus: Beiden korrigiert aus: Alle korrigiert aus: Alles

126

N

N

SB Schmiede 1924, Bl. 90

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

L EHMANN (am Boden --- richtet sich mühsam auf --- sehr leise: als würde ein anderer aus ihm sprechen) Niemand hilft --- --- darf nicht sterben --- Gebt mir / hört Ihr mich ---? bitte, gebt mir meine Krücken wieder --- bitte, bitte --- dann kann ich tanzen --- --- --- (er stirbt) (Die Tanzmusik verstummt --- Tiefe Stille ) K ASPAR Ich höre einen Sarg zimmern und morgen fährt der Wagen vor / und 얍 übermorgen übermal ich das Firmenschild: Fürchtegott Lehmanns Nachfolger ---: ja: immer spielt einer des anderen Rolle weiter. Wehe uns. U RSULA Sieh: er sieht mich an ---! K ASPAR Still! (Stille) U RSULA (tonlos) Nun nahm ihm sein Tod die Krücken ab und nun kann er überall hin / und immer neben mir / kann nicht mehr fort von hier / wo ich auch bin --- bin hier! Immer! K ASPAR Immer --U RSULA Schau: jetzt grinst er!! K ASPAR Niemand grinst! U RSULA (verzweifelt) Das werd ich nimmer vergessen können --- Ich stürz mich hinab!! (sie will sich über das Treppengeländer hinabstürzen) K ASPAR (ergreift ihren Arm) Bleib!! U RSULA Das hast Du mir heut schon mal gesagt! und habe gefolgt und --K ASPAR --- und?! ---: haben noch nicht bezahlt! U RSULA (will sich losreissen) Lass mich los!! Lass --- das halt ich nicht aus!! K ASPAR Musst aushalten!! --- Still! Hörst Du? ---: jetzt kommt der grosse Wirt mit der Rechnung / für das Bier --- der Abrechnung. GROSSER W IRT (mit der Rechnung --- erscheint in der Schenktüre --- will zu Lehmanns --- bleibt aber noch in der Türe stehen: als würde er einer Musik lauschen --- lächelt leise und verschwindet wieder) U RSULA (hält die Hände vor das Gesicht) K ASPAR (folgte ihm mit den Blicken) (Stille) U RSULA (nimmt langsam die Hände vom Gesicht --- leise) Hat er gesehen ---? 얍 K ASPAR Nein! Aber ich habe gesehen, dass er lauschte: als hörte er Musik oben --U RSULA (sieht scheu empor --- sehr leise) Niemand spielt --K ASPAR Niemand --- ---: Ja: es schien nur eine Erinnerung in ihm entfacht worden zu sein / vielleicht: an einen einst gehörten Hochzeitsmarsch --- und er ging wieder. U RSULA (zu sich selbst als wäre nun in ihr eine Erinnerung erwacht) Die Galgenfrist. K ASPAR Ja: er wird wiederkommen / vielleicht: schon morgen / doch nein: ---: nicht stören will er die Flitterwochen --- (er lächelt geheimnisvoll) B

N

B

5

B

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1–2 3 5 6 6 8 8 37

andererN ] bitte ---N ] BStilleN ] BzimmernN ] B N] BeinerN ] BanderenN ] BselbstN ] B B

N

N

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B

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B N

SB Schmiede 1924, Bl. 91

N

N

korrigiert aus: Anderer korrigiert aus: bitte---korrigiert aus: Stulle korrigiert aus: zimmer gestrichen: K ASPAR korrigiert aus: Einer korrigiert aus: Anderen

selbst[)]

127

SB Schmiede 1924, Bl. 92

Endfassung Niemand

5

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Lesetext

U RSULA Er kehrte um / um morgen wieder anzuklopfen. K ASPAR Und morgen kann leicht bezahlen: Fürchtegott Lehmanns Nachfolger. (er grinst) Das heisst: sich trösten. (Stille) U RSULA (gebrochen) Wessen Erbschaft trag denn nur ich? K ASPAR So hörte ich einmal Mutter fragen, da sie meinte, sie sei mit Vater allein --als einst mein Bruder weinte, weil er hier nicht so herumspringen konnte / herauf und hinab / wie all die anderen Kinder. U RSULA Das hat er mir einmal erzählt. K ASPAR Das hat er nur Mutter erzählt. (Stille) U RSULA Hast Du gesehen ---: er hat die Krücken nicht fallen lassen --K ASPAR (nickt: ja) Sie wurden ihm aus den Händen geschlagen. U RSULA (verzweifelt) Ich rief seinen Tod!! K ASPAR Nein!! Nicht Du! --- Du trägst es nur in Dir ---: unser Kind. U RSULA (starrt ihn entsetzt an --- will schreien --- kann nicht --- senkt das Haupt --tonlos) Weh mir. 얍 K ASPAR Weh uns. Alles wiederholt sich / und immer wiederholt sich / und dieser Zusammenhang! als liefen alle Rollen nur in einem Kreise um einen Punkt! als wäre alles nur Eines! Ein Kern in unzählbaren Formen / in lauter kurzsichtigen Formen, denen obendrein noch Scheuklappen angezüchtet werden ---: sehen nicht rückwärts, nicht seitwärts, höchstens vorwärts / aber auch nicht weit: nur sieh! Verurteilt, alles was vorher war zu vergessen und glauben müssen: es gibt keine Gerechtigkeit. Und das ist die schwerste aller Strafen: büssen müssen und nicht wissen: warum? U RSULA Was taten wir nur? K ASPAR Nichts Schlechtes, nichts Gutes, da man es tun muss! U RSULA Sieht denn Niemand, wie ich wirklich bin? K ASPAR Doch! Aber Du siehst es nicht. U RSULA (tonlos) Ich möchte sterben --K ASPAR Warte! Warten heisst sich gedulden / und sich gedulden heisst: bereuen. U RSULA Was soll ich denn bereuen?! Ja: ich habe gewünscht, dass er sterbe. Aber, warum wurd ich auch in dieser Welt geboren hungernd und frierend?! K ASPAR Ja: Warum? --- Es wäre eine Gnade zu wissen. (Stille) U RSULA (sehr leise) Lass mich sterben --- erlösen unser Kind. K ASPAR Nichts wird erlöst! denn nichts kann sich loslösen aus dieser Erde --- Hast Du denn nicht gehört, dass er sagte: „darf nicht sterben ---“? Alles aufersteht / sinkt auch Dein Sarg in das Grab, stehst Du sogleich wieder auf --- nur in anderer Form, alles muss immer leben! U RSULA Ohne Ende / ohne Hoffnung --- die Hölle. B

25

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

B

23 40

B B

allesN ] allesN ]

N

N

korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Alles

128

SB Schmiede 1924, Bl. 93

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

K ASPAR Immer leben --- und dieser Zusammenhang! Immer schuldet einer dem anderen , immer muss alles bezahlt werden / und es spielt 얍 keine Rolle das wer und das wem und das was --- wohl weil alles nur eines ist, --- --- Manchmal fühlen wir doch auch Sehnsucht in uns / nach dem grossen einen , über den einst der Stab gebrochen wurde und das Urteil verkündet: Zerfalle in uns in unzählbare Formen: Sonnen und Sterne und Wolken und Wellen und Menschen und Steine --U RSULA Warum? K ASPAR Das scheint die Folter zu sein, dass Fragen erlaubt ist. Still! --- In uns Teilen ist trotzdem ein kleines Stück, das eines blieb: im Märchen heisst es: Seele, die als Sehnsucht zu uns spricht und die warten muss, während wir immer wieder zerfallen: das ist das Leben. Warten / eingekerkert in Dreck und Blut / warten --bis zum jüngsten Tag! Bis wir auferstehen dürfen wieder als das eine . U RSULA Wer sagte Dir all das ---? K ASPAR Niemand. (Stille) K ASPAR --- und jetzt steig ich hinab und hole seine Krücken herauf / und Du, Ursula, hebe sie auf für unser Kind. U RSULA (schreit gellend auf) Erbarmen!! K ASPAR Es gibt kein Erbarmen. (er steigt die Stufen hinab) U RSULA (leise: wie zu sich selbst) Doch --- --- denn es gibt Wunder. K ASPAR (bleibt plötzlich stehen --- grinst) Wunder? U RSULA Warum grinst Du?! K ASPAR (wird sehr ernst) Weil ich nicht glauben kann / weil ich zu weit die Augen aufriss und sah --- --- Könnt ich doch nur glauben --- aber ich darf wohl nicht. U RSULA (leise) Vielleicht nur: noch nicht --K ASPAR (ist nun unten angekommen und sucht die Krücken --- sieht sich um) Wo / die Krücken --- sehe sie nirgends --- jetzt sind die 얍 Krücken nicht mehr hier --sehe nichts --- und es war doch kein Mensch hier --- (er stieg wieder scheu die Stufen empor) U RSULA Niemand war hier --- --- das Wunder --(Der Morgen graut --- Tiefe Stille) U RSULA Ein neuer Tag --B

B

N

B N

B

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B

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B

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1 2 2 3 3 4 9 10 13 28

einerN ] anderenN ] B N] BallesN ] BeinesN ] BeinenN ] BdassN ] BeinesN ] BeineN ] B N] B B

SB Schmiede 1924, Bl. 94

N

B

15

N

korrigiert aus: Einer korrigiert aus: Anderen gestrichen: K ASPAR korrigiert aus: Alles korrigiert aus: Eines korrigiert aus: Einen korrigiert aus: das korrigiert aus: Eines korrigiert aus: Eine gestrichen: K ASPAR

129

N

SB Schmiede 1924, Bl. 95

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

K ASPAR (vor ihr) Das Wunder --- --- Aber: morgen ---? U RSULA Nicht fragen --- --- ---

Ende des siebenten und letzten Bildes.

5

B N

8

B N

]

gestrichen: Zusammenstellung.

Seite Erstes Bild ........... 1 - 13 Zweites Bild .......... 14 - 26 Drittes Bild .......... 27 - 34 Viertes Bild .......... 35 - 47 Fünftes Bild .......... 48 - 69 Sechstes Bild .......... 70 - 85 Siebentes Bild ..........86 - 95 ==================

130

Lesetext

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Revolte auf Côte 3018 – Volksstück in vier Akten / Die Bergbahn – Volksstück in drei Akten

131

Endfassung Niemand

NIE/K/TS1 (Korrekturschicht)

132

Lesetext

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1

(Korrekturschicht)

Konzeption 1: Revolte auf Côte 3018 – Volksstück in vier Akten

133

Lesetext

Endfassung Werktitel Revolte auf Côte 3018

1

134

(Korrekturschicht) ÖLA 84/S 59/F5/Bild Lesetext 67

Endfassung Revolte auf Côte 3018 Werktitel

1

135

(Korrekturschicht) BB/K1/E1

Lesetext

Endfassung Revolte auf Côte 3018



1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

Revolte auf Côte 3018 Volksstück in vier Akten von Ödön von Horváth.

SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. I)

5



Personen:

Karl Schulz Veronika Xaver Sliwinski Reiter Moser

10

15

SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. 1)

Oberle Maurer Hannes Simon Ingenieur Aufsichtsrat

Schauplatz: Hochgebirge. Erster Akt: Côte 2735. Zweiter Akt: Côte 2735. Dritter Akt: Unterhalb Côte 3018. - Côte 2876. Vierter Akt: Côte 3018. - Côte 2735. - Schneesturm.

20

B

N

25

Zeit: vierundzwanzig Stunden.

°°° 30



Randbemerkung:

35

Dialekt ist mehr als ein philologisches, ein psychologisches Problem. Verfasser befolgte im Folgenden weder philologische Gesetze, noch hat er einen Dialekt (hier Dialekte des ostalpenländischen Proletariats) schematisch stilisiert, sondern er versuchte Dialekt als Charaktereigenschaft der Umwelt, des Individuums, oder auch nur einer Situation, zu gestalten.

40

°°°

22

B

UnterhalbN ]

[Cô]|Un|terhalb

136

SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. 2)

Endfassung Revolte auf Côte 3018



5

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45

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

E R S T E R A K T.

SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. 3)

Côte 2735. Breiter Gratrücken. Gletscher ringsum. Rechts Arbeiterbaracke Nummer vier der Bergbahn A.G. Links Quelle und primitive Bank. An einer Leine hängt bunt geflickte Wäsche. Spätnachmittag. Herbst. Windstill. V ERONIKAS S TIMME (tönt aus der Baracke; sie singt vor sich hin.) K ARL (tritt aus der Baracke mit zwei Eimern, die er an der Quelle füllt; streckt sich, gähnt; horcht auf; grinst; pfeift Veronikas Melodie mit und verschwindet wieder in der Baracke.) S CHULZ (ein blasses, schmales Kerlchen mit Sommersprossen, steigt aus dem Tale empor; sieht sich forschend um: niemand - Er lauscht Veronikas Gesang; Karl pfeift; plötzlich verstummt alles; Stille.) V ERONIKA (lacht hellauf und stürzt aus der Baracke, hält in der Türe) Ausgrutscht! Ausgrutscht! - Du bist mir so aner, so von hinten - so a ganz Rabiater - (sie erblickt Schulz; schrickt etwas zusammen; mustert ihn misstrauisch.) S CHULZ (verbeugt sich leicht; er lispelt ein wenig) Guten Tag! Verzeihen Sie, Fräulein: dies hier, dies gehört doch zum Bergbahnbau? V ERONIKA Ja. S CHULZ Dies ist doch Baracke Nummer vier? 얍 V ERONIKA Ja. (ab in die Baracke.) S CHULZ (allein) Hm. (er lauscht; Stille.) K ARL (tritt aus der Baracke mit einem hölzernen Traggestell) Wer san denn Sie? S CHULZ Mein Name ist Schulz, Max Schulz. K ARL Was wollns denn da? S CHULZ Ich möchte den Herrn Ingenieur sprechen. K ARL Der is jetzt net hier. S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. K ARL Suchens Arbeit? S CHULZ Ja. K ARL (schnallt sich das Gestell auf den Buckel) So? Drum. S CHULZ (lächelt verlegen) Eben. V ERONIKA (erscheint in der Türe.) S CHULZ (zu Karl) Wann kommt der Ingenieur? V ERONIKA Nit vor der Nacht. (nähert sich Karl) Musst scho nunter? Wieder nunter? Du trauriger Bua K ARL Tu nur net so! So scheinheili! - Alsdann, was brauchst? A Mehl, dreissig Pfund und a Marmelad. V ERONIKA Und an Schnaps. K ARL Und an Schnaps. - Und? V ERONIKA Sonst nix. K ARL Nix? V ERONIKA Nix. Nix vo dir. (Stille.) B

35

B

Türe.)N ]

N

korrigiert aus: Türe).

137

SB Volksbühne 1927a, S. 4

Endfassung Revolte auf Côte 3018

5

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40

Lesetext

K ARL Jetzt glaub ichs, was d’ Leut im Dorf redn. Es is scho wahr: Dei Mutter hatn mitn Teufl paktiert, an Vater hat ja no kaner gsehn! V ERONIKA Schweig! K ARL Du bringst bloss Unglück. 얍 V ERONIKA (lacht.) K ARL Wie die lacht! Wie die lacht! Herrgottsakra! Das Fleisch! Du bist scho des best Fleisch im Land, auf und nieder! Di hat net unser Herrgott gformt, den Arsch hat der Satan baut! - Adies, Höllenbrut! (er steigt rasch ab.) (Stille.) V ERONIKA (fixiert Schulz; etwas spöttisch) Was wollns denn vom Ingenieur? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. V ERONIKA (äfft ihn nach) So? Das habe ich nicht gehört. (ab in die Baracke.) S CHULZ (wieder allein) Hm. (er setzt sich auf die Bank.) (Stille.) X AVER , S LIWINSKI , R EITER (kommen von der Arbeit mit Spaten, Hacken usw. - Xaver und Sliwinski ab in die Baracke.) R EITER (bleibt vor Schulz stehen und betrachtet ihn) Wer bist denn du? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. R EITER (lacht leise, kurz) So? Wo hast denn des ghört? S CHULZ In, in - ich weiss nicht, ob es stimmt. R EITER Des stimmt net. Aber scho gar net. (er folgt Xaver und Sliwinski.) (Stille.) V ERONIKA (tritt mit einer Schüssel Kartoffel und einigen rohen Koteletts an die Quelle) Jetzt hockt der no allweil da! S CHULZ Ja. (Schweigen.) 얍 S CHULZ Esst ihr hier alle Tage Fleisch? V ERONIKA Ah! Die Schnitzl da san für an hohn Herrn, an Direktor aus Linz. Der is d’ Bergluft nit gwohnt, drum muss er fest essn - - was schauns mi denn so an? S CHULZ Ich dachte nur nach: wann ich das letztemal Fleisch V ERONIKA Was für Fleisch? S CHULZ Fleisch V ERONIKA Aso! (Schweigen.) V ERONIKA Jaja, Kind Gotts! S CHULZ Wenn es einem jeden Kinde Gottes so schäbig ergeht - Richtig! Einen haben sie ja ans Kreuz genagelt, richtig. Man vergisst es schon. V ERONIKA (wendet sich ihm zu) Um Gotts Willn! Mensch, was habens denn?! Sie san ja ganz gelb, als warens tot! S CHULZ Mir ist es nur plötzlich so schwindlig - es wankte das Panorama, als wären Himmel und Hölle besoffen. Das dürfte wohl auch die Luft gewesen sein, die Bergluft, die eben nicht jeder gewohnt ist. Fest essen, fest essen. V ERONIKA (setzt sich neben ihn und schält die Kartoffel) Woher kommens denn? S CHULZ Von unten. B

15

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

12

B

ihnN ]

SB Volksbühne 1927a, S. 5

N

korrigiert aus: ihm

138

SB Volksbühne 1927a, S. 6

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

V ERONIKA Na, i mein: woher? Aus welcher Stadt? Sie san do aus der Stadt, Sie redn ja so. S CHULZ Ich bin aus Stettin. V ERONIKA Stettin? S CHULZ Stettin liegt am Meer. V ERONIKA Am Meer? Am richtign Meer? S CHULZ (lächelt) Am richtigen. (Schweigen.) 얍 V ERONIKA San Sie schon mal durch Berlin kommen? S CHULZ Oft! V ERONIKA I, wenn i Sie war, i war nie fort von dort! S CHULZ Es gibt dort zu viele ohne Arbeit. V ERONIKA I glaub allweil, Sie habn no nit viel garbeitet. S CHULZ Wieso? V ERONIKA Die feinen Händ! Wie ane Hebamm. Da, schauns meine an: kochn, waschn, scheuern - da platzens und werdn rot, wie der Krebs. S CHULZ Die müssen Sie einfetten und fleissig baden. In heissem Wasser. Dann wird die Haut wieder sammetweich und elfenbeinern. Am besten: Sie nehmen die Salbe von Meyer et Vogel in der blauen Tube. V ERONIKA Woher wissens denn all des? S CHULZ Eigentlich bin ich Friseur. V ERONIKA Drum, diese Händ! S CHULZ Ich habe schon viele hundert Frauenhände behandelt. V ERONIKA Geh hörens auf! S CHULZ Jawohl! Dazumal, als ich in Warnemünde über die Sommersaison arbeitete: im ersten Haus am Platze! Tipp-topp! Fräulein, das war mein goldenes Zeitalter! Ich war, sozusagen, Intimus der Damenwelt. Da war eine Frau Major, die vertraute mir - alles an! V ERONIKA Da habens freili viel ghört und gsehn. Danebn is unserans a neugeborens Kalb. S CHULZ Ich schätze naive Frauen. Nur zu rasch übersättigen einen die Raffinierten. V ERONIKA Wir haben hier auch an, der scho weit in der Welt rumkommen is. Der alt Oberle, 얍 der war kriegsgfangen, in der Mongolei, ganz hint. Bei den Gelbn, Schlitzäugigen und Juden. In Asien. - Waren Sie scho in Asien? S CHULZ Nein. Noch nicht. V ERONIKA So sieht halt jeder was andres. S CHULZ Durch unseren Beruf bekommt man automatisch Einblick in manch Geheimnisse des weiblichen Wesens. Man enträtselt allmählich die Sphinx. (er hustet stark.) V ERONIKA (klopft ihm auf den Rücken) Hoppla! Sie solltn nit so viel redn. Die Bergluft S CHULZ Ich bin Ihnen dankbar, sehr dankbar, dass Sie mit mir reden. Ich habe nun fünf Tage lang kaum geredet. Da verlernt man selbst die Muttersprache. Man ist überrascht von der eigenen Stimme, wie der Dichter sagt. (er hustet wieder.) B

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N

B

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Lesetext

1 29

B B

AusN ] unserans aN ]

N

korrigiert aus: aus korrigiert aus: unserans a überzählige und fehlende Zeichenabstände werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis.

139

SB Volksbühne 1927a, S. 7

SB Volksbühne 1927a, S. 8

Endfassung Revolte auf Côte 3018

5

10

15

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

V ERONIKA (liess ihre Hand auf seinem Rücken; befühlt nun seine Schultern, Arme - ) Hörens: i glaub kaum, dass Sie hier mitarbeitn werdn: Sie san zu schwach. S CHULZ Meinen Sie? V ERONIKA Wie der guckn kann! Direkt spassig! S CHULZ Sie lachen so schön V ERONIKA Sie san a komischer Mensch! S CHULZ Gestatten: mein Name ist Schulz. Max Schulz. Und Sie? V ERONIKA Vroni. S CHULZ Das soll wohl Veronika sein? V ERONIKA Ja. (Schweigen.) V ERONIKA Habens scho viele rasiert? S CHULZ Rasiert, frisiert, onduliert 얍 V ERONIKA „Onduliert“? S CHULZ Das lässt sich nicht so einfach erklären. (Schweigen. Die Sonne ist untergegangen. Rot färben sich die Felsen, stahlblau die Gletscher. Ein leiser Wind weht: die Wäsche an der Leine bewegt sich. Rasch wird es Nacht.) V ERONIKA Die Friseur san alle gscheite Leut. Friseur und Dokter. Die kennts kaum ausanand. - Sans verruckt?! S CHULZ (riss sie an sich) Was bin ich? Schwach? V ERONIKA Lassens! Nit! Ni S CHULZ (küsst sie.) M OSER (stürzt hinter der Wäsche hervor.) V ERONIKA Jesus Maria!! M OSER I habs gsehn! Lüg nit! Du Fetzn! O BERLE , M AURER , H ANNES , S IMON (folgen Moser.) R EITER, X AVER, S LIWINSKI (eilen aus der Baracke.) V ERONIKA I lüg nit, Moser! M OSER I habs scho vo drobn gsehn, wie ihr beieinanderhockt! Und jetzt! V ERONIKA Der hat mi überfalln! Meuchlerisch, heimtückisch! I hab bloss gredt, und da hat er mi packt! M OSER (fixiert Schulz.) S CHULZ (weicht zurück.) V ERONIKA (flüchtet in die Baracke.) M OSER (drängt Schulz an die Wand, breitspurig.) Wer bist denn du, ha? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. M OSER (gibt ihm eine schallende Ohrfeige.) E INZELNE (lachen halblaut.) O BERLE Moser! 얍 M OSER Schweig! So a Krüppl ghört zu Mus gtretn! (er schlägt ihm mit der Faust ins Antlitz.) Spürst was, Bürscherl? - Der lacht! Wart! Da! O BERLE Schlag do kan Krüppl!

SB Volksbühne 1927a, S. 9

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(Schweigen f Nacht.)N ]

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Baracke.)N ]

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Einzug getilgt; in längeren Szenenanweisungen werden in TS1 die Einrückungen bzw. Zentrierungen stillschweigend getilgt; vgl. Chronologisches Verzeichnis. korrigiert aus: Barracke).

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SB Volksbühne 1927a, S. 10

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

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M OSER Halts Maul, damischer Wanderapostl! Predig in der Höll! I glaub and Faust! Da, du Lump! Und da! S CHULZ (brüllt plötzlich los) Au! Au! Ich habe ja nichts - Au!! M OSER Nix?! So is des a nix! Spürst des „nix“?! (er schlägt tobend auf ihn ein; immer ins Gesicht.) A LLE (ausser Oberle, haben sich in die Baracke zurückgezogen.) S CHULZ (wimmert blutüberströmt und bricht bewusstlos an der Wand zusammen.) M OSER So. Der langt jetzt kaner mehr an den Bart. - Aber heiss werd an bei dem Geschäft. Heiss! (er tritt an die Quelle und sauft.) O BERLE (beugt sich zu Schulz nieder.) M OSER Oberle! Dokter, was macht unser Patient? Fühl den Puls, ob er si bschissn hat! Er stinkt so! Ganz sakrisch! O BERLE Halts Maul! - Moser, du kenntest an Menschn niederschlagn, als wars an Ochs. M OSER (lacht kurz) Vieher san wir alle. I, er und du a. (brummend ab in die Baracke.) (Es ist Nacht geworden. Der Wind weht schärfer und die Wäsche an der Leine flattert gespenstisch). S CHULZ (räkelt sich langsam empor; erblickt Oberle) Wollen Sie mich weiter schlagen? Bitte 얍 O BERLE I hab Sie no nie gschlagn. S CHULZ Alles schlägt mich. (Schweigen.) O BERLE Was wollns hier? S CHULZ Arbeit. O BERLE Hörens: bevors an Unglück gibt, kehrens um! S CHULZ Nach Stettin? - Woher hätte ich es wissen sollen, dass das Fräulein einen Bräutigam hat? So lasst mich doch! Lasst mich! (er krümmt sich am Boden und schluchzt.)

SB Volksbühne 1927a, S. 11

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Vo r h a n g . 얍 35

Z W E I T E R A K T. Côte 2735. In der Arbeiterbaracke Nummer vier der Bergbahn A.G. Links Matratzenlager. Rechts Herd und langer Holztisch, darüber Petroleumlampe. Im Hintergrunde eine Tür ins Freie, rechts eine nach dem Raume des Ingenieurs. Neben letzterer Telephon. Nacht.

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R EITER , M AURER , S LIWINSKI , S IMON , X AVER (ziehen sich die Stiefel aus, wechseln Socken, Hemden, Joppen - liegen, sitzen auf den Matratzen oder stehen herum.) V ERONIKA (kocht.) M OSER (zieht sich das Hemd aus) Wer hust da was von Rohheit? Wer? Die paar Pflaster hat si der Hundling redli verdient! War ja glacht! Er a scho mit de grossn Hund pieseln! Pürscht si da ran, der Beihirsch! In diesem Punkte kennt der Moser weder Spezi no Bruder! Will er net kennen! Da werd er wild! - Vroni! Geh her! Daher!

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SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. 13)

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

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V ERONIKA (tritt zu ihm hin.) M OSER Ha? Hab i den zu stark gschlagn? V ERONIKA Du weisst es nit, wie stark du schlagn kannst. - Moser! Du bist a Tier! A wilds Tier! Ausm grossn Wald! M OSER Und du? Sags! Ha? V ERONIKA Du! Du machst mi zum Tier - (sie beisst in seine Brust.) O BERLE (tritt ein.) 얍 M OSER (stösst Veronika von sich; grinst; gröhlt) Jessas, jetzt kommt ja die wandelnd Nächstenlieb! Stehts auf allesamt! Zu! Präsentierts der frommen Seel! Dem verschleimt Apostl, der Wasser predigt, Luft frisst und do nur Dreck scheisst! So präsentierts do! Zu! Los! K EINER (reagiert.) M OSER (sieht sich überrascht um.) Ja, Herrgottsakrament (Schweigen.) M OSER (fixiert heimtückisch Oberle; lacht gewollt.) Oberle! Oberle! Du hättest Christkind werdn solln! Oder Papst! O BERLE Und du Metzger. Oder Henker. (Schweigen.) R EITER (leise) Horch, der Wind M AURER (ebenso) Wie a Opernsängerin. M OSER (näherte sich langsam Oberle; unterdrückt) Du, geh her! Wie hast du des gmeint, des mit dem - Henker? O BERLE Des werst leicht erratn. (Er lässt ihn stehen.) S IMON (überlaut, als wollte er etwas überschreien.) Wann kimmt denn der Herr? X AVER Was für a Herr? S IMON Der Direkter! H ANNES Was für a Direkter? S LIWINSKI Der Zirkusdirekter! E INZELNE (lachen befreit auf.) S LIWINSKI Der an Ingineur braucht zum aufikeuchn, zwegn dem Grosskopf! X AVER Und zwegn der Wampn! Hat an Bauch, wies goldene Kalb! M AURER War ka Wunder! Schaugts hin aufn Herd, was so a hoher Herr für Brotzeit macht, 얍 bal er mal fünf Stunden hatscht. S IMON Dafür is er a Direkter und du bist bloss der Arbeitsmann. Er dirigiert und schluckt Schnitzl mit Salat und sauft sein Champagnerwein, dass ihm die Sauce bei der Lefzn runterrinnt - und du darfst di schindn und hast an Schmarrn! H ANNES Aber an guatn, des muas ma da Vroni lassn! S LIWINSKI Recht hast, kenigli boarischer Haus- und Hoftepp! S IMON Der Kavalier! Der Zawalier! X AVER Geb nur acht, dass di der Moser net derwischt! M OSER Was gibts da mitn Moser? O BERLE Nix. S LIWINSKI (spielt auf einer Mundharmonika.) M AURER (grinst Moser ins Gesicht) Bravo! X AVER (schnalzt.) Tanzn sollt ma halt kennen! Tanzn! S IMON A Tanz ohne Dirn, is wie a Stier, der net springt! R EITER Zum Landler ghört a Mensch, wie a Köchin zum Kaplan! M AURER (singt)

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SB Volksbühne 1927a, S. 14

SB Volksbühne 1927a, S. 15

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

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Guten Morgen, Herr Pfarrer Wo is der Kaplan? Er liegt auf der Köchin Und kraht wie a Hahn! (Schallendes Gelächter.) X AVER Kreizkruzefix! War scho höchste Zeit, dass an was Weiblichs zulauft! Alls kannst unmögli nausschwitzn! S IMON (singt) Und keiner ist so eigen 얍 Und keiner so verschmitzt Als wie der, der ins Bett macht Und sagt, er hätt gschwitzt (Telephon - Alles verstummt und horcht) V ERONIKA (tritt ans Telephon) Hier Baracke Nummer vier. Ja. - - So. Ja. (sie hängt ein) Der Ingineur is unterwegs. Der Direkter kimmt heut nimmer; der übernacht auf Nummer drei. S IMON Auf Nummer sicher! S LIWINSKI Den hats zerrissn! Der hat sie mit die Berg überhobn! H ANNES Wisst Leutl, des mit die Direkter. Des is so: da ghöret a Lift her, wies es in die Wolkenkratzer habn, drübn in Amerika. So an Wolkenkratzer is nämli häher, als inser hächster Berg! X AVER Jawohl, Herr Nachbar. R EITER Des is ja gar ka Direkter, des is an Aufsichtsrat. S IMON Richti! Des san die, die allweil aufpassn, ob die andern net faulenzen. Dabei sitzens in lauter Schaukelstühl und schnupfn. S LIWINSKI (spielt nun ein sentimentales Stück) M AURER Pst! (Alle lauschen.) X AVER (singt leise) Und die Wasserl habn grauscht Und die Bacherl habn plauscht H ANNES (fällt ein) Aber gschwind, wie der Wind Lassens trauri mi hint (Gesumm) Denn auf den Bergen 얍 Da wohnt die Freiheit Ja, auf den Bergen Da is es scheen - E INZELNE (summen mit) Da is es scheen - M OSER (näherte sich Oberle; leise; unsicher) Oberle, du bist so hinterlisti still. - Hast etwa zuvor sagn wolln, dass i den da draussn, dass der da draussn O BERLE Na. Aber bremsn musst! Sonst könnts leicht mal an Unglück gebn. Der blut nur, aber leicht kennt si mal aner verblutn. B

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keinerN ] keinerN ] BsitzensN ] B B

korrigiert aus: Keiner korrigiert aus: Keiner korrigiert aus: sitzena

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SB Volksbühne 1927a, S. 17

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

M OSER (grinst) So? Halt! Sag: was hättest denn du dann - hättst ihn gstreichelt und gschmeichelt, hättest Kratzfüss gmacht, dass der Dreck nur so rumgspritzt war, ha? Net zughaut, na na! Und warum net? Weisst warum net? Weil du net kannst! Weil deine Arm ohne Schmalz san, verstehst, du Schleimer! I hab di scho heraussen, Oberle! O BERLE Meinst? M OSER Jawohl! Sogar sehr! - Oberle, kennst die Hirsch? Was macht denn der Hirsch, wenn a Fremder über sein Rudel kimmt, ha? Der rauft damit! Und dersticht ihn! Der Stärkere den Krüppl, verstehst?! O BERLE Wir san aber kane Hirsch. Wir san arme Teufl. Wir kennens uns net leistn zwegn an Madl - und wars a ganzer Harem, uns die Schädl zu zerschlagn! Wir müssn des Hirn und all unsere Kraft sparn. Wir habn nur Feind, lauter mächtige Feind! M OSER Wo hast denn die Sprüch glernt? O BERLE Im Krieg. Da hab i den Feind gsehn, ganz 얍 deutli und scharf. - Damals warst du no klein. Hast Schneemanner baut und net lesen kennen. - Komm jetzt! V ERONIKA (hatte zwei dampfende Schüsseln auf den Tisch gestellt um den die anderen bereits Platz genommen haben) O BERLE (setzt sich) M OSER (folgt ihm langsam nach) A LLE (essen) (Der Wind wimmert und rüttelt an den kleinen Fenstern) S LIWINSKI (lauscht) Der bringt Schnee. Viel Schnee. R EITER Oktober. Nacher werds nimmer gut. X AVER Ja, die Berg warn a zu rot. (Schweigen) M AURER Jetzt heut wars scho gar nimmer so einfach. Der weni Neuschnee in der letztn Nacht, da rutscht alls, und drobn des Gröll, des hat der Satan angschaut - da, wer net hinhorcht, da ists glei aus mitn schönen Land Tirol! (Schweigen) R EITER Wie hat sie nur jetza der gschriebn, dens im Frühjahr runtergwaht hat? Beim Hilfskabel. Da hast schier nimmer gwusst, was da vor dir liegt. Im Sack habens den Brei aufn Gottsacker gschafft. S IMON Der Müller Anton wars. Von Pfaffenhofen. M AURER Richti! Ja, des war schreckli. Und a Weib und vier unmündige Kinder. (Schweigen ) M AURER Es is scho a wahre Sünd, was mit die Menschn gtriebn werd. Da turnst herum, wie kaum a gewiegter Turist, rackerst di ab 얍 mit Lawinen, Steinschlag, Wetter - und was erreichst? Grad, dass dei Essen hast und a Lager, wie a Unterstand, als hätt der Krieg kan End! Abgschnittn von der Welt. (Schweigen) S LIWINSKI Neuli habns an Ingineur gfeiert. M AURER In der Zeitung is gstanden, er sei unsterbli. S IMON Aber von die Totn schreibt kaner ! R EITER Die Totn san tot. B

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SchüsselnN ] (SchweigenN ] BkanerN ] B B

SB Volksbühne 1927a, S. 18

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korrigiert aus: Schüssel

[-]|(|Schweigen korrigiert aus: Kaner

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SB Volksbühne 1927a, S. 19

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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O BERLE (hebt langsam das Haupt) Die san net tot! Die lebn! (Schweigen) S LIWINSKI Da liest überall vom Fortschritt der Menschheit und die Leut bekränzn an Ingineur, wie an Preisstier, die Direkter sperrn die Geldsäck ind Kass und dem Bauer blüht der Fremdenverkehr. A jede Schraubn werd zum „Wunder der Technik“, a jede Odlgrubn zur „Heilquelle“. Aber, dass aner sei Lebn hergebn hat, des Blut werd ausradiert! S IMON Na, des werd zu Gold! X AVER Wahr ists. R EITER Allweil. (Schweigen) X AVER Allweil des Geld. H ANNES Des Geld hat der Teifl gweiht! M AURER Des Grundübel, des is die kapitalistische Produktionsweise. Solang da a solche Anarchie herrscht, solang darfst wartn mit den Idealen des Menschengeschlechts. Die Befreiung der Arbeiterklasse 얍 S IMON (unterbricht ihn) Des san Sprüch. M AURER Was san des?! S IMON Sprüch. - Und weisst warum? Weil mans nur hört, aber net spürt! Da hat erst neuli einer drunt gsprochn, vor der letztn Wahl wars, und Leut warn da von weit und breit, gstecktvoll! Und gredt hat der, zwa Stund! Vom Klassenbewusstsein und der Herrschaft des Proletariats, und vom Zukunftsstaat, zwa Stund - aber nacher, da hat er mit an Gendarm kegelt, vier Stund! Lauter Kränz habns gschobn, lauter Kränz! An Kenig habns stehn lassn, a jedsmal! Akkurat! - Alle neune, muss heissn! Alle neune!! M AURER D e s san Sprüch! S LIWINSKI Des und des! Was nützt des Redn ohne Macht? S IMON Richti! Aber wie willst denn du die Macht erobern? S LIWINSKI Wie du! Damit! S IMON Bravo! S LIWINSKI Mit der Faust! (er schlägt auf den Tisch) Und, wenns an Oberle a net passn sollt O BERLE Obs an Oberle passt oder net passt, des is ganz gleich - aber ob uns mit der Faust gholfen is, des bezweifelt der Oberle. Er glaubt, dass man mit der Faust nix erreicht S LIWINSKI (unterbricht ihn) Also möcht der Oberle, dass alls so bleibt, wies is. O BERLE Es werd net so bleibn. S IMON Richti! Es werd no viel schlimmer werdn! O BERLE Was weisst denn du, wie schlimm dass es war?! Wie alt bist denn du, ha? Was hast denn du scho gsehn?! 얍 S LIWINSKI Holla, holla, holla - Der sanft Oberle R EITER Ruhe! H ANNES Lasst an do essn! S LIWINSKI (grinst) Friss nur, friss - dass di aber nur net verschluckst. S IMON (zu Oberle) Entschuldigens, Herr, dass i bisher nur Dreck gsehn hab. I kann aber nix dafür, dass i no net in Asien war - du, du kannst ja a nix dafür! B

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

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weisstN ]

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korrigiert aus: weist

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SB Volksbühne 1927a, S. 21

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

O BERLE (lächelt) Na, da kann i nix dafür. Mir wars lieber, kannst es glaubn, i hätt des Asien nie gsehn und war heut erst zwanzig Jahr. S LIWINSKI Jetzt predigt er scho wieder! S IMON „Liebe den Kapitalismus, wie dich selbst!“ X AVER (lacht) S LIWINSKI Der Moser hat recht! Des is an Apostl, auf und nieder! Recht hast, Moser! M OSER (rührt sich nicht) (Schweigen) O BERLE Der Moser weiss, dass durch Gewalt nix gedeiht. Nix. A LLE (starren Moser verdutzt an) O BERLE Der Moser weiss, dass sei Faust stark is, furchtbar stark - und es kann ja leicht möglich sein, dass er sei Faust mal gebrauchn werd müssn, aber da gabs bloss Blut. Sonst nix. S CHULZ (tritt rasch ein und bleibt verstört in der offenen Türe stehen; sein Gesicht ist blaurot vor Kälte und Blut, sein Anzug zerfetzt, zerschunden) V ERONIKA (schreit gellend auf) M OSER , O BERLE , M AURER , S IMON (schnellen empor) 얍 A LLE (versteinert) (Der Sturm heult in den Raum, fegt ein Glas vom Herde, das klirrend zerbricht und bläst fast die Petroleumlampe aus) V ERONIKA (schreit) Des Licht! Des Licht! S IMON (schreit) Ist d’Höll los?! M AURER Die Tür! Die Tür!! S CHULZ (schliesst sie und lächelt verlegen) (Stille) S CHULZ Eigentlich wollte ich absteigen, aber ich habe mich verstiegen. Und dann stürmt es so grausam und die Berge wachsen in der Nacht. Man muss es gewohnt sein - Darf man sich wärmen? O BERLE (deutet auf den Herd) S CHULZ (verbeugt sich leicht) Danke. V ERONIKA (entsetzt) Er soll si do des Gsicht abwischn! S CHULZ Warum? O BERLE Es is voll Blut. M OSER (heiser) Vroni! Gib ihm a Tuch! Zu! V ERONIKA (reicht Schulz scheu einen Lappen) S CHULZ Ich danke, Fräulein Veronika. I NGENIEUR (tritt ein; bleibt perplex stehen) Wer ist das? Oberle, was ist denn hier geschehen? O BERLE Herr Ingineur S CHULZ (unterbricht ihn) Herr Ingenieur! I NGENIEUR Wer ist das? S CHULZ (aufgeregt) Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden! (er überreicht ihm hastig seine Papiere) Hier! Mein Name ist Schulz, Max Schulz. I NGENIEUR Mensch, wie siehst du aus! A LLE (ausser Ingenieur und Schulz sehen Moser an) 얍 S CHULZ Ich habe Nasenbluten. M OSER (wendet sich ab und starrt vor sich hin) I NGENIEUR (fixiert Schulz scharf) So?

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SB Volksbühne 1927a, S. 22

SB Volksbühne 1927a, S. 23

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

S CHULZ (verwirrt) Und dann bin ich auch gestolpert, hierherauf, und gestürzt, einigemale - - Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. Bitte! Moment! Ich bin nicht schwach, ich wirke nur so! Ich bin klein, aber stark - jede, auch die schwerste Arbeit! I NGENIEUR (blättert in den Papieren; lächelt spöttisch) Sie sind Friseur? S CHULZ Jawohl, jedoch I NGENIEUR (unterbricht ihn) Bedaure! Rasiere mich immer selbst. (Gewaltiger Sturmstoss) I NGENIEUR (fährt zusammen) Hoppla! - - Hm. Mensch, Sie haben Schwein. Gut! Ich stelle Sie ein. Wir müssen fertig werden, bevor das Wetter etwa umschlagen sollte. Oberle! Er arbeitet mit auf 3018. (zu Veronika) Mein Essen! (ab nach rechts.) M AURER Habts ghört? Passts auf! Wies Wetter umschlagt, stellens die Arbeit ein! X AVER Was sagst? R EITER Lang san wir nimmer da. M AURER Ich weiss net, wo i nacher hin soll! S LIWINSKI I a net. H ANNES I scho. S IMON Du scho! Freili! Du rollst di in dei Dorf retour und hütst die Gäns im Stall! H ANNES Da täuscht di! I, wanns hier zugmacht werd, i geh stehln! Pfeilgrad! I geh stehln! 얍 A LLE (schauen ihn gross an)

SB Volksbühne 1927a, S. 24

Vo r h a n g . 25



D R I T T E R A K T. Unterhalb Côte 3018. Steiler Grat. Vor Sonnenaufgang.

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R EITER , S LIWINSKI , O BERLE , S CHULZ , M AURER (steigen mit Arbeitsgerät beladen langsam den Grat empor) S CHULZ (hält plötzlich inne und holt rasch Atem) M AURER Zu! A LLE (bleiben stehen) S CHULZ Moment! Nur ausschnaufen, bitte - So direkt empor - Es ist auch zu steil R EITER Des is no lang net steil. S CHULZ Moment! - Man muss es gewohnt sein. (Schweigen) S CHULZ (lehnt sich an einen Block) M AURER Nix da! Net setzn! Da werst bloss no müder! O BERLE So lassn! S CHULZ (setzt sich und lächelt verlegen) Man muss es gewohnt sein. (Schweigen. Der Horizont rötet sich) S LIWINSKI Jetzt kimmt d’ Sonn. S CHULZ Wie? M AURER (gewollt hochdeutsch) Die Sonne. S CHULZ Wo?

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SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. 25)

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

R EITER (lacht kurz) Wo? Wo? Jetzt fragt der, wo d’ Sonn aufgeht! M AURER Wo geht denn d’ Sonn auf bei dir zhaus? S CHULZ Im Osten. (Schweigen. Der Frühwind weht) S LIWINSKI Herrgott Sakrament! Jetzt ist d’ 얍 Sonn scho da, und wir san no allweil net drobn! 1 geh! I mag da net naufschwitzn in der Hitz! Heut is so dumpf - als war die ganz Welt a Kasemattn - (er steigt empor) R EITER , O BERLE , M AURER (folgen ihm nach) S CHULZ (allein; stiert müde vor sich hin; erhebt sich schwerfällig und will den anderen nach) M OSER (kommt von unten) S CHULZ (hört seine Schritte; dreht sich um, erblickt ihn und zuckt etwas zusammen; will weiter) M OSER Halt! - Du, hör her - i bin extra etwas hint bliebn, weil i di hab sprechn wolln, weil i mit dir hab redn wolln, wegen gestern. Mancher werd halt leicht wütend, des is Veranlagungssach, net? Verstehst, aber man meints ja gar net so drastisch. Des gestern, des war - horch! I will di net um Verzeihung bittn, i war ja im Recht, verstehst? Wenn da so a Fremder über dei Mensch kimmt, ha? I hab scho ganz recht ghabt! Net? Oder? - Aber da plärrt gleich alls und jeder , man is a Rohling, und ma hat do recht, das sakrische Recht is do auf meiner Seitn, net? Des versteht do jeder ! - Aber, weisst, was i net versteh? Dass i im Recht bin und dass es mir trotzdem is, als hätt i unrecht gtan - verstehst du des? Kann des a Mensch verstehn?!

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Côte 2876. Felskanzel, Gletscher ringsum. Ziehende Wolken. Stossweise Sturm. Vormittag.

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S IMON , X AVER , H ANNES (ziehen ein Kabel, das über eine Walze aus der Tiefe nach der Höhe rollt, empor: „Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“ verschnaufen ab und zu; wechseln wenige Worte) S IMON Der sakrische Sturm! Da kannst schier nimmer schnaufn! X AVER Die Sonn glitzert wie a Seifenblasn. S IMON Lang hält sichs nimmer. X AVER Schau, wie die Wolkn runterdruckn. Als bügelt der Himmel die Berg platt. Zu an Pfannkuchen! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) S IMON Zieh zu, Hannes! Fester! H ANNES I zieh ja! 6 9–10 17 19 19 21

] anderenN ] BIN ] BrechtN ] BjederN ] BjederN ] B N B

gestrichen: so korrigiert aus: Anderen korrigiert aus: i korrigiert aus: Recht korrigiert aus: Jeder korrigiert aus: Jeder

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SB Volksbühne 1927a, S. 27

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

X AVER An Dreck ziehst! I spürs! S IMON Wenn wer auslasst, kimmt kaner vom Fleck! X AVER Zu! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“ - Auf Punkt 3018 wird gesprengt) S IMON Gsprengt. H ANNES Die Stein! Die Stein! Des donnert runter, wie beim jüngstn Gricht. X AVER Glaubst du an des jüngst Gricht? H ANNES Ja. X AVER Unmögli wars ja net. S IMON Hin is hin. H ANNES Na! Wir auferstehn! S IMON Du scho! I net! I mag net! I lass mei Arsch lieber von die Würm zernagn, als dass ihn dei jüngst Gricht auf ewig ins 얍 höllisch Feuer steckt! Is ja auch nur a Klassengricht! Nebn an gutn Gott spitzelt der Gendarm und dir stellns an Verteidiger, der an sei Schellensolo denkt, net an di! Es gibt kane Gerechtigkeit! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) X AVER Des war net recht vom Moser. Gestern. Na, des war net recht, des Theater mit dem Schulz, oder wie er si schreibt. H ANNES Theater! Hihihi! De Vroni markiert an Unschuldsengel und is do a läufigs Luder! X AVER Im Schlaf hat der scho so danebngredt, als hätt ihn a toller Hund bissn, direkt wild. Und gwinselt, die ganz Nacht. Habts denn bloss gschnarcht und nix ghört? H ANNES Den werds halt von lauter Abortdeckl gträumt habn! Vom Moser seine Prankn! Wie a Löw! Hihihi! X AVER Halts Maul, Dorftepp damischer! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) X AVER Sakradi! Die Kält reisst an d’ Haut vo der Hand! Des Scheisskabl schneidt wie a Rasiermesser. S IMON Hast kane Handschuh? X AVER San a scho zerfetzt! H ANNES Und schwaar is des Zeig! S IMON Aufn Bindfadn hängt man kan Waggon! Für dreissig Personen mit Sitzgelegenheit. („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) S IMON No zehn Meter. H ANNES Einmal, wanns ferti is, möcht i scho damit fahrn. Rauf und runter. S IMON Da werst net weni Taler brauchn! A Bergbahn werd ja bloss für Direkter baut, für lauter Direkter! Aufn Gipfel kimmt 얍 no a Hotel mit Bad und Billard. (auf Punkt 3018 wird wieder gesprengt: zweimal) H ANNES Scho wieder! Und no mal! X AVER Wenns nur des ganz Klump ind Luft sprengen tatn! S IMON Wartn, Xaverl, wartn! Kimmt scho no! Kimmt scho! Es gibt bereits welche, die mehr sprengen, als a Bergbahn braucht samt Hotel mit Bad und Billard! Die sprengen die ganzn Paläst und Museen, alles, von dem der arbeitende Bürger nix hat! Die Moskowiter, sag i euch, hint im riesign Russland, die habn alles anbohrt, auch an härtestn Marmor, Pulver neigsteckt und angsteckt! Piff! Paff! B

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korrigiert aus: Kaner

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SB Volksbühne 1927a, S. 28

SB Volksbühne 1927a, S. 29

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

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X AVER No zehn Meter. („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) D IE D REI (nehmen stumm ihre Werkzeuge an sich: Hacken, Spaten, usw., und steigen nach links empor) S IMON Da schauts runter! Da keucht aner rauf! H ANNES Wer? S IMON Der Direkter und der lngineur. - Saxendi, wie der torkelt! Und die Ixbaner! H ANNES Auf die war i scharf! X AVER Zu! D IE D REI (ab nach links empor) (Eine Zeit lang bleibt die Szene leer; Sturm und Stille, Sonne und Schatten) I NGENIEUR UND A UFSICHTSRAT (die Wange voll Schmisse, kommen von unten rechts) I NGENIEUR Hierher, bitte! A UFSICHTSRAT (prustet) Na, endlich! Bequem ist 얍 anders, Herr! Nein, schrecklich! Ueberall Sport. Aber, glauben Sie mir: trotz aller Anstrengung beneide ich selbst unseren letzten Arbeiter. Immer in herrlicher Höhenluft, inmitten gewaltiger Natur! I NGENIEUR Hier bietet sich einem die beste Sicht über die letzte Strecke der Anlage. Sie sehen: dort unten, oberhalb jener vermurten Gletscherzunge Stütze vier. Der helle Fleck. Côte 2431. A UFSICHTSRAT (durchs Fernglas) Jawohl! I NGENIEUR Nach rund 1200 Metern erreicht die Bahn Stütze fünf: dort oben, links der schwarzen Wände, jene rostbraune Stelle. Gesprengt. Côte 3018. 587 Meter Höhe in knapp sieben Minuten. A UFSICHTSRAT Rekord! Und Hochachtung! - Unter uns: in der letzten Aufsichtsratssitzung fiel der Satz: Sie seien besessen von Ihrer Arbeit, Ihre Besessenheit ist kapital! Im wahren Sinne des Wortes: Kapital! Und Geheimrat Stein sagte, wenn das Vaterland lauter solche Männer hätte, stünde es besser um uns. Ich füge hinzu: dann wäre dieses Wunderwerk, Ihr Wunderwerk, in drei Wochen fahrtbereit! I NGENIEUR Bis dato war uns der Oktober freundlich gesinnt. Nur noch vier Tage, und das Hilfskabel hängt auf Hilfsstütze fünf, das Pensum rollte sich planmässig ab. Dann dürfte es wettern. Tag und Nacht. A UFSICHTSRAT (betrachtet die Landschaft durchs Fernglas) Wir verringern natürlich die Belegschaft. I NGENIEUR Klar. Alles wird entlassen, bis auf 얍 die vierzehn Mann der Talstation. (Sturmstoss) A UFSICHTSRAT Teufel, dieser Sturm! Durch und durch! I NGENIEUR Würden wir gezwungen, die Vorarbeiten vorzeitig abzubrechen, so folgerte freilich hieraus A UFSICHTSRAT (unterbricht ihn) Herr! Weitere Verzögerungen wären untragbar! I NGENIEUR Ob man sie tragen muss, entscheidet der Sturm. Die kommenden vier Tage. Denn schlägt das Wetter im Oktober um, dann kommt der Winterschlaf. Und setzt gar das Frühjahr spät und schlecht ein, so dürfte sich die Inbetriebnahme leicht um ein volles Jahr verzögern. A UFSICHTSRAT Wie? Was?! Mensch, was reden Sie da! Ein Jahr?! I NGENIEUR Vielleicht!

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A UFSICHTSRAT Ist nicht wahr! Ist nicht wahr! Das ist ja der Tod! Das Nichts! Die Pleite! I NGENIEUR Wenn ich nicht falsch unterrichtet worden bin, hat die A.G. die Bodenbank interessiert. A UFSICHTSRAT Man hat Sie unterrichtet? I NGENIEUR Ja. A UFSICHTSRAT Wer? I NGENIEUR Die Bodenbank ist beteiligt. Seit sechs Wochen. Mit 45 %. Stimmts? Ja oder nein? A UFSICHTSRAT Es stimmt. Auffallend! Und? I NGENIEUR Es stimmt! Und ich lasse mich nicht hetzen! Herr, ich gebe mein Letztes her, doch gen Elemente kann keiner kämpfen! 얍 Aber die Bodenbank kann zahlen. Auch zwei Jahre länger! A UFSICHTSRAT Auch zwanzig Jahre länger! I NGENIEUR Sehen Sie! A UFSICHTSRAT Ich sehe. Doch Sie scheinen blind zu sein! Der A.G. ist es völlig piepe, ob sie an Konserven, Spielwaren oder Bergbahnen verdient. Mann, es geht um die A.G. und nicht um Ihre Beschäftigung! Jeder Tag mehr kostet uns Herzblut. Wir verlieren die Mehrheit und unsere Millionen werden Nullen vor der Zahl! I NGENIEUR Das dürfte übertrieben sein. A UFSICHTSRAT Ihnen dürfte es freilich gleichgültig sein, wer sein Geld für Ihre Pläne riskierte! I NGENIEUR Nichts war riskiert! A UFSICHTSRAT Das sagen Sie! I NGENIEUR (scharf) Und Sie? A UFSICHTSRAT Hahaha! Sie entpuppen sich ja als Idealist! Sie bauen tatsächlich in die Wolken! Hahaha! - Mein lieber Herr! Merken Sie sich: wir sind Kaufleute. Also nicht naiv. I NGENIEUR Also war nichts riskiert. A UFSICHTSRAT Haarspalterei! Als gäbs ein Geschäft ohne Risiko! I NGENIEUR Mein Werk ist kein Geschäft. A UFSICHTSRAT Grosser Gott! Wir finanzieren doch nicht Ihren Ruhm! I NGENIEUR Ueber der Person steht das Werk. A UFSICHTSRAT Um unser Geld! I NGENIEUR Aber die Person fordert Bewegungsfreiheit, um schaffen zu können! Man ist doch in keinen Käfig gesperrt! 얍 A UFSICHTSRAT (grinst) Sie verkennen Ihre Lage. I NGENIEUR Um das Werk zu vollenden werde ich rücksichtslos! A UFSICHTSRAT Richtig! Ditto! Um das Geld nicht zu verlieren, sagt die A.G.: „Hören Sie! Wir haben Ihr Patent erworben. Und die Konzession!“ I NGENIEUR Was soll das? A UFSICHTSRAT Aha! Erraten! Es gibt nur wenige A.G.’s, aber zahlreiche Ingenieure. Ingenieure, gleich tüchtige , die sich aber auch gerne hetzen liessen, wenn - Und die auch gegen die Arbeiterschaft energischer einschreiten! Eine Unerhörtheit, dieser letzte Streikversuch! B

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gleich tüchtigeN ]

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Endfassung Revolte auf Côte 3018

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

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I NGENIEUR Wann? A UFSICHTSRAT Voriges Jahr. Zwei Wochen schlecht Wetter und schon Drohung mit Lohnerhöhung! Pack kennt keine Pflicht. Mehr Energie, Herr! Mehr Faust! Wann haben Sie I NGENIEUR (unterbricht ihn) Wann habe ich nicht? Was habe ich nicht? So denken Sie doch nach! Da ist der Fall Klaus, und die Geschichte der drei - Habe ich etwa Schlappschwanz markiert? A UFSICHTSRAT Die unter allen Umständen ungerechtfertigten, jeder Grundlage entbehrenden Beschwerden der Belegschaft sind strikte zurückzuweisen. Wir müssen zwingen. Und sollte es Schwefel schneien! I NGENIEUR Jetzt reden wir aneinander vorbei. A UFSICHTSRAT Freut mich! Aufrichtig! Es wäre doch auch zu traurig, wenn man im zwanzigsten Jahrhundert noch derart vom Wetter abhängen müsste! Sollte sich also die Inbetriebnahme wieder verzögern, selbst 얍 nur um paar Tage, sind Sie entlassen. I NGENIEUR Hahaha! - Und unser Vertrag? A UFSICHTSRAT Prozessieren Sie! I NGENIEUR Das können Sie nicht! A UFSICHTSRAT Das können S i e nicht! Wir können! Und noch mehr! I NGENIEUR Gratuliere! A UFSICHTSRAT Danke! - Sie sind Fanatiker. Um Ihr Ziel zu erreichen, schritten Sie über Existenzen. Ueber Leichen! I NGENIEUR Und Sie? (aus ferner Höhe tönt ein „Huuu!“ sechsmal hintereinander; der Nebel hüllt alles in Grau: unheimlich still und düster) A UFSICHTSRAT (entsetzt, feige) Was war das? I NGENIEUR Sechsmal in der Minute. Das Notsignal! A UFSICHTSRAT Die Leichen! I NGENIEUR Vielleicht! - Steigen Sie ab! Ich sehe nach! - Nur keine Angst! A UFSICHTSRAT Ich hab keine Angst, Sie! I NGENIEUR (lacht ihn aus und eilt nach links empor) (Sturmstoss)

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V I E RT E R A K T. Côte 3018. Gratscharte. Graugelber Nebel. Oberhalb der Scharte die Konturen der Hilfsstütze Nummer fünf, wie eine riesige Spinne. Neuschnee. M OSER , R EITER , S LIWINSKI , S IMON (liessen Oberle an einem Seile in den Abgrund, um den abgestürzten Schulz zu bergen) M AURER (auf einem Gratzacken; ruft durch Handtrichter) Huuu! - Huuu! X AVER , H ANNES (lauschen auf Antwort) (Stille) H ANNES Nix.

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Endfassung Revolte auf Côte 3018

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(Sturmstoss in der Ferne, der sich rasch nähert) X AVER Horch, wie die Berg scheppern! H ANNES Des winselt, wie a kranke Katz. M AURER Huuu! S LIWINSKI Maurer! Des hat kan Sinn, des Schrein! Des Wetter plärrt besser! Des überplärrt jeds Signal! (der Sturmstoss fegt vorüber) M AURER (klettert vom Zacken herab) X AVER (leise) Wie so an Unglück passiert M AURER (ebenso) Schnell! Der Reiter hat a Klammer braucht, und der Oberle sagt zum Schulz: hol ane her! Und der arm Teufl springt dahin, ganz eifrig, und schreit glei, ganz entsetzli, und runter is er a scho über d’ Wand. So vierzig Meter. Und bloss ausgrutscht M OSER (erregt; unterdrückt) Hörts! Stehts do 얍 net so rum! Der Oberle holt den scho rauf! Laufts um a Tragbahr und telephonierts um an Dokter! Zu! H ANNES Da werd nimmer viel zum doktern sein. M OSER Meinst? H ANNES Ja. Der is hin. M OSER Was is hin? Wer is hin?! Der is net hin, du Rindvieh! Der darf net hin sein! R EITER Achtung, Moser! O BERLES S TIMME (aus dem Abgrund) Auf! M OSER , R EITER , S LIWINSKI , S IMON , X AVER , M AURER (ziehen das Seil empor) H ANNES (will ihnen helfen) M OSER Weg! Tepp! S IMON (zu Moser) Halts Maul! (im Abgrund wimmert Schulz; schreit gellend auf; verstummt) R EITER Achtung! Um Gotts Willn! (Sturmstoss) S LIWINSKI Net auslassn! Zu! O BERLE , S CHULZ (erscheinen am Seile über der Kante; Oberle stützt den bewusstlosen Schulz, der sofort aus den Schlingen befreit und unter einer überhängenden Felspartie gebettet wird) O BERLE (löst den Seilknoten; verschnauft) Seids alle da? R EITER (untersucht Schulz) Habts ka Wasser? S IMON Hier! S LIWINSKI Net so tief, an Kopf! R EITER Des überlass nur mir! I bin Samariter. O BERLE Den hats da drunt auf an Zackn ghaut, dass der Fels kracht hat. X AVER A Gsicht voll Blut. Wie a roter Neger. (Schweigen) 얍 R EITER (erhebt sich langsam) Aus. Der werd nimmer. Dem is ja des ganz Geripp zersplittert. S IMON Ja, der ist runter. M AURER (gedämpft) Der Neuschnee halt, der Neuschnee! Und des Schuhzeug is a nix fürs Hochgebirg. Die Sohln wie Papier. Da liegt er. (Schweigen) B

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

S LIWINSKI Als tat er bloss träumen. R EITER Träumen, schlafn. - Das Best für den is gar nimmer aufwachn. X AVER Das Best ists freili. Für an jedn . S IMON Möchst denn du scho eingscharrt sein? Und verfauln? X AVER Manchmal. S IMON I net. No lang net! S LIWINSKI Manchmal ists a direkte Gnad, der Tod. (Schweigen) M AURER Wo war denn der zhaus? O BERLE In Stettin. H ANNES Stettin? O BERLE Stettin liegt am Meer. H ANNES Da hätt er mehr als Matros M OSER (unterbricht ihn bestürzt) Ruhe!! Der hört ja! Schauts hi, wie der schaut!! A LLE (schrecken zusammen, versteinern) S CHULZ (hatte die Augen aufgeschlagen und gehorcht; fixiert nun einen nach dem anderen; lächelt; schwach) -- wer kennt Stettin? Und Warnemünde? - Hm - Also: Gnade. Sterben. Verfaulen. Hm - Muss man denn wirklich schon verfaulen? Ja? Nein, ihr irrt! Ihr irrt! Ich bin ja nur gestol-얍pert - die Haut klein wenig abgeschürft, jedoch nichts gebrochen, verrenkt, alles intakt! Ich fühle mich sauwohl, tatsächlich: sauwohl - - und dann will ich wieder arbeiten. Rasieren, frisieren. Nehmen Sie Platz, bitte - Ich rasiere, frisiere, ich rasiere, ich frisiere - ich, habe, gehört - hier würden, noch - Leute - eingestellt werden - - (er stirbt) (Stille) A LLE (entblössen ihr Haupt) H ANNES (fällt langsam in die Kniee; betet) Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name M OSER (unterbricht ihn) Verflucht! Ka Litanei, ka Rosenkranz! Der da drobn is taub für uns arme Leut! (in weiter Ferne Donnerrollen) M OSER Ja, donnern, des kann der! Und blitzn und stürmen! Schreckn und vernichtn! Was gedeiht, ghört net uns. Was ghört dem armen Mann? Wenn die Sonn scheint, der Staub, wenns regnet, der Dreck! Und allweil Schweiss und Blut! (ein leiser Wind hebt an, der allmählich zum Sturme wird) I NGENIEUR (erscheint; atemlos; aufgeregt) Was ist hier los? Warum steht man so herum? Wer gab das Notsignal? M AURER I. I NGENIEUR Was ist denn geschehen?! O BERLE Still, Herr! Hier liegt a Toter. I NGENIEUR Wieso? Wo? Wer? O BERLE Dort. Den Ihr gestern eingstellt habt, der Schulz. 얍 I NGENIEUR Scheusslich! O BERLE Er ist bloss gestolpert - über die Wand da. So vierzig Meter. (Schweigen) I NGENIEUR Verdammt! Tja, da kann keiner dafür. - Wollen wir ihn ehren, indem wir geloben, ihm, der in Erfüllung seiner Pflicht fiel, nachzueifern: weiter zu arbeiB

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ten. - Ich muss unbedingt darauf bestehen, dass die Arbeit sofort wieder aufgenommen wird. Den Leichnam lassen wir bis zum Abend hier liegen und nun M OSER (unterbricht ihn) Na, der werd zuerst nuntergtragn und aufbahrt. Nacher werd weitergschafft. Eher net! I NGENIEUR Hoppla! Hier hat nur einer zu befehlen und das bin ich! Pflicht kommt vor Gefühlsduselei. R EITER Pflicht is, a Leich net liegn zu lassn, wie an verrecktn Hund. I NGENIEUR Ich verbitte es mir, über Pflicht belehrt zu werden! Merken Sie sich das, Sie! Ich habe mir mein Ziel erkämpft und pflege meinem Willen Geltung zu verschaffen. Und seis mit schärfsten Mitteln! S IMON Bravo! Bravo! I NGENIEUR Was soll das?! (Schweigen) I NGENIEUR Es wird weitergearbeitet. Mit Hochdruck und sofort. Los! K EINER (reagiert) (Schweigen) I NGENIEUR Hört: sollte das Wetter umschlagen und wir hätten die Vorarbeiten noch nicht beendet, - das Werk, der Bau, die Bahn 얍 ist gefährdet! M OSER Sonst nix! Werd scho schad sein um die Scheissbahn! Sehr schad! Wer werd denn damit amüsiert? Die Aufputztn, Hergrichtn, Hurn und Wucherer! Wer geht dran zu Grund?! Wir! S IMON Wir! Wir! I NGENIEUR (höhnisch, doch etwas unsicher) So? M AURER Gfährdet is bloss unser Lebn! I NGENIEUR Hier gibt es Hetzer? R EITER Und Ghetzte! M OSER Und was is denn scho, wenns überhaupt kane Bahnen gibt?! Kamst um dei Seelenheil? Stürzet die Welt ein?! I NGENIEUR Unreifes Zeug, dummes! R EITER Wenn Sie, Herr, so a gscheits Genie san, so denkens halt mal an uns! Bauns ka Bergbahn! Bauns uns Häuser statt Barackn! I NGENIEUR Hier wird nicht geredet, hier wird gearbeitet! Ohne Kritik! O BERLE Habt Ihrs net donnern ghört, zuvor? I NGENIEUR Quatsch! Quatsch! Ich kenne das Wetter! Das hält! H ANNES (lacht) O BERLE Herr, i bin a alter Arbeiter und die Verantwortung I NGENIEUR (unterbricht ihn) Nur keine Anmassung! Die Verantwortung trage ich. Nur ich! (es donnert - Stille) I NGENIEUR Hm. Jetzt dürfte sich manches geändert - Grinst nur, grinst! Ja, jetzt könnt Ihr den aufbahren. Alles aufbahren! Auch euch selbst! (er will absteigen) M AURER Halt! An Augenblick! Darf man fragn, obs 얍 stimmt, dass wir ghetzt werdn? Und dass es ganz gleich is, ob wir runterfalln, wenn nur des Kabel herobn hängt, bevors Wetter umschlägt? Und dass wir, wanns umgschlagn hat, fortgtriebn werdn B

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1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

I NGENIEUR (unterbricht ihn) Jetzt könnt ihr gehen. M AURER Wohin? I NGENIEUR Die Arbeit ist eingestellt. Alles ist eingestellt. Ihr seid entlassen. M AURER Habts es ghört?! Habts es ghört?! R EITER Des hättns uns scho früher sagn können! S LIWINSKI Solln! S IMON Müssn! I NGENIEUR (braust auf) Ich bin nicht verpflichtet R EITER (unterbricht ihn) Jetzt kriegst nirgends Arbeit! Jetzt nimmer! I NGENIEUR Wer arbeiten will, der kann! Jetzt und immer! S IMON (applaudiert) I NGENIEUR (wird immer erregter) Hört! Ich habe alles verlassen, um mein Ziel zu erreichen! Ich habe in Baracken gehaust M OSER Wir habn no nie anderswo ghaust! I NGENIEUR - ich habe verzichtet, ich habe im Schatten geschuftet an dem Werk! S LIWINSKI Im Schattn deiner Villa! I NGENIEUR Ich habe keine Villa! S IMON Aber a Wohnung hast! Unds Fressn hast! Und an Mantl, wanns di friert! Ists wahr oder net?! I NGENIEUR Ich werde mir erlauben eine Wohnung zu besitzen! Doch ich hätte auch hungernd und frierend an meinen Plänen gearbeitet - 얍 (er hält plötzlich verwirrt die Hand vor die Augen) Aber ich habe ohne dem lieben Gott kalkuliert! Allerdings, ja, jetzt schlägt das Wetter um M AURER Also, weil Sie Herr sich verrechnet habn, drum stehn wir da, mittn im Winter! Ohne Dach, ohne Holz, ohne Brot! S IMON A jeder redt si aufs Wetter naus, aber kaner rechnet damit! H ANNES Die ganzn Plän san halt falsch. I NGENIEUR Was?! Kritik? Kritik! Du Trottel! Ungebildetes Pack erlaubt sich X AVER (unterbricht ihn) Ohne uns Pack, was war denn dei Werk?! Bloss a Plan! Papier! Papier!! (Stille) I NGENIEUR (geht langsam auf Xaver zu und hält dicht vor ihm; fixiert ihn; plötzlich schlägt er ihm vor die Brust, dass er zurücktaumelt) (Stille) I NGENIEUR (verliert die Nerven) Jetzt könnt ihr gehen! Verschwindet! Marsch! O BERLE Wohin? I NGENIEUR Was weiss ich?! Wohin ihr wollt! Wohin ihr könnt! Wohin ihr gehört! Zum Teufel! M OSER Halt! Komm mit! S IMON , S LIWINSKI Komm mit zum Teufl! M OSER Dort hockn alle armen Sünder hinterm Ofen - alle in aner warmen Stub. Komm mit zum Teufl! Mit uns! Komm mit, komm mit! (er schlägt ihn nieder; Sturm) B

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R EITER Schlag ihn nieder, den Satan! S IMON Schlag ihn tot! 얍 X AVER Ganz tot!! H ANNES Tot! Tot! Tot! (es blitzt und donnert) I NGENIEUR (stürzt zu Boden, springt jedoch sofort wieder empor: zerfetzt und blutend) S LIWINSKI (spuckt ihn an) Pfui Teufl! A LLE (ausser Oberle, wollen sich auf den Ingenieur stürzen) O BERLE (reisst Moser zurück, der perplex ist über seine Kraft, und stellt sich schützend vor den Ingenieur) Zurück, Leut! Zurück! I NGENIEUR (zieht einen Revolver, stösst Oberle zur Seite) Weg! Weg! Ein Revolver langt für Halunken! Zurück! Und Hände hoch! Hoch! Oder A LLE (ausser Oberle, weichen und heben die Hände hoch) I NGENIEUR Revoltieren Zuchthäusler? Jetzt kommt das Gesetz. M AURER Paragraph! Paragraph! S LIWINSKI Kanonen, Kettn und Schafott! Nur zu! S IMON (lacht) Das Gesetz! I NGENIEUR Lach! Lach! Du erstickst daran! R EITER Die Ordnung! Die Ordnung!! I NGENIEUR Hände hoch! Auch Sie, werter Herr Oberle! Hoch, Kerl, oder ich funke dich nieder! Hoch! O BERLE (folgt nicht; fixiert ihn) Wir san kane Zuchthäusler, Sie I NGENIEUR Kusch! Und Hände hoch! Hoch, my boy! O BERLE Nie! Ehrlich schaffn diese Händ! I NGENIEUR Zurück! (er schiesst ihn nieder) O BERLE (wirft lautlos die Hände hoch und bricht tot zusammen) (es blitzt ohne zu donnern; der Wind 얍 zirpt; durch den graugelben Nebel bricht ein Sonnenstrahl und fällt fahl auf die Gruppe; alles verstummt; in weiter Ferne erklingen drei Harfenakkorde; Stille; dann ein gewaltiger Donnerschlag; Verfinsterung; der Sturm winselt und heult) M AURER Der Satan! Der Satan! A LLE Der Satan!! M OSER (röchelt und will sich auf den Ingenieur stürzen) I NGENIEUR (schiesst toll) M OSER (wankt und bricht knapp vor ihm in die Kniee) D IE U EBRIGEN (fliehen und suchen Deckung; finden keine; kleben an einer Wand mit hocherhobenen Händen) I NGENIEUR (schiesst trotzdem) X AVER Mörder! S LIWINSKI Danebn! Danebn! S IMON Bravo! Bravo! M AURER Wir san doch kane Scheibn! Danebn! B

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H ANNES (läuft irr vor Angst dem Ingenieur entgegen) Es lebe der Schütznkenig! Er lebe hoch! Hoch ! Hoch ! I NGENIEUR (will schiessen) M OSER Danebn! (er schnellt sich mit letzter Kraft empor und schlägt dem Ingenieur den Revolver aus der Hand; stürzt wieder) I NGENIEUR (entsetzt; will fliehen, doch Moser klammert sich fest an seinem Bein) (Orkan) D IE U EBRIGEN (nähern sich drohend) I NGENIEUR (tritt und schlägt winselnd auf Moser ein; reisst sich los und retiriert sprunghaft, den Abgrund im Rücken) Die Kreatur! 얍 (er lacht höhnisch-irr hellauf; tritt ins Leere; krallt in die Luft, brüllt verzweifelt und stürzt kopfüber hinab) (Finsternis) B

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Côte 2735. In der Arbeiterbaracke Nummer vier der Bergbahn A.G. Draussen die Landschaft im gelben Licht. 20

A UFSICHTSRAT (sitzt am rechten Ende des langen Holztisches und isst Koteletts, Kartoffeln und Salat; Teller, Schüssel, Messer und Gabel auf weisser Serviette; Thermosflaschen in verschiedenen Grössen stehen vor ihm, aus denen er ab und zu trinkt) V ERONIKA (sitzt am linken Ende des Tisches und sieht ihm zu) A UFSICHTSRAT (sieht auf seine goldene Uhr) Zwanzig nach drei. V ERONIKA Schmeckts? A UFSICHTSRAT Sie sollten mal im Adlon essen V ERONIKA Wo? A UFSICHTSRAT Im Adlon. Im Hotel Adlon! (Stille) A UFSICHTSRAT (mit vollem Munde) Zum Donnerwetter, was glotzen Sie denn so?! Haben Sie noch nie jemanden essen sehen?! So ein Geglotze! Ist ja widerlich! V ERONIKA (tritt scheu an den Herd und hantiert) (Sturmstoss) A UFSICHTSRAT (lauscht; sieht wieder auf die Uhr) Siebenundzwanzig nach drei. Wo der Kerl nur bleibt (Verfinsterung) 얍 V ERONIKA Schnee! Schnee!! A UFSICHTSRAT Was? V ERONIKA Es schneit, es schneit! Und d’ Leut drobn! Jetzt schlagts Wetter um! A UFSICHTSRAT (schnellt empor) Was?! V ERONIKA So schauns do naus! Wies stürmt, wies schneit, wie d’ Höll herwaht! Und d’ Leut drobn, d’ Leut! Es werd do nix gschehn! A UFSICHTSRAT Was soll denn schon geschehen?! Wie? B

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korrigiert aus: hoch korrigiert aus: hoch korrigiert aus: Kartoffel

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V ERONIKA Es san scho paar runter A UFSICHTSRAT (wird immer nervöser) Wo runter? Was runter? Wohin runter?! So machen Sie doch Ihr Maul auf, gefälligst, ja! V ERONIKA Schreins nit so mit mir! A UFSICHTSRAT (brüllt) Was erlauben Sie sich für einen Ton?! Freches Frauenzimmer! - Nichts ist geschehen. Es d a r f nichts geschehen! Basta! (Orkan) S IMON , R EITER , H ANNES (treten erschöpft, zerfetzt ein; setzen sich stumm auf die Bank um den Tisch und stieren übermüdet vor sich hin) (Stille) H ANNES (beugt sich langsam über den Tisch, vergräbt den Kopf in den Händen und schluchzt) V ERONIKA (leise) Wo is der Moser? R EITER (ebenso) Der Moser? Und der Oberle, und der Schulz, und V ERONIKA (schreit gellend auf) A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? S IMON , R EITER , H ANNES (starren ihn an) 얍 S IMON Wer is denn des? R EITER Der Direkter. H ANNES Was für a Direkter? S IMON Der Zirkusdirekter. A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? V ERONIKA Wo is der Moser?! A UFSICHTSRAT Was schert mich der Moser?! V ERONIKA Der Hals, der Hals! Schauts nur den Hals an! Wie des rausquirlt , der Speck - da sollt man mit an Brotmesser dran, mit an scharfn Brotmesser A UFSICHTSRAT Ist die Person verrückt geworden?! Was ist denn los? Was ist denn geschehen?! V ERONIKA (lacht verzweifelt) Es darf ja nix gschehn! Es d a r f nix gschehn!! (sie setzt sich in eine Ecke und weint) A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur?! (Stille) R EITER Der Ingenieur, der is nunter. A UFSICHTSRAT Ins Tal? S IMON In d’ Höll! H ANNES Kopfüber is er nunter, kopfüber! S IMON Ueber d’ Wand! Vierhundert Meter! Oder tausend! R EITER Ins Leere is er gtretn, ins Nix. (Stille) H ANNES (erhebt sich schwerfällig, tritt an das Matratzenlager, setzt sich und zieht sich die Stiefel aus; fixiert plötzlich den Aufsichtsrat) - und wissens, Sie Herr Direkter - bevor der zur Höll gfahrn is, da hat er vorher no auf Scheibn gschossn. Er war a braver Schütz! A jedsmal hat er ins Schwarze gtroffn, a jedsmal! Akkurat! Der Schütznkenig. (er legt sich nieder) B

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korrigiert aus: rausquirrlt korrigiert aus: scharffn Absatz getilgt

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SB Volksbühne 1927a, S. 47

Endfassung Revolte auf Côte 3018

5

10

15

20

25

30

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 A UFSICHTSRAT Ich fordere Aufklärung. S IMON Niedergschossn hat er uns, niedergschossn! A UFSICHTSRAT Quatsch! Ihr hockt doch da! S IMON Wir hockn da! Aber wir liegn a drobn, im Schnee! Derschossn, derfrorn, verblut und verreckt!! V ERONIKA (leise) Kimmt denn kaner mehr zruck? (Stille) R EITER Der Maurer und der Dings, und - die kommen scho no. Aber an Moser werdns lassn müssn. Der war ja scho drobn verblut - Den runterbringn wolln, des is bloss a Quälerei. V ERONIKA Des is glogn! R EITER Halts Maul! V ERONIKA Der lebt! R EITER Jetzt nimmer! Jetzt nimmer! A UFSICHTSRAT Der Tatbestand muss klargestellt werden. R EITER Der is scho klargstellt. A UFSICHTSRAT (höhnisch) Ohne Justiz? Ohne Gendarmerie? V ERONIKA (nähert sich Simon) Du, - Is des wahr, dass er tot is -? S IMON Ja. V ERONIKA (unterdrückt) Simon, was werd jetzt no alls kommen?! S IMON Zuerst: die Gendarmerie. V ERONIKA Horch, der Sturm! - Simon, i kann an Moser nimmer sehn, i möcht fort, i kann kane Leich net sehn! I hab so Angst, Simon S IMON I hab ka Angst. V ERONIKA Simon, lass mi nur nit allein - i kann 얍 jetzt nit allein nunter A UFSICHTSRAT (zündet sich nervös eine Zigarre an) A LLE (glotzen ihn an) A UFSICHTSRAT (unsicher; kaut an der Zigarre) S IMON (grinst) Nur kane Angst! A UFSICHTSRAT (kreischt) Ich habe keine Angst, Sie! H ANNES (lacht ihn aus)

_____ _____ _____ _____ 35

40

45

Schneesturm. Man sieht kaum fünf Schritte weit. Unterhalb eines Grates. M AURER , S LIWINSKI , X AVER (steigen ab und stützen den verwundeten Moser) M OSER Halt! I kann nimmer S LIWINSKI No hundert Meter! M OSER Kan Schritt mehr. M AURER Zu! Wir san bald drunt! M OSER Was soll i denn drunt mit an lahmen Knie? Betteln?! - Lasst mi! Wisst, man is halt bloss a Vieh S LIWINSKI Bist verruckt?! Zu! (Blitz und Donner) M OSER Holla! Jetzt sprengt der liebe Gott. Da fliegn Staner, schwarer als Stern - (er reisst sich los) Rettet euch! Lauft! Lauft! Lasst den Moser liegn! Der kann nimmer, der mag nimmer, der is verreckt!

160

SB Volksbühne 1927a, S. 48

SB Volksbühne 1927a, S. 49

Endfassung Revolte auf Côte 3018

5

10

15

B

25

Lesetext

M AURER Und wenn wir alle verreckn! Komm! M OSER Na, ihr dürft net verreckn! Ihr müsst nunter und scharf aufpassn, dass ka Tropfn Blut vergessn werd - verstehst? - Vergesst uns net. Und der Vroni, der sagts an schön 얍 Gruss, und es hat halt nicht sollen sein - - Vergesst uns net. Den altn Oberle Ludwig, den Schulz, und den Moser Karl aus Breitenbach - Geht! Flieht! Flieht und vergesst uns net! Zu! X AVER I kann di net lassn M OSER Du musst! Sonst verwaht uns alle der Sturm, wie a Spur im Schnee. (er bricht nieder) (Maurer, Sliwinski, Xaver verschlingt der Sturm) M OSER (allein; kauert) (Der Sturm lässt auf Augenblicke nach; Schnee fällt in grossen Flocken) M OSER (leise) Wie des schneit, wie des schneit - still und weiss. - Wie des blut, wie des blut - rot und warm - - Leb wohl, Kamerad - leb wohl - - (er nickt ein; in der Ferne heult der Sturm: Kreatur! Kreatur! - er schreckt zusammen) Nur net einschlafn, nur net einschlafn! (er lauscht) Ho! Jetzt kommen die Paragraphen! Mit Musik! Horch! - Links , rechts, links, rechts! Das Gewehr über! Das Gesetz! Das Gesetz! - Links, rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts - (es klingt wie Trommeln, marschierendes Militär und Gewehrgriffe) (Stille) M OSER Die Ordnung! (Sturmstoss) M OSER Ho! Ho, wohin soll i mi denn stelln?! Wohin? (er reckt sich empor) Schiesst! Schiesst! Los! Legt an! Feuer!! (Trommelwirbel) 얍 B

20

1 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

SB Volksbühne 1927a, S. 50

N

N

Vo r h a n g . SCHLUSS. 30

°°°°

17 23

B B

LinksN ] M OSER N ]

korrigiert aus: links eingefügt

161

SB Volksbühne 1927a, S. 51

Endfassung Fassung Autobiographische Revolte auf CôteNotiz 3018

2 (Grundschicht) BB/K11/TS (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Autobiographische Notiz von Ödön von Horvath.

5

10

15

ÖLA 3/W 226 – BS 64 c, Bl. 1

Als der sogenannte Weltkrieg ausbrach, war ich dreizehn Jahre alt. An die Zeit vor 1914 erinnere ich mich nur, wie an ein langweiliges Bilderbuch. Alle meine Kindheitserlebnisse habe ich im Kriege vergessen. Mein Leben beginnt mit der Kriegserklärung. Ich bin am 9. Dezember 1901 in Fiume geboren. Während meiner Schulzeit wechselte ich viermal die Unterrichtssprache und besuchte fast jede Klasse in einer anderen Stadt. Das Ergebnis war, dass ich keine Sprache ganz beherrschte. Als ich das erstemal nach Deutschland kam, konnte ich keine Zeitung lesen, da ich keine gotischen Buchstaben kannte, obwohl meine Muttersprache die deutsche ist. Erst mit vierzehn Jahren schrieb ich den ersten deutschen Satz. Wir, die wir zur grossen Zeit in den Flegeljahren standen, waren wenig beliebt. Aus der Tatsache, dass unsere Väter im Felde fielen oder sich drückten, dass sie zu Krüppeln zerfetzt wurden oder wucherten, folgerte die öffentliche Meinung, wir Kriegslümmel würden Verbrecher werden. Wir hätten uns alle aufhängen dürfen, hätten wir nicht darauf gepfiffen , dass unsere Pubertät in den Weltkrieg fiel. Wir waren verroht, fühlten weder Mitleid noch Ehrfurcht. Wir hatten weder Sinn für Museen noch die Unsterblichkeit der Seele -- und als die Erwachsenen zusammenbrachen, blieben wir unversehrt. In uns ist nichts zusammengebrochen, denn wir hatten nichts. Wir hatten bislang nur zur Kenntnis genommen. Wir haben zur Kenntnis genommen -- und werden nichts vergessen. Nie. Sollten auch heute einzelne von uns das Gegenteil behaupten, denn solche Erinnerungen können unbequem werden , so lügen sie eben. B

N

B

20

25

B

18 19 25

gepfiffenN ] hattenN ] BwerdenN ] B B

N

gepfiffen[ü] [hä] |hatten| werden[{ö}]

162

N

Endfassung Fassung Autobiographische Revolte auf CôteNotiz 3018



1

(Korrekturschicht) BB/K1/TS3

Lesetext

Autobiographische Notiz Von Ödön von Horváth (Zur Uraufführung von Horváths „Revolte auf Höhe 3018“) B

5

10

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20

Als der sogenannte Weltkrieg ausbrach, war ich dreizehn Jahre alt. An die Zeit vor 1914 erinnere ich mich nur, wie an ein langweiliges Bilderbuch. Alle meine Kindheitserlebnisse habe ich im Kriege vergessen. Mein Leben beginnt mit der Kriegserklärung. Ich bin am 9. Dezember 1901 in Fiume geboren. Während meiner Schulzeit wechselte ich viermal die Unterrichtssprache und besuchte fast jede Klasse in einer anderen Stadt. Das Ergebnis war, daß ich keine Sprache ganz beherrschte. Als ich das erste Mal nach Deutschland kam, konnte ich keine Zeitung lesen, da ich keine gotischen Buchstaben kannte, obwohl meine Muttersprache die deutsche ist. Erst mit vierzehn Jahren schrieb ich den ersten deutschen Satz. Wir, die wir zur großen Zeit in den Flegeljahren standen, waren wenig beliebt. 얍 Aus der Tatsache, daß unsere Väter im Felde fielen oder sich drückten, daß sie zu Krüppeln zerfetzt wurden oder wucherten, folgerte die öffentliche Meinung, wir Kriegslümmel würden Verbrecher werden. Wir hätten uns alle aufhängen dürfen, hätten wir nicht darauf gepfiffen, daß unsere Pubertät in den Weltkrieg fiel. Wir waren verroht, fühlten weder Mitleid noch Ehrfurcht. Wir hatten weder Sinn für Museen noch die Unsterblichkeit der Seele – und als die Erwachsenen zusammenbrachen, blieben wir unversehrt. In uns ist nichts zusammengebrochen , denn wir hatten nichts. Wir hatten bislang nur zur Kenntnis genommen. Wir haben zur Kenntnis genommen – und werden nichts vergessen. Nie. Sollten auch heute einzelne von uns das Gegenteil behaupten, denn solche Erinnerungen können unbequem werden, so lügen sie eben. B

25

N

2 22

B B

HorváthN ] zusammengebrochenN ]

korrigiert aus: Horvath korrigiert aus: zuzammengebrochen

163

N

Der Freihafen, Blätter der Hamburger Kammerspiele, 10. Jg (1926/27), H. 3, S. 3

Der Freihafen, S. 4

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1

164

(Korrekturschicht)

Lesetext

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1

(Korrekturschicht)

Konzeption 2: Die Bergbahn – Volksstück in drei Akten

Lesetext

Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)



Lesetext

Die Bergbahn

SB Volksbühne 1927b, o. Pag. (S. 3)

Volksstück in drei Akten von Ödön von Horváth. B

5

N



Personen: Karl Schulz Veronika Xaver Sliwinski Reiter Moser

10

15

SB Volksbühne 1927b, o. Pag. (S. 4)

Oberle Maurer Hannes Simon Ingenieur Aufsichtsrat

Schauplatz: Hochgebirge. Zeit: Vierundzwanzig Stunden.

20

-o-

Erster Akt: In der Arbeiterbaracke.

25

Zweiter Akt: Steiler Grat - vor der Arbeiterbaracke. Dritter Akt: Die Hilfsstücke - Schneesturm - Schwarze Wand. 30



Randbemerkung:

35

Dialekt ist mehr als ein philologisches, ein psychologisches Problem. Verfasser befolgte im Folgenden weder philologische Gesetze, noch hat er einen Dialekt (hier Dialekte des ostalpenländischen Proletariats) schematisch stilisiert, sondern er versuchte Dialekte als Charaktereigenschaft der Umwelt, des Individuums, oder auch nur einer Situation, zu gestalten.

40

__________________

5

B

Ödön vonN ]

korrigiert aus: Ödön von überzählige und fehlende Zeichenabstände werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis.

166

SB Volksbühne 1927b, o. Pag. (S. 5)

Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)



B

10

15

Erster Akt In der Arbeiterbaracke Nr. 4 der Bergbahn A.G. Links Matratzenlager. Rechts Herd und langer Holztisch, darüber Petroleumlampe. Im Hintergrund eine Tür ins Freie, rechts eine nach dem Raume des Ingenieurs. Neben letzterer Telefon . Spätnachmittag. Herbst. N

N

V ERONIKA (lacht) K ARL (grimmig) Wie die lacht! Wie die lacht! V ERONIKA Ausgerutscht! Ausgerutscht! - Du bist mir so aner, so von hinten - so a ganz Rabiater - S CHULZ (ein blasses, schmales Kerlchen mit Sommersprossen, tritt ein; verbeugt sich leicht; er lispelt ein wenig) Guten Tag! Verzeihen Sie, Fräulein: dies hier, dies gehört doch zum Bergbahnbau? V ERONIKA Ja. S CHULZ Dies ist doch Baracke Nummer 4? V ERONIKA Ja. S CHULZ Hm. K ARL Wer san denn Sie? S CHULZ Mein Name ist Schulz. K ARL Was wollns denn da? S CHULZ Ich möchte den Herrn Ingenieur sprechen. K ARL Der is jetzt net hier. S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. K ARL Suchens Arbeit? S CHULZ Ja. K ARL (schnallt sich ein Gestell auf den Buckel) So? Drum. 얍 S CHULZ (lächelt verlegen) Eben. - - Wann kommt der Ingenieur? V ERONIKA Nit vor der Nacht. (Sie nähert sich Karl) Mußt scho nunter? Wieder nunter? Du trauriger Bua - K ARL Tu nur net so! So scheinheili! - - Alsdann, was brauchst? A Mehl, dreißig Pfund und a Marmelad. V ERONIKA Und an Schnaps. K ARL Und an Schnaps. - - Und? V ERONIKA Sonst nix. K ARL N i x ? V ERONIKA Nix. Nix vo dir. (Stille) K ARL Jetzt glaub ichs, was d’ Leut im Dorf redn. Es is scho wahr: Dei Mutter hat mitn Teufl paktiert, an Vater hat ja no kaner gsehn ! B

20

SB Volksbühne 1927b, S. 6

B

5

Lesetext

N

B N

25

B

30

35

40

N

B

5 6

B

16 24 26 40

B

B

TelefonN ] Spätnachmittag. Herbst.N ]

BarackeN ] ] BS CHULZ N ] BgsehnN ] B N

N

korrigiert aus: Telephon Einzug getilgt; Einzüge von längeren Szenenanweisungen werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis. korrigiert aus: Barracke Absatz getilgt korrigiert aus: S CHUKZ korrigiert aus: g’sehn Apostrophe werden in TS1 stillschweigend getilgt; vgl. Chronologisches Verzeichnis.

167

SB Volksbühne 1927b, S. 7

Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

V ERONIKA Halts Maul! K ARL Du bringst bloß Unglück! Lach net! Herrgottsakra! Des Fleisch! Du bist scho des best Fleisch im Land, auf und nieder! Di hat net unser Herrgott gformt; den Arsch hat der Satan baut! - - Adies, Höllenbrut! - (rasch ab) V ERONIKA (betrachtet Schulz; etwas spöttisch) Was wollns denn vom Ingineur? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. V ERONIKA (äfft ihn nach) So? Das habe ich n i c h t gehört. (ab) S CHULZ (allein) Hm. X AVER , S LIWINSKI , R EITER (kommen von der Arbeit mit Spaten, Hacken usw. Xaver und Sliwinski legen sich auf die Matratzen, nur Reiter beachtet Schulz) R EITER Wer bist denn du ? 얍 S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. R EITER (lacht kurz) So? Wo hast denn des ghört? S CHULZ In, in - - ich weiß nicht, ob es stimmt. R EITER Des stimmt net. Aber scho gar net. S CHULZ (setzt sich) - R EITER (lehnt seine Hacke an die Wand und will wieder hinaus, trifft in der Türe auf Veronika, die mit einer Schüssel Kartoffeln und einigen rohen Koteletts eintritt) V ERONIKA Wohin? R EITER Des geht di nix an! (ab) V ERONIKA ( erblickt Schulz) Jetzt hockt der no allweil da! S CHULZ Ja. (Stille) S CHULZ Eßt ihr hier alle Tage Fleisch? V ERONIKA Ah! Die Schnitzel da san für an hohn Herrn, an Direktor. Der is d’ Bergluft net gwohnt, drum muß er fest essn - - was schauns mi denn so an? S CHULZ Ich dachte nur nach: wann ich das letztemal Fleisch - V ERONIKA Was für Fleisch? S CHULZ Fleisch - V ERONIKA Aso! (Stille) V ERONIKA (wendet sich ihm zu) Um Gotts Willn! Mensch, was habens denn?! Sie san ja ganz gelb, als warens tot! S CHULZ Mir ist es nur plötzlich so schwindlig. Das dürfte wohl auch die Luft gewesen sein, die Bergluft, die eben nicht jeder gewohnt ist. Fest essen, fest essen. B N

5

B

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N

B N

B

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N

B N

B

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B

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B

N

N

B N

N

N

B

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B

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N

4 7 7 11 17 18 21 21 22 25 26 33

] ihnN ] B N] BduN ] B N] BKotelettsN ] BdiN ] B N] BerblicktN ] BS CHULZ N ] Bd’N ] BV ERONIKA N ] B N B

Absatz getilgt korrigiert aus: ihm Absatz getilgt korrigiert aus: Du gestrichen: Hacke korrigiert aus: Kotelettes korrigiert aus: Di Absatz getilgt korrigiert aus: Erblickt eingefügt korrigiert aus: d eingefügt

168

N

SB Volksbühne 1927b, S. 8

Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

5

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BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 V ERONIKA (setzt sich neben ihn und schält die BKartoffelnN) Woher kommens denn? S CHULZ Von unten. V ERONIKA Na, i mein: woher? BAusN welcher Stadt? Sie san do aus der Stadt, Sie redn ja so. S CHULZ Ich bin aus Stettin. V ERONIKA Stettin? S CHULZ Stettin liegt am Meer. V ERONIKA Am Meer? Am richtigen Meer? S CHULZ (lächelt) Am richtigen. (Stille) V ERONIKA San Sie schon mal durch Berlin kommen? S CHULZ Oft! V ERONIKA I, wenn i Sie war, i war nie fort von dort! S CHULZ Es gibt dort zu viele ohne Arbeit. V ERONIKA I glaub allweil, Sie habn no nit viel garbeitet. S CHULZ Wieso? V ERONIKA Die feinen Händ! Wie ane Hebamm. Da, schauns meine an: kochn, waschn, scheuern - da platzns und werdn rot, wie der Krebs. S CHULZ Die müssen Sie einfetten und fleißig baden. In heißem Wasser. Dann wird die Haut wieder sammetweich und elfenbeinern. Am besten: Sie nehmen die Salbe von Meyer et Vogel in der blauen Tube. V ERONIKA Woher wissens denn all das? S CHULZ Eigentlich bin ich Friseur. V ERONIKA Drum diese Hände! S CHULZ Ich habe schon viele hundert Frauen-Hände behandelt. V ERONIKA Geh hörens auf! S CHULZ Jawohl! Dazumal, als ich in Warnemünde über die Sommersaison arbeitete: im ersten Haus am Platze! Tipp-topp! - 얍 Fräulein, das war mein goldenes Zeitalter! Ich war, sozusagen, Intimus der Damenwelt. Da war eine Frau Major, die vertraute mir - alles an! V ERONIKA Da habens freili viel ghört und gsehn. Danebn is unserans a neugeborens Kalb. S CHULZ Ich schätze naive Frauen. Nur zu rasch übersättigen einen die Raffinierten. V ERONIKA Wir habn hier auch an, der scho weit in der Welt rumkommen is. Der alt Oberle, der war kriegsgfangen, in der Mongolei, ganz hint. Bei den Gelbn, Schlitzäugigen und Juden. In Asien. - Waren Sie scho in Asien? S CHULZ Nein, noch nicht. V ERONIKA So sieht halt jeder was andres. S CHULZ Durch unseren Beruf bekommt man automatisch Einblick in manche Geheimnisse des weiblichen Wesens. Man enträtselt allmählich die Sphinx. (Er hustet stark.) V ERONIKA ( BklopftN ihm auf den Rücken) Hoppla! Sie solltn nit so viel redn. Die Bergluft -

1 3 42

KartoffelnN ] AusN ] BklopftN ] B B

korrigiert aus: Kartoffel korrigiert aus: aus korrigiert aus: Klopft

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SB Volksbühne 1927b, S. 9

SB Volksbühne 1927b, S. 10

Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

N

B

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Lesetext

S CHULZ Ich bin Ihnen dankbar, sehr dankbar, daß Sie mit mir reden. Ich habe nun fünf Tage lang kaum geredet. Da verlernt man selbst die Muttersprache. Man ist überrascht von der eigenen Stimme, wie der Dichter sagt. (Er hustet wieder.) V ERONIKA ( ließ ihre Hand auf seinem Rücken; befühlt nun seine Schultern, Arme -) Hörens: i glaub kaum, daß Sie hier mitarbeitn werdn; Sie san zu schwach. S CHULZ Meinen Sie? V ERONIKA Wie der guckn kann! Direkt spaßig ! S CHULZ Sie lachen so schön V ERONIKA Sie san a komischer Mensch! S CHULZ Gestatten: mein Name ist Schulz. - 얍 Max Schulz. - Und Sie? V ERONIKA Vroni. S CHULZ Das soll wohl Veronika sein? V ERONIKA Ja. (Stille) V ERONIKA Habens scho viele rasiert? S CHULZ Rasiert, frisiert, onduliert V ERONIKA „Onduliert“? S CHULZ Das läßt sich nicht so einfach erklären. - M OSER (erscheint in der Türe. - Die Sonne ist untergegangen. Rasch wird es Nacht) V ERONIKA Die Friseur san alle gscheite Leut. Friseur und Dokter. Die kennst kaum ausanand. - - Sans verruckt?! S CHULZ (riß sie an sich) Was bin ich? - Schwach? V ERONIKA Lassens! Nit! Ni - S CHULZ (küßt sie) V ERONIKA (entdeckt Moser) Jesus Maria!! M OSER I habs gsehn! Lüg net! Du Fetzn! V ERONIKA I lüg nit, Moser! M OSER I habs scho gsehn, wie Ihr beieinanderhockt! Und jetzt! V ERONIKA Der hat mi überfalln! Meuchlerisch, heimtückisch! I hab bloß gredt, und da hat er mi packt! M OSER (fixiert Schulz) S CHULZ (weicht zurück) X AVER , S LIWINSKI (sind von den Matratzen aufgeschnellt) O BERLE , M AURER , H ANNES , S IMON (traten hinter Moser ein) M OSER (drängt Schulz an die Wand; breitspurig) Wer bist denn du, ha? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. M OSER (gibt ihm eine schallende Ohrfeige) 얍 E INZELNE (lachen halblaut) O BERLE Moser! M OSER Schweig! So a Krüppl ghört zu Mus gtretn! (er schlägt ihm mit der Faust ins Antlitz.) Spürst was, Bürscherl? - Der lacht! Wart! Da! O BERLE Schlag do kan Krüppl! M OSER Halts Maul, damischer Wanderapostl! Predig in der Höll! I glaub and’ Faust! Da, du Lump! Und da! B

5

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

B

N

SB Volksbühne 1927b, S. 11

N

B N

4 7 15 40

ließN ] spaßigN ] BV ERONIKA N ] B N] B B

korrigiert aus: Ließ korrigiert aus: spassig eingefügt Absatz getilgt

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SB Volksbühne 1927b, S. 12

Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

5

10

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Lesetext

S CHULZ (brüllt plötzlich los) Au! Au! Ich habe ja nichts - Au!! M OSER Nix?! So is des a nix! Spürst des „nix“?! (Er schlägt tobend auf ihn ein; immer ins Gesicht.) A LLE (außer Oberle, haben sich zurückgezogen.) S CHULZ (wimmert blutüberströmt und bricht bewußtlos an der Wand zusammen.) M OSER So. Der langt jetzt kaner mehr an den Bart. - Aber heiß werd an bei dem Geschäft. Heiß! (Er sauft) O BERLE (beugt sich zu Schulz nieder.) M OSER Oberle! Dokter, was macht unser Patient? Fühl den Puls, ob er si bschissn hat! Es stinkt so! Ganz sakrisch! O BERLE Halts Maul! - - Moser, du kenntest an Menschn niederschlagn, als wars an Ochs. M OSER (lacht kurz) Vieher san wir alle. I, er und du a. S CHULZ ( räkelt sich langsam empor) O BERLE Was wollns hier? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. - Woher hätte ich es wissen sollen, daß das Fräulein 얍 einen Bräutigam hat? M OSER Naus! Naus! S CHULZ (ab. Es ist Nacht geworden) S IMON Licht! V ERONIKA (zündet die Lampe an; tritt an den Herd) A LLE (ziehen sich die Stiefel aus, wechseln Socken, Hemden, Joppen - - liegen, sitzen auf den Matratzen oder stehen herum. Gemurmel) M OSER (zieht sich das Hemd aus) Wer hust da was von Rohheit? Wer? Die paar Pflaster hat si der Hundling redli verdient! War ja glacht! Er a scho mit de grossn Hund pieseln! Pürscht si da ran, der Beihirsch! In diesem Punkte kennt der Moser weder Spezi no Bruder! Will er net kennen! Da werd er wild! - Vroni! Geh her Daher! V ERONIKA (tritt zu ihm hin.) M OSER Ha? Hab i den zu stark gschlagn? V ERONIKA Du weißt es nit, wie stark du schlagn kannst. Moser! Du bist a Tier! A wilds Tier! Ausm großn Wald! M OSER Und du? Sags! Ha? V ERONIKA Du! Du machst mi zum Tier - (sie beißt in seine Brust.) M OSER (stößt Veronika von sich; grinst Oberle an; gröhlt) Jessas, die wandelnd Nächstenlieb! Stehts auf allesamt! Zu! Präsentierts der frommen Seel! Dem verschleimt Apostl, der Wasser predigt, Luft frißt und do nur Dreck scheißt! So präsentierts do! Zu! Los! (Keiner reagiert) M OSER (sieht sich überrascht um.) 얍 Ja, Herrgott - Sakrament (Schweigen) B

15

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

N

SB Volksbühne 1927b, S. 13

B N

25

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B

N

B N

B N

35

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B

N

14 24 32 34 35 40 40

räkeltN ] ] BgroßnN ] B N] B N] BM OSER (siehtN ] B N] B

B N

B N

korrigiert aus: räckelt Absatz getilgt korrigiert aus: grossn Absatz getilgt Absatz getilgt korrigiert aus: (Moser sieht Absatz getilgt

171

SB Volksbühne 1927b, S. 14

Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

5

10

15

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40

Lesetext

M OSER (fixiert heimtückisch Oberle; lacht gewollt.) Oberle! Oberle! Du hättest Christkind werdn solln! Oder Papst! O BERLE Und du Metzger. Oder Henker. R EITER (leise) Horch, der Wind M AURER ( ebenso ) Wie a Opernsängerin. M OSER (näherte sich langsam Oberle; unterdrückt) Du, geh her! Wie hast du des gmeint, des mit dem - Henker? O BERLE Des werst leicht erratn. (Er läßt ihn stehen.) S IMON (überlaut, als wollte er etwas überschreien.) Wann kimmt denn der Herr? X AVER Was für a Herr? S IMON Der Direkter! H ANNES Was für a Direkter! E INZELNE (lachen befreit auf) S LIWINSKI Der an Ingineur braucht zum aufikeuchn, zwegn dem Großkopf! X AVER Und zwegn der Wampn! Hat an Bauch, wies goldne Kalb! M AURER War ka Wunder! Schaugts hin aufn Herd, was so a hoher Herr für Brotzeit macht, bal er mal fünf Stund hatscht. S IMON Dafür is er a Direkter und du bist bloß der Arbeitsmann. Er dirigiert und schluckt Schnitzl mit Salat und sauft sein Champagnerwein, daß ihm die Sauce bei der Lefzn runterrinnt - und du darfst di schindn und hast an Schmarrn! H ANNES Aber an guatn, des muß ma da Vroni laßn! S LIWINSKI Recht hast, kenigli boarischer Haus- und Hoftepp! S IMON Der Kavalier! Der Zawalier! X AVER Geb nur acht, daß di der Moser net der-얍wischt! M OSER Was gibts da mitn Moser? O BERLE Nix. S LIWINSKI (spielt auf einer Mundharmonika) M AURER (grinst Moser ins Gesicht) Bravo! X AVER (schnalzt) Tanzn sollt ma halt kennen! Tanzn! S IMON A Tanz ohne Dirn, is wie a Stier, der net springt! R EITER Zum Landler ghört a Mensch, wie a Köchin zum Kaplan! M AURER (singt) Guten Morgen, Herr Pfarrer Wo is der Kaplan? Er liegt auf der Köchin Und kraht wie a Hahn! (Schallendes Gelächter) X AVER Kreizkruzefix! War scho höchste Zeit, daß an was Weiblichs zulauft! Alls kannst unmögli nausschwitzn! S IMON (singt) Und keiner ist so eigen Und keiner so verschmitzt Als wie der, der ins Bett macht Und sagt, er hätt geschwitzt B

N

B

20

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

5 18 41 42

B

N

B

N

ebensoN ] DirekterN ] BkeinerN ] BkeinerN ]

N

B

ebe\n/so

B

korrigiert aus: Derekter korrigiert aus: Keiner korrigiert aus: Keiner

172

SB Volksbühne 1927b, S. 15

Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

( Telefon - Alles verstummt und horcht) V ERONIKA (tritt ans Telefon) Hier Baracke Nummer vier. Ja. - - So. Ja. (Sie hängt ein) Der Ingineur is unterwegs. Der Direkter übernacht vielleicht auf Nummer drei. S IMON Auf Nummer sicher! S LIWINSKI Den hats zerrissn! Der hat si mit di Berg überhobn! H ANNES Wißt Leutl, des mit di Direkter. Des is so: da ghöret a Lift her, wies es in die Wolkenkratzer habn, drübn in Amerika. So an Wolkenkratzer is nämli häher, 얍 als inser höchster Berg! X AVER Jawohl, Herr Nachbar. R EITER Des is ja gar ka Direkter, des is an Aufsichtsrat. S IMON Richti! Des san die, die allweil aufpassn, ob die andern net faulenzen. Dabei sitzens in lauter Schaukelstühl und schnupfn. S LIWINSKI (spielt nun ein sentimentales Stück) M AURER Pst! (Alle lauschen) X AVER (singt leise) Und die Wasserl habn grauscht Und die Bacherl habn plauscht H ANNES (fällt ein) Aber gschwind, wie der Wind Lassens trauri mi hint - (Gesumm) Denn auf den Bergen Da wohnt die Freiheit Ja, auf den Bergen Da, is es scheen - E INZELNE (summen mit) Da is es scheen - M OSER (näherte sich Oberle; leise; unsicher) Oberle, du bist so hinterlisti still. - Hast etwa zuvor sagn wolln, daß i den da draußn, daß der da draußn O BERLE Na. Aber bremsn mußt! Sonst könnts leicht mal an Unglück gebn. Der blut nur, aber leicht kennt si mal aner verblutn. M OSER (grinst) So? Halt! Sag: was hättest denn du dann - hättst ihn gestreichelt und gschmeichelt, hättest Kratzfüß gmacht, daß der Dreck nur so rumgspritzt war, ha? Net zughaut, na na! Und warum net? Weißt warum net? 얍 Weil du net kannst! Weil deine Arm ohne Schmalz san, verstehst, du Schleimer! I hab di scho heraußen, Oberle! O BERLE Meinst? M OSER Jawohl! Sogar sehr! - Oberle, kennst die Hirsch? Was macht denn der Hirsch, wenn a Fremder über sein Rudel kimmt, ha? Der rauft damit! Und dersticht ihn! Der Stärkere den Krüppl, verstehst? O BERLE Wir san aber kane Hirsch. Wir san arme Teufl. Wir kennens uns net leistn zwegn an Madl - und wars a ganzer Harem, uns die Schädl zu zerschlagn! Wir B

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Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

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müssn des Hirn und all unsere Kraft sparn. Wir habn nur Feind, lauter mächtige Feind! M OSER Wo hast denn die Sprüch glernt? O BERLE Im Krieg. Da hab i den Feind gsehn, ganz deutli und scharf. - Damals warst du no klein. Hast Schneemanner baut und net lesen kennen. - Komm jetzt! V ERONIKA (hatte zwei dampfende Schüsseln auf den Tisch gestellt um den die anderen bereits Platz genommen haben) O BERLE (setzt sich) M OSER (folgt ihm langsam nach) A LLE (essen) (Der Wind wimmert und rüttelt an den kleinen Fenstern) S LIWINSKI (lauscht) Der bringt Schnee. Viel Schnee. R EITER Oktober. Nachher werds nimmer gut. X AVER Ja, die Berg warn a zu rot. (Schweigen) M AURER Jetzt heut wars scho gar nimmer so einfach. Der weni Neuschnee in der letztn Nacht, da rutscht alls, und drobn des Gröll, des hat der Satan angschaut - 얍 da, wer net hinhorcht, da ists glei aus mitn schönen Land Tirol! (Schweigen) R EITER Wie hat sie nur jetza der geschriebn, dens im Frühjahr runtergwaht hat? Beim Hilfskabel. Da hast schier nimmer gwußt, was da vor dir liegt. Im Sack habns den Brei aufn Gottsacker gschafft. S IMON Der Müller Anton wars. Von Pfaffenhofen. M AURER Richti! Ja, des war schreckli. Und a Weib und vier unmündige Kinder. (Schweigen) M AURER Es is scho a wahre Sünd, was mit die Menschn gtriebn werd. Da turnst herum, wie kaum a gewiegter Turist, rackerst di ab mit Lawinen, Steinschlag, Wetter - und was erreichst? Grad, daß dei Essen hast und a Lager, wie a Unterstand, als hätt der Krieg kan End! Abgschnittn von der Welt. (Schweigen) S LIWINSKI Neuli habens an Ingineur gfeiert. M AURER In der Zeitung is gstanden, er sei unsterbli. S IMON Aber von die Totn schreibt kaner ! R EITER Die Totn san tot. O BERLE (hebt langsam das Haupt) Die san net tot! Die lebn! (Schweigen) S LIWINSKI Da liest überall vom Fortschritt der Menschheit und die Leut bekränzn an Ingineur, wie an Preisstier, die Direkter sperrn die Geldsäck ind’ Kass und dem Bauer blüht der Fremdenverkehr. A jede Schraubn werd zum „Wunder der Technik“, a jede Odlgrubn zur „Heilquelle“. Aber, daß aner sei 얍 Lebn hergebn hat, des Blut werd ausradiert! S IMON Na, des werd zu Gold! X AVER Wahr ists. R EITER Allweil. B

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Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

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X AVER Allweil des Geld. H ANNES Des Geld hat der Teifl gweiht! M AURER Des Grundübel, des is die kapitalistische Produktionsweise. Solang da a solche Anarchie herrscht, solang darfst wartn mit den Idealen des Menschengeschlechts. Die Befreiung der Arbeiterklasse S IMON (unterbricht ihn) Des san Sprüch. M AURER Was san des? S IMON Sprüch. - Und weißt warum? Weil mans nur hört, aber net spürt! Da hat erst neuli einer drunt gesprochn, vor der letztn Wahl wars, und Leut warn da von weit und breit, gstecktvoll! Und gredt hat der, zwa Stund! Vom Klassenbewußtsein und der Herrschaft des Proletariats, und vom Zukunftsstaat, zwa Stund - aber nacher, da hat er mit an Gendarm kegelt, vier Stund! Lauter Kränz habns gschobn, lauter Kränz! An Kenig habns stehn lassn, a jedesmal! Akkurat! - Alle neune, muß heißn! Alle neune!! M AURER D e s san Sprüch! S LIWINSKI Des und des! Was nützt des Redn ohne Macht? S IMON Richti! Aber wie willst denn du die Macht erobern? S LIWINSKI Wie du! Damit! S IMON Bravo! S LIWINSKI Mit der Faust! (Er schlägt auf 얍 den Tisch) Und, wenns an Oberle a net paßn sollt O BERLE Obs an Oberle paßt oder net paßt, des is ganz gleich - aber ob uns mit der Faust gholfen is, des bezweifelt der Oberle. Er glaubt, daß man mit der Faust nix erreicht S LIWINSKI (unterbricht ihn) Also möcht der Oberle, daß alls so bleibt, wies is. O BERLE Es werd net so bleibn. S IMON Richti! Es werd no viel schlimmer werdn! O BERLE Was weißt denn du, wie schlimm daß es war?! Wie alt bist denn du, ha? Was hast du scho gsehn?! S LIWINSKI Holla, holla, holla - der sanft Oberle R EITER Ruhe! H ANNES Laßt an do eßn! S LIWINSKI (grinst) Friß nur, friß - daß di aber nur net verschluckst! S IMON (zu Oberle) Entschuldigens, Herr, daß i bisher nur Dreck gsehn hab. I kann aber nix dafür, daß i no net in Asien war - du, du kannst ja a nix dafür. O BERLE (lächelt) Na, da kann i nix dafür. Mir wars lieber, kannst es glaubn, i hätt des Asien nie gsehn und war heut erst zwanzig Jahr. S LIWINSKI Jetzt predigt er scho wieder! S IMON „Liebe den Kapitalismus, wie dich selbst!“ X AVER (lacht) S LIWINSKI Der Moser hat recht! Des is an Apostl, auf und nieder! Recht hast, Moser! M OSER (rührt sich nicht) (Schweigen) B

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얍 O BERLE Der Moser weiß, daß durch Gewalt nix gedeiht. Nix. A LLE (starren Moser verdutzt an) O BERLE Der Moser weiß, daß sei Faust stark is, furchtbar stark - und es kann ja leicht möglich sein, daß er sei Faust mal gebrauchn werd müßn, aber da gabs bloß Blut. Sonst nix. S CHULZ (tritt Brasch einN und bleibt verstört in der offenen Tür stehen; sein Gesicht ist blaurot vor Kälte und Blut, sein Anzug zerfetzt, zerschunden) V ERONIKA (schreit gellend auf) M OSER , O BERLE , M AURER , S IMON (schnellen empor) A LLE (versteinert) (Der Sturm heult in den Raum, fegt ein Glas vom Herde, das klirrend zerbricht und bläst fast die Petroleumlampe aus) V ERONIKA (schreit) Des Licht! Des Licht! S IMON (schreit) Ist d’ Höll los?! M AURER Die Tür! Die Tür!! S CHULZ (schließt sie und lächelt verlegen) (Stille) S CHULZ Eigentlich wollte ich absteigen, aber ich habe mich verstiegen. Und dann stürmt es so grausam und die Berge wachsen in der Nacht. Man muß es gewohnt sein - darf man sich wärmen? O BERLE (deutet auf den Herd) S CHULZ (verbeugt sich leicht) Danke. V ERONIKA (entsetzt) Er soll si do des Gsicht abwischn! S CHULZ Warum? O BERLE Es ist voll Blut. M OSER (heiser) Vroni! Gib ihm a Tuch! B N Zu! V ERONIKA (reicht Schulz scheu einen Lappen) 얍 S CHULZ Ich danke, Fräulein Veronika. I NGENIEUR UND A UFSICHTSRAT (treten ein; bleiben perplex stehen) I NGENIEUR N Wer ist das? Oberle, was ist denn hier geschehen? O BERLE Herr Ingineur S CHULZ (unterbricht ihn) Herr Ingenieur! I NGENIEUR Wer ist das? S CHULZ (aufgeregt) Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden! (Er überreicht ihm hastig seine Papiere) B N Hier! Mein Name ist Schulz, Max Schulz. I NGENIEUR Mensch, wie siehst du aus! A LLE (außer Ingenieur und Schulz, sehen Moser an) S CHULZ Ich habe Nasenbluten. M OSER (wendet sich ab und starrt vor sich hin) I NGENIEUR (fixiert Schulz scharf) So? S CHULZ (verwirrt) Und dann bin ich auch gestolpert, hierherauf, und gestürzt, einigemale - - - ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. Bitte! Moment! Ich bin nicht schwach, ich wirke nur so! Ich bin klein, aber stark - jede, auch die schwerste Arbeit! B

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Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

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I NGENIEUR (blättert in den Papieren; lächelt spöttisch) Sie sind Friseur? S CHULZ Jawohl, jedoch I NGENIEUR (unterbricht ihn) Bedaure! Rasiere mich immer selbst. (Gewaltiger Sturmstoß) I NGENIEUR (fährt zusammen) Hoppla! - - Hm. Mensch, Sie haben Schwein. Gut! Ich stelle Sie ein. Wir müssen fertig werden, bevor das Wetter etwa umschlagen 얍 sollte. Oberle! Er arbeitet mit auf 3018. (Zu Veronika) Mein Essen! (zum Aufsichtsrat) Darf ich bitten! A UFSICHTSRAT Na bequem ist anders! (Ab mit dem Ingenieur nach rechts.) M AURER Habts ghört? Paßts auf! Wies Wetter umschlagt, stellens die Arbeit ein! X AVER Was sagst? R EITER Lang san wir nimmer da. M AURER I weiß net, wo i nacher hin soll! S LIWINSKI I a net. H ANNES I scho. S IMON Du scho! Freili! Du rollst di in dei Dorf retour und hütst die Gäns im Stall! H ANNES Da täuscht di! I, wanns hier zugmacht werd, i geh stehln! Pfeilgrad! I geh stehln! A LLE (schauen ihn groß an)

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Zweiter Akt

Breiter Gratrücken. Gletscher ringsum. Rechts Arbeiterbaracke Nummer vier der Bergbahn A.G. Davor Quelle und primitive Bank. An einer Leine hängt buntgeflickte Wäsche. Links Felskanzel. Vor Sonnenaufgang. Windstill. I NGENIEUR (steht auf der Kanzel und blickt empor) O BERLE (tritt lautlos aus der Baracke und stellt sich neben den Ingenieur) I NGENIEUR (zuckt zusammen) Ach Sie sind es, Oberle! O BERLE San Sie jetzt erschrockn? I NGENIEUR Wer? O BERLE Sie! I NGENIEUR Ich? (Er lacht) O BERLE Sie san halt nervös. I NGENIEUR (spitz) Finden Sie? O BERLE Sie san halt überarbeit. Sie solltn net alls allein machn wolln. I NGENIEUR Ich verbiete es Ihnen, sich mit meiner Person zu beschäftigen. (Stille) 7 9

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Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

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I NGENIEUR Der Herr wünschen? O BERLE I wollt bloß nachschaun. Wies werd. I NGENIEUR Was denn? O BERLE Das Wetter. - - Sie passen doch auch 얍 aufs Wetter, oder? I NGENIEUR (immer spöttisch aus Unsicherheit) Ich bewundere Ihre Beobachtungsgabe. A LLE A RBEITER UND V ERONIKA (kommen nach und nach aus der Baracke; waschen sich am Brunnen, holen ihr Werkzeug herbei; Veronika verteilt Tee) O BERLE Das Wetter is nix. Und werd nix. I NGENIEUR Das Wetter hält. O BERLE Man sieht net durch die Wänd. Vielleicht schneits scho drübn, hinterm Grat. Es gfallt mir net, daß so still is. (Stille) I NGENIEUR (fast zu sich) Es hält, es hält, es hält. Ich habe eine Idee verkauft. Habe ich mich verrechnet? Ein miserabler Vertrag. Es dreht sich hier nicht um Geld. - Warum erzähle ich Ihnen das? O BERLE (lächelt) Manchmal muß man halt redn. Sie san ja allweil allein. I NGENIEUR (scharf) Was geht Sie das Wetter an? M AURER Herr Ingineur! I NGENIEUR Was gibts? M AURER Wir hättn nur a Frag. Es heißt, daß wanns Wetter umschlagt, die Arbeit eingstellt werd, hier obn. Stimmts? I NGENIEUR Stimmt. M AURER Und daß wir nacher net etwa weiter untn oder anderswo beschäftigt werdn, sondern weggschickt. I NGENIEUR Und? M AURER Ja, des is nämli a so: des Wetter hält si höchstns no drei Tag, langer net. Und nacher darfst gehn. Wann wir aber gleich gingen, kenntn wir no 얍 leicht unterkommen, druntn beim Straßnbau zwischn Reith und Neukirchn - - nacher aber nimmer. Und, wanns halt bloß vom Wetter abhängt, nacher gingen wir halt gleich. I NGENIEUR Seid ihr verrückt geworden? S IMON Werdn wir abgbaut, oder net?! I NGENIEUR Erstens: das Wetter hält. H ANNES Is des so sicher? I NGENIEUR Zweitens: Keiner wird entlassen. S IMON Is des so sicher? I NGENIEUR Wir müssen es schaffen! Niemand wird entlassen! (Stille) O BERLE Sie san a gscheiter Mann, Herr Ingineur. - - Is des wahr, daß nur Sie zu bestimmen habn? Nur Sie? I NGENIEUR Das Wetter hält. Es muß. (Er steigt empor) S CHULZ Wie lange haben wir zu steigen? R EITER So zwa Stund.

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Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

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S CHULZ Wie? S LIWINSKI (gewollt hochdeutsch) Zwei Stunden. S CHULZ Sind es wirklich nur zwei Stunden? O BERLE Ja. S CHULZ Manchmal vergehen zwei Stunden rasch. V ERONIKA (zu Moser) Warum schaust mi denn net an? Schau mi an! M OSER I schau ja. V ERONIKA Was hast denn? M OSER Nix. V ERONIKA Lüg net! M OSER Laß mi! V ERONIKA Mann, was hast denn? Was is denn? Was hab i dir denn getan?! M OSER I weiß, was i gtan hab. (Stille) 얍 V ERONIKA (leise) I kann do nix dafür, daß du den gschlagn hast. M OSER Meinst? V ERONIKA Wannst mi so anschaust, glaub i schier, i hätt wen umbracht. M OSER Mögli. V ERONIKA Moser, tu net als warst a Tier. M OSER (gehässig) Fürchte dich nicht! (Er läßt sie stehen) S IMON (zu Veronika) So laßn! V ERONIKA Was hab i denn nur gtan? S IMON Du brauchst nix gtan zu habn und es geschieht was. V ERONIKA I kann do nix dafür. S IMON Des is an Moser gleich. Der geht unter die Apostl. I hab dirs scho mal gsagt, wies kommen werd. Daß aus werd, ganz plötzli. I kenn an Moser. Und di. V ERONIKA Ja, jetzt fallts mir wieder ein. S IMON Werst es wieder vergessn? V ERONIKA Na. (Ab in die Baracke) S IMON , X AVER , H ANNES (steigen nach links empor) M AURER (zu Schulz) Zu! Zu! Es pressiert! S CHULZ Moment! Man muß es gewohnt sein. S LIWINSKI Jetzt kimmt d’ Sonn. S CHULZ Wie? M AURER (gewollt hochdeutsch) Die Sonne. S CHULZ Wo? R EITER (lacht kurz) Wo? Wo? Jetzt fragt der, wo d’ Sonn aufgeht! M AURER Wo geht denn d’ Sonn auf bei dir zhaus? S CHULZ Im Osten. S LIWINSKI Hergott Sakrament! Jetzt ist d’ Sonn scho da, und wir san no allweil net drobn! I geh! I mag da net naufschwitzn in der Hitz! 얍 Heut is so dumpf - - - als war die ganz Welt a Kasemattn - - (er steigt empor) R EITER , O BERLE , M AURER (folgen ihm nach) B N

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Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

S CHULZ (stiert müde vor sich hin; will den anderen nach) M OSER Halt! S CHULZ (erblickt ihn und zuckt etwas zusammen; will weiter) M OSER Halt! - Du, hör her - i bin extra etwas hint bliebn, weil i di hab sprechn wolln, weil i mit dir hab redn wolln, wegen gestern. Mancher werd halt leicht wütend, des is Veranlagungssach, net? Verstehst, aber man meints ja gar net so drastisch. Des gestern, des war - - horch! I will di net um Verzeihung bittn, i war ja im Recht, verstehst? Wenn da so a Fremder über dei Mensch kimmt, ha? I hab scho ganz recht ghabt! Net? Oder? - Aber da plärrt gleich alls und jeder , man is a Rohling, und man hat do recht, das sakrische Recht is do auf meiner Seitn, net? Des versteht do jeder ! - - Aber, weißt, was i net versteh? Daß i im Recht bin und daß es mir trotzdem is, als hätt i unrecht gtan - verstehst du des? Kann des a Mensch verstehn?! B

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얍 Steiler Grat. Gletscher ringsum. Ziehende Wolken. Stoßweise Sturm. Vormittag.

S IMON , X AVER , H ANNES (ziehen ein Kabel, das über eine Walze aus der Tiefe nach der Höhe rollt, empor: „Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“ verschnaufen ab und zu; wechseln wenige Worte) S IMON Der sakrische Sturm! Da kannst schier nimmer schnaufn! X AVER Die Sonn glitzert wie a Seifenblasn. S IMON Lang hält sichs nimmer. X AVER Schau, wie die Wolkn runterdruckn. Als bügelt der Himmel die Berg platt. Zu an Pfannkuchen! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) S IMON Zieh zu, Hannes! Fester! H ANNES I zieh ja! X AVER An Dreck ziehst! I spürs! S IMON Wenn wer auslaßt, kimmt kaner vom Fleck! X AVER Zu! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“ - Auf Punkt 3018 wird gesprengt) S IMON Gsprengt. H ANNES Die Stein! Die Stein! Des donnert runter, wie beim jüngstn Gricht. X AVER Glaubst du an des jüngst Gricht? H ANNES Ja. X AVER Unmögli wars ja net. S IMON Hin is hin. 얍 H ANNES Na! Wir auferstehn! S IMON Du scho! I net! I mag net! I laß mei Arsch lieber von die Würm zernagn, als daß ihn dei jüngst Gricht auf ewig ins höllisch Feuer steckt! Is ja auch nur a Klassengricht! Nebn an gutn Gott spitzelt der Gendarm und dir stellns an Verteidiger, der an sei Schellensolo denkt, net an di! Es gibt kane Gerechtigkeit!

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Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

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(„Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) X AVER Des war net recht vom Moser. Gestern. Na, des war net recht, des Theater mit dem Schulz, oder wie er si schreibt. H ANNES Theater! Hihihi! De Vroni markiert an Unschuldsengel und is do a läufigs Luder! X AVER Im Schlaf hat der scho so danebngredt, als hätt ihn a toller Hund bißn, direkt wild. Und gwinselt, die ganz Nacht. Habts denn bloß gschnarcht und nix ghört? H ANNES Den werds halt von lauter Abortdeckl gträumt habn! Vom Moser seine Prankn! Wie a Löw! Hihihi! X AVER Halts Maul, Dorftepp damischer! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) X AVER Sakradi! Die Kält reißt an d’ Haut vo der Hand! Des Scheißkabl schneidt wie a Rasiermesser. S IMON Hast kane Handschuh? X AVER San a scho zerfetzt! H ANNES Und schwaar is des Zeig! S IMON Aufn Bindfadn hängt man kan Waggon! Für dreißig Personen mit Sitzgelegenheit. („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) 얍 S IMON No zehn Meter. H ANNES Einmal, wanns ferti is, möcht i scho damit fahrn. Rauf und runter. S IMON Da werst net weni Taler brauchn! A Bergbahn werd ja bloß für Direkter baut, für lauter Direkter! - Aufn Gipfel kimmt no a Hotel mit Bad und Billard. (Auf Punkt 3018 wird wieder gesprengt: zweimal) H ANNES Scho wieder! Und no mal! X AVER Wenns nur des ganz Klump ind’ Luft sprengen tatn! S IMON Wartn, Xaverl, wartn! Kimmt scho no! Kimmt scho! Es gibt bereits welche, die mehr sprengen, als a Bergbahn braucht samt Hotel mit Bad und Billard! Die sprengen die ganzn Paläst und Museen, alles, von dem der arbeitende Bürger nix hat! Die Moskowiter, sag i euch, hint im riesign Rußland, die habn alles anbohrt, auch an härtestn Marmor, Pulver neigsteckt und angsteckt! Piff! Paff! (Schweigen) X AVER No zehn Meter. („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) B

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얍 Vor der Arbeiterbaracke. Es ist zehn Uhr und die Sonne scheint. Gelbes Licht.

A UFSICHTSRAT (sitzt in der Sonne vor einem kleinen Tische und ißt Koteletts, Kartoffeln und Salat; Thermosflaschen in verschiedenen Größen stehen vor ihm, aus denen er ab und zu trinkt) I NGENIEUR (kommt von links herab) A UFSICHTSRAT Na guten Morgen! Hören Sie, bequem ist anders. Meine armen Knie. Nein, schrecklich! Ueberall Sport. Aber, glauben Sie mir: trotz aller Anstrengung B

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beneide ich selbst unseren letzten Arbeiter. Immer in herrlicher Höhenluft, inmitten gewaltiger Natur! - - Wollen Sie nicht mithalten? I NGENIEUR Danke. A UFSICHTSRAT Sie haben schon gefrühstückt? I NGENIEUR Ja. A UFSICHTSRAT Uebrigens: nettes Mädel das hier. Frisch! Aber dreckig! Die kommen ja nie zum Baden . (Er lacht) Wissen Sie, ich habe mich nämlich so gefragt: wie halten Sie das aus, so vier, fünf Monate ohne Weiblichkeit? Pardon, ich wollte nicht indiskret I NGENIEUR Oh, bitte. A UFSICHTSRAT Ich glaube, Sie können gar nicht lieben. Sie sind so ein Höhlenheiliger, was? I NGENIEUR Ich weiß nicht, was Sie unter „Liebe“ verstehen. A UFSICHTSRAT Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie nicht wissen, was Liebe ist. 얍 Liebe ist das Köstlichste, ein Geschenk des Himmels. Gott! Jeder Mensch hat doch einen, dem sein Herz gehört - - ich hänge sehr an meinen Kindern, aber ich sehe sie nie, man ist zu sehr im Joch. - - Sie haben keinen Familiensinn. Sie sind trotz Ihrer Arbeit ein destruktiver Mensch, haha, guter Witz! I NGENIEUR Verzeihen Sie, daß ich Sie im Essen störe. Ich muß leider wieder fort. Darf ich bitten? A UFSICHTSRAT (erhebt sich und folgt dem Ingenieur) I NGENIEUR Hier bietet sich einem die beste Sicht über die letzte Strecke der Anlage. Sie sehen: dort unten, oberhalb jener vermurten Gletscherzunge Stütze vier. Der helle Fleck. Höhe 2431. A UFSICHTSRAT (durchs Fernglas) Jawohl! I NGENIEUR Nach rund 1200 Metern erreicht die Bahn Stütze fünf: dort oben, links der schwarzen Wände, jene rostbraune Stelle. Gesprengt. Höhe 3018. 587 Meter Höhe in knapp sieben Minuten. A UFSICHTSRAT Rekord! Und Hochachtung! - Unter uns: in der letzten Aufsichtsratssitzung fiel der Satz: Sie seien besessen von Ihrer Arbeit, Ihre Besessenheit ist kapital! Im wahren Sinne des Wortes: Kapital! Und Geheimrat Stein sagte, wenn das Vaterland lauter solche Männer hätte, stünde es besser um uns. Ich füge hinzu: dann wäre dieses Wunderwerk, Ihr Wunderwerk, in drei Wochen 얍 fahrtbereit! I NGENIEUR Bis dato war uns der Oktober freundlich gesinnt. Nur noch vier Tage, und das Hilfskabel hängt auf Hilfsstütze fünf, das Pensum rollte sich planmäßig ab. Dann dürfte es wettern. Tag und Nacht. A UFSICHTSRAT (betrachtet die Landschaft durchs Fernglas) Wir verringern natürlich die Belegschaft. I NGENIEUR Alles wird entlassen, bis auf die vierzehn Mann der Talstation. (Sturmstoß) A UFSICHTSRAT Teufel, dieser Sturm! Durch und durch! B

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SB Volksbühne 1927b, S. 34

Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

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I NGENIEUR Würden wir gezwungen, die Vorarbeiten vorzeitig abzubrechen, so folgerte freilich hieraus A UFSICHTSRAT (unterbricht ihn) Herr! Weitere Verzögerungen wären untragbar! I NGENIEUR Ob man sie tragen muß, entscheidet der Sturm. Die kommenden vier Tage. Denn schlägt das Wetter im Oktober um, dann kommt der Winterschlaf. Und setzt gar das Frühjahr spät und schlecht ein, so dürfte sich die Inbetriebnahme leicht um ein volles Jahr verzögern. A UFSICHTSRAT Wie? Was?! Mensch, was reden Sie da! Ein Jahr?! I NGENIEUR Vielleicht! A UFSICHTSRAT Ist nicht wahr! Ist nicht wahr! Das ist ja der Tod! Das Nichts! Die Pleite! I NGENIEUR Wenn ich nicht falsch unterrichtet worden bin, hat die A.G. die 얍 Bodenbank interessiert. A UFSICHTSRAT Man hat Sie unterrichtet? I NGENIEUR Ja. A UFSICHTSRAT Wer? I NGENIEUR Die Bodenbank ist beteiligt. Seit sechs Wochen. Mit 45 %. Stimmts? Ja oder nein? A UFSICHTSRAT Es stimmt. Auffallend! Und? I NGENIEUR Es stimmt! Und ich lasse mich nicht hetzen! Herr, ich gebe mein Letztes her, doch gen Elemente kann keiner kämpfen! Aber die Bodenbank kann zahlen. Auch zwei Jahre länger! A UFSICHTSRAT Auch zwanzig Jahre länger! I NGENIEUR Sehen Sie! A UFSICHTSRAT Ich sehe. Doch Sie scheinen blind zu sein! Der A.G. ist es völlig piepe, ob sie an Konserven, Spielwaren oder Bergbahnen verdient. Mann, es geht um die A.G. und nicht um Ihre Beschäftigung! Jeder Tag mehr kostet uns Herzblut. Wir verlieren die Mehrheit und unsere Millionen werden Nullen vor der Zeit! I NGENIEUR Das dürfte übertrieben sein. A UFSICHTSRAT Ihnen dürfte es freilich gleichgültig sein, wer sein Geld für Ihre Pläne riskierte! I NGENIEUR Nichts war riskiert! A UFSICHTSRAT Das sagen Sie! I NGENIEUR (scharf) Und Sie? A UFSICHTSRAT Hahaha! Sie entpuppen sich ja als Idealist! Sie bauen tatsächlich in die Wolken! Hahaha! - Mein lieber Herr! Merken Sie sich: Wir sind Kaufleute. Also nicht naiv. I NGENIEUR Mein Werk ist kein Geschäft. 얍 A UFSICHTSRAT Großer Gott! Wir finanzieren doch nicht Ihren Ruhm! I NGENIEUR Ueber der Person steht das Werk. A UFSICHTSRAT Um unser Geld! I NGENIEUR Aber die Person fordert Bewegungsfreiheit, um schaffen zu können! Man ist doch in keinen Käfig gesperrt! A UFSICHTSRAT (grinst) Sie verkennen Ihre Lage. B N

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I NGENIEUR Um das Werk zu vollenden, werde ich rücksichtslos! A UFSICHTSRAT Richtig! Ditto! Um das Geld nicht zu verlieren, sagt die A.G. „Hören Sie! Wir haben Ihr Patent erworben. Und die Konzession!“ I NGENIEUR Was soll das? A UFSICHTSRAT Aha! Erraten! Es gibt nur wenige A.G.s, aber zahlreiche Ingenieure. Ingenieure, gleichtüchtige, die sich aber auch gerne hetzen ließen, wenn - - Und die auch gegen die Arbeiterschaft energischer einschreiten! Eine Unerhörtheit dieser letzte Streikversuch! I NGENIEUR Wann? A UFSICHTSRAT Voriges Jahr. Zwei Wochen schlecht Wetter und schon Drohung mit Lohnerhöhung! Pack kennt keine Pflicht. Mehr Energie, Herr! Mehr Faust! Wann haben Sie I NGENIEUR (unterbricht ihn) Wann habe ich nicht? Was habe ich nicht? So denken Sie doch nach! Da ist der Fall Klaus, und die Geschichte der drei - Habe ich etwa Schlappschwanz markiert? A UFSICHTSRAT Die unter allen Umständen ungerechtfertigten, jeder Grundlage ent얍behrenden Beschwerden der Belegschaft sind strikte zurückzuweisen. Wir müssen zwingen. Und sollte es Schwefel schneien! I NGENIEUR Jetzt reden wir aneinander vorbei. A UFSICHTSRAT Freut mich! Aufrichtig! Es wäre doch auch zu traurig, wenn man im zwanzigsten Jahrhundert noch derart vom Wetter abhängen müßte! Sollte sich also die Inbetriebnahme wieder verzögern, selbst nur um paar Tage, sind Sie entlassen. I NGENIEUR Hahaha! - Und unser Vertrag? A UFSICHTSRAT Prozessieren Sie! I NGENIEUR Das können Sie nicht! A UFSICHTSRAT Das können S i e nicht! Wir können! Und noch mehr! I NGENIEUR Gratuliere! A UFSICHTSRAT Danke! - Sie sind Fanatiker. Um Ihr Ziel zu erreichen, schritten Sie über Existenzen. Ueber Leichen! I NGENIEUR Und Sie? (Aus ferner Höhe tönt ein „Huuu !“ sechsmal hintereinander; der Nebel hüllt alles in Grau: unheimlich still und düster) A UFSICHTSRAT (entsetzt, feige) Was war das? I NGENIEUR Sechsmal in der Minute. Das Notsignal! A UFSICHTSRAT Die Leichen! I NGENIEUR Vielleicht! - Guten Appetit! Ich sehe nach! - Nur keine Angst! A UFSICHTSRAT Ich hab keine Angst, Sie! I NGENIEUR (lacht ihn aus und eilt nach links empor) V ERONIKA (tritt aus der Baracke) Hat da nit wer grufn? - - Es war doch, 얍 als hätt wer grufn. A UFSICHTSRAT (sieht auf die Uhr) Zehn auf elf. (Er überlegt; setzt sich wieder und fängt an mechanisch zu essen) V ERONIKA (sieht ihm zu) Schmeckts? B

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korrigiert aus: Huuu Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt

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A UFSICHTSRAT (nervös) Sie sollten mal im Adlon essen! V ERONIKA Wo? A UFSICHTSRAT Im Adlon. - Zum Donnerwetter, was glotzen Sie denn so?! Haben Sie noch nie jemanden essen sehen?! So ein Geglotze! Ist ja widerlich! (Die Rufe ertönen wieder) V ERONIKA Da is was gschehn! A UFSICHTSRAT Was soll denn schon geschehen sein?! Was? Wie? V ERONIKA Es san scho paar runter A UFSICHTSRAT (wird immer nervöser) Wo runter? Was runter?! So machen Sie doch Ihr Maul auf, gefälligst, ja! V ERONIKA Schreins nit so mit mir! A UFSICHTSRAT (brüllt) Was erlauben Sie sich für einen Ton?! Freches Frauenzimmer! - - Nichts ist geschehen. Es d a r f nichts geschehen! Basta! (Sturmstoß) V ERONIKA Nur kane Angst! A UFSICHTSRAT Ich habe keine Angst, Sie!

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Dritter Akt

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Gratscharte. Graugelber Nebel. Oberhalb der Scharte die Konturen der Hilfsstütze Nummer fünf, wie eine riesige Spinne. Neuschnee. M OSER , R EITER , S LIWINSKI , S IMON (ließen Oberle an einem Seile in den Abgrund, um den abgestürzten Schulz zu bergen) M AURER (auf einem Gratzacken; ruft durch Handtrichter) Huuu! - Huuu! X AVER , H ANNES (lauschen auf Antwort) (Stille) H ANNES Nix. (Sturmstoß in der Ferne, der sich rasch nähert) X AVER Horch, wie die Berg scheppern! H ANNES Des winselt, wie a kranke Katz. M AURER Huuu! S LIWINSKI Maurer! Des hat kan Sinn, des Schrein! Des Wetter plärrt besser! Des überplärrt jeds Signal! (Der Sturmstoß fegt vorüber) M AURER (klettert vom Zacken herab) X AVER (leise) Wie so an Unglück passiert M AURER (ebenso) Schnell!! Der Reiter hat a Klammer braucht, und der Oberle sagt zum Schulz: hol ane her! Und der arm Teufl springt dahin, 얍 ganz eifrig, und B

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schreit glei, ganz entsetzli, und runter is er a scho über d’ Wand. So vierzig Meter. Und bloß ausgrutscht M OSER (erregt; unterdrückt) Hörts! Stehts do net so rum! Der Oberle holt den scho rauf! Laufts um a Tragbahr und telefonierts um an Dokter! Zu! H ANNES Da werd nimmer viel zum doktern sein. M OSER Meinst? H ANNES Ja. Der is hin. M OSER Was is hin? Wer is hin?! Der is net hin, du Rindvieh! Der darf net hin sein! R EITER Achtung, Moser! O BERLES S TIMME (aus dem Abgrund) Auf! M OSER , R EITER , S LIWINSKI , S IMON , X AVER , M AURER (ziehen das Seil empor) H ANNES (will ihnen helfen) M OSER Weg! Tepp! S IMON (zu Moser) Halts Maul! (Im Abgrund wimmert Schulz; schreit gellend auf; verstummt) R EITER Achtung! Um Gotts Willn! (Sturmstoß) S LIWINSKI Net auslaßn! Zu! O BERLE , S CHULZ (erscheinen am Seile über der Kante; Oberle stützt den bewußtlosen Schulz, der sofort aus den Schlingen befreit und unter einer überhängenden Felspartie gebettet wird) O BERLE (löst den Seilknoten; verschnauft) Seids alle da? R EITER (untersucht Schulz) Habts ka Wasser? S IMON Hier! 얍 S LIWINSKI Net so tief, an Kopf! R EITER Des überlaß nur mir! I bin Samariter. O BERLE Den hats da drunt auf an Zackn ghaut, daß der Fels kracht hat. X AVER A Gsicht voll Blut. Wie a roter Neger. (Schweigen) R EITER (erhebt sich langsam) Aus. Der werd nimmer. Dem is ja des ganz Geripp zersplittert. S IMON Ja, der is runter. M AURER (gedämpft) Der Neuschnee halt, der Neuschnee! Und des Schuhzeug is a nix fürs Hochgebirg. Die Sohln wie Papier. Da liegt er. (Schweigen) S LIWINSKI Als tat er bloß träumen. R EITER Träumen, schlafn. - Das Best für den is gar nimmer aufwachn. X AVER Das Best ists freili. Für an jedn . S IMON Möchst denn du scho eingscharrt sein? Und verfauln? X AVER Manchmal. S IMON I net. No lang net! S LIWINSKI Manchmal ists a direkte Gnad, der Tod. (Schweigen) B

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Korrektur von fremder Hand: stütz\t/ Absatz getilgt korrigiert aus: Des vgl. BB/K1/TS1/SB Volksbühne 1927a, S. 37 korrigiert aus: Jedn

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M AURER Wo war denn der zhaus? O BERLE In Stettin. H ANNES Stettin? O BERLE Stettin liegt am Meer. H ANNES Da hätt er mehr als Matros M OSER (unterbricht ihn bestürzt) Ruhe!! Der hört ja! Schauts hi, wie der schaut!! A LLE (schrecken zusammen, versteinern) S CHULZ (hatte die Augen aufgeschlagen und 얍 gehorcht; fixiert nun einen nach dem anderen; lächelt schwach) - - Wer kennt Stettin? Und Warnemünde? - Hm Also: Gnade. Sterben. Verfaulen. Hm. - Muß man denn wirklich schon verfaulen? Ja? Nein, ihr irrt! Ihr irrt! Ich bin ja nur gestolpert - die Haut klein wenig abgeschürft, jedoch nichts gebrochen, verrenkt, alles intakt! Ich fühle mich sauwohl, tatsächlich: sauwohl - und dann will ich wieder arbeiten. Rasieren, frisieren. Nehmen Sie Platz, bitte - - Ich rasiere, frisiere, ich rasiere, ich frisiere - - ich, habe, gehört - - hier würden, noch - - Leute - - eingestellt werden - - - (Er stirbt) (Stille) A LLE (entblößen ihr Haupt) H ANNES (fällt langsam in die Knie, betet) Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name M OSER (unterbricht ihn) Verflucht! Ka Litanei, ka Rosenkranz! Der da drobn is taub für uns arme Leut! (In weiter Ferne Donnerrollen) M OSER Ja, donnern, des kann der! Und blitzen und stürmen! Schreckn und vernichtn! - Was gedeiht, ghört net uns. Was ghört dem armen Mann? Wenn die Sonn scheint, der Staub, wenns regnet, der Dreck! Und allweil Schweiß und Blut! (Ein leiser Wind hebt an, der allmählich zum Sturm wird) 얍 I NGENIEUR (erscheint; atemlos; aufgeregt) Was ist hier los? Warum steht man so herum ? Wer gab das Notsignal? M AURER I. I NGENIEUR Was ist denn geschehen? O BERLE Still, Herr! Hier liegt a Toter. I NGENIEUR Wieso? Wo? Wer? O BERLE Dort. Den Ihr gestern eingestellt habt, der Schulz. I NGENIEUR Scheußlich! O BERLE Er ist bloß gestolpert - über die Wand da. So vierzig Meter. (Schweigen) I NGENIEUR Verdammt! Tja, da kann keiner dafür. - Wollen wir ihn ehren, indem wir geloben, ihm, der in Erfüllung seiner Pflicht fiel, nachzueifern, weiter zu arbeiten. - Ich muß unbedingt darauf bestehen, daß die Arbeit sofort wieder aufgenommen wird. Den Leichnam lassen wir bis zum Abend hier liegen und nun M OSER (unterbricht ihn) Na, der werd zuerst nuntergtragn und aufbahrt. Nachher werd weitergschafft. Eher net! B N

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Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt eingefügt Korrektur von fremder Hand: heru[n] m Absatz getilgt

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Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

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I NGENIEUR Hoppla! Hier hat nur einer zu befehlen, und das bin ich! Pflicht kommt vor Gefühlsduselei. R EITER Pflicht is, a Leich net liegn zu laßn, wie an verrecktn Hund. I NGENIEUR Ich verbitte es mir, über Pflicht belehrt zu werden! Merken Sie sich das, Sie! Ich habe mir mein Ziel erkämpft und pflege meinem Willen Geltung zu verschaffen. Und 얍 seis mit schärfsten Mitteln! S IMON Bravo! Bravo! I NGENIEUR Was soll das? (Schweigen) I NGENIEUR Es wird weitergearbeitet. Mit Hochdruck und sofort. Los! K EINER (reagiert) (Schweigen) I NGENIEUR Hört: sollte das Wetter umschlagen und wir hätten die Vorarbeiten noch nicht beendet, - das Werk, der Bau, die Bahn ist gefährdet! M OSER Sonst nix? Werd scho schad sein um die Scheißbahn! Sehr schad! Wer werd denn damit amüsiert? Die Aufputztn, Hergrichtn, Hurn und Wucherer! Wer geht dran zu Grund?! Wir! S IMON Wir! Wir! I NGENIEUR (höhnisch, doch etwas unsicher) So? M AURER Gfährdet is bloß unser Lebn! I NGENIEUR Hier gibt es Hetzer? R EITER Und Ghetzte! M OSER Und was is denn scho, wenns überhaupt kane Bahnen gibt?! Kamst um dei Seelenheil? Stürzet die Welt ein?! I NGENIEUR Unreifes Zeug, dummes! R EITER Wenn Sie, Herr, so a gscheits Genie san, so denkens halt mal an uns! Bauns ka Bergbahn! Bauns uns Häuser statt Barackn! I NGENIEUR Hier wird nicht geredet, hier wird gearbeitet! Ohne Kritik! O BERLE Habt Ihrs net donnern ghört, zuvor? I NGENIEUR Quatsch! Quatsch! Ich kenne 얍 das Wetter! Das hält! H ANNES (lacht) O BERLE Herr, i bin a alter Arbeiter und die Verantwortung I NGENIEUR (unterbricht ihn) Nur keine Anmaßung! Die Verantwortung trage ich. Nur ich. (Es donnert. Stille) I NGENIEUR Hm. Jetzt dürfte sich manches geändert - - Grinst nur, grinst! Ja, jetzt könnt ihr den aufbahren. Alles aufbahren! Auch euch selbst! (Er will absteigen) M AURER Halt! An Augenblick! Darf man fragn, obs stimmt, daß wir ghetzt werdn? Und daß es ganz gleich is, ob wir runterfalln, wenn nur des Kabel herobn hängt, bevors Wetter umschlagt? Und daß wir, wanns umgschlagn hat, fortgtriebn werdn I NGENIEUR (unterbricht ihn) Jetzt könnt ihr gehen! B

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M AURER Wohin? I NGENIEUR Die Arbeit ist eingestellt. Alles ist eingestellt. Ihr seid entlassen. M AURER Habts es ghört?! Habts es ghört? R EITER Des hättns uns scho sagn können! S LIWINSKI Solln! S IMON Müßn ! M AURER Lügner! Lügner! R EITER Jetzt kriegst nirgends Arbeit! Jetzt nimmer! I NGENIEUR Wer arbeiten will, der kann! Jetzt und immer! 얍 S IMON (applaudiert) I NGENIEUR (wird immer erregter) Hört! Ich habe alles verlassen, um mein Ziel zu erreichen! Ich habe in Baracken gehaust M OSER Wir habn no nie anderswo ghaust! I NGENIEUR - ich habe verzichtet, ich habe im Schatten geschuftet an dem Werk! S LIWINSKI Im Schattn deiner Villa! I NGENIEUR Ich habe keine Villa! S IMON Aber a Wohnung hast! Und ‘s Freßn hast! Und an Mantl, wanns di friert! Ists wahr oder net? I NGENIEUR Ich werde mir erlauben, eine Wohnung zu besitzen! Doch ich hätte auch hungernd und frierend an meinen Plänen gearbeitet - (er hält plötzlich verwirrt die Hand vor die Augen) Aber ich habe ohne den lieben Gott kalkuliert. Allerdings, ja, jetzt schlägt das Wetter um M AURER Also, weil Sie Herr sich verrechnet habn, drum stehn wir da, mittn im Winter! Ohne Dach, ohne Holz, ohne Brot! S IMON A jeder redt si aufs Wetter naus, aber kaner rechnet damit! H ANNES Die ganzn Plän san halt falsch. I NGENIEUR Was?! Kritik? Kritik! Du Trottel! Ungebildetes Pack erlaubt sich X AVER (unterbricht ihn) Ohne uns Pack, was war denn dei Werk?! Bloß a Plan! Papier! Papier!! (Stille) 얍 I NGENIEUR (geht langsam auf Xaver zu und hält dicht vor ihm; fixiert ihn; plötzlich schlägt er ihm vor die Brust, daß er zurücktaumelt) (Stille) I NGENIEUR (verliert die Nerven) Jetzt könnt ihr gehen! Verschwindet! Marsch! O BERLE Wohin!? I NGENIEUR Was weiß ich?! Wohin ihr wollt! Wohin ihr könnt! Wohin ihr gehört! Zum Teufel! M OSER Halt! Komm mit! S IMON , S LIWINSKI Komm mit zum Teufl! M OSER Dort hockn alle armen Sünder hinterm Ofen - alle in aner warmen Stub. Komm mit zum Teufl! Mit uns! Komm mit, komm mit! (Er schlägt ihn nieder; Sturm) B

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R EITER Schlagt ihn nieder, den Satan! S IMON Schlagt ihn tot! X AVER Ganz tot!! H ANNES Tot! Tot! Tot! (Es blitzt und donnert) I NGENIEUR (stürzt zu Boden, springt jedoch sofort wieder empor: zerfetzt und blutend) S LIWINSKI (spuckt ihn an) Pfui Teufl! A LLE (außer Oberle, wollen sich auf den Ingenieur stürzen) O BERLE (reißt Moser zurück, der perplex ist über seine Kraft, und stellt sich schützend vor den Ingenieur) Zurück, Leut! Zurück! I NGENIEUR (zieht einen Revolver, stößt Oberle zur Seite) 얍 Weg! Weg! Ein Revolver langt für Halunken! Zurück! Und Hände hoch! Hoch! Oder A LLE (außer Oberle, weichen und heben die Hände hoch) I NGENIEUR Revoltieren Zuchthäusler? Jetzt kommt das Gesetz. M AURER Paragraph! Paragraph! S LIWINSKI Kanonen, Kettn und Schafott! Nur zu! S IMON (lacht) Das Gesetz! I NGENIEUR Lach! Lach! Du erstickst daran! R EITER Die Ordnung! Die Ordnung! I NGENIEUR Hände hoch! Auch Sie, werter Herr Oberle! Hoch, Kerl, oder ich funke dich nieder! Hoch! O BERLE (folgt nicht; fixiert ihn) Wir san kane Zuchthäusler, Sie - I NGENIEUR Kusch! Und Hände hoch! Hoch, my boy! O BERLE Nie! Ehrlich schaffn diese Händ! I NGENIEUR Zurück! (Er schießt ihn nieder) O BERLE (wirft lautlos die Hände hoch und bricht tot zusammen) (Es blitzt, ohne zu donnern; der Wind zirpt; durch den graugelben Nebel bricht ein Sonnenstrahl und fällt fahl auf die Gruppe; alles verstummt; Stille; dann ein gewaltiger Donnerschlag; Verfinsterung; der Sturm winselt und heult) M OSER Der Satan! Der Satan! A LLE Der Satan!! M OSER (röchelt und will sich auf den Ingenieur stürzen) I NGENIEUR (schießt toll) 얍 M OSER (wankt und bricht knapp vor ihm in die Kniee) D IE U EBRIGEN (fliehen und suchen Deckung; finden keine; kleben an einer Wand mit hocherhobenen Händen) I NGENIEUR (schießt trotzdem) X AVER Mörder! S LIWINSKI Danebn! Danebn! B N

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S IMON Bravo! Bravo! M AURER Wir san doch kane Scheibn. Danebn. H ANNES (läuft irr vor Angst dem Ingenieur entgegen) Es lebe der Schütznkenig! Er lebe hoch! Hoch! Hoch! I NGENIEUR (will schießen) M OSER Danebn! (Er schnellt sich mit letzter Kraft empor und schlägt dem Ingenieur den Revolver aus der Hand; stürzt wieder) I NGENIEUR (entsetzt; will fliehen, doch Moser klammert sich fest an seinem Bein) (Orkan) D IE U EBRIGEN (nähern sich drohend) I NGENIEUR (tritt und schlägt winselnd auf Moser ein ; reißt sich los und retiriert sprunghaft, den Abgrund im Rücken) Die Kreatur! (Er lacht höhnisch-irr hellauf; tritt ins Leere; krallt in die Luft, brüllt verzweifelt und stürzt kopfüber hinab) (Finsternis) B N

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얍 Schneesturm. Man sieht kaum fünf Schritte weit. Unterhalb eines Grates.

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M AURER , S LIWINSKI , X AVER (steigen ab und stützen den verwundeten Moser) M OSER Halt! I kann nimmer S LIWINSKI No hundert Meter! M OSER Kan Schritt mehr. M AURER Zu! Wir san bald drunt! M OSER Was soll i denn drunt mit an lahmen Knie? Betteln?! - Laßt mi! Wißt, man is halt bloß a Vieh S LIWINSKI Bist du verruckt?! Zu! (Blitz und Donner) M OSER Holla! Jetzt sprengt der liebe Gott. Da fliegn Staner, schwarer als Stern - (Er reißt sich los) Rettet euch! Lauft! Lauft! Laßt den Moser liegn! Der kann nimmer, der mag nimmer, der is verreckt! M AURER Und wenn wir alle verreckn! Komm! M OSER Na, ihr dürft net verreckn! Ihr müßt nunter und scharf aufpaßn, daß ka Tropfn Blut vergeßn werd - verstehst? - Vergeßt uns net. Und der Vroni, der sagts an schön Gruß, und es hat halt nicht sollen sein - - - Vergeßt uns net. Den 얍 alten Oberle Ludwig, den Schulz, und den Moser Karl aus Breitenbach - Geht! Flieht! Flieht und vergeßt uns net! Zu! X AVER I kann di net laßn M OSER Du mußt! Sonst verwaht uns alle der Sturm, wie a Spur im Schnee. (Er bricht nieder) (Maurer, Sliwinski , Xaver verschlingt der Sturm) B N

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M OSER (allein, kauert) (Der Sturm läßt auf Augenblicke nach; Schnee fällt in großen Flocken) M OSER (leise) Wie des schneit, wie des schneit - still und weiß, - Wie des blut, wie des blut - rot und warm - - Leb wohl, Kamerad - leb wohl - - (Er nickt ein; in der Ferne heult der Sturm: Kreatur! Kreatur! Er schreckt zusammen) Nur net einschlafn, nur net einschlafn! (Er lauscht) Ho! Jetzt kommen die Paragraphen! Mit Musik! Horch! - Links , rechts, links, rechts! Das Gewehr über! Das Gesetz! Das Gesetz! - Links, rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts (Es klingt wie Trommeln, marschierendes Militär und Gewehrgriffe) (Stille) M OSER Die Ordnung! (Sturmstoß) M OSER Ho! Ho, wohin soll i mi denn stelln?! Wohin?! (Er reckt sich empor) 얍 Schießt! Schießt! Los! Legt an! Feuer!! (Trommelwirbel)

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In der Nähe der Baracke. Im Schutze einer schwarzen Wand. Nebel. Sturm.

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V ERONIKA (starrt nach links empor) Drobn schneits, drobn schneits. Drobn waht die Höll. A UFSICHTSRAT Kommen Sie! Ich sehe nichts. V ERONIKA Na! A UFSICHTSRAT Es ist sinnlos. Ich warte in der Baracke. (Er sieht auf seine Uhr) Fünf nach vier. Wenn man nur absteigen könnte. V ERONIKA (lauscht) Schnee. Schnee. Und d’ Leut drobn, d’ Leut. S IMON , H ANNES , R EITER (erscheinen, erschöpft und zerfetzt) V ERONIKA (leise; bange) Wo ist der Moser? R EITER (leise) Der Moser? Und der Oberle, und der Schulz, und - 얍 V ERONIKA (schreit gellend auf) A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? S IMON Wer is denn des? R EITER Der Direkter. H ANNES Was für a Direkter?

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B N

eingefügt Absatz getilgt korrigiert aus: er Absatz getilgt Absatz getilgt korrigiert aus: links eingefügt Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt Absatz getilgt

192

SB Volksbühne 1927b, S. 53

Endfassung Die Revolte Bergbahn auf Côte 3018

5

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

S IMON Der Zirkusdirekter. A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? V ERONIKA Wo is der Moser!? A UFSICHTSRAT Was schert mich der Moser? V ERONIKA Der Hals, der Hals! Schauts nur den Hals an! Wie des rausquirlt , der Speck - - da sollt man mit an Brotmesser dran, mit an scharfn Brotmesser - A UFSICHTSRAT Ist die Person verrückt geworden?! Was ist denn los? Was ist denn geschehen? V ERONIKA (lacht verzweifelt) Es darf ja nix gschehn! Es d a r f nix gschehn!! A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? (Stille) R EITER Der Ingenieur, der is nunter. A UFSICHTSRAT Ins Tal? S IMON In d’ Höll! H ANNES Kopfüber is er nunter, kopfüber! S IMON Ueber d’ Wand! Vierhundert Meter! Oder tausend! R EITER Ins Leere is er gtretn, ins Nix. H ANNES - - und wissens, Sie Herr Direkter - bevor der zur Höll gfahrn is, da hat er vorher no auf Scheibn gschoßn. Er war a braver Schütz! A jedesmal hat er ins Schwarze gtroffn, a jedsmal! Akkurat! Der Schützenkenig. A UFSICHTSRAT Ich fordere Aufklärung. S IMON Niedergschoßn hat er uns, niedergschoßn! 얍 A UFSICHTSRAT Quatsch! Ihr seid doch da! R EITER Da! Aber wir liegn a drobn, im Schnee! Derschoßn, derfrorn, verblut und verreckt! V ERONIKA (leise) Kimmt denn kaner mehr zruck? S IMON Der Maurer und der Dings, und - - die kommen schon no. Aber an Moser werdns laßn müßn. Der war ja scho drobn verblut. - - Den runterbringen wolln, des is bloß a Quälerei. V ERONIKA Des is glogn! S IMON Halts Maul! V ERONIKA Der lebt! R EITER Jetzt nimmer! Jetzt nimmer! A UFSICHTSRAT Der Tatbestand muß klargestellt werden. H ANNES Der is scho klargstellt. A UFSICHTSRAT (höhnisch) Ohne Justiz? Ohne Gendarmerie? V ERONIKA (nähert sich Simon) Du, is des wahr, daß er nimmer is? S IMON Wahr. V ERONIKA (unterdrückt) Simon, was werd jetzt no alls kommen?! S IMON Zuerst: die Gendarmerie. V ERONIKA Simon, i kann a Moser nimmer sehn. - I möcht fort, i kann kane Leich net sehn - I hab so Angst, Simon - S IMON I hab ka Angst. V ERONIKA Simon, laß mi nur nit allein - i kann jetzt nit allein nunter - B

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rausquirltN ] scharfnN ] B N] B N] B B

korrigiert aus: rausquirrlt korrigiert aus: scharffn Absatz getilgt Absatz getilgt

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SB Volksbühne 1927b, S. 54

Endfassung Revolte Die Bergbahn auf Côte 3018

5

BB/K2/TS1 (Korrekturschicht)

A UFSICHTSRAT Wäre das Wetter nicht umgeschlagen, wäre alles in Ordnung. R EITER Die Ordnung! S IMON Einmal schlagt jeds Wetter um. Nur kane Angst! A UFSICHTSRAT Ich habe keine Angst, Sie! 얍 H ANNES (lacht ihn aus.) B

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Vo r h a n g . 10

Schluß.

--------------

5

B

aus.)N ]

korrigiert aus: aus).

194

Lesetext

SB Volksbühne 1927b, S. 55

Endfassung Fassung Natur Revolte gegenauf Mensch Côte 3018



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Lesetext

Natur gegen Mensch Von Oedon von Horvath Das erste Stück des jungen Autors wird am Freitag in der Volksbühne uraufgeführt.

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(Korrekturschicht) BB/K2/TS2

Ich bin am 9. Dezember 1901 in Fiume geboren. In die Schule ging ich in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München – wechselte viermal die Unterrichtssprache und beherrschte infolgedessen natürlich keine. Erst auf der Universität lernte ich richtig Deutsch, obwohl meine Muttersprache die deutsche ist. Hätte die „große Zeit“ drei Wochen länger gedauert, wäre ich Soldat geworden. Ich beteiligte mich an der ungarischen Revolution, floh 1919 aus Ungarn und studierte in Wien und München. Brach aber bald mein Studium ab und versuchte mir eine Existenz zu verschaffen in Berlin und Paris, ohne sonderlichen Erfolg. 1926 schrieb ich die „Bergbahn“. Ich versuchte, eine kleine Episode aus dem Kampfe der unselig zerrütteten Menschheit gegen die Natur zu gestalten. Dialekt ist mehr als ein philologisches, ist ein psychologisches Problem. Ich befolgte bei der „Bergbahn“ weder philologische Gesetze noch habe ich einen Dialekt (hier Dialekte des ostalpenländischen Proletariats) schematisch stilisiert. Ich versuchte D i a l e k t e als C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t der Umwelt, des Individuums oder auch nur einer Situation zu gestalten. Die Beherrschung der Natur ist das Endziel der menschlichen Gesellschaft. Die Natur ist der große Feind. Es gibt kaum erhebendere Momente in der Geschichte der Menschheit als jene, da infolge einer Naturkatastrophe die Menschen alle Unterschiede unter sich, die verbrecherischer Egoismus errichtet hatte, vergessen und sich auf ihre große Aufgabe, die Bekämpfung der Natur, besinnen. Meistens aber belügen die Menschen sich selbst: Sie bilden sich ein, die Natur überwunden zu haben, um ihre Mitmenschen betrügen zu können. Solange wir uns selbst belügen und betrügen lassen, solange schlägt uns die Natur. Auf der ganzen Linie.

195

Tempo, 4.1.1929

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1

196

(Korrekturschicht)

Lesetext

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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(Korrekturschicht)

Zur schönen Aussicht – Komödie in drei Akten

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Lesetext

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1

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(Korrekturschicht)

Lesetext

Endfassung Revolte auf Côte 3018

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(Korrekturschicht)

Vorarbeit: Nach der Saison – Komödie

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Lesetext

Endfassung Figurenliste Revolte auf Côte 3018

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(Korrekturschicht) ÖLA 84/S 59/F5/Bild Lesetext 67

Endfassung Revolte auf Côte 3018 Figurenliste

1

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(Korrekturschicht) ZSA/VA/E1

Lesetext

Endfassung Revolte auf Côte 3018

1

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(Korrekturschicht)

Lesetext

Endfassung Zur schönen Aussicht

ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Konzeption: Zur schönen Aussicht – Komödie in drei Akten

Lesetext

Endfassung Zur schönen Aussicht



ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

Zur schönen Aussicht Komödie in drei Akten von Ödön von Horváth

SB Volksbühne 1927c, o. Pag. (S. I)

5



Personen: Max Karl Müller Strasser Emanuel Freiherr von Stetten Ada Freifrau von Stetten Christine

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SB Volksbühne 1927c, o. Pag. (S. 1)

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Erster Akt: Halle des Hotels zur schönen Aussicht. Zweiter Akt: Speisesaal im Hotel zur schönen Aussicht. Dritter Akt: Korridor im Hotel zur schönen Aussicht. Zeit: ungefähr zwölf Stunden.

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얍 25

E R S T E R A K T.

SB Volksbühne 1927c, o. Pag. (S. 3)

Halle des Hotels zur schönen Aussicht. Dies Hotel zur schönen Aussicht liegt am Rande eines mitteleuropäischen Dorfes, das Dank seiner geographischen Lage einigen Fremdenverkehr hat. Saison Juli-August. Zimmer mit voller Verpflegung sechs Mark. Die übrige Zeit sieht nur durch Zufall einen Gast.

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Es ist drei Uhr Nachmittag und die Sonne scheint. Im Monat März. Links Portierloge. Rechts Glastüre mit Aufschrift: Speisesaal. Im Hintergrunde führt eine Treppe nach oben und eine breite weit offene Türe ins Freie. Am Horizont Berge. Im Vordergrund ein kleiner Tisch und zwei Rohrstühle. In der Ecke eine vergilbte Palme. Eine mächtige alte Karte von Europa hängt an der Wand. Alles verstaubt und verwahrlost. M AX (in Hemdsärmeln ; sein Kellnerfrack liegt neben ihm auf dem Pulte der Portierloge; er liest Zeitung, frisst Brot und schlürft aus einer grossen Tasse Kaffee) B

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N

(Im Zimmer über der Halle spielt ein Grammophon Südseeweisen) K ARL (in lederner Chauffeuruniform, erscheint in der Türe im Hintergrunde; fixiert Max; tritt langsam auf ihn zu und beugt sich über das Pult) Guten Morgen, Liebling. 얍 M AX Gute Nacht, Liebling. K ARL Kannst du es erraten, was ich jetzt am liebsten tun würde? 37

B

HemdsärmelnN ]

korrigiert aus: Hemdärmeln

204

SB Volksbühne 1927c, S. 4

Endfassung Zur schönen Aussicht

5

10

ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

M AX Nein. Und dann interessiert es mich auch nicht. K ARL Aber mich. Du hast dein Ehrenwort gebrochen. M AX Interessiert mich nicht. K ARL Du hast mich bestohlen. Du Hund. M AX Es interessiert mich nicht. Mein Herr. K ARL Du bist eine korrupte Kreatur. M AX Sie haben ja den Südpol entdeckt! Man gratuliert. K ARL Oh, bitte! Diese gewaltige Entdeckung ist nicht mein Verdienst, sondern ist bereits gerichtsnotorisch protokolliert! M AX Brüll nicht! (er lauscht) Es gibt doch auch Fehlurteile. K ARL (grinst) Freispruch. M AX Und Justizmord. K ARL (finster) Das auch. (Schweigen) M AX Apropos korrupte Kreatur: Baronin lassen sagen, der Chauffeur solle warten. K ARL So? -- Was mich das Frauenzimmer neuerdings warten lässt! M AX Was sich liebt, das lässt sich warten. Und apropos Justizmord: ich habe einmal läuten hören, dass du damals, als du noch hübsch und knusprig warst, vor 1914, ich glaube in Portugal -K ARL (scharf) Was war in Portugal? M AX Du warst doch in Portugal? K ARL Ja. (Schweigen) K ARL Was ist mit Portugal? M AX Du warst doch auch mal Kaufmann, vor 1914 -- in Portugal? 얍 K ARL Ja. Und? M AX Stimmt. K ARL Was stimmt? M AX In Portugal gibt es korrupte Charaktere, sehr korrupte -- besonders vor 1914 gab es dort ausserordentlich korrupte Charaktere. Da konnte man keinen ungestraft an sein Ehrenwort erinnern. K ARL Was soll das? M AX Es ist schon mancher bestraft worden, in Portugal. So um die Ecke -- bestraft. K ARL Wer? M AX Zum Beispiel: Jener -- (er stockt) K ARL Wer jener? M AX Was weiss ich! K ARL (brüllt) Heraus damit! M AX Verzeihung! -- Ich dachte, jener hätte sich nur verletzt, leicht verletzt, oberflächlich verletzt, ich dachte, du hättest jenen nur niedergeschlagen, leicht, oberflächlich niedergeschlagen, gewissermassen k.o. -- und jener hätte sich dann wieder erholt, hätte blühender ausgesehen, wie je zuvor, aber jener ist verschieden, inzwischen -- so ganz von allein verschieden -B N

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K ARL N ] 1914 --N ]

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IchN ]

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Absatz eingefügt; fehlende Absätze vor und nach Szenenanweisungen werden in TS1 stillschweigend eingefügt; vgl. Chronologisches Verzeichnis. eingefügt korrigiert aus: 1914-- fehlende und überzählige Zeichenabstände werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis. korrigiert aus: ich

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SB Volksbühne 1927c, S. 5

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

K ARL (finster) Ganz von allein. Hörst du? M AX (schluckt) Ganz von allein. Gut. Lassen wir den Spiritismus. (im Zimmer über der Halle fällt ein Stuhl um) K ARL , M AX (starren empor) (Das Grammophon bricht plötzlich ab) M ÜLLER (erscheint in der Eingangstüre; hält auf der Schwelle) Na guten Tag! Mein Name ist Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn. Ich will mal Direktor Strasser 얍 sprechen. M AX Herr Direktor ist leider im Augenblick -M ÜLLER (unterbricht ihn) Nanana! Wann kommt denn der Augenblick, in dem man bezahlt wird? Wann denkt man denn hier, die Rechnung zu begleichen? Oder wird hier geglaubt, die Schulden werden erlassen, wie? M AX Da ich hier nur Kellner bin, kann ich diese Fragen nicht beantworten. Ich kann nur sagen, dass ich den Eindruck habe, als würde es uns sehr schwer fallen, zu bezahlen. Wir haben nun seit fünf Monaten nur einen einzigen Gast, eine alte Dame, die sich hierher zurückzog, um still leben zu können. (Im Zimmer über der Halle lacht eine Frau kreischend; das Grammophon ertönt wieder) M ÜLLER (lauscht) Nur ein Gast? M AX Leider. M ÜLLER (grinst) Nur Mut, junger Mann! Nur Mut! Die Masse macht es nicht! Qualität ist Trumpf! Einer zählt für zwanzig, einer zahlt für zwanzig, wenn er eine Persönlichkeit ist! (Wieder fällt im Zimmer über der Halle ein Stuhl um; und dann hüpft jemand hin und her, dass alles erzittert) M ÜLLER Toll! -- Still leben. Und zurückgezogen. Mit wem hat sie sich denn zurückgezogen? (er wiehert) M AX Mit dem Kaiser von China. M ÜLLER Nanana, Kellner! --- Seit wann ist unser Freund und Meister Direktor Strasser, Besitzer dieses Etablissements, Kaiser von China, Sohn des Himmels? -- -Na denn 얍 auf Wiedersehen! (ab) S TRASSER (mit schiefsitzender Krawatte und zerwühlter Frisur; steigt langsam die Treppen herab; hält auf der letzten Stufe und ordnet Krawatte und Frisur) (Das Grammophon verstummt: schläft ein) K ARL (hatte sich gesetzt; erblickt Strasser) Na endlich! S TRASSER Der Nächste. K ARL (erhebt sich und ordnet sich die Uniform) S TRASSER Baronin dürften sogleich erscheinen. Baronin ziehen sich nur an. K ARL Haben Baronin mit Stühlen jongliert? S TRASSER Baronin tanzten. K ARL Menuett! S TRASSER Wie ein Ross. (er erblickt Max) Mensch! Wie siehst du wieder aus? M AX Wie? S TRASSER Zieh dir doch den Frack an! Das will Kellner sein! M AX Erstens: will ich ja gar nicht Kellner, und zweitens: eigentlich bin ich ja -S TRASSER (unterbricht ihn) Lass das! Erstens zweitens drittens: du bist Kellner! Dass du ursprünglich Plakate entworfen, Kunstgewerbler oder dergleichen Schnee warst, geht uns hier nichts an! Erwähne ich denn mein Vorleben?

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SB Volksbühne 1927c, S. 6

SB Volksbühne 1927c, S. 7

Endfassung Zur schönen Aussicht

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Lesetext

M AX Im eigenen Interesse? Kaum! S TRASSER Kehre ich jemals den Offizier hervor? Betone ich jemals, dass ich eine Hoffnung, ja mehr als das, eine Erfüllung der europäischen Filmindustrie war? Dass ich ein Bonvivant, einmalig! M AX Aber der Bonvivant hat Pech gehabt. 얍 S TRASSER Ich verbitte mir das! Das ist ja alles nicht wahr! Das sind gemeine Verleumdungen! Das war schon lange vorher! Der Bonvivant hat sich dieses Hotel gekauft, weil seine Augen die Jupiterlampen nicht ertragen konnten! M AX Wird gesagt. S TRASSER Halt dein Maul! Und Schluss! Jetzt bist du Kellner! Verstanden?! Ob du noch vor einem Jahre Autos verschoben hast --M AX (unterbricht ihn) Mit dir! S TRASSER Mit mir. -- Ja, was soll denn das? M AX Ich meinte nur. S TRASSER Der Zeigefinger hat mir nicht gefallen, der Zeigefinger! M AX Der? --- Das war ja gar nicht der Zeigefinger, nur der kleine Finger. Der kleinste Finger. S TRASSER Jetzt hast du dir den Frack anzuziehen. Was sollen denn die Gäste denken? M AX Es kommen keine Gäste. Höchstens Vertreter. Ab und zu. S TRASSER War einer da? M AX Ja. Ein Herr Müller. S TRASSER Ich bin nicht zu sprechen. M AX Er wird wiederkommen. Pinke, Pinke! S TRASSER Zieh dir den Frack an. M AX Nein. Ich schwitze. K ARL (gehässig) Im März? M AX Gott, auch im März kann es einem heiss werden. Im August werden wir vielleicht frieren. K ARL Vielleicht! M AX Vielleicht sicher sogar. S TRASSER Also kriegen wir dann überhaupt keine 얍 Saison mehr? M AX Möglich. Die Erdachse soll sich ja verschoben haben. S TRASSER Woher weisst du denn das? M AX Ich beschäftige mich doch mit Astrologie. S TRASSER Du sollst dir den Frack anziehen. M AX (folgt zögernd; zieht sich unter allerhand Faxen langsam den Frack an und lächelt gelangweilt) (Die Sonne verschwindet hinter einer Wolke) M AX (schüttelt sich und schlägt rasch den Kragen hoch) Brrr! Jetzt friert es mich. (er tritt vor das Pult: er ist barfuss) Ich muss mir nur noch die Schuhe holen. (ab in den Speisesaal) (Die Sonne scheint wieder) K ARL (sieht Max nach) Ein geborener Verbrecher. S TRASSER Die Alte behauptet, er hätte eine reine Seele. K ARL Aber dreckige Füsse. B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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M AX N ]

eingefügt

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SB Volksbühne 1927c, S. 8

SB Volksbühne 1927c, S. 9

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

S TRASSER (geht auf und ab; lacht vor sich hin) Die Erdachse, die Erdachse --- Diese Erdachse! (er bleibt vor der Landkarte stehen) Europa. Europa. K ARL Man müsste fort. M AX (kommt aus dem Speisesaal; er ist noch immer barfuss) Hat vielleicht jemand meine Schuhe gesehen? --- Hat niemand meine Schuhe gesehen? --- Ich kann meine Schuhe nirgends finden --E MANUEL F REIHERR VON S TETTEN (ein zierlicher Lebegreis mit Trauerflor, tritt rasch durch die Eingangstüre; betupft sich mit einem Spitzentaschentuch nervös die Stirne) 얍 Bin ich hier richtig? Bin ich hier richtig? Hotel zur schönen Aussicht, wie? Ja? --- Melden Sie mich Baronin Stetten. Da! (er übergibt seine Karte Karl, der ihm am nächsten steht) K ARL (reicht sie, ohne sie eines Blickes zu würdigen, Strasser) M AX (im Hintergrund) Wer ist denn? (Stille) M AX Wer ist denn? E MANUEL Nun – wird man es noch erleben können? Bewegung, bitte! Bewegung! K ARL Sie werden es auch noch erleben. Die kommt gleich runter. E MANUEL Wer „die“? M AX Wer ist denn? E MANUEL (empört) Zustände! S TRASSER Herr Baron! M AX (entsetzt) Wa s ist der?! S TRASSER (verbeugt sich) Im Moment! A DA F REIFRAU VON S TETTEN (ein aufgebügeltes, verdorrtes weibliches Wesen mit Torschlusspanik; steigt in einem rosa Kleidchen, Automantel und Mütze, in der Hand eine Reitgerte, feierlich die Stufen herab; erblickt Emanuel: bleibt angewurzelt) E MANUEL (verbeugt sich tief) A DA Ach! -- Welch charmanter Besuch. E MANUEL Ich kann es dir nachfühlen, dass dich mein unerwartetes Auftauchen seltsam berührt. A DA Das war deine Stimme. --- Ich glaubte schon, ich sähe Gespenster. E MANUEL Man darf wohl noch hoffen. (er tritt zu ihr und küsst ihre Hand) Zehn Minuten. Nur zehn Minuten, bitte. 얍 A DA (zu Karl) Herkules! Wir fahren in fünf Minuten. (Stille) E MANUEL Also fünf Minuten. -- Ich bitte, dich unter vier Augen sprechen zu dürfen. Nur fünf Minuten. S TRASSER , K ARL , M AX (machen Miene sich zu entfernen) A DA Hiergeblieben! Hiergeblieben! (Stille) E MANUEL Schwester. Ich kann es durchaus begreifen, dass du mich hasst. Aber diese Grausamkeit -- ich hätte es nie für möglich gehalten, dass du die primitivsten Gesetze gesellschaftlichen Verkehrs --B N

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SB Volksbühne 1927c, S. 10

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M AX N ]

Absatz getilgt; überzählige Absätze werden in TS1 stillschweigend getilgt; vgl. Chronologisches Verzeichnis. eingefügt

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SB Volksbühne 1927c, S. 11

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

A DA (unterbricht ihn) Kritik?! (dicht vor ihm) Unterstehe dich, unterstehe dich nicht noch einmal --- Man sagt zwar, dass sich Zwillinge gut verstehen, sozusagen: lieben, aber in unserem speziellen Falle, Herr Zwillingsbruder, stimmt das nicht. Es stimmt etwas nicht. Ja ja! E MANUEL Wir sind alle verrückt! A DA Ich bin nicht verrückt. Hörst du? Ich will nicht verrückt sein! Ich denke nicht daran, dir diesen Gefallen zu erweisen! --- Du hast dich schon einmal zum Anwalt gewisser Individuen erniedrigt. Ich bin nicht verrückt --- ich lasse mich nicht unter Kuratel --- Kusch! Gewisse Individuen wollten mich nämlich unter Kuratel --- (sie erblickt den Trauerflor an seinem Arme; stockt; grinst und berührt ihn mit der Gerte) Diese Familie --- Ich trage keinen Trauerflor. Keinen. Ich bin nicht stolz auf Gespenster -- -- War es eine fröhliche Leiche? 얍 E MANUEL Lass die Toten, wenn ich bitten darf. A DA Es gibt keine Toten. Wir Menschen haben eine unsterbliche Seele. (sie schminkt sich die Lippen) E MANUEL Ich weiss, dass du religiös bist. A DA (zuckt zusammen; fixiert ihn misstrauisch) Du findest ein Wort der Anerkennung, d u ? Jetzt wird man sich hüten müssen -- Heraus mit der Hinterlist! Was willst du? Sprich! So sprich! (Stille) E MANUEL Es geht um ein Menschenleben. --- Du allein sollst richten, ob dieser Mensch die nächsten zwölf Stunden überleben darf, oder ob er sich Punkt fünf Uhr früh selbst guillotinieren muss. Um was ich dich bitte, ist eine solch lächerliche Geringfügigkeit, verglichen mit eines Menschen Leben, dass --- Ada, es dreht sich um ein Menschenleben. Ohne mein Verschulden hat mich das Schicksal in eine vernichtende Situation hineinmanövriert. Gestern abend wurde im Klub gespielt, wie immer. Karten. Gott, man spielt ja nicht, um zu gewinnen, aber trotzdem kann man verlieren! Ich verlor, verlor, verlor --- das Blatt wandte sich gegen mich, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich spielte bis fünf Uhr früh, mit ganzer Kraft bemüht wieder gut zu machen, doch wen die Götter vernichten wollen, dem nützt der gute Wille nichts. Ich verlor, bis fünf Uhr früh. --- Nun bist du meine letzte Hoffnung. Du kannst mich begnadigen. Nur du. Ich bin hierhergestürzt --- bis ich nur diese Station auf 얍 dem Fahrplan fand! -- Es ist meine vorletzte Station. A DA Möglich. (Stille) A DA Wieviel hast du denn verloren? E MANUEL Siebentausend. A DA Und das kannst du nicht? E MANUEL Passé. A DA Und du, du wolltest mich unter Kuratel? E MANUEL Nicht ich! A DA Kusch! (Stille) B

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du.N ] A DA N ]

korrigiert aus: du, eingefügt

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SB Volksbühne 1927c, S. 12

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SB Volksbühne 1927c, S. 13

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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E MANUEL Ada. Ich komme zu dir nicht nur als Mensch zum Mensch. Einst standen wir zwei ja fast, als wären wir gar nicht Schwester und Bruder --- erinnerst du dich noch? A DA Ich will mich nicht erinnern. E MANUEL (zieht einen Revolver) Ich habe mir meine Guillotine bereits besorgt --A DA Auch die Kugel? E MANUEL Wie du einen quälen kannst! A DA (lacht ihn aus) E MANUEL (steckt langsam den Revolver ein) A DA Langen drei? E MANUEL Was drei? A DA Dreitausend. E MANUEL (entrüstet) Ich bin doch kein Hebräer! A DA Langen drei? (Stille) A DA (lächelt) Darf man den Herrn Baron einladen, über Nacht hier zu bleiben ? Du könntest es ja dann telegraphisch --- wenn ich dir die drei bewilligt haben sollte --Strasser! Ein Zimmer! Ein Gast! Ein Gast! E MANUEL Du hast dich nicht verändert. A DA Keine Komplimente! E MANUEL Da du als Kind schon Tiere gequält hast, kann mich dein jetziges Benehmen keineswegs 얍 wundern --- doch hoffe ich, dass du mich nicht zu Tode peinigst. Ada, es geht um sieben. Drei kosten mich den Kopf. A DA Diesen Kopf! --- Strasser! Führe den Herrn Baron auf sein Zimmer! S TRASSER Sonnenseite? A DA Nur nicht Mond! Damit er nicht anfängt zu wandern! E MANUEL Ich darf wohl bitten, meine Gebrechen nicht derart vor dem Personal --A DA (unterbricht ihn) Unter uns! Unter uns! Wir haben keine Geheimnisse! Du erlaubst, dass ich dich deinen Verwandten vorstelle: mein Bruder Emanuel, genannt Bubi. --- Dein Schwager Direktor Strasser. --- Dein Schwager Karl, der wagemutigste Rennfahrer seit Ben Hur, fünf Kilometer in der Stunde --K ARL Kilometer ist gut! Sehr gut! A DA (grinst) Nicht? --- Und dein Schwager Max! M AX Angenehm! E MANUEL (erstarrt) (Stille) A DA (schleicht zu Emanuel und küsst ihn auf das Ohr; grinst) Nicht weinen, Bubi, nicht weinen -E MANUEL (unterdrückt) Es ist erschütternd! A DA (lacht) Bubi! Bubi! E MANUEL Als Mensch möchte ich jetzt tot umfallen, aber als Kavalier muss ich mich degradieren lassen. S TRASSER Darf ich bitten, Herr Baron! M ÜLLER (erscheint in der Eingangstüre) S TRASSER Und Generaldirektor Müller, Präsident der vereinigten Kalkwerke von Paneuropa! N

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A DA N ] zu bleibenN ]

eingefügt korrigiert aus: zubleiben

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Endfassung Zur schönen Aussicht

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SB Volksbühne 1927c, S. 15

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M ÜLLER He? S TRASSER Einen Augenblick, Herr Generaldirektor! 얍 Darf ich bitten, Herr Baron! (Stille) E MANUEL (starr; lächelt sarkastisch und verbeugt sich steif) Zu freundlich! (er eilt die Treppen empor) S TRASSER (folgt ihm) M ÜLLER Halt! S TRASSER Im Augenblick, Herr Generaldirektor! (ab) M ÜLLER Was bin ich? A DA (zu Karl) Allons, Ben Hur! K ARL Was man alles werden kann! A DA Wie du willst, Herkules! (Es dämmert) M ÜLLER Was bin ich? A DA (zieht sich den Mantel aus und wieder an; pudert sich die Nase, schminkt sich die Lippen) K ARL Lass das! Los! Die Sonne ist weg --- du bist schon schön! A DA Wird es regnen? K ARL Es wird Nacht. A DA So? Dann wollen wir nunmehr bis zur Kapelle --- ich liebe diese Spätgotik. (zu Müller) Bleiben Herr Generaldirektor die Nacht über? M ÜLLER (verwirrt) Was für Nacht? A DA Charmant! Dies Kind im Manne -- Au revoir, Herr Generaldirektor! (ab mit Karl) M ÜLLER (sieht ihr nach; zu Max) Wohin reiten denn die? M AX Die reitet nicht nur, die fährt auch. Automobil. M ÜLLER Mit der Peitsche? M AX Auch das, Herr Generaldirektor. (er blickt suchend umher) M ÜLLER Was bin ich? 얍 M AX Generaldirektor. M ÜLLER Ich bin kein Generaldirektor! Ich bin Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn --M AX (unterbricht ihn) Aber bei Ihren Fähigkeiten könnten sie jederzeit Generaldirektor sein! M ÜLLER (setzt sich) M AX Natürlich! Aber natürlich! (Stille) M ÜLLER Bei meinen Fähigkeiten? --- Natürlich! (er schnellt empor und eilt hin und her) M AX Wenn ich nur meine Schuhe finden könnte --M ÜLLER Es wäre nur zu natürlich --- Jederzeit! Fähigkeit, Begabung, Genie! Jederzeit! Aber, junger Mann, die Welt ist zu verlogen, sie will belogen sein! Glück müsste man haben, Glück! M AX Haben Sie nicht irgendwo, etwa, zufällig, ein Paar Schuhe gesehen? M ÜLLER (hält ruckartig) Was für Schuhe? B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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Karl)N ] Aber,N ]

N

korrigiert aus: Karl. Aber\,/ Korrektur eventuell von fremder Hand

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SB Volksbühne 1927c, S. 16

Endfassung Zur schönen Aussicht

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M AX Schwarze Schuhe. M ÜLLER Schwarze Schuhe? M AX Meine Schuhe. M ÜLLER Was gehen mich Ihre Schuhe an?! Laufen Sie nackt! Mit blossen Sohlen! M AX Das tu ich ja! M ÜLLER So passen Sie auf, dass Sie in keinen Reissnagel treten! M AX Man dankt für Ratschläge! Helfen Sie mir lieber die Schuhe suchen! M ÜLLER Ich helfe keine Schuhe suchen! M AX Meine armen Zehen! M ÜLLER Was gehen mich Ihre Schweissfüss an! M AX Schweissfüss?! Herr, d a s sind Zehen! Gepflegte Zehen! Polierte, rosige, zarte, 얍 zerbrechliche -- das sind schon gar keine Zehen mehr, das sind Zehlein! M ÜLLER (brüllt) Halten Sie Ihr loses Maul! Woher will er wissen, was ich für Zehlein habe?! M AX Ich? M ÜLLER Schluss! Ich möchte den Direktor Strasser! Aber sofort! S TRASSER (tritt aus dem Speisesaal rasch ein) Herr Generaldirektor! M ÜLLER Ich bin kein Generaldirektor! Sie scheinen mich ja vergessen zu haben? M AX Wer das könnte! M ÜLLER (zu Strasser) Ich will Sie erinnern. Sie werden sich schon noch erinnern! Sie sollen es nimmer vergessen! Garantiert! S TRASSER Ach, Sie sind ja der Herr Müller! Ja , richtig! Der Müller von Hergt und Sohn -- Ich habe Sie jetzt verwechselt. Verzeihen Sie, dass ich Sie mit meinem Freunde Generaldirektor Müller verwechselt habe. Aber diese Aehnlichkeit! Dasselbe markante Mienenspiel! M AX Natürlich! Aber natürlich! M ÜLLER Finden Sie? S TRASSER Frappant! Frappant! (Stille) M AX Diese Schuhe -- diese Schuhe -- (bekümmert ab nach oben) S TRASSER (bietet Müller Platz an) Bitte --M ÜLLER (wehrt ab) Keine Konferenz! Selbst, wenn ich Generaldirektor wäre, hier wird nicht geredet, hier wird bezahlt! Es dreht sich um jene sechs Kisten Sekt. Geliefert am siebzehnten Februar. Voriges Jahr. S TRASSER Am fünfzehnten. M ÜLLER Am sechzehnten ! Bezahlen Sie, bezahlen Sie! Ja oder nein? 얍 S TRASSER Nein. M ÜLLER (setzt sich und schlägt wütend die Beine über Kreuz) S TRASSER (beugt sich über den Tisch) Nein. (er setzt sich) Aber ich bin selbstverständlich bereit, Möglichkeiten zu erwägen -M ÜLLER (unterbricht ihn) Ich lasse pfänden, Herr! Pfänden ! S TRASSER Defizit. Garantiert. M ÜLLER Ich lasse alles beschlagnahmen! S TRASSER „Alles“? Ein unsolider Begriff! B

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korrigiert aus: ihr korrigiert aus: ja korrigiert aus: sechszehnten korrigiert aus: pfänden

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M ÜLLER Und dann erstatte ich Strafanzeige: wegen Betrug! S TRASSER Ach! Sie wollen sich selbst stellen? M ÜLLER Mich selbst? Was soll das? Wieso? S TRASSER Ich kenne nämlich einen Generaldirektor, einen gewissen Müller, der verkauft auch Autos, so nebenbei --- und hat auch so nebenbei einen gewissen Strasser betrogen -- „betrogen“ ist dabei noch galant formuliert. M ÜLLER Wann soll denn das gewesen sein? S TRASSER Am dritten März. Voriges Jahr. M ÜLLER Was war das für ein Wagen? S TRASSER Ein rotbrauner --M ÜLLER (unterbricht ihn) Ach, der Kleine! S TRASSER Klein oder nicht klein! Der Staatsanwalt kennt nur Pferdekräfte! M ÜLLER Sie wollen erpressen? S TRASSER Ich k ö n n t e erpressen, aber ich will zu anständig sein. M ÜLLER Was verdienen Sie dabei? S TRASSER Nichts. Nichtmal sechs Kisten Sekt. Ich bin so und so bankrott. (draussen weht der Wind) S TRASSER Der Sommer war verregnet. Zu 얍 Weihnachten blühte der Flieder. Zu Ostern fiel Schnee. Schlechter Schnee. Kein Wintersport, nur Grippe. Verseuchte Saison. Kaum ein Gast. Ich hänge hier zu sehr vom Wetter ab. (Der Regen klopft auf ein Dach) S TRASSER Hören Sie? M ÜLLER Was? S TRASSER Wie es regnet. Pfingsten naht. Wieder verregnet. (Schweigen) M ÜLLER Ich gratuliere. Sie haben ja einen ausserordentlich vorteilhaften Vertrag mit dem lieben Gott. Solange Sie Grammophon spielen, scheint die Sonne – aber wie einer um sein Geld kommt, gibt es sogleich einen Wolkenbruch. S TRASSER Also abgesehen vom lieben Gott: sehen Sie denn nicht, dass das Gras schon zur Türe hereinwächst? Die Kräuter? M ÜLLER Was für Kräuter? S TRASSER Mann, Müller! Sehen Sie doch nur diese ungeheure Verwahrlosung! Diese Einsturzgefahr! Man wagt ja kaum mehr Platz zu nehmen! M ÜLLER Nanana! (der Stuhl unter ihm bricht zusammen: er stürzt zu Boden) S TRASSER Es geht abwärts. (er zündet sich eine Zigarette an) (Schweigen) M ÜLLER (am Boden) Bankrott. Hm -- -- Was verdienen Sie dabei? (er grinst) S TRASSER S i e fallen vom Stuhl! M ÜLLER Würde Ihnen so passen! S TRASSER Sie können es sich anscheinend nicht mehr vorstellen, dass jemand w i r k l i c h zu Grunde gehen kann? 얍 M ÜLLER (lacht) Wirklich? Wirklich „wirklich“? S TRASSER So wahr Sie jetzt am Boden kauern! M ÜLLER (gekränkt) Ich kauere nicht. Kauern tut ein Tier. Ich sitze. Man ist doch immerhin noch ein Mensch --- Au! Was war das? Was ist das? --- Ich kann nicht B

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mehr auf -- Au, ich glaube, jetzt ist etwas verrenkt -- es wird doch nichts gebrochen, au! So helfen Sie mir doch! S TRASSER (geht auf und ab) Hernach! Zuerst das Geschäftliche --M ÜLLER (unterbricht ihn) Hernach, hernach! S TRASSER Nein. Zuerst die Pflicht! Also: ich kann nicht bezahlen -M ÜLLER (unterbricht ihn) Ich kann nicht aufstehen! S TRASSER Ich kann nicht bezahlen. M ÜLLER Betrug! Betrug! Eine alte Ziege finanziert den Zirkus! Diese sinnliche Aristokratin! Ist ja bekannt, bekannt, stadtbekannt! S TRASSER Ich halte nichts vom Geschwätz der Leute! M ÜLLER Herr, ich bin verunglückt! S TRASSER Ich kann Ihnen lediglich versichern, dass sobald es mir meine Lage gestatten wird, das heisst: bei günstiger Witterung, ich meine Schulden anfangen werde zu begleichen. Ratenweise, natürlich! Sonst müsste man sich ja sogleich aufhängen! M ÜLLER Wollen sie mich hier liegen lassen, wie einen überfahrenen Hund, ja?! Hilfe! Hilfe! Hilfe!! S TRASSER (stürzt sich auf ihn und hält ihm den Mund zu; brüllt) Ruhe! Ruhe! Ruhe!! (Stille) S TRASSER (stützt ihn empor) Sammlung, Herr Müller! Sammlung! Solch ein ausge얍wachsenes Exemplar, und so brüllen --- Wie kann man nur --- wegen einer lumpigen Ratenzahlung! M ÜLLER (weinerlich) Au -- meine Existenz --- Strasser, ich habe das Gefühl, ich bin entzwei -- ob ich mir etwas gebrochen habe? -- Sie können das gar nicht beurteilen, diese Ratenzahlung in Verbindung mit der Witterung --- meine Existenz --nein, nein! Ich bin kein Hypochonder --- und betrogen habe ich Sie auch nicht, das mit dem Auto, dem Kleinen --- mit dem selben Rechte könnte man ja sagen, ein jedes Geschäft --- wenn ich mir nur nichts gebrochen habe --S TRASSER (sanft) Herr Müller. Ich werde Sie nun nach dem Speisesaal bringen --- Sie werden mir Recht geben: sobald man etwas im Magen hat, fühlt man sich erleichtert. M AX (tritt in schwarzen Schuhen aus dem Speisesaal; lässt die Türe offen und verbeugt sich tief mit einer Serviette über dem Arm) M ÜLLER Und die Nacht über muss ich nun auch hier -- Heut kann ich unmöglich weiter, so hinkend. S TRASSER (führt ihn in den Speisesaal) Ich habe ja auch Zimmer --M ÜLLER (seufzt) Nur kein Geld! Aber Sie haben ein goldenes Herz, Sie Schwein --(ab) M AX (allein) Ich bin nur froh, dass ich endlich meine Schuhe wieder habe. Man ist ja sogleich ein anderer Mensch. C HRISTINE (einfach dunkel gekleidet; erscheint in der Eingangstüre) M AX (formell) Sie wünschen? 얍 C HRISTINE Ich wollte nur fragen, ob ich Herrn Strasser sprechen könnte. S TRASSER (tritt aus dem Speisesaal) B

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M AX (leise) Es ist ein Frauenzimmer hier, das dich sprechen will. S TRASSER (ebenso) Mich? Wie sieht es denn aus? M AX Geschmacksache. S TRASSER (grinst) Dünn? Dick? Lang? Kurz? Stämmig? M AX Ich weiss nicht, was du darunter verstehst. S TRASSER So lass mal sehen! M AX (knipst das Licht an) S TRASSER (erblickt Christine, fährt zusammen, will schleunigst ab) C HRISTINE Strasser! S TRASSER (tut, als erblickte er sie erst jetzt) Christine! --- Du? Kolossal! Ich hab dich jetzt gar nicht gesehen, auf Ehrenwort! C HRISTINE Lüg nicht. (Stille) S TRASSER (zu Max) Was lungern Sie hier herum, Kellner, als gäbe es nichts zu tun! Der Herr Generaldirektor wollen ja soupieren! Dass mir keine Klagen kommen! M AX (ab in den Speisesaal) Hoi! Hoi! (Stille) S TRASSER Christine. Dein plötzliches Erscheinen wirft die ganze Exposition über den Haufen --C HRISTINE Warum hast du meine Briefe nicht beantwortet? S TRASSER Was für Briefe? C HRISTINE Alle können nicht verloren gegangen sein. S TRASSER Doch! Doch! Die Post ist derart unzuverlässig --C HRISTINE (unterbricht ihn) Lüg nicht. (Stille) C HRISTINE (betrachtet Strasser; sieht sich scheu um; 얍 eilt plötzlich auf ihn zu, ängstlich lächelnd, schlingt ihre Arme um seinen Hals und küsst ihn) Nein, nein! Das ist ja alles nicht wahr --- alles nicht wahr, still! Wir reden ja nur aneinander vorbei. Verzeihe mir. Bitte, verzeihe, dass ich soeben sagte, du lügst --- aber ich bin so ängstlich geworden, ich weiss doch, dass du nicht lügst, nie lügst, dass du nie die Unwahrheit sagst --S TRASSER Einmal habe ich einen Brief erhalten --C HRISTINE (küsst ihn rasch auf den Mund) Nein nein nein --- Ich weiss ja, dass die Briefe verloren gegangen, alle Briefe, und dann habe ich sie auch vielleicht gar nicht abgesandt --- es ist ja, als hätte ich sie gar nicht geschrieben, und die Post ist derart unzuverlässig --- Warum, warum gibst du mir denn keinen, keinen Kuss? S TRASSER (küsst sie) (Stille) C HRISTINE Ich habe dir geschrieben, dass mein zweiwöchentlicher Sommeraufenthalt, voriges Jahr, hier, nicht ohne Folgen für mich --- für uns --S TRASSER Du willst doch nicht sagen -C HRISTINE (unterbricht ihn) Ja. (Stille) C HRISTINE Ja. B

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(Sturm) C HRISTINE Es war eine harte Zeit. Ich wurde abgebaut, und wenn der liebe Gott mir nicht geholfen hätte, wäre ich untergegangen --- ich weiss, du wärest zu mir geeilt, wenn du es auch nur geahnt hättest. Ich gehöre zu dir. Hier ist meine Heimat, in der Stadt friere ich nur. Ich werde dir die Wirtschaft führen --- 얍 ich habe es dir gesagt, wie ich dich liebe, alles, deinen Körper, es wird mir immer kalt und heiss --E MANUEL (kommt lautlos die Treppen herab) S TRASSER (hört ihn trotzdem, stösst Christine von sich) E MANUEL Pardon! -- Pardon! Sind Baronin schon wieder zurück? S TRASSER Nein. E MANUEL Noch nicht zurück? Bei diesem Wolkenbruch? Das ist ein Orkan! Man wird die Behörde verständigen müssen, es wird doch nichts geschehen – – Wo, wo lässt sich hier telefonieren? S TRASSER (deutet auf das Pult) Dort. Aber ob die Behörde Sie beruhigt, ist fraglich. Neulich hat sich ein Auto überschlagen, doch die Behörde --E MANUEL (unterbricht ihn) Wie können Sie so reden?! Um Gottes Christi Willen! (er eilt an das Telefon) (Orkan) C HRISTINE (leise) Was ist das für Baronin? S TRASSER Ach! (Schweigen) C HRISTINE Ich habe gehört, dass hier eine Baronin wohnt -- (sie stockt) S TRASSER So? C HRISTINE Du, der liebe Gott hat geholfen. Der liebe Gott --- Ich habe nämlich -- (sie stockt wieder) S TRASSER Was? C HRISTINE Später. Später. S TRASSER Was verstehst du unter „lieber Gott“? C HRISTINE Strasser. Gib mir dasselbe Zimmer --S TRASSER Welches war denn nur das? 얍 C HRISTINE Du weisst es doch --- Nummer elf. S TRASSER Elf ist leider besetzt. Aber selbst, wenn es noch frei wäre, würdest du es wahrscheinlich nicht wiedererkennen, da wir es anders eingerichtet haben. C HRISTINE Schöner? S TRASSER Vorteilhafter. C HRISTINE (ergreift seine Hand) Gib mir irgendein Zimmer --- Komm! (sie steigt mit Strasser die Treppen empor) E MANUEL (allein; am Telefon) Keine Verbindung. Grotesk! Grotesk! (er hängt ein; geht nervös hin und her) Dieser Orkan! Es wird doch nichts geschehen sein -- Jedes Auto überschlägt sich ja nicht, man sollte es nicht für möglich halten --M AX (kommt aus dem Speisesaal) E MANUEL Ober! Wieso kann es möglich sein, dass man keine Verbindung bekommt? Ach, ich meine: am Telefon. M AX Weil das Telefon verdorben ist. E MANUEL So gehört es repariert. B

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M AX Gott, das ist schon seit Wochen in Unordnung --- (er sieht sich suchend um) Sagen Sie: haben Sie nicht irgendwo eine Speisekarte gesehen? E MANUEL Ich?! M AX Der Herr Generaldirektor wollen nämlich frühstücken. E MANUEL Zustände! K ARL (tritt ohne Gruss ein; sieht sich verstört um; lallt) Den Strasser brauche ich, den Strasser --- Wo kann ich einen Strasser haben? Aber nicht zu teuer --- 얍 ein Stück Strasser brauche ich --E MANUEL , M AX (starren ihn entgeistert an) K ARL (plärrt plötzlich los) Ja, heiliges Dromedar, hat euch denn alle der Schlag gerührt, ihr Bolschewisten! E MANUEL (knickt in den Knieen ein) Bolschewist?! K ARL (zu Max) Du Mandrill! Wo steckt der Strasser, wo?! M AX Herr Gorilla, es ist mir leider nicht bekannt, wo die hochwohllöbliche Direktion sich derzeit herumtreiben. K ARL Da muss sie her! Die muss her! Her muss sie! Daher! Hierher! Daher, hopp! (er rülpst) M AX Ach, du bist wieder betrunken? K ARL Ha? E MANUEL (zittert) Empörend! M AX (zu Karl) Du bist verstört. K ARL Nichts ist unmöglich. (er rülpst und wankt) E MANUEL Empörend! Also das ist empörend! Ein berauschter Lenker im Orkan! Zuchthaus! Jawohl: Zuchthaus! -- Jetzt wage ich nicht mehr konsequent zu denken --M AX Wenn ich nur wüsste, wo die Speisekarte -K ARL Baronin liegen in der Karosse und betonen nicht aussteigen zu können, bis der Strasser kommt. Sie bilden sich nämlich ein, dass die Direktion sie auf den Händen herauftragen müsste. E MANUEL Was bedeutet das? K ARL Wir sind umgekippt. E MANUEL Um Gottes Christi Willen! Mein Kopf! -- Chauffeur! Ist sie verletzt?! Leicht? Schwer? K ARL Baronin sind besoffen. --- Oder habt ihr euch 얍 etwa eingebildet, wir fahren im Orkan zur Scheisskapelle?! M AX (zu Emanuel) Wie kann man auch nur! K ARL Wir haben nur unsere Gaumen benetzt, den Schlund, die Schlünde --- im roten Aar, im bleichen Bock, weiss der Satan wo! Aber die verträgt ja nichts, deine Schwester ist, was Alkohol anbelangt, eine Fehlgeburt! Nach dem vierten Glase hat sie schon gesungen, und dann hat sie die Kotflügel vollgespien --- du, die kann singen! (Aus der Ferne tönt Adas Stimme, falsch und kreischend: ein sentimentaler Gassenhauer) E MANUEL (hält die Hand vor die Augen) M AX (hält sich die Ohren zu) K ARL (krümmt sich) (Ada verstummt plötzlich) D IE D REI (lauschen)

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M AX (leise) Sie kommt --K ARL Quatsch! M AX Pst! (Schweigen) K ARL Vorgestern ist sie auch nicht gekommen. M AX Heute kommt sie. Oder gibt es da etwa ein Gesetz? Wetten? K ARL Mit dir? (er spuckt aus) M AX Wer wettet mit mir? M ÜLLERS S TIMME (aus dem Speisesaal) Ober! Ober! M AX (zuckt zusammen) Dieser Beruf! (ab in den Speisesaal) A DA (erscheint in der Eingangstüre, abgespannt; hustet heiser) E MANUEL (zog sich in eine finstere Ecke zurück) (Es ist still geworden) A DA (hängt sich an Karl, der leicht torkelt) Herkules, Herkules --- es geht mir so miserabel, mein Leib --- So hilf mir doch! 얍 Ich huste ja meine Seele hinaus -- Sag: liebst du mich? K ARL (rülpst) Ja. A DA Aber nicht nur meinen Leib, meine Reize -- auch meine Seele, nicht? K ARL Auch deine Seele. (Irgendwo singt eine blonde Geige Schmachtfetzen) A DA Ist das schön, du --- du starker, grosser, du Siegfried! Und dann regnet es auch nicht mehr, die Sterne stehen am Himmel --- Wenn ich nur nicht so durstig wäre! Durst! Durst! Ist das die Sehnsucht? K ARL Nein, das ist Durst. (die blonde Geige hat ausgesungen) A DA (reisst sich los von Karl) Pfui! Jetzt war ich wieder sentimental, was? K ARL Das ist die Liebe, Gretchen. A DA Ich schäme mich. Ich schäme mich! Nein! Das muss ich vergessen! Komm! Ich habe Durst! K ARL Es lebe die Sehnsucht!

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Z W E I T E R A K T. Speisesaal im Hotel zur schönen Aussicht. Zwei Tische im Vordergrunde sind gedeckt: einer weiss, einer bunt. Auf den übrigen Tischen stehen Stühle mit den Beinen himmelwärts. M ÜLLER (sitzt an dem weissgedeckten Tische und hält die Hände vor das Gesicht; ruft) Ober! Ober! M AX (kommt rasch; erblickt auf dem bunt gedeckten Tische die Karte) Ach, da liegt ja die Speisekarte! Seltsam! Was man alles sucht! (er breitet sie geschäftig vor Müller aus) M ÜLLER (blickt mechanisch in das Blatt) (Stille)

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M ÜLLER Sagen Sie -: haben Sie Krücken? M AX Krücken? M ÜLLER Kennen Sie keine Krücken? - Richtige Krücken, solche - (er macht eine Geste des Humpelns) Au! Ich habe mir nämlich das Bein gebrochen. Das Schienbein. Das Knie. Den Knöchel. Die Knöchel. - Und nun kann ich nicht laufen. M AX Sie wollen mit Krücken laufen? Interessant! M ÜLLER Wieso? M AX Sie werden auch mit Krücken nicht mehr laufen. M ÜLLER Tatsächlich? M AX Na selbstverständlich! (Stille) M ÜLLER Haben Sie auch keinen Rollstuhl? 얍 M AX Rollstuhl? Nein. Aber Krücken haben wir. M ÜLLER Krücken?! M AX Ja, solche richtige - (er macht Müllers Geste des Humpelns) M ÜLLER (braust auf) Sie haben doch soeben gesagt M AX (unterbricht ihn) Ich habe gesagt, dass Krücken Ihnen nichts nützen dürften, aber ich habe nicht gesagt, dass wir keine haben. Wir haben Krücken. - Da war einmal ein Herr hier zur Erholung, der ging auf Krücken und trug ein eisernes Korsett. Der war seinerzeit im Weltkrieg ziemlich verwundet worden, an der Nordfront M ÜLLER Unsinn! Es gab doch gar keine Nordfront! Junger Mann, Sie beherrschen ja die vaterländische Geschichte famos! M AX Gott, damals war ich noch keinen Meter hoch, und was ich in der Schule gelernt habe, das hab ich sofort vergessen -- Kurzum: als jener von uns ging, brauchte jener die Krücken nicht mehr. Er hat sich nämlich ersäuft, in dem Weiher, dort drüben, weil er unheilbar war. Seine Krücken hat er uns vermacht, weil er sagte, er sei noch nirgends in seinem Leben so friedlich gesessen, wie unter unserer Tanne. Romantisch, was? Aber es muss auch solche Käuze geben -- und wir haben seine Krücken auf den Speicher gestellt, aus Pietät, sozusagen: als Erinnerung an grosse Zeiten. M ÜLLER Das waren sie! Bei Gott! Ein Volk in Waffen! Ihr jungen Hunde müsstet mal ordentlich gedrillt werden -- das tut Not! M AX An welcher Front standen Sie? M ÜLLER Fragen Sie nicht so unverschämt, ja?! Ich 얍 verbitte mir das! (Stille) M AX Soll ich nun die Krücken bringen? M ÜLLER (hat sich wütend in die Speisekarte vertieft) Bringen Sie mir Schweinebraten mit Röstkartoffel. Und Gurkensalat. Marsch, marsch! M AX Wir haben keine Kartoffel. M ÜLLER Keine Kartoffel? M AX Wir haben auch keinen Gurkensalat. M ÜLLER Skandal! Dann bringen Sie Rotkohl! M AX Wir haben aber auch keinen Schweinebraten. M ÜLLER (schlägt auf den Tisch) Das ist zuviel! M AX Zu wenig. B

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M ÜLLER (schnellt empor und läuft schäumend hin und her) Zuviel! Viel zuviel! Keine Kartoffel, keine Gurke, kein Schwein! M AX Herr Müller! M ÜLLER Kein Schwein! Was haben Sie denn?! M AX Sie laufen ja! M ÜLLER (immer hin und her) Das geht Sie nichts an, Sie! Ich frage: was bekommt hier der, der Hunger hat? Zeigen Sie mir keine Speisekarten -M AX Nur Formsache! M ÜLLER -- geben Sie mir etwas zum Fressen ! Was haben Sie, was haben Sie?! Die Wahrheit! M AX Ich muss erst nachsehen. A DA UND K ARL (erscheinen ) A DA Ha, der Herr Generaldirektor! M ÜLLER Irrtum, Baronin! Ich bin kein Generaldirektor. A DA (lächelt) Inkognito? (sie setzt sich an den bunt gedeckten Tisch) M ÜLLER (setzt sich auf seinen Platz) Mein Name ist Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn, Weingrosshandlung, kurherzogliche 얍 Hoflieferanten, gegründet 1678 -A DA (unterbricht ihn) Charmant! Sie werden mir immer charmanter -- das haben Sie sich ja charmant ausgeklügelt, und ich will Ihren Willen tun -- hören Sie, grosses, dickes Kind: Ihren Willen tun, aber Sie dürfen ihn nicht falsch auffassen -- Wir wollen auf unseren Willen trinken! Los! Mit Sekt! Mit dem Willen versetzt man bekanntlich Berge, wenn es sein muss. Ich hätte ja ursprünglich ein Mann werden sollen, ich wäre ein Cäsar geworden, ein Nero -- Quo vadis, Herr Generaldirektor? Glotz nicht! Sekt! Sekt! Aber keinen von Hergt und Sohn! Faule Firma! M AX (zu Müller) Ganz meine Meinung! A DA Dass man hier nichts anderes ausschenkt, als Jauche in Pullen! M AX (stellt Gläser auf den Tisch) Darum trinken ja auch Herr Generalgeschäftsreisender meistens Wasser. A DA Aber was kann man denn machen, wenn man anstossen will?! So trinken wir eben mit Jauche auf unsere Ideale! K ARL (hatte sich neben Ada gehockt) Pupille! Pupille! M AX (entkorkt eine Flasche mit Krach) A DA Salut! Und zusammen die Tische! Zusammen! (es geschieht) Ich lade ein! Ihr seid bei mir zu Gast, Herr Generaldirektor! Nach unserem Geschmack! (sie schnellt empor) Still! (sie starrt in sogenannte Fernen; lallt) -- Ist das die Sehnsucht? Still! Jetzt zieht ein Choral durch meine Seele -- Wenn ich die Wörter nur verstehen würde, diese Silben aus einem anderen Reich, so 얍 könnten wir singen -K ARL Nur nicht singen! M ÜLLER Schwätzt die immer so viel, wenn sie besoffen ist? K ARL (zu Müller) Sauf! Auf dass du Generaldirektor wirst! M AX (hatte Flaschen auf den Tisch gestellt und sich gesetzt) Ihr habt auch schon gar keinen Sinn für Poesie. K ARL Ich verblöde nie! B

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korrigiert aus: fressen korrigiert aus: (Ada und Karl erscheinen korrigiert aus: ist

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A DA Sphärenmusik -M ÜLLER (nippt an seinem Glase) Ich finde den Sekt recht ordentlich. Oder? M AX Oder. K ARL (sauft aus der Flasche) Ausserordentlich! M ÜLLER Ausserordentlich! (er leert sein Glas) K ARL Wenn man dabei nur nicht hungern müsste! M ÜLLER Ditto! M AX Schwalbennester wären noch da. M ÜLLER (höhnisch) Sonst nichts? M AX Und Krücken. M ÜLLER (stiert ihn an; leert hastig sein Glas) E MANUEL (erscheint) A DA (erblickt ihn) Heiliger Himmel, du lebst ja auch noch! Was die Medizin vermag! Dieser Kopf! Wie er zittert, wie der zittert! Halt! Halt! Dass du ihn nur nicht verlierst! Die Würfel sind gefallen, aber das Resultat wird erst eine Sekunde vor Schluss verkündet -- sonst ginge ja die Spannung flöten, und ich hasse die Langeweile -- eine Sensation muss das werden! Eine Sensation! M ÜLLER (lacht) Jetzt hab ich das Wort! Sie sind ein Original, Baronin! A DA Nicht? -- Nimm Platz! Darf man bitten, Sen-얍sation! Ohne Vorwort, und keine Kritik! E MANUEL (nähert sich widerwillig) M ÜLLER (schnellt empor und schlägt die Hacken zusammen) Müller! E MANUEL (steif; murmelt; setzt sich an die weissgedeckte Seite) K ARL Emanuel Freiherr von Stetten, genannt Bubi -- Grün ist die Hoffnung, Schwager! Ex! E MANUEL (schnellt empor; eilt an die Rampe; fasst sich an das Herz) A DA Was hat er denn? Was ist ihm denn schon wieder? K ARL Der Idiot. A DA (schleicht zu Emanuel) M ÜLLER (zu Karl) Diese Beleidigung! M AX Ex! ( Saufen ) A DA (zu Emanuel) Dass du parierst! Dass du parierst! E MANUEL Kreuzige mich! Aber verlange nicht von mir, dass ich mit Kellner und Chauffeur an einem Tische trinke! A DA Das ist kein Kellner! Das ist kein Chauffeur! Das sind standesgemässe Personen! Die scheinen nur zum niederen Volke zu gehören, weil sie Unglück hatten. Das sind keine Arbeiter, keine Handwerker und so -- der eine ist Aesthet, der andere war Plantagenbesitzer in Portugal, der dritte Star, und Offizier! Die zählen nicht zum Volke, zur Masse, zum Plebs! Die gehören in die Salons! -- Pech kann ein jeder von uns haben. Auch du. Bedenke! Darum habe Mitleid mit den Enterbten. Emanuel, ich appelliere an dein Standesbewusstsein, an Ritterlichkeit und Christentum! B

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HackenN ] SaufenN ] BjederN ] BappelliereN ] B B

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korrigiert aus: Haken korrigiert aus: saufen korrigiert aus: Jeder korrigiert aus: appeliere

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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얍 E MANUEL (verbeugt sich ergriffen und küsst ihre Hand; eilt an den Tisch und erhebt sein Glas) Auf das Wohl, die Herren! (er leert sein Glas und schleudert es in den finsteren Hintergrund: es zerbricht klirrend) A DA Bravo! Bravo! (sie will rasch an den Tisch, bekommt einen Magenkrampf, hält angewurzelt und krümmt sich) K ARL (zu Ada) Plärr nicht! Sauf! M ÜLLER Ich komme nach, komme nach, Herr Baron! M AX (zu Müller) Es scheint Ihr Schicksal zu sein, alles zu versäumen? A DA (stöhnt) Mein Leib, mein Leib -K ARL (zu Ada) Hinaus! M ÜLLER (zu Emanuel) Mein Bruder, Herr Baron, war der einzige Bürgerliche im Offizierskorps seines Regiments. Wäre nämlich ich der Älteste von uns Drillingen, wäre heute ich der Rittmeister! Selbstredend a.D., Herr Baron! Man kann doch nicht dem Volke, wenn man im bunten Rock des Königs schwor -K ARL Schwör nicht! Sauf! Du BDrillingN! M ÜLLER BDrillingeN können auch saufen, Sie! A DA (stöhnt; fasst sich plötzlich an den Kopf) Jetzt hab ich den Strasser vergessen! E MANUEL (zu Müller) Ich bezweifle in keiner Weise, dass Sie nicht Talent zum bunten Rock hätten. M ÜLLER Darf ich auf Ihr ganz Spezielles? E MANUEL Danke. Ich allerdings war zwar nur Fähnrich, schon aus Tradition, aber heute bin ich Pazifist. Die Geschichte meiner Bekehrung ist pittoresk: es sprach nämlich unlängst eine entzückende Person für den Pazifismus -- ich habe noch nie 얍 solch durchgeistigte Hände gesehen. M ÜLLER Herr Baron! Ich hasse den Militarismus! Mit meinem Bruder, dem Rittmeister, habe ich mich noch nie verstanden, obwohl wir doch Drillinge -K ARL (unterbricht ihn) Schluss mit der Viehzucht! E MANUEL (zu Karl) Sie sind freilich verbittert; aber die Weltpolitik, gewissermassen die kosmischen Zusammenhänge -A DA (schreit) Wo ist der Strasser? Der Strasser! Dieser Strasser -- (sie läuft erregt hin und her) Es kann ihn doch nicht die Erde verschlungen haben! Hat denn niemand den Strasser gesehen? E MANUEL (hatte sich mit dem Rücken zu Ada gesetzt) Doch. Ich. A DA So sprich doch, ja?! E MANUEL Nein. (der Sekt steigt ihm allmählich zu Kopf) Es gibt nämlich Personen, die durch Bacchus zum Helden avancieren, aber ich bleibe Diplomat. Vorsicht soll nämlich die Mutter der Weisheit sein. Jener Weisheit, die schweigt. (er trommelt mit den Fingern fröhlich auf der Tischplatte) Ich traue mich nicht, ich traue mich nicht! Aber ich will es den Herren hier erzählen. Wollen sehen, wer der Mutigste ist! K ARL Ich! E MANUEL (flüstert) A DA Was soll das Getuschel?! Keine Geheimnisse! Unter uns! K ARL (imitiert einen Posaunenstoss) Der Strasser ist mit einer hübschen Blondine nach hinauf. 15 16

B B

DrillingN ] DrillingeN ]

korrigiert aus: Drllling korrigiert aus: Drlllinge

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SB Volksbühne 1927c, S. 35

SB Volksbühne 1927c, S. 36

Endfassung Zur schönen Aussicht

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Lesetext

A DA (erstarrt) E MANUEL (kichert) 얍 Mein Schwager Strasser hat besagte Blondine im Treppenhaus umarmt. Und geküsst. K ARL Dass es knallte! E MANUEL Vor ungefähr einer Stunde. M AX Und seit dieser Stund wurd er nimmer gesehen. (Stille) A DA Ist, das, wahr? M ÜLLER (schadenfroh) Na Pupille! Pupille! ( Saufen ) A DA (hysterisch) Der Strasser, der Strasser -- dieser Strasser, dieser Strasser! -- Strasser! Strasser! Strasser!! S TRASSER (erscheint) A DA (stürzt sich zischend auf ihn und gibt ihm eine klatschende Ohrfeige; lacht) Hat es geknallt? Hat es geknallt?! S TRASSER (unbeweglich) Geknallt oder nicht geknallt. Es wird einem allmählich alles egal. A DA Dir! Aber mir nicht! Weder allmählich noch plötzlich! Nie! Kusch! Du bist mein Eigentum, du! Ich habe dich gekauft, und ich kaufe dich jeden Tag! Ich bezahle! M ÜLLER Hört! Hört! A DA Ich bezahle. -- Kannst du mich denn betrügen, wenn ich nicht will? -- Wirf diese Person hinaus! Sofort! Oder ist das keine Hure? S TRASSER Ja. Das ist eine Hure. Und ich hätte sie sogleich hinauswerfen sollen, aber ich habe ein goldenes Herz. Nicht wahr, Herr Müller? (er tritt an den Tisch, leert hastig ein Glas, setzt sich und vergräbt das Antlitz in den Händen) Ich bitte um Hilfe. Ich kann nicht mehr denken vor lauter Pech. A LLE (setzen sich um den Tisch) (Stille) A DA (lächelt) Ja, was hat er denn? Was hat er denn? S TRASSER (sieht sie gross an) Ada. Die Treue ist 얍 kein leerer Wahn. Ich pflichte dir begeistert bei, wenn du auf Hygiene den grössten Wert legst. Seit wir uns kennen, seit diesen herrlichen drei Monaten, blieb ich dir treu. A DA (grinst) Das kann man nicht kaufen! S TRASSER Aber was vor ungefähr einem Jahre, was vorher war -A DA (unterbricht ihn) Geht mich nichts an! Vor uns die Sündflut! S TRASSER Ich danke dir, dass du meiner Meinung bist. A DA Du bist m e i n e r Meinung! Verstanden? Ihr habt alle meiner Meinung zu sein! M ÜLLER Zu Befehl! K ARL Es gibt nur e i n e Meinung! E MANUEL Ich sehe alles doppelt -S TRASSER (erhebt sich) Ich bitte um Hilfe. (er zieht aus seiner Tasche einen Bund bunter Briefe) Erinnert ihr euch? Rosarot und himmelblau. Und bis vor fünf Wochen jeden dritten Tag vier Seiten. B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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StundN ]

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SaufenN ] (stürztN ]

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korrigiert aus: Stund’ Apostrophe werden in TS1 stillschweigend getilgt; vgl. Chronologisches Verzeichnis. korrigiert aus: saufen korrigiert aus: stürzt

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SB Volksbühne 1927c, S. 38

Endfassung Zur schönen Aussicht

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K ARL Was sind das für Seiten? S TRASSER Ihr habt sie doch alle gelesen! (er setzt sich wieder und streicht sich über die Schläfen) (Stille) M AX Richtig! Rosarot und himmelblau! Der Kitsch! A DA Den hab ich jetzt schon vergessen -S TRASSER Ich auch. Fast. Aber plötzlich erschien die Verfasserin. K ARL Krach. M AX Bumbum. (Stille) A DA Ist das die? S TRASSER Ja. M AX Man gratuliert. K ARL Papa! Papa! 얍 A DA Das ist d i e ? (sie wiehert) Charmant! Charmant! Das ist ja eine charmante Episode! Armer Strasser, armer! Kannst du mir die Ohrfeige verzeihen, kannst du ungeschehen machen -- nein, das kannst du nicht, aber einen Kuss will ich jetzt haben -- oah! S TRASSER (gibt ihr einen Kuss) M ÜLLER Soviel ein Nichteingeweihter aus all dem entnehmen kann, dreht es sich um eine Alimentationsangelegenheit . E MANUEL Wie war das Wort? K ARL Erraten! M AX Welch Scharfsinn! A DA (zu Strasser) Und? Und? Und? S TRASSER Ich habe es ihr gesagt, das heisst: ich gab es ihr zu verstehen, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun haben will, aber sie wollte es nicht verstehen, dass wir uns entfremdet sind. Sie hat tremoliert und gelogen. Unglaublich gelogen! Sie hat zum Beispiel behauptet, ich hätte keinen Brief erhalten! M AX Unglaublich! S TRASSER Sie will den Mann: das bin ich. Sie will ein Heim: das ist dies Hotel. Sie will Frau Hotelbesitzer werden, so läuft der Hase! Heilige Dreifaltigkeit! Weib, Kind und Pleite! M ÜLLER Ich dachte, Baronin bezahlen -A DA (unterbricht ihn) Sie Schalk! Ich finanziere nicht Familien. M ÜLLER Also scheint es eine gefährliche Erpresserin zu sein! M AX Wer? A DA (zu Müller) 얍 Ist sie auch! Ist sie auch! Na klar! Da hätten Herr Generaldirektor nur mal diese Briefe hier -- diese sentimentale Verschlagenheit! M AX (erhebt sich) Pst! (er liest lispelnd aus einem der Briefe) „Mein Innigstgeliebter! Mein Alles! Du kamst diese Nacht im Traum --“ E MANUEL (melancholisch; er hat auch etwas Magenschmerzen) Das Leben ein Traum -K ARL (zu Emanuel) Sie sollten mal austreten. M AX (liest) „-- diese Nacht im Traum zu mir und hast dich über mich gebeugt. Das Kleine schläft gerade, nun kann ich dir schreiben. Warum schreibst du mir nicht? B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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B

AlimentationsangelegenheitN ]

SB Volksbühne 1927c, S. 39

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korrigiert aus: Allimentationsangelegenheit

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SB Volksbühne 1927c, S. 40

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Ich fühle mich noch schwach. Täglich, stündlich lechze ich nach Nachricht von dir. Ich liebe dich doch, lass mich nicht versinken, reich mir deinen starken Arm, hilf mir, bitte --“ A LLE (ausser Strasser, schütteln sich vor Lachen) M AX (liest weiter) „-- Und ich habe Sehnsucht nach dir, nach einem Heime!“ M ÜLLER Aha! A DA Das Hotel! S TRASSER Zur schönen Aussicht! E MANUEL Pardon! Knabe oder Mädchen? K ARL Zwitter. M ÜLLER Wo haben Sie nur diese unmögliche Person aufgegabelt? S TRASSER Das Schicksal liess mich ihren Weg kreuzen. M AX Wie hochdeutsch! S TRASSER Sie blieb vierzehn Tage. Zur Erholung. Im Mai. Ich glaube: Stenotypistin. Oder 얍 etwas in einem Warenhaus. M ÜLLER Schon faul! S TRASSER Ich war auf die Saison angewiesen. M ÜLLER 80 % der Frauen sind unterleibskrank . Und erst die gewöhnlichen Mädel, so aus den ärmeren Schichten -- Sie verstehen mich, Baron? A LLE (ausser Ada, lachen brüllend) A DA Ist Syphilis eigentlich heilbar? (Stille) K ARL (grinst) Na Prosit! M AX Gesundheit! M ÜLLER Berufstätige Frauen unterhöhlen das bürgerliche Familienleben. E MANUEL Die Moral! S TRASSER Man handelt oft unüberlegt. M ÜLLER Ich leere mein Glas auf die gute alte Zeit! (Saufen) E MANUEL Nach Ladenschluss holte man sich einen netten, süssen Käfer -- und diese Walzer aus Wien! M ÜLLER Der Kaiserstadt! E MANUEL Für ein warmes Abendessen war alles zu haben! Hernach lüftete man das Barett: mein Liebchen, adieu! Allez! Marchez! Gallopez! M ÜLLER Und damals waren sie noch dankbar dafür, dankbar! Heute aber: nur nicht arbeiten, aber soziale Einrichtungen! Frech und faul! Lauter Gewerkschaftler! Ehrlichkeit und Pflichtgefühl haben unser Vaterland verlassen! Heute e r h o l e n sie sich! Skandal! E MANUEL Jeder Prolet möchte sich schon erholen! M ÜLLER Müssiggang ist aller Laster Anfang! Ordnung fehlt! Und Zucht! Und der starke Mann! -- Seinerzeit, da haben es auch die Weiber am tollsten getrieben! Aber ich gab kein 얍 Pardon! Ich nicht! Hoho, ich habe selbst drei dieser Furien niedergeschossen! M AX Im Kriege? M ÜLLER Nach dem Kriege! M AX Ich dachte, hier sässe ein Pazifist. B

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Lesetext

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unterleibskrankN ]

SB Volksbühne 1927c, S. 41

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korrigiert aus: Unterleibskrank

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SB Volksbühne 1927c, S. 42

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

E MANUEL Für den äusseren Feind! M ÜLLER (zu Max) Sie kommen mir sonderbar vor, junger Mann! S TRASSER Zur Sache! Ich habe einen inneren Feind! M ÜLLER Legt an! Feuer! S TRASSER Rührt euch! Was soll ich tun? (Stille) E MANUEL Wenn ich raten soll, so muss ich erzählen, wie es bei uns Sitte war. Wir haben seinerzeit auf der Universität zwei Kommilitonen vor dem Alimentezahlen gerettet. Den Grafen Hochschlegel und den Baron Krottenkopf, bleibt natürlich unter uns -- Der Hochschlegel Franzi ist verwandt mit dem Kohlenmagnaten, und der Krottenkopf ist der bekannteste Rennstall, Sie spielen ja auch, kurzum: die hatten je eine Liaison mit Folgen, und da haben wir sie gerettet, indem wir klipp und klar behaupteten, wir hätten auch etwas mit den Mädels gehabt. Sie verstehen mich? Etwas stimmt ja immer. Das Leben ist zu eintönig, um nicht zu sagen: langweilig -M AX (unterbricht ihn) Sie, das ist Meineid! K ARL Quatsch! E MANUEL Ach, es kam ja gar nicht vor Gericht! Wir haben sie schon derart eingeschüchtert. Der einen haben wir mit der Kontrolle gedroht! M ÜLLER Da hat sie aber zum Rückzug geblasen! Fluchtartig, was? E MANUEL Na! Davor haben diese kleinen Mäuschen 얍 nämlich Höllenangst. -- Später hörte ich, dass die andere ihr Kind umgebracht hätte -A DA (unterbricht ihn) Nur nicht unappetitlich werden! E MANUEL Du hast eine rege Phantasie. M ÜLLER Man könnte doch ruhig einige Millionen Menschen vernichten! Wir haben ja Uebervölkerung, nicht? K ARL Wo man hintritt, schnauft ein Mensch. M ÜLLER Wir brauchen einen neuen Krieg. Und Kolonien! S TRASSER Ich verzichte auf Kolonien! Die kann ja jeden Augenblick herunter, hierher -- sie wollte sich nur die Händchen waschen, und dann will sie die Leitung übernehmen, die Leitung! (Stille) E MANUEL (sieht sich um; flüstert) So etwas muss genau besprochen, dass keiner aus der Rolle fällt, und das Stichwort -- Das war damals nämlich ein Theater, ein richtiges Theater, vom Krottenkopf raffiniert einstudiert, ich wundere mich noch heute über unser Talent! -- Freilich Sie! Sie als anerkannter Mime -- Sie müssen berücksichtigen, dass wir nur Laien -- Pst! Sonst zerstört uns noch jemand die Komödie -- (er erklärt unhörbar) A LLE (stecken die Köpfe zusammen) (Beratung) K ARL (räuspert sich) M AX Wo? (Beratung) M AX Wann? (Beratung) M AX Was? B

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AlimentezahlenN ]

korrigiert aus: Allimentenzahlen

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SB Volksbühne 1927c, S. 43

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

(Beratung) M AX Wieso? In der Finsternis? S TRASSER Jaja! A DA (nickt begeistert; wirft den Kopf in den 얍 Nacken: lacht lautlos) (Beratung) M ÜLLER (lacht kurz auf und schlägt sich auf den Schenkel) A LLE (erheben sich) E MANUEL (gedämpft) So. Und dann alle fort, nur der bleibt zurück. M AX (hat den Finger in der Nase) Ich? S TRASSER Frag nicht so untalentiert! (Alle Gläser und Flaschen kommen auf den weissgedeckten Tisch, der lautlos in den finsteren Hintergrund geschafft wird) A DA (zu Emanuel) Talentiert! Bubi, du bist ja ein Genie! Dir gebührt das ewige Leben! E MANUEL Vergiss nicht, dass ich zum Tode verurteilt bin, dass ich Punkt fünf Uhr früh geköpft werde. A DA Dieser Galgenhumor! Wenn es ein charmanter Henker ist, so will ich ihn bestechen. E MANUEL Ada! K ARL (zu Emanuel) Ruhe! A DA (zu Emanuel) Du Sensation! M ÜLLER (zu Strasser) Einen Augenblick! Wo hat die das Muttermal? S TRASSER Schräg rechts. M ÜLLER Von mir aus oder von ihr aus? S TRASSER Von uns aus. K ARL (verschwindet) A DA (zu Müller) Herr Generaldirektor! M ÜLLER Baronin! A DA (lächelt) Werden Sie sich in Ihre Rolle hineinleben können? M ÜLLER Hineinknieen, Baronin! In alles, was ich anfasse, kniee ich mich hinein! A DA Sympathisch -M ÜLLER (reicht ihr den Arm) A DA (hängt sich ein) 얍 Die echten Männer sterben nämlich aus, Herr Generaldirektor. M ÜLLER (schlägt einigemal die Hacken zusammen: ab mit Ada in den Hintergrund) E MANUEL (folgt ihnen) S TRASSER (will auch ab) M AX Halt! -- Ich tu nicht mit. S TRASSER ( unterdrückt ) Bist du wahnsinnig geworden?! M AX Nein, aber ich habe schon einmal geschworen -- und ich fürchte, ich werde wieder schwören müssen. Schwörst du mir, dass ich nicht wieder schwören muss? C HRISTINE (erscheint) S TRASSER (erblickt sie: setzt sich) C HRISTINE Ich dachte, du würdest mich holen. Ich habe am Zimmer gewartet. Du weisst doch, dass ich mich fürchte: allein durch so dunkle Treppenhäuser.

SB Volksbühne 1927c, S. 44

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] ] BunterdrücktN ] B N B N

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gestrichen: A DA Leerzeile getilgt korrigiert aus: unterdürckt

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SB Volksbühne 1927c, S. 45

Endfassung Zur schönen Aussicht

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Lesetext

S TRASSER Nein, das weiss ich nicht. C HRISTINE Ich habe es dir doch zuvor gesagt, und du hast es schon vergessen? S TRASSER Ich habe ein ganzes Hotel im Kopf. (er erhebt sich) Hast du dich sehr gefürchtet? Ich meine, du bist doch nun allein -(Stille ) C HRISTINE Warum bist du nicht gekommen? S TRASSER (drückt sich) Ich kann nicht bleiben. -- Setz dich nur. Und guten Appetit. (ab in den finsteren Hintergrund) C HRISTINE (unschlüssig; überlegt; setzt sich langsam an den Tisch, mit dem Rücken zur spanischen Wand) M AX ( stellt sich ihr gegenüber und reicht ihr die Speisekarte) 얍 C HRISTINE (blickt hinein, ist aber anderswo) (Stille) C HRISTINE (ohne ihn anzusehen) Sagen Sie: könnte ich kein anderes Tischtuch? Dies verdirbt den Appetit. M AX (ist etwas unsicher: unterdrückt erregt) Leider -- Wir haben nämlich nur wenige weisse Tischtücher, und die sind beschmutzt. Man könnte zwar auch Betttücher, aber die sind zerfetzt, da wir nur unruhige Uebernachtungen -- Alle unsere Gäste leiden nämlich an Albdrücken -(Stille) C HRISTINE (hat nicht hingehört; blickt noch immer in die Karte) Kommt er bald wieder, der Herr Direktor? M AX Jetzt ist er fort, Christine. C HRISTINE (starrt ihn an) M AX (lächelt verwirrt) Ja, er ist fort, ganz fort, jetzt ist er fort, sozusagen: fort -C HRISTINE (entgeistert) Wer? M AX Der Herr Direktor, Christine. C HRISTINE (schnellt empor) M AX (unterdrückt) Jesus Maria Joseph! Setz dich! So setz dich! C HRISTINE (setzt sich) M AX (sieht sich scheu um; beugt sich über den Tisch; leise) Ich muss nämlich hier einschalten, dass ich meinen Beruf verliere, wenn die Direktion erfährt, dass -Man hat es nämlich nicht leicht als Liebeshummer. Oh, und ob ich dich sofort wiedererkannt habe! Zuvor: in der Halle, aber als Kellner muss man selbst die edelsten Empfindungen, wie zum Beispiel Eifersucht er-얍sticken, will man weiter Kellner bleiben, was man ja muss. Christine! Hast du denn all die holden heissen Stunden vergessen? Oh, rede! Sag! Sprich! (er zuckt zusammen) Pst! Schweig! Still! E MANUEL (kommt; hält einen Augenblick, tritt dann an den Tisch; verbeugt sich) Verzeihen, Gnädigste, dass ich mich an Ihrem Tische niederlasse, aber ich muss Sie leider belästigen, da ich, wie Sie sich selbst überzeugen können, nirgends anderswo -- und ich bin froh über meine Unfähigkeit. (er setzt sich) M AX (verschwindet) E MANUEL (fixiert sie durch das Einglas) C HRISTINE (weicht seinen Blicken aus) B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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(StilleN ] stelltN ]

korrigiert aus: Stille korrigiert aus: Stellt

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

E MANUEL (lächelt) Pardon! Ich habe soeben gesagt, ich sei froh über meine Unfähigkeit. Ueber die Unfähigkeit, mich an einen anderen Platz -- Pardon! (er sieht sich um) Jetzt sind wir allein. C HRISTINE (starrt ihn an: krallt in das Tischtuch) E MANUEL Pardon! Aber es ist alles vergänglich, und das tut weh. Sehr weh. -- Vor vier Stunden noch hätte ich den auf Pistolen gefordert, der es gewagt hätte zu behaupten, dass du die Direktion umarmst -C HRISTINE (schnellt empor und will rasch ab nach rechts) K ARL (erscheint: verstellt ihr den Weg) E MANUEL Was wollen Sie, Chauffeur? K ARL (stiert Christine an) Herr Baron möchten mal nachsehen. Die Vierradbremse hat sich den Magen verstimmt und die Kerzen brennen, als wäre es Weihnachten, -- bald explodiert der 얍 Tank -- Halt! (er packt Christine am Handgelenk) E MANUEL Lassen Sie die Dame los! K ARL (reisst sie an sich und küsst sie) Ha du! S TRASSER (erscheint im Hintergrunde) E MANUEL (nickt ihm grinsend zu und applaudiert lautlos) S TRASSER (räuspert sich; tremoliert erschüttert) Christine! Christine! C HRISTINE (reisst sich verzweifelt los; wankt) E MANUEL (zu Karl) Sie sind entlassen, Sie Subjekt! K ARL (zuckt die Achsel) Man darf doch wohl noch eine alte Bekannte begrüssen. C HRISTINE (schreit gellend auf) E MANUEL (überschreit sich) Hinfort! Verlogener Bandit! K ARL Hoho! Hoho! S TRASSER (stützt sich auf den Tisch) Christine -- Christine -K ARL Die Erotik, Sie Herr Baron, kennt keinen Standesunterschied, vorausgesetzt, dass ein Auto vorhanden ist. Da wiegen andere Unterschiede! Solidere! Brustumfang und so! Ha, Chrysantheme? M AX (tritt von links mit einem riesigen Kunstchrysanthemenstrauss rasch ein und eilt auf Christine zu) C HRISTINE (bricht lautlos zusammen: fällt ohnmächtig vornüber) A LLE (starren auf sie unbeweglich) (Stille) M ÜLLER (kommt aus dem Hintergrunde; überblickt überrascht die Lage; unterdrückt) Na was, was hat sie denn? S TRASSER (hebt den Arm) Pst! (Stille) E MANUEL (leise) 얍 Still, nur still -- Es gibt ja auch Simulanten -- bekanntlich. (Stille) E MANUEL (flüstert zu Karl) Abgesehen davon: sie heisst doch nicht Chrysantheme, Herr, sie heisst Christine. K ARL (brummt) Blume bleibt Blume. M AX (hat sich verhört; schwätzt nervös vor sich hin) Chrysantheme bleibt Chrysantheme. Ich kenn doch die Chrysantheme -- hier, allerdings aus Papier, aus Kunst, aber das macht nichts, denn es sind ja Chrysanthemen -M ÜLLER (laut) Ich bezweifle, dass sie simuliert. (Stille) E MANUEL Eigentlich müsste man nachsehen, selbst wenn sie simulieren sollte.

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

S TRASSER (beugt sich über sie) Dann erst recht. M ÜLLER (beugt sich auch über sie) Hoppla, Blut! K ARL (grinst) Das Auge geschlossen. Und ausgezählt. M AX K.o.? E MANUEL Nur kein Blut! Sonst wird mir übel. M ÜLLER Keine Sorge! S TRASSER (zündet sich eine Zigarette an) Nur geritzt. E MANUEL Blut bleibt Blut. M AX (schwätzt wieder) Chrysantheme bleibt Chrysantheme. Gong. Zwote Runde. Der blonde Neger fightet los. Mörderisch. Serie. Serienmörderisch. Des Favoriten Auge schliesst sich, achte Runde, obwohl er klar nach Punkten führt. Jedoch ein geschlossenes Auge kostet den blauen Gürtel der Meisterschaft, der Vereinsweltmeisterschaft, obzwar es ja auch ein lila Gürtel gewesen sein mag --- überhaupt diese Weltmeister-얍schaft! Eins, zwo, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf! (er hebt den Strauss) C HRISTINE (wimmert; zuckt; schlägt mit den Armen auf das Parkett) E MANUEL , K ARL , M ÜLLER (zogen sich etwas zurück: ins Halbdunkle) S TRASSER (steht hinter Christine) C HRISTINE (stützt sich schwerfällig empor: kauert und sieht scheu, verstört um sich; sie blutet über dem linken Auge) Wer, wer hat mich niedergeschlagen? Wer? (sie erblickt Max mit dem Blumenstrauss) M AX (verbeugt sich tief) C HRISTINE (entsetzt, will schreien, kann aber nicht; schnellt auf, flieht, erblickt Strasser, stürzt auf ihn zu, stolpert, bricht in die Kniee, kriecht zu ihm und küsst seine Hand) S TRASSER (lässt sie sich küssen) C HRISTINE (leise) Mein bist du -- du mein du, mein höchstes Glück -S TRASSER (dumpf) Es dürfte zu furchtbar sein, die Nichtigkeit des höchsten Glückes zu sehen. E MANUEL (souffliert) Es i s t zu furchtbar! S TRASSER Ist es auch. Richtig. C HRISTINE Nicht so, nicht so sein -- nicht du so sein -S TRASSER Wie? C HRISTINE Du bist nicht so, so wie du denkst. Ich kenne dich ja, wie mich -- wenn ich nur wieder denken könnte -- Wo? Wann? Wie? Was? (sie klammert sich an sein Bein und schreit verzweifelt) Strasser! Wo bin ich? Ha, ich bin auf der Flucht! Die Po-얍lizei! Rette mich! Rette mich! Die Polizei behauptet ja, ich, ich hätte unser Kind zur Seite, ich hätte unser Kind erwürgt, zerstückelt und in Zeitungspapier -S TRASSER (hält ihr den Mund zu) (Stille) M AX Grosser jüdischer Gott! (Stille) E MANUEL (leise) Das ändert die Situation. K ARL (ebenso) Jetzt bin ich aus der Rolle gefallen. M AX Das Stichwort, das Stichwort --

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E MANUEL f M ÜLLER N ]

korrigiert aus: E MANUEL K ARL M ÜLLER

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Endfassung Zur schönen Aussicht

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Lesetext

(Stille ) M ÜLLER Na gute Nacht! C HRISTINE (hat sich beruhigt; tonlos) Es war keine gute Nacht. Dieser Traum, dieser entsetzliche Traum -S TRASSER (atmet auf) Traum? C HRISTINE Nur ein Traum. Aber es hätte Wirklichkeit werden können -M AX Psychoanalytisch hochinteressant. C HRISTINE Ich war unschuldig, aber alles schwor gegen mich, vor allem die Not. Und dann hatte ich auch kein Alibi, ich war immer allein -- und dann überschlug ich mich. Stürzte. Kopfüber! Schneller und schneller! Drehte mich, wand mich -- Oh, ich glaube, ich drehe mich noch! Drehe mich, drehe mich -- Ich bin das Drehen! Strasser! Wo schlag ich auf?! S TRASSER Ich bin kein Prophet. C HRISTINE Kopfüber! S TRASSER Fasse dich! Du warst lediglich in Ohnmacht gefallen und bist vierundzwanzig Stunden ohne Besinnung gelegen. E MANUEL Bravo! S TRASSER Du hast das Bewusstsein verloren, weil du ausnahmsweise der Wahrheit begegnet 얍 bist. C HRISTINE Was ist Wahrheit? (sie erblickt Max: starrt ihn ängstlich an) S TRASSER Ach, könnte man nur so in Ohnmacht fallen! Nur einmal so sich drehen, hindrehen, herdrehen, herumdrehen -- Ich bin verdammt, alles bei Bewusstsein zu verdauen, zu sehen und hören, wie die eigenen Gedärme arbeiten. E MANUEL (kichert unterdrückt; zu Müller) Der absolute Hölderlin! M ÜLLER Wer ist Hölderlin? C HRISTINE (erhebt sich scheu) Wer? Wer ist das? Du, wer ist das dort mit den Blumen? S TRASSER Du kennst ihn. C HRISTINE Nein. S TRASSER So kennt er dich! C HRISTINE Nein! M AX Christine! C HRISTINE Wir kennen uns nicht, mein Herr! S TRASSER (zu Christine) Du kannst es ruhig zugeben, dass er dich kennt. Es ist alles an den Tag gekommen. M AX Durch die Sonne, wahrscheinlich. C HRISTINE (schreit) Nein, nein! Wir kennen uns nicht! Der irrt sich, verwechselt mich, täuscht dich! Der lügt ja! Lügt! Lügt! E MANUEL (gibt Max Zeichen, dass er sprechen soll) S TRASSER (zu Christine) Still! M AX (ist noch immer unsicher) Christine. Lasst also Chrysanthemen sprechen. Blumen lügen nämlich nie. Auch Chrysanthemen lügen bekanntlich nie. -- Die Liebe ist eine Blume, und unsere Chrysantheme blühte im Verborgenen, war gewissermassen ein Ge-얍 wächs der Nacht. Mond und so. Aber über Nacht, da schien die Sonne mitten in der Nacht. Man kann es gar nicht erfassen. Kaum glaublich, B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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(StilleN ] BewusstseinN ] BwächsN ] B B

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korrigiert aus: Stille Bewusst\s/ein Korrektur eventuell von fremder Hand korrigiert aus: wissermassen ein Gewächs

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SB Volksbühne 1927c, S. 52

SB Volksbühne 1927c, S. 53

Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

schier unglaublich, aber ich habe um eine Chrysantheme mein Brot verloren. Nun ziehe ich dahin. Ach, wohin? Woher, wohin? C HRISTINE Träume ich? M AX Chrysantheme. Trockne und presse diesen Strauss zum Gedenken an deinen dich liebenden Emil Krause aus Chemnitz. E MANUEL (für sich; grimmig) Das auch noch! Gott, wie blöd! M ÜLLER (ebenso) Wenn Emil improvisiert -K ARL (ebenso) Schlimm! C HRISTINE Träume ich das? S TRASSER Nein! C HRISTINE (fährt sich mit der Hand langsam über die Augen; leise) Nein? -- Nein? S TRASSER Auf alle Fälle schmerzt es mich zutiefst da drinnen, dass du mich mit meinem eigenen Oberkellner betrogen hast. C HRISTINE Du sprichst chinesisch! Sind wir in China?! S TRASSER Wir sind in Deutschland. Ich spreche deutsch. Kerndeutsch! -- Höre: ich habe bereits des öfteren Verdacht gefasst, aber oh wie war ich feig: ich wich dem ungetrübten Auge der Wahrheit aus. C HRISTINE Pfui, wie gemein! S TRASSER Die Wahrheit ist immer gemein! M AX Hm. E MANUEL (unterdrückt zu Max) Ab! C HRISTINE (starrt Strasser an) Wie anders du aussehen kannst, nein, wie anders -jetzt sehe ich --얍 S TRASSER Was? C HRISTINE Dass die recht behalten, die mich warnten. S TRASSER Vor der Wahrheit? C HRISTINE Nein, vor dir. S TRASSER Man hat dich gewarnt? C HRISTINE Ja. S TRASSER Wer? C HRISTINE Alle. Alle. Alle --- (sie nähert sich ihm und hängt sich an ihn) -- aber, aber ich kann ja nicht, ich kann es nicht glauben -- nur meinen Gefühlen bin ich gefolgt, allen zu trotz, der inneren Stimme, die nie trügt. Dem Herz. S TRASSER (lächelt schmerzlich) Tja! Ich habe ein goldenes Herz -C HRISTINE Du, es flüstert in mir: wir zwei sind von der Vorsehung für einander bestimmt -S TRASSER Flüstert? C HRISTINE (haucht) Ja -- Bei dir vergesse ich mich selbst. (Stille) S TRASSER (reisst sich plötzlich los von ihr) Aha! Aha! Jawohl! Wir zwo waren von der Vorsehung füreinander bestimmt, aber du hast die Vorsehung belogen! Schamlos belogen! Ja, du! Ist ja gar nicht wahr! Ist ja alles verlogen! Du vor allen! Ich habe ja gar kein Kind! Kein einziges! Und wie überschäumte ich schon vor Glück, eines zu haben, zu bekommen haben! Ja, wagst du zu leugnen, Weib, dass, während ich dir zu Füssen lag, du über mein Haupt hinweg und hinter meiB

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nem Rücken umeinandergebuhlt hast?! Wagst du die Wahrheit zu widerlegen, die Wahrheit?! Oh, es ist alles verlogen, alles! 얍 C HRISTINE (krümmt sich) Nein, das ist nicht wahr --S TRASSER Was ? -- Darf ich bitten, Herr Baron? E MANUEL Herr Strasser! Ich verwahre mich auf das Entschiedenste gegen die öffentliche Erörterung intimer Seelenqualen --S TRASSER (unterbricht ihn) Mehr Licht! E MANUEL Kein Skandal! S TRASSER Haha! Was fragt ein Herz, ein goldenes Herz, das verwundet umherzuckt, gekränkt, getreten, gemordet --- was kümmert solch ein Herz das Wort Skandal?! Solch Herz schlägt auf den Tisch: Tabula publico! Coram rasa! Solch Herz soll auf der Stelle blind umfallen, wenn es dir, ja dir, du Schlange, auch nur in Gedanken untreu sündigte! --- Und du?! Und du? Sieh die Blumen, die Blumen! Auto und Chauffeur! Zu dritt, zu dritt! Und das Tabarin! Zu viert! Zu fünft!! E MANUEL (formell) Wir sprechen uns noch, Herr. Denn selbst wenn es hunderte waren, stelle ich mich schützend vor eine Dame. Obwohl sie mich mit meinem eigenen Lakai betrogen hat, bleibe ich dennoch bis zum letzten Tropfen Kavalier. Das ist Kinderstube, Herr! S TRASSER Keine Komplikationen! K ARL Prozess? S TRASSER Ich schwöre. K ARL Klar! M AX (bekreuzigt sich) C HRISTINE (starrt vor sich hin; tonlos) Es waren keine hundert, keine hundert -S TRASSER So waren es fünf! 얍 E MANUEL Den Prozess, Madame, dürften Sie kaum gewinnen. Behörden bereiten nur zu gerne Unannehmlichkeiten, denn sie nehmen den Lebenswandel scharf unter die Lupe --- unter das Mikroskop! S TRASSER Oh, es gibt noch einen Gott! C HRISTINE (dumpf) Jetzt weiss ich nicht mehr, ob es einen Gott gibt. Wenn ich nur verzweifeln könnte. Muss man denn immer lügen -S TRASSER Das frage dich! C HRISTINE Ja, mich selbst --K ARL Was war das mit dem Tabarin? C HRISTINE (schreit) Ich kenne kein Tabarin! E MANUEL (gibt Müller ein Zeichen: klatscht in die Hände) M ÜLLER (hatte sich etwas zurückgezogen; lacht schallend) S TRASSER Kommen Sie nur, Herr Generaldirektor! Kommen Sie nur! M ÜLLER (nähert sich langsam Christine; hält vor ihr; fixiert sie dreckig) (Stille) M ÜLLER Du kennst kein Tabarin? (Stille) M ÜLLER Kennst du mich? (Stille) B

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M ÜLLER Nanana! Tu man nicht so! So vom Mond importiert! Das wäre schon unverschämt, ja! -- Was suchst du hier? Was? Wie? Hier hast du nichts verloren! Verstanden?! Willst du einen biederen Bürgersmann, einen kreuzbraven Gewerbetreibenden, meinen Schulkameraden Strasser in Unkosten stürzen? Denkst wohl, die würzige Luft hier schadet weder dir noch deinem Bankert? Verstanden?! Aushalten willst du dich lassen, aushalten! Nur nichts arbeiten, was? Wie? 얍 C HRISTINE Bin ich wahnsinnig geworden? -- Hilfe! M ÜLLER Wer hilft Nutten? Kein Aas! Kein Gott! (er ergreift ihren Arm) Was macht das Muttermal? Das Muttermal! Hoppla, da wird wer bleich und blass! Das Muttermal, das Muttermal! Rechts, schräg rechts! Von mir aus! C HRISTINE Was für Muttermal? M ÜLLER (schüttelt sie) Lüg nicht, Nutte! C HRISTINE Ich habe kein Muttermal! Au! Lassen Sie los! (sie reisst sich los und flieht) Ich habe kein Muttermal! S TRASSER Sollte ich mich geirrt? C HRISTINE (hört es; hält ruckartig; begreift allmählich) K ARL (zu Strasser) Rindvieh! (Stille) E MANUEL (fasst sich; zu Christine) Richtig! Aber natürlich! Sie haben kein Muttermal! Freilich! (Stille) M AX Muttermal ist ganz anders. (Stille) S TRASSER (verwirrt) Es dreht sich hier nicht um das Muttermal, es dreht sich hier darum, dass nach dem Gebote der Redlichkeit du von mir nicht verlangen --- nach all dem, was geschah, nicht verlangen, dass ich mein Geld, das ich gar nicht habe, für irgendein Kind -C HRISTINE (unterbricht ihn; sie steht in einiger Entfernung mit dem Rücken zu den anderen) Es dreht sich hier nicht um Geld. (Stille) M ÜLLER Haha! E MANUEL Pah! K ARL Quatsch! S TRASSER Ich hasse Illusionen! 얍 M ÜLLER „Nicht um Geld“! M AX (zu Christine) Sondern? (Stille) C HRISTINE (in leicht singendem Tonfall, voll unterdrückter Erregung) Wollen mich die verehrten Herren ausreden lassen? D IE VEREHRTEN H ERREN (setzen sich) C HRISTINE Ich wollte alles, was ich besitze, dem Manne geben, dem ich mein Herz gab, dem Vater des Kindes, alles. Vielleicht dachte ich an frühere Zeiten. Ich wollte helfen, sonst nichts. Ich wollte das Hotel zur schönen Aussicht verbessern, vergrössern und neu möblieren --S TRASSER (scharf) Mit was denn? B

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C HRISTINE Ich habe zehntausend Mark. D IE WERTEN H ERREN (schnellen empor) (Stille) M AX Ist das wahr? M ÜLLER Zehntausend --S TRASSER Betrug! Betrug! In den Briefen stand nichts als Jammer und Not und ins Wasser! „Zehntausend Mark“! Erstunken und erlogen! C HRISTINE Still! --- Not und Jammer stand nicht nur in den Briefen, und ich wäre ins Wasser gegangen, hätte sich nichts geändert. K ARL Hast das grosse Los gezogen? C HRISTINE Vielleicht. E MANUEL Pfui, wie dumm! M ÜLLER Der typische Roman! C HRISTINE Im Herbst wurde ich abgebaut und ich hätte noch gestern nicht einmal das Fahrgeld nach hierher gehabt und wäre noch gestern vielleicht gar ins Wasser gegangen, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen. S TRASSER Was verstehst du unter „Lieber Gott“? C HRISTINE Zehntausend Mark. (Stille) 얍 C HRISTINE Ich habe dir erzählt, dass ich eine Doppelwaise bin. Mein Vater fiel bei Verdun und meine Mutter starb in der Inflation. Aber ich hatte eine Tante in St. Gallen, die hinterliess mir zehntausend Mark, zahlbar wenn ich volljährig --- Ich bin am 14. März geboren. Also wurde ich gestern einundzwanzig Jahre alt. (Stille) S TRASSER (vor den Kopf geschlagen) Warum, warum hast du mir das nicht sogleich anvertraut? C HRISTINE Was? S TRASSER Das mit dem lieben Gott, dem Geburtstag. C HRISTINE Wolltest mir gratulieren? S TRASSER (erregt; unterdrückt) Also bitte, bleiben wir nur hübsch bei der Wahrheit! C HRISTINE Ich hatte Angst vor der Wahrheit. Vor dem Geburtstag. Vor dem lieben Gott. S TRASSER Ist das nun dumm oder gemein? C HRISTINE Minderwertig! (Stille) S TRASSER Du! Du wolltest als Bettelkind gefreit werden, du Kitsch! C HRISTINE Ja, das wollte ich. M AX Rosarot und himmelblau! C HRISTINE Jetzt ist es mir, als hätte ich nie daran gedacht, diese schöne Aussicht neu zu möblieren. Jetzt lach ich mich selber aus. S TRASSER Triumphiere nur! Ein trauriger Ruhm! E MANUEL Minderwertig. C HRISTINE Entschieden! (Stille) C HRISTINE Strasser. Die Post ist zuverlässig. B

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S TRASSER Ich habe alle Briefe erhalten. (Stille) 얍 C HRISTINE Nun muss ich fort. (sie will ab, hält aber nach einigen Schritten) Wann fährt der erste Zug? M AX Wohin? C HRISTINE Fort. M AX Fünf Uhr sieben. C HRISTINE Danke. (ab) D IE WERTEN H ERREN (starren ihr nach; betrachten sich gegenseitig verstohlen, weichen sich aus; gehen hin und her: kreuz und quer) (Stille) M AX (schüttelt den Kopf) Das begreife ich nicht, das begreife ich nicht! Komisch. So ein Zufall! S TRASSER Komisch? K ARL Zehntausend? Das ist kein Zufall, das ist Glück! S TRASSER (grimmig) Der liebe Gott! (Stille) M ÜLLER Mit zehntausend ist man Millionär. M AX Ist das so viel Geld? E MANUEL Sie Kind! (Stille) K ARL Ich hatte mal zehntausend --M AX (unterbricht ihn) In Portugal? K ARL (zuckt zusammen, hält und stiert ihn an) Was soll das schon wieder? M AX Der Zufall ist eine eigenartige Einrichtung. Eigentlich undramatisch, aber man trifft ihn trotzdem. Ab und zu. M ÜLLER Wenn man bedenkt, wie man sich um sechs Kisten Sekt raufen muss --E MANUEL Man soll gar nicht denken --- Man könnte leben. Ja, nicht nur das! Auch aufatmen! M AX Als Millionär könnte man auf den Himalaya, nach Bali und Berlin, über den Ozean fliegen, im Sandmeer baden, Krieg führen, ja sogar Frieden stiften --얍 K ARL (unterbricht ihn) Wann fährt der Zug? M AX Nach Paris? K ARL Nach Chemnitz! M AX (überrascht) Nach Chemnitz? K ARL (brüllt ihn an) Nein, nach Kalkutta!! M AX Fünf Uhr sieben. E MANUEL Es wäre Pflicht, die Dame rechtzeitig zu wecken, damit sie den Zug nicht versäumt. M AX Die Dame hat es zwar nicht befohlen, aber die Pflicht -M ÜLLER (unterbricht ihn) Ich werde wecken! K ARL Ich! S TRASSER Ich! Man kann sich nämlich auf das Personal nicht verlassen und die p.t. Gäste darf man doch nicht bemühen, Herr Generaldirektor. E MANUEL Pardon! Ich bringe kein Opfer, da ich nun so nicht schlafen kann --K ARL (unterbricht ihn) Ich dachte, Sie sind mondsüchtig, Baron! E MANUEL (lächelt spöttisch) Es ist Neumond, Herr. M AX (sieht empor; verträumt) Der Mond. -- Damals schien der Mond. Voll Sehn-

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sucht und Sinnlichkeit. Reifer Sinnlichkeit. Ditto Sehnsucht. Ach, du Mond! Wo blieben all die holden heissen Stunden, die herrlichsten Stunden meines Lebens? S TRASSER Was für Stunden? M AX Kavalier schweigt. S TRASSER (brüllt) Was für Stunden?! M AX Mein Herr. „Vater“ ist ein gewaltiges Problem. Ein Fragezeichen! K ARL Apropos Fragezeichen: bekannt kommt sie mir vor. Verteufelt bekannt! S TRASSER Wer? 얍 M ÜLLER Wen der Beruf zu reisen zwingt, der weiss nie, wo er sein Kind trifft. E MANUEL Ich liebe Kinder. Ueber alles. S TRASSER (setzt sich) A DA (erscheint verschlafen; setzt sich neben Strasser und betrachtet ihn von oben bis unten genau; lächelt liebevoll) Nun? --- Nun? --- Wenn ich nur nicht so erschlagen wäre --- Nun? Hast du die Hure hinausgeworfen, ja? S TRASSER (nickt ja) A DA Charmant! --- Ich habe ja leider Gottes nur den Anfang vernommen, dann bin ich entschlummert -- aber ihr seid Künstler -- charmant! (sie tätschelt seine Wange; gähnt) Du -- Wie schade, schade, schade, dass ich so müde -- du --S TRASSER (tonlos) Gute Nacht. A DA (legt das Haupt auf den Tisch) Danke -- danke dir, dass du die hinausexpediert -(sie gähnt) Ein gutes Gewissen ist ein sanft Ruhekissen.

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D R I T T E R A K T. Korridor im Hotel zur schönen Aussicht. Im Hintergrunde sieben schmale Türen. Von links nach rechts: Zimmer Nummer neun, zehn, elf, zwölf, zwölf-a , vierzehn, fünfzehn. Nacht. Lampenlicht. B

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S TRASSER (tritt rasch aus Zimmer zwölf und eilt zu fünfzehn; zögert einen Augenblick; klopft an die Türe) M ÜLLER (in Hemdsärmeln und ohne Kragen, die Hosenträger hängen ihm hinten herab, reisst die Türe auf) Herein! (er erblickt Strasser) Schon wieder! Na was denn, was denn? S TRASSER (scharf; erregt) Herr Müller! Ich fordere aufgeklärt zu werden! M ÜLLER Fragen Sie Papa und Mama! S TRASSER Keine Witzelei! Die Sache ist z u ernst! M ÜLLER Wollen Sie mich auf die Toilette bitten? S TRASSER Sollten Sie mich zwingen -M ÜLLER (unterbricht ihn) Ich gehe nie auf die Toilette, ich bleibe bei meiner Behauptung! Ich wiederhole: ich habe die Dame im Tabarin gesehen, gehört, gefühlt, geB

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kannt, sie ist mir auf diesen Schoss gesessen, sie hat mir dieses Kinn gekrault, sie hat undsoweiter. Ich habe nämlich keine Angst vor Ihrer Toilette, verstanden? Na gute Nacht! S TRASSER Halt! -- Als Ehrenmann sind Sie zum Beweis verpflichtet. M ÜLLER Abwarten! 얍 S TRASSER Ich warte nicht! M ÜLLER Ich auch nicht! Bezahlen Sie den Sekt! Schluss! (er schlägt die Tür zu; ab) S TRASSER (allein; gequält) Das nennt sich Gottes Ebenbild -M AX (in Segelmütze und kurzem hellen Mantel über den Frack, in der Hand eine abgeschabte Reisetasche, kommt aus Zimmer neun; tritt, ohne Strasser zu beachten, zu zwölf-a und klopft leise an) S TRASSER (mit dem Rücken zu Max; hört es; lauscht) M AX (unterdrückt erregt durch die Türe) Christine -- Christine, Christine -- Christine! S TRASSER (hat sich ihm zugewandt) Was klopfst du dort? M AX (setzt sich zerknirscht auf seinen Koffer) Ich klopfe, ich klopfe, ich klopfe. Und sie hört nicht, sie hört nicht, sie hört nicht. (er vergräbt das Haupt in den Händen; seufzt) Ich habe geklopft. Ich habe schon oft geklopft. S TRASSER Du wirst bald ausgeklopft haben. M AX Sie wird mich erhören. S TRASSER Du bist wohl noch besoffen? M AX Apropos besoffen: ich habe das Gefühl, als hätte ich meine Schuhe verloren -kennst du das Gefühl? S TRASSER (grimmig) Apropos Gefühl: weisst du, was ich jetzt am liebsten tun würde? M AX Das habe ich heute schon einmal gehört. S TRASSER Auch gefühlt? M AX Still! -- Es geht nämlich um in mir. Wenn man nur in sich hineinsehen könnte! Apropos hineinsehen: da drinnen ist es still. (er 얍 deutet auf zwölf-a ; leise) Apropos still: Stille kann unheimlich werden. Damals hat sich auch nichts gerührt, allerdings drei Tage lang -- Damals: jener mit den Krücken. S TRASSER Kusch! (Stille) M AX Apropos Krücken: man sollte doch eigentlich nachsehen, es ist nämlich eigentümlich -S TRASSER (unterbricht ihn) Apropos eigentümlich: was soll der Koffer? M AX Apropos Koffer: ich nehme meinen Abschied. S TRASSER (perplex) Was? M AX (erhebt sich; nervös) Apropos Abschied: ich muss nämlich fort. Dringende Familienangelegenheiten. Fünf Uhr sieben. S TRASSER Fünf Uhr sieben? M AX Sollten der Direktion durch meine überstürzte Abreise Unkosten erwachsen, bin ich selbstverständlich bereit, für selbe aufzukommen. S TRASSER Mit was denn? B

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M AX Hoho! Unberufen! Unberufen! K ARL (tritt aus zehn in goldbestickter Paradeuniform mit Handschuhen; zu Max) Ruhe! M AX (zu Strasser) Hörst du? K ARL ( zu Max) Halt das Maul! -- Hast wieder gewinselt „Christine, Christine“? Hast wieder an der Tür gescharrt, wie ein Hund, den man ins Sauwetter prügelte? „Christine, Christine!“ M AX (zu Strasser) Wer ist dieser Herr? K ARL Du kennst mich noch nicht, Leisetreter. Schleimer. Hund. M AX (zu Strasser) Bitte, stelle mir diesen Herrn vor. K ARL (zu Max; deutet auf Strasser) Dieser Herr und ich, wir kennen uns nicht! M AX Seit wann? 얍 S TRASSER Seit zwo Stunden. M AX Das ist aber lustig! K ARL Hahaha! S TRASSER Dieser Herr besitzt die Schamlosigkeit, zu behaupten, vor einem Jahre mit der Dame von Nummer zwölf-a in intime Beziehungen geraten zu sein. M AX Zwölf-a ! K ARL Dieser Herr besitzt die Schamlosigkeit, an meinem Ehrenworte zu zweifeln. M AX Hm. -- Vielleicht sagt er die Wahrheit. K ARL Wer? M AX Apropos Ehrenwort: irren ist menschlich. Ich, zum Beispiel, hätte die Dame von Nummer zwölf-a kaum wiedererkannt, und es ist doch erst ein Jahr dahinverflossen -E MANUEL (tritt aus vierzehn; mit einem nassen Handtuch auf der Stirne) Pardon! -Würden die Herren so freundlich sein und mir verraten, wie spät, respective früh -- meine Uhr ist plötzlich kaputt, scheinbar. K ARL Wir haben keine Uhr! M AX Uns fehlt jetzt jeder Sinn für Zeit. E MANUEL Ich verreise nämlich fünf Uhr sieben. M AX Mit der Dame von zwölf-a ? (Stille) S TRASSER Es ist Mitternacht, Baron. K ARL Und Vollmond! E MANUEL Ich verbitte mir diesen ewigen Mond! S TRASSER Es ist Mittag und die Sonne scheint. M AX In Amerika dürfte es regnen. A DA (schleppt sich verstört herein; hält; fixiert die vier) (Stille) A DA Was gibts? -- Was gibts? (Stille) A DA Warum habt ihr mich sitzen lassen? Allein. Unten. S TRASSER Du hast so süss geschlafen. Dich wecken 얍 wäre herzlos gewesen. Gewiss! B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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A DA Herzlos? (sie grinst) Ja, das hat schon so mancher bemerkt, dass es charmant aussieht, wenn ich schlafe. Ich liege nämlich wie ein Kind, rolle mich zusammen und falte die Händchen -- nicht? (Stille) A DA (lauscht ) Hat einer was gesagt? -- Hat keiner was gesagt? Warum sagt denn keiner was?! S TRASSER Gute Nacht! A DA Guten Morgen! I c h sage: guten M o r g e n ! S TRASSER Plärr nicht! Es ist Nacht! A DA Strasser! Ich hasse diese Witze! Das sind keine Witze! S TRASSER Richtig! Im Ernst. Man bittet um Ruhe: die Gäste wollen schlafen. A DA Was für Gäste? (Stille) A DA Was für Gäste? Ihr seht mich wohl zehnfach, ihr besoffenen Gegenstände! Es gibt hier bekanntlich nur einen Gast, und der bin ich. Es kann nur einer befehlen. Die anderen haben zu gehorchen! Ihr seid doch meine Sklaven, nicht? Ich verzichte auf Ruhe, ich fühle mich frisch. -- Sollte ein Sklave schlafen wollen, so wird er lebendig begraben, und wenn er widerspricht, wird ihm die Zunge herausgerissen, und will er nicht hören, die Ohren abgesägt, und geht er auf mich nicht ein, wird er kastriert! (sie lacht) K ARL Man sollte das Irrenhaus anrufen. M AX Das Telefon ist leider verdorben. E MANUEL So gehört es repariert. A DA (lacht) Strassersklave! Geh auf mich ein! 얍 Geh auf mich ein! M ÜLLER (in Hemd und Unterhosen; reisst Türe fünfzehn auf) Na was ist denn los?! Die reinste Revolution! M AX Wer weitergeht wird erschossen. A DA (kann nicht mehr aufhören zu lachen) Ein Gast! Ein Gast! Und was für ein illustrer Gast! M ÜLLER Was hat denn die dumme Kuh? A DA (hat es nicht gehört) Incognito! Ich habe Sie total vergessen, Herr Generaldirektor! M ÜLLER (brüllt sie an) Ich bin kein Generaldirektor! Ruhe! Wiehern Sie nicht, sehen Sie zu, dass Sie in die Klappe kommen, besoffene Person! Mitten in der Nacht, na, das ist schon räudig! (ab: er schlägt die Türe zu) A DA (perplex) Was war das? Wie war das Wort? S TRASSER Räudig. M AX R wie Rembrandt, äu wie Euter, d wie Daheim, i wie Inzest, g wie gebenedeit. A DA Dieses Schwein ist wohl verrückt geworden, wie? (Eine Uhr schlägt: vier-, dann dreimal) S TRASSER (zählte mit) Drei. E MANUEL (zählte auch mit) Nein, vier! M AX (ist anderswo) Es wird bald fünf. E MANUEL (entsetzt) Schon fünf? S TRASSER (fährt Emanuel an) Sie versäumen nichts!

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A DA (grinst) Steht die Guillotine? Steht die Guillotine? S TRASSER Herr Baron erreichen den Zug. E MANUEL (erregt) Sie Wirt. Ich verbiete es Ihnen, sich mit meiner Abreise zu beschäftigen! 얍 S TRASSER Ich verbiete es Ihnen, die Dame von zwölf-a mit Ihren unsittlichen Anträgen zu belästigen! Und wären Sie königliche Hoheit, Baron! A DA (scharf) Was ist das für Dame? (Stille) A DA Wo gibt es hier eine Dame? Und seit wann? S TRASSER Das geht dich nichts an! A DA Hierbleiben! Hierbleiben! -- Strasser, schau mir in das Auge! In das Auge -Was für Dame, was für Dame? Soll das etwa? Habt ihr gelogen? Ist das die? Diese Kloake! -- Hinaus damit! Sofort! Oder ich hole sie an den Haaren herbei -- (sie will zu zwölf-a ) K ARL (reisst sie zurück, dass sie niederbricht) Halt das Maul! Selber Kloake! Kusch! Oder ich zertrete dich! A DA (am Boden) Na, was hat er denn? K ARL Dieses Maul. Wie ein Lurch! A DA Emanuel! So ohrfeige ihn! K ARL Jener Greis? Mich? A DA Ohrfeige ihn! E MANUEL Ada. Ich habe es mir bereits überlegt, ob ich ihn züchtigen soll, aber das Resultat wird erst eine Sekunde vor fünf Uhr veröffentlicht. Damit die Spannung nicht flöten geht, denn wir hassen bekanntlich die Langeweile -- und lieben die Sensation. K ARL (grinst) Ein schlagfertiger Patriarch. A DA (verwirrt; irr) Die Sensation -- Oh, dieser Kopf! Was kostet dieser Kopf? Siebentausend? Wie? Ich biete einen roten Heller! Zum ersten, zum zweiten, zum dritten! E MANUEL Ich behalte meinen Kopf. - Zuguterletzt 얍 hat man doch auch seinen Stolz. Adieu! (er verbeugt sich steif und ab in vierzehn ) A DA (sieht ihm nach) Adieu! -- Adieu, du Kopf! Wenn nicht, dann nicht! Wenn kein Kopf, so die Uniform! Jene charmante Uniform -- Zum ersten, zum zweiten, zum dritten! Zieh dich aus, Herkules! K ARL Gott, wie neckisch! A DA Nicht? (sie erhebt sich stöhnend) Hierbleiben, hierbleiben! (sie lächelt und nähert sich taumelnd Karl) Herkules, lass mich an deinem Kinn riechen -- du duftest wie mein erstes Erlebnis. K ARL Zurück! Schon lange her, das erste Duften, was? Dreissig? Vierzig? Fünfzig! Ein halbes Jahrhundert! Wann wird denn Schluss?! (ab in zehn ) A DA (starrt ihm fassungslos nach) Schluss? -- Was für Schluss? Von was Schluss? -Ich verstehe kein Wort -- (sie wankt) B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

M AX Es wird bald fünf. S TRASSER (zu Ada) Komm. Geh zu Bett. A DA Nein! Jetzt muss ich noch eine Kleinigkeit trinken -- etwas prickelndes. S TRASSER Du bist schon betrunken. Und krank. A DA Ich bin nicht krank! S TRASSER (kneift sie in den Arm) Geh zu Bett! A DA Au! Du musst mich sanfter anfassen -- wir Frauen sind nun mal so. Au! S TRASSER Ada. Du hast kein Recht, eine Mutter zu beschimpfen. Das Weib erfüllt durch die Geburt eine göttliche Funktion. Wo wären wir, wenn es keine Mütter gäbe? -- Ich habe mich geirrt: sie ist keine Prostituierte, sie kennt nur mich. Ich werde die Dame von zwölf-a um Verzeihung bit-얍ten, dass ich gewagt habe, niedrig über sie zu denken. Sie wird mir die Wirtschaft führen, ich lege ihr alles zu Füssen: mich und das Hotel. (er geht hin und her) A DA (ist nahe daran, bewusstlos zu werden) Lüg nicht! Lüg nicht! S TRASSER Geh zu Bett! M AX Es wird bald sechs. S TRASSER Es wird bald sieben. M AX Schau, Ada: ich bin jung und du bist alt. Ich spreche sachlich, um uns unnötige Aufregungen zu ersparen. Wir wollen nicht weh tun, wir wollen unsere Bindung, die uns viele reine Freude brachte, sanft lösen, um uns ohne bitteren Geschmack zurückerinnern zu können. Schau, ich bin jung und du bist alt. Ein junger Mann, geleitet von einer erfahrenen Frau, ist derselben immer zu Dank verpflichtet, und auch deshalb befleissige ich mich, sachlich zu sein, objektiv, gerecht. Schau, du darfst und kannst nicht verlangen, dass ein normal immerhin entwickelter junger Mann sich zeitlebens an dich kettet. Ich müsste mich ja zwingen, und das wäre wider die Natur. - Nein! Das täte nicht gut. Lieber nichts! (er tritt zu zwölf-a ; horcht; klopft) Christine -- Christine, Christine! S TRASSER (fährt ihn an) Lass das, wenn man bitten darf! M AX Du bist ein böser Mensch, Strasser. Du könntest ja einen erschlagen, aber das wahre Gefühl ist nicht umzubringen: es kommt immer wieder. Und klopft. Auch als Gespenst. (ab in neun ) S TRASSER (sieht ihm verdutzt nach) 얍 Das wahre Gefühl? A DA (lallt) Hierbleiben -- Hierbleiben -S TRASSER Ins Bett! Ins Bett! (ab in zwölf) (eine andere Uhr schlägt zwölf) A DA (wimmert; erregt hin und her; immer rascher; sie zählt mit) -- drei, vier, fünf -neun, zehn, elf, zwölf -C HRISTINE (tritt aus zwölf-a , erblickt Ada; erschrickt) A DA (hält ruckartig; betrachtet sie scheu) (Stille) A DA Zwölf. C HRISTINE Ich bin es. (Stille) B

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zwölf-aN ] zwölf-aN ] BneunN ] Bzwölf-aN ] B B

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A DA Ich habe Ihre Briefe gelesen -- Halt! Bleiben! Bitte, bleiben -- um Jesu Christi Willen, ich habe das Gefühl, der ganze Raum steckt voller Leute und ich bin blind! C HRISTINE Ich dachte, endlich könnte man fort, ohne jemanden wiederzusehen. A DA Wiedersehen? Wissen Sie, wer ich bin? C HRISTINE Ja. A DA Wer bin ich? C HRISTINE Ich wohnte in Zimmer Nummer elf. Vor einem Jahre. A DA Wer wohnt jetzt in Zimmer Nummer elf? C HRISTINE Eine alte Frau. A DA Tatsächlich? C HRISTINE Ja. (Stille) A DA Wie einfach sich das sagen lässt: eine alte Frau -C HRISTINE Es ist doch so. A DA Ja. -- Man sollte jung sterben. Mit der Zeit wird alles zwecklos. Nicht? C HRISTINE Möglich. A DA Man sagt, jede Mutter meint, ihr Kind sei 얍 das Schönste. Meine Mutter hat aber darüber nicht nachgedacht -- Glauben Sie, dass ich sehr hässlich bin? C HRISTINE Möglich. A DA Sie kennen mich nicht. C HRISTINE Ich kenne diese Stimme. Ich habe hinter dieser Tür gehorcht. Zuvor. A DA Das war nicht ich! C HRISTINE Doch! (Stille) A DA Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu. C HRISTINE Warum erzählen Sie mir das? A DA Seien Sie nicht grausam. Bitte. -- Gestatten Sie, dass ich Ihnen helfen darf, damit Sie das Kind ohne Sorgen -C HRISTINE (unterbricht sie) Ich habe keine Sorgen. A DA Das gibt es nicht. (Stille) C HRISTINE (gehässig) Ich danke für Ihre Wohltätigkeit. Mir hat nämlich der liebe Gott geholfen. Wissen Sie, was das heisst? A DA Nein, das weiss ich nicht. (Stille) A DA Das weiss ich wirklich nicht. Lachen Sie mich nur aus -- (sie nickt ihr zu; langsam ab in elf) C HRISTINE (starrt ihr nach; will fort, hält jedoch nach einigen Schritten und überlegt; kehrt plötzlich entschlossen um und tritt an Türe elf; klopft; lauscht: nichts) M AX (tritt aus neun : erblickt sie, erhellt sich; unterdrückt) Pst! Sonst kommt nämlich wieder wer, ich habe geklopft und geklopft und war bereits nahe daran zu verzweifeln, aber nun wird alles gut -- Halt! Es ist erst halb vier. Zum Bahnhof sind es fünfzehn Minuten. Geht man gemütlich, braucht man zwanzig, wenn Sie B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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dieseN ] neunN ]

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sich 얍 aber beeilen, nur zehn . Halt! Ich fahre ja auch fünf Uhr sieben. Wir haben noch Zeit. C HRISTINE Wer „wir“? M AX Wir zwei, Christine. Ich und Sie. Sie und ich. Wir. Ich bin nämlich kein Kellner, sondern Kunstgewerbler. Und dann habe ich das Gefühl, eine unschöpferische Periode hinter mir zu lassen. Ich fahre fünf Uhr sieben. Ob ich wieder zum Plakat finde, hängt lediglich von Ihnen ab. C HRISTINE Ich verstehe kein Wort. M AX Sagen Sie das nicht! C HRISTINE (spöttisch) Meint der Herr mich? M AX Ich kenne nur eine Christine. C HRISTINE Ist das dieselbe Christine, die sich hier vor ungefähr einem Jahre für den Herrn mit dem Chrysanthemenstrauss interessierte? M AX Ja. Das heisst: nein. Sicher. Ich habe mich geirrt. Vielleicht. Apropos Irrtum: auf mein Ehrenwort: wahre Liebe gibt es nur einmal, alles übrige dürfte zu untergeordneter Bedeutung schwinden, gemessen an der Tatsache, dass man in seinem Leben bekanntlich nur ein einziges Mal den Menschen trifft, mit dem man zusammengehört bis über das Grab. Still! Vielleicht drücke ich mich ungeschickt aus, aber es ist so. Lachen Sie mich nicht aus, bitte. Wir zwei müssen uns schon mal begegnet sein, da ich Sie nicht vergessen kann. Ja, wir haben uns sogar schon geliebt, in unserer letzten Inkarnation, ich bin nämlich Buddhist. Vor tausend Jahren waren Sie ein Ritter und ich war Ihr treuer Knappe. 얍 C HRISTINE Ich denke nicht daran, was ich vor tausend Jahren war. K ARL (tritt aus zehn; erblickt die beiden) Hoppla! (zu Christine) Hat er schon wieder geklopft? (zu Max) Kerl, du klopfst ja tausend Jahr! M AX Rühr mich nicht an! Terrorist! Sachlich, bitte! Lass mich allein! K ARL (hatte sich Max nicht genähert; zu Christine) Er leidet nämlich an Verfolgungswahn. C HRISTINE (will ab) Ach, lassen Sie mich in Ruh! K ARL UND M AX Halt! M ÜLLER (tritt aus fünfzehn in Hemd und Unterhosen und versperrt ihr dadurch den Weg) Na wohin? Ich wollte gerade auf das Klosett. Aber Kleines, wer wird denn noch daran denken, dass ich mich gestern nicht ganz korrekt benahm. Ich weiss, was sich gehört, doch es ging mir zu nahe, dass du dich mit solchen Kerls -- Wir kennen uns zwar aus dem Tabarin, aber ich bin der Letzte, der kein Verständnis dafür hätte, wie leicht ein unbescholtenes Mädchen mit gutem Kern in unserem neuen Deutschland auf die schiefe Ebene kommt. Schwamm darüber! Das Kind soll einen ehrlichen Namen haben! Meinen Namen. Nur nicht verzagen: du wirst noch eine rechtschaffene Hausfrau mit Gefühl für das Familienleben. Oh, das hast du, kleiner Blondkopf! Hinter diesem Stirnchen sitzt Sinn für Ordnung und Zucht. Ich sehe mich schon im eigenen Geschäfte und sehe dich schalten und walten in Küche und Keller. Du erinnerst mich manchmal, so in der Bewegung, an meine selige Mutter. Arme Kleine! Bist ein gefallenes Mädchen, aber ich leite 얍 dich retour in die bürgerliche Atmosphäre. Na, was sagst du? B

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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zehnN ] WirN ] BK ARL UND N ] B B

korrigiert aus: 10 korrigiert aus: EWir korrigiert aus: K ARL :

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Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

E MANUEL (tritt rasch aus vierzehn; reisst im letzten Augenblick das Handtuch vom Kopfe; hält es in der Hand) Pardon! Ich habe alles gehört. Es ist menschliche Pflicht, die Dame zu warnen. Dieser Herr liebt aus platter Gewinnsucht. Es riecht nach Heiratsschwindel. M ÜLLER (braust auf) Wie kommen Sie mir vor?! E MANUEL Ich bin Herr Baron Stetten, Müller. Ich weiss nicht, ob Gnädigste sich für Golf interessieren, aber abgesehen vom Golf: Gnädigste werden meinen Namen bereits kennen. C HRISTINE Nein. E MANUEL Ich nehme an, dass Sie ein schlechtes Namensgedächtnis haben, um nicht glauben zu müssen, dass es Ihnen an historischem Sinn mangelt. Gnädigste. Es ist immer tragisch, wenn solch glorreiches Geschlecht erlischt. Christine. Da keine Hoffnung besteht, unser Geschlecht auf natürliche Weise zu verlängern, bitte ich Ihr Kind adoptieren zu dürfen. C HRISTINE Ich habe ein gutes Gedächtnis und kenne mich in der vaterländischen Geschichte nicht aus. E MANUEL Still, bitte! -- Wollen Sie Baronin werden? M ÜLLER Wie selbstlos! E MANUEL Kein Krämerstandpunkt! Ich bringe Opfer, meine Herren! Es ist klar, dass ich durch die Ehe mit einer nicht standesgemässen Person auf die Zugehörigkeit zur anständigen Gesellschaft werde verzichten müssen. K ARL Auch mit siebentausend? 얍 E MANUEL In einer knappen Stunde müsste ich mir eine Kugel durch diesen Kopf jagen, aber ich verzichte. Ich bringe Opfer über Opfer. M ÜLLER Spartanisch! K ARL (zu Christine) Verzichte! Der würde doch alles verspielen! Den ganzen lieben Gott! M AX Auf ein Blatt. E MANUEL Ich habe ausgespielt. Ich kenne keine Karten mehr, vorausgesetzt, dass mir jemand hilft. -- Wollen Sie Baronin werden? (Stille) E MANUEL Sagen Sie ja. K ARL Sag nein! E MANUEL Ich verbitte mir jede Beeinflussung! Sie selbst soll entscheiden. Wir leben doch nicht im finstersten Mittelalter, wir Modernen haben gelernt, auch im Weibe den Menschen zu achten. Nur der M e n s c h zählt! So wählen Sie! Hie Baron Stetten! Hie Müller, Chauffeur und Kellner! M AX Ich bin kein Kellner! E MANUEL Sondern? Photograph? C HRISTINE Still! Ich überlege. Ich überlege. (sie lacht lautlos) M ÜLLER Tu nicht so blasiert! E MANUEL Sie sind keine kalte Frau. M AX Lachen Sie mich nur aus C HRISTINE (horcht auf: lacht nicht mehr) K ARL I c h wähle! Ich bin ein Mann, kein degenerierter Idiot! Das Weib will genommen werden! B

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korrigiert aus: Stetten

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E MANUEL Pardon! Kein Faustrecht! K ARL Keine Entrüstung! Wer verliert und nicht bezahlt, ist selbst ein Schuft! M ÜLLER Wer? K ARL Der Herr Baron! 얍 E MANUEL Zustände! S TRASSER (tritt aus zwölf, ohne bemerkt zu werden) M AX (zu Emanuel) Pfui! M ÜLLER Donnerwetter ja! K ARL (zu Emanuel) Sie gehören geköpft. S TRASSER Es wird bald fünf. A LLE (starren ihn an) S TRASSER (zu Karl) So köpfe ihn! Aber schmerzlos. Du hast doch Routine im Zahnziehen. (Stille) S TRASSER Christine. Mach einen Bogen um diese Galauniform: es steckt in ihr ein Zuchthäusler. (Stille) K ARL (zu Strasser) Wärst d u in Portugal gewesen, hätte man dich gehängt. M AX Vielleicht begnadigt. M ÜLLER Zu lebenslänglichem Zuchthaus. S TRASSER Aber ohne Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, nicht wahr, Sie Galauniform? K ARL (ohne Grimm) Was willst du denn von mir? S TRASSER (grinst herausfordernd aus plötzlicher Unsicherheit) K ARL (nickt ihm zu) Lach mich nur aus. (er nähert sich langsam Christine; dumpf) Fräulein. Es ist gut. Ich bin ein Zuchthäusler. Ich sass sechs Jahr, weil ich einen erschlagen habe. Nicht Mord. Totschlag. Aber es wurden mir keine mildernden Umstände zugebilligt, das heisst: nur ganz geringe, und die zählen kaum vor Gericht und sind doch sehr ausschlaggebend. Sie sollen keine Angst vor mir haben, Fräulein. Bitte. Es gibt ja nichts, was einem nicht zustossen könnte. Man kann sich auch selbst erschlagen, und doch umhergehen, Fräulein. Und 얍 dastehen: in Galauniform. (Stille) C HRISTINE (leise) Ist, das, wahr? K ARL Es ist wahr, Fräulein. S TRASSER Es ist gelogen, Christine. Von a bis z. C HRISTINE Kusch! (Stille) S TRASSER (zu Christine) Du hast recht: was ich dir antat, ist ein perfideres Verbrechen als Mord. M ÜLLER Wieso kommen Sie zu dieser Behauptung? M AX Jeder von uns trägt die gleiche Schuld. M ÜLLER Na klar! E MANUEL Pardon! Es war mein Plan. S TRASSER Quatsch! M ÜLLER Wir haben ihn alle unterschrieben! Wir alle fühlen uns verantwortlich! M AX Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. K ARL Das haben wir alle nicht.

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C HRISTINE Still! Würden die werten Herren Reue spüren, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen? M ÜLLER Jawohl! E MANUEL Jederzeit. K ARL Das war niedrig, Fräulein. (Stille) M AX Warum glaubst du mir das nicht, das mit den tausend Jahren? ( Stille) S TRASSER Ich hätte nichts bereut, hätte dir nicht der liebe Gott geholfen. E MANUEL Charakterlump! M AX Er kann nicht lieben. K ARL Er ist überhaupt kein Mensch. M ÜLLER Wo bleiben die Ideale? S TRASSER Das weiss ich nicht! Ich weiss nur, dass ich dich nun liebe, weil du zehntausend Mark hast. Ohne diese Summe hätte ich auch keine Reue empfunden. Du kannst doch nicht 얍 verlangen, dass einer, der wirtschaftlich zu Grunde gerichtet worden ist, sich in eine Bettelprinzessin verliebt. C HRISTINE Und das Kind? S TRASSER Du kannst doch nicht verlangen, dass ich dich ewig liebe, nur weil du ein Kind von mir hast. (Stille) C HRISTINE Ja, das ist wahr. Aber ich wäre fast zugrunde gegangen -S TRASSER Ich hätte dir nicht helfen können. C HRISTINE Das weiss ich noch immer nicht. S TRASSER Glaub es! M ÜLLER Nach dem bürgerlichen Gesetzbuche ist der Vater verpflichtet -S TRASSER (unterbricht ihn) Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren! C HRISTINE Man müsste ein anderes Gesetzbuch schreiben. M ÜLLER Das wäre das Ende der Familie. C HRISTINE Wenn schon. E MANUEL Und das Ende des Staates. C HRISTINE Wenn schon! (Stille) C HRISTINE Es gibt einen lieben Gott, aber auf den ist kein Verlass. Er hilft nur ab und zu, die meisten dürfen verrecken. Man müsste den lieben Gott besser organisieren. Man könnte ihn zwingen. Und dann auf ihn verzichten . K ARL Man soll nicht an ihn glauben. C HRISTINE Man muss. (Stille) S TRASSER (zu Christine) Bleib bei mir. C HRISTINE (sieht Strasser gross an) Der Zug fährt in einer halben Stunde und wer sich beeilt, ist in zehn Minuten am Bahnhof, aber mir ist es noch immer, als müsste ich den Zug versäumen -B

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Stille)N ] OhneN ] BverzichtenN ] B B

korrigiert aus: Stille korrigiert aus: Ohnen korrigiert aus: zverzichten

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Endfassung Zur schönen Aussicht

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ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 M AX (sieht Christine gross an) Dreizehn ist meine Glückszahl. Und Christine wohnt B zwölf-aN. S TRASSER Du wirst den Zug versäumen. C HRISTINE Nein. -- Nein. Nein, ich werde nichts versäumen -- Lass mich fort, bitte -Wenn mich das Kind nicht mehr braucht, so komme ich dich besuchen -- sollte dies Haus dann noch stehen -- (ab)

Vo r h a n g . 10

Schluss.

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zwölf-aN ]

korrigiert aus: zwölfa

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SB Volksbühne 1927c, S. 81

Endfassung Zur schönen Aussicht

ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

Rund um den Kongreß – Posse in fünf Bildern

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Lesetext

Endfassung Zur schönen Aussicht

ZSA/K/TS1 (Korrekturschicht)

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Endfassung Rund um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

Konzeption: Rund um den Kongress – Posse in fünf Bildern

Lesetext

Endfassung Rund um den Kongress



RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

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RUND UM DEN KONGRESS Posse in fünf Bildern von Ödön Horváth B

SB Arcadia 1929, o. Pag. (S. I)

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얍 PERSONEN:

SB Arcadia 1929, o. Pag. (S. 1)

F ERDINAND S CHMINKE L UISE G IFT D AS F RAEULEIN A LFRED D ER K ELLNER D ER G ENERALSEKRETAER H AUPTMANN D ER P OLIZIST D ER P RAESIDENT D IE V ORSITZENDE D ER S ANITAETSRAT D ER S TUDIENRAT E INIGE D ELEGIERTE D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS .

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ERSTES BILD. F ERDINAND (steht mit einem Spazierstock an einer Strassenkreuzung und kennt sich nicht aus.) S CHMINKE (begegnet ihm) F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Ich möchte in das Restaurant Miramar und weiss nicht, wo es liegt. S CHMINKE Restaurant? F ERDINAND Miramar. S CHMINKE Das ist kein Restaurant. F ERDINAND Vielleicht ein Caférestaurant? S CHMINKE Nein. Das ist ein Bordell. F ERDINAND Interessant! S CHMINKE Auch das. F ERDINAND Komisch. Eigentlich wollte ich nur meinen Bruder Alfred besuchen, der ist nämlich Kellner in diesem Miramar und im November werden es drei Jahre --S CHMINKE Ich pflege prinzipiell keine Auskunft über Bordelle zu geben. F ERDINAND Aber ich möcht doch nur meinen Bruder Alfred besuchen. S CHMINKE Prinzipiell nicht. F ERDINAND „Prinzipiell“ -- dieser Ton. Ich kenn doch diesen Ton -- „prinzipiell“. Sie heissen doch Schminke? Nicht? 4

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HorváthN ]

Horv[a]|á|th

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SB Arcadia 1929, o. Pag. (S. 3)

Endfassung Rund um den Kongress

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

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S CHMINKE Sie kennen mich? Woher? F ERDINAND Prinzipiell, Herr Schminke. S CHMINKE Wer ist denn das? F ERDINAND Ich selbst, Herr Schminke. Komisch. Ja, das macht mich direkt stutzig. Nämlich: wenn Sie mich nicht kennen, so werden Sie meine Schwester wahrscheinlich auch 얍 vergessen haben. S CHMINKE Wer ist denn Ihre Schwester? F ERDINAND Meine Schwester ist tot. S CHMINKE Ich verbitte mir das! F ERDINAND Bitte. Bitte ! S CHMINKE (ab) F ERDINAND Ein schlechter Mensch. L UISE G IFT (kommt) F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Kennen Sie einen Tanzpalast namens Miramar? L UISE G IFT „Tanzpalast“ ist gut. F ERDINAND Ein Etablissement. L UISE G IFT Ein Stadion. F ERDINAND Ein maison de discretion. L UISE G IFT Junge, Junge! F ERDINAND Ich hab nämlich gehört, dass dieses Miramar ein etwas diskretes Lokal sein soll. L UISE G IFT Haben Sie gehört? F ERDINAND Soeben. (Stille) L UISE G IFT Muss es unbedingt im Miramar sein? F ERDINAND Zu freundlich! L UISE G IFT Oh, bitte! Sie werden es nicht bereuen. F ERDINAND Man soll den Teufel nicht an die Wand malen. L UISE G IFT Sind Sie auch so abergläubig? F ERDINAND Was mich betrifft: ja. L UISE G IFT Ich trau mich oft nicht vors Haus. Besonders wenn alles beflaggt ist. F ERDINAND Also apropos Haus: wo liegt nun jenes Haus? L UISE G IFT Jenes liegt nirgends. Jenes ist nämlich abgebrannt. F ERDINAND Abgebrannt? 얍 L UISE G IFT Im April. F ERDINAND Um Gottes Willen! L UISE G IFT Man vermutet Brandstiftung. Aus Neid. F ERDINAND Sagen Sie: wer ist denn alles verbrannt? L UISE G IFT Wen meinen Sie? F ERDINAND Eigentlich wollt ich nur meinen Bruder Alfred besuchen. L UISE G IFT Alfred? Ist das Ihr Bruder? F ERDINAND Kennen Sie ihn? L UISE G IFT Leider. F ERDINAND Lebt er noch? B

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Bitte. BitteN ]

SB Arcadia 1929, S. 4

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korrigiert aus: Bitte.Bitte fehlende und überzählige Zeichenabstände werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis.

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

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L UISE G IFT Leider. Er ist nämlich ein kompletter Schuft. F ERDINAND Immer wieder? L UISE G IFT Er hat sein Ehrenwort gebrochen. F ERDINAND Komisch. Was war das für ein Ehrenwort? L UISE G IFT Er hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er es niemandem sagen wird, dass ich mein Ehrenwort gebrochen habe. Aber er will mich nicht ärgern, es ist ja bekannt, dass man sein Ehrenwort nicht halten kann. F ERDINAND Als ich das erste Mal mein Ehrenwort gebrochen hab, da war ich zehn Jahre alt. Ich erinner mich gern, weil ich gern melancholisch werd. Es wird so angenehm ruhig, wenn man an sein erstes gebrochenes Ehrenwort denkt. L UISE G IFT Ich glaub, Sie sind ein guter Mensch. F ERDINAND (zieht den Hut) Danke. L UISE G IFT Bitte. S CHMINKE (kommt wieder und scheint etwas zu suchen) F ERDINAND Guten Abend, Herr Schminke! S CHMINKE (zuckt zusammen, erkennt Ferdinand und nähert sich ihm) Herr! Sie haben zuvor 얍 behauptet, ich hätte Ihre verstorbene Schwester gekannt. Was war denn Ihre Schwester? F ERDINAND Nutte. S CHMINKE Was wollen Sie damit sagen? F ERDINAND Ich hatte zwo Schwestern. Die jüngere starb nach elf Minuten und die ältere war Nutte. S CHMINKE Was soll ich mit Ihrer elfminuten alten Schwester? F ERDINAND Ich wollte damit nur sagen, dass nicht alle meine beiden Schwestern Nutten waren. Und was meine verstorbene ältere Schwester, die Nutte, betrifft, die Sie vergessen haben --: ich wollte Sie nur erinnern, dass Sie dieser verstorbenen Nutte noch etwa dreiundfünfzig Mark schulden und da sie mich als alleinigen Erben eingesetzt --S CHMINKE Herr! Ich habe noch nie mit Nutten verkehrt! F ERDINAND Ich meine diesen Verkehr in einer geistigen Hinsicht. Sie sind doch ein geistiger Mensch. Ich, zum Beispiel, ich bin kein geistiger Mensch, aber auch geistige Menschen müssen ihre Schulden bezahlen. S CHMINKE Ich habe keine Schulden! F ERDINAND Sie sind doch Journalist? S CHMINKE Na und? F ERDINAND Und meine verstorbene Schwester, die Nutte, lieferte Ihnen das gesamte Material für einen so langen Artikel. S CHMINKE Material? Betreffs? F ERDINAND Betreffs Bekämpfung der Prostitution. Sie haben das gesamte Material dieser verstorbenen Nutte verwertet, ohne ihr einen Pfennig zu bezahlen. S CHMINKE Ich bin auch nicht verpflichtet. 얍 F ERDINAND Gesetzlich nicht. Aber moralisch. S CHMINKE Ich bin ausgesprochener Moralist. F ERDINAND Mit achtzehn Pfennig pro Zeile. Sie hätten ohne meine Schwester höchstens eine halbe Zeile schreiben können. Macht fünfzig Prozent. Ist gleich etwa dreiundfünfzig Mark. S CHMINKE Hier dreht es sich nicht um Ihre Nutte, sondern um die Bekämpfung der Prostitution. Ja um noch mehr! Um eine Idee.

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

F ERDINAND Für achtzehn Pfennig die Zeile. S CHMINKE Man muss doch leben, um für eine Idee kämpfen zu können! F ERDINAND Man hört auch andere Ansichten. S CHMINKE Soll ich mich kreuzigen lassen? F ERDINAND Bin ich der liebe Gott? S CHMINKE Es gibt keinen lieben Gott! Basta! F ERDINAND Hm! S CHMINKE (ab) L UISE G IFT Wer war denn das? F ERDINAND Ein schlechter Mensch. L UISE G IFT Warum? F ERDINAND Weil er nicht bezahlen will, was er einer toten Nutte schuldet. L UISE G IFT Lassen Sie bitte die Toten ruhen. F ERDINAND Es gibt keine Toten, sofern es sich um dreiundfünfzig Mark dreht. Wir Menschen haben eine unsterbliche Seele. L UISE G IFT (betrachtet sich im Spiegel mit dem Lippenstift) Ich auch. Ich auch. (Sie schminkt und pudert sich und summt dazu den Totenmarsch von Chopin; plötzlich) Alfred ist im Café Klups. F ERDINAND Klups? Klups klingt solid. Ist Alfred jetzt in diesem Klups Kellner? Ist er eigentlich schon Oberkellner geworden? L UISE G IFT Nein. Er spielt Billard. F ERDINAND So? L UISE G IFT Und Karten. Und Schach. Und dann 얍 spielt er wieder Billard. F ERDINAND Von was lebt er denn eigentlich? L UISE G IFT Eigentlich von mir. (Stille) F ERDINAND Komisch. Also: wo liegt denn dieses Café Klups? L UISE G IFT Da gehen Sie einfach immer rechts. Oder links. F ERDINAND Danke. L UISE G IFT Bitte. F ERDINAND Komisch. L UISE G IFT Sie können es eigentlich garnicht verfehlen. F ERDINAND Mein Kompliment! L UISE G IFT Leben Sie wohl! F ERDINAND Ergebenster Diener! L UISE G IFT Sie mich auch! F ERDINAND Gute Nacht! L UISE G IFT Ein guter Mensch. F ERDINAND Auf Wiedersehen! L UISE G IFT Grüss Gott! F ERDINAND (ab) L UISE G IFT (winkt ihm nach) D AS F RAEULEIN (kommt) L UISE G IFT Jetzt bin ich aber erschrocken! Ich dacht, es kommt wer anders. D AS F RAEULEIN Wer? L UISE G IFT Ich weiss es nicht. D AS F RAEULEIN Das bin nur ich. (Stille)

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Endfassung Rund um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

L UISE G IFT Nun? D AS F RAEULEIN Ich hab es mir überlegt. (Stille) D AS F RAEULEIN Ja. Du hast sehr recht. Man soll sich dafür bezahlen lassen. L UISE G IFT Na endlich! D AS F RAEULEIN Endlich. L UISE G IFT Ich hab es schon immer gesagt, dass Du intelligent bist. DAS F RAEULEIN Ich hab es schon immer gewusst, 얍 dass Du recht hast, aber ich wollt es nicht sagen. Jetzt sag ichs. Ich machs genau wie Du. L UISE G IFT Es geht immer leichter und leichter. D AS F RAEULEIN Wer sagt das? L UISE G IFT Coué. (Stille) L UISE G IFT Weisst Du, was ich Dir nicht glaub? Dass Du noch niemals dafür Geld genommen hast. Das glaub ich nicht. Du hast doch schon? Was? D AS F RAEULEIN Ich hab erst einmal dafür Geld genommen. L UISE G IFT Wann? D AS F RAEULEIN Vorgestern. L UISE G IFT Nu und? D AS F RAEULEIN Zwölf Mark. L UISE G IFT Gratuliere. D AS F RAEULEIN Ist das viel? L UISE G IFT Genug. D AS F RAEULEIN Ich dachte, das wäre normal. L UISE G IFT Du Kind. Kindchen. Zwölf Mark sind Henry Ford. Für zwölf Mark verlangt man schon was Elegantes. Du musst wer sein. Was vorstellen. Geh mal auf und ab. D AS F RAEULEIN (geht auf und ab) L UISE G IFT Wie Du jetzt so wirkst, kostest Du nicht mehr als zwo. D AS F RAEULEIN Ich bin doch kein Tier. L UISE G IFT Du sprichst so gewählt. D AS F RAEULEIN Das kommt wahrscheinlich daher, weil ich viel Romane gelesen hab. L UISE G IFT Viel Lesen ist ungesund. D AS F RAEULEIN Ich kannte mal einen, der schrieb Romane. In einem hübschen Blockhaus. L UISE G IFT Man sieht jetzt sehr hübsche Blockhäuser. D AS F RAEULEIN In der Nähe liegt ein See. (Stille) L UISE G IFT Wir werdens schon auch schön haben. Du wohnst natürlich bei mir. Solang Du 얍 magst. (Stille) D AS F RAEULEIN Du hast mich neulich gefragt, wie alt ich bin. Ich hab gesagt dreiundzwanzig, aber ich werd erst dreiundzwanzig. Im September. B N

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]

D AS F RAEULEIN N ] L UISE G IFT N ]

Absatz eingefügt; fehlende Absätze vor und nach Szenenanweisungen werden in TS1 stillschweigend ergänzt; vgl. Chronologisches Verzeichnis. eingefügt eingefügt

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

L UISE G IFT Warum erzählst Du mir das jetzt? D AS F RAEULEIN Nur so. (Stille) L UISE G IFT Ich seh jünger aus. Nicht? D AS F RAEULEIN Jünger als ich? L UISE G IFT Nein, als ich. D AS F RAEULEIN Sicher. (Stille) L UISE G IFT Ich hab den „Generalanzeiger“ abonniert. Es wird schon gemütlich. Wenn wir uns mal schlecht fühlen, machen wir uns einen Tee und bleiben auch abends daheim. (sie kreischt plötzlich) So glotz mich doch nicht so an! A LFRED (erscheint und überblickt die Situation) Dass Du immer kreischen musst. (er geht auf und ab) Piano, Luise! Piano! Jetzt fletscht sie wieder die Hauer. (Zum Fräulein) Guten Abend! L UISE G IFT Ich hab keine Hauer. A LFRED Natürlich hast Du Hauer. 얍 L UISE G IFT Ich hab Zähne. A LFRED Das kann jeder sagen. Ist das jenes Fräulein? L UISE G IFT Was fürn Fräulein? A LFRED Jenes. L UISE G IFT Wo? A LFRED Da. L UISE G IFT Dort? Dort ist kein Fräulein. A LFRED Na wer ist denn das? L UISE G IFT Das ist nichts. (Stille) A LFRED (nähert sich Luise Gift) Luise. Du machst mich mal wieder korrekt nervös. Das ist unverantwortlich von Dir für Dich. Du hast mir doch erst gestern von einem Fräulein berichtet, das es sich noch überlegen wollte -L UISE G IFT (unterbricht ihn) Jenes Fräulein geht Dich nichts an. A LFRED Piano! L UISE G IFT Jenes Fräulein wünscht nämlich nur mich. Sonst niemand. Hörst Du? A LFRED (zum Fräulein) Haben Sie das gehört, Fräulein? D AS F RAEULEIN Ja. A LFRED (zum Fräulein) Sie lügt, was? D AS F RAEULEIN (schweigt) L UISE G IFT (nähert sich Alfred; leise) Lass es mir bitte. A LFRED (spöttisch) Das „Nichts“? B N

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Lesetext

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B N

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B B

]

So glotzN ] fürnN ]

B

N

N

[Was hast Du jetzt vor? D AS F RAEULEIN Es ist mir gleich. L UISE G IFT Dann geh zu mir, ich komm bald nach. Blätter mal in dem Buch auf der Kommode. Man muss sich da auskennen, besonders im zweiten Teil. Es ist ein medizinisches Werk: „Das Liebesleben in der Natur“. Mit Anhang. D AS F RAEULEIN Das kenn ich schon. L UISE G IFT Auch den Anhang? Man muss da vorsichtig sein. D AS F RAEULEIN Wohin gehst Du jetzt? L UISE G IFT Zum Doktor.] \So/ [G]|g|lotz korrigiert aus: für’n Apostrophe werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Chronologisches Verzeichnis.

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L UISE G IFT Du hast mir Dein Ehrenwort gegeben -A LFRED (unterbricht sie) Bitte stell mir das Fräulein vor. L UISE G IFT Bestie. A LFRED Kusch. L UISE G IFT (weint) D AS F RAEULEIN So beruhig Dich doch! Ist ja widerlich! A LFRED Und ob! 얍 L UISE G IFT (starrt das Fräulein an) Wie war das? A LFRED W wie wir, i wie ich, d wie du, e wie elegant, r wie Rücksicht, 1 wie Luder, i wie infam, ch wie Chonte. L UISE G IFT Widerlich. D AS F RAEULEIN Ja. A LFRED Ja. L UISE G IFT Sehr widerlich? D AS F RAEULEIN Sehr. L UISE G IFT Bestie. (Stille) A LFRED (zum Fräulein) Hier sehen Sie eine Abart der Hysterie. Luise ist eben kränklich. Bereits als Kind litt sie unter einer allseits porösen Haut. Luischen! Ist die Leber noch frisch? Gesundsein ist Trumpf. Bazillen verpflichten! Du solltest Leichtathletik treiben. D AS F RAEULEIN (kichert) A LFRED Hundert Meter. Diskos. Hürden. Stabhoch! L UISE G IFT (tonlos) Produzier Dich nur, produzier Dich nur.

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B N

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A LFRED (zum Fräulein) Mein Name ist {Kastner}. D AS F RAEULEIN Ich hab mirs gleich gedacht. A LFRED Wieso? Hat sie mich verleumdet? D AS F RAEULEIN Im Gegenteil. A LFRED Soweit ich die Gesamtsituation überblicken kann, haben Sie es sich überlegt. 얍 D AS F RAEULEIN Ja. L UISE G IFT (zum Fräulein; apathisch) Das ist der Alfred. A LFRED Sie hatte bereits das Vergnügen. L UISE G IFT Alfred muss gemein sein, er kann nicht anders. A LFRED Sie lügt. L UISE G IFT (will langsam ab, bleibt plötzlich stehen) Alfred. Ich hab zuvor Deinen Bruder gesprochen. A LFRED Bruder? Ist denn der hier? Seit wann? L UISE G IFT Ich hab ihn zufällig kennen gelernt. A LFRED Ich bin nur zufällig sein Bruder, er ist nämlich ein Trottel. L UISE G IFT Er ist ein guter Mensch. B

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Lesetext

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B N

]

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B N

]

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B

Mein f {Kastner}.N ]

N

[Was hat denn der Doktor gesagt? L UISE G IFT (erschlagen) Ich wollte gerade zum Doktor. A LFRED Na man rasch!] [A LFRED (verbeugt sich vor dem Fräulein und steppt etwas) Voilà! D AS F RAEULEIN (lacht) L UISE G IFT Jetzt geh ich. Ja. Jetzt geh ich. (Sie rührt sich nicht vom Fleck)] [Ich bin der Alfred.] |Mein f {Kastner}.|

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A LFRED Wirds bald? L UISE G IFT Ich geh schon. A LFRED Marsch. L UISE G IFT (ab) (Stille) A LFRED Sagen Sie Fräulein: haben Sie sich schon mal das Horoskop stellen lassen? D AS F RAEULEIN Nein. Verstehen Sie was von Planeten? A LFRED Immerhin. Ich beschäftige mich mit okkulten Dingen. Luischen, zum Beispiel, ist im Sternbilde des positiven Wassermann geboren. D AS F RAEULEIN Was bedeutet das? A LFRED Dass man keine Seele hat. D AS F RAEULEIN Sie ist aber sehr aufmerksam zu mir. Sie sagt mir, wie ich gehen muss und alles. Sie hilft mir. Ich kann, zum Beispiel, bei ihr wohnen. A LFRED Weil sie, zum Beispiel, schwül mit u schreibt. D AS F RAEULEIN Ist sie sehr krank? A LFRED Sie wird voraussichtlich erblinden. D AS F RAEULEIN Was fehlt ihr denn? 얍 A LFRED Unter anderem ist sie auch mondsüchtig. Ja: bei Vollmond steigt sie aus dem Fenster, klettert die Fassade hoch und tanzt den Tanz ihrer Jugend: Kwadrille ! Sie ist nämlich schon stellenweise grau. Sie sind doch blond? D AS F RAEULEIN Wer? A LFRED Sie. D AS F RAEULEIN Blond? Ja. A LFRED Echt? D AS F RAEULEIN (nimmt den Hut ab) A LFRED Bravo! Bravo. (Stille) A LFRED Sagen Sie, gnädiges Fräulein: hätten Sie Sehnsucht, monatlich fünfhundert Mark zu verdienen? D AS F RAEULEIN Wie? A LFRED Monatlich. D AS F RAEULEIN Fuenf -A LFRED Hundert. Bar. Fest. Sie. (Stille) D AS F RAEULEIN Danke nein. A LFRED Sie sind wohl total verblödet? D AS F RAEULEIN Möglich. A LFRED Ihr Profil ist zwar begabt. D AS F RAEULEIN Ich hab Angst. A LFRED Vor mir? Wie kann man vor mir Angst haben? Ich hab ja vor mir selbst keine Angst! (Stille) D AS F RAEULEIN Was wird man von mir verlangen für fünfhundert Mark? A LFRED Das Normale. D AS F RAEULEIN Wer? A LFRED Ein gewisser Ibanez aus Parana. B

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Lesetext

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KwadrilleN ]

gemeint ist: Quadrille

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D AS F RAEULEIN Ibanez persönlich? A LFRED Nicht ganz. D AS F RAEULEIN Ich geh in keine Kaserne. A LFRED Parana kennt keine kasernierte Liebe! Parana besteht in diesem Punkte lediglich aus Appartements. Ein Haus, ein 얍 Fräulein! Das ist Gesetz in Parana, um die schamlose Ausbeutung der Fräuleins zu verhindern und den anständigen Mädchenhandel zu schützen. Die paranensische Reichsregierung – – – D AS F RAEULEIN (unterbricht ihn) Wo liegt Parana? A LFRED In Südamerika. D AS F RAEULEIN Nein. (Stille) D AS F RAEULEIN Neineinein -A LFRED Lieben Sie Europa? D AS F RAEULEIN Ich geh nicht in die Kolonien. A LFRED Geographie schwach. Ausser britisch, französisch und niederländisch Guyanna gibt es in Südamerika bekanntlich keine Kolonien, nur souveräne Staaten. Freie demokratische Republiken. Die Bevölkerung ist vorzüglich spanisch und portugiesisch, mittelgross, leidenschaftlich und schwarz. Infolgedessen sind Blondinen tatsächlich bevorzugt. L UISE G IFT (erscheint) A LFRED Schon zurück vom Doktor? L UISE G IFT Ich war nicht beim Doktor. Ich hab gehorcht. (Stille) A LFRED Auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein! (ab) (Stille) D AS F RAEULEIN Vielleicht fahr ich nach Südamerika. L UISE G IFT Sei nicht boshaft. D AS F RAEULEIN Ich bin nicht boshaft. L UISE G IFT Aus Südamerika kommt keine zurück. D AS F RAEULEIN So bleib ich eben dort. L UISE G IFT Du bleibst bei mir. D AS F RAEULEIN Ich bin nicht so veranlagt. L UISE G IFT Ich bin überhaupt nicht veranlagt! (sie nähert sich ihr) Ich bin ja ganz anders, aber ich komme so selten dazu -- (sie fährt ihr durch die Haare und zerrt sie plötzlich) 얍 D AS F RAEULEIN Au! Lass mich los! (sie reisst sich los und schlägt sie vor die Brust, dass sie zurücktaumelt) So lass mich doch! (Sie läuft davon) L UISE G IFT (lacht) Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen! (sie lauscht auf Antwort; Stille; sie brüllt) Auf Wiedersehen! (sie lauscht wieder; Stille; sie wimmert) B

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

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Ende des ersten Bildes.

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Nein.N ] D AS F RAEULEIN N ] BGuyannaN ] BsouveräneN ] B B

korrigiert aus: Nein eingefügt gemeint ist: Guyana korrigiert aus: suveräne

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F ERDINAND (betritt das Café Klups, hält neben dem Billard und sieht sich um; er ist der einzige Gast) D ER K ELLNER (kommt und kaut an einem Trumm Brot) F ERDINAND Guten Abend. D ER K ELLNER Mahlzeit. F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Ist das hier das Café Klups? D ER K ELLNER Ja. F ERDINAND Warum steht dann aber draussen „Café Viktoria“? D ER K ELLNER Es heisst ja hier „Viktoria“. F ERDINAND Klups heisst wohl der Besitzer? D ER K ELLNER Nein. Der ehemalige Besitzer. (Stille) F ERDINAND Komisch. Ist Herr Klups schon lange tot? D ER K ELLNER Herr Klups ist überhaupt nicht tot. Herr Klups hat sich nicht bewährt. F ERDINAND Paragraph? D ER K ELLNER 181a. „Eine männliche Person, welche von einer Frauensperson, die gewerbsmässig Unzucht treibt, unter Ausbeutung ihres unsittlichen Erwerbes ganz oder teilweise den Lebensunterhalt bezieht, oder welche sonst förderlich einer Frauensperson gewohnheitsmässig oder aus Eigennutz in Bezug auf die Ausübung des unzüchtigen Gewerbes Schutz gewährt oder sonst förderlich ist, wird … F ERDINAND mit Gefängnis --D ER K ELLNER nicht unter --얍 F ERDINAND einem Monat --D ER K ELLNER bestraft.“ Und seitdem heissen wir hier „ Viktoria “. (Stille) F ERDINAND Wieso „ Viktoria “? D ER K ELLNER Mich kann man nicht ausfragen. F ERDINAND Es hätt mich ja nur interessiert. D ER K ELLNER Warum? F ERDINAND Aus Mitgefühl. Man ist doch zuguterletzt ein Mensch. D ER K ELLNER Zuguterletzt. Nehmen Sie Platz! F ERDINAND (setzt sich) D ER K ELLNER Sie wünschen? Kaffee, Tee, Schokolade. F ERDINAND Kaffee . D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? F ERDINAND Tasse. D ER K ELLNER (ab) B

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Lesetext

ZWEITES BILD.

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

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Klups?N ] bestraft.“N ] BViktoriaN ] BViktoriaN ] BKaffee,N ] BKaffeeN ] B B

N

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korrigiert aus: Klups. korrigiert aus: bestraft. korrigiert aus: Victoria korrigiert aus: Victoria korrigiert aus: Café korrigiert aus: Café

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

A LFRED (kommt und entdeckt Ferdinand, der ihn nicht bemerkt; er zieht sich den Rock aus und spielt in Hemdsärmeln Billard gegen sich selbst.) F ERDINAND (erblickt Alfred und erhebt sich überrascht) A LFRED (fixiert ihn einen Augenblick und setzt das Spiel fort) F ERDINAND Alfred! A LFRED (lässt sich nicht stören) Ha? F ERDINAND Du bist ja gar nicht überrascht, dass ich Dich überrascht hab! A LFRED Nein. F ERDINAND Komisch. A LFRED Ich wusst es schon. F ERDINAND Woher? A LFRED Mich kann man nicht ausfragen. F ERDINAND Es hätt mich ja nur interessiert. A LFRED Warum? F ERDINAND (setzt sich) (Stille) 얍 D ER K ELLNER (bringt Ferdinands Tasse ; zu Alfred ) Halleluja! A LFRED Kaffee . D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? A LFRED Kännchen. D ER K ELLNER (ab) (Stille) F ERDINAND Du spielst anscheinend gern Billard. Sehr gern? A LFRED Ja. (Stille) F ERDINAND Alfred. Was hab ich Dir denn getan? A LFRED Nichts. F ERDINAND Also? A LFRED Also. F ERDINAND Ich hab Dir doch nichts getan -A LFRED Eben! F ERDINAND Achso. A LFRED Ja. (Stille) F ERDINAND Komisch. Ich hab mir gedacht, Du wirst freudig überrascht sein. A LFRED Weil Du zufällig mein Bruder bist? F ERDINAND Trotzdem. A LFRED Ich lege keinen Wert auf Familienanschluss. F ERDINAND Ja, wir sind eine verkommene Familie. Man muss nur zurückdenken -als ich zur ersten heiligen Kommunion schritt, hatte Papa gerade den Pelz gestohlen. Grosspapa war übrigens auch vorbestraft. A LFRED Und Mama? F ERDINAND Lass Mama! Sie hat uns geboren und das genügt. B

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2 2 17 17 18

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HemdsärmelnN ] selbst.)N ] BTasseN ] BAlfredN ] BKaffeeN ] B

N

B

korrigiert aus: Hemdärmeln korrigiert aus: selbst). korrigiert aus: Kännchen korrigiert aus: A LFRED korrigiert aus: Café

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A LFRED Stimmt. (Stille) F ERDINAND Auch wenn wir keine Brüder wären, hätt ich mich gefreut, wenn Du freudig überrascht gewesen wärst. Rein menschlich. 얍 A LFRED Wenn Du mich anpumpen willst, muss ich Dir leider eröffnen, dass ich pleite bin. F ERDINAND Du warst noch nie menschlich. A LFRED Ich bin pleite. F ERDINAND Das tut mir aber leid. Rein menschlich. A LFRED Halts Maul. (Stille) F ERDINAND Ich hab mich emporgearbeitet. Durch Zufall. A LFRED (horcht auf) Wie? F ERDINAND Durch Zufall. A LFRED Wie heisst der Mann? F ERDINAND Mir hat nämlich der liebe Gott geholfen. A LFRED Was verstehst Du unter lieber Gott? F ERDINAND Zweitausend Mark. A LFRED (nähert sich ihm) Wie war das? F ERDINAND (lächelt) Ja. D ER K ELLNER (bringt Alfreds Kännchen) Wohin? A LFRED Dorthin -- Da. (er setzt sich zu Ferdinand) D ER K ELLNER (stellt das Kännchen hin und spielt gelangweilt Billard) A LFRED Und -- sag: Was machst Du mit Deinem lieben Gott? F ERDINAND Privatisieren. A LFRED Du könntest Deinen lieben Gott verdoppeln. F ERDINAND Ah! A LFRED Verdoppeln. Garantiert. F ERDINAND Wer garantiert? A LFRED Ich. F ERDINAND Solche Geschäfte mach ich nicht. A LFRED Das sind durchaus korrekte Geschäfte. F ERDINAND Ich meine die Garantie. A LFRED Sofort! Erstens: ich habe eine Agen-얍tur. Eine Stellenvermittlung nach Südamerika. Wenn man nur einen Teil Deines lieben Gottes hätte, könnte man den Betrieb bedeutend rentabler ausbauen. F ERDINAND Was sind das für Stellungen? A LFRED Ueberwiegend Kindergärtnerinnen. F ERDINAND Schämst Du Dich nicht, mich für so dumm zu halten? A LFRED Pardon, wenn ich Dich für dümmer hielt. (Stille) F ERDINAND Ich würde ja das Geschäft trotzdem machen, obwohl es rein menschlich natürlich nicht zu verantworten wäre, aber auch das Menschliche ist nicht absolut und daher die Konzessionen. Du siehst, ich hab mich mit Philosophie beschäftigt. A LFRED Jawohl. B

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Stellungen?N ]

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korrigiert aus: Stellungen.

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F ERDINAND Jetzt trink ich, zum Beispiel, ein Tässchen Kaffee und wenn ich den lieben Gott verdoppeln könnte, dann wärs ein Kännchen. Es dreht sich oft nur um ein Kännchen im menschlichen Leben. A LFRED Jawohl. F ERDINAND Ich hab viel vom Leben gelernt und hätt nichts dagegen, wenn ich mir ein Kännchen bestellen könnt. A LFRED Du wirst Dir eine Kaffeeplantage… F ERDINAND (unterbricht ihn) Erzähl! A LFRED Gegenwärtig stehe ich gerade vor einem Abschluss. Mit der bekannten Firma Ibanez. In Parana. Ich kann aber leider nur die Hälfte der Transportkosten decken; könnte man die ganze Ueberfahrt bezahlen, so wäre Dein lieber Gott in sechs Wochen verdoppelt. F ERDINAND Und die Garantie? A LFRED Bin ich. F ERDINAND Das ist mir zu gewagt. A LFRED Du bist doch mein Bruder. F ERDINAND Ich lege keinen Wert auf Familienan-얍schluss. A LFRED Wiederhol mich nicht! Aber auch wenn wir keine Brüder wären --- rein menschlich. F ERDINAND Wiederhol mich nicht. (Stille) A LFRED Wer nichts wagt, verdoppelt auch nichts. F ERDINAND Ich bin kein Hasardeur. A LFRED Und wo bleibt dann Dein Kännchen? F ERDINAND Das wär ja ein Grund. A LFRED Um was zu wagen. F ERDINAND Etwas Kühnes! A LFRED Grandioses! F ERDINAND Monte Carlo! A LFRED Gesprengt! Abgemacht? F ERDINAND Abgemacht. L UISE G IFT (kommt) F ERDINAND Guten Abend, gnädige Frau! L UISE G IFT Grüss Gott! A LFRED (erblickt sie und zuckt zusammen; erhebt sich) L UISE G IFT Komm mal her, bitte. A LFRED (nähert sich ihr) Na? L UISE G IFT Kannst Du es erraten, was ich jetzt am liebsten tun würde? A LFRED Nein. Und dann interessiert es mich auch nicht. L UISE G IFT Du hast wieder einmal Dein Ehrenwort gebrochen. A LFRED Es interessiert mich nicht, Luischen. L UISE G IFT Du bist eine korrupte Kreatur. D ER K ELLNER (zu Luise Gift) Was wünschen die Dame? A LFRED Nichts. L UISE G IFT Kaffee. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? B

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binN ]

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korrigiert aus: bein

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L UISE G IFT Kännchen. D ER K ELLNER (ab) 얍 A LFRED Na denn Adieu! L UISE G IFT Halt! Hast Du mir nicht Dein Ehrenwort gegeben, dass Du mir das Fräulein lässt? Dass Du sie mir nicht, wie die anderen --A LFRED (unterbricht sie) Ich bin Kaufmann. Mit Leib und Seele. L UISE G IFT Wenn sich das Fräulein nach Südamerika einschifft -A LFRED (unterbricht sie) Dann? L UISE G IFT (grinst) Ich meinte nur. A LFRED Der Zeigefinger hat mir nicht gefallen. L UISE G IFT Und er hat doch mal für dich geschworen -A LFRED Kusch. Erwähne ich denn mein Vorleben? L UISE G IFT Im eigenen Interesse? Kaum. A LFRED Kehre ich jemals den Fähnrich hervor? Betone ich jemals, dass ich eine Hoffnung der europäischen Filmindustrie war? L UISE G IFT (grinst) Ein Bonvivant --A LFRED Ich verbitte mir jede Verleumdung. Das war schon lange vorher. Du weisst, dass meine Augen die Jupiterlampen nicht ertragen konnten. Oder? L UISE G IFT Oder. A LFRED Luischen. Was wird denn, wenn sich das Fräulein nach Südamerika --? L UISE G IFT (grinst) Zuchthaus. Zuchthaus. A LFRED Für Dich? L UISE G IFT Für Dich. A LFRED Luischen. Du hast mal einen Meineid geschworen. Einen korrekten Meineid. L UISE G IFT Für Dich. A LFRED Egal. L UISE G IFT Mir ist alles egal. A LFRED Mir nicht. Merk Dir das. L UISE G IFT Das weiss ich. Drum zeig ich Dich ja an -A LFRED Nur kein Lärm --얍 L UISE G IFT Sonst? A LFRED Gib acht! Mir kann nämlich nichts passieren, denn Dir fehlt der zwote Zeuge. L UISE G IFT (grinst) Dass Dich immer das Gesetz schützt -A LFRED Es gibt noch eine Justiz. L UISE G IFT Es wird auch noch Leute geben, die auf den zwoten Zeugen pfeifen -A LFRED Utopisten. Idealisten. Alles nur keine Realpolitiker! F ERDINAND Bitte, stell mich der Dame vor. A LFRED Mein Bruder Ferdinand -- Frau Luischen Gift. F ERDINAND (verbeugt sich) Ich hatte bereits das Vergnügen. L UISE G IFT Wir kennen uns. F ERDINAND Sehr erfreut! L UISE G IFT Seit wir uns gesehen haben, hat Ihr Bruder Alfred schon wiedermal sein Ehrenwort gebrochen. B

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DassN ] JupiterlampenN ] BnämlichN ] B B

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korrigiert aus: Das korrigiert aus: Juppiterlampen korrigiert aus: nähmlich

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A LFRED (zu Luise Gift) Ob Du parierst? L UISE G IFT Dass Du mich nicht anrührst, dass Du mich nicht an -A LFRED Toll! Ich kann es mir tatsächlich nicht vorstellen, in welch sozialer Schicht Du Dich neuerdings bewegst, da Du befürchtest, ich könnte ein Weib misshandeln. L UISE G IFT Hast mich noch nie, was? A LFRED Nie. L UISE G IFT Und am siebzehnten März? A LFRED (zu Ferdinand) Sie lügt. F ERDINAND (lächelt verlegen) L UISE G IFT Bestie. A LFRED Kusch. (ab) D ER K ELLNER (kommt und stellt Luise Gifts Kännchen auf Ferdinands Tisch) F ERDINAND (bietet Luise Gift Platz an) Darf 얍 ich bitten -(Trommelwirbel in der Ferne) L UISE G IFT (erstarrt) S CHMINKE (betritt rasch das Café Klups und setzt sich) D ER K ELLNER (zu Schminke) Der Herr wünschen? S CHMINKE Kaffee. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? S CHMINKE Tasse. (er zieht ein Manuskript aus seiner Tasche und korrigiert.) F ERDINAND (erkennt Schminke) (Abermals Trommelwirbel. Plötzlich ist alles beflaggt: riesige Fahnen hängen in das Café Klups. Militärmusiktusch. Hochrufe und begeisterter Applaus in einem überfüllten Versammlungssaal) D ER K ELLNER (horcht) F ERDINAND (fixiert Schminke) (Stille) L UISE G IFT (nähert sich tastend entsetzt dem Kellner; lallt) Herr Doktor. Jetzt fang ich mich an zu fürchten, Herr Doktor. -D ER K ELLNER Ich bin kein Doktor. L UISE G IFT Hab ich Doktor gesagt? D ER K ELLNER Man soll sowas nicht vernachlässigen. L UISE G IFT Was? Du, warum ist denn plötzlich alles beflaggt? Ich hab so Angst vor diesen Fahnen -- weil dann sind auch im Spiegel lauter Fahnen und dann merk ich, dass ich bald er -- (sie stockt) D ER K ELLNER er --? L UISE G IFT Vor vier Wochen konnt ichs von hier aus noch lesen: „Für Damen“ – „Für Herren“ -- Jetzt verschwimmts. Ich sehs nicht mehr. Mit der Zeit verschwimmt alles. Nicht? D ER K ELLNER Wahrscheinlich. L UISE G IFT Wie einfach sich das sagen lässt. Jetzt möcht ich eine Postkarte schreiben. D ER K ELLNER Nanu? 얍 L UISE G IFT (ist anderswo) Kartengrüsse. An mich selbst. B

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Tisch)N ]

korrigiert aus: Tisch.

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F ERDINAND (zum Kellner) Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Warum ist denn plötzlich alles beflaggt? D ER K ELLNER Um den Kongress zu ehren. (Man hört wieder begeisterten Applaus) F ERDINAND Was ist das für ein Kongress? D ER K ELLNER Ein internationaler Kongress. L UISE G IFT (lauernd) Was will denn der Kongress? D ER K ELLNER Er will die Bekämpfung der Prostitution international organisieren mit besonderer Berücksichtigung des internationalen Mädchenhandels. L UISE G IFT (setzt sich) D ER K ELLNER (stellt Tischfähnchen auf die Tische) Laut einem Erlass des Gesamtkabinetts und einer ortspolizeilichen Vorschrift muss alles beflaggt werden. Zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgt. L UISE G IFT (grinst irr) Fahnen heraus! Fahnen heraus! D ER K ELLNER Ruhe! (er horcht) Wenn man nämlich sehr horcht, hört man den Kongress reden, aber man muss ein feines Gehoer haben. (Stille) D ER K ELLNER Jetzt spricht der Berichterstatter. L UISE G IFT Was erzählt er denn der Herr Berichterstatter? D ER K ELLNER Ich versteh nicht, was er sagt. Er spricht nämlich spanisch. F ERDINAND Nein, das ist portugiesisch. D ER K ELLNER Können Sie portugiesisch? F ERDINAND Nein. L UISE G IFT So. Also die Prostitution wollen Sie bekämpfen -D ER K ELLNER Genau wie am Kongo, so auch an 얍 der Spree. F ERDINAND Auch in Chile. D ER K ELLNER Auch in Kolumbien. F ERDINAND Auch in Ecuador. D ER K ELLNER Auch in Paraguay. F ERDINAND Auch in Uruguay. D ER K ELLNER Auch in Venezuela. F ERDINAND Auch in San Salvador. S CHMINKE Wo bleibt denn mein Kaffee? D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? S CHMINKE Tasse! L UISE G IFT Wer ist denn das? D ER K ELLNER Ein schlechter Mensch. F ERDINAND Haben Sie ihn vergessen, gnädige Frau? Das ist doch jener Herr, der einer verstorbenen Nutte dreiundfünfzig Mark schuldet. L UISE G IFT Was will denn dieser schlechte Mensch? D ER K ELLNER Eine Tasse. F ERDINAND Und dann will er die käufliche Liebe bekämpfen. L UISE G IFT Also ein Delegierter. (sie erhebt sich) D ER K ELLNER Aus Sumatra. F ERDINAND Aus Java. B

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KongressN ] D ER K ELLNER N ]

korrigiert aus: Kongross eingefügt

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D ER K ELLNER Aus Parana! Aus Parana! L UISE G IFT (setzt sich an Schminkes Tisch und lächelt) S CHMINKE (setzt sich an einen anderen Tisch) (Ferdinand und der Kellner sehen interessiert zu.) L UISE G IFT (setzt sich wieder zu Schminke und blickt in sein Manuskript.) S CHMINKE Sie wünschen? L UISE G IFT (lächelt) Sie müssen deutlicher schreiben, sonst kennt sich ja keiner aus. Sie wollen doch den Mädchenhandel bekämpfen? 얍 S CHMINKE Ich bewundere Ihre Beobachtungsgabe. L UISE G IFT Oh, bitte! Herr! Nach Südamerika wird ein Fräulein verkauft. S CHMINKE Ich muss Ihnen leider sagen, dass ich mich für Einzelfälle nicht interessiere. Prinzipiell nicht. F ERDINAND Prinzipiell. S CHMINKE Ein derartiges Eingehen auf Einzelschicksale wäre lediglich zwecklose Zersplitterung. L UISE G IFT Sie wollen sich also nicht zersplittern und lieber das Fräulein verkaufen -S CHMINKE (unterbricht sie) Ich bin doch kein Kommissariat! Erstatten Sie Anzeige. L UISE G IFT Mir fehlt der zwote Zeuge. S CHMINKE Hätten Sie auch den zwoten Zeugen, könnte man meiner Ueberzeugung nach, an dem Wesen der Dinge nichts ändern. Es ist doch völlig egal, ob sich das Fräulein in Südamerika oder in Mitteleuropa prostituiert. Der Mädchenhandel spielt ja auch eine sekundäre Rolle, das primäre ist die Prostitution und vor allem ihre Entstehung. (Stille.) L UISE G IFT Sie bekämpfen also prinzipiell die käufliche Liebe, junger Mann? S CHMINKE Wenn es Sie nicht stört: ja. L UISE G IFT (grinst) Es stört mich nicht, wenn Du mich bekämpfst, Schnucki -S CHMINKE (zum Kellner) Ich möchte endlich meinen Kaffee! D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? S CHMINKE Tasse! Tasse zum tausendstenmal! D ER K ELLNER Nanana! (ab) F ERDINAND Ein schlechter Mensch. L UISE G IFT Nanana -- Darf man fragen: wie 얍 wird man hier eigentlich bekämpft? Mit dem Füllfederhalter? S CHMINKE Leider. L UISE G IFT (gehässig) Sie möchten wohl Reichspräsident werden? S CHMINKE Ich bitte zu berücksichtigen, dass ich eine Denkschrift korrigiere. An die Adresse des Kongresses. L UISE G IFT (ahmt ihn nach) Ich bitte es zu berücksichtigen, dass ich von Ihrem Kongress bekämpft werd. S CHMINKE Nicht Sie! Nur Ihr Beruf! L UISE G IFT Nur? Was soll ich denn wenn der Kongress meinen Beruf abschafft, he? Was kann ich denn? Ich muss wieder von vorn anfangen! (sie ahmt ihn wieder nach) Ich bitte es zu berücksichtigen, dass die ganzen Delegierten mich vernichten wollen, indem dass sie bloss immer vom grossen S daherreden! Korrigieren B

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Sie es in Ihrer Denkschrift, dass der Kongress die wuchernden Hotels bestrafen soll! S CHMINKE (erhebt sich) Das ist eine völlige Verkennung -L UISE G IFT Ein Skandal ist das! Ein Skandal! D ER K ELLNER (kommt mit Schminkes Tasse) S CHMINKE Zahlen! D ER K ELLNER Dreiundfünfzig Mark. L UISE G IFT Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Eine tote Nutte bestehlen! F ERDINAND Prinzipiell.

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Ende des zweiten Bildes.

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DRITTES BILD. S CHMINKE (wartet auf einem Platz voller Fahnen vor dem Kongressaal) (Im Kongressaal wird begeistert applaudiert.) S CHMINKE (horcht; geht auf und ab) D ER G ENERALSEKRETAER (erscheint; er ist im Frack und sehr nervös) Herr Schminke! S CHMINKE (eilt auf ihn zu) D ER G ENERALSEKRETAER Sie sind Herr Schminke? Ich bin der Generalsekretär des internationalen Kongresses für internationale Bekämpfung der internationalen Prostitution und habe enorm zu tun. Herr Schminke sind Presse? Ich bedauere es ausserordentlich, dass Sie bei der Absendung der Pressekarten übersehen worden sind, denn ich und der Kongress legen auf eine grosszügige Zusammenarbeit mit der Presse den allergrössten Wert. Auf alle Fälle freut es mich ehrlich, Ihnen bereits heute mitteilen zu können, dass die aufopferungsvolle Arbeit des Kongresses bereits heute äusserst beachtliche Erfolge gezeitigt hat. So hat der Kongress bereits bis heute zwölf Unterausschüsse eingesetzt, die die Reihenfolge der zur Diskussion stehenden Programmpunkte bestimmen sollen. Ja! S CHMINKE Es freut mich ausserordentlich, dass die Reihenfolge der zur Diskussion stehenden Programmpunkte bereits heute bestimmt wird. D ER G ENERALSEKRETAER Werden soll! Ja! S CHMINKE Und was die Absendung der Presse-얍karten betrifft, so würde ich mich allerdings ausserordentlich wundern, wenn ich nicht übersehen worden wäre. D ER G ENERALSEKRETAER Ja! S CHMINKE Und was die Bekämpfung der Prostitution betrifft - - D ER G ENERALSEKRETAER (unterbricht ihn) Ja! Na denn Hochachtung! (er will ab) S CHMINKE Halt! Es dreht sich hier nicht um Pressekarten! D ER G ENERALSEKRETAER Sondern? S CHMINKE (überreicht ihm sein Manuskript) D ER G ENERALSEKRETAER Was ist das? S CHMINKE Eine Denkschrift. D ER G ENERALSEKRETAER Was soll ich damit? S CHMINKE An die Adresse des Kongresses. D ER G ENERALSEKRETAER Motto?

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S CHMINKE „Mit Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse verschwindet auch die aus ihnen hervorgehende offizielle und nicht offizielle Prostitution.“ D ER G ENERALSEKRETAER Wer sagt das? S CHMINKE Das wissen Sie. (Stille) D ER G ENERALSEKRETAER Ich weiss nichts. Lassen Sie die bürgerlichen Produktionsverhältnisse in Ruhe, Sie Kommunist! Ja! S CHMINKE Haben Sie den traurigen Mut zu leugnen, dass die Prostitution ausschliesslich ein Produkt wirtschaftlicher Not ist? D ER G ENERALSEKRETAER Nicht ausschliesslich! S CHMINKE Zu neunundneunzig Prozent! D ER G ENERALSEKRETAER Zu achtundneunzig! S CHMINKE Zu neunundneunzig! D ER G ENERALSEKRETAER Zu hundert! Wenn Sie nämlich auch die seelische Not berücksichtigen wollen! Auch Königinnen leiden Not! Auch am Golfplatz wird gelitten! Ja! S CHMINKE Nur kein Pathos. 얍 D ER G ENERALSEKRETAER Es ist mir bekannt, dass gewisse Elemente jede Regung seelischer Not als bürgerliches Vorurteil verhöhnen. Ja! Also: ich bestätige hiermit den Einlauf Ihrer sogenannten Denkschrift, die der Kongress zu den Akten legen wird, da die Prostitution bekanntlich unausrottbar, ja kaum bekämpfbar ist, weil das Prinzip der käuflichen Liebe zu tief in uns verankert ist, man möchte fast sagen: die käufliche Liebe ist ein wesentlicher Bestandteil des Menschlichen schlechthin. Ja! S CHMINKE Sie verteidigen die Prostitution? D ER G ENERALSEKRETAER Sie zwingen mich dazu! Ja! S CHMINKE Nein. D ER G ENERALSEKRETAER Bringen Sie mich nicht aus dem Konzept, Sie! S CHMINKE Was soll denn der ganze Kongress?! D ER G ENERALSEKRETAER Organisieren! Die internationale Bekämpfung der internationalen Prostitution international organisieren. Ja! (er will rasch ab, kehrt aber plötzlich um und fixiert Schminke) Was haben Sie soeben gesagt? S CHMINKE Kritik. D ER G ENERALSEKRETAER Ich warne Sie. S CHMINKE Danke. D ER G ENERALSEKRETAER Bitte. Ich warne Sie zum zweiten Male . Der Kongress streitet Ihnen das moralische Recht zur Kritik kraft seines guten Willens glatt ab und Ihr politisches Recht verstösst gegen die Verfassung. Ich warne Sie zum dritten Male. Wenn Sie Ihren Platz nicht schleunigst verlassen, so lasse ich ihn räumen. Ja! S CHMINKE (rührt sich nicht) 얍 D ER G ENERALSEKRETAER Also: wollen Sie freiwillig folgen? S CHMINKE Nennen Sie das freiwillig? D ER G ENERALSEKRETAER Ich fühle mich voll der Langmut und Sie tragen die Konsequenz. Ich warne Sie zum vierten Male. B

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S CHMINKE Zum fünften Male . D ER G ENERALSEKRETAER Zum sechsten Male ! Ich zähle noch bis zehn. Bei zehn stehen Sie an der Wand. Garantiert. Der Kongress ist zwar gut, aber streng und infolgedessen gerecht. Ja! (er zählt) Sieben. Acht. Neun. Nun? S CHMINKE Zehn. D ER G ENERALSEKRETAER Schweigen Sie! Wer zählt da?! Wer zählt da im wahren Sinne des Wortes?! Ich oder Sie?! S CHMINKE Zehn. D ER G ENERALSEKRETAER So schweigen Sie doch, Sie Fanatiker! Das könnte Ihnen so passen, den Märtyrer zu markieren! Der Kongress will keine Heiligenscheine, Herr! Und ich persönlich kann keiner Fliege ein Haar krümmen und bin zuguterletzt nur ein Angestellter, der davon lebt, dass er für den Kongress verantwortlich zeichnet! Wie wärs mit einem Kompromiss? S CHMINKE Ich zähle. D ER G ENERALSEKRETAER Herr Schminke. Ich bin Familienvater und wenn Sie den Platz nicht räumen, wird mir zum ersten gekündigt. S CHMINKE Ich möchte sehen, ob der Kongress den Mut hat, mich bei zehn an die Wand zu stellen. D ER G ENERALSEKRETAER Natürlich hat der Kongress den Mut, aber ich trage die Verantwortung, Sie verantwortungsloses Subjekt! Sie tragen natürlich keine Verantwortung, wenn Sie erschossen werden! „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ -- auch sone Lite-얍ratenerfindung! Ja! S CHMINKE (zählt) -- -- sieben, acht, neun, zehn! (Trommelwirbel) D ER G ENERALSEKRETAER (hält sich verzweifelt die Ohren zu) S OLDATEN (mit Gasmasken und aufgepflanztem Seitengewehr erscheinen im Hintergrunde) D ER G ENERALSEKRETAER Le Kladderradatsch! H AUPTMANN (tritt vor und spricht österreichisch) Pardon, meine Sährverehrten! Mir scheint, als hätt hier wer bis zehn gezählt -- a servus, Herr Generalsekretär! Na was machtn der Kongress? Beratn? So? Apropos Kongress: die Henriett lasst si scheidn. Die Schwester von der Henriett is die Josephin. Und die Schwester von der Josephin is die Pojdi. S CHMINKE Hauptmann! Ich habe bis zehn gezählt und fordere füsiliert zu werden. (Stille) H AUPTMANN (starrt Schminke an; er spricht plötzlich preussisch) Wa? Wie? Wer istn dieser Kümmeltürke? D ER G ENERALSEKRETAER Er bekämpft die bürgerliche Produktionsweise. H AUPTMANN (österreichisch) Bürgerliche Produktionsweis? Weiss der Teifl, was das is! Apropos Produktionsweis: die Christl heirat an Judn. S CHMINKE Na wirds bald? H AUPTMANN (preussisch) Halten Sie die Fresse, Lausejunge! Kümmeltürke! S CHMINKE Ich fordere füsiliert zu werden! B

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fünften MaleN ] sechsten MaleN ] BUndN ] BWeissN ] B B

korrigiert aus: fünftenmale korrigiert aus: sechstenmale korrigiert aus: und korrigiert aus: weiss

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H AUPTMANN (preussisch) Fresse, Fresse! Hier wird nicht jefordert, hier wird jehorcht! Disziplin! Kümmeltürke, Kümmeltürke! D ER G ENERALSEKRETAER Ich heisse Pontius Pilatus und wasche meine Hände in Unschuld. 얍 Mein Name ist Hase und für Tumultschäden durch höhere Gewalt trägt ausschliesslich jener Kümmeltürke die Verantwortung! Ja! H AUPTMANN (österreichisch) Aber mein sehr verehrter Herr von Hase, aber das is doch ganz wurscht, wer die Verantwortung trägt. (er kommandiert) Stillgestanden! S OLDATEN (stehen still) H AUPTMANN (österreichisch) Wollns der Exekution beiwohnen, Herr von Hase? D ER G ENERALSEKRETAER Danke, nein. Ich kann keine Exekution sehen, ich leide nämlich an einem nervösen Magen. H AUPTMANN (österreichisch) Geh, wer wirdn so verweichlicht sein, Herr von Hase! Oder sans gar gegn die Todesstraf? D ER G ENERALSEKRETAER Oh, nein! H AUPTMANN (österreichisch) Wissens, so a Delinquenterl is halt nur a arms Hascherl, aber man muss ihm halt derschiessn, wo bleibtn sunst die Autoritaet? Es muss halt sein, in Gotts Namen! D ER G ENERALSEKRETAER Amen! (rasch ab) H AUPTMANN (kommandiert) Zum Gebet! S OLDATEN (beten) S CHMINKE (steht mit dem Rücken zum Publikum an einer imaginären Wand.) H AUPTMANN (kommandiert) Legt an! Feuer! S OLDATEN (füsilieren Schminke) (Im Kongressaal wird begeistert applaudiert) S CHMINKE (bleibt unbeweglich aufrecht stehen) H AUPTMANN (kommandiert) Weggetreten! S OLDATEN (ab) H AUPTMANN (zündet sich eine Zigarette an) (In einer kleinbürgerlichen Wohnung erklingt der Donauwalzer: Klavier und Violine) H AUPTMANN (summt mit) S CHMINKE (nähert sich ihm langsam) Hauptmann. 얍 H AUPTMANN Pardon! Mit wem hab ich die Ehr? S CHMINKE Sie haben mich doch soeben füsiliert. H AUPTMANN Ah, der Herr von Schminke! Aba freilich, i hab Sie ja jetzt grad hingricht. Aba wissens, Herr von Schminke, mit sowas is dann für mich so ein Fall erledigt. Sie san für Ihre Sachn bestraft und wenn aner für seine Untaten gebüsst hat so is die Sach für mich akkurat erledigt. I trag niemand was nach. Es is ganz so, als wär nix geschehn. Darf i Ihnen a Zigarettn --? (er bietet ihm eine an) S CHMINKE Sie irren sich. Ich bin ja tot. H AUPTMANN (starrt ihn an) Aso, ja . Aba natürlich! S CHMINKE Ich bitte Sie nur zu berücksichtigen, dass Sie mich erledigen konnten, dass man aber eine Idee nicht töten kann. B

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PontiusN ] Delinquenterl ] BjaN ] BAbaN ] B B

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korrigiert aus: pontius korrigiert aus: Deliquenterl korrigiert aus: Ja korrigiert aus: aba

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H AUPTMANN Was meinens denn für a Idee? S CHMINKE Haben Sie Angst? H AUPTMANN Aba Herr von Schminke! S CHMINKE Ich bin kein Herr. Ich bin eine Idee. H AUPTMANN Also wissens, vor aner Idee hab i schon gar ka Angst. S CHMINKE Es gab einmal einen römischen Hauptmann, der sagte: „So stirbt kein Mensch.“ Und damit sagte er bereits -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Na was werd er scho gsagt habn, der römische Rittmeister? S CHMINKE Dass er die neue Welt sieht. H AUPTMANN Amerika? S CHMINKE Nein. (Stille) H AUPTMANN (begreift plötzlich) Aso. 얍 S CHMINKE Ja. (Stille) S CHMINKE Auf Wiedersehen! (ab) H AUPTMANN (zum Publikum) Also die neue Welt, des warn die Katholikn und die ajt Welt, des warn die Judn, respektive die Antike. Die war a scho morsch, man muss ja bloss an die Ausschweifungen der Remerinnen denkn… (er denkt) Aba pensionieren hat er si do net lassn, der remische Rittmeister, wenn er a den allgemeinen Verfall, gewissermassen Vision … A! Redn mer von was anderm! B

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F ERDINAND (wartet im Hafen, dort wo man nach Südamerika fährt. Alle Schiffe sind reich beflaggt. Er steht unter einem Transparent: „Willkommen zum internationalen Kongress für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels“) E IN P OLIZIST (kommt) F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Ist denn schon neunzehn Uhr? D ER P OLIZIST Wenn die Sirene dort oben heult, dann ist es neunzehn. F ERDINAND Wo? D ER P OLIZIST (deutet nach oben) Dort. (Stille) F ERDINAND Ich seh keine Sirene. D ER P OLIZIST Ich seh sie aber deutlich. F ERDINAND Ich bin nämlich kurzsichtig. D ER P OLIZIST Ich nicht. B N

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korrigiert aus: bereits eingefügt korrigiert aus: denkn.. Absatz getilgt

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( Die Sirene heult. Stille) D ER P OLIZIST Jetzt ist es neunzehn. F ERDINAND (verbeugt sich) Danke. D ER P OLIZIST (salutiert) Bitte! (ab) F ERDINAND (sieht ihm nach) Ein guter Mensch. A LFRED (kommt; grüsst kurz und lautlos) F ERDINAND (grüsst infolgedessen auch lautlos) (Stille) A LFRED (misstrauisch) Das war doch ein Polizeipräsident? F ERDINAND Möglich. A LFRED Was wollt er von Dir? F ERDINAND Nichts. Ich wollt was von ihm. A LFRED Erniedrig Dich nicht. F ERDINAND Ich hab nur gefragt, ob es schon 얍 neunzehn ist -A LFRED Ich bin pünktlich. F ERDINAND Ich auch. A LFRED Hast Dus dabei. F ERDINAND Ja. Ja. (er lächelt verschämt) A LFRED (fixiert ihn) Den ganzen lieben Gott? F ERDINAND (verlegen) Ja. Nein. Ich hab mir nämlich gedacht, dass vielleicht vorerst auch der halbe liebe Gott reichen könnte, dürfte, müsste, sollte --(Stille) A LFRED Trottel. F ERDINAND Bitte? A LFRED Na gib schon her. F ERDINAND (gibt ihm den halben lieben Gott) A LFRED (zählt die Scheine, steckt sie ein und quittiert) Da. (er atmet auf) Endlich Luft. Als kleiner Kaufmann erwürgt Dich die Konkurrenz, aber schon mit einem halben lieben Gott in der Tasche kann man an die Gründung des Konzerns -- (er sinniert) Unberufen! F ERDINAND Glück auf! A LFRED Kusch. (Stille) F ERDINAND Was bin ich jetzt eigentlich? A LFRED Mein Teilhaber. Mein Mitdirektor. Mein Aufsichtsrat! (er reicht ihm die Hand) F ERDINAND (schlägt ein) Alfred! A LFRED Unberufen! F ERDINAND Glück auf! A LFRED Kusch! Man soll sowas nicht verschrein! F ERDINAND Man darf doch noch gratulieren -A LFRED (entdeckt das Transparent, starrt es fasziniert an und buchstabiert) -- „internationaler Kongress -- Bekämpfung -- des Mädchenhandels -- -- Willkommen“ -Willkommen? F ERDINAND Ja. 얍 A LFRED Was soll denn das? B

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F ERDINAND Das ist der Kongress. A LFRED Das aber peinlich. Hoffentlich kein Omen. Ausgerechnet am Tag der Geschäftserweiterung -- „ Willkommen“ ? -- Der Kongress kann uns ja zwar nichts, jedoch, aber, trotzdem, dennoch, infolge -F ERDINAND Wann krieg ich nun mein Kännchen? A LFRED Was für Kännchen? F ERDINAND Mein Kännchen Kaffee . Ich hab mich doch nur deshalb beteiligt. Was ich tu, ist doch alles nur um ein Kännchen. A LFRED Und mit sowas ist man verwandt. F ERDINAND Du kannst doch nichts dafür. A LFRED Trottel. F ERDINAND Bitte? (Stille) A LFRED (leise) Ich kann Dich nicht länger vertragen. F ERDINAND Bitte? A LFRED (laut) Geh in das Café Klups und bestell Dir Dein Kännchen. Du bist mein Gast. F ERDINAND (starrt ihn erschüttert an) Verzeih mir, bitte, lieber Bruder. A LFRED Was denn? F ERDINAND Dass ich Dich für schlechter hielt, als Du bist. Ich hätt es wirklich nicht gedacht, dass Du soviel Herz hast. Ich danke Dir. Ich werds Dir nie vergessen. (er will ab, hält jedoch plötzlich) Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Wie komm ich nun am besten in das Café Klups? A LFRED Du bist schon richtig. F ERDINAND Auf Wiedersehen! (ab) A LFRED (sieht auf seine Uhr und will ab) L UISE G IFT (erscheint und versperrt seinen Weg) 얍 A LFRED (fixiert sie, ohne zu grüssen) (Stille) L UISE G IFT Lach mich nicht aus, bitte. A LFRED (grinst) Du Krüppel. Du Missgeburt. (schroff) Weg! Ich hab ein Rendezvous. L UISE G IFT Mit dem Fräulein? A LFRED Wahrscheinlich. L UISE G IFT Es ist mir aus den Augen gekommen, das Fräulein. A LFRED (ungeduldig) Aus den Augen -L UISE G IFT -- aus dem Sinn. A LFRED (horcht auf) Tatsächlich? L UISE G IFT (nickt; ja) A LFRED Gratuliere. (er sieht wieder auf seine Uhr und will rasch ab) L UISE G IFT Alfred! Ich wollt Dich nur um eine Minute bitten -A LFRED Eine Minute hat sechzig Sekunden. Sechzig ist viel. (er schreit sie an) Einen anderen Kopf, wenn man bitten darf, ja?! L UISE G IFT Ich schneid sofort ein lustiges Gesicht, wenn ich weiss, dass Du mir verzeihst -B

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A LFRED Das zuvor? Eine Drohung ohne zwoten Zeugen? Quatsch, ich bin nicht kleinlich. L UISE G IFT Schlag mich. (Stille) A LFRED (fixiert sie misstrauisch und nähert sich ihr) L UISE G IFT Schlag mich. A LFRED Nein. L UISE G IFT Quäl mich nicht, schlag mich. A LFRED Warum? L UISE G IFT Weil ich es verraten hab, dass Du das Fräulein nach Südamerika verkaufst -- Schlag mich. (Stille) A LFRED (langsam lauernd) Wem hast Du mich verraten? 얍 L UISE G IFT Dem Kongress. A LFRED Und? L UISE G IFT Zuerst hab ichs einem Delegierten verraten, aber der wollt nichts davon wissen, der war nämlich so prinzipiell -- und dann hab ich das Fräulein überall gesucht und nirgends gefunden und dann hats mich gepackt -- (sie brüllt) Im Kopf hats mich gepackt, im Kopf -- (sie wimmert) -- da bin ich zum Kongress und habs dem Herrn Generalsekretär verraten -A LFRED Und was meinte der Herr Generalsekretär? L UISE G IFT Er war sehr höflich, der Herr Generalsekretär, und hat mich hinausbegleitet und dann hat er gemeint, ohne Zeugen könnt man zwar nichts wollen, aber er will dennoch den Fall aufgreifen, hat er gemeint -- in irgendeiner Form -(Stille) A LFRED (kneift sie in den Arm) L UISE G IFT Au! Au! Au -(Stille) A LFRED Das war perfid. L UISE G IFT Ich widerrufs. Ich schwörs ab. A LFRED Hyäne. L UISE G IFT Verzeihs mir, bitte. Bitte. A LFRED Nein ich schlag Dich nicht. L UISE G IFT Bitte schlag mir ins Gesicht. Mit der Faust. A LFRED Rechts oder links? L UISE G IFT Mitten ins Gesicht -- bitte -(Stille) A LFRED Du riechst aus dem Mund. Nach Schnaps. L UISE G IFT Ich werd es wieder gutmachen -A LFRED Kannst Du es ungeschehen machen? Nein, sagt Strindberg, der schwedische Dichter. L UISE G IFT Bitte. Sonst bin ich allein. 얍 A LFRED Ich nicht. L UISE G IFT Lüg nicht. Lach mich nicht aus, bitte. (Stille) A LFRED Wir wollen sachlich bleiben. Wir wollen uns nicht weh tun, lösen wir unsere Liaison, die uns viele reine Freude brachte, sanft und korrekt, um uns ohne bitteren Geschmack rückerinnern zu können. Schau, Luischen, ich bin jung und Du

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bist alt. Du darfst es nicht forcieren, dass ein normal immerhin entwickelter junger Mann sich zeitlebens an Dich kettet. Es hat keinen Sinn, dass ich Dir verzeihe, denn einerseits kannst Du mir nur mehr Unannehmlichkeiten bereiten und andererseits kannst Du mir nichtmal mehr nützen. Mir hat nämlich der liebe Gott geholfen. Weisst Du, was das heisst? L UISE G IFT Nein, das weiss ich wirklich nicht. Lach mich nur aus -A LFRED Das sieht nur so aus. (ab) L UISE G IFT (allein) Futsch. (Stille) L UISE G IFT Er war ja sogar höflich.- Radikal futsch. (Stille) L UISE G IFT Was hat der gesagt? Der liebe Gott hat ihm geholfen? -- Wenn es einen lieben Gott gibt -- was hast Du mit mir vor, lieber Gott? Hörst Du mich, lieber Gott? -- Du weisst ich bin in Düsseldorf geboren. -- Lieber Gott, was hast Du mit mir vor, lieber Gott --? ( In der Ferne spielt eine Jazzband und nähert sich; der Hafen verwandelt sich in das Café Klups; die Gäste, meist Prostituierte, Rennsachverständige und Zuhälter lassen sich vom Kellner bedienen; ein neues Transparent taucht auf: „Tanz im Café Klups. Betrieb! Stimmung! Laune!“; die Jazzband betritt das Podium) 얍 L UISE G IFT (ist es, als würde sie all das träumen) (Allgemeiner Tanz im Café Klups) D ER P OLIZIST (wächst aus dem Boden und hebt die Hand) Halt! (Alles verstummt) D ER K ELLNER (verbeugt sich vor dem Polizisten) D ER P OLIZIST (schnarrt) Wo ist denn das Tischfähnchen? Hier fehlt doch irgendwo ein Fähnchen -- zu Ehren des Kongresses. D ER K ELLNER Hier fehlt kein Fähnchen. D ER P OLIZIST Hier fehlt ein Fähnchen -- und zwar auf dem dritten Tische links hinten an der rechten Wand gegenüber -- dieser Dame! (er deutet ruckartig auf Luise Gift) L UISE G IFT (heult auf) Nein! Nein! Ich kann doch nichts dafür!! D ER P OLIZIST Das kann jede sagen! Jede sagen! L UISE G IFT Ich bin unschuldig, Herr Wachtmeister! Ich kann nichts für das Fähnchen! Ich hab noch keinem Fähnchen was getan -- (sie wimmert) D ER P OLIZIST Kennen wir! Kennen wir! (er zieht sein Notizbuch) Ihr Name? D ER K ELLNER Herr Polizeipräsident! Ueberzeugen Sie sich doch persönlich. Darf man bitten -D ER P OLIZIST (eilt an den bezeichneten Tisch und hält ruckartig) Hm. Der Tisch ist allerdings beflaggt. Das Fähnchen flattert im vorschriftsmässigen Winde, jedoch -D ER K ELLNER (unterbricht ihn, fährt ihn an) Was wollen Sie denn?! Was wollen Sie denn?! D ER P OLIZIST Kaffee . (er nimmt Platz an dem Tischchen) Vorerst. B

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얍 D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? D ER P OLIZIST (bösartig) Hüten Sie sich vor mir. D ER K ELLNER Also Kännchen? D ER P OLIZIST Natürlich Kännchen! Natürlich! D ER K ELLNER (ab) (Allgemeiner Tanz im Café Klups) D AS F RAEULEIN (erscheint und spricht mit dem Kellner) L UISE G IFT (erkennt sie und horcht) D AS F RAEULEIN Kennen Sie einen Herrn Alfred? D ER K ELLNER Herr Alfred müsste schon hier sein. Was wollen Sie? BKaffeeN, Tee, Schokolade -D AS F RAEULEIN BKaffeeN. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? D AS F RAEULEIN Ist mir gleich. (sie erblickt Luise Gift) L UISE G IFT Herr Alfred müsste schon hier sein. D AS F RAEULEIN So lass mich doch! L UISE G IFT (zum Kellner, tonlos) Schnaps. D ER K ELLNER Ha? L UISE G IFT (tonlos) Schnaps. Den billigsten Schnaps. (sie fasst sich an den Kopf und wankt) D ER K ELLNER Ist Ihnen schlecht, Frau Baronin? L UISE G IFT (rülpst) Vielleicht, Herr Baron. -- Es dreht sich, als hätt ich schon zuviel Schnaps -- das war ein billiger Schnaps -- der billigste (sie rülpst wieder und nähert sich torkelnd dem Fräulein) Jetzt ists vorbei. Radikal. D AS F RAEULEIN Freut mich. L UISE G IFT Sei nicht grausam, bitte. D AS F RAEULEIN Es freut mich für Dich. L UISE G IFT Das ist schön von Dir. (sie rülpst -- horcht, rülpst nochmal) Hörst Du mich? D AS F RAEULEIN Das ist Schnaps. L UISE G IFT Billigster Schnaps. Nur um den Kum-얍mer zu löschen, den Kummer -Du wirst mich mal verstehen -D AS F RAEULEIN Ich verzichte. L UISE G IFT Ich auch. Ich verpfusch Dich nicht, vielleicht findet mal eine in Südamerika das Glück. -- Ich wünsch es Dir. D AS F RAEULEIN Bitte, schau mich nicht an. L UISE G IFT Gestern hab ich ein Gedicht verfasst. Ich kann nämlich auch dichten. Wenn ich allein bin, dann dicht ich manchmal. Hier hab ichs. (sie entfaltet einen Zettel und liest) „Und ich suche und suche Dich, Du meine Seele, mein besseres Ich.“ Das ist das Gedicht. D AS F RAEULEIN Das aber kurz. L UISE G IFT Aber romantisch. Nimm es mit BDirN über das Meer. Ueber das romantische Meer. (sie rülpst) Und verlier es nicht. D AS F RAEULEIN (steckt den Zettel ein) 10 12 42

KaffeeN ] KaffeeN ] BDirN ] B B

korrigiert aus: Café korrigiert aus: Café korrigiert aus: dir

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Endfassung Rund um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

L UISE G IFT Wann fährst Du? D AS F RAEULEIN Das weiss nur Alfred. L UISE G IFT Und sein lieber Gott. (Pause) L UISE G IFT Gute Reise! D AS F RAEULEIN Danke. L UISE G IFT (will ab, wendet sich aber nochmals dem Fräulein zu) Was ich noch fragen wollte --: wo hast du heut Nacht geschlafen? D AS F RAEULEIN Warum? L UISE G IFT Ich möcht dort vorbeigehen. D AS F RAEULEIN Ich hab zwölf Mark verdient. L UISE G IFT Zwölf? -- In Deinem Alter hab ich das auch verdient. Umgerechnet, denn damals war ja alles billiger . Bin ich sehr hässlich? D AS F RAEULEIN Nein. L UISE G IFT (rülpst und ab.) 얍 (Allgemeiner Tanz im Café Klups) A LFRED (betritt das Café Klups, entdeckt das Fräulein, zieht sich mit ihr in eine Ecke zurück, das heisst: in den Vordergrund) Der Pass ist in Ordnung. Ditto die Karte. Zwischendeck. Morgen früh. D AS F RAEULEIN (betrachtet den Pass) Was bin ich? Kindergärtnerin? A LFRED Geben Sie acht! Wir werden beobachtet. D AS F RAEULEIN Ich wollt mal Kindergärtnerin werden. A LFRED Wenn Sie drüben sind, so grüssen Sie Herrn Ibanez und richten Sie, bitte, meine besten Empfehlungen an seine werte Gemahlin aus. D AS F RAEULEIN Ist Herr Ibanez verheiratet? A LFRED Sehr sogar. Er macht nichts ohne seine Frau. Sie brachte zwei Pariser Bordelle mit in die Ehe und er hat nämlich nur die Nutzniessung. D AS F RAEULEIN Wie sieht er denn aus, der Herr Ibanez? A LFRED Er könnt Generalsekretär sein. D ER G ENERALSEKRETAER (betritt rasch das Café Klups) D ER K ELLNER Sie wünschen? Kaffee , Tee, Schokolade -D ER G ENERALSEKRETAER Ich suche einen gewissen Herrn Alfred. D ER K ELLNER Was wollen Sie von ihm? D ER G ENERALSEKRETAER Das werde ich ihm selbst sagen. D ER K ELLNER Ein gewisser Herr Alfred ist mir unbekannt. D ER G ENERALSEKRETAER Leugnen Sie nicht! Ich weiss alles! Ja! A LFRED (tritt vor) Na was wissen Sie denn schon? Wer sind denn Sie? Ich bin der 얍 Gewisse. D ER G ENERALSEKRETAER Ich bin der Generalsekretär des internationalen Kongresses für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels -A LFRED (unterbricht ihn) Es gibt keine Mädchenhändler! D ER G ENERALSEKRETAER Sondern? A LFRED Na was wissen Sie denn schon? B N

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L UISE G IFT N ] billigerN ] BKaffeeN ] B B

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Absatz eingefügt Absatz eingefügt eingefügt korrigiert aus: billiges korrigiert aus: Café

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Endfassung Rund um den Kongress

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D ER G ENERALSEKRETAER Sie irren sich! Ich komme keineswegs mit feindlicher Absicht, ich spreche lediglich im Namen der zivilisierten Nationen. Der Kongress hat soeben einstimmig beschlossen, Damen und Herren aus dem Personenkreise der Prostitution über die Prostitution zu befragen, um die Prostitution wirksam bekämpfen zu können. Im Namen des Kongresses fordere ich Sie auf, an der Verwirklichung unserer hohen Ideale mitzuarbeiten! A LFRED Muss es sein? D ER G ENERALSEKRETAER Ihr Misstrauen entbehrt jeder Begründung. Der Kongress appelliert lediglich an den korrekten Fachmann in Ihnen. Der Kongress weiss, dass ein Fräulein nach Südamerika verkauft wird und der Kongress bittet Sie durch mich, ihm Gelegenheit zu gewähren, jenes Fräulein befragen zu können. Der achte Unterausschuss interessiert sich nämlich durch Mehrheitsbeschluss plötzlich für die psychologische Seite. Sozusagen die rein menschliche. Es dürfte ja voraussichtlich nur akademischen Wert -A LFRED (unterbricht ihn) Jenes Fräulein fährt in sechs Stunden. D ER G ENERALSEKRETAER Dann bitte ich Sie, 얍 jenes Fräulein sofort vor dem Kongress erscheinen zu lassen. Es steht zwar ein Bankett auf dem Programm, aber zwischen den Gängen -A LFRED (unterbricht ihn wieder) Garantieren Sie? D ER G ENERALSEKRETAER Natürlich. Ja! A LFRED Falls aber jenes Fräulein die Ueberfahrt versäumt -D ER G ENERALSEKRETAER -- werden Ihre Verluste ersetzt. A LFRED Zu hundert Prozent. D ER G ENERALSEKRETAER Natürlich! Ja! (Pause) A LFRED Was zahlen Sie, wenn jenes Fräulein vor dem Kongress erscheint? D ER G ENERALSEKRETAER Pardon! Es dreht sich doch nur um Informationen -A LFRED Egal! Wer lernt umsonst? Nicht unter fünfzig Mark. D ER G ENERALSEKRETAER Vierzig Mark. A LFRED Fünfzig. D ER G ENERALSEKRETAER Fünfundvierzig. A LFRED Fünfzig. D ER G ENERALSEKRETAER Achtundvierzig. A LFRED Schämen Sie sich. D ER G ENERALSEKRETAER Der Kongress muss sparen und so kann ich mich nicht schämen. Ich bin Beamter. A LFRED Ein sparsamer Mensch. D ER G ENERALSEKRETAER Achtundvierzig? A LFRED Nehmen Sie es zu Protokoll, dass ich dem Kongress zwo Mark schenke. Für Wiederinstandsetzung gefallener Mädchen. D ER G ENERALSEKRETAER Ich danke Ihnen für Ihre hochherzige Stiftung im Namen des Kongresses. (er grinst, verbeugt sich und ab) F ERDINAND (betritt das Café Klups, setzt sich und klopft mit dem Spazierstock auf den 얍 Tisch; fröhlich) Kaffee ! Kaffee ! Kaffee ! B

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KaffeeN ] KaffeeN ] BKaffeeN ] B B

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Endfassung Rund um den Kongress

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D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? F ERDINAND Ein Kännchen! Auf Herrn Alfreds Rechnung! D ER K ELLNER Das kann jeder sagen. F ERDINAND Herr Alfred ist mein Bruder, Herr! D ER K ELLNER (zu Alfred) Alfred! Kann das Dein Bruder sein? D AS F RAEULEIN (erblickt Ferdinand, schreit gellend auf und taumelt zurück) (Alles verstummt) F ERDINAND (ist aufgesprungen und starrt das Fräulein an) -- nein, so ein Zufall -- ein Zufall -(Stille) A LFRED Kennt Ihr Euch? F ERDINAND Jawohl. A LFRED Wie kennt Ihr Euch? D AS F RAEULEIN (hat sich gefasst) Ich bin nur erschrocken. F ERDINAND Ist das jenes Fräulein, das wir nach Südamerika verkaufen? A LFRED Yes. F ERDINAND Komisch. A LFRED Wieso? F ERDINAND Das Fräulein war mal nämlich meine Frau. D AS F RAEULEIN (rasch ab) A LFRED (ihr nach) F ERDINAND (sieht ihnen nach, setzt sich dann mechanisch und nippt von seinem Kaffee ) (Musiktusch)

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Ende des vierten Bildes.

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FUENFTES BILD.

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D ER K ONGRESS (beim Bankett mit diskreter Tafelmusik von Mozart) (Fressen und Saufen) D ER G ENERALSEKRETAER (erhebt sich nervös) Hochzuverehrender Herr Präsident! Mit ehrlicher Ehrfurcht, rein menschlichem Stolz und tatsächlich aufrichtiger Dankbarkeit dürfen wir im Namen unserer Nachwelt die überragenden Verdienste des Kongresses rühmend erwähnen und feiern. Ja! E IN L AKAI (lässt eine Schüssel fallen, die klirrend zerbricht) D ER K ONGRESS (zuckt nervös zusammen) D ER G ENERALSEKRETAER Das Unselbstische unserer Arbeit bietet die beste Gewähr für den endlichen Sieg unserer Ideale, den Triumph des An-sich-Seelischen über das An-sich-Körperliche, -E IN D ELEGIERTER (mit vollem Maul) Bravo! Bravo! E INE D ELEGIERTE Hört! Hört! B N

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KaffeeN ] ] BTriumphN ] B

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korrigiert aus: Café Absatz eingefügt korrigiert aus: Triumpf

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D ER G ENERALSEKRETAER -- die Herrschaft der gereinigten Liebe und die unwiderrufliche Ausrottung der käuflichen Fleischeslust. Ja! Und so erhebe ich nun im Namen des Kongresses mein Glas auf das geistige Wohl unseres hochverdienten Präsidenten, des Generaldirektors der Vereinigten künstlichen Oelwerke, des wirklichen Geheimen Rates Dr. Dr. honoris causae! D ER K ONGRESS Hoch! Hoch! Hoch! (Fressen und Saufen) E IN D ELEGIERTER (leise zu seinem Nachbar) Wie heisst der Präsident? S EIN N ACHBAR Honoris Causae. D ER D ELEGIERTE Das klingt romanisch. D ER N ACHBAR Ist aber ein guter Deutscher. 얍 D ER P RAESIDENT (erhebt sich) Mein Kongress! Indem ich mir erlaube für das mir dargebrachte seltene Vertrauen zu danken, begrüsse ich vor allem den anwesenden Vertreter des Kriegsministeriums. H AUPTMANN (der in dieser Eigenschaft am Bankett teilnimmt, verbeugt sich leicht) E INE D ELEGIERTE Hurrah! D ER P RAESIDENT Hoffen wir auf die tatkräftige Hilfe der beteiligten Ressorts. Dann bin ich überzeugt, dass wir bis zum nächsten Kriege gewaltige Fortschritte erzielt haben werden. Danke meine Damen und Herren! (er setzt sich) D ER K ONGRESS (erhebt sich, trinkt sich zu und setzt sich) (Fressen und Saufen) E IN L AKAI (eilt herbei und überbringt dem Generalsekretär ein Telegramm) D ER G ENERALSEKRETAER (öffnet es hastig, liest und erbleicht) D ER K ONGRESS (starrt ihn erwartungsvoll an) D ER G ENERALSEKRETAER (erhebt sich) Leider hat es Gott dem Allmächtigen laut seines unerforschlichen Ratschlusses gefallen, ausgerechnet den Vertreter des Wohlfahrtsministeriums soeben vom Schlage treffen zu lassen. Ja! (er setzt sich) E IN D ELEGIERTER Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse --? E IN ANDERER D ELEGIERTER Oh, bitte! D ER ERSTE D ELEGIERTE Oh, danke! (Fressen und Saufen) E IN DRITTER D ELEGIERTER Ja da nimmt man am besten etwas Sahne und röstet die Zwiebel -- kennen Sie Mazzesknedl? E INE D ELEGIERTE Ach! Betreffs der körperlichen Ertüchtigung unserer Jugend bin ich nämlich Laie. E IN VIERTER D ELEGIERTER Wie interessant! Wie 얍 interessant! D ER ERSTE D ELEGIERTE Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse --? E IN FUENFTER D ELEGIERTER Da lob ich mir eine Weltanschauung. F. Nietzsche sagt -E IN SECHSTER D ELEGIERTER Warum? Nur darum? D IE D ELEGIERTE Genau so! Genau so! E IN SCHWERHOERIGER D ELEGIERTER Ich zum Beispiel bin schwerhörig. E IN KURZSICHTIGER D ELEGIERTER Ich zum Beispiel bin kurzsichtig. D ER DRITTE D ELEGIERTE Wa? Wie? Mayonnaise? Mayonnaise ? Nicht möglich! E INE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Stolz weht und treu die Wacht am Rhein! B N

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] NietzscheN ] BMayonnaise? MayonnaiseN ] B N B

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Absatz eingefügt korrigiert aus: Nietsche korrigiert aus: Mayonaise? Mayonaise

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D ER Z WEITE D ELEGIERTE Kennen Sie den? Zwei Radfahrer treffen sich in Czernowitz -D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Vater, ich rufe Dich! D ER VIERTE D ELEGIERTE Wissen Sie, was das Grundstück heute wert ist? D ER SECHSTE D ELEGIERTE Nein, ich bin kein Antisemit. D ER ERSTE D ELEGIERTE Jedoch. Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse --? E INE DRITTE D ELEGIERTE Mein Vater war kommandierender General. D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Ach! Wo? D IE DRITTE D ELEGIERTE In Luzern. D AS F RAEULEIN (erscheint vor dem Kongress) D ER K ONGRESS (starrt sie verdutzt an) (Pause) D AS F RAEULEIN Als ich acht Jahr alt war, starb mein Vater, während meine Mutter noch lebt. Aber wir wollen nichts voneinander wissen, denn sie hat meinen Vater nicht ausstehen können. Ich hab sehr bald verdienen müssen, weil nichts da war, aber die ersten Jahre hat es mir nirgends gefallen, weil ich 얍 boshaft behandelt worden bin. Ich lernte nähen. (Pause) D ER P RAESIDENT Was soll das? Wer ist denn die Person? D ER G ENERALSEKRETAER Pardon! Die Damen und Herren scheinen vergessen zu haben: diese Person ist jenes Fräulein, das nach Südamerika verkauft wird. D ER P RAESIDENT Achjaja -D ER G ENERALSEKRETAER Laut Beschluss unseres achten Unterausschusses -E INE D ELEGIERTE (erhebt sich und unterbricht ihn) Ich führe den Vorsitz im achten Unterausschuss. Wir hatten einstimmig beschlossen, diese Person zu analysieren, um auch von der seelischen Seite her die Prostitution bekämpfen zu können. D ER V ORSITZENDE Achjaja -D IE V ORSITZENDE Wir legen dieser Person drei Fragen vor. Erstens: ob sie sich freiwillig oder gezwungenermassen verkauft? Zweitens: wenn freiwillig, dann wieso? Drittens: wenn gezwungenermassen, dann warum? D ER G ENERALSEKRETAER Also, bitte, Fräulein, antworten Sie. Ja! D AS F RAEULEIN Ich bin Kindergärtnerin. D ER V ORSITZENDE Lassen Sie das, wir sind unter uns! D ER G ENERALSEKRETAER Hat man Sie gezwungen, Kindergärtnerin zu werden? D AS F RAEULEIN (schweigt) D ER G ENERALSEKRETAER Ja oder nein? D AS F RAEULEIN (schweigt) D ER G ENERALSEKRETAER So antworten Sie doch, bitte! Ja! 얍 D ER P RAESIDENT Na los! Los ! Los ! D AS F RAEULEIN Ich habs mir überlegt. D ER G ENERALSEKRETAER Geben Sie acht! Hat Sie jener Herr Alfred etwa gezwungen --? A LFRED (tritt rasch vor den Kongress) Halt! Ich verbitte mir jede Verdächtigung! Bitte, Fräulein, sagen Sie es dem Kongress: hab ich Sie gezwungen oder sind Sie mir denn nicht direkt nachgelaufen? Antwort, bitte! B

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D AS F RAEULEIN Ich bin Ihnen direkt nachgelaufen. A LFRED Na also! D ER G ENERALSEKRETAER Pardon, Herr, aber unsereins hört so mancherlei -A LFRED Es gibt überhaupt keinen Mädchenhandel. Es gibt lediglich Stellenvermittler und das gewaltsame Fortschleppen der Fräuleins ist Quatsch! E IN D ELEGIERTER (erhebt sich) Pardon, aber das dürfte stimmen. A LFRED Und ob! D ER D ELEGIERTE Ich bin Sanitätsrat in Santa Fé de Bogota und an Hand meiner reichen persönlichen Erfahrungen sehe ich die Ururursache der Prostitution in einer gewissen Degeneration. A LFRED Na was denn sonst! D ER S ANITAETSRAT In einer gewissen Entartung. Vor allem einzelner Muskelpartien. A LFRED Na klar! (er zündet sich eine Zigarette an) D ER S ANITAETSRAT In Santa Fé de Bogota ist das Wetter meistens schön. (er sieht in weite Fernen) D ER P RAESIDENT (lacht über einen Witz, den ihm sein Nachbar erzählt hat) -- wie? Und dann hat er gesagt sie wäre -S EIN N ACHBAR Kennen Sie den? Zwei Radfahrer 얍 treffen sich in Czernowitz -- (er flüstert) A LFRED Sagen Sie, Herr Sanitätsrat, würde sich nach Ihrer Erfahrung der Export nach Santa Fé de Bogota rentieren? D ER S ANITAETSRAT Sicherlich! Ich kenne jedes Bordell in meinem Vaterlande und kann Ihnen daher mit dem besten Gewissen nur raten, zu exportieren. Leider Gottes sind derlei Geschäfte ungemein vorteilhafte Kapitalanlagen . A LFRED Hm. (er rechnet in seinem Notizbuch) D ER S ANITAETSRAT Meine sehrverehrten Kongresskommilitonen! Meiner Ueberzeugung nach kann bei einem etwaigen Exporte, zum Beispiel nach meiner Heimat, von einer Zwangslage der Exportierten nicht gesprochen werden. Wir sind doch immerhin noch Menschen und haben unseren freien Willen. Ich wiederhole: es ist lediglich Degeneration. (er setzt sich wieder, frisst und sauft) A LFRED Lediglich. (er rechnet mit dem Finger in der Luft) Lediglich. S CHMINKE (erscheint) D ER G ENERALSEKRETAER (schnellt empor und starrt ihn an) S CHMINKE (zu Alfred) Lediglich? Lügen Sie nicht, lügen Sie nicht. A LFRED (sieht ihn nicht, er hat noch den Finger in der Luft) Hat wer was gesagt? S CHMINKE Hier dreht es sich nicht um Degeneration. A LFRED Sondern? S CHMINKE Sondern lediglich um wirtschaftliche Not. A LFRED Natürlich. Aber als Kaufmann muss man doch mit der wirtschaftlichen Not 얍 rechnen. Mit der Bedürfnisfrage. Wo käm man denn hin? D AS F RAEULEIN (zu Alfred) Mit wem sprechen Sie? S CHMINKE Mit mir. D AS F RAEULEIN (starrt ihn ängstlich an) A LFRED Mir wars nur, als hätt wer was gesagt - was ganz blödes -- (er rechnet weiter) S CHMINKE (zum Fräulein) Fräulein, vielleicht finden Sie es eigenartig, dass ich Sie B

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(lachtN ] KapitalanlagenN ]

korrigiert aus: )lacht korrigiert aus: Kapitalsanlagen

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anspreche und dass es sich dabei um Prinzipielles dreht. Ich kenne Sie. Es dreht sich hier nicht um Sie persönlich. D AS F RAEULEIN (weicht scheu zurück) S CHMINKE Ich persönlich will nichts. D AS F RAEULEIN Sie reden wie ein Buch. S CHMINKE Bitte bilden Sie sich ein, Sie wären ein Buch und existierten in Millionen Exemplaren. Allein Ihre deutsche Ausgabe hat bereits die hundertste Auflage überschritten. Ich kenne das Buch. Ich kenne die Leser. Ich kenne den Verfasser! D AS F RAEULEIN Ich versteh Sie nicht. S CHMINKE Ich versteh, was Sie wollen und weiss, was Sie müssen. D ER G ENERALSEKRETAER (hat sich gefasst und schreit Schminke an) Raus! Raus! Augenblicklich raus! S CHMINKE Machen Sie sich nicht lächerlich! D ER G ENERALSEKRETAER Ich pflege mich nicht lächerlich zu machen, Sie! Raus! Raus! Oder -S CHMINKE (unterbricht ihn) Was oder? Wer mir droht, den lach ich aus! Sie vergessen: ich bin ja bereits ausgezählt. Hier steht eine Idee, Herr Generalsekretär! Lassen Sie es sich sagen: selbst wenn das Fräulein degeneriert sein sollte, so verkauft sie sich dennoch lediglich unter dem Zwange 얍 der wirtschaftlichen Not, als Folge der bürgerlichen Produktionsverhältnisse! D ER G ENERALSEKRETAER (wischt sich den Schweiss von der Stirne und setzt sich erschöpft) D ER P RAESIDENT (zum Generalsekretär) Ist Ihnen schlecht? D ER G ENERALSEKRETAER Zur Zeit -D ER P RAESIDENT Wohl noch die gestrige Affaire? D ER G ENERALSEKRETAER Ja. D IE V ORSITZENDE Was war das für eine Affaire? D ER S ANITAETSRAT Unser lieber Herr Generalsekretär wurde gestern von einem Raubmörder überfallen. H AUPTMANN Wir musstn sogar von der Schusswaffe Gebrauch machn. D IE V ORSITZENDE Ah! S CHMINKE Das war kein Raubmörder. D ER G ENERALSEKRETAER (verzweifelt) So schweigen Sie doch! Schweigen Sie, ja! (Stille) D ER P RAESIDENT Mit wem reden Sie denn da? D ER G ENERALSEKRETAER Mit dem dort -D ER P RAESIDENT (glotzt Schminke an) Wo? D ER G ENERALSEKRETAER Sehen Sie denn nicht --? D ER P RAESIDENT Ich sehe überhaupt nichts. D ER S ANITAETSRAT (zum Generalsekretär) Ich glaube, Herr Generalsekretär sind überarbeitet -- darf ich Ihren Puls -- (er fühlt ihn) Ja, Sie opfern sich für uns. S CHMINKE (grinst) D ER G ENERALSEKRETAER Jetzt lacht er. D ER S ANITAETSRAT Wer? D ER G ENERALSEKRETAER Dort. Jener. B

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D ER P RAESIDENT (nervös) Wer jener? Ich seh keinen jenen! Wer sieht hier jenen? Meine Damen und Herren! Wer jenen sieht, der erhebe sich bitte! (niemand erhebt sich) 얍 D ER P RAESIDENT Niemand. Hier sieht niemand was. (zu Alfred) Sehen Sie vielleicht jenen? A LFRED Nee. D AS F RAEULEIN Ich hab was gehört. D ER P RAESIDENT Was denn? S CHMINKE Mich. H AUPTMANN (erhebt sich) Meiner Seel, jetzt hab ich auch was gehört. (er deutet plötzlich auf Schminke) -- dort! Jenen! Mir scheint gar, des is a Jud. D ER G ENERALSEKRETAER Jener behauptet, er sei eine Idee. D ER P RAESIDENT Wie kommt hier der Jud herein? D ER G ENERALSEKRETÄR Er behauptet, dass mit der Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse auch die aus ihnen hervorgehende Prostitution verschwinden wird. Schrecklich! D ER P RAESIDENT Ein Bolschewist! D ER S ANITAETSRAT Wie töricht! D IE V ORSITZENDE Die Prostitution ist zu tief in uns Menschen verankert. A LFRED Sehr richtig. D IE V ORSITZENDE Eine Aenderung der Produktionsverhältnisse kann und kann die Prostitution nimmermehr irgendwie, mit Verlaub zu sagen, beeinflussen! Alles auf das Materielle zurückzuführen, das hiesse doch die Seele leugnen! S CHMINKE (lacht) E IN D ELEGIERTER (springt erregt empor) Lachen Sie nicht, junger Mann! Ich bin Studienrat in Lissabon und wenn Sie mal zwanzig Jahre älter sind, dann denken Sie auch anders darüber! S CHMINKE Ueber was? D ER S TUDIENRAT Ueber Gott. S CHMINKE Kaum. D ER S TUDIENRAT Abwarten! (er deklamiert) Rasch 얍 tritt der Tod den Menschen an S CHMINKE (unterbricht ihn) Ich bin kein Mensch, ich bin doch eine Idee. Sie Idiot! D ER S TUDIENRAT (brüllt) Zur Geschäftsordnung! Z URUFE Bravo! Sehr wahr! Richtig! D ER G ENERALSEKRETAER (erhebt sich) Zur Geschäftsordnung. (er setzt sich) D ER VIERTE D ELEGIERTE (erhebt sich) Wir lassen uns nicht beirren. Der Kongress lässt sich nicht nehmen, an der Zusammenarbeit der Völker symbolisch mitzuwirken. Ich würde mich ehrlich freuen, wenn das schöne Zusammenarbeiten der kommerziellen Kreise -D ER P RAESIDENT (unterbricht ihn) Der Wirtschaft! D ER VIERTE D ELEGIERTE Natürlich der Wirtschaft. S CHMINKE Das Kapital. D ER P RAESIDENT Natürlich das Kapital! Ich verbitte mir diese ständigen Selbstverständlichkeiten! D ER VIERTE D ELEGIERTE Wer würde sich nicht freuen über das völkerversöhnende B

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korrigiert aus: herein.

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Hand-in-Hand-Arbeiten des Kapitals, wo es gilt Kulturgüter zu schützen?! Zur Geschäftsordnung! (er setzt sich und leert hastig sein Glas) D ER ERSTE D ELEGIERTE Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse -D ER S ANITAETSRAT Oh, bitte! D ER ERSTE D ELEGIERTE Oh, danke! (Fressen und Saufen) S CHMINKE Ich ersuche den Kongress, das Fräulein nicht zu vergessen. D ER S TUDIENRAT (wirft wütend seine Gabel auf den Boden) 얍 (Fressen und Saufen) D IE V ORSITZENDE (erhebt sich) Erlauben Sie mir nun zur zweiten Frage überzugehen, da wir bereits festgestellt haben, dass sich diese Person aus freien Stücken verkauft. S CHMINKE Lügen Sie doch nicht! D IE V ORSITZENDE (kreischt) Keine Kritik! Keine Kritik! S CHMINKE Sie wissen es doch, dass das Fräulein lediglich ein Opfer der bürgerlichen Produktionsverhältnisse ist! D IE V ORSITZENDE (kreischt) Für die Allgemeinheit zu wirken ist Mannespflicht. / Einen Dank dafür erwart Dir nicht. / Faulpelze und Quertreiber können Erfolg nicht leiden. / Um deren Gunst bist Du wahrlich nicht zu beneiden! (sie bricht auf ihrem Stuhl zusammen und schluchzt) D ER P RAESIDENT (zu Schminke) Was wollen Sie hier eigentlich?! S CHMINKE Beweisen, dass Sie Betrüger sind! D ER P RAESIDENT Zur Geschäftsordnung! D IE V ORSITZENDE (kreischt) Zur Geschäftsordnung! D ER G ENERALSEKRETAER (erhebt sich) Wir hörten soeben ein schlimmes Wort. Das Wort „Betrüger“. Selbst wenn wir uns die Argumentation verantwortungsloser Berufshetzer zu eigen machen, dass sich nämlich dies Fräulein ausschliesslich unter dem Zwange ihrer wirtschaftlichen Not verkauft, so entkräftigen wir dennoch jede Gemeinheit mit der frommen Feststellung, dass es in keines Menschen Macht liegt, die, zuguterletzt auch über dem Kongress lastende, wirtschaftliche Not zu beseitigen. (er leert sein Sektglas) Z URUFE Hört! Hört! 얍 S CHMINKE Sagen Sie nur nicht „Erbsünde“ statt „Kapitalismus“! A LFRED Was mich betrifft, so glaub ich an Gott. S CHMINKE Sie müssen es ja wissen. A LFRED Dem einen hilft der liebe Gott und dem anderen hilft er nicht. S CHMINKE Man müsste den lieben Gott besser organisieren. A LFRED Halt ich für ausgeschlossen. S CHMINKE Hat er Ihnen geholfen? A LFRED Gottseidank! S CHMINKE (grinst) Der liebe Gott wird mir immer sympathischer D ER P RAESIDENT Zur Geschäftsordnung! D ER G ENERALSEKRETAER (leert noch ein Glas Sekt) Ich bin schon heiser, aber weiter! Nicht nur dieses Fräulein, sondern Millionen Fräuleins leiden unter akkurat derselben typischen Not, ohne sich dieserhalb zu verkaufen. Wir kommen jetzt zum B

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korrigiert aus: Hand-in-Handarbeiten

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

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psychologischen Kern. Wir fragen das Fräulein: warum verkaufen Sie sich? Warum bringen Sie sich nicht um? D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Wäre ich gezwungen zwischen Tod und Prostitution zu wählen -D IE V ORSITZENDE (schnellt empor und unterbricht sie kreischend) Meine Herren! Wir alle würden uns erschiessen!! Z URUFE Bravo! Bravo! D AS F RAEULEIN Ich wollt mich schon mal umbringen, aber dann hab ich mir gedacht, ich verkauf mich doch lieber. Weil es leichter geht. (Pause) D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Ist das noch ein Mensch? D ER S TUDIENRAT Ist denn diese schamlose Person bar jeder menschlichen Scham? 얍 D ER P RAESIDENT Bitte Herr Studienrat nehmen Sie trotz Ihrer berechtigten Empörung Rücksicht auf die anwesenden Damen. D ER S TUDIENRAT An mir zittert alles -D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE (zum Generalsekretär) Bitte fragen Sie doch die Person, ob sie den Begriff „reine Liebe“ kennt? D ER G ENERALSEKRETAER Fräulein, kennen Sie -D AS F RAEULEIN (unterbricht ihn) Nein. D ER G ENERALSEKRETAER Und warum nein? D AS F RAEULEIN Weils das nicht gibt. H AUPTMANN (lacht hellauf) D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Charmant! D ER G ENERALSEKRETAER Geben Sie acht, Fräulein! Woher wollen Sie wissen, dass es keine reine Liebe gibt? D AS F RAEULEIN Ich war mal verheiratet. D ER S TUDIENRAT Korrekt? D AS F RAEULEIN Sogar kirchlich. Aber nicht lang. D ER G ENERALSEKRETAER Weshalb nicht lang? D ER P RAESIDENT Bitte um eine zusammenfassende Darstellung! D AS F RAEULEIN Mein Mann war sehr moralisch. Er hatte ein Zigarettengeschäft und liess sich scheiden, weil ich mal mit einem fremden Herrn zu einer Gartenunterhaltung ging. Mein Mann hiess Ferdinand. D ER P RAESIDENT Weiter! D AS F RAEULEIN Dann liess mich aber auch der fremde Herr stehen, weil ich ihm auf die Dauer zu langweilig war. Ich glaub, er war ein Schuft. H AUPTMANN So wird man zum Schuft, meine Sehrverehrten! D ER S TUDIENRAT Toll! Fürwahr! H AUPTMANN Ein Cabaret! D ER P RAESIDENT (höhnisch) Das gnädige Fräulein hofften wohl wieder kirchlich getraut zu werden? 얍 D ER S ANITAETSRAT (kichert) D AS F RAEULEIN Nein. D ER G ENERALSEKRETAER Sondern? B N

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D AS F RAEULEIN Ich hätt nur nicht gedacht, dass er mich hernach sofort stehen lässt. Heut bin ich ihm ja nichtmehr bös. D ER P RAESIDENT (spöttisch) Was Sie nicht sagen! D AS F RAEULEIN Er hiess Arthur. D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Weiter! D AS F RAEULEIN Dann gings halt so dahin mit mir. D ER P RAESIDENT Wohin? D AS F RAEULEIN Ich hatte halt nichts. D ER P RAESIDENT (grinst) Keinen Arthur? D AS F RAEULEIN Kein Geld. D ER S ANITAETSRAT Wer arbeiten will, der kann. S CHMINKE Verzeihung! Sie sind doch Sanitätsrat? D ER S ANITAETSRAT Ja. Und? S CHMINKE Ihr Vater war doch Fabrikbesitzer? D ER S ANITAETSRAT Wer arbeiten will, der kann. S CHMINKE Und Sie heirateten die Tochter eines Juweliers aus der Bremerstrasse. D ER S ANITAETSRAT (brüllt Schminke an) Wer arbeiten will, der kann!! D AS F RAEULEIN Ich konnt nicht. D ER S ANITAETSRAT (schlägt mit der Faust auf den Tisch) Ich verbitte mir das! D AS F RAEULEIN (zuckt die Achsel) D ER P RAESIDENT Also das mit dem Nichtkönnen ist keineswegs zwingend. D AS F RAEULEIN (zuckt die Achsel) D ER S TUDIENRAT Faul und frech. D ER S ANITAETSRAT Und degeneriert. D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE (zum Generalsekretär) Bitte, Herr Generalsekretär fragen Sie doch diese degenerierte Person, ob ihr die Ausübung ihres schändlichen Ge-얍werbes besondere Lust bereitet? D AS F RAEULEIN Pfui! A LFRED (sieht auf seine Uhr) Darf ich den Kongress darauf aufmerksam machen, dass sich das Fräulein bald einschiffen muss. Es wird allmählich Zeit. Ich bitte also die Fragen -D ER P RAESIDENT (unterbricht ihn) Ich glaube, der Kongress kann auf weitere Fragen verzichten. Wir haben soeben schaudernd einen Fall ausserordentlicher Gefühlsroheit erlebt. S CHMINKE Wann werden Sie Wohlfahrtsminister? D ER P RAESIDENT Zur Geschäftsordnung! D ER G ENERALSEKRETAER (erhebt sich) Herr Alfred! Es bereitet mir eine besondere Freude und Ehre, Ihnen für Ihre aufopferungsvolle Mitarbeit den tiefempfundenen Dank des internationalen Kongresses für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels aussprechen zu dürfen. Ihre solide Sachkenntnis lieferte dem Kongress neue Waffen, neuen Mut, neue Ausdauer in seinem homerischen Kampfe gegen die Hydra der Prostitution, in einem mörderischen Schlachten, das zuguterletzt schlechterdings den Sieg des Irrationalen über das Rationale erstrebt! S CHMINKE Bravo! D ER G ENERALSEKRETAER Ich erhebe mein Glas auf Ihr ganz Spezielles -- (er trinkt auf Alfreds Wohl) A LFRED (verbeugt sich vor dem Kongress)

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D ER K ONGRESS (applaudiert) (Musiktusch) D ER K ONGRESS (erhebt sich, weil es nun nichts mehr zum Fressen und Saufen gibt, da das Bankett zu Ende ist) (die Kapelle spielt nun einen flotten Militärmarsch) 얍 D ER G ENERALSEKRETAER (tritt zu Alfred und drückt ihm die Hand) Bitte hätten Sie nur noch die Liebenswürdigkeit, diesen Fragebogen über die Technik des Mädchenhandels auszufüllen -- (er überreicht ihm einen Bogen) Es ist ein gedruckter Fragebogen, weil wir ja ungefähr fünftausend Persönlichkeiten aus dem Bereiche des Mädchenhandels befragen wollen. A LFRED Zur Geschäftsordnung. D ER G ENERALSEKRETAER Ich wollte ja soeben -- (er überreicht ihm ein Couvert) Hier das Honorar. A LFRED (zählt das Geld nach und schiebt es befriedigt ein) Es bereitet mir eine besondere Freude und Ehre, mich in meinem Namen bedanken zu dürfen. D ER G ENERALSEKRETAER (verbeugt sich) A LFRED (klopft ihm auf die Schulter) Wenn Sie mich wiedermal benötigen sollten -: ich stehe dem Kongress jederzeit mit Rat und Tat zur Verfügung. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich wohl in vierzehn Tagen eine brünette Witwe nach Santa Fé de Bogota verkaufen -D ER G ENERALSEKRETAER Sie hören noch von mir! (er schüttelt ihm die Hand, verbeugt sich, entdeckt Schminke und fixiert ihn) E INE ELEGANTE D ELEGIERTE Herr Alfred! Ich würde mich sehr freuen, Sie Donnerstag Abend bei mir begrüssen zu können. Darf ich Sie erwarten? Ich veranstalte ein kleines Privatkonzert zugunsten gefährdeter Mädchen. Mein Onkel erhielt bei dem letzten Autoschönheitswettbewerb den ersten Preis. A LFRED (küsst ihre Hand) H AUPTMANN (zur eleganten Delegierten) Pardon, 얍 Gnädigste! Darf ich Ihnen meinen Arm -- gibt nämli no a kalts Buffet -- (ab mit ihr) A LFRED Das aber ein eifersüchtiger Soldat -- (er füllt den Fragebogen aus) D ER G ENERALSEKRETAER (zu Schminke) Darf ich Sie fragen, ob Sie nun endlich den Platz räumen wollen? S CHMINKE Machen Sie sich nicht lächerlich. D ER G ENERALSEKRETAER Sie haben mich das Bankett über in die grösste Verlegenheit gestürzt. Es hat mir schon nichtsmehr geschmeckt. Jetzt kommt das kalte Buffet. Wollen Sie mir noch immer den Appetit verderben? S CHMINKE So kleinlich bin ich ja gar nicht. D ER G ENERALSEKRETAER Aber Sie wirken noch kleinlicher. Bitte lassen Sie mich jetzt aufatmen, es folgt der gesellige Teil. S CHMINKE (grinst) Ich liebe die Geselligkeit. (Pause) D ER G ENERALSEKRETAER (grinst) So wird man sich an Sie gewöhnen müssen - Hoffen Sie nur nicht, dass ich an einem inneren Zwiespalt zugrundegehen kann. Ich sage Ihnen das als Generalsekretär. Ja! (er lässt ihn stehen) D ER K ONGRESS (allmählich ab an das kalte Buffet)

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D AS F RAEULEIN (zu Alfred, der den Fragebogen ausfüllt) Wann kann ich denn fort? A LFRED Sofort. D AS F RAEULEIN Es wird allmählich Zeit. A LFRED Ja. D AS F RAEULEIN Zu so einer Sache bringen Sie mich aber nicht mehr. Da geh ich schon lieber mit einem, der Prothesen hat. A LFRED Kusch, Fräulein! Das ist nämlich ein komplizierter Fragebogen. 얍 D AS F RAEULEIN Diese ganzen Fragen haben doch gar keinen Sinn -- was man den Leuten antwortet, das glauben sie ja nicht. Man regt sich nur unnötig auf. A LFRED Quatsch! Sie werden doch dafür bezahlt. Hier haben Sie Ihre zwo Mark. D AS F RAEULEIN Sie sagten doch drei -A LFRED (unterbricht sie) Irren ist menschlich! (Pause) D AS F RAEULEIN Ich hab Hunger. A LFRED Beherrschen Sie sich, bitte! Ja? D AS F RAEULEIN (starrt plötzlich hinaus) Jetzt kommt er. A LFRED Wer? D AS F RAEULEIN Unser Ferdinand. F ERDINAND (kommt und verbeugt sich vor dem Fräulein) D AS F RAEULEIN (nickt) F ERDINAND (unterdrückt) Alfred. A LFRED (ebenso) Ha? D AS F RAEULEIN (horcht) F ERDINAND Ich hab es mir überlegt. A LFRED Was denn? F ERDINAND Das südamerikanische Geschäft. A LFRED Was heisst das? F ERDINAND Das heisst, dass ich Dich bitte: gib mir meinen halben lieben Gott zurück. A LFRED Meschugge? F ERDINAND Nein, ich meine das nur rein menschlich. Ich habe doch nicht gewusst, dass wir dieses Fräulein verkaufen --A LFRED Rein menschlich darf man überhaupt kein Fräulein verkaufen! F ERDINAND Das ist zweierlei. Nämlich ich bin so menschlich, dass mir nichts 얍 menschliches fremd ist und deshalb versteh ich es ja auch, wie man ein Fräulein verkaufen kann, verdamm es nicht, sondern beteilige mich gegebenenfalls. Aber gerade dieses eine Fräulein -- sie ist mir doch immerhin mal nahe gestanden. A LFRED Kusch! Geschäft ist Geschäft! F ERDINAND Ich verkauf jede, nur jene nicht. Ich weiss nicht, warum nicht. Das ist keine Sentimentalität. Weissgott, was das ist! A LFRED Kusch! Wenn ich Dir jetzt Deinen halben lieben Gott zurückgeben würde -wie steht es denn dann mit Deinem Kännchen? F ERDINAND (starrt ihn an) A LFRED Mit Deinem Kännchen Kaffee ? F ERDINAND (ist sprachlos) A LFRED Du tust doch alles nur um das Kännchen -B

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F ERDINAND Ja, das Kännchen -A LFRED Denk real und reell! Tasse oder Kännchen? (Pause) F ERDINAND (nach innerem Kampfe) Tasse. A LFRED Nimmermehr wirst Du Dein Kännchen -F ERDINAND (unterbricht ihn, bösartig) Gut! Trink ich kein Kännchen! S CHMINKE Halt! Sie werden Ihr Kännchen trinken! Sie vergessen wohl, dass dem Fräulein persönlich nicht geholfen werden kann! Prinzipiell! D AS F RAEULEIN Finden Sie? S CHMINKE Ja! F ERDINAND (erkennt Schminke) Prinzipiell -S CHMINKE Nach den unerbittlichen Gesetzen der kapitalistischen Gesellschaft muss das Fräulein in Südamerika enden. Krank, verkommen und vertiert! A LFRED Na hörst Du? F ERDINAND Prinzipiell --얍 S CHMINKE Wir sehen einen typischen Fall -F ERDINAND (unterbricht ihn) Wir wollen es doch sehen! Ich erkläre hiermit mit erhobener Stimme, dass ich auf die Hälfte meines lieben Gottes verzichte, dass ich das Fräulein wieder zu meiner Frau mache, dass ich mit der anderen Hälfte meines lieben Gottes abermals ein bescheidenes Zigarettengeschäft gründe und, dass ich nie wieder in meinem Leben nach einem Kännchen Kaffee trachten werde! S CHMINKE (zum Generalsekretär) Hören Sie sich das nur mal an, Herr Generalsekretär! D ER G ENERALSEKRETAER Was soll ich denn hören? S CHMINKE Das Fräulein wird nicht verkauft, sondern geehelicht. D ER G ENERALSEKRETAER Oho! Zur Geschäftsordnung! F ERDINAND Verzeihung! Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Wer ist denn das? D ER G ENERALSEKRETAER Der Kongress. F ERDINAND Zur Bekämpfung des Mädchenhandels? D ER G ENERALSEKRETAER Ja! F ERDINAND So wird es Sie freuen, dass es mir gelungen ist, das Fräulein zu retten. D ER G ENERALSEKRETAER Zur Geschäftsordnung! S CHMINKE Ich protestiere gegen diese Verfälschung der wirklichen Verhältnisse durch die sogenannte Menschlichkeit dieses Herrn! D ER G ENERALSEKRETAER Im Namen des Kongresses schliesse ich mich diesem Proteste an. Wo kämen wir denn hin, wenn wir für das Studium einer Prostituierten achtundvierzig Mark bezahlen würden und dann würde es sich plötzlich herausstellen, dass wir ja nur das Seelenleben einer kleinbürgerlichen Ehefrau durchleuchtet haben! 얍 Ich wäre die längere Zeit Generalsekretär gewesen! Sie mit Ihrer Menschlichkeit haben kein Recht den geschäftsordnungsmässigen Gang der Bekämpfung des Mädchenhandels zu durchkreuzen! Ja! A LFRED Ganz Ihrer Ansicht, Herr Generalsekretär! Ich habe mit der Firma Ibanez in Parana bereits fest abgeschlossen. Abgesehen von der Konventionalstrafe würde auch mein kaufmännisches Renommée beträchtlich leiden, Du Idiot. B N

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F ERDINAND (zum Fräulein) Bin ich ein Idiot? D AS F RAEULEIN Nein. F ERDINAND Ich war aber ein Idiot, als wir nämlich verheiratet waren. Ich war nämlich zu moralisch, wahrscheinlich weil ich aus einer verkommenen Familie stamm. Heut bin ich nicht mehr korrekt, heut bin ich menschlich. Komm. Komm, bitte. D AS F RAEULEIN Nein. F ERDINAND Wie? D AS F RAEULEIN Nein. S CHMINKE Richtig! D ER G ENERALSEKRETAER Gottlob? A LFRED Bravo! F ERDINAND Nein -? D AS F RAEULEIN Als ich Dich zuvor im Café Klups gesehen hab, da hab ich geschrien, so bin ich erschrocken - über das Frühere, weil es wieder da war. Ich hab nämlich geglaubt, in mir ist alles kaputt, aber derweil ist noch was ganz in mir. Ich kann das nicht anders erklären. Die Herren hier haben sehr recht -: ich kann ja nicht mehr zurück, weil -: es wär ja alles anders und ich mags nicht mehr anders. Jetzt bin ich schon mal so weit. A LFRED (sieht auf die Uhr) Es wird allmählich Zeit -얍 F ERDINAND (zum Fräulein) Komisch. Hast Du mir sonst nichts zu sagen? D AS F RAEULEIN Trink nur Dein Kännchen -F ERDINAND Kaum. Hab keine Freud mehr dran A LFRED Na denn los! Höchste Zeit! E IN V ERTRETER DES P UBLIKUMS (erscheint) Halt! Ich protestiere gegen diesen Betrug! A LFRED Pfuschen Sie mir nicht ins Geschäft, Herr! Wer sind Sie denn überhaupt? D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Ich sitze dort links in der siebenten Reihe! Ich habe mir meine Karte gekauft, weil auf dem Theaterzettel stand, hier steigt eine Posse in fünf Bildern! Und jetzt gehts auf einmal tragisch aus! Ich lass mir das nicht gefallen! Das ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen! S CHMINKE Das ist die Wahrheit! Die unerbittliche Wahrheit! D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Ich verzichte auf Ihre Wahrheit! Ich bin ein müder abgearbeiteter Mensch und möchte abends meine Posse haben! Verstanden? Entweder gibt es hier augenblicklich eine Posse oder ich lass mir mein Geld herauszahlen! S CHMINKE Bitte! D ER G ENERALSEKRETAER (zu Schminke) Halts Maul! D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Ich will meine Posse! Ich schlage vor: das Fräulein fährt nicht nach Südamerika, sondern heiratet ihren Ferdinand und beide leben glücklich, gesund und zufrieden in ihrem gemeinsamen Zigarettenladen! S CHMINKE Das ist Betrug. D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Betrug ist eine Posse anzukündigen und derweil mit einem tragischen Klamauk zu enden. 얍 A LFRED (zu Schminke) Schmink Dich ab! Schmink Dich ab! S CHMINKE (setzt sich, zieht eine Zeitung aus der Tasche und liest) F ERDINAND (zum Vertreter des Publikums) Verzeihung! Sie sind ein guter Mensch! S CHMINKE (liest) „Eschenloher Hanf sieben zwölf - Enttäuschender Abschluss: nur zehn Prozent Dividende -“

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Endfassung Rund um den Kongress

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RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

Lesetext

D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Na wirds bald? (Hochzeitsmarsch) F ERDINAND (schliesst strahlend das Fräulein in seine Arme und küsst sie) D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS So ists richtig! H AUPTMANN (erscheint und klopft Ferdinand auf die Schulter) Pardon, mein lieber Ferdinand! F ERDINAND (lässt das Fräulein nicht los) Bittschön? H AUPTMANN Es ist eine Dame draussen, die das junge Paar sprechen möcht. D AS F RAEULEIN Wir lassen bitten, Herr Hauptmann! H AUPTMANN (winkt hinaus) L UISE G IFT (kommt in weissem Kleidchen und überreicht dem glücklichen Paar einen riesigen Strauss) Meine herzliche Gratulation -- (sie rülpst) A LLE (zucken ob des Rülpsers zusammen)

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ENDE.

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Rund um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

Werkverzeichnisse

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Lesetext

Rund Werkverzeichnis um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht) ÖLA 3/W 363 – o. BS, Lesetext Bl. 8v

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Rund um den Kongress Werkverzeichnis

RK/K/TS1 (Korrekturschicht) WV/E1

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Lesetext

Rund Werkverzeichnis um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht) ÖLA 3/W 363 – o. BS, Lesetext Bl. 11

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Rund um den Kongress Werkverzeichnis

RK/K/TS1 (Korrekturschicht) WV/E2

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Lesetext

Rund Werkverzeichnis um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht) ÖLA 3/W 364 – o. BS, Lesetext Bl. 4v

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Rund um den Kongress Werkverzeichnis

RK/K/TS1 (Korrekturschicht) WV/E3

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Lesetext

Rund Werkverzeichnis um den Kongress

RK/K/TS1IN(Korrekturschicht) 221.001/4 – BS 45 a [4], Lesetext Bl. 7

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Rund um den Kongress Werkverzeichnis

RK/K/TS1 (Korrekturschicht) WV/E4

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Rund um den Kongress

RK/K/TS1 (Korrekturschicht)

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Lesetext

Ein Epilog

Endfassung, emendiert

Ein Epilog (Endfassung, emendiert)

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Ein Epilog

Endfassung, Endfassung,emendiert emendiert

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EIN EPILOG von Ödön Josef von H o r v á t h . Die Menschen: D AS M ÄDCHEN und D ER JUNGE M ANN .

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Der Raum: Die Dämmerung. 10

D AS M ÄDCHEN und DER

JUNGE

M ANN sehen sich an: Profil.

(eine lange Stille) 15

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D ER JUNGE M ANN – Wie lange ist das jetzt her? D AS M ÄDCHEN Sieben Tage. (Sie senkt den Kopf.) D ER JUNGE M ANN Mit Sonnenaufgang kam dein Schreiben und sah in meine Augen, auf denen tiefdunkle Schleier der Nacht rauschten. Und langsam lösten sie sich, und lange glitten sie entlang an mir, und leise aus weiter Ferne sah ich rufen: mich aus dir – Es waren nur wenige Worte, – Mutter – Es ist mir, als sang ich wie morgensonnenerschaute nebelbefreite Gefilde –

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Du senkst den Kopf im Glück – D AS M ÄDCHEN (hebt den Kopf und sieht ihn an.) Was ist Glück? D ER JUNGE M ANN Weißt du das nicht –? D AS M ÄDCHEN Nein. D ER JUNGE M ANN (mit rieselndem Lächeln) – Mutter – D AS M ÄDCHEN – Sieben Nächte träume ich: – laufe von unsichtbaren Feinden verfolgt durch unendliche, enge Straßengewirre. Und die Erde zittert, und die himmelstrebenden Bauten werden Trümmer im Staube. Ich fühle, daß sie mich nicht zermalmen werden, denn in diesen furchtbaren Augenblicken der Verzweiflung weckt mich gellend jemand aus meinem Traum.

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Dann fliehe ich nicht. Ängstige mich nicht: – bin, wie blühende Bäume in der Erde sind, und l e b e – Und dann murmeln wieder die Zweifel und werden lauter und lauter und kreischen mich an; ob die Straßenwände mich begraben werden –? Die Angst – D ER JUNGE M ANN Weiß deine Mutter? D AS M ÄDCHEN Alles. D ER JUNGE M ANN (wendet sich ab.) – Deine Mutter haßt mich, und du hast alles ihr gesagt. D AS M ÄDCHEN (verfolgt ihn mit dem Blicke und nickt: nein) Sie fühlt es, sagt sie. (eine lange Stille)

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Ein Epilog

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D ER JUNGE M ANN Ich glaube, wir sind – D AS M ÄDCHEN Hast du denn nie gelernt, daß wir nicht leben können, wie wir wollen? Ruhte noch nie die Hand dessen auf dir, der rücksichtslos all unsere Hoffnungen zerstört, und seien sie noch so zart gewebt. – Dämmert es endlich bei dir? D ER JUNGE M ANN (tonlos) Ja. – Es dämmert – D AS M ÄDCHEN – Manchmal fühle ich ihn – Wenn in der Einsamkeit die Finsternis gläsern durch die Fensterscheiben stiert, höre ich ihn – Und wenn Menschen um mich herumstehen, sehe ich ihn –: irgendwo – Jetzt ist er wieder hier – D ER JUNGE M ANN (leise) Wer ist das? D AS M ÄDCHEN (ebenso) Ja: wer? (Ein Strahl der sinkenden Sonne blendet DIE

BEIDEN .)

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D ER JUNGE M ANN (streift sich mit der Hand über die Augen.) – eine Erinnerung. Ich meine, es müßte ein Menschenleben vergangen sein, das alles Erlebte in einer Nacht erträumt hat – Es war an einem Sommernachmittag, als ich dich zum ersten Male sah. Der Sonne Schein hauchte dein Kleid an deine Formen. Und eine heilige Sehnsucht war in mir. Ich lief dir nach: eine Ewigkeit währende Zeit: bis vor das steinerne Haus mit dem schweren Tore aus Ebenholz. Und stand unten und wartete – wartete. Und stierte in ein bleiches Licht in einem Fensterrahmen, das mich zu einem andern machte, so daß ich brannte: lichterloh – Kühl umrauschte die Dämmerung meine pochenden Schläfen. Die schweren dunklen Wolken zerfleischten sich am Himmel und heulten vor unstillbaren Schmerzen, und ihr kaltes Blut schoß in meine Wangen. Doch ich wartete und wartete, und kein noch so greller Blitz und kein noch so wild brüllender Donner konnte mich verjagen – D AS M ÄDCHEN – Du hast mich gesehen. Das war der Heimweg durch den uralten Wald, als wir am ersten sonnigen Frühlingstage vor die Stadt gingen. Du schienst mich zu tragen: So wunderleicht schritt ich den Weg dahin, der wie endlos war. – Stundenlang – D ER JUNGE M ANN – Ich hörte einmal ein Märchen erzählen von einer kleinen, schwarzhaarigen Prinzessin. Die war die Tochter eines steinreichen Königs, der einem Lande befahl, das eine weite Wüstenei war. Und er liebte sein Kind so sehr, daß er es vor den Menschen behüten wollte. „Die lügen –“, knurrte er mit lebendem Barte, wenn Mütter ihre Kinder und Männer ihre Frauen und Söhne ihre Väter beklagten. Und ein jedes Mal, wenn der erste Lichtstrahl die Nacht aus den verdorrten Geästen der schlanken Cypressen scheuchte, daß sie sich reckten und streckten, sah man viele Erhängte. Doch der König vergaß all das, wenn er sich mit der Prinzessin zu Füßen seines purpurnen Thrones am weichen Eisbärfelle spielte. Und da geschah es auch, daß er lachte.

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Ein Epilog

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Und wurde er einsam, so erkannte er: Sie darf nicht erfahren, was Leben ist: Denn Leben ist Elend. Und er baute ihr mit des Volkes Händen ein Schlößchen aus edelsten Steinen auf dem höchsten der hohen Glasbergketten. Da war alles das Kostbarste: der Boden aus Persien, das Bett aus Cedernholz vom Libanongebirge und die kleinen Pölster und Decken aus Seide aus dem Reiche der Mitte. Da hauste sie lange Zeit. Und obwohl sie vom Elend nie etwas hörte noch sah, war sie doch nicht glücklich. Eine Sehnsucht nach etwas Schönem lebte in ihr, das nur so lange schön war, so lange es unbekannt blieb – D AS M ÄDCHEN – Und eines klangvollen Frühmorgens kam ein Prinz weit her über das mächtige wogende Meer. Er ließ sich Schuhe mit eisernen Nägeln anfertigen, die waren so groß wie die Nase eines vertrunkenen Riesen und so scharf wie Zähne eines Leoparden. Und sechs Mal mußte er umkehren. Aber zum siebten Male, nachdem er sieben Nächte und Tage geklettert war und sein Leben in höchster Gefahr schweben sah, erfaßte er den sonnenbeschienenen Gipfel. Und trat ein in das Schloß. Und die Prinzessin erschrak furchtbar und wurde ohnmächtig: Sie hatte noch nie einen Prinzen gesehen. Und dann, als sie die Augen in die Seinen hob, staunte sie ihn an und hatte ein Gefühl, das sich ihr bisher nur ahnend offenbarte. Und sie glaubte, sie habe sich überessen, doch dann sah sie, daß alles unberührt in den goldenen Schüsselchen lag: der Taubenbraten, das saftige Obst und der süße Wein – Da fühlte sie zum ersten Male, daß sie verliebt war, und sie ließ den Prinzen gewähren, und sie rutschten hinab an den Gebirgswänden und gingen in die weite Wüste –

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(eine Stille) D ER JUNGE M ANN Auch du kennst das Märchen –? D AS M ÄDCHEN – 35

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(eine lange Stille) (Die Sonne ist untergegangen, und die Nacht webt ihre Schatten um DIE BEIDEN .) D ER JUNGE M ANN (legt seine Hände auf ihre Schultern.) Vergessen. Die lange Nacht wird uns verbergen, und wenn es Morgen geworden, erwachen wir in einer fremden Stadt. Dort sind wir allein. Mieten uns eine Wohnung und stellen Blumen in die kleinen Fenster – Mädchen –: Jemand ruft mich – (eine lange Stille) D AS M ÄDCHEN Traum: wunderbar schön gebaute Gebilde unserer Seele? Die nur in uns atmen können. An die Wirklichkeit gesetzt, verwelken sie langsam an ihr. D ER JUNGE M ANN – Komm –! D AS M ÄDCHEN – Kann nicht.

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Ein Epilog

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D ER JUNGE M ANN – Deine Mutter – D AS M ÄDCHEN – Da ich nackt vor ihr stehe, muß ich sie verlassen. D ER JUNGE M ANN Ich danke dir. 5

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(eine Stille) D AS M ÄDCHEN Wenig wissen ist dumm und viel ist schädlich. Ich baute auf dich und habe mich gewehrt, und doch bin ich durch den Schlamm gezogen worden. Und wurde von dem Schmutze geblendet und nun unfähig das Schöne zu erkennen. Was ist mir das Leben? D ER JUNGE M ANN Wie meinst du das –? D AS M ÄDCHEN Seitdem ich sah, daß heiligstes Glück zu widerwärtigstem Unglücke werden muß, vergaß ich das Hoffen. Und denke an das Kind, und frage dich über seine Zukunft. Meine Mutter haßt es schon in mir. Du mußt stark sein, willst du mich nicht verlassen, denn ich wende meinen Rükken dem Lieben und dem Hassen – Denn ich sehne mich nach Ruhe – D ER JUNGE M ANN (entsetzt fragend) – Du –?! D AS M ÄDCHEN (flehend gebietend) Du – (reicht ihm einen Revolver.) D ER JUNGE M ANN (nimmt ihr ihn, wie im Traume, aus der Hand.) (eine Stille)

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D ER JUNGE M ANN Du machst mich wieder klein – Ich war groß und stark, da ich ein Wesen fand, das schwächer war als ich. Laß mich helfen – D AS M ÄDCHEN (sieht ihn an und entfernt sich langsam von ihm und bleibt stehen.) D ER JUNGE M ANN (hebt, wie unter Einwirkung einer fremden Macht, den Revolver und hält ihn starr auf sie gerichtet.) (eine lange Stille) D AS M ÄDCHEN (wirft plötzlich die Arme in die Höhe und schreit gellend auf.) Nein!! (greift sich ans Herz und wirft den Kopf zurück und bricht leblos zusammen.) (eine große Stille)

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D ER JUNGE M ANN (ganz leise und fast stockend) – Das Leben – (läßt den Revolver fallen und fährt sich mit der Hand durch das Haar und atmet tief, befreit auf.) (Es ist Nacht geworden –) Und die Bühne schließt sich.

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Ein Epilog

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Ein Epilog

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Mord in der Mohrengasse (Endfassung, emendiert)

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Ein MordEpilog in der Mohrengasse

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MORD IN DER MOHRENGASSE Schauspiel in drei Akten von Ödön von Horváth.

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H ERBERT M ÜLLER I LSE K LAMUSCHKE M UTTER K LAMUSCHKE M ATHILDE K LAMUSCHKE P AUL K LAMUSCHKE W ENZEL K LAMUSCHKE D REI D IRNEN E IN V ERWACHSENER D IE A LTMODISCHE E IN P OLIZIST E IN E ISENBAHNER S EIN W EIB E IN S ECHZEHNJÄHRIGER S IMON K OHN Z WEI P OLIZISTEN B ARGÄSTE E IN K OMMISSAR P OLIZISTEN Z WEI D ETEKTIVE . E r s t e r A k t : Bürgerliches Wohnzimmer. Z w e i t e r A k t : Mohrengasse. D r i t t e r A k t : Bürgerliches Wohnzimmer. Spielt innerhalb zwölf Stunden.

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Erster Akt.

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Bürgerliches Wohnzimmer. Im Hintergrunde zwei Türen: Die rechts führt in ein kleines Vorzimmer, und ist sie offen, wird die Haustüre sichtbar. Links über einem runden Tische die Lampe. Rechts ein Fenster neben einem Sofa. An den Wänden Familienphotographien in goldenen Rahmen. Spätnachmittag.

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H ERBERT M ÜLLER (am Fenster: wartet; erblickt auf dem Tische einen Teller Backwerk; fixiert ihn; nähert sich ihm; lauscht – steckt sich rasch ein Stück in den Mund: kaut.)

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Ein Epilog Mord in der Mohrengasse

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I LSE K LAMUSCHKE (achtzehnjährig altklug; tritt durch die linke Türe ein.) M ÜLLER (schluckt.) I LSE Sogleich kommt Mama. Sogleich. M ÜLLER (verlegen: nur um etwas zu sagen) Ilse. Ich dachte mir eben wieder: in zwei Jahren – I LSE (unterbricht ihn.) Man soll nie Pläne machen. M ÜLLER Man muß Pläne machen! Freilich: Ob selbe Körperlichkeit annehmen, steht in einem besonderen Kapitel. I LSE (zerbeißt ein Lachen.) M ÜLLER (denkt an das Backwerk.) Warum lachst du? I LSE Sei nicht böse, bitte. Nur: Unlängst fiel mir auf, wie häufig du das Wort „Kapitel“ gebrauchst. Hör ich es nun, muß ich lachen. M ÜLLER (atmet unterdrückt erleichtert auf.) Folglich erscheine ich dir häufig lächerlich. Danke. I LSE Aber! M ÜLLER (gereizt) Folglich ist ein Kapitel für sich, daß – (Er stockt, da) I LSE (ihn erschrocken anstarrt.) M ÜLLER (lächelt.) Hast es nicht gehört? I LSE Was? M ÜLLER Das Wort. I LSE Nein. M ÜLLER (innig und eitel) Ilselein. Siehst du: Mann soll der Mann sein, und die Frau überhört ihr eigenes Lachen und – I LSE (gereizt) Quatsch! Ich hab es doch gehört! M ÜLLER Was? I LSE Das Wort. Wähle nun: Lachen oder lügen? M ÜLLER (starrt sie an.) M UTTER K LAMUSCHKE (tritt durch die linke Türe ein.) Es freut mich, Sie endlich begrüßen zu können, Herr Müller. Meine Tochter hat mir vieles über Sie erzählt, und ich habe Sie also bereits gekannt, eh ich Sie sah. M ÜLLER (verbeugt sich und lächelt überlegen.) M UTTER (setzt sich und bietet ihm Platz an.) M ÜLLER (setzt sich.) (Stille) M UTTER Seit mein Mann starb, ist es still bei uns geworden, obwohl mein Sohn mit seiner Frau zu uns zog. Sie kennen ja meinen Sohn? Früher: vom Schwimmverein. Das ist nun auch vorbei. Er ist den ganzen Tag über in der Bank beschäftigt. Wir eigentlich warten nur auf ihn. (Stille) M UTTER Ich hörte, Sie arbeiten an einem wissenschaftlichen Werke – M ÜLLER Oh. M UTTER Sie tanzen wohl gerne? M ÜLLER Manchmal. (wichtig) Ich behandle gegenwärtig auf Grund intuitiver Beobachtungen das Ketzer- und Hexenwesen mit besonderer Berücksichtigung der Schwangerschaft. Seit frühester Kindheit reizt mich nämlich das Verbrecherische irgendwie. (Es dämmert stark.)

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Ein MordEpilog in der Mohrengasse

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I LSE (dreht das Licht an.) M UTTER (starrt ihn an.) M ÜLLER Es ist sehr interessant. M UTTER (nickt.) M ÜLLER (weicht ihrem Blicke aus: betrachtet seine Schuhspitzen; dann die Lampe.) M UTTER (erhebt sich.) Sie müssen mich entschuldigen. Es ist sehr interessant. Doch: Wenn Ilse noch essen will, bevor Sie tanzen gehen – M ÜLLER (verabschiedet sich.) Versteht sich! Dann: In einer guten Stunde hole ich Fräulein Ilse ab. Gnädigste! I LSE (begleitet ihn ins Vorzimmer; schließt die Türe.) M UTTER (allein; denkt nach: nickt, murmelt; setzt sich.)

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M ATHILDE K LAMUSCHKE (ist schwanger im siebenten Monat; tritt von links her ein; leise) Ist er fort? M UTTER (erhebt sich wie geweckt.) Ja. M ATHILDE Wo nur Paul so lange bleibt? M UTTER Monatsende, Abschluß: Das gibt Arbeit. – Hast du die Kartoffeln schon geschält? M ATHILDE Alle Kartoffeln?! Ilse soll doch auch – I LSE (ist wieder eingetreten; unterbricht sie.) Ich tu schon! Tu schon. M ATHILDE Aber nichts Richtiges! Bücher lesen und so! I LSE Du Kuh! M UTTER Schweigt! Der Müller hört das noch ins Treppenhaus! (Stille) I LSE Ich zieh mich jetzt um. M ATHILDE Und ich soll die Kartoffeln schälen. I LSE Ach, du Aschenbrödel! M ATHILDE (reißt sich die Schürze vom Leibe.) Eher verhunger ich! I LSE Einmal geht man aus. M UTTER Zieh dich nur um. I LSE (ab durch die linke Türe) M ATHILDE Was ist denn dieser Müller für ein Mensch? M UTTER Er scheint recht klug zu sein. M ATHILDE Klüger als Ilse? M UTTER (ruhig) Sag: Kannst du klagen, daß ich mein eigenes Kind besser behandle? M ATHILDE (boshaft) Welches Kind? M UTTER (starrt sie an.) Bist ein schlechter Mensch, Thilde. M ATHILDE Vielleicht bin ich einer geworden. Gewesen bin ichs nicht. Doch, wenn man sieht – und ständig diese Leichenhausmiene, seit das Kind unterwegs – M UTTER (unterbricht sie.) Das ist nicht wahr! M ATHILDE Doch, das ist wahr. Niemand kennt Rücksicht: Muß genauso kochen, räumen, schuften – M UTTER Wer übernahm die Führung meines Hauses? M ATHILDE Nie wollt ich dich verdrängen. M UTTER Aber du hast es getan.

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M ATHILDE Glaub: Auch ich könnt mich beklagen. M UTTER Dann nörgle nicht! Sondern tus! M ATHILDE Nein. Es ist ja zwecklos: Er ist den ganzen Tag über in der Bank – Und ich hätte die Hölle. M UTTER Die haben wir alle. P AUL K LAMUSCHKE (tritt in Hut und Mantel verstört von rechts her ein; läßt die Vorzimmertüre offen.) M ATHILDE Endlich! – Was ist dir denn? P AUL (zur M UTTER : leise) Er steht drunten. M UTTER Wer – (begreift: verstummt; dann leise) Hast ihn gesprochen? P AUL (barsch) Nein, das weißt du! – Nur gesehen: unten am Gitter. Schien zu überlegen, ob er uns beehren soll. M ATHILDE Daß er immer wieder kommt! P AUL Als hätten wir Geld! Als hätt er uns noch zuwenig bestohlen! M ATHILDE Still! D IE DREI (lauschen.) (Stille; dann ertönt kurz die Glocke.) M UTTER Laßt mich allein. P AUL (unterdrückt) Aber gib ihm nichts! 얍 M UTTER (nickt: nein) Mathilde: die Kartoffeln. M ATHILDE Nein. Ich werde Wurst aufschneiden. (ab mit) P AUL (nach links) M UTTER (allein; geht langsam durch das Vorzimmer und öffnet die Haustüre.) W ENZEL K LAMUSCHKE (verwahrlost; tritt ohne Gruß an ihr vorbei in das Wohnzimmer; geht umher; bleibt manchmal vor einem Gegenstande stehen und lächelt.) M UTTER (folgte ihm mit den Blicken.) Was willst du? W ENZEL Ja – M UTTER Geld hab ich keins. W ENZEL (fixiert sie.) (Stille) W ENZEL Schäm dich nicht. M UTTER Meinst du, ich schämte mich vor dir? W ENZEL Ach so. (Er geht wieder umher.) Vor mir darf man sich ja nicht schämen. Bin ja ein Dieb. Hab vom fremden Tellerchen gegessen. Und – freilich, freilich. Aber dieser Tisch! Am Sonntag gab es Rostbraten mit Endiviensalat. Oder Endiviensalat mit Rostbraten. Und dann stritt man sich dort um den Eckplatz am Sofa. Einer schrie, einer gab nach und las Lokalnachrichten: immer wieder. Jeden Tag. – Eine soll mir sogar ähnlich sehen, wurde behauptet. M UTTER Bist nur gekommen, um wieder weh zu tun? W ENZEL (sachlich) Nein. Ich wollte auch nie weh tun. Jedoch, es ist mein Fehler, daß ich laut denke und tue. Bin nämlich der verlorene Sohn, nur möcht ich wissen, wer mich verloren hat. M UTTER Wie gerne du dich reden hörst. W ENZEL Ja: Wenn man unverstanden bleibt.

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M UTTER Boshaft wie immer. W ENZEL Nein: dumm. M UTTER (horcht auf.) (Stille) M UTTER (leise) Wenzel – W ENZEL (unterbricht sie.) Jetzt geh ich. M UTTER (schlägt um.) So geh! Wir haben doch nichts miteinander gemein. W ENZEL Glaubst du? (Stille) M UTTER Was willst du noch hier? W ENZEL (sieht um sich.) Wollte nur sehen – wie es euch geht. (Er grinst.) M UTTER (starrt ihn an.) Jetzt wird mir bange. W ENZEL (leise) Es ist nichts geschehen. Nichts. – Ich ging nur vorbei – (Er geht an die Haustüre und öffnet sie; überlegt einen Augenblick: schlägt die Türe von innen zu und bleibt während des Folgenden im Vorzimmer stehen, von niemand bemerkt.)

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P AUL (von links her) M UTTER (dumpf) Wieder gehorcht. P AUL Ja. Er hätte dich auch wieder schlagen – (Er stockt, da)

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I LSE (in einem billigen Ballkleid eintritt; zur M UTTER ) Da: bitte: Den Knopf krieg ich nicht zu. M UTTER (knöpft ihr am Rücken einen Knopf zu.) I LSE (ruft.) Mathilde! Das Essen!

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M ATHILDE (tritt eben mit Schüssel und Tellern ein.) Zu Befehl, gnädiges Fräulein! Zu Befehl! (Sie deckt den Tisch.) A LLE (setzen sich um ihn und essen.) W ENZEL (hinter der rechten Türe: sieht ihnen eine kleine Weile zu; geht dann, indem er die Haustüre geräuschlos öffnet und schließt.) D IE

VIER

(essen.)

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Ende des ersten Aktes.

Zweiter Akt. 40

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Mohrengasse. Von links nach rechts: Ein geschlossener Laden mit Schildaufschrift: Diamanten. Gold. Simon Kohn. Kauf. Verkauf. Eine schmale Hoteltüre, die in einen matt erleuchteten Korridor mündet. Vor dem ersten Stocke halbkreisförmig trübelektrische Buchstaben: Hotel.

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Eine Bar. Hinter der schmutzigen Fensterscheibe, auf der ein altes Plakat klebt, geigt ein Schatten. Man hört aber keine Musik. Es ist Nacht und still. 5

D REI D IRNEN (ZWEI rechts, EINE links vor dem Laden; horchen.) E RSTE Klopf nochmal. Z WEITE (klopft an den Laden.) 10

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E IN V ERWACHSENER (tritt aus der Bar und läßt die Türe offen: gedämpft Musik) Wie lange – E RSTE (unterbricht ihn.) Pst! Schließ die Türe! V ERWACHSENER (schließt sie und horcht.) (Stille) Z WEITE Niemand. Er ist nicht zu Hause. V ERWACHSENER Wie lange wollt ihr noch warten? Versetzt. Ich sags. Z WEITE (nähert sich DEN ANDEREN .) Das tat er noch nie. Der alte Schuft! D RITTE Vielleicht ist etwas geschehen. E RSTE Was denn? D RITTE Man kann nie wissen. Z WEITE Pah! (Stille) E RSTE Ich weiß nur: Hab kalte Füße und kann kaum mehr stehen. Und nun kommt so nichts mehr. V ERWACHSENER (sieht auf die Uhr.) Was Richtiges sicher nicht. Z WEITE Still! Es kommt wer. V ERWACHSENER (verschwindet in der Bar.) D IE

DREI

(stellen sich bereit: verstellen die Gasse.)

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D IE A LTMODISCHE (gekleidet nach der Mode vor fünfundzwanzig Jahren und dichtverschleiert; kommt von links und bleibt vor der Hoteltüre stehen.) D IE DREI (beobachteten sie: sehen sich nun an – EINE seufzt boshaft – kichern und eilen in die Bar.) 35

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E IN P OLIZIST (erscheint rechts und sieht sich um.) A LTMODISCHE (klebt regungslos an der Wand.) P OLIZIST (erblickt sie; hält langsam auf sie zu; leise) Ihre Papiere. Seit wann sind Sie hier? A LTMODISCHE (kramt geziert umständlich ihren Ausweis hervor; gefällig) Seit heute, mein Herr. P OLIZIST (gutmütig) Sie sollen sich aber nicht so auffallend anziehen. Das ist verboten. A LTMODISCHE Auffallend?! Ein einfaches Straßenkleid! P OLIZIST (lächelt.) Aus Urgroßmutters Zeiten. A LTMODISCHE Ich habe kein anderes. P OLIZIST Das gibt es doch gar nicht! (Er blickt in ihre Papiere.) Der Schein. Stimmt. (Er blättert; mechanisch) Gestern entlassen? Aus welcher Strafanstalt?

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A LTMODISCHE Sankt Lazarus. P OLIZIST (horcht auf; liest.) A LTMODISCHE (wird unruhig.) 5

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W ENZEL (von rechts; will nach links; erblickt DEN P OLIZISTEN : zögert und bleibt vor dem alten Plakate am Barfenster stehen: als würd er lesen) P OLIZIST (spricht nun noch leiser.) Also: Zweiundzwanzig Jahre waren Sie dort. Und: weshalb? A LTMODISCHE Das muß ich nicht sagen. Bin begnadigt. P OLIZIST Das tut nichts zur Sache! Ich muß wissen, wen ich im Revier habe – A LTMODISCHE (tonlos) Aufforderung zum Mord. P OLIZIST Den Schleier. Lüften. A LTMODISCHE (hebt ihn: Ein maskenhaft leeres Antlitz umrahmen grauweiße Haare.) P OLIZIST (weicht etwas zurück; vergleicht rasch.) Es ist schon gut. Und: Die Vorschrift kennen Sie ja. (Er geht an W ENZEL vorbei nach rechts ab.) W ENZEL (ohne Blick für DIE A LTMODISCHE langsam nach links ab)

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A LTMODISCHE (allein; lehnt den Kopf an die Wand und wimmert; verstummt und horcht; rafft sich verschleiert empor.) E IN E ISENBAHNER (von links her mit seinem) W EIBE (leise) Ich weiß, du liebst mich nicht mehr. E ISENBAHNER (blickt nach DER A LTMODISCHEN .) Quatsch doch nicht immer solch Zeug! W EIB (dumpf) Es ist schon so. Wirst schon sehen – E ISENBAHNER (lächelt.) Willst mich vergiften? Dummes Ding – Wart, hol nur Zigaretten. (ab in die Bar) W EIB (sieht sich scheu um.) A LTMODISCHE (glotzt sie an.) W ENZEL (kommt langsam wieder von links her.) W EIB (rasch an die Bartüre; will hinein, doch)

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E ISENBAHNER (tritt soeben heraus; Zigarette im Mundwinkel) Was hast du denn schon wieder? W EIB Angst. Komm – Laß mich nur nicht allein. E ISENBAHNER Ja, wer das könnte. W EIB Will auch nichts mehr sagen. E ISENBAHNER (gähnt.) Bin auch müde. Der ewige Dienst – (ab mit ihr nach rechts) W ENZEL Steht nun wieder vor dem Plakate. A LTMODISCHE (nähert sich ihm.) Pst! Hören Sie – W ENZEL (unterbricht sie.) Nein. (Stille) A LTMODISCHE Wollen Sie kein liebes Frauchen? W ENZEL (schweigt.)

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A LTMODISCHE (neben ihm; liest laut das Plakat.) Wohltätigkeitsfest. Unter dem Protektorate Ihrer Hoheit. Tombola und Tanzturnier. Bazar. Montag am zweiten – Das war doch schon. W ENZEL Ja. A LTMODISCHE Und trotzdem lernen Sies auswendig? W ENZEL Ja. A LTMODISCHE Nein. Sie schauen in den Spiegel. Das soll man nie in der Finsternis: Man wird verrückt oder sieht den Satanas neben sich. W ENZEL Ich sehe Sie. A LTMODISCHE Und ich Sie. Wir gehören zusammen. W ENZEL Jawohl. A LTMODISCHE Also: Wollen wir nichts unternehmen? W ENZEL Ich hab kein Geld. A LTMODISCHE Ich noch weniger. Das Leben ist zu teuer für die kleinen Frauen. W ENZEL (wendet sich ihr zu.) Hören Sie: Sie werden sich doch etwas erspart haben: in zweiundzwanzig Jahren. A LTMODISCHE (prallt zurück.) Woher wissen Sie das? W ENZEL Zufällig. Zuvor. Verzeihen Sie mir, daß ich es hörte. A LTMODISCHE Nichts wissen Sie! W ENZEL Wieso? A LTMODISCHE Du kannst umsonst! Wann du willst – nur wissen Sie nichts! Wissen Sie nichts! W ENZEL (lacht irr.) E IN S ECHZEHNJÄHRIGER (blaß hochaufgeschossen; erscheint links und bleibt unschlüssig stehen.) W ENZEL (zum S ECHZEHNJÄHRIGEN ) Nach Ihnen! Umsonst – A LTMODISCHE Bist verrückt?! W ENZEL Herr! Kauen Sie nicht an den Fingernägeln! Spucken Sie aus, und treten Sie näher! Es kostet nur das Zimmer! A LTMODISCHE (zischt.) Ich bete für dich. W ENZEL Nur Wohltätigkeit! Unter meinem Protektorate! A LTMODISCHE (zum S ECHZEHNJÄHRIGEN ) Komm! So komm! Es ist doch umsonst! (ab ins Hotel)

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S ECHZEHNJÄHRIGER (folgt ihr verschüchtert.)

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W ENZEL Fahrwohl! Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar. Sentimental und mit Pickeln im Gesicht. Gute alte Zeit! Der Tisch, der Tisch – Ich werde verrückt, verrückt! (Er preßt die Stirne an das Barfenster.) Siehst du den Satanas? Nur dich selbst! Kein Teufel, da kein lieber Gott! Nur zwei Augen, Nase, Mund, eine Stirne, niemals zwei, ein Hut um sechsfünfzig und die Gnade, nur selten von der Wahrheit besucht zu werden. Das ist alles. Oder nichts. Bist erkannt, du Dreck! Erkannt! – Doch ich will nicht mit Trauerfahnen jubilieren. (Ein Hotelfenster wird hell.) W ENZEL (sieht empor.) Hm. Jetzt betritt er das Zimmer. Kostet zwei Mark. Teuer. Und billig. Jetzt zieht sie den Vorhang vor – Bald leckt das Mysterium hündisch

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vier Sohlen. Und unerschöpflich strömt die Latrine der Ewigkeit über die Planetensysteme. Wir sind der Dung. Wie seelisch unser Tun blüht! (Er lächelt irr; starrt dann vor sich hin.) Alles ist hohl und leer. Die Häuser riechen nach Leichen und Sauerkraut. Man sollte sich selber erbrechen können. – Alles ist tot. (Stille; dann geht er langsam an den Laden und liest.) W ENZEL Diamanten. Gold. Kauf. Verkauf. Simon Kohn – Kennt ihr Simon Kohn? Der tat nur kaufen und verkaufen: Splitter und Staub aus Afrika. Und tat es unters Kopfkissen, und überall glitzerte das Falsche. Die Imitation – (Er spricht unterdrückt in den Laden hinein.) Herr Kohn. Lassen Sie mit sich reden. Ruhig reden. Ich irrte. Reden, Herr Kohn! Wollte ja alles anders, immer alles anders! Wollte doch nur einbrechen, den Schmuck stehlen, ich schwöre: Wollte nur stehlen! Hören Sie mich? Stehen Sie doch wieder auf, liegen ja unterm Pult! Setzen Sie sich wieder! Und nehmen Sie Stock und Hut! Stehen Sie auf, auf – (Er trommelt an den Laden.) S IMON K OHN (mit Hut und Rohrstöckchen; erscheint links und tippt mit dem Stöckchen auf W ENZELS Schulter.) W ENZEL (fährt um.) Herr Kohn! K OHN Leise, junger Mann, leise. Wir vertragen den Lärm nicht. – Sie haben sich geirrt? Haben die Imitation mitgenommen? W ENZEL (reicht ihm ein Schmuckkassettchen.) Hier – K OHN (unbeweglich) Sie wollen mir den Schmuck zurückbringen? W ENZEL Nehmen Sie! Nehmen Sie! K OHN Die Imitation? Sie schlugen um den echten zu und wollen es mit dem falschen wieder ungeschehen machen? Hihihi. W ENZEL Sie sind ja wieder – K OHN (unterbricht ihn.) Immer! Und überall! Hier, im Bett, am Tisch – aber auch: unterm Pult! Ich schlürfe durch die Lüfte, obs windstill ist oder braust, und bade mitten im Meere. Und bin dabei doch unterm Pult! W ENZEL Herr Kohn: Verflucht sei das Weibsbild – K OHN (unterbricht ihn.) Das interessiert mich nicht! W ENZEL Aber mich! Denn sie war es, die mich tun ließ, was sie nie getan hätte. Nie tun wollte: wie ich! Und doppelt büß ich, da ich weder bereuen kann, weil ich nichts zu bereuen habe, noch Opfer bin, da jene, für die ich mich opfere, selbst geopfert werden. Sie liebt mich nämlich. K OHN (lächelt.) Was Sie nicht sagen. W ENZEL Es ist nur die Reihenfolge. Sehe so klar, daß mir die Sprache schwindet – Lachen Sie nur, lachen Sie! Wenn man nur lieben könnte! Irgendetwas. Fratzen! Masken! Orchester ohne Ton! Unecht wie Ihr Schmuck! K OHN (todernst) Nur, daß Simon Kohn unterm Pulte liegt, bleibt echt. Sehen Sie: wies klafft? Echt. (Er lüftet den Hut.) W ENZEL (starrt ihn an.) Schlagen Sie zu Simon Kohn. K OHN (hebt langsam das Stöckchen.) Echt! Echt! – Haben Sie Angst? Hihihi! (Er läßt das Stöckchen sinken und sticht schäkernd nach ihm.) Angst hat er! Angst! Um den Trug! Um das Hohle! Um den Dung! Um die Nase! Die Augen – Hihihi! Die Kreatur! Soll ich die Polizei holen? Hihihi – Reihenfolge, junger Mann!

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Mein Kamel ist bereits durchs Nadelöhr – Hihihi! Die Kreatur! (Er verschwindet.)

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Z WEI P OLIZISTEN (erscheinen rechts; wechseln unhörbar Worte; halten auf W ENZEL zu.) E RSTER Können Sie sich ausweisen? (Im Hotelzimmer erlischt das Licht.) D IE ZWEI (sehen empor.) W ENZEL Ich stehe nur so hier. Nur so. E RSTER Was taten Sie hier am Laden: zuvor? W ENZEL Nichts. Z WEITER Aber wir haben beobachtet – (Er stockt, da eben der) S ECHZEHNJÄHRIGE (aus dem Hotel tritt; rasch ab nach rechts)

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A LTMODISCHE (aus dem Hotel; erblickt DIE P OLIZISTEN ; erschrickt; will zurück.) E RSTER Halt! Sie bleiben! Z WEITER Sie haben Jugendliche angelockt! W ENZEL (ab nach links) 20

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A LTMODISCHE (in größter Angst) Ich habe niemanden angelockt! Z WEITER (lacht.) E RSTER Schreien Sie nicht! Kommen Sie! Gehen wir! A LTMODISCHE Nein!! E RSTER (ergreift ihren Arm.) Nein? Was erlauben Sie sich?! A LTMODISCHE (schreit.) Ihr sollt mich nicht wieder!! Laßt mich doch, laßt – A LLE G ÄSTE (treten auf den Lärm hin aus der Bar.) Z WEITER Halten Sie Ihr Maul! A LTMODISCHE Zweiundzwanzig Jahre! Ihr habt mich schon einmal begraben! Zweiundzwanzig, zweiundzwanzig!! (Sie schlägt um sich: verliert Hut und Schleier.) A LLE (weichen etwas zurück.) Z WEITER Das ist Widerstand! A LTMODISCHE Begrabt mich! Verscharrt mich!! Z WEITER (führt sie nach rechts ab.) E INIGE (folgen DEN BEIDEN .) E RSTE D IRNE Immer das gleiche: Kleine hängen, Große – P OLIZIST (unterbricht sie.) Das verbitt ich mir! Wir tun unsere Pflicht! A LLE (murmeln.) D RITTE D IRNE Dann schauen Sie mal nach: da drüben: beim Kohn. (Stille) P OLIZIST Was wollen Sie damit sagen? V ERWACHSENER (zur D RITTEN ; gereizt) Was weißt denn du? D RITTE Nichts! Aber er hat uns noch nie versetzt. Klopft man, gibt er keine Antwort. Und er ist doch immer zu Hause. P OLIZIST (tritt an den Laden.) (Ein leiser Wind hebt an.)

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V ERWACHSENER Das kommt über uns. P OLIZIST (klopft an den Laden.) A LLE (horchen.) (Stille) P OLIZIST (zur D RITTEN ; leise) Wo ist denn der Eingang? D RITTE Hinten: um die Ecke. P OLIZIST (ab) V ERWACHSENER Aas! Mußt quatschen! D RITTE Es ist doch etwas geschehen! V ERWACHSENER Ebendeshalb! (Eine Türe wird eingedrückt.) A LLE (lauschen.) V ERWACHSENER (zur D RITTEN ) Komm!

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P OLIZIST (kommt wieder; bleich, ernst; zur D RITTEN ) Halt! Was wissen Sie über den Fall? D RITTE Über welchen Fall? P OLIZIST Sie sagten doch – (Er pfeift Alarm.) A LLE (ziehen sich etwas zurück.) D RITTE (will sich unauffällig entfernen.) P OLIZIST Sie bleiben! V ERWACHSENER (zur D RITTEN ) Hörst es? P OLIZIST (zum V ERWACHSENEN ) Und Sie auch. (Er pfeift nochmals.) D RITTE Was ist denn geschehen?! P OLIZIST Mord. P OLIZISTEN (darunter ein) K OMMISSAR (eilen herbei.) P OLIZIST (berichtet unhörbar dem K OMMISSAR .) V ERWACHSENER (horcht.) K OMMISSAR (zum P OLIZISTEN , indem er DIE D RITTE und DEN V ERWACHSENEN fixiert) Also: Das Schloß war beschädigt? Und ausgekannt muß er sich haben – Sie warten hier! (Er begibt sich mit EINEM P OLIZISTEN um die Ecke in den Laden.)

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Z WEITE D IRNE (zum P OLIZISTEN ) Herr, jetzt fällt mir ein: Sah hier einen herumlungern – P OLIZIST Richtig! (Er sieht sich forschend um.) Nicht mehr da. (Im Laden wird das Licht angezündet.) A LLE (treten hin und spähen durch Ritzen hinein: murmeln; verstummen.) (Totenstille) S IMON K OHN (kommt langsam von links; unterdrückt zum P OLIZISTEN ) Sehen Sie nicht hin! Er sieht her. Dort drüben: unterm Haustor. Dort steht einer – P OLIZIST (schielt vorsichtig nach links.) Aha. (Er winkt unauffällig einem) P OLIZISTEN (und eilt mit ihm plötzlich nach links ab.) (Man hört „Halt!“ rufen.)

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A LLE (starren nach der Richtung.) (Man hört Laufen und Rufen; dann, wie einer stolpert, zur Erde sinkt und festgehalten wird. – Das Licht im Laden erlischt.) 5

Ende des zweiten Aktes.

Dritter Akt. 10

Das bürgerliche Wohnzimmer. Die Türe rechts ist geöffnet. Sturmnacht. 15

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I LSE (tritt durch die Haustüre ein und wendet sich auf der Schwelle) M ÜLLER (zu, der im erleuchteten Treppenhause steht.) I LSE (leise) Daß du mich bis herauf begleitest, war doch unnötig. Geh nun bitte. M ÜLLER (leise) Wann sehen wir uns wieder? I LSE Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr sehen. M ÜLLER Quatsch! Wenn du – I LSE Schrei doch nicht so! (Sie lauscht in die Wohnung; der Wind wimmert; dumpf) Einmal geht man aus. M ÜLLER Ilse. Vergib, wenn ich grob und ungeduldig war. Aber deine Ansichten – I LSE (unterbricht ihn.) Ich habe ja gar keine Ansichten. M ÜLLER Du hast sogar vortreffliche, jedoch auch – I LSE (unterbricht ihn wieder.) Jetzt schweig endlich! Und geh, geh – M ÜLLER Nein. I LSE Ich schließ die Türe. M ÜLLER (stemmt sich dagegen.) I LSE Ich schrei. M ÜLLER (ergreift ihr Handgelenk.) Schrei. I LSE Herbert laß mich, au! Tust weh! Bitte, ich – M ÜLLER (trat ein; schließt die Türe: Finsternis; umarmt sie.) I LSE Nein! nicht – (Stille) I LSE (atemlos) Jetzt geh. Bitte. M ÜLLER Nur zwei Minuten. Alles schläft. Niemand kommt. I LSE Das kann niemand wissen, du – (Stille; unten schlägt der Wind eine Türe zu.) M ÜLLER Du. Heut Abend. Ich fühle so, wenn wir uns quälen: haben eine Seele – I LSE Nimm die Hand fort, nicht – oh! (Die Hausglocke ertönt.) D IE ZWEI (fahren auseinander.) I LSE (schreit unterdrückt auf.) Jesus Maria! M ÜLLER Vielleicht ein Telegramm. I LSE Wir bekommen nie ein Telegramm. Still, geh – Es ist wer im Zimmer!

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(In der Ecke links im Hintergrunde fällt ein Stuhl um; jemand röchelt; es läutet nochmals: kräftiger.) M ÜLLER (öffnet rasch die Haustüre und prallt zurück: draußen stehen der) 5

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K OMMISSAR (und) ZWEI D ETEKTIVE . P AUL (tritt verschlafen in Hemd und Hose durch die linke Türe ein.) K OMMISSAR (zu M ÜLLER ) Sie bleiben! M ÜLLER Aber – K OMMISSAR (drängt ihn zurück.) Kein Aber! Licht! P AUL (dreht das Licht im Vorzimmer an.) D IE A NDEREN (erblicken ihn.) K OMMISSAR Polizei. Wer ist Herr Paul Klamuschke? P AUL Ich. M ÜLLER (zu P AUL ) Hatte Fräulein Ilse nur nach Hause begleitet. K OMMISSAR (grinst; zu M ÜLLER ) Sie heißen? M ÜLLER Herbert Müller. Student. P AUL (begreift nicht.) Ja: Aber was soll das? K OMMISSAR Wir suchen Ihren Bruder. P AUL Herr, ich habe keinen Bruder! K OMMISSAR Das sind doch nur Wörter! P AUL Es sind nicht nur Wörter! Doch bleiben wir sachlich. K OMMISSAR Gut! Wenzel Klamuschke steht im Verdachte, einen Raubmord verbrochen zu haben. Sie hatten ihn bereits gefaßt, aber er entkam den beiden Agenten.

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M ATHILDE (erscheint in der Türe links.) K OMMISSAR Sie verstehen: Unsere Pflicht ist nachforschen. Überall. Also auch hier. P AUL Bitte. (Er dreht das Licht im Wohnzimmer an: in der Ecke links im Hintergrunde mit Hosenträgern an einem Haken erhängt W ENZELS L EICHNAM ; am Boden ein umgeworfener Stuhl) M ATHILDE (gellend) Herrgott!! A LLE (starr – dann schneiden DIE BEIDEN ) D ETEKTIVE (DIE L EICHE ab und betten sie auf das Sofa.) K OMMISSAR Da: Wenzel Klamuschke. I LSE (zu M ÜLLER ) Das halt ich nicht aus! Er sah mich an, komm! E IN P OLIZIST (hünenhaft; erscheint in der Haustüre.) K OMMISSAR Niemand verläßt die Wohnung! M ATHILDE (ist anderswo; tonlos) Er kommt wieder, er kommt wieder – P AUL Thilde! EIN D ETEKTIV (hat DIE L EICHE untersucht.) Tot. K OMMISSAR Verständigen Sie 57 8 12. Rasch! D ETEKTIV (ab) K OMMISSAR (zu P AUL ) Sie wußten, daß er hier war. P AUL Nein. K OMMISSAR Wer öffnete dann? P AUL (zuckt die Achsel.)

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Ein Epilog Mord in der Mohrengasse

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K OMMISSAR Es riecht nach Mitwissen. Wir führen strenge Untersuchung. Der Tod des Täters kann keinen Beteiligten begnadigen. M ATHILDE Daß immer so viele mitgestraft werden – K OMMISSAR Nur die Schuldigen! P AUL (grinst.) M ÜLLER Herr Kommissar, darf ich nun gehen? Hatte ja Fräulein Klamuschke nur nach Hause begleitet. K OMMISSAR Nein. Muß erst sehen – (Er denkt nach; notiert.) M UTTER (erscheint in der Türe links: erblickt W ENZEL ; nickt und starrt vor sich hin.) P AUL (zum K OMMISSAR ) Meine Mutter. (Stille) K OMMISSAR (zu M UTTER ; leise) Sie ließen ihn ein. M UTTER (als müsse sie sich besinnen) Ja: Konnte nicht einschlafen. Hörte läuten. Immer läuten. Viele, viele Glocken: als wären Dämme durchbrochen oder Feuer – und er sagte, die Nacht sei neblig und kalt, und ob er am Sofa da schlafen dürfe. K OMMISSAR Wissen Sie etwas – M UTTER (unterbricht ihn.) Man kann alles wissen. Hat zwar Augen, Ohren, Kopf, Herz – kann aber alles wissen. (Sie lächelt irr.) M ATHILDE Mutter, hast du den Verstand verloren?! M UTTER (lacht.) Aber Thilde! (Sie erblickt wieder W ENZEL : ernst, leise) Er rührt sich nicht, rührt sich gar nicht – Sagt mir: Ist er tot?! (Stille) M UTTER Sagt mirs doch. Bitte – K OMMISSAR Er hat sich selbst gerichtet. M UTTER (langsam) Sich selbst – freilich: Man kann tun, was man will. Hat Arme, Beine, Kopf – kann tun, was man will. (zum K OMMISSAR ) Sehen Sie das Sofa? Es lehnt noch an derselben Wand. Still! Treten Sie beiseite: Die Nebel ballen sich im All. Bitte beiseite: Er will ja auf mich zu. Es ist erst März, doch der Sturm schlägt die Türen zu, und hier innen wirds wohlig und warm. Wird schon werden. Seine Brust wölbt sich mir entgegen, doch sehen Sie: die Photographie: seine Mutter, dort im Rahmen! Hängt über uns und lächelt, daß man das Zahnfleisch sieht – Hilfe! Hilfe! Das Gesetz! – Er will es Ilse oder Wenzel taufen. Hören Sie das Sofa knarren? Es kommt über mich: weicher als mein Bett! (Sie wimmert.) K OMMISSAR (verbeugt sich vor P AUL : will ab.) M UTTER Halt! Hören Sie, Herr Polizei! Ich wußt es: alles. Versprechen Sie mir: Lassen Sie ihn nie mehr los! Riegeln Sie fest zu! Er kann nämlich nicht anders. Ist verflucht – K OMMISSAR (geht mit DER P OLIZEI , indem er) M ÜLLER (winkt, der sich ebenfalls entfernen will.) M UTTER Guten Tag, Herr Müller! M ÜLLER (stutzt; verbeugt sich verlegen; rasch ab)

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(Stille) M UTTER (lächelt.) Jetzt kommt der Prozeß. M ATHILDE Mutter! M UTTER Bin nicht deine Mutter!

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Ein MordEpilog in der Mohrengasse

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P AUL (zur M UTTER ) Beruhige dich. M UTTER Schweig! Hast nicht mitzureden! Wer mein Kind verleumdete, soll das Maul halten! Es ist nicht wahr, daß er den Kanari damals verbrannte! Nicht wahr, Ilse, du weißt es? P AUL Fragst du die, deren Ring er stahl? M ATHILDE Paul! Denk an mich! M UTTER (schrill) Ilse wars! Ilse! I LSE Lüge! M UTTER Dann war es Paul! P AUL Meinst vielleicht auch: Ich morde? M UTTER Dir trau ichs zu! P AUL (grinst.) Ihm freilich nicht! M ATHILDE Still, es liegt ja ein Toter im Zimmer – I LSE Sie ist verrückt. M UTTER Wer: sie?! Beschimpft ihr mich wieder? Immer wieder! Hinaus aus meiner Wohnung! Hinaus mit euch, ihr Pack! Hinaus!! (Stille) M UTTER (weinerlich) Gott, jetzt vergaß ichs wieder: Hab ja keine Wohnung mehr. Alles wurd mir genommen – Kinder, meine Kinder, warum folgt ihr mir nie? Wenn der Vater nur noch lebte – P AUL Wär es anders gekommen. M UTTER (schlägt plötzlich um.) Ja: Du hättest kuschen müssen! P AUL Und du auch. M UTTER Lüg doch nicht immer! Was weißt denn schon du? P AUL Nur, was ich sah. M UTTER Was du nicht sahst, darauf kommt es an. Weißt du denn, wie er war, da du noch nicht warst? Weißt du, wir haben uns oft im Café getroffen. Man soll gar nicht darüber reden – Du hättest ihn nicht wiedererkannt: Er hat mich auf Händen getragen. Jaja, Vater war ein kräftiger Mann. Aber seit er damals so über Nacht alles verlor – Da mußt ich ihn tragen. Hab schon viel getragen. Zuviel. Hab euch getragen, zuerst im Bauch, dann am Buckel – Doch bevor ich zusammenbreche, werf ich euch ab! Hört ihr? Ab! Will keine Kinder, bin keine Mutter! Will frei sein! Werf euch ab! Ilse, nimm den Finger aus der Nase! Und – wenn er, dieser Klamuschke kommt, so sagt ihm, ich, das Fräulein, bin bereits im Unterholz und will in den windstillen Wald. (Sie verbeugt sich.) Empfehle mich, meine Herrschaften! Ihr Hunde! Brüllt, flennt, heult – Ich höre nichts! Nichts! Glotzt doch nicht so dämlich! (ab durch die linke Türe) M ATHILDE (setzt sich.) I LSE (hält plötzlich auf die Haustüre zu.) P AUL Wohin? I LSE Fort. P AUL Zum Müller? I LSE (schweigt: lauert.) P AUL Hast recht. I LSE (ab) (Stille)

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M ATHILDE Es gibt keine Gerechtigkeit. P AUL Wie gerne du dich quälst. M ATHILDE Ich weiß, daß du unempfindlich bist. P AUL Was heißt das? M ATHILDE (verwirrt) Gott, was hab ich nur wieder gesagt?! Paul! Es ist zu furchtbar, alles! Wollte ja etwas anderes – P AUL (unterbricht sie.) Nein. Das wolltest du nicht. M ATHILDE Schweig! Sonst seh ich es noch ein! Oh, was soll man denn nur tun? P AUL Auf den Arzt warten. M ATHILDE (weint.) Himmel – P AUL Laß das! Der liebe Gott spielt Skat im himmlischen Bilderbuch und hört uns nicht, wenn es überhaupt so etwas gibt! M ATHILDE Ich bin aus anderem Holz. Spürs, wenn man mich schlägt. P AUL Ich auch. Aber das Martyrium reizt mich nicht. Ich weiß: Manchmal hassest du mich, genau wie sie, weil ich aus dem Unabänderlichen nie mein Gefühlskapital erhöhe. Doch ich leide weder wegen gleicher Eltern, noch laß ich mich für fremde Taten bestrafen. M ATHILDE Aber das ist ja gar nicht wahr! P AUL Es muß wahr sein! Sonst gehen wir unter. (Der Morgen graut.) M ATHILDE (setzt sich.) P AUL (tritt ans Fenster.) M ATHILDE (sieht nach dem Fenster: nach P AUL ; fröstelt.) Ein neuer Tag. Mich friert. P AUL Mich auch. (Stille) M ATHILDE Wir müssen uns anziehen. P AUL Oder ins Bett legen. (Stille) M ATHILDE (starrt auf W ENZEL ; dumpf vor sich hin) Er kommt wieder, er kommt wieder – (Sie sieht sich scheu um und lauscht; springt dann plötzlich empor und eilt wimmernd auf P AUL zu.) Du, ich hab solch Angst: um das, das kommen wird – P AUL (schließt sie in seine Arme.)

Ende des dritten und letzten Aktes.

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Ein Epilog

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Ein Epilog

Endfassung, emendiert

Niemand (Endfassung, emendiert)

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Ein Niemand Epilog

Endfassung, Endfassung,emendiert emendiert

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NIEMAND. Tr a g ö d i e i n s i e b e n B i l d e r n von Ödön von Horváth.

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Personen: 10

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K LEIN G ILDA U RSULA V IER SCHWARZ GEKLEIDETE M ÄNNER H AUSMEISTERIN K ONDITOR F ÜRCHTEGOTT L EHMANN W LADIMIR M ALERMEISTER G LASERMEISTER S CHREINERMEISTER K ELLNERIN D ER GROSSE W IRT D IE N ACHFOLGERIN F REMDER / K ASPAR U RALTER S TUTZER Z WEI D ETEKTIVE B ACKFISCH U RALTE J UNGFRAU B ETRUNKENER

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============ Erstes Bild. 35

Bühnenbild:

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Ein Treppenhaus. Unten links im Hintergrunde das offene Haustor – draußen die Straße. Nach rechts leiten Stufen auf den ersten Stock. Unten rechts eine Schenktüre mit Milchglasscheibe und kleinem Pult. Darüber an der Wand: „Café zum großen Wirt“. Links von der Schenktüre im Hintergrunde ein schmales Tor nach dem von hohen grauen Mauern engumklammerten kahlen Hof. Unten links und oben rechts je eine Tür zu einer Wohnung. Vom ersten Stock führen die Stufen links weiter empor –

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Es ist Abend. K LEIN (mit einer Geige unter dem Arm steht vor der geöffneten Tür rechts oben.) G ILDA (tritt durch die Haustür herein – geht auf die Tür links unten zu.) K LEIN (spricht in die offene Tür.) – War das Ihr letztes Wort?

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G ILDA (bleibt stehen und lauscht.) (Die Tür rechts wird oben zugeschlagen.) K LEIN (starrt auf die Tür – wendet sich dann langsam von ihr ab und steigt die Stufen herab – erblickt G ILDA .) Haben Sie gehört? –: Sein „letztes Wort“. (Er lächelt leise.) G ILDA Nein. Kam eben erst von draußen. K LEIN Unser Hausherr läßt mich nur mehr eine Woche lang hier wohnen, da ich die Miete für meine Dachkammer nirgends auftreiben kann. (Er lächelt.) G ILDA Lachen Sie nicht, Herr Klein! K LEIN Ist es nicht lächerlich, ein „letztes Wort“ sagen zu wollen? G ILDA Immer hält er sein Wort. Und unerbittlich! K LEIN Ich bitte nie, – und, wenn er auch immer sein Wort hält / höchstens schlaf ich drüben im Stadtpark. G ILDA Draußen schlafen – Ich danke! K LEIN Und, wenn ich auch nicht schlafen kann – Man muß doch nicht schlafen, um träumen zu können. Und solange ich nur träumen kann, ist es mir gleich, ob ich in einem Himmelbett oder auf einer Bank – G ILDA (öffnet ihre Tür links im Vordergrunde.) Das verstehe ich nicht. K LEIN „Selig sind die im Geiste Armen“ – G ILDA Was heißt das?! – Klein, du weißt, daß ich dich schon mal umsonst ließ – Und jetzt beschimpfst du mich – K LEIN (verbeugt sich leicht.) Nein! Ich beneide dich! G ILDA Das versteh ich wieder nicht. Entweder ist es zu klug oder zu dumm. K LEIN Es ist zu dumm! Alles ist zu dumm! – Siehst du: Ich lebe / bin da: ob ich will oder nicht. Muß leben! Und da muß man doch auch schlafen, und also muß man bezahlen für etwas, was man muß. Ist das nicht zu dumm? G ILDA (starrt ihn an – versteht nichts.) K LEIN – Sag: Ist das wahr, daß dich damals der Wladimir verprügelte, weil du mit mir umsonst – G ILDA Er hat mich nicht verprügelt, nur geohrfeigt. K LEIN Daß man alles bezahlen muß! G ILDA Du hast doch umsonst! K LEIN Umsonst?! – Ich ziehe doch in einer Woche aus. Man müßte ins Wasser gehen, könnte man nicht mehr träumen. G ILDA (deutet auf ihre Stirn, als hielte sie ihn für etwas verrückt.) – Gute Nacht! (verschwindet in ihrer Wohnung und schließt die Tür.) K LEIN (allein – wendet sich dem Haustor zu.) U RSULA (tritt durch das Haustor ein – bleibt im Gange stehen – zu K LEIN ) Verzeihen Sie –: Wo wohnt Fräulein Amour, Fräulein Gilda Amour? K LEIN (deutet auf G ILDAS Tür – geht auf die Straße.) U RSULA (allein – sieht ihm nach – geht dann rasch an die Tür links unten.) (Draußen auf der Straße fährt lautlos ein großer schwarzer Wagen vor das Haustor.) U RSULA (erschrickt – faßt sich ans Herz – starrt hinaus.) V IER SCHWARZ GEKLEIDETE M ÄNNER (steigen aus dem Wagen und treten ein in das Treppenhaus.) E RSTER (erblickt U RSULA .) Wissen Sie, wo Meyers wohnen? U RSULA (nickt: nein) Nein. Bin heute das erste Mal hier. Z WEITER Im dritten Stock.

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D RITTER Im vierten. E RSTER (sieht sich um – leise: fast wie zu sich selbst) Im ersten Stock haust der Lehmann – V IERTER Im zweiten. E RSTER (braust auf.) Im ersten, sag ich! (Stille) V IERTER (kleinlaut) Im zweiten. E RSTER Hölle! Ich werde doch noch wissen, wo der Pfandleiher Lehmann wohnt / ich, den der Krüppel erst unlängst betrog! V IERTER – Den meinen Sie? Ich dachte –: die Leiche. Z WEITER (und) D RITTER (grinsen.) V IERTER (zu DEN BEIDEN ) Was gibt es da zu grinsen?! Irren ist menschlich, hat der heilige Joseph schon gesagt, als die Jungfrau gebar – D IE VIER (lachen schallend.) H AUSMEISTERIN (tritt aus der schmalen Hoftüre rechts im Vordergrunde.) U RSULA (preßt sich an die Wand links.) H AUSMEISTERIN Lacht doch nicht so laut! D IE VIER (verstummen.) H AUSMEISTERIN Es liegt eine Leiche im Haus. E RSTER (grinst.) Das ist uns ganz neu! D IE VIER (lachen wieder schallend.) H AUSMEISTERIN Wie man da nur lachen kann! – Übrigens: Wen sucht ihr hier? E RSTER Eben die Leiche. Z WEITER (neben der H AUSMEISTERIN ) Kennt Ihr mich denn nicht mehr, Hausmeisterin? Ich trug doch damals auch des Hausmeisters Sarg – H AUSMEISTERIN (begreift – erblickt draußen den Wagen.) Der Wagen – E RSTER Ja, der Wagen – Sagen Sie nun: Wo wohnen Meyers? H AUSMEISTERIN Im zweiten Stock. V IERTER Hört ihr? Ich hab es gleich gesagt! (Er grinst.) E RSTER Ich sprach nur von Lehmann – Z WEITER (und) D RITTER (und) V IERTER (steigen empor in den zweiten Stock.) H AUSMEISTERIN Der Lehmann! Würden Sie nur lieber schon dessen Sarg fortschaffen! E RSTER Nur warten! Niemand lebt ewig! H AUSMEISTERIN Aber der überlebt uns alle – lebt ja von uns / das ganze Haus ist sein, und ich fange schon an zu glauben auch wir selbst. E RSTER Abwarten! H AUSMEISTERIN Und die Meyerin war solch eine seelengute Frau / neulich erst schenkte sie mir wieder zwei fast ganz neue Unterröcke – Aber der Lehmann, dieser Leuteschinder, würde einem auch noch den allerletzten ausziehen – E RSTER (grinst.) Schau, schau – H AUSMEISTERIN Pfui! Schämen Sie sich! Wie kann man nur Witze neben dem Tod – E RSTER Eben neben dem Tod! Euch graust davor, weil ihr ihn kaum kennt, aber wir wurden abgehärtet! Denn jeden Tag durchschnittlich fünf bis zehn Leichen abholen müssen / in allen Größen / vom Säugling bis zum Greis / Männer und Weiber /

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Ein Epilog Niemand

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aus Palästen und Mansarden –: Während sie nebeneinander leben, wünscht einer des anderen Tod, doch fährt dann der Wagen vor, heulen sie! Immer das gleiche Bild! H AUSMEISTERIN Nicht immer! Herr und Frau Meyer lebten wie Turteltauben. E RSTER Was wissen Sie, wie Turteltauben leben?! H AUSMEISTERIN Man sagt halt so – E RSTER Weil man das nicht wissen kann! (Er grinst.) H AUSMEISTERIN (dumpf) Ich weiß das allerdings nicht / Mein Mann hockte den ganzen Tag über drüben beim großen Wirt – Aber Herr Meyer sah man nie ohne Frau Meyer. E RSTER Das ist noch kein Beweis. K ONDITOR (kommt durch das Haustor mit einer Torte – grüßt DIE H AUSMEISTERIN .) Ich hab hier die Torte für Meyers –: zur silbernen Hochzeit. E RSTER (grinst.) Zum Leichenschmaus. K ONDITOR (entrüstet) Wie können Sie so etwas sagen, Sie – H AUSMEISTERIN Frau Meyer ist gestorben / heute Nacht. K ONDITOR Frau Meyer –? (Stille) K ONDITOR (sieht auf DEN E RSTEN – zur H AUSMEISTERIN ) Ja, ich wollte schon fragen –: der schwarze Wagen – Z WEITER (und) D RITTER (und) V IERTER (kommen nun wieder herab und tragen den Sarg an DEN U NTENSTEHENDEN vorbei – stellen ihn auf den Wagen.) H AUSMEISTERIN (zum K ONDITOR ) – Da / der Sarg – Und sie wollten doch morgen silberne Hochzeit – E RSTER (lächelt geheimnisvoll.) Wollten – K ONDITOR Was soll ich jetzt nur mit der Torte –? E RSTER Die einen sterben, ein Wagen fährt vor, und dann wird die Wohnung leer / andere heiraten, und wieder fährt ein Wagen vor: Sie ziehen ein in dieselbe Wohnung – Manchmal glaube ich schon, es ist auch derselbe Wagen. Das greift ineinander wie Zahnräder: weiter und weiter und immer – – Und es würde mich auch gar nicht wundern, wenn es hier noch in dieser Woche eine Hochzeit geben würde, selbst wenn der Bräutigam Lehmann hieße – nur warten! K ONDITOR Warten! Eine Woche hat sieben Tage, aber nach zwei Tagen ist diese Torte bereits Dreck! Wer will sich denn Zähne ausbeißen oder Magen verderben?! – Was soll ich jetzt nur mit der Torte? –: Verlang ich nun vom Meyer Bezahlung, das wäre herzlos – Sehen Sie: Ich muß wieder mal den Schaden tragen. E RSTER Einer muß bezahlen! (Er grüßt lautlos und geht – steigt ein in den großen schwarzen Wagen, der unhörbar fortfährt.) K ONDITOR (zur H AUSMEISTERIN ) Warum soll jetzt eigentlich ausgerechnet ich bezahlen? H AUSMEISTERIN Man muß manchmal herzlos sein – K ONDITOR Ja, man müßte – Aber dann würd er es mir nachtragen, und ich verliere einen alten Kunden. H AUSMEISTERIN (geht durch die Hoftüre.) Ach so – K ONDITOR Ja, ich bin viel zu gut – (Er wendet sich wieder dem Haustore zu – erblickt)

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U RSULA (die sich die ganze Zeit über fast ängstlich an die Wand drückte.) K ONDITOR Wissen Sie hier auch nicht jemanden, der etwa eine Torte zufällig – U RSULA Bin hier fremd – – hätte zwar Hunger, aber habe kein Geld. K ONDITOR Ja, es bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Torte selbst zu fressen / und, wenn ich auch platzte. Ja, ich bin viel zu gut! (Er verläßt sie durch das Haustor.) U RSULA (allein vor G ILDAS Türe – scheint unschlüssig zu sein – läutet jedoch dann, wie unter einem plötzlichem Entschlusse, zweimal kurz an – wartet.) G ILDA (öffnet die Türe – erblickt sie – ist überrascht – unterdrückt) Ursula –! U RSULA (leise) Ich bins. (Stille) G ILDA (leise) Also –: Du hast es nicht vergessen: zweimal anläuten. U RSULA Nein. Ich vergesse nicht so bald / und das ist vielleicht eine schwere Sünde. G ILDA „Sünde“ – Dies Wort hatte ich schon vergessen – – Also: Hast es dir nun überlegt? U RSULA Habe nichts zu überlegen: trage Fetzen statt Kleider am Leibe / habe es satt zu Hungern / und heut hab ich meine Hände im Spülwasser verbrüht / und hab einen Krug zerbrochen / habe nichts zu überlegen –: hatte nichts mehr, nur das –: zweimal anläuten bei Fräulein Amour. G ILDA Und das ist nicht das schlechteste. U RSULA Ja, jetzt nicht. Was später wird – G ILDA Später? An-die-Zukunft-denken ist Luxus / den kann sich nur der leisten, dem das Jetzt keine Gedanken mehr macht: – jetzt –: Komm! Drinnen ist noch etwas Torte und Tee / und Wäsche auch / zwar keine aus Seide, aber sie sieht so aus und fühlt sich so an – Und das ist der Witz! U RSULA (küßt ihr die Hand.) Bist so gut – G ILDA Vielleicht – kannst mir ja alles zurückgeben / wird dir leicht fallen / mit Zinseszinsen / vielleicht schon morgen / wenn man so gut gebaut ist und noch jung – Nur der Rock muß kürzer werden, und die Haare mußt du anders kämmen: Müssen die Stirne verdecken – – Bist doch höchstens erst siebzehn. U RSULA Nein. Ich werde schon achtzehn. G ILDA (lächelt.) Achtzehn – (Es dämmert.) F ÜRCHTEGOTT L EHMANN (auf Krücken – tritt aus der Türe rechts oben in das Treppenhaus und humpelt oben hin und her.) U RSULA (fährt zusammen – leise) Was geht da oben – hin und her? G ILDA (horcht – leise) Hin und her? –: Das ist Herr Lehmann, Hausherr – und Pfandleiher / der kann hier nie hinaus, denn er kann nicht die Treppen herunter / so humpelt er oft im Treppenhause: hin und her / seine Wohnung, hörte ich, sei noch enger wie meine, und man braucht doch Bewegung von wegen der Verdauung / er soll noch nie einen Wald gesehen haben – – Man sollte eigentlich Mitleid haben, aber, wenn einer solch ein gemeiner Wucherer – L EHMANN (oben – stolpert: fällt fast – humpelt dann wieder weiter.) D IE BEIDEN (unten – lauschen.) (Stille) G ILDA (leise) Da oben in seiner Tändlerei wächst mit jedem Ding, das er kauft oder verkauft, mit allem, was er tut, das Verbrechen – Aber nie erscheint die Polizei, weil es im Gesetzbuche nur zwischen den Zeilen steht – – Aber, wenn unsereins

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nur einmal in einer anderen Straße auf den Strich geht, wird er eingesteckt! Ja, die Gerechtigkeit scheint wirklich blind zu sein – U RSULA (leise: wie zu sich selbst) Ja, man müßte Mitleid haben – G ILDA Aber vielleicht lebt noch die Rache! W LADIMIR (tritt aus dem Café zum großen Wirt durch die Schenktüre ein.) G ILDA – Da ist Wladimir! W LADIMIR (grüßt kaum – betrachtet U RSULA – zu G ILDA ) Was ist das da? G ILDA Das ist Ursula. Ich erzählte dir doch von ihr / mit der ich neulich in der Bar sprach / draußen auf „für Knaben“, die mir die Nadel gab, als meine Strümpfe platzten / du weißt doch: die hellen Seidenstrümpfe, die du mir in der verregneten Nacht mitbrachtest – (Sie macht die Geste des Stehlens.) Die Kleine – deren Mutter sitzt, weil sie – (Sie macht wieder die Geste des Stehlens.) W LADIMIR Ist das die, die noch nie –? G ILDA Ja, das ist die! W LADIMIR (fixiert U RSULA .) Noch nie –? (Er grinst.) U RSULA (weicht zurück.) G ILDA (hat ihre Türe geöffnet – lacht heiser meckernd.) W LADIMIR (gröhlt.) Noch nie!!! L EHMANN (oben – bleibt plötzlich stehen und lauscht.) G ILDA (starrt W LADIMIR an.) Bist wieder besoffen –? W LADIMIR (roh) Das geht dich einen Dreck an! Halt dein Maul – sonst –! (Er hebt die Faust.) G ILDA (kreischt.) Unterstehe dich!! W LADIMIR Wer will mich hindern?! Wer will meine Faust halten, wenn ich will?! Nicht mal der da oben!! G ILDA Lästere nicht! W LADIMIR Mir wagte sich noch Niemand in den Weg zu stellen!!! Noch nie!! (Er grinst.) – Noch nie / Gilda –: dich auch noch nie –? G ILDA (grinst.) Du Sau! W LADIMIR (stiert sie an – faßt nach ihr.) G ILDA (wehrt sich.) Laß mich / du / laß – du / Sau! W LADIMIR (reißt sie an sich – hebt sie empor – und trägt sie in ihre Wohnung – schlägt die Türe zu.) (Tiefe Stille) U RSULA (stiert auf die Türe – setzt sich dann auf die Stufen – nimmt den Hut ab und vergräbt das Gesicht in den Händen: wartet.) L EHMANN (beugt sich über das Treppengeländer und folgt ihr von oben mit seinen Blicken.) U RSULA (hebt langsam den Kopf und fängt nun an, leise und manchmal falsch eine alte Weise vor sich hinzusummen.) L EHMANN (hört ihr zu.) (In der Ferne erklingt die Armesünderglocke.) U RSULA (ist still geworden – lauscht – sieht empor und erblickt L EHMANN – erschrickt etwas.) D IE BEIDEN (sehen sich an.) (Stille) L EHMANN (leise) Auf was warten Sie? U RSULA (weicht aus.) – Wieviel ist die Uhr?

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L EHMANN Ich habe nie eine Uhr bei mir. Aber –: Es wird wohl bald Nacht. U RSULA (erhebt sich.) Nacht – – Ich danke, Herr Lehmann. L EHMANN Woher wissen Sie, wer ich bin? U RSULA (zögert.) Von – die hier im Hause wohnen. L EHMANN Die hier im Hause wohnen? – Dann wissen Sie ja ganz genau, wer ich bin –: ein schmutziger Schuft. Oder –: Hörten Sie anderes? U RSULA (nickt: ja) Ich hörte auch, daß man eigentlich Mitleid haben sollte – L EHMANN Hörten Sie? – Und: warum? U RSULA (zögert wieder.) Weil – L EHMANN Sagen Sie es nur: Weil ich ein Krüppel bin! (Er grinst.) Mitleid? Wie schön das klingt / aber es klingt nur so – Denn was ist Mitleid? –: Zum Schwachsein stempeln! Ich danke!! Lasse mich nicht niederzwingen!! – – Wohl blieben meine Beine, wie sie mit acht Jahren waren, und bin kaum größer als ein Kind – Aber alle Beine in diesem Hause zwang ich in meine Schuld, und dadurch wuchs ich zum Riesen! Alle Beine wurden mein! Und die Wohnungen, die Wäsche, die Torten und der Tee – alles!! Pfeife auf Mitleid! Bin stark!! U RSULA Ich glaube nicht, daß Sie so schlecht sind – Denn trotz allem tun Sie mir leid. L EHMANN Trotz allem –? U RSULA (nickt: ja) Vielleicht –: weil Sie noch nie einen Wald sahen – L EHMANN (sehr leise) Nie einen Wald – – (Er schrumpft zusammen: wird fast noch kleiner – fängt an wieder hin und her zu humpeln – bleibt stehen – leise: wie zu sich selbst) Wissen Sie, was wohl das furchtbarste ist? –: Nie von hier hinauskönnen – nie! U RSULA Vielleicht – L EHMANN Es ist nicht nur: vielleicht. Doch freilich: Das können Sie nicht beurteilen, weil Sie nie so „hierherinnensein“ können wie ich / denn solch Kinderbeine sind ungehorsame Untergebene: beachten weder Bitte noch Befehl. Aber Sie können immer hinaus – Sie müssen nur wollen. U RSULA Nur wollen? (Stille) L EHMANN (dumpf) Nein. Wollen kann ja jeder / auch ich / aber können kann keiner – nur, wenn er darf. Aber ich darf nie können! Bin Ausnahme! Abnormität! Wäre mein Vater nicht auch schon Pfandleiher gewesen, würden sie mich vielleicht in Jahrmarktsbuden begaffen / unter abgerichteten Affen / um drei Kreuzer! Hereinspaziert, meine Damen und Herren! Sehen Sie –: Alles sehnt sich / ich auch. Alles darf hoffen – ich nicht!! Wird man nicht schwer bestraft, wenn man ein hilfloses Kind mitten im Urwald aussetzt, in dem es verderben muß? Ist es nicht grausam, einen so wie mich auf diese Erde zu schleudern? Ohne das, was man zum Leben braucht? –: Ohne Hoffnung. Unheilbar – – Manchmal glaube ich, hier wäre die Hölle. U RSULA Hier ist die Hölle. (Stille) U RSULA (will gehen.) L EHMANN Warum wollen Sie nicht mehr warten? U RSULA Kann nicht mehr. Muß fort. L EHMANN Muß –? U RSULA – Wissen Sie, Herr Lehmann, was wohl das furchtbarste ist? L EHMANN Ohne Hoffnung sein.

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Ein Epilog Niemand

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Endfassung, Endfassung,emendiert emendiert

Lesetext

U RSULA Hoffnung?! – Ich habe Hunger, Herr Lehmann. D IE BEIDEN (sehen sich wieder an.) (Stille) L EHMANN (langsam, leise) Mein Leben ist Nehmen: Mitleid oder Wucherzins – Erlauben Sie, daß ich mal geben darf –: Sie können auch bei mir essen – U RSULA (starrt ihn an – langsam, leise) –: Was wollen Sie dafür –? L EHMANN (leise) Nichts – – nichts – U RSULA (steigt langsam die Stufen empor.) L EHMANN (verbeugt sich tief.)

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Ende des ersten Bildes.

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Zweites Bild.

Mittag. Draußen auf der Straße gehen ab und zu Menschen vorbei. M ALERMEISTER (unten – streicht den Hausgang grün an.) G LASERMEISTER (oben – steigt die Stufen herab – trägt einige Winterfenster unter dem Arm.) Hast noch lange zu tun, Malermeister? M ALER Ja, noch sehr lange. G LASER (ist nun unten angekommen.) Ich habe Schluß gemacht. (Er lehnt die Winterfenster an die Wand.) Heut hab ich die Winterfenster herausgenommen / überall / wieder mal Frühling. M ALER Ja, wieder mal Frühling – Aber ich werde wohl bald überhaupt Schluß machen müssen – G LASER Ich warte. Wir haben ja denselben Weg. M ALER Fast denselben Weg – – Sag: Wieviel ist die Uhr? G LASER Das weiß ich nicht, weil meine Uhr ins Leihhaus lief / in Lehmanns Leihhaus / und betrogen hat er mich auch noch obendrein, der Schuft! Aber –: Es wird wohl bald Mittag. M ALER Wieder Mittag. Manchmal meine ich schon, dies Treppenhaus ist wie das liebe Märchenvieh, dessen Köpfe, wenn man sie abschlug, immer wieder nachwuchsen / ohne End –: immer wieder eine Türe, ein Geländer, eine Wand – S CHREINERMEISTER (tritt durch das Haustor ein mit einem leeren Steinkruge in der Hand – grüßt den M ALERMEISTER und geht an die Schenke rechts im Vordergrunde – stellt den Krug auf das Pult, klopft an die Glasscheibe – wartet.) G LASER (zum M ALER ) Wer ist das? M ALER (immer die Wand anstreichend) Von nebenan der Schreinermeister / der der Frau Meyer den Sarg und jetzt dem Lehmann das zweite Bett zimmerte. G LASER (erstaunt) Das zweite Bett –? M ALER Weißt es denn noch nicht? –: Daß der Krüppel heiratet. G LASER Heiratet –? M ALER (nickt: ja) Deshalb steh ich ja auch nur hier und streiche dies Treppenhaus an / er hat es noch nie anstreichen lassen / aber jetzt will er auf einmal alles neu herrichten –: Das ist die Liebe – (Er lächelt.)

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S CHREINER (grinst.) Ja, die Liebe – (Stille) G LASER Unwahrscheinlich! M ALER Was ist „wahrscheinlich“? –: Alles / auch das Unwahrscheinliche. G LASER Mit dir kann man nicht reden – bist ein Philosoph, Malermeister. M ALER Vielleicht! – Wenn mein Vater nicht Glasermeister gewesen wäre. S CHREINER (grinst wieder.) G LASER Wie meinst du das?! M ALER (immer die Wand anstreichend) – Und da mein Vater nur ein Glasermeister war, so sagte er immer nur: Das ist wahrscheinlich, und das ist unwahrscheinlich – So wurde ich ein Malermeister / und ich wollte doch einst ein Baumeister werden / trug stolze Träume voll Kathedralen, Palästen und Pyramiden – Aber Träume sind ja immer „unwahrscheinlich“ / und nun kann ich nichts anderes, als nur all das anstreichen, das ich einst bauen wollte – grün / grün / grün – (Er streicht die Wand an.) S CHREINER (klopft wieder an die Glasscheibe der Schenke: diesmal fest – murmelt.) Herrgott! – Wie lange soll ich denn noch warten –: um ein Krug Bier?! (Er geht ungeduldig in einem kleinen Kreis.) G LASER (sieht dem M ALERMEISTER zu.) Grün ist die Hoffnung. M ALER (lächelt leise.) Ja, grün ist die Hoffnung – G LASER (grinst.) M ALER (hört auf zu malen – sieht ihn an.) G LASER (sieht um sich – grinst.) Grün / grün / grün – M ALER (legt die Hand auf seine Schulter.) Höre: Meine Uhr lief schon lange ins Leihhaus / in Lehmanns Leihhaus / wie die deine – Aber ich habe sieben Kinder, und du hast noch keins, und doch hast du schon keine Uhr mehr – – Soll man alles schwarz bemalen –? G LASER (starrt ihn an – ist sehr ernst geworden.) S CHREINER (bleibt plötzlich stehen – zum M ALERMEISTER ) Höre: Jetzt muß ich hier wohl warten, bis meine kurze freie Zeit vorbei – Und dann erhalt ich mein Krug Bier! M ALER (zum S CHREINERMEISTER ) Hast viel Arbeit? S CHREINER Hätt ich nur keine! M ALER (streicht wieder die Wand an.) Erinnerst du dich noch? –: Als wir draußen auf den Straßen herumlungerten und auf Bauplätzen nächtigten / damals sagten wir mindestens hundertmal am Tage: „Hätt ich nur Arbeit!“ – Wie sich die Zeiten verändern! S CHREINER (scheint nachzudenken.) Aber eigentlich nur die Zeiten. M ALER (lächelt leise.) Ja, wir bleiben ewig jung – S CHREINER Nein! – Aber schau: Damals hätt ich ewig hier warten können, aber kein Teufel hätte mir auch nur einen Tropfen Bier gegeben, weil man bekanntlich nichts umsonst bekommt. Heute bin ich grau, und ich könnte mir ganze Fässer Bier kaufen, jedoch / du siehst –: Bis ich nur einen Krug voll erhalte, habe ich schon fast keine Zeit mehr, auch nur einen Tropfen zu trinken! M ALER Nie würd ich meine ganze freie Zeit in einem Treppenhause – S CHREINER Ohne Bier pfeif ich auf meine ganze freie Zeit! M ALER Dann mußt du eben warten, bis –

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W LADIMIR (kommt aus dem Café zum großen Wirt – reißt die Schenktüre auf und wirft dadurch des S CHREINERMEISTERS Krug zu Boden, der zerbricht.) S CHREINER Sakrament!! Mein Krug!! Sie – W LADIMIR Seien Sie nur ganz stille! S CHREINER Bin nicht stille!! W LADIMIR Dann schreien Sie nur! Aber nicht mit mir!! Ich wollt ihn ja nicht zerbrechen! S CHREINER Aber Sie haben ihn zerbrochen!! W LADIMIR Nein!! – Und übrigens: Scherben bringen Glück. S CHREINER Verzichte auf die Hoffnung! Verzichtete auch auf das Bier – Hätt ich nur meinen Krug wieder! W LADIMIR Große Sache: ein Krug! S CHREINER (betrachtet die Scherben.) Vierzig Jahre hab ich aus diesem Krug getrunken – Jetzt werd ich bald siebzig, und nun soll ich aus einem anderen trinken / ich glaube fast, es wird mir nicht mehr so schmecken / das Bier – W LADIMIR (grinst.) Bier ist Bier! K ELLNERIN (öffnet die Glasscheibe der Schenke.) Wer will hier Bier? S CHREINER Bier?! (Er lacht kurz hellauf – verstummt – starrt auf die Scherben – leise: wie zu sich selbst) Ich wollte / und endlich könnte ich / da zerbricht der Krug. Und die ganze freie Zeit vertrödelt mit dem ewigen Warten – K ELLNERIN (tritt in das Treppenhaus – erblickt die Scherben – sieht W LADIMIR an: vorwurfsvoll) Ich konnte nicht kommen. G ILDA (tritt aus ihrer Tür.) S CHREINER Ihr Weiber müßt auch immer – K ELLNERIN Nein, nicht ich! Der Wladimir – (Sie erblickt G ILDA – stockt.) G ILDA (fixiert W LADIMIR .) W LADIMIR (zu DEN BEIDEN ) Rutscht mir am Buckel herunter!! Ihr Weiber –!! G ILDA Das – mir –? K ELLNERIN Mir –? Die ich den großen Wirt betrüge, damit nur du Bier umsonst – G ROSSER W IRT (erscheint in der Schenktüre.) G ILDA Die ich dir alles umsonst – W LADIMIR Umsonst?! – Das glaubt ihr wohl selber nicht, ihr Weiber!! (Er grinst.) G ILDA (erblickt DEN GROSSEN W IRT .) K ELLNERIN (starrt W LADIMIR an – dumpf) Nein, jetzt glaub ich nicht mehr. Jetzt erwart ich die Rechnung – (Sie senkt das Haupt.) G ILDA (zur K ELLNERIN ) Dann bezahlen Sie! (Sie deutet nach DEM GROSSEN W IRT .) K ELLNERIN (fährt zusammen – dreht sich ruckartig um – erblickt DEN GROSSEN W IRT – prallt zurück.) G ROSSER W IRT (grinst.) G ILDA (lacht höhnisch meckernd.) K ELLNERIN (zu W LADIMIR – tonlos) Dein Bier – G ILDA (verstummt plötzlich.) G ROSSER W IRT (fixiert W LADIMIR .) H AUSMEISTERIN (stürzt atemlos durch das Haustor herein – zu W LADIMIR ) Sie kommen, Herr! W LADIMIR (zum GROSSEN W IRT ) Was kann ich dafür, daß sie betrog?! Hätte die heiligsten Eide geschworen, daß sie Ihnen mein Bier bezahlte!!

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K LEIN (steigt aus seiner Dachstube herab – mit der Geige unter dem Arme und einem Bündel in der Hand.) H AUSMEISTERIN Sie kommen schon –!! K ELLNERIN (starrt die Scherben am Boden an – tonlos) Was werd ich noch alles bezahlen müssen – H AUSMEISTERIN (zu W LADIMIR ) Kommen Sie doch!! K LEIN (ist unten angekommen – zur H AUSMEISTERIN ) Wer kommt? H AUSMEISTERIN (gibt ihm keine Antwort – zerrt W LADIMIR an das Haustor.) K LEIN (zur K ELLNERIN ) Wer kommt, bitte –? K ELLNERIN (hört ihn nicht – starrt immer noch auf die Scherben am Boden.) S CHREINER (zu K LEIN ) Mein Krug – (Draußen auf der Straße fährt lautlos ein großer schwarzer Wagen vor.) K LEIN (zu ALLEN ) Bitte – wer kommt, bitte –? L EHMANN (auf seinen Krücken – in Schwarz mit Zylinderhut – und) U RSULA (als Braut – treten durch das Haustor ein.) (Draußen fährt der große schwarze Wagen wieder lautlos fort.) L EHMANN (betrachtet W LADIMIR .) H AUSMEISTERIN Er sagt, er sei Ringkämpfer, Herr Lehmann. L EHMANN (zu W LADIMIR ) Sie werden wahrscheinlich schon wissen: kann über keine Stufen – Ich sehe: Sie sind stärker als jener, der mich heut früh heruntertrug / der ließ mich fast fallen, und ich wollte doch auf das Standesamt – und den Kragen brechen? –: Heute –? (Er wendet sich U RSULA zu und lächelt.) W LADIMIR Fühlen Sie mal – (Er hält seinen Arm vor U RSULAS Nase.) U RSULA (weicht zurück.) W LADIMIR (grinst – sieht nach G ILDA .) G ILDA (lächelt „lieblich“ und legt ihre Hand auf W LADIMIRS Schulter – sieht „triumphierend“ auf die K ELLNERIN .) H AUSMEISTERIN Niemand ist stärker! K ELLNERIN (erblickt G ILDAS Hand auf W LADIMIRS Schulter – lächelt leise.) Niemand – W LADIMIR (hört plötzlich auf zu grinsen – nimmt G ILDAS Hand von seiner Schulter.) K ELLNERIN (bemerkt es kaum – lächelt wehmütig.) G ILDA (wütend – zum GROSSEN W IRT ) Rufen Sie doch die Polizei! W LADIMIR (versetzt ihr einen Rippenstoß.) G ILDA (taumelt an die Wand.) Willst dies Weibsbild gar beschützen?! Schutzengel, du!! W LADIMIR (unterdrückt) Dies Weib –? Du dummes Luder –: mich! L EHMANN – Was geht hier vor? S CHREINER (sieht auf die Uhr – mürrisch) Vorbei! –: Mein Krug wurde zerbrochen – (Er geht durch das Haustor hinaus.) K ELLNERIN (tonlos) Ja, ein Krug – sonst nichts. G ILDA (kreischt.) Wie sie lügt!! W LADIMIR (versetzt G ILDA wieder einen Rippenstoß.) G ILDA (taumelt an die Wand und wimmert.) L EHMANN Was geht hier vor?! (Stille) M ALER Ja, eigentlich wurde nur ein Krug zerbrochen – Der Schreiner stellte ihn auf jenes Pult, und dieser Herr hier riß die Schenktüre auf, und dadurch kam der

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Schreiner um sein Bier / er hätte den Krug in der Hand behalten sollen / aber, wenn einer so lange warten muß – Denn die Kellnerin hat mit diesem Herrn – W LADIMIR Quatsch! G ILDA Zur Sache! M ALER Das ist eben die Sache! –: Denn sonst wäre die Kellnerin gleich gekommen, und der Krug wäre nicht zerbrochen worden, und der Schreiner hätte auch sein Bier. W LADIMIR Daß er es nicht hat, dafür kann ich nichts! Nicht ich habe den Krug zerbrochen. M ALER Wer denn –? W LADIMIR Niemand!! M ALER – Also sagen wir: Niemand. So was läßt sich ja auch nicht genau feststellen. Ich hörte nur dann das Geschrei, als die Kellnerin kam – G ILDA – Auf das Geschrei hin sah ich hier nach. M ALER Und dann gab es erst ein Geschrei! Kreuz und quer! Einer wollte des anderen Verbrechen hinausbrüllen, und derweilen traten eigentlich ihre eigenen ans Licht. Und auf den Lärm hin erschien der große Wirt / gerade als seine Kellnerin selbst sagte, daß sie ihn betrog. Jetzt will er sie einsperren lassen / aber ich glaube, daß nicht nur die Kellnerin, sondern auch die anderen zwei, falls sie einen großen Wirt hätten – W LADIMIR Herr!! Malen Sie lieber weiter!! (Er macht Miene, ihn anzugreifen.) M ALER Sonst schlagen Sie mich nieder – Doch ich male trotzdem nicht weiter / ich gehe – da Sie Ringkämpfer sind. K ELLNERIN Es gibt keine Gerechtigkeit!! M ALER (tonlos) Nein, jetzt mal ich nicht mehr – G ILDA Quatschkopf! M ALER (zum G LASER ) Komm! D IE BEIDEN (verlassen das Treppenhaus durch das Haustor.) (Stille) L EHMANN (leise: wie zu sich selbst) Keine Gerechtigkeit – H AUSMEISTERIN (zu L EHMANN ) Soll er Sie nun empor –? L EHMANN (winkt: warten – wendet sich DER K ELLNERIN zu.) Aber – wieviel haben Sie getrunken und nicht bezahlt? K ELLNERIN Ich habe nichts getrunken. W LADIMIR Sieben Liter: gestern fünf, heute zwei. L EHMANN Sie –? G ILDA (grinst.) Er war ihr Gast / sein Brustkorb hat ihr imponiert. K ELLNERIN (senkt das Haupt.) W LADIMIR (zu G ILDA ) Kusch!! L EHMANN (zum GROSSEN W IRT ) Ich werde bezahlen. A LLE (starren ihn an.) (Stille) L EHMANN (zum GROSSEN W IRT ) Da es keine Rolle spielt, wer trinkt, so dürfte es also auch keine Rolle spielen, wer die Rechnung bezahlt. Und Ihnen kann doch das auch gleichgültig sein. Streichen Sie, bitte, die sieben Liter – jedoch nur: wenn Sie die Polizei nicht rufen. G ROSSER W IRT (zuckt die Achsel und nickt: ja – geht und schließt die Schenktüre.) K ELLNERIN (wendet sich L EHMANN zu – will danken.) Ich –

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L EHMANN (unterbricht sie.) Nicht danken! Ich habe nicht gezahlt, um zu erhalten – (zu W LADIMIR ) Bitte nun – nur bis in den ersten Stock. W LADIMIR (will ihn emporheben – dadurch läßt aber) L EHMANN (seine Krücken fallen.) K LEIN (hebt sie auf.) L EHMANN Ich danke schön, Herr Klein – K LEIN Ich werde sie Ihnen nachtragen. L EHMANN (bemerkt das Bündel in K LEINS Hand.) Was haben Sie in dem Bündel? K LEIN (lächelt.) Mein „Alles“ –: Da ich doch heute ausziehen muß / die Woche ist ja heute vorbei – (Stille) L EHMANN Und Sie tragen mir dennoch die Krücken nach? K LEIN Die paar Stufen schaden mir ja nichts. L EHMANN (lächelt.) Ich vergaß: Sie können ja gehen – K LEIN Aber vergessen Sie nicht: Ich muß nicht – – Doch: Ich gratuliere, Herr Lehmann. (Er verbeugt sich leicht.) L EHMANN Danke. Sie sind der einzige Mensch hier – – Herr Klein, Sie können noch eine Woche wohnen – K LEIN (will ihm die Krücken zurückreichen.) „Ich habe nicht gezahlt, um zu erhalten“ – L EHMANN (nimmt die Krücken nicht an.) Verzeihen Sie / erlauben Sie – Verzeihen Sie, bitte / wollte Sie nicht beleidigen / wollte doch nur Gutes tun – Verstehen Sie denn das nicht?! K LEIN Ich kann nur bleiben, wenn ich bezahlen darf. L EHMANN „Kann“ –: wollen Sie wohl sagen. – Für Ihr „Alles“, samt der Geige, können Sie drei Tage hier wohnen / nur drei Tage – K LEIN Das weiß ich – Doch ich kann auf meiner Geige spielen. L EHMANN Und –: Wer hört zu? K LEIN (dumpf) Ja, ich vergaß –: Niemand. L EHMANN (lächelt leise.) Nur „Niemand“ –? K LEIN (will gehen.) L EHMANN (leise) Bleiben Sie! Bitte, bleiben Sie – Ich will Ihnen zuhören. K LEIN (bleibt stehen und starrt ihn erstaunt an.) G ILDA (grinst nun.) U RSULA (an – die unruhig wird.) W LADIMIR (stützt mit der einen Hand L EHMANN und räumt mit der anderen Speisereste aus einem hohlen Zahn.) H AUSMEISTERIN (geht durch die Hoftüre hinaus.) K ELLNERIN (sah immer nur L EHMANN an – kehrt nun mit den Füßen die Scherben am Boden in eine Ecke.) L EHMANN (zu K LEIN – leise) Sie staunen? Ja, Fürchtegott Lehmann will ein anderer werden: Jetzt will er Ihnen zuhören – (Er winkt ihn ganz in seine Nähe – sehr leise) Bitte, treten Sie näher, Herr Klein / denn sie soll es noch nicht erfahren / soll überrascht werden – Hören Sie: mein Plan: Gestern bot mir der Herr Meyer aus dem zweiten Stock, dessen Frau vor einer Woche am Tage vor ihrer silbernen Hochzeit starb, ein Bild an, und ich kaufte es für unser Schlafzimmer: Ein Geiger bringt einem Brautpaar ein Ständchen / der Mond scheint in einer kleinen Stadt / es ist vielleicht kein Kunstwerk, aber mir gefällt es – Und, wollen Sie heut Abend

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vor unserer Tür spielen? – Doch es soll eine Melodie sein, die man nie mehr vergißt. Und, damit bezahlen Sie ja auch gleich die Miete für drei Tage – Sagen Sie: Wollen Sie spielen, Herr Klein? K LEIN (verbeugt sich.) L EHMANN (zu W LADIMIR ) Dann –: los! W LADIMIR (trägt ihn empor in den ersten Stock.) U RSULA (geht hinterher.) K LEIN (trägt die Krücken nach – Oben angelangt überreicht er sie) L EHMANN (der) W LADIMIR (entlohnt und mit) U RSULA (durch die Tür rechts in seine Wohnung tritt.) G ILDA (sah von unten aus zu --- grinst.) K LEIN (steigt nun wieder empor in seine Dachstube.) W LADIMIR (steigt wieder herab.) K ELLNERIN (trat an die Schenke – will hinein in das Café zum großen Wirt, jedoch die Türe ist von innen verriegelt – Sie klopft an die Glasscheibe – wartet.) G ILDA (sieht ihr zu – lacht höhnisch.) W LADIMIR (ist nun unten angekommen.) G ILDA (zu W LADIMIR ) Die glaubt scheints wahrhaftig, daß sie noch Kellnerin ist beim großen Wirt! K ELLNERIN Der Lehmann hat doch bezahlt – G ILDA Und es kommt auch keine Polizei! Aber Sie sind entlassen! W LADIMIR Das versteht sich doch von selbst. (zu G ILDA ) Jetzt bekam ich aber allerhand Durst! Der Kerl ist schwerer, als wie er aussieht! Doch dafür gab er mir auch Geld, daß ich mir nun leicht gleich sieben Liter Bier / bei Gott, der Wucherer hat sich verändert! G ILDA Es sieht wenigstens so aus. K ELLNERIN (trommelt an die Glasscheibe.) Nein!! Es ist doch alles bezahlt! G ILDA (zur K ELLNERIN ) Wetten, daß Sie schon eine Nachfolgerin haben? W LADIMIR (tritt an die Schenke und pocht an die Scheibe.) Bier!! N ACHFOLGERIN (öffnet die Glasscheibe – sie ist DER K ELLNERIN sehr ähnlich.) Wer will hier Bier? W LADIMIR Ich / habe aber keinen Krug. N ACHFOLGERIN Wenn Sie den Einsatz bezahlen – W LADIMIR Ich trinke gleich hier. N ACHFOLGERIN (reicht ihm einen Krug Bier.) G ILDA (zur K ELLNERIN ) Sehen Sie – (Sie grinst.) K ELLNERIN (starrt DIE N ACHFOLGERIN an.) W LADIMIR (sauft das Ganze auf einen Zug aus – bezahlt dann und überreicht ihr den Krug und erfaßt dabei wie zufällig ihre Hand – lächelt sie „lieblich“ an.) G ILDA (schöpft Verdacht – grinst nun nicht mehr.) Gebt nur acht, daß der Krug nicht zerbricht – N ACHFOLGERIN (schließt rasch die Glasscheibe.) W LADIMIR (wendet sich langsam G ILDA zu und grinst.) Laß ihn nur immer ruhig zerbrechen – Ich hab ja schon getrunken. Und Einsatz geb ich nie! Das weißt du! – Aber / jetzt hab ich Hunger. G ILDA Ich hab zwar noch etwas – W LADIMIR Torte und Tee? Danke!

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Ein Niemand Epilog

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G ILDA Nein! Schweinefleisch – W LADIMIR Ah! (Er geht schnurstracks auf) G ILDA (zu und hängt sich bei ihr ein und verschwindet mit ihr in ihrer Wohnung.) (Stille) K ELLNERIN (allein – dumpf – tonlos) Ich habe keine Torte, keinen Tee, kein Schweinefleisch, kein Bier / und bin auch keine Kellnerin mehr – nichts mehr – hab nichts mehr zu überlegen – – zwei Häuser weit / Parterre / Tür links – und zweimal anläuten / zweimal – – (Sie pocht plötzlich stark an die Glasscheibe – schreit.) Nein!! Laßt mich hinein!! Ich will auch nie mehr betrügen. Hört ihr mich denn nicht?! –: Nie mehr!! Laßt mich nur wieder Kellnerin sein – Es ist doch alles bezahlt – – Ende des zweiten Bildes.

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Nacht. Draußen liegt die Straße still und leer. Drinnen leuchtet ein trübes Licht. F REMDER (tritt langsam durch das offene Haustor ein – sieht um sich – will die Stufen emporsteigen.) (Von oben her ertönt das Stimmen einer Geige.) F REMDER (bleibt stehen und lauscht.) K LEIN (steigt aus seiner Dachstube herab –: immer seine Geige stimmend – und hält im ersten Stock vor L EHMANNS Tür: immer seine Geige stimmend.) G ILDA (kommt vom Strich – mit einem) U RALTEN S TUTZER F REMDER (zieht sich zurück in eine dunkle Ecke.) D IE ZWEI (erblicken ihn nicht – halten vor G ILDAS Tür.) S TUTZER (sieht sich um – leise: etwas stotternd) Also: hier – Dies Treppenhaus ist mir nicht unbekannt. G ILDA Warst aber noch nie bei mir. S TUTZER Möglich. Aber hier war ich schon oft / droben im dritten Stock – Dort wohnte einst meine Braut: Fräulein Teresia Müller. (Er grinst.) G ILDA Das deine Braut –? S TUTZER – Kennst du sie denn? G ILDA Nur vom Sehen aus: Ich rieche nicht gerne „Jungfrau“ – (Sie grinst.) S TUTZER (grinst.) Jungfrau! G ILDA Bis der Wagen vorfährt! S TUTZER Doch nicht der Hochzeitswagen! G ILDA Wenn man mal so uralt ist – S TUTZER Ja, es ist schon etliche Jährchen her – Jedoch: Ich hab mich konserviert! G ILDA (lächelt.) Wollen es hoffen! S TUTZER (horcht.) – Musik? Sogar Musik? G ILDA Ja, du – Heut haben wir sogar Musik. S TUTZER Phänomenal! Aber aufrichtig –: Ich verstehe den Zusammenhang nicht. G ILDA Wer versteht denn den Zusammenhang? S TUTZER Ja, wer? Niemand – nur der liebe Gott.

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G ILDA Der wird sich hüten ihn uns mitzuteilen – Man hängt eben zusammen – (Sie lächelt und steckt den Schlüssel in das Schlüsselloch.) S TUTZER Ach, du – Mit dir möchte ich immer zusammenhängen! G ILDA Immer? S TUTZER Nur eine Nacht – G ILDA Jede Nacht, wenn – S TUTZER (hebt die Hand.) Halt! Um Irrtümer zu vermeiden: Ich trage zwar bei jedem Wetter Lackhalbschuhe und reinseidene Socken / bei Sonne, Sturm und Schnee / und da hat man nie Geld / bei Sonne, Sturm und Schnee, halt! –: Sieh diesen Ring / aus purem Golde / er sei dein: um eine Nacht – aus purem Golde – Den gab mir einst meine Braut / Fräulein Teresia Müller / mit der Inschrift: Und die Liebe höret nimmer auf – Halt! Um Irrtümer zu vermeiden: Diese Inschrift trug nur der Ring, nicht die Braut! – Und das war äußerst peinlich! (Er grinst.) G ILDA (grinst.) Die Jungfrau – S TUTZER Damals heulte ich – Aber man stumpft ab! Heute bind ich mich nur mehr „auf eine Nacht“. K LEIN (versucht auf seiner Geige leise einige Walzertakte zu spielen.) S TUTZER (horcht.) – Mein Verlobungswalzer! Und der Zeit zum Trotz: Ich kann noch tanzen! (Er versucht einige Walzerschritte.) Bin noch jung – Walzer –! G ILDA Hach nein! Du Mumie! S TUTZER Mumie!! (Er knickt fast ganz zusammen – betastet sein Kreuz.) Wäre sicherlich ein begabterer Bräutigam wie so mancher andere. G ILDA Auf alle Fälle begabter wie Lehmann – Komm! (Sie öffnet die Türe.) S TUTZER (wird plötzlich sehr ernst – fixiert sie.) Lehmann? Wie meinst du das? Willst mich verlachen? G ILDA Wieso? S TUTZER Ich heiße Lehmann, Max Maria Lehmann. G ILDA (lacht.) Nein, der Zusammenhang! Sei nicht böse: wußte beim heiligen Antonius nicht, wie du heißt! S TUTZER Aber du konntest es doch wissen – zufällig. G ILDA Aber ich wußte es nicht! – „Zufällig“: Wenn es dir so gefällt. Tue ja alles, was dir gefällt. S TUTZER Um einen Ring – G ILDA – Mit der Inschrift: Und die Liebe höret nimmer auf. (Sie lacht.) S TUTZER Lach nicht! G ILDA (verbeißt das Lachen.) Sei mir nicht böse –: Woher sollte ich denn deinen Namen kennen / sehe dich doch zum ersten Male. S TUTZER Das kann man nie wissen. G ILDA Aber ich weiß: Sprach nur von dem Pfandleiher Lehmann, dessen Brautnacht eben vom Stapel läuft / dort oben / hinter jener Türe, vor welcher der Kerl seine Geige stimmt: Soll ihm ein Ständchen bringen / ein Ständchen / und das hat er auch sehr nötig. S TUTZER Wieso? G ILDA Er ist zwar erst in den Dreißigern, aber ist ein Krüppel auf Krücken: Nicht mal die Treppen kann er herunter / zur Trauung wurd er getragen. S TUTZER Wie überaus peinlich! G ILDA Niemand hat Mitleid mit ihm! Alles wünscht ihm nur das Böse, weil er ein Betrüger ist!

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S TUTZER Etwas muß er doch sein. K LEIN (versucht auf seiner Geige wieder leise zu spielen: diesmal einige Takte des Hochzeitsmarsches.) G ILDA Und der Hochzeitsmarsch! Der Bräutigam! Den möcht ich sehen, wenn er – marschiert! (Sie grinst.) S TUTZER Und die Braut? G ILDA Ein junges Ding – kaum achtzehn / halb verhungert / ich kenne sie / gut / sogar sehr gut – Aber was nachher wird! Wenn sie satt sein wird –! (Sie grinst wieder.) – Komm! Gib mir jetzt den Ring! S TUTZER (nickt: nein) Nachher. G ILDA Nachher? Glaubst du, ich lasse mich betrügen?! S TUTZER (will gehen.) Gute Nacht! G ILDA (reißt ihn zurück.) Nein! Komm – S TUTZER (grinst – kämpft dann mit einem Hustenanfall.) G ILDA (klopft ihm auf den Rücken.) D IE BEIDEN (verschwinden in G ILDAS Türe.) (Stille) F REMDER (fährt sich mit der Hand über die Augen – steigt dann langsam halb empor in den ersten Stock – grüßt lautlos den H ERRN K LEIN .) Sagen Sie – Ist es wahr, daß Herr Lehmann heiratet / heute / Herr Fürchtegott Lehmann –? K LEIN Ja, das ist wahr. F REMDER Wollte ihn nur sehen / war lange fort / und – eigentlich hat sich nichts verändert – Werde wieder gehen / und wieder kommen / vielleicht schon morgen / doch nein! –: Nicht stören will ich die Flitterwochen – – vielleicht übermorgen – Aber: Sagen Sie – (Er will ihn fragen – überlegt es sich aber wieder im letzten Augenblicke und schweigt – grüßt stumm und geht: fast etwas verstört.) K LEIN (grüßt auch lautlos und fängt dann an, den Hochzeitsmarsch zu spielen.) F REMDER (bleibt stehen und lauscht – lächelt – geht dann durch das Haustor hinaus auf die Straße – verschwindet in der Nacht.) K LEIN (allein im Treppenhaus – spielt.) L EHMANN (auf seinen Krücken – tritt langsam, leise aus seiner Türe – lauscht dem Spiele K LEINS , der ihm den Rücken zuwendet – klopft dann mit der Krücke auf den Boden – tonlos) Herr Klein – K LEIN (bricht erschreckt das Spiel ab und dreht sich ruckartig um – erblickt L EHMANN .) L EHMANN Bitte, brechen Sie das Spiel ab, Herr Klein – Warum starren Sie mich so an? K LEIN Ich dachte, Sie wären ein Gespenst. L EHMANN Wär ich nur ein Gespenst! – Es ist zu entsetzlich: Wenn man leben muß und nicht mehr träumen kann. K LEIN Das wäre mein Tod. L EHMANN Das ist mein Leben! – Bitte, brechen Sie das Spiel ab, Herr Klein. K LEIN (fast verstört – verbeugt sich und steigt langsam wieder empor in seine Dachstube.) L EHMANN (allein – hat das Haupt gesenkt – und fängt an hin und her zu humpeln.) (Stille) U RSULA (mit offenem Haar – erscheint in L EHMANNS Türe.) L EHMANN (hörte ihr Kommen – blieb stehen – wendet sich nun ihr zu und lächelt.)

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U RSULA (unsicher – langsam, leise) Warum / bist du / hinaus –? (Stille) U RSULA (ebenso) Warum – hast du dich / wieder / angezogen? L EHMANN (wird sehr ernst – langsam, leise) Warum / hast du / das Licht – auslöschen wollen? U RSULA (senkt das Haupt.) L EHMANN (sehr leise) Hast dich geschämt –? (Er grinst.) Nein! Antworte nicht! Ich will dich nicht zwingen zu lügen / ich will dich nicht fragen / ich weiß: Das war nicht Scham / das war auch nicht einer keuschen Seele Angst / das war Abscheu! Ekel!! Still! Antworte nicht! –: Ich will dir nicht das Lügen lernen – Verstehe ja die Wahrheit, selbst, wenn sie mich noch so sehr foltert / verstehe nur die Gerechtigkeit nicht – Dich versteh ich / nur war ich bisher blind: Bräutigam – zum Schieflachen! Was?! – – Wäre ich du, würd ich auch bitten: Lösch das Licht aus, wenn solch Gebeine sich um mich schlingen wollen / meine Beine – Verstehe dich / nicht aus Schwäche / es nimmt sich nur vielleicht so aus / aber ich bin stark! Nur meine verkrüppelten Kinderbeine – – Geh, Ursula / lege dich nur ruhig nieder / ich bleibe hier draußen / werde mich nicht wieder neben dich legen / werde mich nie wieder vor dir entkleiden / werde wachen / ganz ungestört kannst du schlafen – und träumen – U RSULA Glaubst du, daß ich jetzt schlafen kann? – Oh, wäre alles nur ein Traum!! L EHMANN Pst – Still! Alles erwacht ja –: Und man feiert seine Brautnacht doch nicht in einem Treppenhaus – (Er grinst: fast irr) U RSULA Das ist grauenhaft! Könnt ich nur fort –! (Stille) L EHMANN (wurde plötzlich sehr ernst.) Sag: Warum wurdest du mein Weib? U RSULA (tonlos) Das frage dich. L EHMANN Nein, nicht ich! –: Wollte ja nichts / nichts – U RSULA Du gabst mir zu essen – L EHMANN Aber ich verlangte doch keine Bezahlung / hab mich ja nur gefreut, daß du satt wurdest. Doch, als du dann gingst – hab ich dich wieder gerufen / mit wem sollte ich denn auch sprechen können? Alle wurden mir Feind, weil ich bewies, daß ich auf ihr Mitleid verzichten kann / jetzt kommen sie nur zu mir, wenn sie etwas kaufen oder verkaufen / und ich blieb allein – und habe dich immer wieder gerufen, wenn du fort warst / und du kamst auch wieder – U RSULA Ich habe „ja“ sagen müssen. – – Habe einmal einen Krug zerbrochen, dort, wo ich diente / ich öffnete nur eine Türe, und dadurch fiel er von einem Pult / eigentlich hat ihn Niemand zerbrochen / aber ich mußte „ja“ sagen, und da mußt ich gehen – Und jetzt mußt ich kommen / immer wieder kommen und gehen / mußte zu allem immer nur „ja“ sagen – Sonst wär ich verhungert oder draußen –: auf der Straße und dann / später verhungert. L EHMANN Ich will es nicht glauben! –: Nur fürs Fressen! U RSULA Nein, nicht nur fürs Fressen. Es war auch Mitleid – L EHMANN Mitleid! – Bettle schier um Liebe / hasse das Mitleid und aus – Bin ich denn verflucht?! U RSULA (entsetzt) Fürchtegott! (Sie flieht in die Wohnung.) (Stille) L EHMANN (allein – starrt ihr nach – grinst irr.) „Fürchtegott, bitte, lösch das Licht aus –“

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Ein Niemand Epilog

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(Jemand lacht höhnisch irgendwo oben – Ein Sturmwind braust durch das Treppenhaus und löscht das Licht aus.) L EHMANN (schreit.) Licht!! 5

Ende des dritten Bildes.

Vi e r t e s B i l d . 10

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Tr ü b e r S p ä t n a c h m i t t a g . Z WEI D ETEKTIVE (stehen unten links vor G ILDAS Türe – läuten wieder an – warten.) (Stille) E RSTER D ETEKTIV Niemand zu Hause. K LEIN (steigt aus seiner Dachstube die Stufen herab.) Z WEITER D ETEKTIV Da kommt wer. Ob wir den fragen sollen? E RSTER Wird der was wissen? Z WEITER Das kann man nie wissen. E RSTER Gut: Fragen Sie. Ich melde unterdessen, daß Niemand zu Hause. Z WEITER Gut: Ich spüre unterdessen umher / im ganzen Treppenhaus – und überall! E RSTER Sehr gut. (Er grüßt kurz und geht.) K LEIN (ist nun unten angekommen.) Z WEITER (grüßt – weist sich aus.) Polizei. Ich bitte um Auskunft. K LEIN Bitte – Z WEITER (notiert.) Sie wohnen hier im Hause? K LEIN Ja – im vierten Stock / ich heiße Klein / Andreas Klein – nach der Mutter – Z WEITER (notiert.) Ihre Beschäftigung? K LEIN Ich habe keine Beschäftigung. Z WEITER (wird aufmerksam.) Keine – K LEIN Habe nur eine Geige / suche immer eine Beschäftigung / Café, Kino, Cabaret / aber ich finde keine – Z WEITER (lächelt – notiert.) Ja, das ist alles schon dagewesen – also: nur eine Geige. K LEIN Ja, und die gehört eigentlich auch nicht mehr mir / sondern dem Wucherer – wollte sagen: Lehmann. Z WEITER (fixiert ihn.) Lehmann, sagen Sie –? K LEIN Warum wundert Sie das? Z WEITER (scharf) – Wissen Sie, daß Lehmann ermordet wurde – K LEIN (entsetzt) Ermordet –?! Z WEITER Ein Angestellter der städtischen Straßenreinigung fand seine Leiche auf dem Bauplatz in der Nachbarschaft / neben den uralten Kehrrichttonnen / der Schädel ward ihm mit einem stumpfen Gegenstande zertrümmert – – Und die Spuren weisen nach diesem Hause. K LEIN Ja, das glaube ich gerne. Z WEITER Haben Sie Verdacht? K LEIN (weicht aus.) – Das ganze Haus gehört ja ihm. Aber: Das ist furchtbar! Z WEITER Zuvor sagten Sie, er sei ein Wucherer, und jetzt sagen Sie: Es ist furchtbar! Wie reimt sich das zusammen? K LEIN Wissen Sie – Er hat gestern geheiratet – Und seit der Zeit tat er mir leid. Z WEITER (grinst.)

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Ein Epilog Niemand

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K LEIN Wirklich –: seit seiner Brautnacht – Er tat mir leid, der Fürchtegott Lehmann. Z WEITER Fürchtegott? – Er heißt ja gar nicht Fürchtegott – Er heißt Max, Max Maria Lehmann! K LEIN Max – – also: nicht Fürchtegott? Z WEITER Max Maria Lehmann. (Stille) Z WEITER Noch eine Frage: Kennen Sie Fräulein Amour, Gilda Amour? – Eigentlich: Schulze. Gilda Schulze. K LEIN Schulze –? Also nicht Amour? Z WEITER Schulze! K LEIN (lächelt.) Ich kenne nur Fräulein Amour. Z WEITER Verstehe. K LEIN – Darf ich jetzt gehen? Z WEITER (klappt das Notizbuch zu.) Ja. K LEIN (geht hinaus auf die Straße.) Z WEITER (allein – kaut an seinem Bleistifte – sieht sich um – steigt dann rasch die Stufen empor – bis in die Dachstube.) (Stille – Es dämmert leicht.) U RSULA (tritt oben aus ihrer Türe und will hinab – Sie hat wieder das alte abgetragene Kleid an, in dem sie kam.) L EHMANN (auf seinen Krücken – erscheint hinter ihr in der Tür.) Also –: War das dein letztes Wort? U RSULA (bleibt stehen.) L EHMANN (leise: ganz ohne Vorwurf) Wieder fort – U RSULA (senkt das Haupt.) L EHMANN Wieder allein. Immer nur alles hinunterwürgen. Du gehst, und wieder hör ich die Verlassenheit schweigen / sie hockt am Herde und stiert tief in mein Herz hinein / und all das alte Gerümpel da drinnen starrt mich noch hasserfüllter an / und am verbissensten haßt mich die Puppenküche / wohl weil ich ihr nicht die gleiche große tiefe Liebe entgegenbringen kann wie jenes kleine Mädchen, dessen Vater Wucherer / andere Wucherer / in den Konkurs trieben: Er mußte selbst die Puppenküche verkaufen. Warte! – Ich irre ab / ich irre ab! U RSULA Warten! –: Auf was? L EHMANN Ja, auf was – Ich irre ab / vergaß: Darf ja nicht hoffen – Aber deshalb muß ich wohl reden / reden – (Stille) L EHMANN Also – U RSULA (ohne ihn anzusehen – ganz ohne Schärfe: leise) Was „also“? L EHMANN Also – (Stille) U RSULA (sieht ihn plötzlich an.) Du wolltest doch sprechen – L EHMANN (sieht sie an – lächelt leise und weicht aus.) Geh nur, Ursula. U RSULA Wir saßen den ganzen Tag drinnen und sprachen nichts – seither bis jetzt. Jetzt muß ich gehen: Da drinnen erwürgt mich die Luft. L EHMANN Hast recht. – Verzeihe: Aber ich vergesse immer wieder, daß ich diese Nacht in einem Treppenhause humpelte: hin und her / und, daß ich hörte – (Er stockt – sieht empor.) Geh nur. (Er verschwindet in der Wohnung – schließt die Türe.)

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Ein Niemand Epilog

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U RSULA (allein – wie versteinert – rast dann plötzlich die Treppen herab – trifft im Haustor auf) G ILDA (und) W LADIMIR (die eben eintreten wollten.) G ILDA (ist betrunken.) Sieh da: Ursula! Verzeihung! Ich vergesse immer wieder –: Frau Lehmann. Wir haben uns lange nicht mehr gesprochen / gratuliere gnädige Frau – Ist sie auch recht glücklich, die junge Frau? (Sie lacht höhnisch meckernd.) W LADIMIR (zu G ILDA ) Laß sie doch! (Er geht weiter – bleibt vor G ILDAS Türe stehen.) G ILDA (zu U RSULA ) Nein, im Ernst: Höre –: Daß du dir so rasch und obendrein noch diesen gutsituierten und gutaussehenden jungen Mann! –: Das hätt ich dir nimmermehr zugetraut! Alle Achtung! Ich gratuliere! W LADIMIR (vor G ILDAS Türe) Öffne!! G ILDA (zu W LADIMIR ) Schau einer an! Der Ton! Willst wohl Gorilla markieren?! U RSULA (flieht entsetzt auf die Straße.) W LADIMIR Öffne, sag ich dir! Sofort!! G ILDA (torkelt.) Bist wohl wahnsinnig geworden – Warte! Ich besorge dir die Zwangsjacke! (Sie will wieder gehen.) W LADIMIR (reißt sie roh zurück.) Dageblieben!! (Er zwingt sie auf die Knie.) G ILDA (wimmert.) Au! Du tust mir weh! – Laß mich, bitte, laß aus – (Sie krümmt sich am Boden.) W LADIMIR (läßt sie los.) Wurm. (Stille) W LADIMIR (ganz ruhig) Zwar bist du blau – Aber ich glaube, daß du mich dennoch verstehen wirst – Und das rat ich dir! G ILDA (am Boden) Verzichte auf Ratschläge! W LADIMIR Das sagst du jetzt: Weil du besoffen bist! Verzichte lieber auf den Ring! G ILDA – Mit der Inschrift: Und die Liebe höret nimmer auf. (Sie grinst betrunken.) W LADIMIR Grins nicht! Der Ring gebührt mir! G ILDA Dir –? – Wen hat er denn – –: dich oder mich – W LADIMIR Dich! Aber frag lieber: Wen hat er betrogen? –: Dich! G ILDA Hast ihn wohl meinetwegen niedergeschlagen? – Du willst doch den Ring! W LADIMIR Deinetwegen! Um dir seidene Strümpfe kaufen zu können! G ILDA Damit ich dich geiler mache! – Oder: sogar vielleicht, damit das Geschäft besser geht / dein Geschäft – Betrug! Z WEITER D ETEKTIV (kommt aus dem Hofe rechts im Hintergrunde – bleibt aber in der schmalen Hoftüre stehen – lauscht.) W LADIMIR Hündin!! Sag: Wer hat ihm den Schädel mit dem Hammer?! Wer trug die Leich hinüber auf den Bauplatz?! Wer hat gemordet?! Ich! Ich!! – Du Vieh!! – (Er will ihr eine Ohrfeige geben.) Z WEITER (tritt in das Treppenhaus.) Im Namen des Gesetzes! G ILDA (schnellt auf vom Boden – flüchtet sich hinter den ZWEITEN D ETEKTIV.) W LADIMIR (zum Z WEITEN ) Weg da!! G ILDA (lacht laut auf – hinter dem D ETEKTIV ) W LADIMIR Kanaille!! (Er reißt sein Messer hervor.) Z WEITER (zieht den Revolver.) W LADIMIR Weg!! – Mir hat sich noch Niemand in den Weg gestellt! Noch nie!! Nicht

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mal der da oben!! (Er deutet gegen den Himmel: als würde er schwören wollen – stürzt sich auf den ZWEITEN D ETEKTIV.) Z WEITER (schießt – zertrümmert seine hocherhobene Hand.) W LADIMIR (läßt die Hand sinken – starrt sie an: totenbleich.) Z WEITER Im Namen des Gesetzes! W LADIMIR (lacht heiser auf – stürzt hinaus auf die Straße.) Z WEITER (ihm nach) G ILDA (allein – atmet tief auf – bindet sich die Schuhbänder.) (Es ist Nacht geworden.) L EHMANN (tritt aus seiner Wohnung, in der die Lampe brennt, in die Dunkelheit – sieht sich um: aber sieht nichts, da er von dem Lichtstrahl, der durch die Türe hinausfällt, geblendet ist.) (Das Licht im Treppenhause flammt auf: wie auf einen höheren Befehl.) L EHMANN (erblickt) G ILDA (die eben ihre Strumpfbänder richtet.) L EHMANN (sieht ihr zu –) G ILDA (bemerkt ihn.) (Stille) L EHMANN (leise) – Wer hat hier geschossen? G ILDA Nichts von Bedeutung. – Warten Sie, Herr Lehmann – (Sie holt aus ihrem Strumpf den Ring hervor – trägt ihn etwas torkelnd zu L EHMANN empor in den ersten Stock.) Hier – Was zahlen Sie mir dafür? L EHMANN (sah ihr zu – nimmt ihr nun den Ring ab – betrachtet ihn.) Ein Ring / und eine Inschrift / darf man die Inschrift lesen? –: Und die Liebe höret nimmer auf. G ILDA Es ist Gold. L EHMANN Nein –: Es ist nur vergoldet. G ILDA Wollen Sie mich betrügen? Ich weiß: Es ist Gold! L EHMANN Es ist Blech – vergoldet. G ILDA Blech –? Das lügen Sie! L EHMANN Blech. (gibt ihr den Ring zurück.) Dafür zahle ich keinen roten Heller. (Stille) G ILDA Und ich dachte es wäre Gold / pures Gold – Was habe ich alles tun müssen für diesen Ring! Habe ihm eine ganze Nacht gegeben für diesen Ring / diesem uralten Hund / mit seinen verfaulten Zähnen / er stank aus dem Maule nach Tabak und Geilheit! – Hätte so viel verdienen können in dieser Nacht / es war wieder ein Frühlingsfest, und da wimmelt es vor Besoffenen – Aber ich dachte, es wäre Gold / pures Gold – – Was wurde schon alles getan für diesen Ring! Was ich alles tat! Ich Vieh / ich Sau! –: Was er nur von mir verlangte – und noch mehr / viel mehr – Alles tat ich! Alles!! Alles – (Stille) L EHMANN (leise) Was – mußten Sie – alles tun –? G ILDA (stutzt – sieht ihn an – begreift – lächelt.) Alles – L EHMANN (erregt – sehr leise) Was – alles –? G ILDA (nähert sich ihm – faßt ihm unters Kinn.) Soll ich erzählen –? –: Alles –? L EHMANN (nickt hastig: ja – faßt nach ihr.) G ILDA (weicht zurück.) Nein! Zuerst: Kaufst du mir den Ring ab, als wäre er pures Gold –? L EHMANN (nickt: ja) –: Als wäre er pures Gold – (Er faßt wieder nach ihr.)

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G ILDA Noch nicht! Erst zahlen! L EHMANN Gleich! Laß dich nur mal anfassen – (Er ergreift ihren Arm.) Laß mich wärmen / mich friert hier immer / wie warm dein Fleisch ist – (Er will ihr in die Bluse tasten.) G ILDA (schlägt ihm auf die Hand.) Erst zahlen! L EHMANN (läßt sie los – humpelt rasch in seine Wohnung – kommt wieder – legt Münzen in ihre Hand.) Hier – als wäre es pures Gold. G ILDA (zählt das Geld – hebt dann wieder ihren Rock hoch und steckt es in ihren Strumpf.) L EHMANN (starrt auf ihr Bein.) Laß den Rock so oben – G ILDA (lacht.) So oder so –? (Sie hebt ihn noch etwas höher.) L EHMANN (stöhnt – will sich auf sie werfen – läßt die Krücken fallen –) G ILDA (weicht –: die Stufen hinab.) L EHMANN (stürzt längs die Stufen hinab.) G ILDA (lacht laut.) Ausgerutscht, Wucherer!! – Und wie stürmisch, du Süßer!! – Komm doch zu mir! Hier bin ich! – Warum kommst du denn nicht? L EHMANN (auf den Stufen) Ich will ja, – aber ich kann nicht – meine Krücken – Wo sind meine Krücken – G ILDA Weiß ich, wo sie sind?! Such sie dir! L EHMANN Gib mir meine Krücken – G ILDA (in der Türe zu ihrer Wohnung) Und was noch?! –: Kalte Umschläge und Klosettschlüssel! Wenn du nicht bald kommst, gehe ich / habe keine Zeit! Zähle noch bis drei: eins – zwei – – drei!! Leb wohl! Auf Wiedersehen! (Sie schlägt die Türe zu.) (Stille) L EHMANN (allein – preßt das Antlitz in den Boden – weint leise – hebt den Kopf.) Was kriecht so heiß über meine Hände –? –: Blut –? – Ich habe mir den Schädel eingeschlagen – (Er brüllt.) Ursula!!! (Tiefe Stille) D IE N ACHFOLGERIN (tritt aus der Schenktüre.) L EHMANN (wimmert.) N ACHFOLGERIN (zuckt zusammen und lauscht – sieht sich um und erblickt L EHMANN auf den Stufen – starrt ihn einen Augenblick lang an – begreift.) Himmel!! (Sie eilt auf ihn zu.) Was geschah nur da – (Sie kniet neben ihm nieder und bemüht sich um ihn.) L EHMANN (mißtrauisch, gebrochen, leise) Nichts! Lassen Sie mich! Was wollen Sie von mir –? N ACHFOLGERIN Will Ihnen helfen. – Hörte hier eben „Ursula“ schreien und sah nach, wer mich rief. L EHMANN Sie –: Ursula? (Er grinst.) Wer sind Sie? N ACHFOLGERIN Ich bin die Kellnerin – L EHMANN Die Kellnerin – (Er erinnert sich.) Ja, es gibt keine Gerechtigkeit!! (Seine Stimme schnappt über in ein Gestöhn – Er faßt sich an den Kopf.) N ACHFOLGERIN Geben Sie acht, Herr Lehmann! Sie bluten – L EHMANN (stutzt – starrt sie an.) Woher wissen Sie, wer ich bin – – N ACHFOLGERIN (lächelt leise.) Ich kenne Sie gut, Herr Lehmann – L EHMANN „Gut“?! (Er grinst wieder.) Dann wissen Sie ja, daß ich der schlechteste – N ACHFOLGERIN Still! Wenn einer das Mitleid zurückweisen kann, ohne die Treppen

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herunterzukönnen, der kann auch nicht leben, ohne beschimpft zu werden. Aber Sie haben einmal einer Kellnerin Rechnung bezahlt – L EHMANN Woher wissen Sie das –? K ELLNERIN (lächelt wieder leise.) Warum wird Ihnen bange – / – Hören Sie: Eben trat eine Dame in das Café und verlangte eine Nadel von mir, denn ihre hellen Strümpfe waren geplatzt / und während ich die Naht zunähte, erzählte sie mir, daß auch sie hier Kellnerin war, und daß Sie, Herr Lehmann, ihr einmal geholfen hätten – Wenn ihr dann die Zukunft auch keine guten Gaben brachte / aber sie wären noch schlechter geworden, wären Sie damals nicht gewesen, und sehen Sie: Jetzt will ich Ihnen helfen / bin zwar nur die Nachfolgerin / aber da es keine Rolle spielt, wer das Bier trinkt, und wer bezahlt, so spielt es also auch keine Rolle, wer es zurückbezahlt. Sie haben einmal einer Kellnerin Rechnung bezahlt / und jetzt bin ich die Kellnerin – bis wieder ein Krug zerbricht / Sie haben Gutes getan, und ich freue mich, es Ihnen jetzt zurückzahlen zu dürfen – L EHMANN (starrt sie an – bange.) Wer sind Sie –? – Sie sind kein Mensch – N ACHFOLGERIN Vielleicht – Wenn man Gutes tun darf, ist man mehr als nur ein Mensch. L EHMANN Ja – Und dem man Gutes tut, ist noch weniger als nur ein Mensch. Ich verzichte auf alles Gute, bekommt man es nur dann, wenn man als Krüppel die Treppen herunterfiel. N ACHFOLGERIN Sagen Sie das nicht! Können Sie Gutes tun, ohne zu helfen. L EHMANN Mitleid?! Verzichte!! (Er röchelt.) N ACHFOLGERIN (beugt sich über ihn.) – Wie Sie bluten! L EHMANN (ist ohnmächtig geworden: liegt nun wie leblos auf den Stufen.) N ACHFOLGERIN (hält seinen Kopf in ihrem Schoß.) (Tiefe Stille) U RSULA (tritt durch das Haustor ein – bleibt einen Augenblick lang stehen und lehnt sich an die Wand: abgehetzt, als wäre sie nach einer Flucht – stiert vor sich hin und will dann langsam die Treppen empor – erblickt DIE N ACHFOLGERIN – stutzt – erblickt L EHMANN – starrt ihn an – will schreien, aber beißt nur in ihre Hand.) N ACHFOLGERIN (zu U RSULA – leise) Still! U RSULA (starrt noch immer DIE BEIDEN an – geht dann langsam und scheu die Treppen empor und kniet neben L EHMANN nieder – bebend) Was / was ist denn nur geschehen –?! L EHMANN (wimmert schwach – leise: als würde ein anderer aus ihm sprechen.) Ich blute – U RSULA Das ist furchtbar!! N ACHFOLGERIN (fixiert U RSULA .) U RSULA – –: Ich mußte fort / lief die Straßen kreuz und quer, ohne Ziel / nur fort – und bog eben um eine Ecke, da hört ich meinen Namen rufen / vor mir stand einer auf Krücken: Er war nicht größer – und zog den Hut und verbeugte sich tief und trug mir einen goldenen Ring an, wenn ich mit ihm zu Abend esse – Ich lief und lief / aber er lief schneller auf seinen Krücken / sah ich mich um, grinste er: „Nichts, nichts“ – Und er hätt mich eingeholt, wenn ihn nicht einer überrannte, verfolgt von Polizei – Ich sah nicht mehr, wohin ich mich wand / lief nur, lief – Und plötzlich stand ich wieder vor diesem Haustor / atemlos flüchtete ich herein. – Noch hör ich sein Wimmern, da er am Pflaster lag: „Ich blute, ich blute –“ – Und, jetzt, hört ich es wieder aus seinem Munde – Das ist –

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L EHMANN (murmelt in der Ohnmacht.) N ACHFOLGERIN (beugt sich über ihn – lauscht.) U RSULA (zur N ACHFOLGERIN ) – Was –? N ACHFOLGERIN (hebt langsam ihr Haupt.) „Ein Wunder –“ U RSULA (starrt DIE N ACHFOLGERIN an – bange) Ein Wunder – – Woher weiß er das?! N ACHFOLGERIN Wer sind Sie? U RSULA (weicht ihren Blicken aus – sehr leise) Ich – bin sein Weib. (Sie senkt das Haupt.) (Draußen auf der Straße fährt lautlos ein großer schwarzer Wagen vorbei.) N ACHFOLGERIN (sieht sich um.) Was –? U RSULA (gellend) Der Wagen!! (Tiefe Stille) N ACHFOLGERIN (beugt sich über L EHMANN – lächelt leise.) Nein – – Er fuhr nur vorbei.

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E s i s t M o rg e n . Draußen auf der Straße stehen graugelbe Nebel. U RSULA (tritt aus ihrer Türe mit einem Mülleimer.) (Ein leises Wimmern ertönt aus L EHMANNS Wohnung.) U RSULA (lauscht.) (Stille) U RSULA (will die Stufen herab.) F REMDER (trat durch das offene Haustor ein – steigt die Stufen empor – trifft U RSULA noch vor der Türe – grüßt unhörbar – spricht leise, etwas unsicher.) Sagen Sie – Ich möchte nichts kaufen noch verkaufen – Könnte ich Herrn Lehmann sprechen, Herrn Fürchtegott Lehmann –? U RSULA Mein Mann ist nicht zu sprechen. F REMDER Ihr Mann – U RSULA Wundert Sie das –? F REMDER (will ausweichen – lächelt.) – Warum soll mich das wundern –? B EIDE (wechseln Blicke.) (Wieder ertönt das leise Wimmern aus L EHMANNS Wohnung.) F REMDER (fährt zusammen – lauscht.) (Stille) F REMDER (leise) Was war das –? U RSULA (leise) Er. – Gestern –: Am Abend ging ich noch was vor das Haus / und als ich wiederkam, lag er blutend auf diesen Stufen / hat sich die Stirne zerschunden: wie mit einem Hammer – F REMDER Ein Schwächeanfall? U RSULA Wer weiß – – Er fieberte die ganze Nacht / fantasierte von einem Ringe, der ihn erdrosselt / einem Ringe mit der Inschrift: Und die Liebe höret nimmer auf. Ich trug ihn ins Bett – Jetzt schläft er schon lange / wimmert nur manchmal im Schlafe –: wird wohl bald erwachen. Oder –: Soll ich ihn wecken?

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F REMDER Nein! –: Nicht wecken. Werde später wiederkommen. (Er geht und) U RSULA (steigt auch die Stufen hinab – mit dem Mülleimer in der Hand.) F REMDER (unten angelangt) Wohin gehen Sie –? U RSULA Nur an die Kehrrichttonnen – F REMDER (grüßt wieder unhörbar.) U RSULA (dankt lautlos – geht durch die schmale Türe rechts in den Hof.) F REMDER (allein – wendet sich dem Haustor zu.) G ILDA (im Morgenmantel – tritt aus ihrer Türe in das Treppenhaus – sucht Post im Briefkasten: keine da – gähnt – streckt sich – erblickt den) F REMDEN (der sie betrachtet.) (Stille) G ILDA (lächelt „süß“.) F REMDER (sieht um sich.) Verzeihen Sie, wenn ich frage –: Aber als ich dieses Haus verließ, wohnte hier ein Stadtschreiber namens Einfalt. Er war einst mein bester Freund. G ILDA Einfalt? –: Den kenne ich nicht! (Sie lächelt wieder „süß“ – winkt – „haucht“.) Komm – F REMDER (lächelt.) Wie dumm von mir! –: Nach etwas fragen, das über zehn Jahre vorbei! Wissen Sie: Wenn man so lange fort war und dann, trotz aller Sehnsucht, doch wie plötzlich, wieder in dem Treppenhause steht, in dem man schon als Kind spielte – Dann glaubt man im Augenblick, die Zeit saust zurück – Und es wird alles wieder so, wie es war – – G ILDA Quatsch nicht so viel! – – Meinst, ich will mir hier Lungenentzündung holen?! Hab doch nur den Mantel an –! F REMDER (zuckt zusammen – begreift.) – Jetzt am Morgen? G ILDA Weshalb nicht? Wenn man die Nacht über schlief! – Also: Willst du –? F REMDER Ich bin die Nacht über im Stadtpark gegangen: hin und her – und hatte die letzten zwei Tage nur zwei Teller Suppen – Doch das geht an mir vorbei. Alles geht an mir vorbei! – Aber ob es auch an dir vorbeigeht – ? – – – Sonst: sehr gerne – G ILDA (grinst.) Du gefällst mir, Kerl! Auch, wenn du „ohne“ bist! Und da ich gestern einen guten Tag hatte / bekam Gold! Von einem Krüppel, der dann obendrein noch die ganzen Treppen herunterfiel – (Wieder wimmert L EHMANN in seiner Wohnung – aber nur der) F REMDE (hört ihn – ist entsetzt.) Die Treppen herunterfiel – G ILDA (nickt: ja) Ohne Mitleid! (Sie grinst.) Hast du Angst? F REMDER Gehen Sie! Für wen halten Sie mich?! Gehen Sie!! G ILDA (lächelt – nähert sich ihm.) Für ein Herzblättchen! Und außerdem habe ich noch mehr als einen Teller Suppe – F REMDER (sieht ihr in die Augen – grinst.) G ILDA Ja, lach nur über dich! F REMDER Hast recht! Was kann ich dafür, wenn einer die Treppen herunterfällt! Komm –! G ILDA (grinst.) Dummer Hund! F REMDER (horcht.) Rasch! Da kommt sie! B EIDE (verschwinden in G ILDAS Wohnung.) U RSULA (kommt durch die schmale Türe rechts mit dem entleerten Mülleimer aus dem Hofe zurück – steigt wieder die Stufen empor.)

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L EHMANN (tritt auf seinen Krücken aus seiner Türe – in Hemd und Hose – mit einer Binde um die Stirne.) U RSULA (erblickt ihn – will aufschreien – unterdrückt.) Wie du mich erschrecktest! L EHMANN Verzeihe! Das wollte ich nicht. U RSULA Bist erwacht – L EHMANN Nein, Ursula – denn ich war schon wach – – Und dann sprachst du hier mit jemandem / habe es gehört – aber nur halb – U RSULA Ein Fremder war hier / wird wiederkommen / doch will er weder kaufen noch verkaufen. L EHMANN Weder kaufen noch verkaufen –? Wer war das? Was will er von mir? U RSULA Will dich nur sprechen. L EHMANN (ist anderswo.) Nur sprechen – U RSULA (will in die Wohnung.) Gehts wieder besser? L EHMANN (in der Türe – lächelt.) Soweit ich gehen kann –: ja. B EIDE (sehen sich an.) L EHMANN Und –: Ich danke dir, daß du mich die Nacht über gepflegt / deine kühle Hand brachte den Frühling von draußen auf meine Stirne / und verzeihe –: daß ich gestern so zu dir war. U RSULA Wie war –? L EHMANN (weicht ihren Blicken aus.) So – Verzeihe. (Stille) U RSULA Ich hätte nicht fortgehen dürfen – gestern. (Ein Sonnenstrahl bricht durch die graugelben Nebel draußen und fällt nun von oben her auf DIE BEIDEN .) L EHMANN – Die Sonne! Schau: Jetzt kommt die Sonne. U RSULA (sieht empor – lächelt.) L EHMANN Wenn die Sonne so über mich scheint, erscheint mir die Kindheit. Höre Vater und Mutter nebenan sprechen. Es ist Sonntagvormittag. Mutter kocht, und Vater liest die Zeitung. Und ich hocke in der Ecke und weine, weil der Bruder / das Kasperle / mir die Puppe nahm, die mir alles war: die ganze große Welt. (Er sieht sie an und lächelt.) B ACKFISCH (fünfzehnjährig – mit einer großen weißen Schleife im offenen Haar – trat durch das Haustor in das Treppenhaus – steigt die Stufen empor zu L EHMANNS .) (Der Sonnenstrahl taucht wieder unter im graugelben Nebel.) B ACKFISCH Ist hier die Tändlerei? L EHMANN (als würde er erwachen) Ja. – Was wünscht das Fräulein? B ACKFISCH Ich hörte, Sie hätten auch Bücher zu verkaufen / traf eben Anna Groß, und die sagte: billiger als anderswo. L EHMANN Was soll es denn sein? B ACKFISCH (siegesbewußt) „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“. L EHMANN Hat mir leider noch Niemand verkauft. B ACKFISCH Wie schade! (grüßt kurz und geht wieder.) L EHMANN (verbeugt sich.) (Stille) L EHMANN (streicht sich mit der Hand über die Augen.) Ich hörte einst, daß nur das Wesen unsere Kindheit versteht, das nahe an unserem Herzen steht und – U RSULA (lacht plötzlich laut auf.) L EHMANN (befremdet) Du lachst?

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U RSULA (lacht.) Es war zu komisch –: das Mädchen! L EHMANN (leise –: wie zu sich selbst) Ja, es war zu komisch – Aber ich wollte dir eben sagen, daß – – und du lachst über das – U RSULA (kämpft krampfhaft mit dem Lachen.) L EHMANN Lach nur! Lach nur! U RSULA (wird plötzlich sehr ernst.) Darf ich denn nicht einmal mehr lachen? L EHMANN Doch! Doch! Lach nur! Aber –: Warum lachst du denn nicht mehr –? B EIDE (wechseln Blicke.) (Stille) L EHMANN Jetzt ist die Sonne fort – Wieder gehen nur Nebel um das Haus. Nebel! (Er fängt an, hin und her zu humpeln.) U RSULA (will in die Wohnung.) L EHMANN (immer hin und her humpelnd) Wer sandte uns dieses Mädchen? U RSULA (in der Türe – wendet sich wieder ihm zu.) Anna Groß, sagte sie. L EHMANN Und Anna Groß weiß es von ihrem Vater, denn der verkaufte mir ja ihre Puppenküche / einst / weißt du: die Puppenküche, die mich so sehr haßt – Habe sie auch zu sehr degradiert: zu billig berechnet / ja: Es rächt sich alles – Nur die Rache ist ein Elefant und ein Falter nur die Tat – ja: Alles wird zurückbezahlt, auch das Gute – (Er grinst – wird wieder ernst – wie zu sich selbst) Ich habe einmal helfen wollen, und es kam auch keine Polizei / aber sie ist trotzdem keine Kellnerin mehr, sondern geht auf den Strich. Ich bezahlte vorgestern nur den Preis von sieben Liter Bier – und habe seit gestern wieder anfangen dürfen: glauben und hoffen / allerdings erst, nachdem ich Gold gab, um mir den Schädel einzuschlagen – nicht verzweifeln müssen / seit gestern / aber heute –! Verzichte auf alles Gute, wenn man es um sein Blut erkaufen muß, und dann, wenn man es erhält, schon vom nächsten Tage als Trug entlarvt wird! – Dieser Richter ist „gerecht“! (Er grinst wieder.) U RSULA Niemand ist gerecht. L EHMANN Ja, Niemand – – Aber: Wer sandte zu mir den Vater Groß? U RSULA Vielleicht Niemand. L EHMANN Wer ist dieses ewige „Niemand“?! Wer?! (Er bleibt plötzlich stehen und lauscht.) Still! – Hast du gehört? U RSULA Was? L EHMANN Jetzt hab ich ihn wieder gehört! Das ist furchtbar!! U RSULA Was ist furchtbar?! L EHMANN Höre: Damals, da ich noch glaubte, das Licht werde leuchten in der Nacht / in der ich derweilen hier / allein / hin und her – Es war still um mich, ganz still. Und da hörte ich auf einmal, hoch über mir, jemanden höhnisch lachen / und dann gingen alle Lichter aus – Hörte noch keinen Menschen so lachen / glaube, wenn ich ihn gesehen hätte, wär ich verrückt geworden – – Und jetzt war er wieder da! Aber zuerst verdunkelte sich die Sonne – U RSULA Es war doch nur der Backfisch da. L EHMANN „Nur“ der Backfisch – U RSULA Niemand hat so gelacht! L EHMANN „Niemand“! Das ist ER! U RSULA Wer „er“? L EHMANN Gott!! U RSULA Mann, bist du wahnsinnig geworden?!

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L EHMANN Vielleicht! Denn nun fange ich an zu verstehen – Und wer sich den Geheimnissen entgegenstellt, der soll ja zermalmt werden, heißt es. (Stille) L EHMANN Als ich klein war und traurig ward, weil ich in diesem Treppenhause nicht so herumspringen konnte / herauf und hinab / wie all die anderen Kinder / da erzählte mir meine Mutter immer das Märchen vom lieben Gott, der weint über unser Leid / nur manchmal soll er auch lächeln über unsere Dummheiten – Aber das war nur ein Märchen. Ich habe Gott lachen hören! Und wer so lachen kann, der kann nicht weinen! U RSULA Fürchtegott!! L EHMANN Nein!! Lästere Gott!! Muß mich doch verteidigen! Wär ich kein Krüppel, würd ich kämpfen wie Jakob mit dem Engel! Aber auf Krücken kann ich nur meine Stimme in das All schleudern. Und ich klage an: nicht den Tag, der sich nicht verdunkelte, als jener Krüppel meine Mutter erschreckte, da sie mich trug / nicht die Nacht, daß sie nicht zur grellen Sonne wurde, als Vater Mutter mich zeugten: vielleicht gar besoffen – / und auch nicht den kleinen Falter, dessen Summen mich erweckte an jenem Morgen, an dessen Abende wir uns trafen: Denn hätte er nicht so laut gesungen, hätt ich länger geschlafen und wäre erst später in dies Treppenhaus getreten, und dann wärest du schon nicht mehr dagewesen und so vor dich hingesummt –: wie der kleine Falter – – Aber ich klage an, dessen Geste nur sind Tag und Nacht –: DICH! Der den Winden befahl, den Falter in meine Stube zu wehen – Ich klage an – DICH!! Der mich zu seinem Spaße erschuf!! Lach nur über mich!! Bin doch nur ein Witz!! DEIN Witz!! – U RSULA (leise) Wie stark du sein kannst – L EHMANN (faßt sich ans Herz.) Weh mir – Jetzt wird mein Hirn Herr in mir und knechtet mich und quält mich / und mein Hirn ist doch nicht ich! Nie würd ich fragen: Wieso? Weshalb? Warum? Zum Teufel mit allen Theorien! All diese Hirngespinste würden Quatsch, wenn du nur – (Stille) U RSULA (sehr leise) Manchmal glaube ich, ich habe keine Seele – Aber heute würd ich das Licht nicht auslöschen wollen – vielleicht – L EHMANN Aus Mitleid – Nein, nie!! U RSULA (starrt ihn an.) Nein. Jetzt seh ich dich ohne Krücken – L EHMANN Ursula! U RSULA (sehr leise) – Aber: Heute – kann ich nicht. (Sie senkt das Haupt.) (Stille) L EHMANN (sehr leise: zu sich selbst – schrumpft fast zusammen.) Ja, heute nicht – und morgen – als Trug entlarvt – (Er grinst irr.) U RSULA (hebt das Haupt und weicht zurück – kalt: fast scharf) Warum grinst du? L EHMANN (hört sie nicht – zu Niemand) Betrug!! (Er lacht irr hellauf.) U RSULA (scharf) Rohling!! L EHMANN (hört sie – zuckt zusammen – lacht nicht mehr – starrt sie an – begreift.) Ich – U RSULA Wer so lachen kann, der kann nicht weinen! (Sie verschwindet voll Abscheu in der Wohnung.) L EHMANN (allein – stiert auf die Türe – tonlos) – Kann nicht weinen – (Er grinst wieder irr.) Und lachen?! – Auch nicht! (Er humpelt hin und her.) Nur hin und her – immer nur hin und her müssen / von wegen der „Verdauung“ – (Er grinst, wird

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aber sofort wieder ernst und bleibt ruckartig stehen – starrt vor sich hin und schreibt mit dem Finger in der Luft – nickt – leise) Ja –: Man muß doch verdauen können, wenn man leben muß – Denn eigentlich kann ER alles vertragen, nur das Fragen nicht: aus Angst erkannt zu werden – – Feigheit ists, weshalb er uns hetzt: hin und her – (Er humpelt wieder hin und her.) Immer nur hin und her! Und alles Tun im selben Takte – irgendeiner Melodie – (Im Hofe ertönt eine Drehorgel: keck und ausgeleiert.) L EHMANN (scheint sie gar nicht zu hören – humpelt weiter hin und her: aber doch so, als hörte er nur mehr den Drehorgeltakt – aber dächte immer weiter und weiter –: jedoch dabei immer hin und her im Drehorgeltakt.) F REMDER (tritt aus G ILDAS Türe.) (Die Drehorgel verstummt.) L EHMANN (bleibt plötzlich stehen – senkt das Haupt – hebt es wieder und humpelt weiter hin und her genau im Takte, als würde er noch immer die Drehorgel hören.) F REMDER (ging nach rechts – bleibt aber nach einigen Schritten stehen – faßt sich an den Hals: als stünde er unter einem Galgen – bindet sich die Kravatte – pißt dann an die Wand.) Z WEI D ETEKTIVE (treten durch das Haustor ein – halten vor G ILDAS Türe.) E RSTER Achtung! Z WEITER Weiß: zweimal anläuten. (Er läutet zweimal kurz an.) E RSTER Er hat alles gestanden: auch das! Z WEITER Er war mürbe geworden! E RSTER Wenn einer so viel Blut verlor – Z WEITER Es ist alles geklärt, nur das nicht: Warum gab der Lehmann der Gilda Schulze nicht den Ring, da er doch nur aus Blech war? E RSTER Weil er ihn wahrscheinlich selbst für Gold hielt – Still! G ILDA (im Hemde – verschlafen – öffnet die Türe.) Nein, jetzt kann ich doch nicht wieder – Komm später / bin so müde – und gar zwei auf einmal! (Sie will wieder die Türe schließen.) E RSTER (ergreift sie am Arm.) Halt! Z WEITER Im Namen des Gesetzes! G ILDA Macht doch keine blöden Witze! Laßt mich! E RSTER Nein! Wir machen die Wahrheit! Der Raubmörder Wladimir wurde verhaftet / beim Morgengrauen / er war am Verbluten – und hat alles gestanden: Behauptet, daß Sie es waren, die ihn zu morden zwang! G ILDA (kann kaum sprechen.) Ich – –? E RSTER Sie! Z WEITER Folgen Sie! E RSTER Freiwillig, oder –: Wir müssen mit Gewalt! Z WEITER Sie zwingen uns dazu! G ILDA (leise, gebrochen: wie zu sich selbst) Niemand zwingt euch – L EHMANN (blieb stehen – horchte – tritt nun an das Geländer und erblickt den) F REMDEN (der eben seine Hose zuknöpft.) B EIDE (starren sich an.) Z WEITER (zu G ILDA ) Wirds bald?! G ILDA (leise: als wäre sie anderswo) Hatte eben so fest geschlafen und geträumt – –: daß ich einen Krug zerbrach / aber eigentlich hat ihn Niemand zerbrochen –

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E RSTER Im Namen des Gesetzes! G ILDA (zuckt zusammen: als würde sie jetzt erst erwachen – bange) Wohin –?! E RSTER Vielleicht nur zur Zwangsarbeit! Vielleicht – G ILDA (schreit gellend auf.) Nein!! Alles um einen Ring aus Blech –!! E RSTER Blech oder nicht Blech! –: Mord ist Mord!! (Draußen auf der Straße taucht aus den graugelben Nebeln ein großer schwarzer Wagen auf und fährt lautlos vor das Haustor.) G ILDA (in wahnsinniger Angst) Der Wagen!! Mein Sarg –!! Ich will noch nicht sterben!! Laßt mich noch leben! – Kommt! Beide / bitte, bitte / kommt mit mir – Seht her, seht her –!! (Sie sinkt in die Knie und reißt sich das Hemd auf über der Brust.) –: Wie schön fest noch alles ist / und wie jung! Ich blühe ja noch! Und es kostet euch keinen roten Heller! Und tue alles, was euch gefällt / umsonst!! E RSTER Alles umsonst!! G ILDA Nein!! Ich will noch nicht in den Sarg!! Bin ja noch nicht verwelkt!! Will noch leben – leben – Satan!! Z WEITER (hält ihr den Mund zu – und) B EIDE (schleifen sie hinaus – in den Wagen.) (Der große schwarze Wagen fährt wieder lautlos fort – verschwindet in den graugelben Nebeln – –) (Stille) L EHMANN (und der) F REMDE (sahen nicht, was um sie vorging – sahen nur sich.) L EHMANN (unterdrückt – leise) Bruder?! F REMDER (lächelt.) Ja, Fürchtegott – Bin Kaspar, dein Bruder –: Kaspar Lehmann / das Kasperle – Erinnerst du dich? L EHMANN (nickt: ja) K ASPAR Was starrst du mich so –? Hab ich mich so sehr verändert? Das ist wahr, zwischen dem Ladenschwengel Kaspar Lehmann mit den vielen Mitessern auf der Stirne und dem Kaspar Lehmann, der vor dir steht, liegen das Nordlicht und das Kreuz des Südens / liegen lange schon / zwischen dem –: Was wünscht der Herr? Was befiehlt die Dame? Etwas Käse / oder Knöpfe / Mayonnaise / oder Himbeersaft –? (Er steigt die Stufen empor – steht nun vor L EHMANN .) Willst du mir nicht die Hand reichen –? – Komme ohne Haß zu dir. L EHMANN Theater! K ASPAR Ich spiele nie! Das weißt du! –: Denn als alles Mitleid mit dir hatte, schlug ich dich! L EHMANN Wir haben uns gehaßt – weil einer der Stärkere war. K ASPAR Weil keiner wußte, wer der Stärkere war! L EHMANN – Und jetzt steigst du ohne Haß die Stufen zu mir empor / jetzt tu ich dir leid – – Willst du den Stärkeren spielen –? B EIDE (fixieren sich.) (Stille) L EHMANN Warum starrst du mich so an –? K ASPAR (lächelt wieder leise.) Du hast dich nicht verändert – L EHMANN Kann ich mich verändern –? Kann ich schöner werden? Auf Krücken –? Kann ich wachsen? Auf Kinderbeinen –? Kann ich verzeihen, wenn ich nicht schlagen kann –?! K ASPAR Niemand hat das Recht, mir zu verzeihen!

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L EHMANN (sieht empor – leise.) Niemand – K ASPAR Komme zwar ohne Haß, aber niemals werde ich bereuen, was ich tat! Niemals!! – – Denn: Erinnerst du dich –? –: Alles verwöhnte dich / du bekamst eine Puppe, ich keine – Und dann hat Vater die Tändlerei und dies ganze Haus und alles, was da war, dir vermacht. Nichts hast du aus Kraft erschafft! –: Sondern nur aus Mitleid! Ich wurde auf die Straße geworfen! Weil du nicht hinauskannst, mußte ich hinaus! –: Weil du der „Schwächere“ warst. In Wahrheit wurdest du dadurch der Stärkere und ich der Lahme –: Ihr Mitleid saugte meine Kraft in dich! Und als ich das klar sah, kurz nach Vaters Tode, da schlug ich dich / mußte schlagen! – Und alle nahmen deine Partei / selbst Einfalt, mein bester Freund, sah über mich hinweg. Alles kreischte: Wie furchtbar gemein, dich, der sich nicht wehren kann, zu schlagen! Keiner sah, daß ich mich nur verteidigte! Einer muß immer hinaus! Und immer der schwächere! –! Du wuchst durch Mitleid! L EHMANN (hält sich die Ohren zu.) Das kann ich nicht hören! K ASPAR Theater! L EHMANN Ich hasse das Mitleid! K ASPAR Dann hasse auch dein Leben! Denn wird es dir versagt – stürzt du die Treppen herab! L EHMANN (bestürzt) Woher weißt du das –?! K ASPAR (grinst leise.) Was denkst du wohl –? L EHMANN (dicht vor ihm) Du hast – K ASPAR Ja, ich habe – und umsonst! L EHMANN Umsonst – – und Ursula: Sag ihr nichts!! K ASPAR Für wen hältst du mich? L EHMANN Für einen, der zu allem fähig ist! K ASPAR (lächelt.) Ja, das ist auch nur eine Erkenntnis. L EHMANN (verzweifelt) Bitte, sag ihr nichts! Hab Mitleid mit mir!! K ASPAR Mitleid –? L EHMANN Bin nicht feig! Aber bin doch nur ein Krüppel!! Versteh es doch! K ASPAR Verstehe dich – aber auch mich! (Stille) L EHMANN (leise) Wollte zwar einst ein neues Leben beginnen / ließ alles neu anstreichen – K ASPAR (sieht sich um – lächelt leise.) Grün / grün / grün – L EHMANN (dumpf, leise) Ja, grün ist die Hoffnung – Aber das ist nur Anstrich. Darunter gähnt die Wand grau wie Dreck und darunter wieder die Ziegel rot wie Blut – Man müßte das ganze Haus niederreißen / aber was dann? –: Dann kommt der Winter mit dem Eis, und wo soll man schlafen? Nur der eine versprach, aufzubauen in drei Tagen – K ASPAR (grinst.) „Versprach“! Und auch nur sein Haus – niemals das unsere! L EHMANN Und alles, was wir bauen, ist aus Blut und Dreck! K ASPAR Aus was sollen wir denn bauen können?! L EHMANN Ja, wir stehen allein und haben Niemand – (Er reicht ihm seine Hand hin.) Gib mir deine Hand – K ASPAR Hier – aber ohne Reue! L EHMANN Manchmal glaube ich schon, es muß so sein, daß die stark sein sollen, die andere schlagen. K ASPAR Ja; denn sonst könnten sie doch nicht stark werden! Es muß so sein! Ich

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weiß, daß damals ein anderes meine Hand zur Faust ballte, nicht ich! Du zischtest mir nur ein Wort entgegen, ein so kleines Wort, daß ich es bereits längst vergaß – Glaubst du denn, daß nur dies Wörtchen meine Faust hätte erheben können? – – Aber schlagen wir dann, dann krallt sich sofort etwas fest in uns und hält uns von innen her einen Spiegel vor, der uns entgegenruft: Ihr tut unrecht! – Und dann trachten wir wiedergutzumachen –: bereuen / büßen für einen unbekannten Sünder, dessen Werkzeuge wir waren: Fürwahr, dies Werk, genannt Erde, ist teuflisch eingerichtet! Würde ich jemals zu einem Gotte beten, ich würde ihn „Satan“ anrufen! Aber ich lasse mich nicht quälen!! Bin doch nur Werkzeug! Habe Gericht gehalten über das Gewissen, und der Spiegel zerfiel in Millionen Scherben, und ich habe mich zum Alleinherrscher ausgerufen – Denn nun hatte ich den Mut zur Macht! L EHMANN Ich höre, dir ging es immer gut. K ASPAR Mir geht es nicht gut, mir geht es nicht schlecht! L EHMANN Gib acht! –: Bekamst bisher umsonst, und man bekommt nichts umsonst – Die Rechnung folgt! K ASPAR Soll ich bezahlen, was ich nicht bestellte?! L EHMANN Aber du lebst! K ASPAR Ja, ich lebe! Und bin nicht gut, und bin nicht schlecht! – „Seelisch leiden“ –? – Bin doch nicht blöd! (Er grinst.) Und habe ich Hunger – muß ich zu Fressen bekommen / wenn nicht heut, so morgen! Aber ich muß! –: Denn ich lebe, so lange ich nicht Schluß machen will! L EHMANN Muß! K ASPAR Ich will immer, was ich muß! Diese Erkenntnis beugte mich unter mein Schicksal – Aber dadurch wurde ich Herr über mein Leben! L EHMANN (leise) Durch eine Verbeugung – K ASPAR – Voller Hohn – zum Thron! L EHMANN Und jetzt steht dein Leben unter den Schmeichlern / die verbeugen sich um den Thron – voller Hohn – – Warum willst du dich selbst betrügen? K ASPAR Betrüge mich nie!! L EHMANN Still! Höre, wie schadenfroh dein Untertan kichert, während er sich doch demütig bis zur Erde neigt – Aber selbst allein: Nur sein Hohn gehört dir / die Verbeugung dem Schicksal – das unsichtbar und unnahbar hinter dir steht. K ASPAR (hält sich die Ohren zu.) Das kann ich nicht hören! L EHMANN Oder –: Mußt du dich betrügen? Nimm dich in acht – vor der Rechnung! –: Der Abrechnung! K ASPAR (grinst gewollt.) Fürchtegott – (Stille) L EHMANN – Kann ich dafür, daß ich diesen Namen erhielt? Ein jeder erhält einen Namen, Kasperle – (Er lächelt.) K ASPAR (ist sehr ernst geworden.) Ich heiße wie Vater, du wie Großvater – – Niemand kann dafür. L EHMANN Niemand – Hüte dich! Nicht nur Namen, auch Schicksale teilen sich, verdoppeln sich, vermehren sich – Und immer spielt einer die Rolle des anderen weiter – –: Könntest du dich auch meinem Schicksale beugen –? K ASPAR Weiß nicht / weiß nur: Niemals werde ich Fürchtegott heißen! L EHMANN (lächelt.) Kasperle –

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K ASPAR (zuckt zusammen – sieht plötzlich in das Weite –: als sehe er dort ein Bild – sehr leise) Kasperle – L EHMANN (ist ernst geworden – beobachtet ihn – leise) Sag –: Warum eigentlich / kamst du wieder –? K ASPAR (sehr leise) –: Um Mutter zu sehen – – – Ich wagte es nicht zu erwähnen – Aber jetzt sagtest du: Kasperle, wie Mutter – Und ich sah mich: klein und ungezogen. – (Stille) L EHMANN (leise) Im November werden es vier Jahre – Im November, meint man, gehen die Tage immer nur durch den Abend / durch irgendeinen Abend – – Sie schlief sanft ein – Ihr Tod war still wie ihr Leben – K ASPAR (sehr leise) Die Mutter – (Er senkt das Haupt.) (Stille) L EHMANN Sie hätte dich noch gerne gesehen, obwohl du damals ohne Gruß gingst – – Und sie trat oft hier heraus –: glaubte deine Schritte zu hören – die Mutter – K ASPAR Manchmal hörte ich ihre Schritte – Still! Hörst du sie –?! U RSULA (tritt aus der Wohnung – will zu L EHMANN sprechen – erblickt K ASPAR – stutzt.) L EHMANN – Das ist Kaspar, mein Bruder / das Kasperle – Ich erzählte dir von ihm – U RSULA (sieht K ASPAR an.) – Der dir die Puppe nahm – L EHMANN (lächelt.) Ja, die mir alles war: die ganze große Welt – – Und das ist Ursula, mein – K ASPAR (sieht U RSULA an.) Wir sprachen uns schon. U RSULA Die Suppe steht am Tisch. L EHMANN (zu K ASPAR ) Weißt du denn schon –? K ASPAR (zu L EHMANN ) Alles! – Du willst doch, daß ich nichts weiß – L EHMANN Ja: nichts! Und alles – – Komm! D IE DREI (treten ein in L EHMANNS Wohnung.) Ende des fünften Bildes.

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Es ist Abend. U RSULA (oben – beugt sich über das Treppengeländer: wartet.) H AUSMEISTERIN (im Haustor – schaut auf die Straße.) (Stille) K LEIN (mit der Geige unter dem Arme und seinem Bündel in der Hand steigt aus der Dachstube herab – will auf die Straße – geht unhörbar grüßend an) U RSULA (vorbei – die ihn aber nicht bemerkt.) H AUSMEISTERIN (hört ihn kommen – wendet sich ihm zu.) Nun –: Was sagen Sie? K LEIN Ich fange allmählich an zu glauben, es spielt überhaupt keine Rolle, was ich sage. U RSULA (oben – wartet nicht mehr – geht in ihre Wohnung.) K LEIN Übrigens: Zu was soll ich mich denn äußern? H AUSMEISTERIN Na der Mord!

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K LEIN Ach so, der Mord. Nun –: Was kann man sagen, da man die Zusammenhänge doch nicht kennt. H AUSMEISTERIN Wenn man bedenkt, daß man mit solchem Gesindel unter demselben Dache – K LEIN Groß gesehen hausen wir alle ja nur unter einem Dach. H AUSMEISTERIN Würd mich bedanken! – Neben diesen zweien ist ja selbst der Lehmann noch Gold! K LEIN Blech sind wir alle – nur höchstens: vergoldet. H AUSMEISTERIN (entrüstet) Erlauben Sie – K LEIN (unterbricht sie.) Erlauben Sie! Das weiß ich! H AUSMEISTERIN Was wissen denn schon Sie?! K LEIN Allerdings nur Tatsachen! Hören Sie! –: Es ist zwar schon lange her / da fand eine Hausmeisterin in den Kehrrichttonnen draußen im Hofe einen Ring / mit der Inschrift: Und die Liebe höret nimmer auf – einen Ring aus purem Golde – H AUSMEISTERIN (starrt ihn entsetzt an.) K LEIN Weiter! –: Sie wußte gar wohl: Das war einer armen Näherin Verlobungsring, die nur ein einziges Paar Schuhe besaß / aber trotzdem gab sie ihn ihr nicht wieder, obwohl sie selbst ihn nie trug: Aus Angst versteckte sie ihn am Abort – Und das Mädchen mußte sich einen anderen Ring kaufen, aber das Geld langte nun nur mehr zu Blech, allerdings: vergoldet – Und der Bräutigam schwor zwar auf Gold / aber es war halt doch kein pures Gold mehr / und – H AUSMEISTERIN Es ist nicht wahr! Lüge!! K LEIN (sieht sich um.) Still! – – Sehen Sie jetzt – –?: (Er deutet auf die) U RALTE J UNGFRAU (die eben von oben die Stufen herabsteigt.) K LEIN (leise zur H AUSMEISTERIN ) – Die Braut – wurde uralt und blieb Jungfrau / Fräulein Teresia Müller dritter Stock, links – U RALTE J UNGFRAU (kam nun unten an.) H AUSMEISTERIN (starrt sie an.) U RALTE J UNGFRAU (lächelt schwachsinnig – nickt DER H AUSMEISTERIN zu – zirpt.) Wundern Sie sich, daß ich noch so spät hinaus –? Nein, es ist nicht das Frühjahr, daß ich nicht schlafen kann, sondern heut hab ich dunkle Gedanken zu Besuch –: Hätt ich nur damals den Ring nicht verloren / alles wäre anders geworden / denn so konnt ich ihm doch nie mehr ganz in die Augen schauen, und da fing er an zu glauben, daß ich etwa mit einem anderen – und hatte doch nichts / hatte nur Angst, weil der Ring Blech war. Und eines Tages sah er mir überhaupt nicht mehr in die Augen, obwohl er glaubte, es sei Gold / und dann, noch später, hörte die Liebe auf / wegen einem Ringe mit der Inschrift: Und die Liebe höret nimmer auf – Jaja: Er war ein eleganter Mensch, mein Herr Bräutigam, und trug bei jedem Wetter Lackhalbschuhe und reinseidene Socken: bei Sonne, Sturm und Schnee – Jaja: Fast hieße ich Frau Max Maria Lehmann – (Sie lächelt wieder schwachsinnig.) K LEIN (zuckt zusammen.) U RALTE J UNGFRAU (hebt den dürren Zeigefinger.) Jaja: – Fast! (Sie nickt wieder DER H AUSMEISTERIN zu und geht durch das Haustor.) (Stille) K LEIN (lächelt geheimnisvoll – leise) „Fast“ – – Wissen Sie, wer Max Maria Lehmann – ? –: Der Ermordete. Dieser Zusammenhang! – Und das von dem Ringe –

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H AUSMEISTERIN Nein, das ist nicht wahr!! K LEIN Doch! Denn das erzählte mir, da er noch lebte, Ihr Herr Gemahl / drüben beim großen Wirt – H AUSMEISTERIN Da war er besoffen! K LEIN Er war immer besoffen!! Aber Sie werden wohl wissen, warum –: Als er nämlich entdeckte, daß sein Weib den Ring unterschlug, da schlug er Sie! Und dann ging er hinüber zum großen Wirt und soff / weil er vergessen wollte / alles vergessen wollte! Soff – bis in den Sarg / bis der Wagen vorfuhr! – Sie haben einen goldenen Ring gestohlen, und trotzdem kam keine Polizei, aber Sie haben Ihren Mann verloren. Nichts bekommt man umsonst! (Stille) H AUSMEISTERIN (gebrochen, dumpf) Ja, nichts –: Das ist wahr. Sie verlor den ihren, ich den meinen –: Weil ich den Ring behielt. K LEIN Oder: Weil sie ihn verlor. H AUSMEISTERIN Man müßte den Ring zurückgeben – K LEIN Zu spät! H AUSMEISTERIN Trotzdem würd ich den Ring zurückgeben – Wenn ich ihn nur noch hätte. Aber ich hab ihn / kurz, nachdem ihn mein Mann entdeckte / in den Ausguß fallen lassen / zufällig – K LEIN (lächelt wieder geheimnisvoll.) „Zufällig“ – ! Möglich. Aber ich glaube: Weil er wohl seine Rolle hier zu Ende spielte / vorläufig zu Ende spielte – Und er konnte umso mehr beruhigt mit dem Dreck nach dem Flusse fließen, da er ja doch bereits auch einen Vertreter hatte: Einer aus Blech spielte seine Rolle weiter, als wäre er der aus Gold. Manchmal scheint es schon ganz gleichgültig zu sein, ob echt oder falsch – Und vielleicht hat den Verlorenen schon wieder jemand gefunden: „zufällig“ / sicher spielt er schon wieder irgendeine Rolle / vielleicht wird nun er für Blech gehalten / vielleicht liegt gar schon jemand erschlagen – Sehen Sie / vielleicht: Wenn Sie „Gilda“ hießen, hätten Sie auch einen Raubmord – Wie kann man wagen zu urteilen, da doch keiner dafürkann, wie er heißt! H AUSMEISTERIN (tonlos) Niemand kann dafür. U RSULA (tritt aus ihrer Wohnung – beugt sich wieder über das Treppengeländer: wartet.) D IE ZWEI (unten – hörten ihr Kommen – schweigen.) (Stille) K LEIN Vergessen wir! H AUSMEISTERIN Kann nicht vergessen / jetzt – K LEIN Dann reden wir von etwas anderem! Wollen uns doch nicht streiten, jetzt, wo ich gehe – H AUSMEISTERIN Gehen? K LEIN Sie wissen doch: kann die Miete nicht bezahlen / und: Nichts bekommt man umsonst. H AUSMEISTERIN Ja, ich vergaß. K LEIN Hätte bereits vor drei Tagen ausziehen sollen / aber da geschah etwas, das ein Wunder sein könnte –: Der Lehmann hat mir zugehört / allerdings nicht lange: Erkaufte mir drei Tage Dachstube um einen halben Hochzeitsmarsch. Aber nun gingen auch die drei Tage vorbei / alles geht vorbei – Und nun steh ich wieder da mit meiner Geige und dem Bündel wie vor drei Tagen / auf dem gleichen Fleck / nur die Zeit hat sich geändert. Aber, vielleicht, ändert sich doch auch mal mein Le-

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ben, wenn ich gehe. Wer weiß, vielleicht liegt schon an der nächsten Ecke eine Zitronenschale – H AUSMEISTERIN (begreift nicht.) Zitronenschale –? U RSULA (oben – wartet nun wieder nicht mehr – geht in ihre Wohnung zurück.) K LEIN (lächelt leise.) Ja – und ein Herr biegt rasch um die Ecke und gleitet über sie aus und fällt / ich hob ihn auf, wie damals seine Krücken, und dann erkenn ich ihn, den Intendanten der gesamten Opernhäuser der Welt – Und dann, am nächsten Tage, hören mir Millionen zu / und es war doch nur eine Zitronenschale. H AUSMEISTERIN Das ist verrückt! K LEIN Sagen Sie das nicht! – Vielleicht ist es auch ein goldener Ring – – Was ist nicht verrückt? K ELLNERIN (tritt durch das Haustor ein – sie ist genauso gekleidet wie G ILDA , als sie auf den Strich ging, und sie scheint ihr nun sogar etwas ähnlich zu sehen – sie bleibt stehen – wird fast unsicher, da) K LEIN (und die) H AUSMEISTERIN (sie überrascht anstarren.) (Stille) H AUSMEISTERIN Himmel!! Jetzt dacht ich, Sie wären die Gilda – K ELLNERIN Ich heiße ja auch Gilda. H AUSMEISTERIN Nein, nein – Sie sind aber nicht die Gilda / wenn Sie auch das gleiche Kleid anhaben / ich kenne Sie: Waren hier die Kellnerin – K ELLNERIN Das hab ich schon fast vergessen! H AUSMEISTERIN Jetzt bin ich aber erschrocken! K ELLNERIN Warum? H AUSMEISTERIN Diese Ähnlichkeit – K ELLNERIN Was ist denn mit der Gilda? H AUSMEISTERIN Die Polizei kam – K ELLNERIN Es gibt doch eine Gerechtigkeit!! K LEIN Warum? Weil es eben in Ihren Kram paßt? Jetzt freuen Sie sich, und im nächsten Augenblick fluchen Sie vielleicht wieder! K ELLNERIN (hört ihn gar nicht – zur H AUSMEISTERIN ) Weshalb sitzt sie nur? H AUSMEISTERIN Vielleicht hängt sie schon! –: Raubmord. (Stille) K ELLNERIN Wie alles zusammenhängt! Eben fluchte ich noch, weil ich plötzlich ohne eigentlicher Ursache Durst bekam / war auf einmal ganz ausgedörrt, als säß ich mitten in der Sahara – und wollte nun hier nur rasch einen Krug Bier – phänomenal! Denn wissen Sie, ich suche eine Wohnung, und vielleicht kann ich nun gleich in die ihre einziehen – (Sie deutet auf G ILDAS Wohnung.) B ETRUNKENER (reißt die Schenktüre auf und tritt torkelnd aus dem Café in das Treppenhaus – er sieht W LADIMIR sehr ähnlich.) D IE DREI (wenden sich ihm zu.) K ELLNERIN (unterdrückt) Wladimir! K LEIN Das ist ja gar nicht der Wladimir – B ETRUNKENER (lallt.) Ich / finde den / Ort nicht – Wo kann man – H AUSMEISTERIN (deutet auf den Hof.) B ETRUNKENER Danke! – Nicht mehr nötig. K ELLNERIN (lacht laut auf.)

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B ETRUNKENER Wer von den Damen hat hier so melodisch gelacht? (Er nähert sich taumelnd DER H AUSMEISTERIN .) Sie, Geliebte –? (Er faßt nach ihr.) H AUSMEISTERIN (wehrt ihn ab.) Lassen Sie das! Sie Besoffener – B ETRUNKENER Das geht dich einen Dreck an! Halt dein Maul – sonst –! (Er hebt die Faust.) H AUSMEISTERIN (kreischt.) Unterstehe dich!! B ETRUNKENER Wer will mich hindern?! Niemand kann meine Faust halten, wenn ich will!! Niemand!! K LEIN (lächelt.) H AUSMEISTERIN (flieht in den Hof.) B ETRUNKENER (wendet sich K LEIN zu.) Sie, meine Dame –? (Er nähert sich ihm.) K LEIN Ich bin doch keine Dame! B ETRUNKENER Ich will auch keine Dame! Ich will eine Hur!! Heut hab ich Geld wie Mist! Und das kam so: – Ich habe eines Raubmörders Schlupfwinkel entdeckt / ganz zufällig / und habe seine Festnahme erwirkt / beim Morgengrauen – Und nun hab ich schon sieben Liter Bier in mir. (Er grinst.) K ELLNERIN (hat sich ihm genähert.) B ETRUNKENER Dein Vorname? K ELLNERIN Gilda. B ETRUNKENER Schön. Geboren? Beruf? Religion? K ELLNERIN Komm! Wir wollen tanzen! B ETRUNKENER Schön! Musik! Gold für Musik! Wer spielt?! Niemand!! K ELLNERIN (deutet auf K LEIN .) Der da! B ETRUNKENER (zu K LEIN ) Aber es soll eine Melodie sein, die man nie vergißt! K LEIN (verbeugt sich.) B ETRUNKENER (zur K ELLNERIN – leise) Und, wenn ich kein Geld mehr habe – komm ich zu dir! (Er grinst.) K ELLNERIN (starrt ihn an – nickt: ja, fast wie unter einem fremden Zwang – leise) Dein Vorname? B ETRUNKENER Wladimir – doch noch nicht: Raubmörder. Aber was nicht ist, kann noch werden – (Er grinst wieder.) Also: Wenn mir die Kellnerin da drinnen nichts mehr leiht, komm ich zu dir – – Kommt! D IE DREI (treten durch die Schenktüre in das Café zum großen Wirt.) (Das Treppenhaus bleibt eine Zeitlang leer – dann tritt) U RSULA (wieder aus ihrer Wohnung – beugt sich wieder über das Treppengeländer: wartet.) (Stille) L EHMANN (auf den Krücken – mit der Binde um der Stirne – erscheint in seiner Türe.) Noch immer nicht gekommen? U RSULA (ohne ihn anzusehen – nickt: nein) Nein. Aber bald muß er kommen –: wollte doch nur seine Sachen hierherbringen / da er nun bei uns wohnen wird. L EHMANN (wie zu sich selbst) Er wollte aber nicht bei uns wohnen. U RSULA (wendet sich ihm ruckartig zu.) Willst du deinen Bruder weiter im Wartesaal schlafen lassen –? L EHMANN Nein, das will ich nicht. U RSULA Also – D IE BEIDEN (wechseln Blicke.) (Es dämmert.)

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U RSULA (beugt sich wieder über das Treppengeländer: wartet weiter auf K ASPAR .) L EHMANN (streicht sich mit der Hand über die Stirne.) Ich glaube, mein Schädel wurde ein Kessel, den bald der Dampf zersprengt / wie er braust und saust –: wie der alte Kastanienbaum – Ja, das ist diese Frühlingsluft, die alles erblühen läßt – Aber mir säuselt sie nur Schmerzen in die Schläfen / diese Schwüle – – Wieder ein Tag vorbei – Ich gehe zu Bett – (Er will zurück in die Wohnung.) U RSULA Da ist er! L EHMANN (bleibt stehen.) K ASPAR (trat durch das offene Haustor ein – mit einem kleinen Bündel in der Hand – steigt die Stufen empor.) U RSULA Guten Abend, Kaspar! Endlich! K ASPAR Guten Abend! U RSULA (nimmt ihm das Paket ab.) Gib her – K ASPAR (lächelt.) Mein „Alles“ – (zu L EHMANN ) Guten Abend, Bruder – habe dich gleich gar nicht gesehen! L EHMANN (lächelt leise – verbeugt sich leicht.) K ASPAR Hier ist so dunkel / draußen wird es zwar auch bald Nacht, aber hier blendet einen die Finsternis – L EHMANN (lächelt leise.) Ja, draußen – U RSULA (zu L EHMANN ) Er muß noch ein Kissen haben, sonst liegt er so schlecht am Sofa – Gib mir das Deine / meines gab ich schon her – K ASPAR Es ist schon gut so. U RSULA Nein / wenn man so tief liegt, steigt einem das ganze Blut in den Kopf – Und das bringt Kopfschmerzen – L EHMANN Ich kann es dir nicht geben – Ich habe Kopfschmerzen. K ASPAR Ich bekomme keine Kopfschmerzen. U RSULA Doch! (zu L EHMANN ) – Du liegst auch gut ohne – L EHMANN (scharf) Ich liege nicht gut ohne –! U RSULA – Dann nehm ich es mir! K ASPAR Ursula! – Ich brauch es nicht! U RSULA Doch! (Sie eilt in die Wohnung.) L EHMANN (und) K ASPAR (sehen sich an.) L EHMANN (lächelt leise – verbeugt sich vor K ASPAR.) Sieh: Ich verbeuge mich vor dir – (Er humpelt in die Wohnung.) K ASPAR (allein – starrt ihm nach.) U RSULA (erscheint in der Türe.) K ASPAR (starrt sie an.) U RSULA Komm! – Nun wirst du gut träumen können. K ASPAR Ich träume nie. (Stille) U RSULA (langsam, sehr leise) Bist du / böse / auf mich –? K ASPAR – Nein. Aber –: Das war nicht gut von dir. U RSULA Wollte doch nur dir Gutes. D IE ZWEI (sehen sich an.) K ASPAR (sehr leise: wie zu sich selbst) Wollte nicht wiederkommen / und werde auch wieder gehen – das, glaube ich, ist unser Bestes. U RSULA Warum gehst du dann nicht –?

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K ASPAR (sieht sie an – wird unsicher – lächelt verlegen.) Weil – – Wie du schauen kannst! U RSULA Wie –? K ASPAR (weicht aus.) So – – weiß nicht wie – (Stille) K ASPAR (langsam, leise) Warum gehst du nicht schlafen? U RSULA Ich kann nicht schlafen – Wenn draußen die Nacht so blau und lau / die Leute lassen all die Fenster offen / weiß nicht, wie mir ist –: bin nicht müde und möchte doch immer liegen – aber bin nicht müde – – (Sie lehnt sich an die Wand – starrt empor – Stille) Denke jetzt, ich könnte durch die Decke gehen –: Im zweiten Stock wohnt der fette Herr Huber / im dritten die uralte Jungfrau mit der spitzen Nase: Fräulein Teresia Müller / und unter dem Dachstuhl haust der Herr Klein / hauste – Gestern noch ging er an mir vorbei mit einer großen Frau – – Das Zimmer muß gerade über mir sein, und es soll so eng sein, daß eigentlich nur ein Bett Platz haben kann – – (Stille – Dann flammt das Licht auf.) U RSULA (schaut in die Flamme.) Das Licht – – Warum starrst du mich so an –? K ASPAR (fängt an unruhig hin und her zu gehen.) (Stille) U RSULA (erinnert sich –: wie zu sich selbst) Lösch das Licht aus – K ASPAR (bleibt plötzlich stehen – fixiert sie.) Was heißt das? U RSULA (lächelt geheimnisvoll.) Nichts. – Nur eine Erinnerung. K ASPAR (geht wieder hin und her.) (Stille) U RSULA (sieht empor.) Graugelb war der Tag, aber am Abend kam die Sonne – Weißt du: Am liebsten möchte ich eine Wolke sein und über dies Haus hinwegziehen / über alle Häuser hinwegziehen / die ganze Nacht hindurchziehen / unter den vielen weißen Sternen – Und dann, wenn die Sonne aufsteht, dann weit fort sein / über fremden Ländern, wo der Himmel und die Meere dunkler erblühen – – Vielleicht war ich schon einmal weit fort, weil ich mich so sehr danach sehne – Vielleicht war ich schon einmal eine Lieblingsfrau / saß an silbernen Fontänen, von denen du mir heute nach Tisch erzähltest – Sag: Was ist das –: ein Eunuche? (Stille) U RSULA – Hast du mir nichts mehr zu sagen? K ASPAR Nichts. (Stille) U RSULA Glaubst du, daß die Sehnsucht so stark sein kann, daß sie töten könnte –? K ASPAR (bleibt wieder ruckartig stehen – scharf) Was sprichst du da? U RSULA (lächelt.) Das weiß ich nicht – K ASPAR Hüte dich! U RSULA Warum? K ASPAR Das ist Hexerei! (Er geht wieder hin und her.) U RSULA – Es gibt doch keine Hexen mehr. K ASPAR Man braucht keine Hexe zu sein, um hexen zu können. (Stille) U RSULA (plötzlich) Geh nicht immer so hin und her! K ASPAR (zuckt zusammen – bleibt ruckartig stehen.) U RSULA Warum gehst du immer hin und her?!

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K ASPAR (starrt sie an.) Weil ich nicht schlafen kann – U RSULA (leise) Du auch nicht? – Warum –? K ASPAR Frag mich nicht immer! (Er geht wieder hin und her – Stille) U RSULA (leise) Ich dachte nur –: Du mußt doch wissen – K ASPAR Nein, ich weiß nichts! Aber du scheinst zu wissen. U RSULA Nein. Ich frag dich ja. (Stille) K ASPAR (immer hin und her) – Nicht schlafen / nicht träumen können – immer nur hin und her / her und hin – Warum? Kann ich antworten, wenn ich selbst fragen muß? Kann man überhaupt antworten –? – – Ich habe einmal meinen Bruder geschlagen – U RSULA Hast du das? K ASPAR (dicht vor ihr – fixiert sie.) – Freut denn dich das? – U RSULA – Weiß nicht –: Denn ich weiß: Er wird mich sicher mal schlagen – K ASPAR Schlagen –? Bist du irr?! U RSULA Er ist irr! K ASPAR Schlagen? –: Auf Krücken? (Er lächelt.) U RSULA Mit Krücken! – Und ich kann doch nicht sein Weib werden! K ASPAR Bist doch sein Weib! U RSULA Ja, Frau Ursula Lehmann – Aber ich bin es nicht / heiße nur so. K ASPAR Nur dein Name! – Jetzt sehe ich wieder alles anders – U RSULA Alles richtig! K ASPAR Vielleicht – (Stille) U RSULA (sehr leise) Kann mich nicht loslösen von der Wirklichkeit / stecke zu tief in Erde / sehe immer nur seine Beine / die Kinderbeine – Mich beherrscht mein Fleisch. (In dem Café zum großen Wirt spielt nun K LEIN Tanzmusik.) D IE ZWEI (lauschen.) K ASPAR Es wird getanzt – U RSULA Drunten / beim großen Wirt – K ASPAR Habe lange nicht mehr getanzt. U RSULA Habe noch nie getanzt. K ASPAR (geht wieder hin und her.) Jetzt ist es ganz aus mit dem Schlafen – U RSULA Habe hier noch nie recht geschlafen / in solcher Luft – K ASPAR Ja, diese Luft – U RSULA Und ist auch keine Tanzmusik unten / und fährt auch kein Wagen durch die Straßen / ist auch alles still geworden – Dann hör ich all das alte Gerümpel atmen / und dann hab ich böse Geister zu Besuch / sie kauern am Bettrand und küssen meine Gurgel – Und ich träume wie ein Gefangener, der beim Morgengrauen hingerichtet wird – und sich fortsehnt – – ginge so gerne hinunter zum großen Wirt –: tanzen lernen! K ASPAR (hält wieder dicht vor ihr.) Ich habe einmal meinen Bruder geschlagen – U RSULA – Und hast gefragt, ob ich mich freue. (Stille) K ASPAR (sehr leise) – Wenn er erwacht –? U RSULA Er wird nicht erwachen! K ASPAR (starrt sie an.) Wie du das sagst!

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U RSULA Wie –? K ASPAR Als wüßtest dus sicher! –: Daß er nicht mehr erwacht – nie mehr erwacht – – Doch was kümmert das mich?! Ich lasse mich nicht quälen!! –: Komm! (Er eilt mit ihr die Stufen hinab – in das Café zum großen Wirt.) (Die Bühne ist leer – K LEIN spielt nun im Café zum großen Wirt den Hochzeitsmarsch – Man hört DIE G ÄSTE gröhlen und lachen.) Ende des sechsten Bildes.

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Siebentes Bild.

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Mitternacht. Aus dem Café zum großen Wirt tönt noch immerwährend K LEINS Tanzmusik. Die Lampen erloschen schon lange, und nun steht in dem Treppenhause ein mattes Zwielicht – von irgendwoher. L EHMANN (allein auf seinen Krücken – humpelt in einem langen weißen Hemde oben hin und her – bleibt stehen und lauscht den Tanzweisen – versucht einen Tanzschritt, zerknickt jedoch fast – grinst irr.) Muß tanzen lernen – tanzen lernen – (Er summt die Melodie nach.) (Stille) U RSULA (und) K ASPAR (rasch durch die Schenktüre herein – angeheitert – bemerken nicht) L EHMANN (der oben stehen blieb und nun horcht.) U RSULA (will die Stufen empor – jedoch) K ASPAR (ergreift ihren Arm.) Bleib!!! U RSULA (will sich losreißen – unterdrückt) Still! –: Er hört selbst Gott grinsen – K ASPAR (grinst.) Laß ihn grinsen! – Ich will noch tanzen! U RSULA Torkelst ja! K ASPAR Hab doch nichts getrunken! U RSULA Das viele Bier! –: War das „nichts“? K ASPAR Bezahlt hab ich nichts! Aber es folgt noch die Abrechnung – (Er grinst.) Frag mich jetzt nicht! Will nicht antworten müssen, will überhaupt nicht mehr antworten müssen! Will keine Fragen mehr hören, will nur Trompeten hören – und tanzen! U RSULA Bringst ja die Beine kaum auseinander! K ASPAR Bringst denn du sie auseinander –? Bleib! – Vielleicht / jetzt möcht ich ein Wettrennen zum Monde veranstalten! Quer durch das Weltall! – (Er fährt sich mit der Hand über die Stirne.) Weiß nicht –: Was ist denn heut für eine Nacht?! U RSULA Still! –: Walpurgisnacht! K ASPAR Da reitet des Teufels Geliebte auf dem Besenstiel –! U RSULA Ja, reitet! K ASPAR Willst wohl auch seine Geliebte sein –?! – Würdest du dann reiten, würd ich auf dieser dreckigen Erde unter dir mit dir mitlaufen / wohin immer –: Denn ich will in den Himmel schauen! (Er preßt sie an sich.) U RSULA Laß mich –! Laß! K ASPAR Reiten!! (Er beißt in ihren Hals.) U RSULA (reißt ihn an den Haaren.) Nicht – nicht –!

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K ASPAR (preßt sie noch fester an sich – lächelt.) Wie bist du stark, Ursula – U RSULA (wehrt sich plötzlich nicht mehr – sieht ihn an – läßt die Arme sinken –) (Unten im Treppenhause zerfließt alles in Finsternis.) L EHMANN (oben – stiert lange in die Dunkelheit – horcht – windet sich – grinst irr und wird wieder sofort sehr ernst – klopft mit der Krücke auf den Holzboden.) Licht! (Unten teilt sich die Finsternis.) U RSULA (und) K ASPAR (fahren auseinander – starren ihn an.) (Die Tanzmusik verstummt – – tiefe Stille) L EHMANN (äußerst freundlich) Licht, Frau Lehmann – Warum starren Sie mich so an, Herr Lehmann? Kennt ihr mich denn nicht mehr? Habt ihr mich schon vergessen? –: Und der Wagen fuhr ja noch gar nicht vor –: Zwar dies Hemd ist wie ein Totenhemd / aber ist nur mein Nachthemd / war mein Brauthemd – (Er grinst.) Haben Sie viel getanzt, Frau Lehmann? – Treten Sie doch ein, meine Herrschaften! –: Man feiert seine Brautnacht doch nicht in einem Treppenhause – Treten Sie nur ein! – Und spielen Sie meine Rolle weiter, Herr Lehmann – – Ich heiße auch Lehmann, aber Fürchtegott Lehmann – (Er lädt DIE BEIDEN mit einer tiefen Verbeugung ein einzutreten.) U RSULA (und) K ASPAR (sehen sich an und steigen dann langsam die Stufen empor.) L EHMANN (sehr leise) Und: Verzeihen Sie: Wollte nicht horchen, aber ich habe wohl zu lange schweigen müssen, und da verfeinert sich das Gehör – Und die Wände hier sind dünn gebaut / wollte einschlafen, aber man hört selbst das kleinste Wort: Wäre es fast auch ohne Leut – Verzeihen Sie – (Er verbeugt sich wieder tief vor DEN ) B EIDEN (die nun oben angelangt sind.) U RSULA (sehr leise) – Fast ohne Leut –: Dann mußt du mich verstehen – L EHMANN (grinst irr.) Verstehe Niemand – U RSULA (entsetzt – zu K ASPAR ) Warum lacht er jetzt wieder so –?! L EHMANN (wird plötzlich wieder sehr ernst.) Lachen –? Glaubst du, daß man lachen kann, wenn man leben muß? U RSULA (sieht ihn starr an – langsam, leise) Niemand zwingt dich zu leben – K ASPAR (zu U RSULA ) Hüte dich!! L EHMANN Ja –: Wer zwingt mich zu leben? Niemand!! – Ich will / dich –!! (Er hebt seine Krücken drohend gegen den Himmel – Aber sie fallen hinab bis unten in das Treppenhaus, als hätte sie ihm jemand aus den Händen geschlagen – Er krallt sich in das Geländer und röchelt.) U RSULA (schreit gellend auf.) (Unten im Café spielt nun K LEIN wieder: Es ist dieselbe Weise, die am Morgen die Drehorgel spielte.) L EHMANN (horcht – grinst irr.) Die Drehorgel!! Hin und her – Nein! Muß doch noch tanzen lernen! Bin doch noch jung! Habe noch all meine Zähne / Sehnen und Muskeln / und Haare und – Alles ist da! Und bin stark! –: Nur meine Beine sind tot / ich lebe! (Er summt irr die Melodie nach.) Lebe!! – Noch ist mein Brauthemd nicht vermodert / noch stoßt mich der Sensenmann nicht auf die Bahre / noch hab ich Zeit, alle Tänze zu erlernen! (Er faßt sich ans Herz und stöhnt.) Gestern –: bin ich sogar über die Treppen – Und fast wäre ich nun wieder hinunter-

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gerasselt / und die Wunde ist doch noch nicht mal verheilt. Jaja: Aber gestern war es die Hur und nicht Sie, werter Herr Niemand – – Aber ich kann es nicht glauben, daß, wenn Sie nicht so grausam wären, die Hur hier gewesen wäre / doch: Es ist wahr: Sie ließen mir von einer Kellnerin die Krücken reichen, aber nur um sie mir nicht mal vierundzwanzig Stunden später wieder aus den Händen schlagen zu können – Oh, Sie sind die Güte! (Er grinst.) Pfui! Wie feig Sie sind, verehrtester Herr Niemand: Jakob hat auch nur mit dem Engel gerungen und nicht mit Ihnen / Sie sind ewig unnahbar, unsichtbar / haben es sich sehr bequem eingerichtet: Sie sind nichts! – Nichts! –: Niemand – Stehen immer nur im Hinterhalt und blasen einem meuchlings winzige Falter ins Gesicht / Falter, die in dieser Luft zu Drachen wachsen und uns zerfleischen – oder zerbrechen einen Krug, dessen Scherben unser Leben werden – und werfen ein Korn Gold in den Topf voll Erde und rütteln den Brei und grinsen dazu – – Jaja: Und die Liebe höret nimmer auf / denn, sonst würden Ihre Witze aussterben – (Seine Stimme ward immer schwächer, und er schrumpft zusammen.) U RSULA (zu K ASPAR – entsetzt) Er stirbt!! L EHMANN (zu DEN BEIDEN ) Warten! Warten! – Wenn ihr meint, ich werde immer nur hier hocken / in diesem Treppenhause / und immer nur sehen, wie alle an einem vorbeigehen – so irrt ihr euch! Gewaltig!! Und ich will auch noch nicht in die Grube – Muß nur noch lernen, dann kann ich auch tanzen / nur Geduld – Warten! (Er stöhnt und wimmert.) – Geduld bringt Rosen / aber ich bekomme immer nur Dornen / meine Stirne blutet / die Dornenkrone – Habt Mitleid mit mir –: Bin doch nur ein armer Krüppel, und Niemand hat Mitleid mit mir / Niemand – Hört ihr? –: Darf nicht hoffen, muß verzweifeln / und alles, was ich ersehne, wird, was ich hasse, wenn es in meinen Schoß gefallen –: häßlich das Schöne / böse das Gute / Gold wird Blech / Liebe Mitleid – (Er schreit.) Behaltet euer Mitleid!! Ich will verrecken –!! (Er ist zusammengerochen – wimmert am Boden: leise) U RSULA (verzweifelt – zu K ASPAR ) Hilf ihm doch!! K ASPAR (starr – tonlos) Kann nicht – Hilf ihm du – U RSULA Kann nicht –!! Das ist furchtbar!! – Hilf mir, du bist doch der Stärkere! K ASPAR Niemand ist der Stärkere!! L EHMANN (am Boden – richtet sich mühsam auf – sehr leise: als würde ein anderer aus ihm sprechen) Niemand hilft – – darf nicht sterben – Gebt mir / hört ihr mich –? Bitte, gebt mir meine Krücken wieder – bitte, bitte – Dann kann ich tanzen – – – (Er stirbt.) (Die Tanzmusik verstummt – tiefe Stille) K ASPAR Ich höre einen Sarg zimmern, und morgen fährt der Wagen vor / und übermorgen übermal ich das Firmenschild: Fürchtegott Lehmanns Nachfolger –: Ja: Immer spielt einer des anderen Rolle weiter. Wehe uns. U RSULA Sieh: Er sieht mich an –! K ASPAR Still! (Stille) U RSULA (tonlos) Nun nahm ihm sein Tod die Krücken ab, und nun kann er überall hin / und immer neben mir / kann nicht mehr fort von hier / wo ich auch bin – bin hier! Immer! K ASPAR Immer – U RSULA Schau: Jetzt grinst er!! K ASPAR Niemand grinst!

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U RSULA (verzweifelt) Das werd ich nimmer vergessen können – Ich stürz mich hinab!! (Sie will sich über das Treppengeländer hinabstürzen.) K ASPAR (ergreift ihren Arm.) Bleib!! U RSULA Das hast du mir heut schon mal gesagt! Und habe gefolgt und – K ASPAR – Und?! –: Haben noch nicht bezahlt! U RSULA (will sich losreißen.) Laß mich los!! Laß – Das halt ich nicht aus!! K ASPAR Mußt aushalten!! – Still! Hörst du? –: Jetzt kommt der große Wirt mit der Rechnung / für das Bier – der Abrechnung. G ROSSER W IRT (mit der Rechnung – erscheint in der Schenktüre – will zu L EHMANNS – bleibt aber noch in der Türe stehen: als würde er einer Musik lauschen – lächelt leise und verschwindet wieder.) U RSULA (hält die Hände vor das Gesicht.) K ASPAR (folgte ihm mit den Blicken.) (Stille) U RSULA (nimmt langsam die Hände vom Gesicht – leise) Hat er gesehen –? K ASPAR Nein! Aber ich habe gesehen, daß er lauschte: als hörte er Musik oben – U RSULA (sieht scheu empor – sehr leise) Niemand spielt – K ASPAR Niemand – –: Ja: Es schien nur eine Erinnerung in ihm entfacht worden zu sein / vielleicht: an einen einst gehörten Hochzeitsmarsch – Und er ging wieder. U RSULA (zu sich selbst, als wäre nun in ihr eine Erinnerung erwacht) Die Galgenfrist. K ASPAR Ja: Er wird wiederkommen / vielleicht: schon morgen / doch nein: –: Nicht stören will er die Flitterwochen – (Er lächelt geheimnisvoll.) U RSULA Er kehrte um / um morgen wieder anzuklopfen. K ASPAR Und morgen kann leicht bezahlen: Fürchtegott Lehmanns Nachfolger. (Er grinst.) Das heißt: sich trösten. (Stille) U RSULA (gebrochen) Wessen Erbschaft trag denn nur ich? K ASPAR So hörte ich einmal Mutter fragen, da sie meinte, sie sei mit Vater allein – Als einst mein Bruder weinte, weil er hier nicht so herumspringen konnte / herauf und hinab / wie all die anderen Kinder. U RSULA Das hat er mir einmal erzählt. K ASPAR Das hat er nur Mutter erzählt. (Stille) U RSULA Hast du gesehen –: Er hat die Krücken nicht fallen lassen – K ASPAR (nickt: ja) Sie wurden ihm aus den Händen geschlagen. U RSULA (verzweifelt) Ich rief seinen Tod!! K ASPAR Nein!! Nicht du! – Du trägst es nur in dir –: unser Kind. U RSULA (starrt ihn entsetzt an – will schreien – kann nicht – senkt das Haupt – tonlos) Weh mir. K ASPAR Weh uns. Alles wiederholt sich / und immer wiederholt sich / und dieser Zusammenhang! Als liefen alle Rollen nur in einem Kreise um einen Punkt! Als wäre alles nur eines! Ein Kern in unzählbaren Formen / in lauter kurzsichtigen Formen, denen obendrein noch Scheuklappen angezüchtet werden –: Sehen nicht rückwärts, nicht seitwärts, höchstens vorwärts / aber auch nicht weit: Nur sieh! Verurteilt, alles, was vorher war, zu vergessen, und glauben müssen: Es gibt keine Gerechtigkeit. Und das ist die schwerste aller Strafen: Büßen müssen und nicht wissen: warum?

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U RSULA Was taten wir nur? K ASPAR Nichts Schlechtes, nichts Gutes, da man es tun muß! U RSULA Sieht denn Niemand, wie ich wirklich bin? K ASPAR Doch! Aber du siehst es nicht. U RSULA (tonlos) Ich möchte sterben – K ASPAR Warte! Warten heißt sich gedulden / und sich gedulden heißt: bereuen. U RSULA Was soll ich denn bereuen?! Ja: Ich habe gewünscht, daß er sterbe. Aber, warum wurd ich auch in dieser Welt geboren, hungernd und frierend?! K ASPAR Ja: Warum? – Es wäre eine Gnade zu wissen. (Stille) U RSULA (sehr leise) Laß mich sterben – erlösen unser Kind. K ASPAR Nichts wird erlöst! Denn nichts kann sich loslösen aus dieser Erde – Hast du denn nicht gehört, daß er sagte: „Darf nicht sterben –“? Alles aufersteht / sinkt auch dein Sarg in das Grab, stehst du sogleich wieder auf – nur in anderer Form, alles muß immer leben! U RSULA Ohne Ende / ohne Hoffnung – die Hölle. K ASPAR Immer leben – und dieser Zusammenhang! Immer schuldet einer dem anderen, immer muß alles bezahlt werden / und es spielt keine Rolle das Wer und das Wem und das Was – wohl weil alles nur eines ist, – – manchmal fühlen wir doch auch Sehnsucht in uns / nach dem großen Einen, über den einst der Stab gebrochen wurde und das Urteil verkündet: Zerfalle in uns in unzählbare Formen: Sonnen und Sterne und Wolken und Wellen und Menschen und Steine – U RSULA Warum? K ASPAR Das scheint die Folter zu sein, daß fragen erlaubt ist. Still! – In uns Teilen ist trotzdem ein kleines Stück, das eines blieb: Im Märchen heißt es: Seele, die als Sehnsucht zu uns spricht und die warten muß, während wir immer wieder zerfallen: Das ist das Leben. Warten / eingekerkert in Dreck und Blut / warten – bis zum jüngsten Tag! Bis wir auferstehen dürfen wieder als das eine. U RSULA Wer sagte dir all das –? K ASPAR Niemand. (Stille) K ASPAR – Und jetzt steig ich hinab und hole seine Krücken herauf / und du, Ursula, hebe sie auf für unser Kind. U RSULA (schreit gellend auf.) Erbarmen!! K ASPAR Es gibt kein Erbarmen. (Er steigt die Stufen hinab.) U RSULA (leise: wie zu sich selbst) Doch – – Denn es gibt Wunder. K ASPAR (bleibt plötzlich stehen – grinst.) Wunder? U RSULA Warum grinst du?! K ASPAR (wird sehr ernst.) Weil ich nicht glauben kann / weil ich zu weit die Augen aufriß und sah – – Könnt ich doch nur glauben – Aber ich darf wohl nicht. U RSULA (leise) Vielleicht nur: noch nicht – K ASPAR (ist nun unten angekommen und sucht die Krücken – sieht sich um.) Wo / die Krücken – Sehe sie nirgends – Jetzt sind die Krücken nicht mehr hier – Sehe nichts – Und es war doch kein Mensch hier – (Er stieg wieder scheu die Stufen empor.) U RSULA Niemand war hier – – das Wunder – (Der Morgen graut – tiefe Stille) U RSULA Ein neuer Tag –

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Ein Niemand Epilog

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K ASPAR (vor ihr) Das Wunder – – aber: morgen –? U RSULA Nicht fragen – – –

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Ende des siebenten und letzten Bildes.

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Ein Epilog

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Ein Die Bergbahn Epilog

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Die Bergbahn

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Volksstück in drei Akten von Ödön von Horváth.

Personen: 10

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K ARL S CHULZ V ERONIKA X AVER S LIWINSKI R EITER M OSER

O BERLE M AURER H ANNES S IMON I NGENIEUR A UFSICHTSRAT

Schauplatz: Hochgebirge. 20

Zeit: Vierundzwanzig Stunden. –앪–

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Erster Akt: In der Arbeiterbaracke. Zweiter Akt: Steiler Grat – vor der Arbeiterbaracke. Dritter Akt: Die Hilfsstücke – Schneesturm – Schwarze Wand.

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Randbemerkung:

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Dialekt ist mehr als ein philologisches, ein psychologisches Problem. Verfasser befolgte im folgenden weder philologische Gesetze, noch hat er einen Dialekt (hier Dialekte des ostalpenländischen Proletariats) schematisch stilisiert, sondern er versuchte, Dialekte als Charaktereigenschaft der Umwelt, des Individuums, oder auch nur einer Situation, zu gestalten.

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Erster Akt 45

In der Arbeiterbaracke Nr. 4 der Bergbahn A.G. Links Matratzenlager. Rechts Herd und langer Holztisch, darüber Petroleumlampe. Im Hintergrund eine Tür ins Freie, rechts eine nach dem Raume des Ingenieurs. Neben letzterer Telefon.

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Ein Bergbahn Die Epilog

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Spätnachmittag. Herbst.

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V ERONIKA (lacht.) K ARL (grimmig) Wie die lacht! Wie die lacht! V ERONIKA Ausgerutscht! Ausgerutscht! – Du bist mir so aner, so von hinten – so a ganz Rabiater – – S CHULZ (ein blasses, schmales Kerlchen mit Sommersprossen, tritt ein; verbeugt sich leicht; er lispelt ein wenig.) Guten Tag! Verzeihen Sie, Fräulein: Dies hier, dies gehört doch zum Bergbahnbau? V ERONIKA Ja. S CHULZ Dies ist doch Baracke Nummer 4? V ERONIKA Ja. S CHULZ Hm. K ARL Wer san denn Sie? S CHULZ Mein Name ist Schulz. K ARL Was wollns denn da? S CHULZ Ich möchte den Herrn Ingenieur sprechen. K ARL Der is jetzt net hier. S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. K ARL Suchens Arbeit? S CHULZ Ja. K ARL (schnallt sich ein Gestell auf den Buckel.) So? Drum. S CHULZ (lächelt verlegen.) Eben. – – Wann kommt der Ingenieur? V ERONIKA Nit vor der Nacht. (Sie nähert sich K ARL .) Mußt scho nunter? Wieder nunter? Du trauriger Bua – – K ARL Tu nur net so! So scheinheili! – – Alsdann, was brauchst? A Mehl, dreißig Pfund und a Marmelad. V ERONIKA Und an Schnaps. K ARL Und an Schnaps. – – Und? V ERONIKA Sonst nix. K ARL N i x ? V ERONIKA Nix. Nix vo dir. (Stille) K ARL Jetzt glaub ichs, was d’ Leut im Dorf redn. Es is scho wahr: Dei Mutter hat mitn Teufl paktiert, an Vater hat ja no kaner gsehn! V ERONIKA Halts Maul! K ARL Du bringst bloß Unglück! Lach net! Herrgottsakra! Des Fleisch! Du bist scho des best Fleisch im Land, auf und nieder! Di hat net unser Herrgott gformt; den Arsch hat der Satan baut! – – Adies, Höllenbrut! – (rasch ab) V ERONIKA (betrachtet S CHULZ ; etwas spöttisch) Was wollns denn vom Ingineur? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. V ERONIKA (äfft ihn nach.) So? Das habe ich n i c h t gehört. (ab) S CHULZ (allein) Hm. X AVER , S LIWINSKI , R EITER (kommen von der Arbeit mit Spaten, Hacken usw. X AVER und S LIWINSKI legen sich auf die Matratzen, nur R EITER beachtet S CHULZ .) R EITER Wer bist denn du? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. R EITER (lacht kurz.) So? Wo hast denn des ghört?

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S CHULZ In, in – – Ich weiß nicht, ob es stimmt. R EITER Des stimmt net. Aber scho gar net. S CHULZ (setzt sich.) – – R EITER (lehnt seine Hacke an die Wand und will wieder hinaus, trifft in der Türe auf V ERONIKA , die mit einer Schüssel Kartoffeln und einigen rohen Koteletts eintritt.) V ERONIKA Wohin? R EITER Des geht di nix an! (ab) V ERONIKA (erblickt S CHULZ .) Jetzt hockt der no allweil da! S CHULZ Ja. (Stille) S CHULZ Eßt ihr hier alle Tage Fleisch? V ERONIKA Ah! Die Schnitzel da san für an hohn Herrn, an Direktor. Der is d’ Bergluft net gwohnt, drum muß er fest eßn – – Was schauns mi denn so an? S CHULZ Ich dachte nur nach: Wann ich das letzte Mal Fleisch – – V ERONIKA Was für Fleisch? S CHULZ Fleisch – – V ERONIKA A so! (Stille) V ERONIKA (wendet sich ihm zu.) Um Gotts Willn! Mensch, was habens denn?! Sie san ja ganz gelb, als warens tot! S CHULZ Mir ist es nur plötzlich so schwindlig. Das dürfte wohl auch die Luft gewesen sein, die Bergluft, die eben nicht jeder gewohnt ist. Fest essen, fest essen. V ERONIKA (setzt sich neben ihn und schält die Kartoffeln.) Woher kommens denn? S CHULZ Von unten. V ERONIKA Na, i mein: Woher? Aus welcher Stadt? Sie san do aus der Stadt, Sie redn ja so. S CHULZ Ich bin aus Stettin. V ERONIKA Stettin? S CHULZ Stettin liegt am Meer. V ERONIKA Am Meer? Am richtigen Meer? S CHULZ (lächelt.) Am richtigen. (Stille) V ERONIKA San Sie schon mal durch Berlin kommen? S CHULZ Oft! V ERONIKA I, wenn i Sie war, i war nie fort von dort! S CHULZ Es gibt dort zu viele ohne Arbeit. V ERONIKA I glaub allweil, Sie habn no nit viel garbeitet. S CHULZ Wieso? V ERONIKA Die feinen Händ! Wie ane Hebamm. Da, schauns meine an: kochn, waschn, scheuern – Da platzns und werdn rot wie der Krebs. S CHULZ Die müssen Sie einfetten und fleißig baden. In heißem Wasser. Dann wird die Haut wieder sammetweich und elfenbeinern. Am besten: Sie nehmen die Salbe von Meyer et Vogel in der blauen Tube. V ERONIKA Woher wissens denn all das? S CHULZ Eigentlich bin ich Friseur. V ERONIKA Drum diese Hände! S CHULZ Ich habe schon viele hundert Frauen-Hände behandelt. V ERONIKA Geh hörens auf!

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S CHULZ Jawohl! Dazumal, als ich in Warnemünde über die Sommersaison arbeitete: im ersten Haus am Platze! Tipp-topp! – Fräulein, das war mein goldenes Zeitalter! Ich war, sozusagen, Intimus der Damenwelt. Da war eine Frau Major, die vertraute mir – alles an! V ERONIKA Da habens freili viel ghört und gsehn. Danebn is unserans a neugeborens Kalb. S CHULZ Ich schätze naive Frauen. Nur zu rasch übersättigen einen die Raffinierten. V ERONIKA Wir habn hier auch an, der scho weit in der Welt rumkommen is. Der alt Oberle, der war kriegsgfangen, in der Mongolei, ganz hint. Bei den Gelbn, Schlitzäugigen und Juden. In Asien. – Waren Sie scho in Asien? S CHULZ Nein, noch nicht. V ERONIKA So sieht halt jeder was andres. S CHULZ Durch unseren Beruf bekommt man automatisch Einblick in manche Geheimnisse des weiblichen Wesens. Man enträtselt allmählich die Sphinx. (Er hustet stark.) V ERONIKA (klopft ihm auf den Rücken.) Hoppla! Sie solltn nit so viel redn. Die Bergluft – S CHULZ Ich bin Ihnen dankbar, sehr dankbar, daß Sie mit mir reden. Ich habe nun fünf Tage lang kaum geredet. Da verlernt man selbst die Muttersprache. Man ist überrascht von der eigenen Stimme, wie der Dichter sagt. (Er hustet wieder.) V ERONIKA (ließ ihre Hand auf seinem Rücken; befühlt nun seine Schultern, Arme –) Hörens: I glaub kaum, daß Sie hier mitarbeitn werdn; Sie san zu schwach. S CHULZ Meinen Sie? V ERONIKA Wie der guckn kann! Direkt spaßig! S CHULZ Sie lachen so schön – V ERONIKA Sie san a komischer Mensch! S CHULZ Gestatten: Mein Name ist Schulz. – Max Schulz. – Und Sie? V ERONIKA Vroni. S CHULZ Das soll wohl Veronika sein? V ERONIKA Ja. (Stille) V ERONIKA Habens scho viele rasiert? S CHULZ Rasiert, frisiert, onduliert – V ERONIKA „Onduliert“? S CHULZ Das läßt sich nicht so einfach erklären. – – M OSER (erscheint in der Türe. – Die Sonne ist untergegangen. Rasch wird es Nacht.) V ERONIKA Die Friseur san alle gscheite Leut. Friseur und Dokter. Die kennst kaum ausanand. – – Sans verruckt?! S CHULZ (riß sie an sich.) Was bin ich? – Schwach? V ERONIKA Lassens! Nit! Ni – – S CHULZ (küßt sie.) V ERONIKA (entdeckt M OSER .) Jesus Maria!! M OSER I habs gsehn! Lüg net! Du Fetzn! V ERONIKA I lüg nit, Moser! M OSER I habs scho gsehn, wie ihr beieinanderhockt! Und jetzt! V ERONIKA Der hat mi überfalln! Meuchlerisch, heimtückisch! I hab bloß gredt, und da hat er mi packt! M OSER (fixiert S CHULZ .)

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S CHULZ (weicht zurück.) X AVER , S LIWINSKI (sind von den Matratzen aufgeschnellt.) O BERLE , M AURER , H ANNES , S IMON (traten hinter M OSER ein.) M OSER (drängt S CHULZ an die Wand; breitspurig) Wer bist denn du, ha? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. M OSER (gibt ihm eine schallende Ohrfeige.) E INZELNE (lachen halblaut.) O BERLE Moser! M OSER Schweig! So a Krüppl ghört zu Mus gtretn! (Er schlägt ihm mit der Faust ins Antlitz.) Spürst was, Bürscherl? – Der lacht! Wart! Da! O BERLE Schlag do kan Krüppl! M OSER Halts Maul, damischer Wanderapostl! Predig in der Höll! I glaub and’ Faust! Da, du Lump! Und da! S CHULZ (brüllt plötzlich los.) Au! Au! Ich habe ja nichts – Au!! M OSER Nix?! So is des a nix! Spürst des „nix“?! (Er schlägt tobend auf ihn ein; immer ins Gesicht) A LLE (außer O BERLE , haben sich zurückgezogen.) S CHULZ (wimmert blutüberströmt und bricht bewußtlos an der Wand zusammen.) M OSER So. Der langt jetzt kaner mehr an den Bart. – Aber heiß werd an bei dem Geschäft. Heiß! (Er sauft.) O BERLE (beugt sich zu S CHULZ nieder.) M OSER Oberle! Dokter, was macht unser Patient? Fühl den Puls, ob er si bschißn hat! Es stinkt so! Ganz sakrisch! O BERLE Halts Maul! – – Moser, du kenntest an Menschn niederschlagn, als wars an Ochs. M OSER (lacht kurz.) Vieher san wir alle. I, er und du a. S CHULZ (räkelt sich langsam empor.) O BERLE Was wollns hier? S CHULZ Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. – Woher hätte ich es wissen sollen, daß das Fräulein einen Bräutigam hat? M OSER Naus! Naus! S CHULZ (ab. Es ist Nacht geworden.) S IMON Licht! V ERONIKA (zündet die Lampe an; tritt an den Herd.) A LLE (ziehen sich die Stiefel aus, wechseln Socken, Hemden, Joppen – – liegen, sitzen auf den Matratzen oder stehen herum. Gemurmel) M OSER (zieht sich das Hemd aus.) Wer hust da was von Rohheit? Wer? Die paar Pflaster hat si der Hundling redli verdient! War ja glacht! Er a scho mit de großn Hund pieseln! Pürscht si da ran, der Beihirsch! In diesem Punkte kennt der Moser weder Spezi no Bruder! Will er net kennen! Da werd er wild! – Vroni! Geh her – daher! V ERONIKA (tritt zu ihm hin.) M OSER Ha? Hab i den zu stark gschlagn? V ERONIKA Du weißt es nit, wie stark du schlagn kannst. Moser! Du bist a Tier! A wilds Tier! Ausm großn Wald! M OSER Und du? Sags! Ha? V ERONIKA Du! Du machst mi zum Tier – (Sie beißt in seine Brust.) M OSER (stößt V ERONIKA von sich; grinst O BERLE an; gröhlt.) Jessas, die wandelnd Nächstenlieb! Stehts auf allesamt! Zu! Präsentierts der frommen Seel! Dem ver382

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schleimt Apostl, der Wasser predigt, Luft frißt und do nur Dreck scheißt! So präsentierts do! Zu! Los! (Keiner reagiert.) M OSER (sieht sich überrascht um.) Ja, Herrgott – Sakrament – (Schweigen) M OSER (fixiert heimtückisch O BERLE ; lacht gewollt.) Oberle! Oberle! Du hättest Christkind werdn solln! Oder Papst! O BERLE Und du Metzger. Oder Henker. R EITER (leise) Horch, der Wind – M AURER (ebenso) Wie a Opernsängerin. M OSER (näherte sich langsam O BERLE ; unterdrückt) Du, geh her! Wie hast du des gmeint, des mit dem – Henker? O BERLE Des werst leicht erratn. (Er läßt ihn stehen.) S IMON (überlaut, als wollte er etwas überschreien) Wann kimmt denn der Herr? X AVER Was für a Herr? S IMON Der Direkter! H ANNES Was für a Direkter! E INZELNE (lachen befreit auf.) S LIWINSKI Der an Ingineur braucht zum aufikeuchn, zwegn dem Großkopf! X AVER Und zwegn der Wampn! Hat an Bauch wies goldne Kalb! M AURER War ka Wunder! Schaugts hin aufn Herd, was so a hoher Herr für Brotzeit macht, bal er mal fünf Stund hatscht. S IMON Dafür is er a Direkter, und du bist bloß der Arbeitsmann. Er dirigiert und schluckt Schnitzl mit Salat und sauft sein Champagnerwein, daß ihm die Sauce bei der Lefzn runterrinnt – Und du darfst di schindn und hast an Schmarrn! H ANNES Aber an guatn, des muß ma da Vroni laßn! S LIWINSKI Recht hast, kenigli boarischer Haus- und Hoftepp! S IMON Der Kavalier! Der Zawalier! X AVER Geb nur acht, daß di der Moser net derwischt! M OSER Was gibts da mitn Moser? O BERLE Nix. S LIWINSKI (spielt auf einer Mundharmonika.) M AURER (grinst M OSER ins Gesicht.) Bravo! X AVER (schnalzt.) Tanzn sollt ma halt kennen! Tanzn! S IMON A Tanz ohne Dirn is wie a Stier, der net springt! R EITER Zum Landler ghört a Mensch wie a Köchin zum Kaplan! M AURER (singt.) Guten Morgen, Herr Pfarrer Wo is der Kaplan? Er liegt auf der Köchin Und kraht wie a Hahn! (Schallendes Gelächter) X AVER Kreizkruzefix! War scho höchste Zeit, daß an was Weiblichs zulauft! Alls kannst unmögli nausschwitzn! S IMON (singt.) Und keiner ist so eigen Und keiner so verschmitzt Als wie der, der ins Bett macht,

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Und sagt, er hätt geschwitzt – (Telefon – Alles verstummt und horcht.) V ERONIKA (tritt ans Telefon.) Hier Baracke Nummer vier. Ja. – – So. Ja. (Sie hängt ein.) Der Ingineur is unterwegs. Der Direkter übernacht vielleicht auf Nummer drei. S IMON Auf Nummer sicher! S LIWINSKI Den hats zerrißn! Der hat si mit di Berg überhobn! H ANNES Wißt Leutl, des mit di Direkter. Des is so: Da ghöret a Lift her, wies es in die Wolkenkratzer habn, drübn in Amerika. So an Wolkenkratzer is nämli häher als inser höchster Berg! X AVER Jawohl, Herr Nachbar. R EITER Des is ja gar ka Direkter, des is an Aufsichtsrat. S IMON Richti! Des san die, die allweil aufpaßn, ob die andern net faulenzen. Dabei sitzens in lauter Schaukelstühl und schnupfn. S LIWINSKI (spielt nun ein sentimentales Stück.) M AURER Pst! (A LLE lauschen.) X AVER (singt leise.) Und die Wasserl habn grauscht Und die Bacherl habn plauscht H ANNES (fällt ein.) Aber gschwind, wie der Wind Lassens trauri mi hint – – (Gesumm) Denn auf den Bergen Da wohnt die Freiheit Ja, auf den Bergen Da, is es scheen – – E INZELNE (summen mit.) Da is es scheen – – M OSER (näherte sich O BERLE ; leise; unsicher) Oberle, du bist so hinterlisti still. – Hast etwa zuvor sagn wolln, daß i den da draußn, daß der da draußn – O BERLE Na. Aber bremsn mußt! Sonst könnts leicht mal an Unglück gebn. Der blut nur, aber leicht kennt si mal aner verblutn. M OSER (grinst.) So? Halt! Sag: Was hättest denn du dann – Hättst ihn gestreichelt und gschmeichelt, hättest Kratzfüß gmacht, daß der Dreck nur so rumgspritzt war, ha? Net zughaut, na na! Und warum net? Weißt warum net? Weil du net kannst! Weil deine Arm ohne Schmalz san, verstehst, du Schleimer! I hab di scho heraußen, Oberle! O BERLE Meinst? M OSER Jawohl! Sogar sehr! – Oberle, kennst die Hirsch? Was macht denn der Hirsch, wenn a Fremder über sein Rudel kimmt, ha? Der rauft damit! Und dersticht ihn! Der Stärkere den Krüppl, verstehst? O BERLE Wir san aber kane Hirsch. Wir san arme Teufl. Wir kennens uns net leistn zwegn an Madl – und wars a ganzer Harem, uns die Schädl zu zerschlagn! Wir müßn des Hirn und all unsere Kraft sparn. Wir habn nur Feind, lauter mächtige Feind! M OSER Wo hast denn die Sprüch glernt?

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O BERLE Im Krieg. Da hab i den Feind gsehn, ganz deutli und scharf. – Damals warst du no klein. Hast Schneemanner baut und net lesen kennen. – Komm jetzt! V ERONIKA (hatte zwei dampfende Schüsseln auf den Tisch gestellt, um den die anderen bereits Platz genommen haben.) O BERLE (setzt sich.) M OSER (folgt ihm langsam nach.) A LLE (essen.) (Der Wind wimmert und rüttelt an den kleinen Fenstern.) S LIWINSKI (lauscht.) Der bringt Schnee. Viel Schnee. R EITER Oktober. Nachher werds nimmer gut. X AVER Ja, die Berg warn a zu rot. (Schweigen) M AURER Jetzt heut wars scho gar nimmer so einfach. Der weni Neuschnee in der letztn Nacht, da rutscht alls, und drobn des Gröll, des hat der Satan angschaut – da, wer net hinhorcht, da ists glei aus mitn schönen Land Tirol! (Schweigen) R EITER Wie hat sie nur jetza der geschriebn, dens im Frühjahr runtergwaht hat? Beim Hilfskabel. Da hast schier nimmer gwußt, was da vor dir liegt. Im Sack habns den Brei aufn Gottsacker gschafft. S IMON Der Müller Anton wars. Von Pfaffenhofen. M AURER Richti! Ja, des war schreckli. Und a Weib und vier unmündige Kinder. (Schweigen) M AURER Es is scho a wahre Sünd, was mit die Menschn gtriebn werd. Da turnst herum wie kaum a gewiegter Turist, rackerst di ab mit Lawinen, Steinschlag, Wetter – Und was erreichst? Grad, daß dei Essen hast und a Lager wie a Unterstand, als hätt der Krieg kan End! Abgschnittn von der Welt. (Schweigen) S LIWINSKI Neuli habens an Ingineur gfeiert. M AURER In der Zeitung is gstanden, er sei unsterbli. S IMON Aber von die Totn schreibt kaner! R EITER Die Totn san tot. O BERLE (hebt langsam das Haupt.) Die san net tot! Die lebn! (Schweigen) S LIWINSKI Da liest überall vom Fortschritt der Menschheit, und die Leut bekränzn an Ingineur wie an Preisstier, die Direkter sperrn die Geldsäck ind’ Kaß, und dem Bauer blüht der Fremdenverkehr. A jede Schraubn werd zum „Wunder der Technik“, a jede Odlgrubn zur „Heilquelle“. Aber, daß aner sei Lebn hergebn hat, des Blut werd ausradiert! S IMON Na, des werd zu Gold! X AVER Wahr ists. R EITER Allweil. (Schweigen) X AVER Allweil des Geld. H ANNES Des Geld hat der Teifl gweiht! M AURER Des Grundübel, des is die kapitalistische Produktionsweise. Solang da a solche Anarchie herrscht, solang darfst wartn mit den Idealen des Menschengeschlechts. Die Befreiung der Arbeiterklasse – S IMON (unterbricht ihn.) Des san Sprüch.

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M AURER Was san des? S IMON Sprüch. – Und weißt warum? Weil mans nur hört, aber net spürt! Da hat erst neuli einer drunt gesprochn, vor der letztn Wahl wars, und Leut warn da von weit und breit, gstecktvoll! Und gredt hat der, zwa Stund! Vom Klassenbewußtsein und der Herrschaft des Proletariats, und vom Zukunftsstaat, zwa Stund – Aber nacher, da hat er mit an Gendarm kegelt, vier Stund! Lauter Kränz habns gschobn, lauter Kränz! An Kenig habns stehn laßn, a jedesmal! Akkurat! – Alle neune, muß heißn! Alle neune!! M AURER D e s san Sprüch! S LIWINSKI Des und des! Was nützt des Redn ohne Macht? S IMON Richti! Aber wie willst denn du die Macht erobern? S LIWINSKI Wie du! Damit! S IMON Bravo! S LIWINSKI Mit der Faust! (Er schlägt auf den Tisch.) Und, wenns an Oberle a net paßn sollt – O BERLE Obs an Oberle paßt oder net paßt, des is ganz gleich – Aber ob uns mit der Faust gholfen is, des bezweifelt der Oberle. Er glaubt, daß man mit der Faust nix erreicht – S LIWINSKI (unterbricht ihn.) Also möcht der Oberle, daß alls so bleibt, wies is. O BERLE Es werd net so bleibn. S IMON Richti! Es werd no viel schlimmer werdn! O BERLE Was weißt denn du, wie schlimm daß es war?! Wie alt bist denn du, ha? Was hast du scho gsehn?! S LIWINSKI Holla, holla, holla – der sanft Oberle – R EITER Ruhe! H ANNES Laßt an do eßn! S LIWINSKI (grinst.) Friß nur, friß – Daß di aber nur net verschluckst! S IMON (zu O BERLE ) Entschuldigens, Herr, daß i bisher nur Dreck gsehn hab. I kann aber nix dafür, daß i no net in Asien war – Du, du kannst ja a nix dafür. O BERLE (lächelt.) Na, da kann i nix dafür. Mir wars lieber, kannst es glaubn, i hätt des Asien nie gsehn und war heut erst zwanzig Jahr. S LIWINSKI Jetzt predigt er scho wieder! S IMON „Liebe den Kapitalismus, wie dich selbst!“ X AVER (lacht.) S LIWINSKI Der Moser hat recht! Des is an Apostl, auf und nieder! Recht hast, Moser! M OSER (rührt sich nicht.) (Schweigen) O BERLE Der Moser weiß, daß durch Gewalt nix gedeiht. Nix. A LLE (starren M OSER verdutzt an.) O BERLE Der Moser weiß, daß sei Faust stark is, furchtbar stark – Und es kann ja leicht möglich sein, daß er sei Faust mal gebrauchn werd müßn, aber da gabs bloß Blut. Sonst nix. S CHULZ (tritt rasch ein und bleibt verstört in der offenen Tür stehen; sein Gesicht ist blaurot vor Kälte und Blut, sein Anzug zerfetzt, zerschunden.) V ERONIKA (schreit gellend auf.) M OSER , O BERLE , M AURER , S IMON (schnellen empor.) A LLE (versteinert) (Der Sturm heult in den Raum, fegt ein Glas vom Herde, das klirrend zerbricht und bläst fast die Petroleumlampe aus.) 386

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V ERONIKA (schreit.) Des Licht! Des Licht! S IMON (schreit.) Ist d’ Höll los?! M AURER Die Tür! Die Tür!! S CHULZ (schließt sie und lächelt verlegen.) (Stille) S CHULZ Eigentlich wollte ich absteigen, aber ich habe mich verstiegen. Und dann stürmt es so grausam, und die Berge wachsen in der Nacht. Man muß es gewohnt sein – Darf man sich wärmen? O BERLE (deutet auf den Herd.) S CHULZ (verbeugt sich leicht.) Danke. V ERONIKA (entsetzt) Er soll si do des Gsicht abwischn! S CHULZ Warum? O BERLE Es ist voll Blut. M OSER (heiser) Vroni! Gib ihm a Tuch! Zu! V ERONIKA (reicht S CHULZ scheu einen Lappen.) S CHULZ Ich danke, Fräulein Veronika. I NGENIEUR UND A UFSICHTSRAT (treten ein; bleiben perplex stehen.) I NGENIEUR Wer ist das? Oberle, was ist denn hier geschehen? O BERLE Herr Ingineur – S CHULZ (unterbricht ihn.) Herr Ingenieur! I NGENIEUR Wer ist das? S CHULZ (aufgeregt) Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden! (Er überreicht ihm hastig seine Papiere.) Hier! Mein Name ist Schulz, Max Schulz. I NGENIEUR Mensch, wie siehst du aus! A LLE (außer I NGENIEUR und S CHULZ , sehen M OSER an.) S CHULZ Ich habe Nasenbluten. M OSER (wendet sich ab und starrt vor sich hin.) I NGENIEUR (fixiert S CHULZ scharf.) So? S CHULZ (verwirrt) Und dann bin ich auch gestolpert, hierherauf, und gestürzt, einige Male – – – Ich habe gehört, hier würden noch Leute eingestellt werden. Bitte! Moment! Ich bin nicht schwach, ich wirke nur so! Ich bin klein, aber stark – jede, auch die schwerste Arbeit! I NGENIEUR (blättert in den Papieren; lächelt spöttisch.) Sie sind Friseur? S CHULZ Jawohl, jedoch – I NGENIEUR (unterbricht ihn.) Bedaure! Rasiere mich immer selbst. (Gewaltiger Sturmstoß) I NGENIEUR (fährt zusammen.) Hoppla! – – Hm. Mensch, Sie haben Schwein. Gut! Ich stelle Sie ein. Wir müssen fertig werden, bevor das Wetter etwa umschlagen sollte. Oberle! Er arbeitet mit auf 3018. (zu V ERONIKA ) Mein Essen! (zum A UFSICHTSRAT ) Darf ich bitten! A UFSICHTSRAT Na bequem ist anders! (ab mit dem I NGENIEUR nach rechts) M AURER Habts ghört? Paßts auf! Wies Wetter umschlagt, stellens die Arbeit ein! X AVER Was sagst? R EITER Lang san wir nimmer da. M AURER I weiß net, wo i nacher hin soll! S LIWINSKI I a net. H ANNES I scho. S IMON Du scho! Freili! Du rollst di in dei Dorf retour und hütst die Gäns im Stall!

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H ANNES Da täuscht di! I, wanns hier zugmacht werd, i geh stehln! Pfeilgrad! I geh stehln! A LLE (schauen ihn groß an.) 5

Vo r h a n g .

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Breiter Gratrücken. Gletscher ringsum. Rechts Arbeiterbaracke Nummer vier der Bergbahn A.G. Davor Quelle und primitive Bank. An einer Leine hängt buntgeflickte Wäsche. Links Felskanzel. Vor Sonnenaufgang. Windstill. I NGENIEUR (steht auf der Kanzel und blickt empor.) O BERLE (tritt lautlos aus der Baracke und stellt sich neben den I NGENIEUR .) I NGENIEUR (zuckt zusammen.) Ach Sie sind es, Oberle! O BERLE San Sie jetzt erschrockn? I NGENIEUR Wer? O BERLE Sie! I NGENIEUR Ich? (Er lacht.) O BERLE Sie san halt nervös. I NGENIEUR (spitz) Finden Sie? O BERLE Sie san halt überarbeit. Sie solltn net alls allein machn wolln. I NGENIEUR Ich verbiete es Ihnen, sich mit meiner Person zu beschäftigen. (Stille) I NGENIEUR Der Herr wünschen? O BERLE I wollt bloß nachschaun. Wies werd. I NGENIEUR Was denn? O BERLE Das Wetter. – – Sie passen doch auch aufs Wetter, oder? I NGENIEUR (immer spöttisch aus Unsicherheit) Ich bewundere Ihre Beobachtungsgabe. A LLE A RBEITER UND V ERONIKA (kommen nach und nach aus der Baracke; waschen sich am Brunnen, holen ihr Werkzeug herbei; V ERONIKA verteilt Tee.) O BERLE Das Wetter is nix. Und werd nix. I NGENIEUR Das Wetter hält. O BERLE Man sieht net durch die Wänd. Vielleicht schneits scho drübn, hinterm Grat. Es gfallt mir net, daß so still is. (Stille) I NGENIEUR (fast zu sich) Es hält, es hält, es hält. Ich habe eine Idee verkauft. Habe ich mich verrechnet? Ein miserabler Vertrag. Es dreht sich hier nicht um Geld. – – Warum erzähle ich Ihnen das? O BERLE (lächelt.) Manchmal muß man halt redn. Sie san ja allweil allein. I NGENIEUR (scharf) Was geht Sie das Wetter an? M AURER Herr Ingineur!

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I NGENIEUR Was gibts? M AURER Wir hättn nur a Frag. Es heißt, daß wanns Wetter umschlagt, die Arbeit eingstellt werd, hier obn. Stimmts? I NGENIEUR Stimmt. M AURER Und daß wir nacher net etwa weiter untn oder anderswo beschäftigt werdn, sondern weggschickt. I NGENIEUR Und? M AURER Ja, des is nämli a so: Des Wetter hält si höchstns no drei Tag, langer net. Und nacher darfst gehn. Wann wir aber gleich gingen, kenntn wir no leicht unterkommen, druntn beim Straßnbau zwischn Reith und Neukirchn – – nacher aber nimmer. Und, wanns halt bloß vom Wetter abhängt, nacher gingen wir halt gleich. I NGENIEUR Seid ihr verrückt geworden? S IMON Werdn wir abgbaut, oder net?! I NGENIEUR Erstens: Das Wetter hält. H ANNES Is des so sicher? I NGENIEUR Zweitens: Keiner wird entlassen. S IMON Is des so sicher? I NGENIEUR Wir müssen es schaffen! Niemand wird entlassen! (Stille) O BERLE Sie san a gscheiter Mann, Herr Ingineur. – – Is des wahr, daß nur Sie zu bestimmen habn? Nur Sie? I NGENIEUR Das Wetter hält. Es muß. (Er steigt empor.) S CHULZ Wie lange haben wir zu steigen? R EITER So zwa Stund. S CHULZ Wie? S LIWINSKI (gewollt hochdeutsch) Zwei Stunden. S CHULZ Sind es wirklich nur zwei Stunden? O BERLE Ja. S CHULZ Manchmal vergehen zwei Stunden rasch. V ERONIKA (zu M OSER ) Warum schaust mi denn net an? Schau mi an! M OSER I schau ja. V ERONIKA Was hast denn? M OSER Nix. V ERONIKA Lüg net! M OSER Laß mi! V ERONIKA Mann, was hast denn? Was is denn? Was hab i dir denn getan?! M OSER I weiß, was i gtan hab. (Stille) V ERONIKA (leise) I kann do nix dafür, daß du den gschlagn hast. M OSER Meinst? V ERONIKA Wannst mi so anschaust, glaub i schier, i hätt wen umbracht. M OSER Mögli. V ERONIKA Moser, tu net, als warst a Tier. M OSER (gehässig) Fürchte dich nicht! (Er läßt sie stehen.) S IMON (zu V ERONIKA ) So laßn! V ERONIKA Was hab i denn nur gtan? S IMON Du brauchst nix gtan zu haben, und es geschieht was. V ERONIKA I kann do nix dafür.

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S IMON Des is an Moser gleich. Der geht unter die Apostl. I hab dirs scho mal gsagt, wies kommen werd. Daß aus werd, ganz plötzli. I kenn an Moser. Und di. V ERONIKA Ja, jetzt fallts mir wieder ein. S IMON Werst es wieder vergeßn? V ERONIKA Na. (ab in die Baracke) S IMON , X AVER , H ANNES (steigen nach links empor.) M AURER (zu S CHULZ ) Zu! Zu! Es pressiert! S CHULZ Moment! Man muß es gewohnt sein. S LIWINSKI Jetzt kimmt d’ Sonn. S CHULZ Wie? M AURER (gewollt hochdeutsch) Die Sonne. S CHULZ Wo? R EITER (lacht kurz.) Wo? Wo? Jetzt fragt der, wo d’ Sonn aufgeht! M AURER Wo geht denn d’ Sonn auf bei dir zhaus? S CHULZ Im Osten. S LIWINSKI Hergott Sakrament! Jetzt ist d’ Sonn scho da, und wir san no allweil net drobn! I geh! I mag da net naufschwitzn in der Hitz! Heut is so dumpf – – – Als war die ganz Welt a Kasemattn – – (Er steigt empor.) R EITER , O BERLE , M AURER (folgen ihm nach.) S CHULZ (stiert müde vor sich hin; will DEN ANDEREN nach.) M OSER Halt! S CHULZ (erblickt ihn und zuckt etwas zusammen; will weiter.) M OSER Halt! – Du, hör her – I bin extra etwas hint bliebn, weil i di hab sprechn wolln, weil i mit dir hab redn wolln, wegen gestern. Mancher werd halt leicht wütend, des is Veranlagungssach, net? Verstehst, aber man meints ja gar net so drastisch. Des gestern, des war – – Horch! I will di net um Verzeihung bittn, i war ja im Recht, verstehst? Wenn da so a Fremder über dei Mensch kimmt, ha? I hab scho ganz recht ghabt! Net? Oder? – Aber da plärrt gleich alls und jeder, man is a Rohling, und man hat do recht, das sakrische Recht is do auf meiner Seitn, net? Des versteht do jeder! – – Aber, weißt, was i net versteh? Daß i im Recht bin, und daß es mir trotzdem is, als hätt i unrecht gtan – Verstehst du des? Kann des a Mensch verstehn?! Steiler Grat. Gletscher ringsum. Ziehende Wolken. Stoßweise Sturm. Vormittag.

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S IMON , X AVER , H ANNES (ziehen ein Kabel, das über eine Walze aus der Tiefe nach der Höhe rollt, empor: „Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“ verschnaufen ab und zu; wechseln wenige Worte.) S IMON Der sakrische Sturm! Da kannst schier nimmer schnaufn! X AVER Die Sonn glitzert wie a Seifenblasn. S IMON Lang hält sichs nimmer. X AVER Schau wie die Wolkn runterdruckn. Als bügelt der Himmel die Berg platt. Zu an Pfannkuchen! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) S IMON Zieh zu, Hannes! Fester! H ANNES I zieh ja! X AVER An Dreck ziehst! I spürs! S IMON Wenn wer auslaßt, kimmt kaner vom Fleck!

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X AVER Zu! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“ – Auf Punkt 3018 wird gesprengt.) S IMON Gsprengt. H ANNES Die Stein! Die Stein! Des donnert runter wie beim jüngstn Gricht. X AVER Glaubst du an des jüngst Gricht? H ANNES Ja. X AVER Unmögli wars ja net. S IMON Hin is hin. H ANNES Na! Wir auferstehn! S IMON Du scho! I net! I mag net! I laß mei Arsch lieber von die Würm zernagn, als daß ihn dei jüngst Gricht auf ewig ins höllisch Feuer steckt! Is ja auch nur a Klassengricht! Nebn an gutn Gott spitzelt der Gendarm, und dir stellns an Verteidiger, der an sei Schellensolo denkt, net an di! Es gibt kane Gerechtigkeit! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) X AVER Des war net recht vom Moser. Gestern. Na, des war net recht, des Theater mit dem Schulz, oder wie er si schreibt. H ANNES Theater! Hihihi! De Vroni markiert an Unschuldsengel und is do a läufigs Luder! X AVER Im Schlaf hat der scho so danebngredt, als hätt ihn a toller Hund bißn, direkt wild. Und gwinselt, die ganz Nacht. Habts denn bloß gschnarcht und nix ghört? H ANNES Den werds halt von lauter Abortdeckl gträumt habn! Vom Moser seine Prankn! Wie a Löw! Hihihi! X AVER Halts Maul, Dorftepp damischer! („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) X AVER Sakradi! Die Kält reißt an d’ Haut vo der Hand! Des Scheißkabl schneidt wie a Rasiermesser. S IMON Hast kane Handschuh? X AVER San a scho zerfetzt! H ANNES Und schwaar is des Zeig! S IMON Aufn Bindfadn hängt man kan Waggon! Für dreißig Personen mit Sitzgelegenheit. („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“) S IMON No zehn Meter. H ANNES Einmal, wanns ferti is, möcht i scho damit fahrn. Rauf und runter. S IMON Da werst net weni Taler brauchn! A Bergbahn werd ja bloß für Direkter baut, für lauter Direkter! – Aufn Gipfel kimmt no a Hotel mit Bad und Billard. (Auf Punkt 3018 wird wieder gesprengt: zweimal) H ANNES Scho wieder! Und no mal! X AVER Wenns nur des ganz Klump ind’ Luft sprengen tatn! S IMON Wartn, Xaverl, wartn! Kimmt scho no! Kimmt scho! Es gibt bereits welche, die mehr sprengen, als a Bergbahn braucht samt Hotel mit Bad und Billard! Die sprengen die ganzn Paläst und Museen, alles, von dem der arbeitende Bürger nix hat! Die Moskowiter, sag i euch, hint im riesign Rußland, die habn alles anbohrt, auch an härtestn Marmor, Pulver neigsteckt und angsteckt! Piff! Paff! (Schweigen) X AVER No zehn Meter. („Ho ruck! Ho ruck! Ho ruck!“)

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Vor der Arbeiterbaracke. Es ist zehn Uhr, und die Sonne scheint. Gelbes Licht.

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A UFSICHTSRAT (sitzt in der Sonne vor einem kleinen Tische und ißt Koteletts, Kartoffeln und Salat; Thermosflaschen in verschiedenen Größen stehen vor ihm, aus denen er ab und zu trinkt.) I NGENIEUR (kommt von links herab.) A UFSICHTSRAT Na guten Morgen! Hören Sie, bequem ist anders. Meine armen Knie. Nein, schrecklich! Überall Sport. Aber, glauben Sie mir: Trotz aller Anstrengung beneide ich selbst unseren letzten Arbeiter. Immer in herrlicher Höhenluft, inmitten gewaltiger Natur! – – Wollen Sie nicht mithalten? I NGENIEUR Danke. A UFSICHTSRAT Sie haben schon gefrühstückt? I NGENIEUR Ja. A UFSICHTSRAT Übrigens: Nettes Mädel das hier. Frisch! Aber dreckig! Die kommen ja nie zum Baden. (Er lacht.) Wissen Sie, ich habe mich nämlich so gefragt: Wie halten Sie das aus, so vier, fünf Monate ohne Weiblichkeit? Pardon, ich wollte nicht indiskret – I NGENIEUR Oh, bitte. A UFSICHTSRAT Ich glaube, Sie können gar nicht lieben. Sie sind so ein Höhlenheiliger, was? I NGENIEUR Ich weiß nicht, was Sie unter „Liebe“ verstehen. A UFSICHTSRAT Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie nicht wissen, was Liebe ist. Liebe ist das köstlichste, ein Geschenk des Himmels. Gott! Jeder Mensch hat doch einen, dem sein Herz gehört – – Ich hänge sehr an meinen Kindern, aber ich sehe sie nie, man ist zu sehr im Joch. – – Sie haben keinen Familiensinn. Sie sind trotz Ihrer Arbeit ein destruktiver Mensch, haha, guter Witz! I NGENIEUR Verzeihen Sie, daß ich Sie im Essen störe. Ich muß leider wieder fort. Darf ich bitten? A UFSICHTSRAT (erhebt sich und folgt dem I NGENIEUR.) I NGENIEUR Hier bietet sich einem die beste Sicht über die letzte Strecke der Anlage. Sie sehen: dort unten, oberhalb jener vermurten Gletscherzunge, Stütze vier. Der helle Fleck. Höhe 2431. A UFSICHTSRAT (durchs Fernglas) Jawohl! I NGENIEUR Nach rund 1200 Metern erreicht die Bahn Stütze fünf: dort oben, links der schwarzen Wände, jene rostbraune Stelle. Gesprengt. Höhe 3018. 587 Meter Höhe in knapp sieben Minuten. A UFSICHTSRAT Rekord! Und Hochachtung! – Unter uns: In der letzten Aufsichtsratssitzung fiel der Satz: Sie seien besessen von Ihrer Arbeit, Ihre Besessenheit ist kapital! Im wahren Sinne des Wortes: Kapital! Und Geheimrat Stein sagte, wenn das Vaterland lauter solche Männer hätte, stünde es besser um uns. Ich füge hinzu: Dann wäre dieses Wunderwerk, Ihr Wunderwerk, in drei Wochen fahrtbereit! I NGENIEUR Bis dato war uns der Oktober freundlich gesinnt. Nur noch vier Tage, und das Hilfskabel hängt auf Hilfsstütze fünf, das Pensum rollte sich planmäßig ab. Dann dürfte es wettern. Tag und Nacht. A UFSICHTSRAT (betrachtet die Landschaft durchs Fernglas.) Wir verringern natürlich die Belegschaft. I NGENIEUR Alles wird entlassen, bis auf die vierzehn Mann der Talstation.

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(Sturmstoß) A UFSICHTSRAT Teufel, dieser Sturm! Durch und durch! I NGENIEUR Würden wir gezwungen, die Vorarbeiten vorzeitig abzubrechen, so folgerte freilich hieraus – A UFSICHTSRAT (unterbricht ihn.) Herr! Weitere Verzögerungen wären untragbar! I NGENIEUR Ob man sie tragen muß, entscheidet der Sturm. Die kommenden vier Tage. Denn schlägt das Wetter im Oktober um, dann kommt der Winterschlaf. Und setzt gar das Frühjahr spät und schlecht ein, so dürfte sich die Inbetriebnahme leicht um ein volles Jahr verzögern. A UFSICHTSRAT Wie? Was?! Mensch, was reden Sie da! Ein Jahr?! I NGENIEUR Vielleicht! A UFSICHTSRAT Ist nicht wahr! Ist nicht wahr! Das ist ja der Tod! Das Nichts! Die Pleite! I NGENIEUR Wenn ich nicht falsch unterrichtet worden bin, hat die A.G. die Bodenbank interessiert. A UFSICHTSRAT Man hat Sie unterrichtet? I NGENIEUR Ja. A UFSICHTSRAT Wer? I NGENIEUR Die Bodenbank ist beteiligt. Seit sechs Wochen. Mit 45 %. Stimmts? Ja oder nein? A UFSICHTSRAT Es stimmt. Auffallend! Und? I NGENIEUR Es stimmt! Und ich lasse mich nicht hetzen! Herr, ich gebe mein Letztes her, doch gen Elemente kann keiner kämpfen! Aber die Bodenbank kann zahlen. Auch zwei Jahre länger! A UFSICHTSRAT Auch zwanzig Jahre länger! I NGENIEUR Sehen Sie! A UFSICHTSRAT Ich sehe. Doch Sie scheinen blind zu sein! Der A.G. ist es völlig piepe, ob sie an Konserven, Spielwaren oder Bergbahnen verdient. Mann, es geht um die A.G. und nicht um Ihre Beschäftigung! Jeder Tag mehr kostet uns Herzblut. Wir verlieren die Mehrheit, und unsere Millionen werden Nullen vor der Zeit! I NGENIEUR Das dürfte übertrieben sein. A UFSICHTSRAT Ihnen dürfte es freilich gleichgültig sein, wer sein Geld für Ihre Pläne riskierte! I NGENIEUR Nichts war riskiert! A UFSICHTSRAT Das sagen Sie! I NGENIEUR (scharf) Und Sie? A UFSICHTSRAT Hahaha! Sie entpuppen sich ja als Idealist! Sie bauen tatsächlich in die Wolken! Hahaha! – Mein lieber Herr! Merken Sie sich: Wir sind Kaufleute. Also nicht naiv. I NGENIEUR Mein Werk ist kein Geschäft. A UFSICHTSRAT Großer Gott! Wir finanzieren doch nicht Ihren Ruhm! I NGENIEUR Über der Person steht das Werk. A UFSICHTSRAT Um unser Geld! I NGENIEUR Aber die Person fordert Bewegungsfreiheit, um schaffen zu können! Man ist doch in keinen Käfig gesperrt! A UFSICHTSRAT (grinst.) Sie verkennen Ihre Lage. I NGENIEUR Um das Werk zu vollenden, werde ich rücksichtslos!

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A UFSICHTSRAT Richtig! Ditto! Um das Geld nicht zu verlieren, sagt die A.G. „Hören Sie! Wir haben Ihr Patent erworben. Und die Konzession!“ I NGENIEUR Was soll das? A UFSICHTSRAT Aha! Erraten! Es gibt nur wenige A.G.s, aber zahlreiche Ingenieure. Ingenieure, gleichtüchtige, die sich aber auch gerne hetzen ließen, wenn – – Und die auch gegen die Arbeiterschaft energischer einschreiten! Eine Unerhörtheit dieser letzte Streikversuch! I NGENIEUR Wann? A UFSICHTSRAT Voriges Jahr. Zwei Wochen schlecht Wetter und schon Drohung mit Lohnerhöhung! Pack kennt keine Pflicht. Mehr Energie, Herr! Mehr Faust! Wann haben Sie – I NGENIEUR (unterbricht ihn.) Wann habe ich nicht? Was habe ich nicht? So denken Sie doch nach! Da ist der Fall Klaus, und die Geschichte der drei – Habe ich etwa Schlappschwanz markiert? A UFSICHTSRAT Die unter allen Umständen ungerechtfertigten, jeder Grundlage entbehrenden Beschwerden der Belegschaft sind strikte zurückzuweisen. Wir müssen zwingen. Und sollte es Schwefel schneien! I NGENIEUR Jetzt reden wir aneinander vorbei. A UFSICHTSRAT Freut mich! Aufrichtig! Es wäre doch auch zu traurig, wenn man im zwanzigsten Jahrhundert noch derart vom Wetter abhängen müßte! Sollte sich also die Inbetriebnahme wieder verzögern, selbst nur um paar Tage, sind Sie entlassen. I NGENIEUR Hahaha! – Und unser Vertrag? A UFSICHTSRAT Prozessieren Sie! I NGENIEUR Das können Sie nicht! A UFSICHTSRAT Das können S i e nicht! Wir können! Und noch mehr! I NGENIEUR Gratuliere! A UFSICHTSRAT Danke! – Sie sind Fanatiker. Um Ihr Ziel zu erreichen, schritten Sie über Existenzen. Über Leichen! I NGENIEUR Und Sie? (Aus ferner Höhe tönt ein „Huuu!“ sechsmal hintereinander; der Nebel hüllt alles in Grau: unheimlich still und düster.) A UFSICHTSRAT (entsetzt, feige) Was war das? I NGENIEUR Sechsmal in der Minute. Das Notsignal! A UFSICHTSRAT Die Leichen! I NGENIEUR Vielleicht! – Guten Appetit! Ich sehe nach! – Nur keine Angst! A UFSICHTSRAT Ich hab keine Angst, Sie! I NGENIEUR (lacht ihn aus und eilt nach links empor.) V ERONIKA (tritt aus der Baracke.) Hat da nit wer grufn? – – Es war doch, als hätt wer grufn. A UFSICHTSRAT (sieht auf die Uhr.) Zehn auf elf. (Er überlegt; setzt sich wieder und fängt an mechanisch zu essen.) V ERONIKA (sieht ihm zu.) Schmeckts? A UFSICHTSRAT (nervös) Sie sollten mal im Adlon essen! V ERONIKA Wo? A UFSICHTSRAT Im Adlon. – Zum Donnerwetter, was glotzen Sie denn so?! Haben Sie noch nie jemanden essen sehen?! So ein Geglotze! Ist ja widerlich! (Die Rufe ertönen wieder.)

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V ERONIKA Da is was gschehn! A UFSICHTSRAT Was soll denn schon geschehen sein?! Was? Wie? V ERONIKA Es san scho paar runter – A UFSICHTSRAT (wird immer nervöser.) Wo runter? Was runter?! So machen Sie doch Ihr Maul auf, gefälligst, ja! V ERONIKA Schreins nit so mit mir! A UFSICHTSRAT (brüllt.) Was erlauben Sie sich für einen Ton?! Freches Frauenzimmer! – – Nichts ist geschehen. Es d a r f nichts geschehen! Basta! (Sturmstoß) V ERONIKA Nur kane Angst! A UFSICHTSRAT Ich habe keine Angst, Sie!

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Gratscharte. Graugelber Nebel. Oberhalb der Scharte die Konturen der Hilfsstütze Nummer fünf wie eine riesige Spinne. Neuschnee. M OSER , R EITER , S LIWINSKI , S IMON (ließen O BERLE an einem Seile in den Abgrund, um den abgestürzten S CHULZ zu bergen.) M AURER (auf einem Gratzacken; ruft durch Handtrichter.) Huuu! – Huuu! X AVER , H ANNES (lauschen auf Antwort.) (Stille) H ANNES Nix. (Sturmstoß in der Ferne, der sich rasch nähert.) X AVER Horch, wie die Berg scheppern! H ANNES Des winselt wie a kranke Katz. M AURER Huuu! S LIWINSKI Maurer! Des hat kan Sinn, des Schrein! Des Wetter plärrt besser! Des überplärrt jeds Signal! (Der Sturmstoß fegt vorüber.) M AURER (klettert vom Zacken herab.) X AVER (leise) Wie so an Unglück passiert – M AURER (ebenso) Schnell!! Der Reiter hat a Klammer braucht, und der Oberle sagt zum Schulz: Hol ane her! Und der arm Teufl springt dahin, ganz eifrig, und schreit glei, ganz entsetzli, und runter is er a scho über d’ Wand. So vierzig Meter. Und bloß ausgrutscht – M OSER (erregt; unterdrückt) Hörts! Stehts do net so rum! Der Oberle holt den scho rauf! Laufts um a Tragbahr und telefonierts um an Dokter! Zu! H ANNES Da werd nimmer viel zum Doktern sein. M OSER Meinst? H ANNES Ja. Der is hin. M OSER Was is hin? Wer is hin?! Der is net hin, du Rindvieh! Der darf net hin sein! R EITER Achtung, Moser!

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O BERLES S TIMME (aus dem Abgrund) Auf! M OSER , R EITER , S LIWINSKI , S IMON , X AVER , M AURER (ziehen das Seil empor.) H ANNES (will ihnen helfen.) M OSER Weg! Tepp! S IMON (zu M OSER ) Halts Maul! (Im Abgrund wimmert S CHULZ ; schreit gellend auf; verstummt.) R EITER Achtung! Um Gotts willn! (Sturmstoß) S LIWINSKI Net auslaßn! Zu! O BERLE , S CHULZ (erscheinen am Seile über der Kante; O BERLE stützt den bewußtlosen S CHULZ , der sofort aus den Schlingen befreit und unter einer überhängenden Felspartie gebettet wird.) O BERLE (löst den Seilknoten; verschnauft.) Seids alle da? R EITER (untersucht S CHULZ .) Habts ka Wasser? S IMON Hier! S LIWINSKI Net so tief, an Kopf! R EITER Des überlaß nur mir! I bin Samariter. O BERLE Den hats da drunt auf an Zackn ghaut, daß der Fels kracht hat. X AVER A Gsicht voll Blut. Wie a roter Neger. (Schweigen) R EITER (erhebt sich langsam.) Aus. Der werd nimmer. Dem is ja des ganz Geripp zersplittert. S IMON Ja, der is runter. M AURER (gedämpft) Der Neuschnee halt, der Neuschnee! Und des Schuhzeug is a nix fürs Hochgebirg. Die Sohln wie Papier. Da liegt er. (Schweigen) S LIWINSKI Als tat er bloß träumen. R EITER Träumen, schlafn. – Das Best für den is gar nimmer aufwachn. X AVER Das Best ists freili. Für an jedn. S IMON Möchst denn du scho eingscharrt sein? Und verfauln? X AVER Manchmal. S IMON I net. No lang net! S LIWINSKI Manchmal ists a direkte Gnad, der Tod. (Schweigen) M AURER Wo war denn der zhaus? O BERLE In Stettin. H ANNES Stettin? O BERLE Stettin liegt am Meer. H ANNES Da hätt er mehr als Matros – M OSER (unterbricht ihn bestürzt.) Ruhe!! Der hört ja! Schauts hi, wie der schaut!! A LLE (schrecken zusammen, versteinern.) S CHULZ (hatte die Augen aufgeschlagen und gehorcht; fixiert nun einen nach dem anderen; lächelt schwach.) – – Wer kennt Stettin? Und Warnemünde? – Hm – Also: Gnade. Sterben. Verfaulen. Hm. – Muß man denn wirklich schon verfaulen? Ja? Nein, ihr irrt! Ihr irrt! Ich bin ja nur gestolpert – die Haut klein wenig abgeschürft, jedoch nichts gebrochen, verrenkt, alles intakt! Ich fühle mich sauwohl, tatsächlich: sauwohl – Und dann will ich wieder arbeiten. Rasieren, frisieren. Nehmen Sie Platz, bitte – – Ich rasiere, frisiere, ich rasiere, ich fri-

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siere – – Ich, habe, gehört – – hier würden, noch – – Leute – – eingestellt werden – – – (Er stirbt.) (Stille) A LLE (entblößen ihr Haupt.) H ANNES (fällt langsam in die Knie, betet.) Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde Dein Name – M OSER (unterbricht ihn.) Verflucht! Ka Litanei, ka Rosenkranz! Der da drobn is taub für uns arme Leut! (In weiter Ferne Donnerrollen) M OSER Ja, donnern, des kann der! Und blitzen und stürmen! Schreckn und vernichtn! – Was gedeiht, ghört net uns. Was ghört dem armen Mann? Wenn die Sonn scheint, der Staub, wenns regnet, der Dreck! Und allweil Schweiß und Blut! (Ein leiser Wind hebt an, der allmählich zum Sturm wird.) I NGENIEUR (erscheint; atemlos; aufgeregt) Was ist hier los? Warum steht man so herum? Wer gab das Notsignal? M AURER I. I NGENIEUR Was ist denn geschehen? O BERLE Still, Herr! Hier liegt a Toter. I NGENIEUR Wieso? Wo? Wer? O BERLE Dort. Den Ihr gestern eingestellt habt, der Schulz. I NGENIEUR Scheußlich! O BERLE Er ist bloß gestolpert – über die Wand da. So vierzig Meter. (Schweigen) I NGENIEUR Verdammt! Tja, da kann keiner dafür. – Wollen wir ihn ehren, indem wir geloben, ihm, der in Erfüllung seiner Pflicht fiel, nachzueifern, weiterzuarbeiten. – Ich muß unbedingt darauf bestehen, daß die Arbeit sofort wiederaufgenommen wird. Den Leichnam lassen wir bis zum Abend hier liegen, und nun – M OSER (unterbricht ihn.) Na, der werd zuerst nuntergtragn und aufbahrt. Nachher werd weitergschafft. Eher net! I NGENIEUR Hoppla! Hier hat nur einer zu befehlen, und das bin ich! Pflicht kommt vor Gefühlsduselei. R EITER Pflicht is, a Leich net liegn zu laßn wie an verrecktn Hund. I NGENIEUR Ich verbitte es mir, über Pflicht belehrt zu werden! Merken Sie sich das, Sie! Ich habe mir mein Ziel erkämpft und pflege meinem Willen Geltung zu verschaffen. Und seis mit schärfsten Mitteln! S IMON Bravo! Bravo! I NGENIEUR Was soll das? (Schweigen) I NGENIEUR Es wird weitergearbeitet. Mit Hochdruck und sofort. Los! K EINER (reagiert.) (Schweigen) I NGENIEUR Hört: Sollte das Wetter umschlagen und wir hätten die Vorarbeiten noch nicht beendet, – das Werk, der Bau, die Bahn ist gefährdet! M OSER Sonst nix? Werd scho schad sein um die Scheißbahn! Sehr schad! Wer werd denn damit amüsiert? Die Aufputztn, Hergrichtn, Hurn und Wucherer! Wer geht dran zu Grund?! Wir! S IMON Wir! Wir! I NGENIEUR (höhnisch, doch etwas unsicher) So?

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M AURER Gfährdet is bloß unser Lebn! I NGENIEUR Hier gibt es Hetzer? R EITER Und Ghetzte! M OSER Und was is denn scho, wenns überhaupt kane Bahnen gibt?! Kamst um dei Seelenheil? Stürzet die Welt ein?! I NGENIEUR Unreifes Zeug, dummes! R EITER Wenn Sie, Herr, so a gscheits Genie san, so denkens halt mal an uns! Bauns ka Bergbahn! Bauns uns Häuser statt Barackn! I NGENIEUR Hier wird nicht geredet, hier wird gearbeitet! Ohne Kritik! O BERLE Habt ihrs net donnern ghört, zuvor? I NGENIEUR Quatsch! Quatsch! Ich kenne das Wetter! Das hält! H ANNES (lacht.) O BERLE Herr, i bin a alter Arbeiter, und die Verantwortung – I NGENIEUR (unterbricht ihn.) Nur keine Anmaßung! Die Verantwortung trage ich. Nur ich. (Es donnert. Stille) I NGENIEUR Hm. Jetzt dürfte sich manches geändert – – Grinst nur, grinst! Ja, jetzt könnt ihr den aufbahren. Alles aufbahren! Auch euch selbst! (Er will absteigen.) M AURER Halt! An Augenblick! Darf man fragn, obs stimmt, daß wir ghetzt werdn? Und daß es ganz gleich is, ob wir runterfalln, wenn nur des Kabel herobn hängt, bevors Wetter umschlagt? Und daß wir, wanns umgschlagn hat, fortgtriebn werdn – I NGENIEUR (unterbricht ihn.) Jetzt könnt ihr gehen! M AURER Wohin? I NGENIEUR Die Arbeit ist eingestellt. Alles ist eingestellt. Ihr seid entlassen. M AURER Habts es ghört?! Habts es ghört? R EITER Des hättns uns scho sagn können! S LIWINSKI Solln! S IMON Müßn! M AURER Lügner! Lügner! R EITER Jetzt kriegst nirgends Arbeit! Jetzt nimmer! I NGENIEUR Wer arbeiten will, der kann! Jetzt und immer! S IMON (applaudiert.) I NGENIEUR (wird immer erregter.) Hört! Ich habe alles verlassen, um mein Ziel zu erreichen! Ich habe in Baracken gehaust – M OSER Wir habn no nie anderswo ghaust! I NGENIEUR – Ich habe verzichtet, ich habe im Schatten geschuftet an dem Werk! S LIWINSKI Im Schattn deiner Villa! I NGENIEUR Ich habe keine Villa! S IMON Aber a Wohnung hast! Unds Freßn hast! Und an Mantl, wanns di friert! Ists wahr oder net? I NGENIEUR Ich werde mir erlauben, eine Wohnung zu besitzen! Doch ich hätte auch hungernd und frierend an meinen Plänen gearbeitet – (Er hält plötzlich verwirrt die Hand vor die Augen.) Aber ich habe ohne den lieben Gott kalkuliert. Allerdings, ja, jetzt schlägt das Wetter um – M AURER Also, weil Sie Herr sich verrechnet habn, drum stehn wir da, mittn im Winter! Ohne Dach, ohne Holz, ohne Brot! S IMON A jeder redt si aufs Wetter naus, aber kaner rechnet damit!

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H ANNES Die ganzn Plän san halt falsch. I NGENIEUR Was?! Kritik? Kritik! Du Trottel! Ungebildetes Pack erlaubt sich – X AVER (unterbricht ihn.) Ohne uns Pack, was war denn dei Werk?! Bloß a Plan! Papier! Papier!! (Stille) I NGENIEUR (geht langsam auf X AVER zu und hält dicht vor ihm; fixiert ihn; plötzlich schlägt er ihm vor die Brust, daß er zurücktaumelt.) (Stille) I NGENIEUR (verliert die Nerven.) Jetzt könnt ihr gehen! Verschwindet! Marsch! O BERLE Wohin!? I NGENIEUR Was weiß ich?! Wohin ihr wollt! Wohin ihr könnt! Wohin ihr gehört! Zum Teufel! M OSER Halt! Komm mit! S IMON , S LIWINSKI Komm mit zum Teufl! M OSER Dort hockn alle armen Sünder hinterm Ofen – alle in aner warmen Stub. Komm mit zum Teufl! Mit uns! Komm mit, komm mit! (Er schlägt ihn nieder; Sturm) R EITER Schlagt ihn nieder, den Satan! S IMON Schlagt ihn tot! X AVER Ganz tot!! H ANNES Tot! Tot! Tot! (Es blitzt und donnert.) I NGENIEUR (stürzt zu Boden, springt jedoch sofort wieder empor: zerfetzt und blutend) S LIWINSKI (spuckt ihn an.) Pfui Teufl! A LLE (außer O BERLE , wollen sich auf den I NGENIEUR stürzen.) O BERLE (reißt M OSER zurück, der perplex ist über seine Kraft, und stellt sich schützend vor den I NGENIEUR .) Zurück, Leut! Zurück! I NGENIEUR (zieht einen Revolver, stößt O BERLE zur Seite.) Weg! Weg! Ein Revolver langt für Halunken! Zurück! Und Hände hoch! Hoch! Oder – A LLE (außer O BERLE , weichen und heben die Hände hoch.) I NGENIEUR Revoltieren Zuchthäusler? Jetzt kommt das Gesetz. M AURER Paragraph! Paragraph! S LIWINSKI Kanonen, Kettn und Schafott! Nur zu! S IMON (lacht.) Das Gesetz! I NGENIEUR Lach! Lach! Du erstickst daran! R EITER Die Ordnung! Die Ordnung! I NGENIEUR Hände hoch! Auch Sie, werter Herr Oberle! Hoch, Kerl, oder ich funke dich nieder! Hoch! O BERLE (folgt nicht; fixiert ihn.) Wir san kane Zuchthäusler, Sie – – I NGENIEUR Kusch! Und Hände hoch! Hoch, my boy! O BERLE Nie! Ehrlich schaffn diese Händ! I NGENIEUR Zurück! (Er schießt ihn nieder.) O BERLE (wirft lautlos die Hände hoch und bricht tot zusammen.) (Es blitzt, ohne zu donnern; der Wind zirpt; durch den graugelben Nebel bricht ein Sonnenstrahl und fällt fahl auf die Gruppe; alles verstummt; Stille; dann ein gewaltiger Donnerschlag; Verfinsterung; der Sturm winselt und heult.) M OSER Der Satan! Der Satan!

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A LLE Der Satan!! M OSER (röchelt und will sich auf den I NGENIEUR stürzen.) I NGENIEUR (schießt toll.) M OSER (wankt und bricht knapp vor ihm in die Knie.) D IE ÜBRIGEN (fliehen und suchen Deckung; finden keine; kleben an einer Wand mit hocherhobenen Händen.) I NGENIEUR (schießt trotzdem.) X AVER Mörder! S LIWINSKI Danebn! Danebn! S IMON Bravo! Bravo! M AURER Wir san doch kane Scheibn. Danebn. H ANNES (läuft irr vor Angst dem I NGENIEUR entgegen.) Es lebe der Schütznkenig! Er lebe hoch! Hoch! Hoch! I NGENIEUR (will schießen.) M OSER Danebn! (Er schnellt sich mit letzter Kraft empor und schlägt dem I NGENIEUR den Revolver aus der Hand; stürzt wieder.) I NGENIEUR (entsetzt; will fliehen, doch M OSER klammert sich fest an seinem Bein.) (Orkan) D IE ÜBRIGEN (nähern sich drohend.) I NGENIEUR (tritt und schlägt winselnd auf M OSER ein; reißt sich los und retiriert sprunghaft, den Abgrund im Rücken.) Die Kreatur! (Er lacht höhnisch-irr hellauf; tritt ins Leere; krallt in die Luft, brüllt verzweifelt und stürzt kopfüber hinab.) (Finsternis) Schneesturm. Man sieht kaum fünf Schritte weit. Unterhalb eines Grates. M AURER , S LIWINSKI , X AVER (steigen ab und stützen den verwundeten M OSER .) M OSER Halt! I kann nimmer – S LIWINSKI No hundert Meter! M OSER Kan Schritt mehr. M AURER Zu! Wir san bald drunt! M OSER Was soll i denn drunt mit an lahmen Knie? Betteln?! – Laßt mi! Wißt, man is halt bloß a Vieh – S LIWINSKI Bist du verruckt?! Zu! (Blitz und Donner) M OSER Holla! Jetzt sprengt der liebe Gott. Da fliegn Staner, schwarer als Stern – (Er reißt sich los.) Rettet euch! Lauft! Lauft! Laßt den Moser liegn! Der kann nimmer, der mag nimmer, der is verreckt! M AURER Und wenn wir alle verreckn! Komm! M OSER Na, ihr dürft net verreckn! Ihr müßt nunter und scharf aufpaßn, daß ka Tropfn Blut vergeßn werd – Verstehst? – Vergeßt uns net. Und der Vroni, der sagts an schön Gruß, und es hat halt nicht sollen sein – – – Vergeßt uns net. Den alten Oberle Ludwig, den Schulz, und den Moser Karl aus Breitenbach – Geht! Flieht! Flieht, und vergeßt uns net! Zu! X AVER I kann di net laßn – M OSER Du mußt! Sonst verwaht uns alle der Sturm wie a Spur im Schnee. (Er bricht nieder.) (M AURER , S LIWINSKI , X AVER verschlingt der Sturm.)

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M OSER (allein, kauert.) (Der Sturm läßt auf Augenblicke nach; Schnee fällt in großen Flocken.) M OSER (leise) Wie des schneit, wie des schneit – still und weiß, – Wie des blut, wie des blut – rot und warm – – Leb wohl, Kamerad – Leb wohl – – (Er nickt ein; in der Ferne heult der Sturm: Kreatur! Kreatur! Er schreckt zusammen.) Nur net einschlafn, nur net einschlafn! (Er lauscht.) Ho! Jetzt kommen die Paragraphen! Mit Musik! Horch! – Links, rechts, links, rechts! Das Gewehr über! Das Gesetz! Das Gesetz! – Links, rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts – (Es klingt wie Trommeln, marschierendes Militär und Gewehrgriffe.) (Stille) M OSER Die Ordnung! (Sturmstoß) M OSER Ho! Ho, wohin soll i mi denn stelln?! Wohin?! (Er reckt sich empor.) Schießt! Schießt! Los! Legt an! Feuer!! (Trommelwirbel) In der Nähe der Baracke. Im Schutze einer schwarzen Wand. Nebel. Sturm.

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V ERONIKA (starrt nach links empor.) Drobn schneits, drobn schneits. Drobn waht die Höll. A UFSICHTSRAT Kommen Sie! Ich sehe nichts. V ERONIKA Na! A UFSICHTSRAT Es ist sinnlos. Ich warte in der Baracke. (Er sieht auf seine Uhr.) Fünf nach vier. Wenn man nur absteigen könnte. V ERONIKA (lauscht.) Schnee. Schnee. Und d’ Leut drobn, d’ Leut. S IMON , H ANNES , R EITER (erscheinen, erschöpft und zerfetzt.) V ERONIKA (leise; bange) Wo ist der Moser? R EITER (leise) Der Moser? Und der Oberle, und der Schulz, und – – V ERONIKA (schreit gellend auf.) A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? S IMON Wer is denn des? R EITER Der Direkter. H ANNES Was für a Direkter? S IMON Der Zirkusdirekter. A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? V ERONIKA Wo is der Moser!? A UFSICHTSRAT Was schert mich der Moser? V ERONIKA Der Hals, der Hals! Schauts nur den Hals an! Wie des rausquirlt, der Speck – – Da sollt man mit an Brotmesser dran, mit an scharfn Brotmesser – – A UFSICHTSRAT Ist die Person verrückt geworden?! Was ist denn los? Was ist denn geschehen? V ERONIKA (lacht verzweifelt.) Es darf ja nix gschehn! Es d a r f nix gschehn!! A UFSICHTSRAT Wo ist der Ingenieur? (Stille) R EITER Der Ingenieur, der is nunter. A UFSICHTSRAT Ins Tal? S IMON In d’ Höll!

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H ANNES Kopfüber is er nunter, kopfüber! S IMON Über d’ Wand! Vierhundert Meter! Oder tausend! R EITER Ins Leere is er gtretn, ins Nix. H ANNES – – Und wissens, Sie Herr Direkter – Bevor der zur Höll gfahrn is, da hat er vorher no auf Scheibn gschoßn. Er war a braver Schütz! A jedesmal hat er ins Schwarze gtroffn, a jedsmal! Akkurat! Der Schützenkenig. A UFSICHTSRAT Ich fordere Aufklärung. S IMON Niedergschoßn hat er uns, niedergschoßn! A UFSICHTSRAT Quatsch! Ihr seid doch da! R EITER Da! Aber wir liegn a drobn, im Schnee! Derschoßn, derfrorn, verblut und verreckt! V ERONIKA (leise) Kimmt denn kaner mehr zruck? S IMON Der Maurer und der Dings, und – – Die kommen schon no. Aber an Moser werdns laßn müßn. Der war ja scho drobn verblut. – – Den runterbringen wolln, des is bloß a Quälerei. V ERONIKA Des is glogn! S IMON Halts Maul! V ERONIKA Der lebt! R EITER Jetzt nimmer! Jetzt nimmer! A UFSICHTSRAT Der Tatbestand muß klargestellt werden. H ANNES Der is scho klargstellt. A UFSICHTSRAT (höhnisch) Ohne Justiz? Ohne Gendarmerie? V ERONIKA (nähert sich S IMON .) Du, is des wahr, daß er nimmer is? S IMON Wahr. V ERONIKA (unterdrückt) Simon, was werd jetzt no alls kommen?! S IMON Zuerst: die Gendarmerie. V ERONIKA Simon, i kann a Moser nimmer sehn. – I möcht fort, i kann kane Leich net sehn – I hab so Angst, Simon – – S IMON I hab ka Angst. V ERONIKA Simon, laß mi nur nit allein – I kann jetzt nit allein nunter – – A UFSICHTSRAT Wäre das Wetter nicht umgeschlagen, wäre alles in Ordnung. R EITER Die Ordnung! S IMON Einmal schlagt jeds Wetter um. Nur kane Angst! A UFSICHTSRAT Ich habe keine Angst, Sie! H ANNES (lacht ihn aus.)

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Schluß.

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Zur schönen Aussicht Komödie in drei Akten von Ödön von Horváth 5

Personen:

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M AX K ARL M ÜLLER S TRASSER E MANUEL F REIHERR VON S TETTEN A DA F REIFRAU VON S TETTEN C HRISTINE

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Erster Akt: Halle des Hotels zur schönen Aussicht. Zweiter Akt: Speisesaal im Hotel zur schönen Aussicht. Dritter Akt: Korridor im Hotel zur schönen Aussicht. 20

Zeit: ungefähr zwölf Stunden.

E R S T E R A K T. 25

Halle des Hotels zur schönen Aussicht. Dies Hotel zur schönen Aussicht liegt am Rande eines mitteleuropäischen Dorfes, das dank seiner geographischen Lage einigen Fremdenverkehr hat. Saison Juli-August. Zimmer mit voller Verpflegung sechs Mark. Die übrige Zeit sieht nur durch Zufall einen Gast.

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Es ist drei Uhr Nachmittag, und die Sonne scheint. Im Monat März. Links Portierloge. Rechts Glastüre mit Aufschrift: Speisesaal. Im Hintergrunde führt eine Treppe nach oben und eine breite weit offene Türe ins Freie. Am Horizont Berge. Im Vordergrund ein kleiner Tisch und zwei Rohrstühle. In der Ecke eine vergilbte Palme. Eine mächtige alte Karte von Europa hängt an der Wand. Alles verstaubt und verwahrlost. M AX (in Hemdsärmeln; sein Kellnerfrack liegt neben ihm auf dem Pulte der Portierloge; er liest Zeitung, frißt Brot und schlürft aus einer großen Tasse Kaffee.) (Im Zimmer über der Halle spielt ein Grammophon Südseeweisen.) K ARL (in lederner Chauffeuruniform, erscheint in der Türe im Hintergrunde; fixiert M AX ; tritt langsam auf ihn zu und beugt sich über das Pult.) Guten Morgen, Liebling. M AX Gute Nacht, Liebling. K ARL Kannst du es erraten, was ich jetzt am liebsten tun würde? M AX Nein. Und dann interessiert es mich auch nicht. K ARL Aber mich. Du hast dein Ehrenwort gebrochen. M AX Interessiert mich nicht. K ARL Du hast mich bestohlen. Du Hund.

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M AX Es interessiert mich nicht. Mein Herr. K ARL Du bist eine korrupte Kreatur. M AX Sie haben ja den Südpol entdeckt! Man gratuliert. K ARL Oh, bitte! Diese gewaltige Entdeckung ist nicht mein Verdienst, sondern ist bereits gerichtsnotorisch protokolliert! M AX Brüll nicht! (Er lauscht.) Es gibt doch auch Fehlurteile. K ARL (grinst.) Freispruch. M AX Und Justizmord. K ARL (finster) Das auch. (Schweigen) M AX Apropos korrupte Kreatur: Baronin lassen sagen, der Chauffeur solle warten. K ARL So? – Was mich das Frauenzimmer neuerdings warten läßt! M AX Was sich liebt, das läßt sich warten. Und apropos Justizmord: Ich habe einmal läuten hören, daß du damals, als du noch hübsch und knusprig warst, vor 1914, ich glaube in Portugal – K ARL (scharf) Was war in Portugal? M AX Du warst doch in Portugal? K ARL Ja. (Schweigen) K ARL Was ist mit Portugal? M AX Du warst doch auch mal Kaufmann, vor 1914 – in Portugal? K ARL Ja. Und? M AX Stimmt. K ARL Was stimmt? M AX In Portugal gibt es korrupte Charaktere, sehr korrupte – Besonders vor 1914 gab es dort außerordentlich korrupte Charaktere. Da konnte man keinen ungestraft an sein Ehrenwort erinnern. K ARL Was soll das? M AX Es ist schon mancher bestraft worden, in Portugal. So um die Ecke – bestraft. K ARL Wer? M AX Zum Beispiel: jener – (Er stockt.) K ARL Wer jener? M AX Was weiß ich! K ARL (brüllt.) Heraus damit! M AX Verzeihung! – Ich dachte, jener hätte sich nur verletzt, leicht verletzt, oberflächlich verletzt, ich dachte, du hättest jenen nur niedergeschlagen, leicht, oberflächlich niedergeschlagen, gewissermaßen k.o. – und jener hätte sich dann wieder erholt, hätte blühender ausgesehen, wie je zuvor, aber jener ist verschieden, inzwischen – so ganz von allein verschieden – K ARL (finster) Ganz von allein. Hörst du? M AX (schluckt.) Ganz von allein. Gut. Lassen wir den Spiritismus. (Im Zimmer über der Halle fällt ein Stuhl um.) K ARL , M AX (starren empor.) (Das Grammophon bricht plötzlich ab.) M ÜLLER (erscheint in der Eingangstüre; hält auf der Schwelle.) Na guten Tag! Mein Name ist Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn. Ich will mal Direktor Strasser sprechen. M AX Herr Direktor ist leider im Augenblick –

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M ÜLLER (unterbricht ihn.) Nanana! Wann kommt denn der Augenblick, in dem man bezahlt wird? Wann denkt man denn hier, die Rechnung zu begleichen? Oder wird hier geglaubt, die Schulden werden erlassen, wie? M AX Da ich hier nur Kellner bin, kann ich diese Fragen nicht beantworten. Ich kann nur sagen, daß ich den Eindruck habe, als würde es uns sehr schwerfallen zu bezahlen. Wir haben nun seit fünf Monaten nur einen einzigen Gast, eine alte Dame, die sich hierher zurückzog, um still leben zu können. (Im Zimmer über der Halle lacht EINE F RAU kreischend; das Grammophon ertönt wieder.) M ÜLLER (lauscht.) Nur ein Gast? M AX Leider. M ÜLLER (grinst.) Nur Mut, junger Mann! Nur Mut! Die Masse macht es nicht! Qualität ist Trumpf! Einer zählt für zwanzig, einer zahlt für zwanzig, wenn er eine Persönlichkeit ist! (Wieder fällt im Zimmer über der Halle ein Stuhl um; und dann hüpft jemand hin und her, daß alles erzittert.) M ÜLLER Toll! – Still leben. Und zurückgezogen. Mit wem hat sie sich denn zurückgezogen? (Er wiehert.) M AX Mit dem Kaiser von China. M ÜLLER Nanana, Kellner! – Seit wann ist unser Freund und Meister Direktor Strasser, Besitzer dieses Etablissements, Kaiser von China, Sohn des Himmels? – – Na denn auf Wiedersehen! (ab) S TRASSER (mit schiefsitzender Krawatte und zerwühlter Frisur; steigt langsam die Treppen herab; hält auf der letzten Stufe und ordnet Krawatte und Frisur.) (Das Grammophon verstummt: schläft ein.) K ARL (hatte sich gesetzt; erblickt S TRASSER .) Na endlich! S TRASSER Der Nächste. K ARL (erhebt sich und ordnet sich die Uniform.) S TRASSER Baronin dürften sogleich erscheinen. Baronin ziehen sich nur an. K ARL Haben Baronin mit Stühlen jongliert? S TRASSER Baronin tanzten. K ARL Menuett! S TRASSER Wie ein Roß. (Er erblickt M AX .) Mensch! Wie siehst du wieder aus? M AX Wie? S TRASSER Zieh dir doch den Frack an! Das will Kellner sein! M AX Erstens: will ich ja gar nicht Kellner, und zweitens: Eigentlich bin ich ja – S TRASSER (unterbricht ihn.) Laß das! Erstens zweitens drittens: Du bist Kellner! Daß du ursprünglich Plakate entworfen, Kunstgewerbler oder dergleichen Schnee warst, geht uns hier nichts an! Erwähne ich denn mein Vorleben? M AX Im eigenen Interesse? Kaum! S TRASSER Kehre ich jemals den Offizier hervor? Betone ich jemals, daß ich eine Hoffnung, ja mehr als das, eine Erfüllung der europäischen Filmindustrie war? Daß ich ein Bonvivant, einmalig! M AX Aber der Bonvivant hat Pech gehabt. S TRASSER Ich verbitte mir das! Das ist ja alles nicht wahr! Das sind gemeine Verleumdungen! Das war schon lange vorher! Der Bonvivant hat sich dieses Hotel gekauft, weil seine Augen die Jupiterlampen nicht ertragen konnten! M AX Wird gesagt.

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S TRASSER Halt dein Maul! Und Schluß! Jetzt bist du Kellner! Verstanden?! Ob du noch vor einem Jahre Autos verschoben hast – – M AX (unterbricht ihn.) Mit dir! S TRASSER Mit mir. – Ja, was soll denn das? M AX Ich meinte nur. S TRASSER Der Zeigefinger hat mir nicht gefallen, der Zeigefinger! M AX Der? – – Das war ja gar nicht der Zeigefinger, nur der kleine Finger. Der kleinste Finger. S TRASSER Jetzt hast du dir den Frack anzuziehen. Was sollen denn die Gäste denken? M AX Es kommen keine Gäste. Höchstens Vertreter. Ab und zu. S TRASSER War einer da? M AX Ja. Ein Herr Müller. S TRASSER Ich bin nicht zu sprechen. M AX Er wird wiederkommen. Pinke, Pinke! S TRASSER Zieh dir den Frack an. M AX Nein. Ich schwitze. K ARL (gehässig) Im März? M AX Gott, auch im März kann es einem heiß werden. Im August werden wir vielleicht frieren. K ARL Vielleicht! M AX Vielleicht sicher sogar. S TRASSER Also kriegen wir dann überhaupt keine Saison mehr? M AX Möglich. Die Erdachse soll sich ja verschoben haben. S TRASSER Woher weißt du denn das? M AX Ich beschäftige mich doch mit Astrologie. S TRASSER Du sollst dir den Frack anziehen. M AX (folgt zögernd; zieht sich unter allerhand Faxen langsam den Frack an und lächelt gelangweilt.) (Die Sonne verschwindet hinter einer Wolke.) M AX (schüttelt sich und schlägt rasch den Kragen hoch.) Brrr! Jetzt friert es mich. (Er tritt vor das Pult: er ist barfuß.) Ich muß mir nur noch die Schuhe holen. (ab in den Speisesaal) (Die Sonne scheint wieder.) K ARL (sieht M AX nach.) Ein geborener Verbrecher. S TRASSER Die Alte behauptet, er hätte eine reine Seele. K ARL Aber dreckige Füße. S TRASSER (geht auf und ab; lacht vor sich hin.) Die Erdachse, die Erdachse – diese Erdachse! (Er bleibt vor der Landkarte stehen.) Europa. Europa. K ARL Man müßte fort. M AX (kommt aus dem Speisesaal; er ist noch immer barfuß.) Hat vielleicht jemand meine Schuhe gesehen? – – Hat niemand meine Schuhe gesehen? – – Ich kann meine Schuhe nirgends finden – – E MANUEL F REIHERR VON S TETTEN (ein zierlicher Lebegreis mit Trauerflor, tritt rasch durch die Eingangstüre; betupft sich mit einem Spitzentaschentuch nervös die Stirne.) Bin ich hier richtig? Bin ich hier richtig? Hotel zur schönen Aussicht, wie? Ja? – – Melden Sie mich Baronin Stetten. Da! (Er übergibt seine Karte K ARL , der ihm am nächsten steht.) K ARL (reicht sie, ohne sie eines Blickes zu würdigen, S TRASSER .)

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M AX (im Hintergrund) Wer ist denn? (Stille) M AX Wer ist denn? E MANUEL Nun – wird man es noch erleben können? Bewegung, bitte! Bewegung! K ARL Sie werden es auch noch erleben. Die kommt gleich runter. E MANUEL Wer „die“? M AX Wer ist denn? E MANUEL (empört) Zustände! S TRASSER Herr Baron! M AX (entsetzt) Wa s ist der?! S TRASSER (verbeugt sich.) Im Moment! A DA F REIFRAU VON S TETTEN (ein aufgebügeltes, verdorrtes weibliches Wesen mit Torschlußpanik; steigt in einem rosa Kleidchen, Automantel und Mütze, in der Hand eine Reitgerte, feierlich die Stufen herab; erblickt E MANUEL : bleibt angewurzelt.) E MANUEL (verbeugt sich tief.) A DA Ach! – Welch charmanter Besuch. E MANUEL Ich kann es dir nachfühlen, daß dich mein unerwartetes Auftauchen seltsam berührt. A DA Das war deine Stimme. – – Ich glaubte schon, ich sähe Gespenster. E MANUEL Man darf wohl noch hoffen. (Er tritt zu ihr und küßt ihre Hand.) Zehn Minuten. Nur zehn Minuten, bitte. A DA (zu K ARL ) Herkules! Wir fahren in fünf Minuten. (Stille) E MANUEL Also fünf Minuten. – Ich bitte, dich unter vier Augen sprechen zu dürfen. Nur fünf Minuten. S TRASSER , K ARL , M AX (machen Miene sich zu entfernen.) A DA Hiergeblieben! Hiergeblieben! (Stille) E MANUEL Schwester. Ich kann es durchaus begreifen, daß du mich haßt. Aber diese Grausamkeit – Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß du die primitivsten Gesetze gesellschaftlichen Verkehrs – – A DA (unterbricht ihn.) Kritik?! (dicht vor ihm) Unterstehe dich, unterstehe dich nicht noch einmal – – Man sagt zwar, daß sich Zwillinge gut verstehen, sozusagen: lieben, aber in unserem speziellen Falle, Herr Zwillingsbruder, stimmt das nicht. Es stimmt etwas nicht. Ja ja! E MANUEL Wir sind alle verrückt! A DA Ich bin nicht verrückt. Hörst du? Ich will nicht verrückt sein! Ich denke nicht daran, dir diesen Gefallen zu erweisen! – – Du hast dich schon einmal zum Anwalt gewisser Individuen erniedrigt. Ich bin nicht verrückt – – Ich lasse mich nicht unter Kuratel – – Kusch! Gewisse Individuen wollten mich nämlich unter Kuratel – – (Sie erblickt den Trauerflor an seinem Arme; stockt; grinst und berührt ihn mit der Gerte.) Diese Familie – – Ich trage keinen Trauerflor. Keinen. Ich bin nicht stolz auf Gespenster – – War es eine fröhliche Leiche? E MANUEL Laß die Toten, wenn ich bitten darf. A DA Es gibt keine Toten. Wir Menschen haben eine unsterbliche Seele. (Sie schminkt sich die Lippen.) E MANUEL Ich weiß, daß du religiös bist.

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A DA (zuckt zusammen; fixiert ihn mißtrauisch.) Du findest ein Wort der Anerkennung, d u ? Jetzt wird man sich hüten müssen – Heraus mit der Hinterlist! Was willst du? Sprich! So sprich! (Stille) E MANUEL Es geht um ein Menschenleben. – – Du allein sollst richten, ob dieser Mensch die nächsten zwölf Stunden überleben darf, oder ob er sich Punkt fünf Uhr früh selbst guillotinieren muß. Um was ich dich bitte, ist eine solch lächerliche Geringfügigkeit, verglichen mit eines Menschen Leben, daß – – Ada, es dreht sich um ein Menschenleben. Ohne mein Verschulden hat mich das Schicksal in eine vernichtende Situation hineinmanövriert. Gestern abend wurde im Klub gespielt, wie immer. Karten. Gott, man spielt ja nicht, um zu gewinnen, aber trotzdem kann man verlieren! Ich verlor, verlor, verlor – – Das Blatt wandte sich gegen mich, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich spielte bis fünf Uhr früh, mit ganzer Kraft bemüht wiedergutzumachen, doch wen die Götter vernichten wollen, dem nützt der gute Wille nichts. Ich verlor, bis fünf Uhr früh. – – Nun bist du meine letzte Hoffnung. Du kannst mich begnadigen. Nur du. Ich bin hierhergestürzt – – Bis ich nur diese Station auf dem Fahrplan fand! – Es ist meine vorletzte Station. A DA Möglich. (Stille) A DA Wieviel hast du denn verloren? E MANUEL Siebentausend. A DA Und das kannst du nicht? E MANUEL Passé. A DA Und du, du wolltest mich unter Kuratel? E MANUEL Nicht ich! A DA Kusch! (Stille) E MANUEL Ada. Ich komme zu dir nicht nur als Mensch zum Mensch. Einst standen wir zwei ja fast, als wären wir gar nicht Schwester und Bruder – – Erinnerst du dich noch? A DA Ich will mich nicht erinnern. E MANUEL (zieht einen Revolver.) Ich habe mir meine Guillotine bereits besorgt – – A DA Auch die Kugel? E MANUEL Wie du einen quälen kannst! A DA (lacht ihn aus.) E MANUEL (steckt langsam den Revolver ein.) A DA Langen drei? E MANUEL Was drei? A DA Dreitausend. E MANUEL (entrüstet) Ich bin doch kein Hebräer! A DA Langen drei? (Stille) A DA (lächelt.) Darf man den Herrn Baron einladen, über Nacht hierzubleiben? Du könntest es ja dann telegraphisch – – Wenn ich dir die drei bewilligt haben sollte – – Strasser! Ein Zimmer! Ein Gast! Ein Gast! E MANUEL Du hast dich nicht verändert. A DA Keine Komplimente! E MANUEL Da du als Kind schon Tiere gequält hast, kann mich dein jetziges Beneh-

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men keineswegs wundern – – Doch hoffe ich, daß du mich nicht zu Tode peinigst. Ada, es geht um sieben. Drei kosten mich den Kopf. A DA Diesen Kopf! – – Strasser! Führe den Herrn Baron auf sein Zimmer! S TRASSER Sonnenseite? A DA Nur nicht Mond! Damit er nicht anfängt zu wandern! E MANUEL Ich darf wohl bitten, meine Gebrechen nicht derart vor dem Personal – – A DA (unterbricht ihn.) Unter uns! Unter uns! Wir haben keine Geheimnisse! Du erlaubst, daß ich dich deinen Verwandten vorstelle: mein Bruder Emanuel, genannt Bubi. – – Dein Schwager Direktor Strasser. – – Dein Schwager Karl, der wagemutigste Rennfahrer seit Ben Hur, fünf Kilometer in der Stunde – – K ARL Kilometer ist gut! Sehr gut! A DA (grinst.) Nicht? – – Und dein Schwager Max! M AX Angenehm! E MANUEL (erstarrt.) (Stille) A DA (schleicht zu E MANUEL und küßt ihn auf das Ohr; grinst.) Nicht weinen, Bubi, nicht weinen – E MANUEL (unterdrückt) Es ist erschütternd! A DA (lacht.) Bubi! Bubi! E MANUEL Als Mensch möchte ich jetzt tot umfallen, aber als Kavalier muß ich mich degradieren lassen. S TRASSER Darf ich bitten, Herr Baron! M ÜLLER (erscheint in der Eingangstüre.) S TRASSER Und Generaldirektor Müller, Präsident der vereinigten Kalkwerke von Paneuropa! M ÜLLER He? S TRASSER Einen Augenblick, Herr Generaldirektor! Darf ich bitten, Herr Baron! (Stille) E MANUEL (starr; lächelt sarkastisch und verbeugt sich steif.) Zu freundlich! (Er eilt die Treppen empor.) S TRASSER (folgt ihm.) M ÜLLER Halt! S TRASSER Im Augenblick, Herr Generaldirektor! (ab) M ÜLLER Was bin ich? A DA (zu K ARL ) Allons, Ben Hur! K ARL Was man alles werden kann! A DA Wie du willst, Herkules! (Es dämmert.) M ÜLLER Was bin ich? A DA (zieht sich den Mantel aus und wieder an; pudert sich die Nase, schminkt sich die Lippen.) K ARL Laß das! Los! Die Sonne ist weg – – Du bist schon schön! A DA Wird es regnen? K ARL Es wird Nacht. A DA So? Dann wollen wir nunmehr bis zur Kapelle – – Ich liebe diese Spätgotik. (zu M ÜLLER ) Bleiben Herr Generaldirektor die Nacht über? M ÜLLER (verwirrt) Was für Nacht?

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A DA Charmant! Dies Kind im Manne – Au revoir, Herr Generaldirektor! (ab mit K ARL ) M ÜLLER (sieht ihr nach; zu M AX ) Wohin reiten denn die? M AX Die reitet nicht nur, die fährt auch. Automobil. M ÜLLER Mit der Peitsche? M AX Auch das, Herr Generaldirektor. (Er blickt suchend umher.) M ÜLLER Was bin ich? M AX Generaldirektor. M ÜLLER Ich bin kein Generaldirektor! Ich bin Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn – – M AX (unterbricht ihn.) Aber bei Ihren Fähigkeiten könnten sie jederzeit Generaldirektor sein! M ÜLLER (setzt sich.) M AX Natürlich! Aber natürlich! (Stille) M ÜLLER Bei meinen Fähigkeiten? – – Natürlich! (Er schnellt empor und eilt hin und her.) M AX Wenn ich nur meine Schuhe finden könnte – – M ÜLLER Es wäre nur zu natürlich – – jederzeit! Fähigkeit, Begabung, Genie! Jederzeit! Aber, junger Mann, die Welt ist zu verlogen, sie will belogen sein! Glück müßte man haben, Glück! M AX Haben Sie nicht irgendwo, etwa, zufällig, ein Paar Schuhe gesehen? M ÜLLER (hält ruckartig.) Was für Schuhe? M AX Schwarze Schuhe. M ÜLLER Schwarze Schuhe? M AX Meine Schuhe. M ÜLLER Was gehen mich Ihre Schuhe an?! Laufen Sie nackt! Mit bloßen Sohlen! M AX Das tu ich ja! M ÜLLER So passen Sie auf, daß Sie in keinen Reißnagel treten! M AX Man dankt für Ratschläge! Helfen Sie mir lieber die Schuhe suchen! M ÜLLER Ich helfe keine Schuhe suchen! M AX Meine armen Zehen! M ÜLLER Was gehen mich Ihre Schweißfüß an! M AX Schweißfüß?! Herr, d a s sind Zehen! Gepflegte Zehen! Polierte, rosige, zarte, zerbrechliche – Das sind schon gar keine Zehen mehr, das sind Zehlein! M ÜLLER (brüllt.) Halten Sie Ihr loses Maul! Woher will er wissen, was ich für Zehlein habe?! M AX Ich? M ÜLLER Schluß! Ich möchte den Direktor Strasser! Aber sofort! S TRASSER (tritt aus dem Speisesaal rasch ein.) Herr Generaldirektor! M ÜLLER Ich bin kein Generaldirektor! Sie scheinen mich ja vergessen zu haben? M AX Wer das könnte! M ÜLLER (zu S TRASSER ) Ich will Sie erinnern. Sie werden sich schon noch erinnern! Sie sollen es nimmer vergessen! Garantiert! S TRASSER Ach, Sie sind ja der Herr Müller! Ja, richtig! Der Müller von Hergt und Sohn – Ich habe Sie jetzt verwechselt. Verzeihen Sie, daß ich Sie mit meinem Freunde Generaldirektor Müller verwechselt habe. Aber diese Ähnlichkeit! Dasselbe markante Mienenspiel!

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M AX Natürlich! Aber natürlich! M ÜLLER Finden Sie? S TRASSER Frappant! Frappant! (Stille) M AX Diese Schuhe – diese Schuhe – (bekümmert ab nach oben) S TRASSER (bietet M ÜLLER Platz an.) Bitte –M ÜLLER (wehrt ab.) Keine Konferenz! Selbst, wenn ich Generaldirektor wäre, hier wird nicht geredet, hier wird bezahlt! Es dreht sich um jene sechs Kisten Sekt. Geliefert am siebzehnten Februar. Voriges Jahr. S TRASSER Am fünfzehnten. M ÜLLER Am sechzehnten! Bezahlen Sie, bezahlen Sie! Ja oder nein? S TRASSER Nein. M ÜLLER (setzt sich und schlägt wütend die Beine über Kreuz.) S TRASSER (beugt sich über den Tisch.) Nein. (Er setzt sich.) Aber ich bin selbstverständlich bereit, Möglichkeiten zu erwägen – M ÜLLER (unterbricht ihn.) Ich lasse pfänden, Herr! Pfänden! S TRASSER Defizit. Garantiert. M ÜLLER Ich lasse alles beschlagnahmen! S TRASSER „Alles“? Ein unsolider Begriff! M ÜLLER Und dann erstatte ich Strafanzeige: wegen Betrug! S TRASSER Ach! Sie wollen sich selbst stellen? M ÜLLER Mich selbst? Was soll das? Wieso? S TRASSER Ich kenne nämlich einen Generaldirektor, einen gewissen Müller, der verkauft auch Autos, so nebenbei – – Und hat auch so nebenbei einen gewissen Strasser betrogen – „Betrogen“ ist dabei noch galant formuliert. M ÜLLER Wann soll denn das gewesen sein? S TRASSER Am dritten März. Voriges Jahr. M ÜLLER Was war das für ein Wagen? S TRASSER Ein rotbrauner – – M ÜLLER (unterbricht ihn.) Ach, der kleine! S TRASSER Klein oder nicht klein! Der Staatsanwalt kennt nur Pferdekräfte! M ÜLLER Sie wollen erpressen? S TRASSER Ich k ö n n t e erpressen, aber ich will zu anständig sein. M ÜLLER Was verdienen Sie dabei? S TRASSER Nichts. Nicht mal sechs Kisten Sekt. Ich bin so und so bankrott. (Draußen weht der Wind.) S TRASSER Der Sommer war verregnet. Zu Weihnachten blühte der Flieder. Zu Ostern fiel Schnee. Schlechter Schnee. Kein Wintersport, nur Grippe. Verseuchte Saison. Kaum ein Gast. Ich hänge hier zu sehr vom Wetter ab. (Der Regen klopft auf ein Dach.) S TRASSER Hören Sie? M ÜLLER Was? S TRASSER Wie es regnet. Pfingsten naht. Wieder verregnet. (Schweigen) M ÜLLER Ich gratuliere. Sie haben ja einen außerordentlich vorteilhaften Vertrag mit dem lieben Gott. Solange Sie Grammophon spielen, scheint die Sonne – Aber wie einer um sein Geld kommt, gibt es sogleich einen Wolkenbruch.

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S TRASSER Also abgesehen vom lieben Gott: Sehen Sie denn nicht, daß das Gras schon zur Türe hereinwächst? Die Kräuter? M ÜLLER Was für Kräuter? S TRASSER Mann, Müller! Sehen Sie doch nur diese ungeheure Verwahrlosung! Diese Einsturzgefahr! Man wagt ja kaum mehr Platz zu nehmen! M ÜLLER Nanana! (Der Stuhl unter ihm bricht zusammen: er stürzt zu Boden.) S TRASSER Es geht abwärts. (Er zündet sich eine Zigarette an.) (Schweigen) M ÜLLER (am Boden) Bankrott. Hm – – Was verdienen Sie dabei? (Er grinst.) S TRASSER S i e fallen vom Stuhl! M ÜLLER Würde Ihnen so passen! S TRASSER Sie können es sich anscheinend nicht mehr vorstellen, daß jemand w i r k l i c h zugrunde gehen kann? M ÜLLER (lacht.) Wirklich? Wirklich „wirklich“? S TRASSER So wahr Sie jetzt am Boden kauern! M ÜLLER (gekränkt) Ich kauere nicht. Kauern tut ein Tier. Ich sitze. Man ist doch immerhin noch ein Mensch – – Au! Was war das? Was ist das? – – Ich kann nicht mehr auf – Au, ich glaube, jetzt ist etwas verrenkt – Es wird doch nichts gebrochen, au! So helfen Sie mir doch! S TRASSER (geht auf und ab.) Hernach! Zuerst das Geschäftliche – – M ÜLLER (unterbricht ihn.) Hernach, hernach! S TRASSER Nein. Zuerst die Pflicht! Also: Ich kann nicht bezahlen – M ÜLLER (unterbricht ihn.) Ich kann nicht aufstehen! S TRASSER Ich kann nicht bezahlen. M ÜLLER Betrug! Betrug! Eine alte Ziege finanziert den Zirkus! Diese sinnliche Aristokratin! Ist ja bekannt, bekannt, stadtbekannt! S TRASSER Ich halte nichts vom Geschwätz der Leute! M ÜLLER Herr, ich bin verunglückt! S TRASSER Ich kann Ihnen lediglich versichern, daß, sobald es mir meine Lage gestatten wird, das heißt: bei günstiger Witterung, ich meine Schulden anfangen werde zu begleichen. Ratenweise, natürlich! Sonst müßte man sich ja sogleich aufhängen! M ÜLLER Wollen sie mich hier liegenlassen wie einen überfahrenen Hund, ja?! Hilfe! Hilfe! Hilfe!! S TRASSER (stürzt sich auf ihn und hält ihm den Mund zu; brüllt.) Ruhe! Ruhe! Ruhe!! (Stille) S TRASSER (stützt ihn empor.) Sammlung, Herr Müller! Sammlung! Solch ein ausgewachsenes Exemplar, und so brüllen – – Wie kann man nur – – wegen einer lumpigen Ratenzahlung! M ÜLLER (weinerlich) Au – meine Existenz – – Strasser, ich habe das Gefühl, ich bin entzwei – Ob ich mir etwas gebrochen habe? – Sie können das gar nicht beurteilen, diese Ratenzahlung in Verbindung mit der Witterung – – meine Existenz – – Nein, nein! Ich bin kein Hypochonder – – Und betrogen habe ich Sie auch nicht, das mit dem Auto, dem kleinen – – Mit demselben Rechte könnte man ja sagen, ein jedes Geschäft – – Wenn ich mir nur nichts gebrochen habe – – S TRASSER (sanft) Herr Müller. Ich werde Sie nun nach dem Speisesaal bringen – – Sie werden mir Recht geben: Sobald man etwas im Magen hat, fühlt man sich erleichtert.

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M AX (tritt in schwarzen Schuhen aus dem Speisesaal; läßt die Türe offen und verbeugt sich tief mit einer Serviette über dem Arm.) M ÜLLER Und die Nacht über muß ich nun auch hier – Heut kann ich unmöglich weiter, so hinkend. S TRASSER (führt ihn in den Speisesaal.) Ich habe ja auch Zimmer – – M ÜLLER (seufzt.) Nur kein Geld! Aber Sie haben ein goldenes Herz, Sie Schwein – – (ab) M AX (allein) Ich bin nur froh, daß ich endlich meine Schuhe wiederhabe. Man ist ja sogleich ein anderer Mensch. C HRISTINE (einfach dunkel gekleidet; erscheint in der Eingangstüre.) M AX (formell) Sie wünschen? C HRISTINE Ich wollte nur fragen, ob ich Herrn Strasser sprechen könnte. S TRASSER (tritt aus dem Speisesaal.) M AX (leise) Es ist ein Frauenzimmer hier, das dich sprechen will. S TRASSER (ebenso) Mich? Wie sieht es denn aus? M AX Geschmacksache. S TRASSER (grinst.) Dünn? Dick? Lang? Kurz? Stämmig? M AX Ich weiß nicht, was du darunter verstehst. S TRASSER So laß mal sehen! M AX (knipst das Licht an.) S TRASSER (erblickt C HRISTINE , fährt zusammen, will schleunigst ab.) C HRISTINE Strasser! S TRASSER (tut, als erblickte er sie erst jetzt.) Christine! – – Du? Kolossal! Ich hab dich jetzt gar nicht gesehen, auf Ehrenwort! C HRISTINE Lüg nicht. (Stille) S TRASSER (zu M AX ) Was lungern Sie hier herum, Kellner, als gäbe es nichts zu tun! Der Herr Generaldirektor wollen ja soupieren! Daß mir keine Klagen kommen! M AX (ab in den Speisesaal) Hoi! Hoi! (Stille) S TRASSER Christine. Dein plötzliches Erscheinen wirft die ganze Exposition über den Haufen – – C HRISTINE Warum hast du meine Briefe nicht beantwortet? S TRASSER Was für Briefe? C HRISTINE Alle können nicht verlorengegangen sein. S TRASSER Doch! Doch! Die Post ist derart unzuverlässig – – C HRISTINE (unterbricht ihn.) Lüg nicht. (Stille) C HRISTINE (betrachtet S TRASSER ; sieht sich scheu um; eilt plötzlich auf ihn zu, ängstlich lächelnd, schlingt ihre Arme um seinen Hals und küßt ihn.) Nein, nein! Das ist ja alles nicht wahr – – alles nicht wahr, still! Wir reden ja nur aneinander vorbei. Verzeihe mir. Bitte, verzeihe, daß ich soeben sagte, du lügst – – Aber ich bin so ängstlich geworden, ich weiß doch, daß du nicht lügst, nie lügst, daß du nie die Unwahrheit sagst – – S TRASSER Einmal habe ich einen Brief erhalten – – C HRISTINE (küßt ihn rasch auf den Mund.) Nein nein nein – – Ich weiß ja, daß die Briefe verlorengegangen, alle Briefe, und dann habe ich sie auch vielleicht gar nicht abgesandt – – Es ist ja, als hätte ich sie gar nicht geschrieben, und die Post

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ist derart unzuverlässig – – Warum, warum gibst du mir denn keinen, keinen Kuß? S TRASSER (küßt sie.) (Stille) C HRISTINE Ich habe dir geschrieben, daß mein zweiwöchentlicher Sommeraufenthalt, voriges Jahr, hier, nicht ohne Folgen für mich – – für uns – – S TRASSER Du willst doch nicht sagen – C HRISTINE (unterbricht ihn.) Ja. (Stille) C HRISTINE Ja. (Sturm) C HRISTINE Es war eine harte Zeit. Ich wurde abgebaut, und wenn der liebe Gott mir nicht geholfen hätte, wäre ich untergegangen – – Ich weiß, du wärest zu mir geeilt, wenn du es auch nur geahnt hättest. Ich gehöre zu dir. Hier ist meine Heimat, in der Stadt friere ich nur. Ich werde dir die Wirtschaft führen – – Ich habe es dir gesagt, wie ich dich liebe, alles, deinen Körper, es wird mir immer kalt und heiß – – E MANUEL (kommt lautlos die Treppen herab.) S TRASSER (hört ihn trotzdem, stößt C HRISTINE von sich.) E MANUEL Pardon! – Pardon! Sind Baronin schon wieder zurück? S TRASSER Nein. E MANUEL Noch nicht zurück? Bei diesem Wolkenbruch? Das ist ein Orkan! Man wird die Behörde verständigen müssen, es wird doch nichts geschehen – Wo, wo läßt sich hier telefonieren? S TRASSER (deutet auf das Pult.) Dort. Aber ob die Behörde Sie beruhigt, ist fraglich. Neulich hat sich ein Auto überschlagen, doch die Behörde – – E MANUEL (unterbricht ihn.) Wie können Sie so reden?! Um Gottes Christi willen! (Er eilt an das Telefon.) (Orkan) C HRISTINE (leise) Was ist das für Baronin? S TRASSER Ach! (Schweigen) C HRISTINE Ich habe gehört, daß hier eine Baronin wohnt – (Sie stockt.) S TRASSER So? C HRISTINE Du, der liebe Gott hat geholfen. Der liebe Gott – – Ich habe nämlich – (Sie stockt wieder.) S TRASSER Was? C HRISTINE Später. Später. S TRASSER Was verstehst du unter „lieber Gott“? C HRISTINE Strasser. Gib mir dasselbe Zimmer – – S TRASSER Welches war denn nur das? C HRISTINE Du weißt es doch – – Nummer elf. S TRASSER Elf ist leider besetzt. Aber selbst, wenn es noch frei wäre, würdest du es wahrscheinlich nicht wiedererkennen, da wir es anders eingerichtet haben. C HRISTINE Schöner? S TRASSER Vorteilhafter. C HRISTINE (ergreift seine Hand.) Gib mir irgendein Zimmer – – Komm! (Sie steigt mit S TRASSER die Treppen empor.)

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E MANUEL (allein; am Telefon) Keine Verbindung. Grotesk! Grotesk! (Er hängt ein; geht nervös hin und her.) Dieser Orkan! Es wird doch nichts geschehen sein – Jedes Auto überschlägt sich ja nicht, man sollte es nicht für möglich halten – – M AX (kommt aus dem Speisesaal.) E MANUEL Ober! Wieso kann es möglich sein, daß man keine Verbindung bekommt? Ach, ich meine: am Telefon. M AX Weil das Telefon verdorben ist. E MANUEL So gehört es repariert. M AX Gott, das ist schon seit Wochen in Unordnung – – (Er sieht sich suchend um.) Sagen Sie: Haben Sie nicht irgendwo eine Speisekarte gesehen? E MANUEL Ich?! M AX Der Herr Generaldirektor wollen nämlich frühstücken. E MANUEL Zustände! K ARL (tritt ohne Gruß ein; sieht sich verstört um; lallt.) Den Strasser brauche ich, den Strasser – – Wo kann ich einen Strasser haben? Aber nicht zu teuer – – Ein Stück Strasser brauche ich – – E MANUEL , M AX (starren ihn entgeistert an.) K ARL (plärrt plötzlich los.) Ja, heiliges Dromedar, hat euch denn alle der Schlag gerührt, ihr Bolschewisten! E MANUEL (knickt in den Knien ein.) Bolschewist?! K ARL (zu M AX ) Du Mandrill! Wo steckt der Strasser, wo?! M AX Herr Gorilla, es ist mir leider nicht bekannt, wo die hochwohllöbliche Direktion sich derzeit herumtreiben. K ARL Da muß sie her! Die muß her! Her muß sie! Daher! Hierher! Daher, hopp! (Er rülpst.) M AX Ach, du bist wieder betrunken? K ARL Ha? E MANUEL (zittert.) Empörend! M AX (zu K ARL ) Du bist verstört. K ARL Nichts ist unmöglich. (Er rülpst und wankt.) E MANUEL Empörend! Also das ist empörend! Ein berauschter Lenker im Orkan! Zuchthaus! Jawohl: Zuchthaus! – Jetzt wage ich nicht mehr konsequent zu denken – – M AX Wenn ich nur wüßte, wo die Speisekarte – K ARL Baronin liegen in der Karosse und betonen, nicht aussteigen zu können, bis der Strasser kommt. Sie bilden sich nämlich ein, daß die Direktion sie auf den Händen herauftragen müßte. E MANUEL Was bedeutet das? K ARL Wir sind umgekippt. E MANUEL Um Gottes Christi willen! Mein Kopf! – Chauffeur! Ist sie verletzt?! Leicht? Schwer? K ARL Baronin sind besoffen. – – Oder habt ihr euch etwa eingebildet, wir fahren im Orkan zur Scheißkapelle?! M AX (zu E MANUEL ) Wie kann man auch nur! K ARL Wir haben nur unsere Gaumen benetzt, den Schlund, die Schlünde – – im roten Aar, im bleichen Bock, weiß der Satan wo! Aber die verträgt ja nichts, deine Schwester ist, was Alkohol anbelangt, eine Fehlgeburt! Nach dem vierten Glase

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hat sie schon gesungen, und dann hat sie die Kotflügel vollgespien – – Du, die kann singen! (Aus der Ferne tönt A DAS Stimme, falsch und kreischend: ein sentimentaler Gassenhauer) E MANUEL (hält die Hand vor die Augen.) M AX (hält sich die Ohren zu.) K ARL (krümmt sich.) (A DA verstummt plötzlich.) D IE DREI (lauschen.) M AX (leise) Sie kommt – – K ARL Quatsch! M AX Pst! (Schweigen) K ARL Vorgestern ist sie auch nicht gekommen. M AX Heute kommt sie. Oder gibt es da etwa ein Gesetz? Wetten? K ARL Mit dir? (Er spuckt aus.) M AX Wer wettet mit mir? M ÜLLERS S TIMME (aus dem Speisesaal) Ober! Ober! M AX (zuckt zusammen.) Dieser Beruf! (ab in den Speisesaal) A DA (erscheint in der Eingangstüre, abgespannt; hustet heiser.) E MANUEL (zog sich in eine finstere Ecke zurück.) (Es ist still geworden.) A DA (hängt sich an K ARL , der leicht torkelt.) Herkules, Herkules – – Es geht mir so miserabel, mein Leib – – So hilf mir doch! Ich huste ja meine Seele hinaus – Sag: Liebst du mich? K ARL (rülpst.) Ja. A DA Aber nicht nur meinen Leib, meine Reize – auch meine Seele, nicht? K ARL Auch deine Seele. (Irgendwo singt eine blonde Geige Schmachtfetzen.) A DA Ist das schön, du – – du starker, großer, du Siegfried! Und dann regnet es auch nicht mehr, die Sterne stehen am Himmel – – Wenn ich nur nicht so durstig wäre! Durst! Durst! Ist das die Sehnsucht? K ARL Nein, das ist Durst. (Die blonde Geige hat ausgesungen.) A DA (reißt sich los von K ARL .) Pfui! Jetzt war ich wieder sentimental, was? K ARL Das ist die Liebe, Gretchen. A DA Ich schäme mich. Ich schäme mich! Nein! Das muß ich vergessen! Komm! Ich habe Durst! K ARL Es lebe die Sehnsucht!

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Vo r h a n g .

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Z W E I T E R A K T.

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Speisesaal im Hotel zur schönen Aussicht. Zwei Tische im Vordergrunde sind gedeckt: einer weiß, einer bunt. Auf den übrigen Tischen stehen Stühle mit den Beinen himmelwärts. M ÜLLER (sitzt an dem weißgedeckten Tische und hält die Hände vor das Gesicht; ruft.) Ober! Ober! M AX (kommt rasch; erblickt auf dem bunt gedeckten Tische die Karte.) Ach, da liegt ja die Speisekarte! Seltsam! Was man alles sucht! (Er breitet sie geschäftig vor M ÜLLER aus.) M ÜLLER (blickt mechanisch in das Blatt.) (Stille) M ÜLLER Sagen Sie –: Haben Sie Krücken? M AX Krücken? M ÜLLER Kennen Sie keine Krücken? – Richtige Krücken, solche – (Er macht eine Geste des Humpelns.) Au! Ich habe mir nämlich das Bein gebrochen. Das Schienbein. Das Knie. Den Knöchel. Die Knöchel. – Und nun kann ich nicht laufen. M AX Sie wollen mit Krücken laufen? Interessant! M ÜLLER Wieso? M AX Sie werden auch mit Krücken nicht mehr laufen. M ÜLLER Tatsächlich? M AX Na selbstverständlich! (Stille) M ÜLLER Haben Sie auch keinen Rollstuhl? M AX Rollstuhl? Nein. Aber Krücken haben wir. M ÜLLER Krücken?! M AX Ja, solche richtige – (Er macht M ÜLLERS Geste des Humpelns.) M ÜLLER (braust auf.) Sie haben doch soeben gesagt – M AX (unterbricht ihn.) Ich habe gesagt, daß Krücken Ihnen nichts nützen dürften, aber ich habe nicht gesagt, daß wir keine haben. Wir haben Krücken. – Da war einmal ein Herr hier zur Erholung, der ging auf Krücken und trug ein eisernes Korsett. Der war seinerzeit im Weltkrieg ziemlich verwundet worden, an der Nordfront – M ÜLLER Unsinn! Es gab doch gar keine Nordfront! Junger Mann, Sie beherrschen ja die vaterländische Geschichte famos! M AX Gott, damals war ich noch keinen Meter hoch, und was ich in der Schule gelernt habe, das hab ich sofort vergessen – Kurzum: Als jener von uns ging, brauchte jener die Krücken nicht mehr. Er hat sich nämlich ersäuft, in dem Weiher, dort drüben, weil er unheilbar war. Seine Krücken hat er uns vermacht, weil er sagte, er sei noch nirgends in seinem Leben so friedlich gesessen wie unter unserer Tanne. Romantisch, was? Aber es muß auch solche Käuze geben – Und wir haben seine Krücken auf den Speicher gestellt, aus Pietät, sozusagen: als Erinnerung an große Zeiten. M ÜLLER Das waren sie! Bei Gott! Ein Volk in Waffen! Ihr jungen Hunde müßtet mal ordentlich gedrillt werden – Das tut not! M AX An welcher Front standen Sie? M ÜLLER Fragen Sie nicht so unverschämt, ja?! Ich verbitte mir das!

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(Stille) M AX Soll ich nun die Krücken bringen? M ÜLLER (hat sich wütend in die Speisekarte vertieft.) Bringen Sie mir Schweinebraten mit Röstkartoffel. Und Gurkensalat. Marsch, marsch! M AX Wir haben keine Kartoffel. M ÜLLER Keine Kartoffel? M AX Wir haben auch keinen Gurkensalat. M ÜLLER Skandal! Dann bringen Sie Rotkohl! M AX Wir haben aber auch keinen Schweinebraten. M ÜLLER (schlägt auf den Tisch.) Das ist zuviel! M AX Zu wenig. M ÜLLER (schnellt empor und läuft schäumend hin und her.) Zuviel! Viel zuviel! Keine Kartoffel, keine Gurke, kein Schwein! M AX Herr Müller! M ÜLLER Kein Schwein! Was haben Sie denn?! M AX Sie laufen ja! M ÜLLER (immer hin und her) Das geht Sie nichts an, Sie! Ich frage: Was bekommt hier der, der Hunger hat? Zeigen Sie mir keine Speisekarten – M AX Nur Formsache! M ÜLLER – Geben Sie mir etwas zum Fressen! Was haben Sie, was haben Sie?! Die Wahrheit! M AX Ich muß erst nachsehen. A DA UND K ARL (erscheinen.) A DA Ha, der Herr Generaldirektor! M ÜLLER Irrtum, Baronin! Ich bin kein Generaldirektor. A DA (lächelt.) Inkognito? (Sie setzt sich an den bunt gedeckten Tisch.) M ÜLLER (setzt sich auf seinen Platz.) Mein Name ist Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn, Weingroßhandlung, kurherzogliche Hoflieferanten, gegründet 1678 – A DA (unterbricht ihn.) Charmant! Sie werden mir immer charmanter – Das haben Sie sich ja charmant ausgeklügelt, und ich will Ihren Willen tun – Hören Sie, großes, dickes Kind: Ihren Willen tun, aber Sie dürfen ihn nicht falsch auffassen – Wir wollen auf unseren Willen trinken! Los! Mit Sekt! Mit dem Willen versetzt man bekanntlich Berge, wenn es sein muß. Ich hätte ja ursprünglich ein Mann werden sollen, ich wäre ein Cäsar geworden, ein Nero – Quo vadis, Herr Generaldirektor? Glotz nicht! Sekt! Sekt! Aber keinen von Hergt und Sohn! Faule Firma! M AX (zu M ÜLLER ) Ganz meine Meinung! A DA Daß man hier nichts anderes ausschenkt als Jauche in Pullen! M AX (stellt Gläser auf den Tisch.) Darum trinken ja auch Herr Generalgeschäftsreisender meistens Wasser. A DA Aber was kann man denn machen, wenn man anstoßen will?! So trinken wir eben mit Jauche auf unsere Ideale! K ARL (hatte sich neben A DA gehockt.) Pupille! Pupille! M AX (entkorkt eine Flasche mit Krach.) A DA Salut! Und zusammen die Tische! Zusammen! (Es geschieht.) Ich lade ein! Ihr seid bei mir zu Gast, Herr Generaldirektor! Nach unserem Geschmack! (Sie schnellt empor.) Still! (Sie starrt in sogenannte Fernen; lallt.) – Ist das die Sehn-

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sucht? Still! Jetzt zieht ein Choral durch meine Seele – Wenn ich die Wörter nur verstehen würde, diese Silben aus einem anderen Reich, so könnten wir singen – K ARL Nur nicht singen! M ÜLLER Schwätzt die immer so viel, wenn sie besoffen ist? K ARL (zu M ÜLLER ) Sauf! Auf daß du Generaldirektor wirst! M AX (hatte Flaschen auf den Tisch gestellt und sich gesetzt.) Ihr habt auch schon gar keinen Sinn für Poesie. K ARL Ich verblöde nie! A DA Sphärenmusik – M ÜLLER (nippt an seinem Glase.) Ich finde den Sekt recht ordentlich. Oder? M AX Oder. K ARL (sauft aus der Flasche.) Außerordentlich! M ÜLLER Außerordentlich! (Er leert sein Glas.) K ARL Wenn man dabei nur nicht hungern müßte! M ÜLLER Ditto! M AX Schwalbennester wären noch da. M ÜLLER (höhnisch) Sonst nichts? M AX Und Krücken. M ÜLLER (stiert ihn an; leert hastig sein Glas.) E MANUEL (erscheint.) A DA (erblickt ihn.) Heiliger Himmel, du lebst ja auch noch! Was die Medizin vermag! Dieser Kopf! Wie er zittert, wie der zittert! Halt! Halt! Daß du ihn nur nicht verlierst! Die Würfel sind gefallen, aber das Resultat wird erst eine Sekunde vor Schluß verkündet – Sonst ginge ja die Spannung flöten, und ich hasse die Langeweile – Eine Sensation muß das werden! Eine Sensation! M ÜLLER (lacht.) Jetzt hab ich das Wort! Sie sind ein Original, Baronin! A DA Nicht? – Nimm Platz! Darf man bitten, Sensation! Ohne Vorwort, und keine Kritik! E MANUEL (nähert sich widerwillig.) M ÜLLER (schnellt empor und schlägt die Hacken zusammen.) Müller! E MANUEL (steif; murmelt; setzt sich an die weißgedeckte Seite.) K ARL Emanuel Freiherr von Stetten, genannt Bubi – Grün ist die Hoffnung, Schwager! Ex! E MANUEL (schnellt empor; eilt an die Rampe; faßt sich an das Herz.) A DA Was hat er denn? Was ist ihm denn schon wieder? K ARL Der Idiot. A DA (schleicht zu E MANUEL .) M ÜLLER (zu K ARL ) Diese Beleidigung! M AX Ex! (Saufen) A DA (zu E MANUEL ) Daß du parierst! Daß du parierst! E MANUEL Kreuzige mich! Aber verlange nicht von mir, daß ich mit Kellner und Chauffeur an einem Tische trinke! A DA Das ist kein Kellner! Das ist kein Chauffeur! Das sind standesgemäße Personen! Die scheinen nur zum niederen Volke zu gehören, weil sie Unglück hatten. Das sind keine Arbeiter, keine Handwerker und so – Der eine ist Ästhet, der andere war Plantagenbesitzer in Portugal, der dritte Star und Offizier! Die zählen nicht zum Volke, zur Masse, zum Plebs! Die gehören in die Salons! – Pech kann ein je-

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der von uns haben. Auch du. Bedenke! Darum habe Mitleid mit den Enterbten. Emanuel, ich appelliere an dein Standesbewußtsein, an Ritterlichkeit und Christentum! E MANUEL (verbeugt sich ergriffen und küßt ihre Hand; eilt an den Tisch und erhebt sein Glas.) Auf das Wohl, die Herren! (Er leert sein Glas und schleudert es in den finsteren Hintergrund: es zerbricht klirrend.) A DA Bravo! Bravo! (Sie will rasch an den Tisch, bekommt einen Magenkrampf, hält angewurzelt und krümmt sich.) K ARL (zu A DA ) Plärr nicht! Sauf! M ÜLLER Ich komme nach, komme nach, Herr Baron! M AX (zu M ÜLLER ) Es scheint Ihr Schicksal zu sein, alles zu versäumen? A DA (stöhnt.) Mein Leib, mein Leib – K ARL (zu A DA ) Hinaus! M ÜLLER (zu E MANUEL ) Mein Bruder, Herr Baron, war der einzige Bürgerliche im Offizierskorps seines Regiments. Wäre nämlich ich der Älteste von uns Drillingen, wäre heute ich der Rittmeister! Selbstredend a.D., Herr Baron! Man kann doch nicht dem Volke, wenn man im bunten Rock des Königs schwor – K ARL Schwör nicht! Sauf! Du Drilling! M ÜLLER Drillinge können auch saufen, Sie! A DA (stöhnt; faßt sich plötzlich an den Kopf.) Jetzt hab ich den Strasser vergessen! E MANUEL (zu M ÜLLER ) Ich bezweifle in keiner Weise, daß Sie nicht Talent zum bunten Rock hätten. M ÜLLER Darf ich auf Ihr ganz Spezielles? E MANUEL Danke. Ich allerdings war zwar nur Fähnrich, schon aus Tradition, aber heute bin ich Pazifist. Die Geschichte meiner Bekehrung ist pittoresk: Es sprach nämlich unlängst eine entzückende Person für den Pazifismus – Ich habe noch nie solch durchgeistigte Hände gesehen. M ÜLLER Herr Baron! Ich hasse den Militarismus! Mit meinem Bruder, dem Rittmeister, habe ich mich noch nie verstanden, obwohl wir doch Drillinge – K ARL (unterbricht ihn.) Schluß mit der Viehzucht! E MANUEL (zu K ARL ) Sie sind freilich verbittert; aber die Weltpolitik, gewissermaßen die kosmischen Zusammenhänge – A DA (schreit.) Wo ist der Strasser? Der Strasser! Dieser Strasser – (Sie läuft erregt hin und her.) Es kann ihn doch nicht die Erde verschlungen haben! Hat denn niemand den Strasser gesehen? E MANUEL (hatte sich mit dem Rücken zu A DA gesetzt.) Doch. Ich. A DA So sprich doch, ja?! E MANUEL Nein. (Der Sekt steigt ihm allmählich zu Kopf.) Es gibt nämlich Personen, die durch Bacchus zum Helden avancieren, aber ich bleibe Diplomat. Vorsicht soll nämlich die Mutter der Weisheit sein. Jener Weisheit, die schweigt. (Er trommelt mit den Fingern fröhlich auf der Tischplatte.) Ich traue mich nicht, ich traue mich nicht! Aber ich will es den Herren hier erzählen. Wollen sehen, wer der Mutigste ist! K ARL Ich! E MANUEL (flüstert.) A DA Was soll das Getuschel?! Keine Geheimnisse! Unter uns! K ARL (imitiert einen Posaunenstoß.) Der Strasser ist mit einer hübschen Blondine nach hinauf.

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A DA (erstarrt.) E MANUEL (kichert.) Mein Schwager Strasser hat besagte Blondine im Treppenhaus umarmt. Und geküßt. K ARL Daß es knallte! E MANUEL Vor ungefähr einer Stunde. M AX Und seit dieser Stund wurd er nimmer gesehen. (Stille) A DA Ist, das, wahr? M ÜLLER (schadenfroh) Na Pupille! Pupille! (Saufen) A DA (hysterisch) Der Strasser, der Strasser – dieser Strasser, dieser Strasser! – Strasser! Strasser! Strasser!! S TRASSER (erscheint.) A DA (stürzt sich zischend auf ihn und gibt ihm eine klatschende Ohrfeige; lacht.) Hat es geknallt? Hat es geknallt?! S TRASSER (unbeweglich) Geknallt oder nicht geknallt. Es wird einem allmählich alles egal. A DA Dir! Aber mir nicht! Weder allmählich noch plötzlich! Nie! Kusch! Du bist mein Eigentum, du! Ich habe dich gekauft, und ich kaufe dich jeden Tag! Ich bezahle! M ÜLLER Hört! Hört! A DA Ich bezahle. – Kannst du mich denn betrügen, wenn ich nicht will? – Wirf diese Person hinaus! Sofort! Oder ist das keine Hure? S TRASSER Ja. Das ist eine Hure. Und ich hätte sie sogleich hinauswerfen sollen, aber ich habe ein goldenes Herz. Nicht wahr, Herr Müller? (Er tritt an den Tisch, leert hastig ein Glas, setzt sich und vergräbt das Antlitz in den Händen.) Ich bitte um Hilfe. Ich kann nicht mehr denken vor lauter Pech. A LLE (setzen sich um den Tisch.) (Stille) A DA (lächelt.) Ja, was hat er denn? Was hat er denn? S TRASSER (sieht sie groß an.) Ada. Die Treue ist kein leerer Wahn. Ich pflichte dir begeistert bei, wenn du auf Hygiene den größten Wert legst. Seit wir uns kennen, seit diesen herrlichen drei Monaten, blieb ich dir treu. A DA (grinst.) Das kann man nicht kaufen! S TRASSER Aber was vor ungefähr einem Jahre, was vorher war – A DA (unterbricht ihn.) Geht mich nichts an! Vor uns die Sündflut! S TRASSER Ich danke dir, daß du meiner Meinung bist. A DA Du bist m e i n e r Meinung! Verstanden? Ihr habt alle meiner Meinung zu sein! M ÜLLER Zu Befehl! K ARL Es gibt nur e i n e Meinung! E MANUEL Ich sehe alles doppelt – S TRASSER (erhebt sich.) Ich bitte um Hilfe. (Er zieht aus seiner Tasche einen Bund bunter Briefe.) Erinnert ihr euch? Rosarot und himmelblau. Und bis vor fünf Wochen jeden dritten Tag vier Seiten. K ARL Was sind das für Seiten? S TRASSER Ihr habt sie doch alle gelesen! (Er setzt sich wieder und streicht sich über die Schläfen.) (Stille)

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M AX Richtig! Rosarot und himmelblau! Der Kitsch! A DA Den hab ich jetzt schon vergessen – S TRASSER Ich auch. Fast. Aber plötzlich erschien die Verfasserin. K ARL Krach. M AX Bumbum. (Stille) A DA Ist das die? S TRASSER Ja. M AX Man gratuliert. K ARL Papa! Papa! A DA Das ist d i e ? (Sie wiehert.) Charmant! Charmant! Das ist ja eine charmante Episode! Armer Strasser, armer! Kannst du mir die Ohrfeige verzeihen, kannst du ungeschehen machen – Nein, das kannst du nicht, aber einen Kuß will ich jetzt haben – oah! S TRASSER (gibt ihr einen Kuß.) M ÜLLER Soviel ein Nichteingeweihter aus all dem entnehmen kann, dreht es sich um eine Alimentationsangelegenheit. E MANUEL Wie war das Wort? K ARL Erraten! M AX Welch Scharfsinn! A DA (zu S TRASSER ) Und? Und? Und? S TRASSER Ich habe es ihr gesagt, das heißt: Ich gab es ihr zu verstehen, daß ich nichts mehr mit ihr zu tun haben will, aber sie wollte es nicht verstehen, daß wir uns entfremdet sind. Sie hat tremoliert und gelogen. Unglaublich gelogen! Sie hat zum Beispiel behauptet, ich hätte keinen Brief erhalten! M AX Unglaublich! S TRASSER Sie will den Mann: Das bin ich. Sie will ein Heim: Das ist dies Hotel. Sie will Frau Hotelbesitzer werden, so läuft der Hase! Heilige Dreifaltigkeit! Weib, Kind und Pleite! M ÜLLER Ich dachte, Baronin bezahlen – A DA (unterbricht ihn.) Sie Schalk! Ich finanziere nicht Familien. M ÜLLER Also scheint es eine gefährliche Erpresserin zu sein! M AX Wer? A DA (zu M ÜLLER ) Ist sie auch! Ist sie auch! Na klar! Da hätten Herr Generaldirektor nur mal diese Briefe hier – diese sentimentale Verschlagenheit! M AX (erhebt sich.) Pst! (Er liest lispelnd aus einem der Briefe.) „Mein Innigstgeliebter! Mein Alles! Du kamst diese Nacht im Traum –“ E MANUEL (melancholisch; er hat auch etwas Magenschmerzen.) Das Leben ein Traum – K ARL (zu E MANUEL ) Sie sollten mal austreten. M AX (liest.) „– diese Nacht im Traum zu mir und hast Dich über mich gebeugt. Das Kleine schläft gerade, nun kann ich Dir schreiben. Warum schreibst Du mir nicht? Ich fühle mich noch schwach. Täglich, stündlich lechze ich nach Nachricht von Dir. Ich liebe Dich doch, laß mich nicht versinken, reich mir Deinen starken Arm, hilf mir, bitte –“ A LLE (außer S TRASSER, schütteln sich vor Lachen.) M AX (liest weiter.) „– Und ich habe Sehnsucht nach Dir, nach einem Heime!“ M ÜLLER Aha!

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A DA Das Hotel! S TRASSER Zur schönen Aussicht! E MANUEL Pardon! Knabe oder Mädchen? K ARL Zwitter. M ÜLLER Wo haben Sie nur diese unmögliche Person aufgegabelt? S TRASSER Das Schicksal ließ mich ihren Weg kreuzen. M AX Wie hochdeutsch! S TRASSER Sie blieb vierzehn Tage. Zur Erholung. Im Mai. Ich glaube: Stenotypistin. Oder etwas in einem Warenhaus. M ÜLLER Schon faul! S TRASSER Ich war auf die Saison angewiesen. M ÜLLER 80 % der Frauen sind unterleibskrank. Und erst die gewöhnlichen Mädel, so aus den ärmeren Schichten – Sie verstehen mich, Baron? A LLE (außer A DA , lachen brüllend.) A DA Ist Syphilis eigentlich heilbar? (Stille) K ARL (grinst.) Na Prosit! M AX Gesundheit! M ÜLLER Berufstätige Frauen unterhöhlen das bürgerliche Familienleben. E MANUEL Die Moral! S TRASSER Man handelt oft unüberlegt. M ÜLLER Ich leere mein Glas auf die gute alte Zeit! (Saufen) E MANUEL Nach Ladenschluß holte man sich einen netten, süßen Käfer – und diese Walzer aus Wien! M ÜLLER Der Kaiserstadt! E MANUEL Für ein warmes Abendessen war alles zu haben! Hernach lüftete man das Barett: Mein Liebchen, adieu! Allez! Marchez! Gallopez! M ÜLLER Und damals waren sie noch dankbar dafür, dankbar! Heute aber: nur nicht arbeiten, aber soziale Einrichtungen! Frech und faul! Lauter Gewerkschaftler! Ehrlichkeit und Pflichtgefühl haben unser Vaterland verlassen! Heute e r h o l e n sie sich! Skandal! E MANUEL Jeder Prolet möchte sich schon erholen! M ÜLLER Müßiggang ist aller Laster Anfang! Ordnung fehlt! Und Zucht! Und der starke Mann! – Seinerzeit, da haben es auch die Weiber am tollsten getrieben! Aber ich gab kein Pardon! Ich nicht! Hoho, ich habe selbst drei dieser Furien niedergeschossen! M AX Im Kriege? M ÜLLER Nach dem Kriege! M AX Ich dachte, hier säße ein Pazifist. E MANUEL Für den äußeren Feind! M ÜLLER (zu M AX ) Sie kommen mir sonderbar vor, junger Mann! S TRASSER Zur Sache! Ich habe einen inneren Feind! M ÜLLER Legt an! Feuer! S TRASSER Rührt euch! Was soll ich tun? (Stille) E MANUEL Wenn ich raten soll, so muß ich erzählen, wie es bei uns Sitte war. Wir haben seinerzeit auf der Universität zwei Kommilitonen vor dem Alimentezahlen

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gerettet. Den Grafen Hochschlegel und den Baron Krottenkopf, bleibt natürlich unter uns – Der Hochschlegel Franzi ist verwandt mit dem Kohlenmagnaten, und der Krottenkopf ist der bekannteste Rennstall, Sie spielen ja auch, kurzum: Die hatten je eine Liaison mit Folgen, und da haben wir sie gerettet, indem wir klipp und klar behaupteten, wir hätten auch etwas mit den Mädels gehabt. Sie verstehen mich? Etwas stimmt ja immer. Das Leben ist zu eintönig, um nicht zu sagen: langweilig – M AX (unterbricht ihn.) Sie, das ist Meineid! K ARL Quatsch! E MANUEL Ach, es kam ja gar nicht vor Gericht! Wir haben sie schon derart eingeschüchtert. Der einen haben wir mit der Kontrolle gedroht! M ÜLLER Da hat sie aber zum Rückzug geblasen! Fluchtartig, was? E MANUEL Na! Davor haben diese kleinen Mäuschen nämlich Höllenangst. – Später hörte ich, daß die andere ihr Kind umgebracht hätte – A DA (unterbricht ihn.) Nur nicht unappetitlich werden! E MANUEL Du hast eine rege Phantasie. M ÜLLER Man könnte doch ruhig einige Millionen Menschen vernichten! Wir haben ja Übervölkerung, nicht? K ARL Wo man hintritt, schnauft ein Mensch. M ÜLLER Wir brauchen einen neuen Krieg. Und Kolonien! S TRASSER Ich verzichte auf Kolonien! Die kann ja jeden Augenblick herunter, hierher – Sie wollte sich nur die Händchen waschen, und dann will sie die Leitung übernehmen, die Leitung! (Stille) E MANUEL (sieht sich um; flüstert.) So etwas muß genau besprochen, daß keiner aus der Rolle fällt, und das Stichwort – Das war damals nämlich ein Theater, ein richtiges Theater, vom Krottenkopf raffiniert einstudiert, ich wundere mich noch heute über unser Talent! – Freilich Sie! Sie als anerkannter Mime – Sie müssen berücksichtigen, daß wir nur Laien – Pst! Sonst zerstört uns noch jemand die Komödie – (Er erklärt unhörbar.) A LLE (stecken die Köpfe zusammen.) (Beratung) K ARL (räuspert sich.) M AX Wo? (Beratung) M AX Wann? (Beratung) M AX Was? (Beratung) M AX Wieso? In der Finsternis? S TRASSER Jaja! A DA (nickt begeistert; wirft den Kopf in den Nacken: lacht lautlos.) (Beratung) M ÜLLER (lacht kurz auf und schlägt sich auf den Schenkel.) A LLE (erheben sich.) E MANUEL (gedämpft) So. Und dann alle fort, nur der bleibt zurück. M AX (hat den Finger in der Nase.) Ich? S TRASSER Frag nicht so untalentiert!

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(Alle Gläser und Flaschen kommen auf den weißgedeckten Tisch, der lautlos in den finsteren Hintergrund geschafft wird.) A DA (zu E MANUEL ) Talentiert! Bubi, du bist ja ein Genie! Dir gebührt das ewige Leben! E MANUEL Vergiß nicht, daß ich zum Tode verurteilt bin, daß ich Punkt fünf Uhr früh geköpft werde. A DA Dieser Galgenhumor! Wenn es ein charmanter Henker ist, so will ich ihn bestechen. E MANUEL Ada! K ARL (zu E MANUEL ) Ruhe! A DA (zu E MANUEL ) Du Sensation! M ÜLLER (zu S TRASSER ) Einen Augenblick! Wo hat die das Muttermal? S TRASSER Schräg rechts. M ÜLLER Von mir aus oder von ihr aus? S TRASSER Von uns aus. K ARL (verschwindet.) A DA (zu M ÜLLER ) Herr Generaldirektor! M ÜLLER Baronin! A DA (lächelt.) Werden Sie sich in Ihre Rolle hineinleben können? M ÜLLER Hineinknien, Baronin! In alles, was ich anfasse, knie ich mich hinein! A DA Sympathisch – M ÜLLER (reicht ihr den Arm.) A DA (hängt sich ein.) Die echten Männer sterben nämlich aus, Herr Generaldirektor. M ÜLLER (schlägt einigemal die Hacken zusammen: ab mit A DA in den Hintergrund) E MANUEL (folgt ihnen.) S TRASSER (will auch ab.) M AX Halt! – Ich tu nicht mit. S TRASSER (unterdrückt) Bist du wahnsinnig geworden?! M AX Nein, aber ich habe schon einmal geschworen – Und ich fürchte, ich werde wieder schwören müssen. Schwörst du mir, daß ich nicht wieder schwören muß? C HRISTINE (erscheint.) S TRASSER (erblickt sie: setzt sich.) C HRISTINE Ich dachte, du würdest mich holen. Ich habe am Zimmer gewartet. Du weißt doch, daß ich mich fürchte: allein durch so dunkle Treppenhäuser. S TRASSER Nein, das weiß ich nicht. C HRISTINE Ich habe es dir doch zuvor gesagt, und du hast es schon vergessen? S TRASSER Ich habe ein ganzes Hotel im Kopf. (Er erhebt sich.) Hast du dich sehr gefürchtet? Ich meine, du bist doch nun allein – (Stille) C HRISTINE Warum bist du nicht gekommen? S TRASSER (drückt sich.) Ich kann nicht bleiben. – Setz dich nur. Und guten Appetit. (ab in den finsteren Hintergrund) C HRISTINE (unschlüssig; überlegt; setzt sich langsam an den Tisch, mit dem Rücken zur spanischen Wand.) M AX (stellt sich ihr gegenüber und reicht ihr die Speisekarte.) C HRISTINE (blickt hinein, ist aber anderswo.) (Stille)

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C HRISTINE (ohne ihn anzusehen) Sagen Sie: Könnte ich kein anderes Tischtuch? Dies verdirbt den Appetit. M AX (ist etwas unsicher: unterdrückt erregt) Leider – Wir haben nämlich nur wenige weiße Tischtücher, und die sind beschmutzt. Man könnte zwar auch Bettücher, aber die sind zerfetzt, da wir nur unruhige Übernachtungen – Alle unsere Gäste leiden nämlich an Albdrücken – (Stille) C HRISTINE (hat nicht hingehört; blickt noch immer in die Karte.) Kommt er bald wieder, der Herr Direktor? M AX Jetzt ist er fort, Christine. C HRISTINE (starrt ihn an.) M AX (lächelt verwirrt.) Ja, er ist fort, ganz fort, jetzt ist er fort, sozusagen: fort – C HRISTINE (entgeistert) Wer? M AX Der Herr Direktor, Christine. C HRISTINE (schnellt empor.) M AX (unterdrückt) Jesus Maria Joseph! Setz dich! So setz dich! C HRISTINE (setzt sich.) M AX (sieht sich scheu um; beugt sich über den Tisch; leise) Ich muß nämlich hier einschalten, daß ich meinen Beruf verliere, wenn die Direktion erfährt, daß – Man hat es nämlich nicht leicht als Liebeshummer. Oh, und ob ich dich sofort wiedererkannt habe! Zuvor: in der Halle, aber als Kellner muß man selbst die edelsten Empfindungen, wie zum Beispiel Eifersucht, ersticken, will man weiter Kellner bleiben, was man ja muß. Christine! Hast du denn all die holden heißen Stunden vergessen? Oh, rede! Sag! Sprich! (Er zuckt zusammen.) Pst! Schweig! Still! E MANUEL (kommt; hält einen Augenblick, tritt dann an den Tisch; verbeugt sich.) Verzeihen, Gnädigste, daß ich mich an Ihrem Tische niederlasse, aber ich muß Sie leider belästigen, da ich, wie Sie sich selbst überzeugen können, nirgends anderswo – Und ich bin froh über meine Unfähigkeit. (Er setzt sich.) M AX (verschwindet.) E MANUEL (fixiert sie durch das Einglas.) C HRISTINE (weicht seinen Blicken aus.) E MANUEL (lächelt.) Pardon! Ich habe soeben gesagt, ich sei froh über meine Unfähigkeit. Über die Unfähigkeit, mich an einen anderen Platz – Pardon! (Er sieht sich um.) Jetzt sind wir allein. C HRISTINE (starrt ihn an: krallt in das Tischtuch.) E MANUEL Pardon! Aber es ist alles vergänglich, und das tut weh. Sehr weh. – Vor vier Stunden noch hätte ich den auf Pistolen gefordert, der es gewagt hätte zu behaupten, daß du die Direktion umarmst – C HRISTINE (schnellt empor und will rasch ab nach rechts.) K ARL (erscheint: verstellt ihr den Weg.) E MANUEL Was wollen Sie, Chauffeur? K ARL (stiert C HRISTINE an.) Herr Baron möchten mal nachsehen. Die Vierradbremse hat sich den Magen verstimmt, und die Kerzen brennen, als wäre es Weihnachten – Bald explodiert der Tank – Halt! (Er packt C HRISTINE am Handgelenk.) E MANUEL Lassen Sie die Dame los! K ARL (reißt sie an sich und küßt sie.) Ha du! S TRASSER (erscheint im Hintergrunde.)

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E MANUEL (nickt ihm grinsend zu und applaudiert lautlos.) S TRASSER (räuspert sich; tremoliert erschüttert.) Christine! Christine! C HRISTINE (reißt sich verzweifelt los; wankt.) E MANUEL (zu K ARL ) Sie sind entlassen, Sie Subjekt! K ARL (zuckt die Achsel.) Man darf doch wohl noch eine alte Bekannte begrüßen. C HRISTINE (schreit gellend auf.) E MANUEL (überschreit sich.) Hinfort! Verlogener Bandit! K ARL Hoho! Hoho! S TRASSER (stützt sich auf den Tisch.) Christine – Christine – K ARL Die Erotik, Sie Herr Baron, kennt keinen Standesunterschied, vorausgesetzt, daß ein Auto vorhanden ist. Da wiegen andere Unterschiede! Solidere! Brustumfang und so! Ha, Chrysantheme? M AX (tritt von links mit einem riesigen Kunstchrysanthemenstrauß rasch ein und eilt auf C HRISTINE zu.) C HRISTINE (bricht lautlos zusammen: fällt ohnmächtig vornüber.) A LLE (starren auf sie unbeweglich.) (Stille) M ÜLLER (kommt aus dem Hintergrunde; überblickt überrascht die Lage; unterdrückt) Na was, was hat sie denn? S TRASSER (hebt den Arm.) Pst! (Stille) E MANUEL (leise) Still, nur still – Es gibt ja auch Simulanten – bekanntlich. (Stille) E MANUEL (flüstert zu K ARL .) Abgesehen davon: Sie heißt doch nicht Chrysantheme, Herr, sie heißt Christine. K ARL (brummt.) Blume bleibt Blume. M AX (hat sich verhört; schwätzt nervös vor sich hin.) Chrysantheme bleibt Chrysantheme. Ich kenn doch die Chrysantheme – Hier, allerdings aus Papier, aus Kunst, aber das macht nichts, denn es sind ja Chrysanthemen – M ÜLLER (laut) Ich bezweifle, daß sie simuliert. (Stille) E MANUEL Eigentlich müßte man nachsehen, selbst wenn sie simulieren sollte. S TRASSER (beugt sich über sie.) Dann erst recht. M ÜLLER (beugt sich auch über sie.) Hoppla, Blut! K ARL (grinst.) Das Auge geschlossen. Und ausgezählt. M AX K.o.? E MANUEL Nur kein Blut! Sonst wird mir übel. M ÜLLER Keine Sorge! S TRASSER (zündet sich eine Zigarette an.) Nur geritzt. E MANUEL Blut bleibt Blut. M AX (schwätzt wieder.) Chrysantheme bleibt Chrysantheme. Gong. Zwote Runde. Der blonde Neger fightet los. Mörderisch. Serie. Serienmörderisch. Des Favoriten Auge schließt sich, achte Runde, obwohl er klar nach Punkten führt. Jedoch ein geschlossenes Auge kostet den blauen Gürtel der Meisterschaft, der Vereinsweltmeisterschaft, obzwar es ja auch ein lila Gürtel gewesen sein mag – – überhaupt diese Weltmeisterschaft! Eins, zwo, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf! (Er hebt den Strauß.) C HRISTINE (wimmert; zuckt; schlägt mit den Armen auf das Parkett.)

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E MANUEL , K ARL , M ÜLLER (zogen sich etwas zurück: ins Halbdunkle) S TRASSER (steht hinter C HRISTINE .) C HRISTINE (stützt sich schwerfällig empor: kauert und sieht scheu, verstört um sich; sie blutet über dem linken Auge.) Wer, wer hat mich niedergeschlagen? Wer? (Sie erblickt M AX mit dem Blumenstrauß.) M AX (verbeugt sich tief.) C HRISTINE (entsetzt, will schreien, kann aber nicht; schnellt auf, flieht, erblickt S TRASSER, stürzt auf ihn zu, stolpert, bricht in die Knie, kriecht zu ihm und küßt seine Hand.) S TRASSER (läßt sie sich küssen.) C HRISTINE (leise) Mein bist du – du mein du, mein höchstes Glück – S TRASSER (dumpf) Es dürfte zu furchtbar sein, die Nichtigkeit des höchsten Glückes zu sehen. E MANUEL (souffliert.) Es i s t zu furchtbar! S TRASSER Ist es auch. Richtig. C HRISTINE Nicht so, nicht so sein – nicht du so sein – S TRASSER Wie? C HRISTINE Du bist nicht so, so wie du denkst. Ich kenne dich ja, wie mich – wenn ich nur wieder denken könnte – Wo? Wann? Wie? Was? (Sie klammert sich an sein Bein und schreit verzweifelt.) Strasser! Wo bin ich? Ha, ich bin auf der Flucht! Die Polizei! Rette mich! Rette mich! Die Polizei behauptet ja, ich, ich hätte unser Kind zur Seite, ich hätte unser Kind erwürgt, zerstückelt und in Zeitungspapier – S TRASSER (hält ihr den Mund zu.) (Stille) M AX Großer jüdischer Gott! (Stille) E MANUEL (leise) Das ändert die Situation. K ARL (ebenso) Jetzt bin ich aus der Rolle gefallen. M AX Das Stichwort, das Stichwort – (Stille) M ÜLLER Na gute Nacht! C HRISTINE (hat sich beruhigt; tonlos) Es war keine gute Nacht. Dieser Traum, dieser entsetzliche Traum – S TRASSER (atmet auf.) Traum? C HRISTINE Nur ein Traum. Aber es hätte Wirklichkeit werden können – M AX Psychoanalytisch hochinteressant. C HRISTINE Ich war unschuldig, aber alles schwor gegen mich, vor allem die Not. Und dann hatte ich auch kein Alibi, ich war immer allein – Und dann überschlug ich mich. Stürzte. Kopfüber! Schneller und schneller! Drehte mich, wand mich – Oh, ich glaube, ich drehe mich noch! Drehe mich, drehe mich – Ich bin das Drehen! Strasser! Wo schlag ich auf?! S TRASSER Ich bin kein Prophet. C HRISTINE Kopfüber! S TRASSER Fasse dich! Du warst lediglich in Ohnmacht gefallen und bist vierundzwanzig Stunden ohne Besinnung gelegen. E MANUEL Bravo! S TRASSER Du hast das Bewußtsein verloren, weil du ausnahmsweise der Wahrheit begegnet bist.

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C HRISTINE Was ist Wahrheit? (Sie erblickt M AX : starrt ihn ängstlich an.) S TRASSER Ach, könnte man nur so in Ohnmacht fallen! Nur einmal so sich drehen, hindrehen, herdrehen, herumdrehen – Ich bin verdammt, alles bei Bewußtsein zu verdauen, zu sehen und hören, wie die eigenen Gedärme arbeiten. E MANUEL (kichert unterdrückt; zu M ÜLLER ) Der absolute Hölderlin! M ÜLLER Wer ist Hölderlin? C HRISTINE (erhebt sich scheu.) Wer? Wer ist das? Du, wer ist das dort mit den Blumen? S TRASSER Du kennst ihn. C HRISTINE Nein. S TRASSER So kennt er dich! C HRISTINE Nein! M AX Christine! C HRISTINE Wir kennen uns nicht, mein Herr! S TRASSER (zu C HRISTINE ) Du kannst es ruhig zugeben, daß er dich kennt. Es ist alles an den Tag gekommen. M AX Durch die Sonne, wahrscheinlich. C HRISTINE (schreit.) Nein, nein! Wir kennen uns nicht! Der irrt sich, verwechselt mich, täuscht dich! Der lügt ja! Lügt! Lügt! E MANUEL (gibt M AX Zeichen, daß er sprechen soll.) S TRASSER (zu C HRISTINE ) Still! M AX (ist noch immer unsicher.) Christine. Laßt also Chrysanthemen sprechen. Blumen lügen nämlich nie. Auch Chrysanthemen lügen bekanntlich nie. – Die Liebe ist eine Blume, und unsere Chrysantheme blühte im Verborgenen, war gewissermaßen ein Gewächs der Nacht. Mond und so. Aber über Nacht, da schien die Sonne mitten in der Nacht. Man kann es gar nicht erfassen. Kaum glaublich, schier unglaublich, aber ich habe um eine Chrysantheme mein Brot verloren. Nun ziehe ich dahin. Ach, wohin? Woher, wohin? C HRISTINE Träume ich? M AX Chrysantheme. Trockne und presse diesen Strauß zum Gedenken an deinen dich liebenden Emil Krause aus Chemnitz. E MANUEL (für sich; grimmig) Das auch noch! Gott, wie blöd! M ÜLLER (ebenso) Wenn Emil improvisiert – K ARL (ebenso) Schlimm! C HRISTINE Träume ich das? S TRASSER Nein! C HRISTINE (fährt sich mit der Hand langsam über die Augen; leise) Nein? – Nein? S TRASSER Auf alle Fälle schmerzt es mich zutiefst da drinnen, daß du mich mit meinem eigenen Oberkellner betrogen hast. C HRISTINE Du sprichst chinesisch! Sind wir in China?! S TRASSER Wir sind in Deutschland. Ich spreche deutsch. Kerndeutsch! – Höre: Ich habe bereits des öfteren Verdacht gefaßt, aber oh wie war ich feig: Ich wich dem ungetrübten Auge der Wahrheit aus. C HRISTINE Pfui, wie gemein! S TRASSER Die Wahrheit ist immer gemein! M AX Hm. E MANUEL (unterdrückt zu M AX ) Ab!

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C HRISTINE (starrt S TRASSER an.) Wie anders du aussehen kannst, nein, wie anders – Jetzt sehe ich – – S TRASSER Was? C HRISTINE Daß die recht behalten, die mich warnten. S TRASSER Vor der Wahrheit? C HRISTINE Nein, vor dir. S TRASSER Man hat dich gewarnt? C HRISTINE Ja. S TRASSER Wer? C HRISTINE Alle. Alle. Alle – – (Sie nähert sich ihm und hängt sich an ihn.) – Aber, aber ich kann ja nicht, ich kann es nicht glauben – Nur meinen Gefühlen bin ich gefolgt, allen zu trotz, der inneren Stimme, die nie trügt. Dem Herz. S TRASSER (lächelt schmerzlich.) Tja! Ich habe ein goldenes Herz – C HRISTINE Du, es flüstert in mir: Wir zwei sind von der Vorsehung für einander bestimmt – S TRASSER Flüstert? C HRISTINE (haucht.) Ja – Bei dir vergesse ich mich selbst. (Stille) S TRASSER (reißt sich plötzlich los von ihr.) Aha! Aha! Jawohl! Wir zwo waren von der Vorsehung füreinander bestimmt, aber du hast die Vorsehung belogen! Schamlos belogen! Ja, du! Ist ja gar nicht wahr! Ist ja alles verlogen! Du vor allen! Ich habe ja gar kein Kind! Kein einziges! Und wie überschäumte ich schon vor Glück, eines zu haben, zu bekommen haben! Ja, wagst du zu leugnen, Weib, daß, während ich dir zu Füßen lag, du über mein Haupt hinweg und hinter meinem Rücken umeinandergebuhlt hast?! Wagst du die Wahrheit zu widerlegen, die Wahrheit?! Oh, es ist alles verlogen, alles! C HRISTINE (krümmt sich.) Nein, das ist nicht wahr – – S TRASSER Was? – Darf ich bitten, Herr Baron? E MANUEL Herr Strasser! Ich verwahre mich auf das Entschiedenste gegen die öffentliche Erörterung intimer Seelenqualen – – S TRASSER (unterbricht ihn.) Mehr Licht! E MANUEL Kein Skandal! S TRASSER Haha! Was fragt ein Herz, ein goldenes Herz, das verwundet umherzuckt, gekränkt, getreten, gemordet – – Was kümmert solch ein Herz das Wort Skandal?! Solch Herz schlägt auf den Tisch: Tabula publico! Coram rasa! Solch Herz soll auf der Stelle blind umfallen, wenn es dir, ja dir, du Schlange, auch nur in Gedanken untreu sündigte! – – Und du?! Und du? Sieh die Blumen, die Blumen! Auto und Chauffeur! Zu dritt, zu dritt! Und das Tabarin! Zu viert! Zu fünft!! E MANUEL (formell) Wir sprechen uns noch, Herr. Denn selbst wenn es Hunderte waren, stelle ich mich schützend vor eine Dame. Obwohl sie mich mit meinem eigenen Lakai betrogen hat, bleibe ich dennoch bis zum letzten Tropfen Kavalier. Das ist Kinderstube, Herr! S TRASSER Keine Komplikationen! K ARL Prozeß? S TRASSER Ich schwöre. K ARL Klar! M AX (bekreuzigt sich.) C HRISTINE (starrt vor sich hin; tonlos) Es waren keine hundert, keine hundert –

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S TRASSER So waren es fünf! E MANUEL Den Prozeß, Madame, dürften Sie kaum gewinnen. Behörden bereiten nur zu gerne Unannehmlichkeiten, denn sie nehmen den Lebenswandel scharf unter die Lupe – – unter das Mikroskop! S TRASSER Oh, es gibt noch einen Gott! C HRISTINE (dumpf) Jetzt weiß ich nicht mehr, ob es einen Gott gibt. Wenn ich nur verzweifeln könnte. Muß man denn immer lügen – S TRASSER Das frage dich! C HRISTINE Ja, mich selbst – – K ARL Was war das mit dem Tabarin? C HRISTINE (schreit.) Ich kenne kein Tabarin! E MANUEL (gibt M ÜLLER ein Zeichen; klatscht in die Hände.) M ÜLLER (hatte sich etwas zurückgezogen; lacht schallend.) S TRASSER Kommen Sie nur, Herr Generaldirektor! Kommen Sie nur! M ÜLLER (nähert sich langsam C HRISTINE ; hält vor ihr; fixiert sie dreckig.) (Stille) M ÜLLER Du kennst kein Tabarin? (Stille) M ÜLLER Kennst du mich? (Stille) M ÜLLER Nanana! Tu man nicht so! So vom Mond importiert! Das wäre schon unverschämt, ja! – Was suchst du hier? Was? Wie? Hier hast du nichts verloren! Verstanden?! Willst du einen biederen Bürgersmann, einen kreuzbraven Gewerbetreibenden, meinen Schulkameraden Strasser in Unkosten stürzen? Denkst wohl, die würzige Luft hier schadet weder dir noch deinem Bankert? Verstanden?! Aushalten willst du dich lassen, aushalten! Nur nichts arbeiten, was? Wie? C HRISTINE Bin ich wahnsinnig geworden? – Hilfe! M ÜLLER Wer hilft Nutten? Kein Aas! Kein Gott! (Er ergreift ihren Arm.) Was macht das Muttermal? Das Muttermal! Hoppla, da wird wer bleich und blaß! Das Muttermal, das Muttermal! Rechts, schräg rechts! Von mir aus! C HRISTINE Was für Muttermal? M ÜLLER (schüttelt sie.) Lüg nicht, Nutte! C HRISTINE Ich habe kein Muttermal! Au! Lassen Sie los! (Sie reißt sich los und flieht.) Ich habe kein Muttermal! S TRASSER Sollte ich mich geirrt? C HRISTINE (hört es; hält ruckartig; begreift allmählich.) K ARL (zu S TRASSER ) Rindvieh! (Stille) E MANUEL (faßt sich; zu C HRISTINE ) Richtig! Aber natürlich! Sie haben kein Muttermal! Freilich! (Stille) M AX Muttermal ist ganz anders. (Stille) S TRASSER (verwirrt) Es dreht sich hier nicht um das Muttermal, es dreht sich hier darum, daß nach dem Gebote der Redlichkeit du von mir nicht verlangen – – nach all dem, was geschah, nicht verlangen, daß ich mein Geld, das ich gar nicht habe, für irgendein Kind –

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C HRISTINE (unterbricht ihn; sie steht in einiger Entfernung mit dem Rücken zu den anderen.) Es dreht sich hier nicht um Geld. (Stille) M ÜLLER Haha! E MANUEL Pah! K ARL Quatsch! S TRASSER Ich hasse Illusionen! M ÜLLER „Nicht um Geld“! M AX (zu C HRISTINE ) Sondern? (Stille) C HRISTINE (in leicht singendem Tonfall, voll unterdrückter Erregung) Wollen mich die verehrten Herren ausreden lassen? D IE VEREHRTEN H ERREN (setzen sich.) C HRISTINE Ich wollte alles, was ich besitze, dem Manne geben, dem ich mein Herz gab, dem Vater des Kindes, alles. Vielleicht dachte ich an frühere Zeiten. Ich wollte helfen, sonst nichts. Ich wollte das Hotel zur schönen Aussicht verbessern, vergrößern und neu möblieren – – S TRASSER (scharf) Mit was denn? C HRISTINE Ich habe zehntausend Mark. D IE WERTEN H ERREN (schnellen empor.) (Stille) M AX Ist das wahr? M ÜLLER Zehntausend – – S TRASSER Betrug! Betrug! In den Briefen stand nichts als Jammer und Not und ins Wasser! „Zehntausend Mark“! Erstunken und erlogen! C HRISTINE Still! – – Not und Jammer stand nicht nur in den Briefen, und ich wäre ins Wasser gegangen, hätte sich nichts geändert. K ARL Hast das große Los gezogen? C HRISTINE Vielleicht. E MANUEL Pfui, wie dumm! M ÜLLER Der typische Roman! C HRISTINE Im Herbst wurde ich abgebaut, und ich hätte noch gestern nicht einmal das Fahrgeld nach hierher gehabt und wäre noch gestern vielleicht gar ins Wasser gegangen, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen. S TRASSER Was verstehst du unter „Lieber Gott“? C HRISTINE Zehntausend Mark. (Stille) C HRISTINE Ich habe dir erzählt, daß ich eine Doppelwaise bin. Mein Vater fiel bei Verdun, und meine Mutter starb in der Inflation. Aber ich hatte eine Tante in St. Gallen, die hinterließ mir zehntausend Mark, zahlbar, wenn ich volljährig – – Ich bin am 14. März geboren. Also wurde ich gestern einundzwanzig Jahre alt. (Stille) S TRASSER (vor den Kopf geschlagen) Warum, warum hast du mir das nicht sogleich anvertraut? C HRISTINE Was? S TRASSER Das mit dem lieben Gott, dem Geburtstag. C HRISTINE Wolltest mir gratulieren? S TRASSER (erregt; unterdrückt) Also bitte, bleiben wir nur hübsch bei der Wahrheit!

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C HRISTINE Ich hatte Angst vor der Wahrheit. Vor dem Geburtstag. Vor dem lieben Gott. S TRASSER Ist das nun dumm oder gemein? C HRISTINE Minderwertig! (Stille) S TRASSER Du! Du wolltest als Bettelkind gefreit werden, du Kitsch! C HRISTINE Ja, das wollte ich. M AX Rosarot und himmelblau! C HRISTINE Jetzt ist es mir, als hätte ich nie daran gedacht, diese schöne Aussicht neu zu möblieren. Jetzt lach ich mich selber aus. S TRASSER Triumphiere nur! Ein trauriger Ruhm! E MANUEL Minderwertig. C HRISTINE Entschieden! (Stille) C HRISTINE Strasser. Die Post ist zuverlässig. S TRASSER Ich habe alle Briefe erhalten. (Stille) C HRISTINE Nun muß ich fort. (Sie will ab, hält aber nach einigen Schritten.) Wann fährt der erste Zug? M AX Wohin? C HRISTINE Fort. M AX Fünf Uhr sieben. C HRISTINE Danke. (ab) D IE WERTEN H ERREN (starren ihr nach; betrachten sich gegenseitig verstohlen, weichen sich aus; gehen hin und her: kreuz und quer) (Stille) M AX (schüttelt den Kopf.) Das begreife ich nicht, das begreife ich nicht! Komisch. So ein Zufall! S TRASSER Komisch? K ARL Zehntausend? Das ist kein Zufall, das ist Glück! S TRASSER (grimmig) Der liebe Gott! (Stille) M ÜLLER Mit zehntausend ist man Millionär. M AX Ist das so viel Geld? E MANUEL Sie Kind! (Stille) K ARL Ich hatte mal zehntausend – – M AX (unterbricht ihn.) In Portugal? K ARL (zuckt zusammen, hält und stiert ihn an.) Was soll das schon wieder? M AX Der Zufall ist eine eigenartige Einrichtung. Eigentlich undramatisch, aber man trifft ihn trotzdem. Ab und zu. M ÜLLER Wenn man bedenkt, wie man sich um sechs Kisten Sekt raufen muß – – E MANUEL Man soll gar nicht denken – – Man könnte leben. Ja, nicht nur das! Auch aufatmen! M AX Als Millionär könnte man auf den Himalaya, nach Bali und Berlin, über den Ozean fliegen, im Sandmeer baden, Krieg führen, ja sogar Frieden stiften – – K ARL (unterbricht ihn.) Wann fährt der Zug? M AX Nach Paris?

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K ARL Nach Chemnitz! M AX (überrascht) Nach Chemnitz? K ARL (brüllt ihn an.) Nein, nach Kalkutta!! M AX Fünf Uhr sieben. E MANUEL Es wäre Pflicht, die Dame rechtzeitig zu wecken, damit sie den Zug nicht versäumt. M AX Die Dame hat es zwar nicht befohlen, aber die Pflicht – M ÜLLER (unterbricht ihn.) Ich werde wecken! K ARL Ich! S TRASSER Ich! Man kann sich nämlich auf das Personal nicht verlassen, und die p.t. Gäste darf man doch nicht bemühen, Herr Generaldirektor. E MANUEL Pardon! Ich bringe kein Opfer, da ich nun so nicht schlafen kann – – K ARL (unterbricht ihn.) Ich dachte, Sie sind mondsüchtig, Baron! E MANUEL (lächelt spöttisch.) Es ist Neumond, Herr. M AX (sieht empor; verträumt) Der Mond. – Damals schien der Mond. Voll Sehnsucht und Sinnlichkeit. Reifer Sinnlichkeit. Ditto Sehnsucht. Ach, du Mond! Wo blieben all die holden heißen Stunden, die herrlichsten Stunden meines Lebens? S TRASSER Was für Stunden? M AX Kavalier schweigt. S TRASSER (brüllt.) Was für Stunden?! M AX Mein Herr. „Vater“ ist ein gewaltiges Problem. Ein Fragezeichen! K ARL Apropos Fragezeichen: Bekannt kommt sie mir vor. Verteufelt bekannt! S TRASSER Wer? M ÜLLER Wen der Beruf zu reisen zwingt, der weiß nie, wo er sein Kind trifft. E MANUEL Ich liebe Kinder. Über alles. S TRASSER (setzt sich.) A DA (erscheint verschlafen; setzt sich neben S TRASSER und betrachtet ihn von oben bis unten genau; lächelt liebevoll.) Nun? – – Nun? – – Wenn ich nur nicht so erschlagen wäre – – Nun? Hast du die Hure hinausgeworfen, ja? S TRASSER (nickt ja.) A DA Charmant! – – Ich habe ja leider Gottes nur den Anfang vernommen, dann bin ich entschlummert – Aber ihr seid Künstler – Charmant! (Sie tätschelt seine Wange; gähnt.) Du – Wie schade, schade, schade, daß ich so müde – du – – S TRASSER (tonlos) Gute Nacht. A DA (legt das Haupt auf den Tisch.) Danke – Danke dir, daß du die hinausexpediert – (Sie gähnt.) Ein gutes Gewissen ist ein sanft Ruhekissen.

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D R I T T E R A K T.

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Korridor im Hotel zur schönen Aussicht. Im Hintergrunde sieben schmale Türen. Von links nach rechts: Zimmer Nummer neun, zehn, elf, zwölf, zwölf-a, vierzehn, fünfzehn. Nacht. Lampenlicht.

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S TRASSER (tritt rasch aus Zimmer zwölf und eilt zu fünfzehn; zögert einen Augenblick; klopft an die Türe.) M ÜLLER (in Hemdsärmeln und ohne Kragen, die Hosenträger hängen ihm hinten herab, reißt die Türe auf.) Herein! (Er erblickt S TRASSER .) Schon wieder! Na was denn, was denn? S TRASSER (scharf; erregt) Herr Müller! Ich fordere aufgeklärt zu werden! M ÜLLER Fragen Sie Papa und Mama! S TRASSER Keine Witzelei! Die Sache ist z u ernst! M ÜLLER Wollen Sie mich auf die Toilette bitten? S TRASSER Sollten Sie mich zwingen – M ÜLLER (unterbricht ihn.) Ich gehe nie auf die Toilette, ich bleibe bei meiner Behauptung! Ich wiederhole: Ich habe die Dame im Tabarin gesehen, gehört, gefühlt, gekannt, sie ist mir auf diesen Schoß gesessen, sie hat mir dieses Kinn gekrault, sie hat undsoweiter. Ich habe nämlich keine Angst vor Ihrer Toilette, verstanden? Na gute Nacht! S TRASSER Halt! – Als Ehrenmann sind Sie zum Beweis verpflichtet. M ÜLLER Abwarten! S TRASSER Ich warte nicht! M ÜLLER Ich auch nicht! Bezahlen Sie den Sekt! Schluß! (Er schlägt die Tür zu; ab) S TRASSER (allein; gequält) Das nennt sich Gottes Ebenbild – M AX (in Segelmütze und kurzem hellen Mantel über den Frack, in der Hand eine abgeschabte Reisetasche, kommt aus Zimmer neun; tritt, ohne S TRASSER zu beachten, zu zwölf-a und klopft leise an.) S TRASSER (mit dem Rücken zu M AX ; hört es; lauscht.) M AX (unterdrückt erregt durch die Türe) Christine – Christine, Christine – Christine! S TRASSER (hat sich ihm zugewandt.) Was klopfst du dort? M AX (setzt sich zerknirscht auf seinen Koffer.) Ich klopfe, ich klopfe, ich klopfe. Und sie hört nicht, sie hört nicht, sie hört nicht. (Er vergräbt das Haupt in den Händen; seufzt.) Ich habe geklopft. Ich habe schon oft geklopft. S TRASSER Du wirst bald ausgeklopft haben. M AX Sie wird mich erhören. S TRASSER Du bist wohl noch besoffen? M AX Apropos besoffen: Ich habe das Gefühl, als hätte ich meine Schuhe verloren – Kennst du das Gefühl? S TRASSER (grimmig) Apropos Gefühl: Weißt du, was ich jetzt am liebsten tun würde? M AX Das habe ich heute schon einmal gehört. S TRASSER Auch gefühlt? M AX Still! – Es geht nämlich um in mir. Wenn man nur in sich hineinsehen könnte! Apropos hineinsehen: Da drinnen ist es still. (Er deutet auf zwölf-a; leise) Apropos still: Stille kann unheimlich werden. Damals hat sich auch nichts gerührt, allerdings drei Tage lang – damals: jener mit den Krücken. S TRASSER Kusch! (Stille) M AX Apropos Krücken: Man sollte doch eigentlich nachsehen, es ist nämlich eigentümlich – S TRASSER (unterbricht ihn.) Apropos eigentümlich: Was soll der Koffer? M AX Apropos Koffer: Ich nehme meinen Abschied. S TRASSER (perplex) Was?

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M AX (erhebt sich; nervös) Apropos Abschied: Ich muß nämlich fort. Dringende Familienangelegenheiten. Fünf Uhr sieben. S TRASSER Fünf Uhr sieben? M AX Sollten der Direktion durch meine überstürzte Abreise Unkosten erwachsen, bin ich selbstverständlich bereit, für selbe aufzukommen. S TRASSER Mit was denn? M AX Hoho! Unberufen! Unberufen! K ARL (tritt aus zehn in goldbestickter Paradeuniform mit Handschuhen; zu M AX ) Ruhe! M AX (zu S TRASSER ) Hörst du? K ARL (zu M AX ) Halt das Maul! – Hast wieder gewinselt „Christine, Christine“? Hast wieder an der Tür gescharrt wie ein Hund, den man ins Sauwetter prügelte? „Christine, Christine!“ M AX (zu S TRASSER ) Wer ist dieser Herr? K ARL Du kennst mich noch nicht, Leisetreter. Schleimer. Hund. M AX (zu S TRASSER ) Bitte, stelle mir diesen Herrn vor. K ARL (zu M AX ; deutet auf S TRASSER .) Dieser Herr und ich, wir kennen uns nicht! M AX Seit wann? S TRASSER Seit zwo Stunden. M AX Das ist aber lustig! K ARL Hahaha! S TRASSER Dieser Herr besitzt die Schamlosigkeit, zu behaupten, vor einem Jahre mit der Dame von Nummer zwölf-a in intime Beziehungen geraten zu sein. M AX Zwölf-a! K ARL Dieser Herr besitzt die Schamlosigkeit, an meinem Ehrenworte zu zweifeln. M AX Hm. – Vielleicht sagt er die Wahrheit. K ARL Wer? M AX Apropos Ehrenwort: Irren ist menschlich. Ich, zum Beispiel, hätte die Dame von Nummer zwölf-a kaum wiedererkannt, und es ist doch erst ein Jahr dahinverflossen – E MANUEL (tritt aus vierzehn; mit einem nassen Handtuch auf der Stirne) Pardon! – Würden die Herren so freundlich sein und mir verraten, wie spät, respective früh – Meine Uhr ist plötzlich kaputt, scheinbar. K ARL Wir haben keine Uhr! M AX Uns fehlt jetzt jeder Sinn für Zeit. E MANUEL Ich verreise nämlich fünf Uhr sieben. M AX Mit der Dame von zwölf-a? (Stille) S TRASSER Es ist Mitternacht, Baron. K ARL Und Vollmond! E MANUEL Ich verbitte mir diesen ewigen Mond! S TRASSER Es ist Mittag, und die Sonne scheint. M AX In Amerika dürfte es regnen. A DA (schleppt sich verstört herein; hält; fixiert DIE VIER.) (Stille) A DA Was gibts? – Was gibts? (Stille) A DA Warum habt ihr mich sitzen lassen? Allein. Unten.

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S TRASSER Du hast so süß geschlafen. Dich wecken wäre herzlos gewesen. Gewiß! A DA Herzlos? (Sie grinst.) Ja, das hat schon so mancher bemerkt, daß es charmant aussieht, wenn ich schlafe. Ich liege nämlich wie ein Kind, rolle mich zusammen und falte die Händchen – nicht? (Stille) A DA (lauscht.) Hat einer was gesagt? – Hat keiner was gesagt? Warum sagt denn keiner was?! S TRASSER Gute Nacht! A DA Guten Morgen! I c h sage: Guten M o r g e n ! S TRASSER Plärr nicht! Es ist Nacht! A DA Strasser! Ich hasse diese Witze! Das sind keine Witze! S TRASSER Richtig! Im Ernst. Man bittet um Ruhe: Die Gäste wollen schlafen. A DA Was für Gäste? (Stille) A DA Was für Gäste? Ihr seht mich wohl zehnfach, ihr besoffenen Gegenstände! Es gibt hier bekanntlich nur einen Gast, und der bin ich. Es kann nur einer befehlen. Die anderen haben zu gehorchen! Ihr seid doch meine Sklaven, nicht? Ich verzichte auf Ruhe, ich fühle mich frisch. – Sollte ein Sklave schlafen wollen, so wird er lebendig begraben, und wenn er widerspricht, wird ihm die Zunge herausgerissen, und will er nicht hören, die Ohren abgesägt, und geht er auf mich nicht ein, wird er kastriert! (Sie lacht.) K ARL Man sollte das Irrenhaus anrufen. M AX Das Telefon ist leider verdorben. E MANUEL So gehört es repariert. A DA (lacht.) Strassersklave! Geh auf mich ein! Geh auf mich ein! M ÜLLER (in Hemd und Unterhosen; reißt Türe fünfzehn auf.) Na was ist denn los?! Die reinste Revolution! M AX Wer weitergeht, wird erschossen. A DA (kann nicht mehr aufhören zu lachen.) Ein Gast! Ein Gast! Und was für ein illustrer Gast! M ÜLLER Was hat denn die dumme Kuh? A DA (hat es nicht gehört.) Incognito! Ich habe Sie total vergessen, Herr Generaldirektor! M ÜLLER (brüllt sie an.) Ich bin kein Generaldirektor! Ruhe! Wiehern Sie nicht, sehen Sie zu, daß Sie in die Klappe kommen, besoffene Person! Mitten in der Nacht, na, das ist schon räudig! (ab: er schlägt die Türe zu.) A DA (perplex) Was war das? Wie war das Wort? S TRASSER Räudig. M AX R wie Rembrandt, äu wie Euter, d wie Daheim, i wie Inzest, g wie gebenedeit. A DA Dieses Schwein ist wohl verrückt geworden, wie? (Eine Uhr schlägt: vier-, dann dreimal.) S TRASSER (zählte mit.) Drei. E MANUEL (zählte auch mit.) Nein, vier! M AX (ist anderswo.) Es wird bald fünf. E MANUEL (entsetzt) Schon fünf? S TRASSER (fährt E MANUEL an.) Sie versäumen nichts! A DA (grinst.) Steht die Guillotine? Steht die Guillotine? S TRASSER Herr Baron erreichen den Zug.

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E MANUEL (erregt) Sie Wirt. Ich verbiete es Ihnen, sich mit meiner Abreise zu beschäftigen! S TRASSER Ich verbiete es Ihnen, die Dame von zwölf-a mit Ihren unsittlichen Anträgen zu belästigen! Und wären Sie königliche Hoheit, Baron! A DA (scharf) Was ist das für Dame? (Stille) A DA Wo gibt es hier eine Dame? Und seit wann? S TRASSER Das geht dich nichts an! A DA Hierbleiben! Hierbleiben! – Strasser, schau mir in das Auge! In das Auge – Was für Dame, was für Dame? Soll das etwa? Habt ihr gelogen? Ist das die? Diese Kloake! – Hinaus damit! Sofort! Oder ich hole sie an den Haaren herbei – (Sie will zu zwölf-a.) K ARL (reißt sie zurück, daß sie niederbricht.) Halt das Maul! Selber Kloake! Kusch! Oder ich zertrete dich! A DA (am Boden) Na, was hat er denn? K ARL Dieses Maul. Wie ein Lurch! A DA Emanuel! So ohrfeige ihn! K ARL Jener Greis? Mich? A DA Ohrfeige ihn! E MANUEL Ada. Ich habe es mir bereits überlegt, ob ich ihn züchtigen soll, aber das Resultat wird erst eine Sekunde vor fünf Uhr veröffentlicht. Damit die Spannung nicht flöten geht, denn wir hassen bekanntlich die Langeweile – und lieben die Sensation. K ARL (grinst.) Ein schlagfertiger Patriarch. A DA (verwirrt; irr) Die Sensation – Oh, dieser Kopf! Was kostet dieser Kopf? Siebentausend? Wie? Ich biete einen roten Heller! Zum ersten, zum zweiten, zum dritten! E MANUEL Ich behalte meinen Kopf. – Zuguterletzt hat man doch auch seinen Stolz. Adieu! (Er verbeugt sich steif und ab in vierzehn.) A DA (sieht ihm nach.) Adieu! – Adieu, du Kopf! Wenn nicht, dann nicht! Wenn kein Kopf, so die Uniform! Jene charmante Uniform – zum ersten, zum zweiten, zum dritten! Zieh dich aus, Herkules! K ARL Gott, wie neckisch! A DA Nicht? (Sie erhebt sich stöhnend.) Hierbleiben, hierbleiben! (Sie lächelt und nähert sich taumelnd K ARL .) Herkules, laß mich an deinem Kinn riechen – Du duftest wie mein erstes Erlebnis. K ARL Zurück! Schon lange her, das erste Duften, was? Dreißig? Vierzig? Fünfzig! Ein halbes Jahrhundert! Wann wird denn Schluß?! (ab in zehn) A DA (starrt ihm fassungslos nach.) Schluß? – Was für Schluß? Von was Schluß? – Ich verstehe kein Wort – (Sie wankt.) M AX Es wird bald fünf. S TRASSER (zu A DA ) Komm. Geh zu Bett. A DA Nein! Jetzt muß ich noch eine Kleinigkeit trinken – etwas Prickelndes. S TRASSER Du bist schon betrunken. Und krank. A DA Ich bin nicht krank! S TRASSER (kneift sie in den Arm.) Geh zu Bett! A DA Au! Du mußt mich sanfter anfassen – Wir Frauen sind nun mal so. Au! S TRASSER Ada. Du hast kein Recht, eine Mutter zu beschimpfen. Das Weib erfüllt

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durch die Geburt eine göttliche Funktion. Wo wären wir, wenn es keine Mütter gäbe? – Ich habe mich geirrt: Sie ist keine Prostituierte, sie kennt nur mich. Ich werde die Dame von zwölf-a um Verzeihung bitten, daß ich gewagt habe, niedrig über sie zu denken. Sie wird mir die Wirtschaft führen, ich lege ihr alles zu Füßen: mich und das Hotel. (Er geht hin und her.) A DA (ist nahe daran, bewußtlos zu werden.) Lüg nicht! Lüg nicht! S TRASSER Geh zu Bett! M AX Es wird bald sechs. S TRASSER Es wird bald sieben. M AX Schau, Ada: Ich bin jung, und du bist alt. Ich spreche sachlich, um uns unnötige Aufregungen zu ersparen. Wir wollen nicht weh tun, wir wollen unsere Bindung, die uns viele reine Freude brachte, sanft lösen, um uns ohne bitteren Geschmack zurückerinnern zu können. Schau, ich bin jung, und du bist alt. Ein junger Mann, geleitet von einer erfahrenen Frau, ist derselben immer zu Dank verpflichtet, und auch deshalb befleißige ich mich, sachlich zu sein, objektiv, gerecht. Schau, du darfst und kannst nicht verlangen, daß ein normal immerhin entwickelter junger Mann sich zeitlebens an dich kettet. Ich müßte mich ja zwingen, und das wäre wider die Natur. – Nein! Das täte nicht gut. Lieber nichts! (Er tritt zu zwölf-a; horcht; klopft.) Christine – Christine, Christine! S TRASSER (fährt ihn an.) Laß das, wenn man bitten darf! M AX Du bist ein böser Mensch, Strasser. Du könntest ja einen erschlagen, aber das wahre Gefühl ist nicht umzubringen: Es kommt immer wieder. Und klopft. Auch als Gespenst. (ab in neun) S TRASSER (sieht ihm verdutzt nach.) Das wahre Gefühl? A DA (lallt.) Hierbleiben – Hierbleiben – S TRASSER Ins Bett! Ins Bett! (ab in zwölf) (Eine andere Uhr schlägt zwölf.) A DA (wimmert; erregt hin und her; immer rascher; sie zählt mit.) – drei, vier, fünf – neun, zehn, elf, zwölf – C HRISTINE (tritt aus zwölf-a, erblickt A DA ; erschrickt.) A DA (hält ruckartig; betrachtet sie scheu.) (Stille) A DA Zwölf. C HRISTINE Ich bin es. (Stille) A DA Ich habe Ihre Briefe gelesen – Halt! Bleiben! Bitte, bleiben – Um Jesu Christi willen, ich habe das Gefühl, der ganze Raum steckt voller Leute, und ich bin blind! C HRISTINE Ich dachte, endlich könnte man fort, ohne jemanden wiederzusehen. A DA Wiedersehen? Wissen Sie, wer ich bin? C HRISTINE Ja. A DA Wer bin ich? C HRISTINE Ich wohnte in Zimmer Nummer elf. Vor einem Jahre. A DA Wer wohnt jetzt in Zimmer Nummer elf? C HRISTINE Eine alte Frau. A DA Tatsächlich? C HRISTINE Ja. (Stille)

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A DA Wie einfach sich das sagen läßt: eine alte Frau – C HRISTINE Es ist doch so. A DA Ja. – Man sollte jung sterben. Mit der Zeit wird alles zwecklos. Nicht? C HRISTINE Möglich. A DA Man sagt, jede Mutter meint, ihr Kind sei das Schönste. Meine Mutter hat aber darüber nicht nachgedacht – Glauben Sie, daß ich sehr häßlich bin? C HRISTINE Möglich. A DA Sie kennen mich nicht. C HRISTINE Ich kenne diese Stimme. Ich habe hinter dieser Tür gehorcht. Zuvor. A DA Das war nicht ich! C HRISTINE Doch! (Stille) A DA Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu. C HRISTINE Warum erzählen Sie mir das? A DA Seien Sie nicht grausam. Bitte. – Gestatten Sie, daß ich Ihnen helfen darf, damit Sie das Kind ohne Sorgen – C HRISTINE (unterbricht sie.) Ich habe keine Sorgen. A DA Das gibt es nicht. (Stille) C HRISTINE (gehässig) Ich danke für Ihre Wohltätigkeit. Mir hat nämlich der liebe Gott geholfen. Wissen Sie, was das heißt? A DA Nein, das weiß ich nicht. (Stille) A DA Das weiß ich wirklich nicht. Lachen Sie mich nur aus – (Sie nickt ihr zu; langsam ab in elf) C HRISTINE (starrt ihr nach; will fort, hält jedoch nach einigen Schritten und überlegt; kehrt plötzlich entschlossen um und tritt an Türe elf; klopft; lauscht: nichts) M AX (tritt aus neun: erblickt sie, erhellt sich; unterdrückt) Pst! Sonst kommt nämlich wieder wer, ich habe geklopft und geklopft und war bereits nahe daran zu verzweifeln, aber nun wird alles gut – Halt! Es ist erst halb vier. Zum Bahnhof sind es fünfzehn Minuten. Geht man gemütlich, braucht man zwanzig, wenn Sie sich aber beeilen, nur zehn. Halt! Ich fahre ja auch fünf Uhr sieben. Wir haben noch Zeit. C HRISTINE Wer „wir“? M AX Wir zwei, Christine. Ich und Sie. Sie und ich. Wir. Ich bin nämlich kein Kellner, sondern Kunstgewerbler. Und dann habe ich das Gefühl, eine unschöpferische Periode hinter mir zu lassen. Ich fahre fünf Uhr sieben. Ob ich wieder zum Plakat finde, hängt lediglich von Ihnen ab. C HRISTINE Ich verstehe kein Wort. M AX Sagen Sie das nicht! C HRISTINE (spöttisch) Meint der Herr mich? M AX Ich kenne nur eine Christine. C HRISTINE Ist das dieselbe Christine, die sich hier vor ungefähr einem Jahre für den Herrn mit dem Chrysanthemenstrauß interessierte? M AX Ja. Das heißt: Nein. Sicher. Ich habe mich geirrt. Vielleicht. Apropos Irrtum: auf mein Ehrenwort: Wahre Liebe gibt es nur einmal, alles Übrige dürfte zu untergeordneter Bedeutung schwinden, gemessen an der Tatsache, daß man in seinem Leben bekanntlich nur ein einziges Mal den Menschen trifft, mit dem man

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zusammengehört bis über das Grab. Still! Vielleicht drücke ich mich ungeschickt aus, aber es ist so. Lachen Sie mich nicht aus, bitte. Wir zwei müssen uns schon mal begegnet sein, da ich Sie nicht vergessen kann. Ja, wir haben uns sogar schon geliebt, in unserer letzten Inkarnation, ich bin nämlich Buddhist. Vor tausend Jahren waren Sie ein Ritter, und ich war Ihr treuer Knappe. C HRISTINE Ich denke nicht daran, was ich vor tausend Jahren war. K ARL (tritt aus zehn; erblickt DIE BEIDEN .) Hoppla! (zu C HRISTINE ) Hat er schon wieder geklopft? (zu M AX ) Kerl, du klopfst ja tausend Jahr! M AX Rühr mich nicht an! Terrorist! Sachlich, bitte! Laß mich allein! K ARL (hatte sich M AX nicht genähert; zu C HRISTINE ) Er leidet nämlich an Verfolgungswahn. C HRISTINE (will ab.) Ach, lassen Sie mich in Ruh! K ARL UND M AX Halt! M ÜLLER (tritt aus fünfzehn in Hemd und Unterhosen und versperrt ihr dadurch den Weg.) Na wohin? Ich wollte gerade auf das Klosett. Aber Kleines, wer wird denn noch daran denken, daß ich mich gestern nicht ganz korrekt benahm. Ich weiß, was sich gehört, doch es ging mir zu nahe, daß du dich mit solchen Kerls – Wir kennen uns zwar aus dem Tabarin, aber ich bin der Letzte, der kein Verständnis dafür hätte, wie leicht ein unbescholtenes Mädchen mit gutem Kern in unserem neuen Deutschland auf die schiefe Ebene kommt. Schwamm darüber! Das Kind soll einen ehrlichen Namen haben! Meinen Namen. Nur nicht verzagen: Du wirst noch eine rechtschaffene Hausfrau mit Gefühl für das Familienleben. Oh, das hast du, kleiner Blondkopf! Hinter diesem Stirnchen sitzt Sinn für Ordnung und Zucht. Ich sehe mich schon im eigenen Geschäfte und sehe dich schalten und walten in Küche und Keller. Du erinnerst mich manchmal, so in der Bewegung, an meine selige Mutter. Arme Kleine! Bist ein gefallenes Mädchen, aber ich leite dich retour in die bürgerliche Atmosphäre. Na, was sagst du? E MANUEL (tritt rasch aus vierzehn; reißt im letzten Augenblick das Handtuch vom Kopfe; hält es in der Hand.) Pardon! Ich habe alles gehört. Es ist menschliche Pflicht, die Dame zu warnen. Dieser Herr liebt aus platter Gewinnsucht. Es riecht nach Heiratsschwindel. M ÜLLER (braust auf.) Wie kommen Sie mir vor?! E MANUEL Ich bin Herr Baron Stetten, Müller. Ich weiß nicht, ob Gnädigste sich für Golf interessieren, aber abgesehen vom Golf: Gnädigste werden meinen Namen bereits kennen. C HRISTINE Nein. E MANUEL Ich nehme an, daß Sie ein schlechtes Namensgedächtnis haben, um nicht glauben zu müssen, daß es Ihnen an historischem Sinn mangelt. Gnädigste. Es ist immer tragisch, wenn solch glorreiches Geschlecht erlischt. Christine. Da keine Hoffnung besteht, unser Geschlecht auf natürliche Weise zu verlängern, bitte ich Ihr Kind adoptieren zu dürfen. C HRISTINE Ich habe ein gutes Gedächtnis und kenne mich in der vaterländischen Geschichte nicht aus. E MANUEL Still, bitte! – Wollen Sie Baronin werden? M ÜLLER Wie selbstlos! E MANUEL Kein Krämerstandpunkt! Ich bringe Opfer, meine Herren! Es ist klar, daß ich durch die Ehe mit einer nicht standesgemäßen Person auf die Zugehörigkeit zur anständigen Gesellschaft werde verzichten müssen.

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K ARL Auch mit siebentausend? E MANUEL In einer knappen Stunde müßte ich mir eine Kugel durch diesen Kopf jagen, aber ich verzichte. Ich bringe Opfer über Opfer. M ÜLLER Spartanisch! K ARL (zu C HRISTINE ) Verzichte! Der würde doch alles verspielen! Den ganzen lieben Gott! M AX Auf ein Blatt. E MANUEL Ich habe ausgespielt. Ich kenne keine Karten mehr, vorausgesetzt, daß mir jemand hilft. – Wollen Sie Baronin werden? (Stille) E MANUEL Sagen Sie ja. K ARL Sag nein! E MANUEL Ich verbitte mir jede Beeinflussung! Sie selbst soll entscheiden. Wir leben doch nicht im finstersten Mittelalter, wir Modernen haben gelernt, auch im Weibe den Menschen zu achten. Nur der M e n s c h zählt! So wählen Sie! Hie Baron Stetten! Hie Müller, Chauffeur und Kellner! M AX Ich bin kein Kellner! E MANUEL Sondern? Photograph? C HRISTINE Still! Ich überlege. Ich überlege. (Sie lacht lautlos.) M ÜLLER Tu nicht so blasiert! E MANUEL Sie sind keine kalte Frau. M AX Lachen Sie mich nur aus – C HRISTINE (horcht auf: lacht nicht mehr.) K ARL I c h wähle! Ich bin ein Mann, kein degenerierter Idiot! Das Weib will genommen werden! E MANUEL Pardon! Kein Faustrecht! K ARL Keine Entrüstung! Wer verliert und nicht bezahlt, ist selbst ein Schuft! M ÜLLER Wer? K ARL Der Herr Baron! E MANUEL Zustände! S TRASSER (tritt aus zwölf, ohne bemerkt zu werden.) M AX (zu E MANUEL ) Pfui! M ÜLLER Donnerwetter ja! K ARL (zu E MANUEL ) Sie gehören geköpft. S TRASSER Es wird bald fünf. A LLE (starren ihn an.) S TRASSER (zu K ARL ) So köpfe ihn! Aber schmerzlos. Du hast doch Routine im Zahnziehen. (Stille) S TRASSER Christine. Mach einen Bogen um diese Galauniform: Es steckt in ihr ein Zuchthäusler. (Stille) K ARL (zu S TRASSER ) Wärst d u in Portugal gewesen, hätte man dich gehängt. M AX Vielleicht begnadigt. M ÜLLER Zu lebenslänglichem Zuchthaus. S TRASSER Aber ohne Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, nicht wahr, Sie Galauniform? K ARL (ohne Grimm) Was willst du denn von mir?

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S TRASSER (grinst herausfordernd aus plötzlicher Unsicherheit.) K ARL (nickt ihm zu.) Lach mich nur aus. (Er nähert sich langsam C HRISTINE ; dumpf) Fräulein. Es ist gut. Ich bin ein Zuchthäusler. Ich saß sechs Jahr, weil ich einen erschlagen habe. Nicht Mord. Totschlag. Aber es wurden mir keine mildernden Umstände zugebilligt, das heißt: nur ganz geringe, und die zählen kaum vor Gericht und sind doch sehr ausschlaggebend. Sie sollen keine Angst vor mir haben, Fräulein. Bitte. Es gibt ja nichts, was einem nicht zustoßen könnte. Man kann sich auch selbst erschlagen, und doch umhergehen, Fräulein. Und dastehen: in Galauniform. (Stille) C HRISTINE (leise) Ist, das, wahr? K ARL Es ist wahr, Fräulein. S TRASSER Es ist gelogen, Christine. Von a bis z. C HRISTINE Kusch! (Stille) S TRASSER (zu C HRISTINE ) Du hast recht: Was ich dir antat, ist ein perfideres Verbrechen als Mord. M ÜLLER Wieso kommen Sie zu dieser Behauptung? M AX Jeder von uns trägt die gleiche Schuld. M ÜLLER Na klar! E MANUEL Pardon! Es war mein Plan. S TRASSER Quatsch! M ÜLLER Wir haben ihn alle unterschrieben! Wir alle fühlen uns verantwortlich! M AX Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. K ARL Das haben wir alle nicht. C HRISTINE Still! Würden die werten Herren Reue spüren, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen? M ÜLLER Jawohl! E MANUEL Jederzeit. K ARL Das war niedrig, Fräulein. (Stille) M AX Warum glaubst du mir das nicht, das mit den tausend Jahren? (Stille) S TRASSER Ich hätte nichts bereut, hätte dir nicht der liebe Gott geholfen. E MANUEL Charakterlump! M AX Er kann nicht lieben. K ARL Er ist überhaupt kein Mensch. M ÜLLER Wo bleiben die Ideale? S TRASSER Das weiß ich nicht! Ich weiß nur, daß ich dich nun liebe, weil du zehntausend Mark hast. Ohne diese Summe hätte ich auch keine Reue empfunden. Du kannst doch nicht verlangen, daß einer, der wirtschaftlich zugrunde gerichtet worden ist, sich in eine Bettelprinzessin verliebt. C HRISTINE Und das Kind? S TRASSER Du kannst doch nicht verlangen, daß ich dich ewig liebe, nur weil du ein Kind von mir hast. (Stille) C HRISTINE Ja, das ist wahr. Aber ich wäre fast zugrunde gegangen – S TRASSER Ich hätte dir nicht helfen können.

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Ein Epilog Zur schönen Aussicht

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C HRISTINE Das weiß ich noch immer nicht. S TRASSER Glaub es! M ÜLLER Nach dem bürgerlichen Gesetzbuche ist der Vater verpflichtet – S TRASSER (unterbricht ihn.) Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren! C HRISTINE Man müßte ein anderes Gesetzbuch schreiben. M ÜLLER Das wäre das Ende der Familie. C HRISTINE Wenn schon. E MANUEL Und das Ende des Staates. C HRISTINE Wenn schon! (Stille) C HRISTINE Es gibt einen lieben Gott, aber auf den ist kein Verlaß. Er hilft nur ab und zu, die meisten dürfen verrecken. Man müßte den lieben Gott besser organisieren. Man könnte ihn zwingen. Und dann auf ihn verzichten. K ARL Man soll nicht an ihn glauben. C HRISTINE Man muß. (Stille) S TRASSER (zu C HRISTINE ) Bleib bei mir. C HRISTINE (sieht S TRASSER groß an.) Der Zug fährt in einer halben Stunde, und wer sich beeilt, ist in zehn Minuten am Bahnhof, aber mir ist es noch immer, als müßte ich den Zug versäumen – M AX (sieht C HRISTINE groß an.) Dreizehn ist meine Glückszahl. Und Christine wohnt zwölf-a. S TRASSER Du wirst den Zug versäumen. C HRISTINE Nein. – Nein. Nein, ich werde nichts versäumen – Laß mich fort, bitte – Wenn mich das Kind nicht mehr braucht, so komme ich dich besuchen – sollte dies Haus dann noch stehen – (ab)

Vo r h a n g . 30

Schluß.

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Ein Epilog

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Ein Epilog

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Rund um den Kongreß (Endfassung, emendiert)

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Ein RundEpilog um den Kongreß

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RUND UM DEN KONGRESS Posse in fünf Bildern von Ödön Horváth 5

PERSONEN:

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F ERDINAND S CHMINKE L UISE G IFT D AS F RÄULEIN A LFRED D ER K ELLNER D ER G ENERALSEKRETÄR H AUPTMANN D ER P OLIZIST D ER P RÄSIDENT D IE V ORSITZENDE D ER S ANITÄTSRAT D ER S TUDIENRAT E INIGE D ELEGIERTE D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS .

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ERSTES BILD.

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F ERDINAND (steht mit einem Spazierstock an einer Straßenkreuzung und kennt sich nicht aus.) S CHMINKE (begegnet ihm.) F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Ich möchte in das Restaurant Miramar und weiß nicht, wo es liegt. S CHMINKE Restaurant? F ERDINAND Miramar. S CHMINKE Das ist kein Restaurant. F ERDINAND Vielleicht ein Caférestaurant? S CHMINKE Nein. Das ist ein Bordell. F ERDINAND Interessant! S CHMINKE Auch das. F ERDINAND Komisch. Eigentlich wollte ich nur meinen Bruder Alfred besuchen, der ist nämlich Kellner in diesem Miramar, und im November werden es drei Jahre – – S CHMINKE Ich pflege prinzipiell keine Auskunft über Bordelle zu geben. F ERDINAND Aber ich möcht doch nur meinen Bruder Alfred besuchen. S CHMINKE Prinzipiell nicht. F ERDINAND „Prinzipiell“ – dieser Ton. Ich kenn doch diesen Ton – „prinzipiell“. Sie heißen doch Schminke? Nicht? S CHMINKE Sie kennen mich? Woher? F ERDINAND Prinzipiell, Herr Schminke.

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Ein Epilog Rund um den Kongreß

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S CHMINKE Wer ist denn das? F ERDINAND Ich selbst, Herr Schminke. Komisch. Ja, das macht mich direkt stutzig. Nämlich: Wenn Sie mich nicht kennen, so werden Sie meine Schwester wahrscheinlich auch vergessen haben. S CHMINKE Wer ist denn Ihre Schwester? F ERDINAND Meine Schwester ist tot. S CHMINKE Ich verbitte mir das! F ERDINAND Bitte. Bitte! S CHMINKE (ab) F ERDINAND Ein schlechter Mensch. L UISE G IFT (kommt.) F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Kennen Sie einen Tanzpalast namens Miramar? L UISE G IFT „Tanzpalast“ ist gut. F ERDINAND Ein Etablissement. L UISE G IFT Ein Stadion. F ERDINAND Ein maison de discretion. L UISE G IFT Junge, Junge! F ERDINAND Ich hab nämlich gehört, daß dieses Miramar ein etwas diskretes Lokal sein soll. L UISE G IFT Haben Sie gehört? F ERDINAND Soeben. (Stille) L UISE G IFT Muß es unbedingt im Miramar sein? F ERDINAND Zu freundlich! L UISE G IFT Oh, bitte! Sie werden es nicht bereuen. F ERDINAND Man soll den Teufel nicht an die Wand malen. L UISE G IFT Sind Sie auch so abergläubig? F ERDINAND Was mich betrifft: Ja. L UISE G IFT Ich trau mich oft nicht vors Haus. Besonders wenn alles beflaggt ist. F ERDINAND Also apropos Haus: Wo liegt nun jenes Haus? L UISE G IFT Jenes liegt nirgends. Jenes ist nämlich abgebrannt. F ERDINAND Abgebrannt? L UISE G IFT Im April. F ERDINAND Um Gottes willen! L UISE G IFT Man vermutet Brandstiftung. Aus Neid. F ERDINAND Sagen Sie: Wer ist denn alles verbrannt? L UISE G IFT Wen meinen Sie? F ERDINAND Eigentlich wollt ich nur meinen Bruder Alfred besuchen. L UISE G IFT Alfred? Ist das Ihr Bruder? F ERDINAND Kennen Sie ihn? L UISE G IFT Leider. F ERDINAND Lebt er noch? L UISE G IFT Leider. Er ist nämlich ein kompletter Schuft. F ERDINAND Immer wieder? L UISE G IFT Er hat sein Ehrenwort gebrochen. F ERDINAND Komisch. Was war das für ein Ehrenwort? L UISE G IFT Er hat mir sein Ehrenwort gegeben, daß er es niemandem sagen wird, daß

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Ein RundEpilog um den Kongreß

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ich mein Ehrenwort gebrochen habe. Aber er will mich nicht ärgern, es ist ja bekannt, daß man sein Ehrenwort nicht halten kann. F ERDINAND Als ich das erste Mal mein Ehrenwort gebrochen hab, da war ich zehn Jahre alt. Ich erinner mich gern, weil ich gern melancholisch werd. Es wird so angenehm ruhig, wenn man an sein erstes gebrochenes Ehrenwort denkt. L UISE G IFT Ich glaub, Sie sind ein guter Mensch. F ERDINAND (zieht den Hut.) Danke. L UISE G IFT Bitte. S CHMINKE (kommt wieder und scheint etwas zu suchen.) F ERDINAND Guten Abend, Herr Schminke! S CHMINKE (zuckt zusammen, erkennt F ERDINAND und nähert sich ihm.) Herr! Sie haben zuvor behauptet, ich hätte Ihre verstorbene Schwester gekannt. Was war denn Ihre Schwester? F ERDINAND Nutte. S CHMINKE Was wollen Sie damit sagen? F ERDINAND Ich hatte zwo Schwestern. Die jüngere starb nach elf Minuten und die ältere war Nutte. S CHMINKE Was soll ich mit Ihrer Elfminuten alten Schwester? F ERDINAND Ich wollte damit nur sagen, daß nicht alle meine beiden Schwestern Nutten waren. Und was meine verstorbene ältere Schwester, die Nutte, betrifft, die Sie vergessen haben –: Ich wollte Sie nur erinnern, daß Sie dieser verstorbenen Nutte noch etwa dreiundfünfzig Mark schulden, und da sie mich als alleinigen Erben eingesetzt – – S CHMINKE Herr! Ich habe noch nie mit Nutten verkehrt! F ERDINAND Ich meine diesen Verkehr in einer geistigen Hinsicht. Sie sind doch ein geistiger Mensch. Ich, zum Beispiel, ich bin kein geistiger Mensch, aber auch geistige Menschen müssen ihre Schulden bezahlen. S CHMINKE Ich habe keine Schulden! F ERDINAND Sie sind doch Journalist? S CHMINKE Na und? F ERDINAND Und meine verstorbene Schwester, die Nutte, lieferte Ihnen das gesamte Material für einen so langen Artikel. S CHMINKE Material? Betreffs? F ERDINAND Betreffs Bekämpfung der Prostitution. Sie haben das gesamte Material dieser verstorbenen Nutte verwertet, ohne ihr einen Pfennig zu bezahlen. S CHMINKE Ich bin auch nicht verpflichtet. F ERDINAND Gesetzlich nicht. Aber moralisch. S CHMINKE Ich bin ausgesprochener Moralist. F ERDINAND Mit achtzehn Pfennig pro Zeile. Sie hätten ohne meine Schwester höchstens eine halbe Zeile schreiben können. Macht fünfzig Prozent. Ist gleich etwa dreiundfünfzig Mark. S CHMINKE Hier dreht es sich nicht um Ihre Nutte, sondern um die Bekämpfung der Prostitution. Ja um noch mehr! Um eine Idee. F ERDINAND Für achtzehn Pfennig die Zeile. S CHMINKE Man muß doch leben, um für eine Idee kämpfen zu können! F ERDINAND Man hört auch andere Ansichten. S CHMINKE Soll ich mich kreuzigen lassen? F ERDINAND Bin ich der liebe Gott?

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Ein Epilog Rund um den Kongreß

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S CHMINKE Es gibt keinen lieben Gott! Basta! F ERDINAND Hm! S CHMINKE (ab) L UISE G IFT Wer war denn das? F ERDINAND Ein schlechter Mensch. L UISE G IFT Warum? F ERDINAND Weil er nicht bezahlen will, was er einer toten Nutte schuldet. L UISE G IFT Lassen Sie bitte die Toten ruhen. F ERDINAND Es gibt keine Toten, sofern es sich um dreiundfünfzig Mark dreht. Wir Menschen haben eine unsterbliche Seele. L UISE G IFT (betrachtet sich im Spiegel mit dem Lippenstift.) Ich auch. Ich auch. (Sie schminkt und pudert sich und summt dazu den Totenmarsch von Chopin; plötzlich) Alfred ist im Café Klups. F ERDINAND Klups? Klups klingt solid. Ist Alfred jetzt in diesem Klups Kellner? Ist er eigentlich schon Oberkellner geworden? L UISE G IFT Nein. Er spielt Billard. F ERDINAND So? L UISE G IFT Und Karten. Und Schach. Und dann spielt er wieder Billard. F ERDINAND Von was lebt er denn eigentlich? L UISE G IFT Eigentlich von mir. (Stille) F ERDINAND Komisch. Also: Wo liegt denn dieses Café Klups? L UISE G IFT Da gehen Sie einfach immer rechts. Oder links. F ERDINAND Danke. L UISE G IFT Bitte. F ERDINAND Komisch. L UISE G IFT Sie können es eigentlich gar nicht verfehlen. F ERDINAND Mein Kompliment! L UISE G IFT Leben Sie wohl! F ERDINAND Ergebenster Diener! L UISE G IFT Sie mich auch! F ERDINAND Gute Nacht! L UISE G IFT Ein guter Mensch. F ERDINAND Auf Wiedersehen! L UISE G IFT Grüß Gott! F ERDINAND (ab) L UISE G IFT (winkt ihm nach.) D AS F RÄULEIN (kommt.) L UISE G IFT Jetzt bin ich aber erschrocken! Ich dacht, es kommt wer anders. D AS F RÄULEIN Wer? L UISE G IFT Ich weiß es nicht. D AS F RÄULEIN Das bin nur ich. (Stille) L UISE G IFT Nun? D AS F RÄULEIN Ich hab es mir überlegt. (Stille) D AS F RÄULEIN Ja. Du hast sehr recht. Man soll sich dafür bezahlen lassen. L UISE G IFT Na endlich!

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Rund um den Kongreß

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D AS F RÄULEIN Endlich. L UISE G IFT Ich hab es schon immer gesagt, daß du intelligent bist. D AS F RÄULEIN Ich hab es schon immer gewußt, daß du recht hast, aber ich wollt es nicht sagen. Jetzt sag ichs. Ich machs genau wie du. L UISE G IFT Es geht immer leichter und leichter. D AS F RÄULEIN Wer sagt das? L UISE G IFT Coué. (Stille) L UISE G IFT Weißt du, was ich dir nicht glaub? Daß du noch niemals dafür Geld genommen hast. Das glaub ich nicht. Du hast doch schon? Was? D AS F RÄULEIN Ich hab erst einmal dafür Geld genommen. L UISE G IFT Wann? D AS F RÄULEIN Vorgestern. L UISE G IFT Nu und? D AS F RÄULEIN Zwölf Mark. L UISE G IFT Gratuliere. D AS F RÄULEIN Ist das viel? L UISE G IFT Genug. D AS F RÄULEIN Ich dachte, das wäre normal. L UISE G IFT Du Kind. Kindchen. Zwölf Mark sind Henry Ford. Für zwölf Mark verlangt man schon was Elegantes. Du mußt wer sein. Was vorstellen. Geh mal auf und ab. D AS F RÄULEIN (geht auf und ab.) L UISE G IFT Wie du jetzt so wirkst, kostest du nicht mehr als zwo. D AS F RÄULEIN Ich bin doch kein Tier. L UISE G IFT Du sprichst so gewählt. D AS F RÄULEIN Das kommt wahrscheinlich daher, weil ich viel Romane gelesen hab. L UISE G IFT Viel Lesen ist ungesund. D AS F RÄULEIN Ich kannte mal einen, der schrieb Romane. In einem hübschen Blockhaus. L UISE G IFT Man sieht jetzt sehr hübsche Blockhäuser. D AS F RÄULEIN In der Nähe liegt ein See. (Stille) L UISE G IFT Wir werdens schon auch schön haben. Du wohnst natürlich bei mir. Solang du magst. (Stille) D AS F RÄULEIN Du hast mich neulich gefragt, wie alt ich bin. Ich hab gesagt dreiundzwanzig, aber ich werd erst dreiundzwanzig. Im September. L UISE G IFT Warum erzählst du mir das jetzt? D AS F RÄULEIN Nur so. (Stille) L UISE G IFT Ich seh jünger aus. Nicht? D AS F RÄULEIN Jünger als ich? L UISE G IFT Nein, als ich. D AS F RÄULEIN Sicher. (Stille) L UISE G IFT Ich hab den „Generalanzeiger“ abonniert. Es wird schon gemütlich. Wenn wir uns mal schlecht fühlen, machen wir uns einen Tee und bleiben auch abends daheim. (Sie kreischt plötzlich.) So glotz mich doch nicht so an! 452

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A LFRED (erscheint und überblickt die Situation.) Daß du immer kreischen mußt. (Er geht auf und ab.) Piano, Luise! Piano! Jetzt fletscht sie wieder die Hauer. (zum F RÄULEIN ) Guten Abend! L UISE G IFT Ich hab keine Hauer. A LFRED Natürlich hast du Hauer. L UISE G IFT Ich hab Zähne. A LFRED Das kann jeder sagen. Ist das jenes Fräulein? L UISE G IFT Was fürn Fräulein? A LFRED Jenes. L UISE G IFT Wo? A LFRED Da. L UISE G IFT Dort? Dort ist kein Fräulein. A LFRED Na wer ist denn das? L UISE G IFT Das ist nichts. (Stille) A LFRED (nähert sich L UISE G IFT.) Luise. Du machst mich mal wieder korrekt nervös. Das ist unverantwortlich von dir für dich. Du hast mir doch erst gestern von einem Fräulein berichtet, das es sich noch überlegen wollte – L UISE G IFT (unterbricht ihn.) Jenes Fräulein geht dich nichts an. A LFRED Piano! L UISE G IFT Jenes Fräulein wünscht nämlich nur mich. Sonst niemand. Hörst du? A LFRED (zum F RÄULEIN ) Haben Sie das gehört, Fräulein? D AS F RÄULEIN Ja. A LFRED (zum F RÄULEIN ) Sie lügt, was? D AS F RÄULEIN (schweigt.) L UISE G IFT (nähert sich A LFRED ; leise) Laß es mir bitte. A LFRED (spöttisch) Das „Nichts“? L UISE G IFT Du hast mir dein Ehrenwort gegeben – A LFRED (unterbricht sie.) Bitte stell mir das Fräulein vor. L UISE G IFT Bestie. A LFRED Kusch. L UISE G IFT (weint.) D AS F RÄULEIN So beruhig dich doch! Ist ja widerlich! A LFRED Und ob! L UISE G IFT (starrt DAS F RÄULEIN an.) Wie war das? A LFRED W wie wir, i wie ich, d wie du, e wie elegant, r wie Rücksicht, 1 wie Luder, i wie infam, ch wie Chonte. L UISE G IFT Widerlich. D AS F RÄULEIN Ja. A LFRED Ja. L UISE G IFT Sehr widerlich? D AS F RÄULEIN Sehr. L UISE G IFT Bestie. (Stille) A LFRED (zum F RÄULEIN ) Hier sehen Sie eine Abart der Hysterie. Luise ist eben kränklich. Bereits als Kind litt sie unter einer allseits porösen Haut. Luischen! Ist die Leber noch frisch? Gesundsein ist Trumpf. Bazillen verpflichten! Du solltest Leichtathletik treiben.

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D AS F RÄULEIN (kichert.) A LFRED Hundert Meter. Diskus. Hürden. Stabhoch! L UISE G IFT (tonlos) Produzier dich nur, produzier dich nur. A LFRED (zum F RÄULEIN ) Mein Name ist {Kastner}. D AS F RÄULEIN Ich hab mirs gleich gedacht. A LFRED Wieso? Hat sie mich verleumdet? D AS F RÄULEIN Im Gegenteil. A LFRED Soweit ich die Gesamtsituation überblicken kann, haben Sie es sich überlegt. D AS F RÄULEIN Ja. L UISE G IFT (zum F RÄULEIN ; apathisch) Das ist der Alfred. A LFRED Sie hatte bereits das Vergnügen. L UISE G IFT Alfred muß gemein sein, er kann nicht anders. A LFRED Sie lügt. L UISE G IFT (will langsam ab, bleibt plötzlich stehen.) Alfred. Ich hab zuvor deinen Bruder gesprochen. A LFRED Bruder? Ist denn der hier? Seit wann? L UISE G IFT Ich hab ihn zufällig kennengelernt. A LFRED Ich bin nur zufällig sein Bruder, er ist nämlich ein Trottel. L UISE G IFT Er ist ein guter Mensch. A LFRED Wirds bald? L UISE G IFT Ich geh schon. A LFRED Marsch. L UISE G IFT (ab) (Stille) A LFRED Sagen Sie Fräulein: Haben Sie sich schon mal das Horoskop stellen lassen? D AS F RÄULEIN Nein. Verstehen Sie was von Planeten? A LFRED Immerhin. Ich beschäftige mich mit okkulten Dingen. Luischen, zum Beispiel, ist im Sternbilde des positiven Wassermann geboren. D AS F RÄULEIN Was bedeutet das? A LFRED Daß man keine Seele hat. D AS F RÄULEIN Sie ist aber sehr aufmerksam zu mir. Sie sagt mir, wie ich gehen muß und alles. Sie hilft mir. Ich kann, zum Beispiel, bei ihr wohnen. A LFRED Weil sie, zum Beispiel, schwül mit u schreibt. D AS F RÄULEIN Ist sie sehr krank? A LFRED Sie wird voraussichtlich erblinden. D AS F RÄULEIN Was fehlt ihr denn? A LFRED Unter anderem ist sie auch mondsüchtig. Ja: Bei Vollmond steigt sie aus dem Fenster, klettert die Fassade hoch und tanzt den Tanz ihrer Jugend: Quadrille! Sie ist nämlich schon stellenweise grau. Sie sind doch blond? D AS F RÄULEIN Wer? A LFRED Sie. D AS F RÄULEIN Blond? Ja. A LFRED Echt? D AS F RÄULEIN (nimmt den Hut ab.) A LFRED Bravo! Bravo. (Stille) A LFRED Sagen Sie, gnädiges Fräulein: Hätten Sie Sehnsucht, monatlich fünfhundert Mark zu verdienen?

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D AS F RÄULEIN Wie? A LFRED Monatlich. D AS F RÄULEIN Fünf – A LFRED Hundert. Bar. Fest. Sie. (Stille) D AS F RÄULEIN Danke nein. A LFRED Sie sind wohl total verblödet? D AS F RÄULEIN Möglich. A LFRED Ihr Profil ist zwar begabt. D AS F RÄULEIN Ich hab Angst. A LFRED Vor mir? Wie kann man vor mir Angst haben? Ich hab ja vor mir selbst keine Angst! (Stille) D AS F RÄULEIN Was wird man von mir verlangen für fünfhundert Mark? A LFRED Das Normale. D AS F RÄULEIN Wer? A LFRED Ein gewisser Ibanez aus Parana. D AS F RÄULEIN Ibanez persönlich? A LFRED Nicht ganz. D AS F RÄULEIN Ich geh in keine Kaserne. A LFRED Parana kennt keine kasernierte Liebe! Parana besteht in diesem Punkte lediglich aus Appartements. Ein Haus, ein Fräulein! Das ist Gesetz in Parana, um die schamlose Ausbeutung der Fräuleins zu verhindern und den anständigen Mädchenhandel zu schützen. Die paranensische Reichsregierung – – D AS F RÄULEIN (unterbricht ihn.) Wo liegt Parana? A LFRED In Südamerika. D AS F RÄULEIN Nein. (Stille) D AS F RÄULEIN Neineinein – A LFRED Lieben Sie Europa? D AS F RÄULEIN Ich geh nicht in die Kolonien. A LFRED Geographie schwach. Außer britisch, französisch und niederländisch Guyana gibt es in Südamerika bekanntlich keine Kolonien, nur souveräne Staaten. Freie demokratische Republiken. Die Bevölkerung ist vorzüglich spanisch und portugiesisch, mittelgroß, leidenschaftlich und schwarz. Infolgedessen sind Blondinen tatsächlich bevorzugt. L UISE G IFT (erscheint.) A LFRED Schon zurück vom Doktor? L UISE G IFT Ich war nicht beim Doktor. Ich hab gehorcht. (Stille) A LFRED Auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein! (ab) (Stille) D AS F RÄULEIN Vielleicht fahr ich nach Südamerika. L UISE G IFT Sei nicht boshaft. D AS F RÄULEIN Ich bin nicht boshaft. L UISE G IFT Aus Südamerika kommt keine zurück. D AS F RÄULEIN So bleib ich eben dort. L UISE G IFT Du bleibst bei mir.

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Ein RundEpilog um den Kongreß

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D AS F RÄULEIN Ich bin nicht so veranlagt. L UISE G IFT Ich bin überhaupt nicht veranlagt! (Sie nähert sich ihr.) Ich bin ja ganz anders, aber ich komme so selten dazu – (Sie fährt ihr durch die Haare und zerrt sie plötzlich.) D AS F RÄULEIN Au! Laß mich los! (Sie reißt sich los und schlägt sie vor die Brust, daß sie zurücktaumelt.) So laß mich doch! (Sie läuft davon.) L UISE G IFT (lacht.) Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen! (Sie lauscht auf Antwort; Stille; sie brüllt.) Auf Wiedersehen! (Sie lauscht wieder; Stille; sie wimmert.)

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Ende des ersten Bildes.

ZWEITES BILD. 15

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F ERDINAND (betritt das Café Klups, hält neben dem Billard und sieht sich um; er ist der einzige Gast.) D ER K ELLNER (kommt und kaut an einem Trumm Brot.) F ERDINAND Guten Abend. D ER K ELLNER Mahlzeit. F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Ist das hier das Café Klups? D ER K ELLNER Ja. F ERDINAND Warum steht dann aber draußen „Café Viktoria“? D ER K ELLNER Es heißt ja hier „Viktoria“. F ERDINAND Klups heißt wohl der Besitzer? D ER K ELLNER Nein. Der ehemalige Besitzer. (Stille) F ERDINAND Komisch. Ist Herr Klups schon lange tot? D ER K ELLNER Herr Klups ist überhaupt nicht tot. Herr Klups hat sich nicht bewährt. F ERDINAND Paragraph? D ER K ELLNER 181a. „Eine männliche Person, welche von einer Frauensperson, die gewerbsmäßig Unzucht treibt, unter Ausbeutung ihres unsittlichen Erwerbes ganz oder teilweise den Lebensunterhalt bezieht, oder welche sonst förderlich einer Frauensperson gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz in Bezug auf die Ausübung des unzüchtigen Gewerbes Schutz gewährt oder sonst förderlich ist, wird … F ERDINAND mit Gefängnis – – D ER K ELLNER nicht unter – – F ERDINAND einem Monat – – D ER K ELLNER bestraft.“ Und seitdem heißen wir hier „Viktoria“. (Stille) F ERDINAND Wieso „Viktoria“? D ER K ELLNER Mich kann man nicht ausfragen. F ERDINAND Es hätt mich ja nur interessiert. D ER K ELLNER Warum? F ERDINAND Aus Mitgefühl. Man ist doch zu guter Letzt ein Mensch. D ER K ELLNER Zu guter Letzt. Nehmen Sie Platz!

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F ERDINAND (setzt sich.) D ER K ELLNER Sie wünschen? Kaffee, Tee, Schokolade. F ERDINAND Kaffee. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? F ERDINAND Tasse. D ER K ELLNER (ab) A LFRED (kommt und entdeckt F ERDINAND , der ihn nicht bemerkt; er zieht sich den Rock aus und spielt in Hemdsärmeln Billard gegen sich selbst.) F ERDINAND (erblickt A LFRED und erhebt sich überrascht.) A LFRED (fixiert ihn einen Augenblick und setzt das Spiel fort.) F ERDINAND Alfred! A LFRED (läßt sich nicht stören.) Ha? F ERDINAND Du bist ja gar nicht überrascht, daß ich dich überrascht hab! A LFRED Nein. F ERDINAND Komisch. A LFRED Ich wußt es schon. F ERDINAND Woher? A LFRED Mich kann man nicht ausfragen. F ERDINAND Es hätt mich ja nur interessiert. A LFRED Warum? F ERDINAND (setzt sich.) (Stille) D ER K ELLNER (bringt F ERDINANDS Tasse; zu A LFRED ) Halleluja! A LFRED Kaffee. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? A LFRED Kännchen. D ER K ELLNER (ab) (Stille) F ERDINAND Du spielst anscheinend gern Billard. Sehr gern? A LFRED Ja. (Stille) F ERDINAND Alfred. Was hab ich dir denn getan? A LFRED Nichts. F ERDINAND Also? A LFRED Also. F ERDINAND Ich hab dir doch nichts getan – A LFRED Eben! F ERDINAND Ach so. A LFRED Ja. (Stille) F ERDINAND Komisch. Ich hab mir gedacht, du wirst freudig überrascht sein. A LFRED Weil du zufällig mein Bruder bist? F ERDINAND Trotzdem. A LFRED Ich lege keinen Wert auf Familienanschluß. F ERDINAND Ja, wir sind eine verkommene Familie. Man muß nur zurückdenken – Als ich zur ersten heiligen Kommunion schritt, hatte Papa gerade den Pelz gestohlen. Großpapa war übrigens auch vorbestraft.

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A LFRED Und Mama? F ERDINAND Laß Mama! Sie hat uns geboren, und das genügt. A LFRED Stimmt. (Stille) F ERDINAND Auch wenn wir keine Brüder wären, hätt ich mich gefreut, wenn du freudig überrascht gewesen wärst. Rein menschlich. A LFRED Wenn du mich anpumpen willst, muß ich dir leider eröffnen, daß ich pleite bin. F ERDINAND Du warst noch nie menschlich. A LFRED Ich bin pleite. F ERDINAND Das tut mir aber leid. Rein menschlich. A LFRED Halts Maul. (Stille) F ERDINAND Ich hab mich emporgearbeitet. Durch Zufall. A LFRED (horcht auf.) Wie? F ERDINAND Durch Zufall. A LFRED Wie heißt der Mann? F ERDINAND Mir hat nämlich der liebe Gott geholfen. A LFRED Was verstehst du unter lieber Gott? F ERDINAND Zweitausend Mark. A LFRED (nähert sich ihm.) Wie war das? F ERDINAND (lächelt.) Ja. D ER K ELLNER (bringt A LFREDS Kännchen.) Wohin? A LFRED Dorthin – da. (Er setzt sich zu F ERDINAND .) D ER K ELLNER (stellt das Kännchen hin und spielt gelangweilt Billard.) A LFRED Und – Sag: Was machst du mit deinem lieben Gott? F ERDINAND Privatisieren. A LFRED Du könntest deinen lieben Gott verdoppeln. F ERDINAND Ah! A LFRED Verdoppeln. Garantiert. F ERDINAND Wer garantiert? A LFRED Ich. F ERDINAND Solche Geschäfte mach ich nicht. A LFRED Das sind durchaus korrekte Geschäfte. F ERDINAND Ich meine die Garantie. A LFRED Sofort! Erstens: Ich habe eine Agentur. Eine Stellenvermittlung nach Südamerika. Wenn man nur einen Teil deines lieben Gottes hätte, könnte man den Betrieb bedeutend rentabler ausbauen. F ERDINAND Was sind das für Stellungen? A LFRED Überwiegend Kindergärtnerinnen. F ERDINAND Schämst du dich nicht, mich für so dumm zu halten? A LFRED Pardon, wenn ich dich für dümmer hielt. (Stille) F ERDINAND Ich würde ja das Geschäft trotzdem machen, obwohl es rein menschlich natürlich nicht zu verantworten wäre, aber auch das Menschliche ist nicht absolut und daher die Konzessionen. Du siehst, ich hab mich mit Philosophie beschäftigt. A LFRED Jawohl. F ERDINAND Jetzt trink ich, zum Beispiel, ein Täßchen Kaffee, und wenn ich den lie-

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ben Gott verdoppeln könnte, dann wärs ein Kännchen. Es dreht sich oft nur um ein Kännchen im menschlichen Leben. A LFRED Jawohl. F ERDINAND Ich hab viel vom Leben gelernt und hätt nichts dagegen, wenn ich mir ein Kännchen bestellen könnt. A LFRED Du wirst dir eine Kaffeeplantage… F ERDINAND (unterbricht ihn.) Erzähl! A LFRED Gegenwärtig stehe ich gerade vor einem Abschluß. Mit der bekannten Firma Ibanez. In Parana. Ich kann aber leider nur die Hälfte der Transportkosten decken; könnte man die ganze Überfahrt bezahlen, so wäre dein lieber Gott in sechs Wochen verdoppelt. F ERDINAND Und die Garantie? A LFRED Bin ich. F ERDINAND Das ist mir zu gewagt. A LFRED Du bist doch mein Bruder. F ERDINAND Ich lege keinen Wert auf Familienanschluß. A LFRED Wiederhol mich nicht! Aber auch wenn wir keine Brüder wären – – rein menschlich. F ERDINAND Wiederhol mich nicht. (Stille) A LFRED Wer nichts wagt, verdoppelt auch nichts. F ERDINAND Ich bin kein Hasardeur. A LFRED Und wo bleibt dann dein Kännchen? F ERDINAND Das wär ja ein Grund. A LFRED Um was zu wagen. F ERDINAND Etwas Kühnes! A LFRED Grandioses! F ERDINAND Monte Carlo! A LFRED Gesprengt! Abgemacht? F ERDINAND Abgemacht. L UISE G IFT (kommt.) F ERDINAND Guten Abend, gnädige Frau! L UISE G IFT Grüß Gott! A LFRED (erblickt sie und zuckt zusammen; erhebt sich.) L UISE G IFT Komm mal her, bitte. A LFRED (nähert sich ihr.) Na? L UISE G IFT Kannst du es erraten, was ich jetzt am liebsten tun würde? A LFRED Nein. Und dann interessiert es mich auch nicht. L UISE G IFT Du hast wieder einmal dein Ehrenwort gebrochen. A LFRED Es interessiert mich nicht, Luischen. L UISE G IFT Du bist eine korrupte Kreatur. D ER K ELLNER (zu L UISE G IFT ) Was wünschen die Dame? A LFRED Nichts. L UISE G IFT Kaffee. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? L UISE G IFT Kännchen. D ER K ELLNER (ab) A LFRED Na denn Adieu!

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Ein RundEpilog um den Kongreß

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L UISE G IFT Halt! Hast du mir nicht dein Ehrenwort gegeben, daß du mir das Fräulein läßt? Daß du sie mir nicht wie die anderen – – A LFRED (unterbricht sie.) Ich bin Kaufmann. Mit Leib und Seele. L UISE G IFT Wenn sich das Fräulein nach Südamerika einschifft – A LFRED (unterbricht sie.) Dann? L UISE G IFT (grinst.) Ich meinte nur. A LFRED Der Zeigefinger hat mir nicht gefallen. L UISE G IFT Und er hat doch mal für dich geschworen – A LFRED Kusch. Erwähne ich denn mein Vorleben? L UISE G IFT Im eigenen Interesse? Kaum. A LFRED Kehre ich jemals den Fähnrich hervor? Betone ich jemals, daß ich eine Hoffnung der europäischen Filmindustrie war? L UISE G IFT (grinst.) Ein Bonvivant – – A LFRED Ich verbitte mir jede Verleumdung. Das war schon lange vorher. Du weißt, daß meine Augen die Jupiterlampen nicht ertragen konnten. Oder? L UISE G IFT Oder. A LFRED Luischen. Was wird denn, wenn sich das Fräulein nach Südamerika –? L UISE G IFT (grinst.) Zuchthaus. Zuchthaus. A LFRED Für dich? L UISE G IFT Für dich. A LFRED Luischen. Du hast mal einen Meineid geschworen. Einen korrekten Meineid. L UISE G IFT Für dich. A LFRED Egal. L UISE G IFT Mir ist alles egal. A LFRED Mir nicht. Merk dir das. L UISE G IFT Das weiß ich. Drum zeig ich dich ja an – A LFRED Nur kein Lärm – – L UISE G IFT Sonst? A LFRED Gib acht! Mir kann nämlich nichts passieren, denn dir fehlt der zwote Zeuge. L UISE G IFT (grinst.) Daß dich immer das Gesetz schützt – A LFRED Es gibt noch eine Justiz. L UISE G IFT Es wird auch noch Leute geben, die auf den zwoten Zeugen pfeifen – A LFRED Utopisten. Idealisten. Alles nur keine Realpolitiker! F ERDINAND Bitte, stell mich der Dame vor. A LFRED Mein Bruder Ferdinand – Frau Luischen Gift. F ERDINAND (verbeugt sich.) Ich hatte bereits das Vergnügen. L UISE G IFT Wir kennen uns. F ERDINAND Sehr erfreut! L UISE G IFT Seit wir uns gesehen haben, hat Ihr Bruder Alfred schon wiedermal sein Ehrenwort gebrochen. A LFRED (zu L UISE G IFT ) Ob du parierst? L UISE G IFT Daß du mich nicht anrührst, daß du mich nicht an – A LFRED Toll! Ich kann es mir tatsächlich nicht vorstellen, in welch sozialer Schicht du dich neuerdings bewegst, da du befürchtest, ich könnte ein Weib mißhandeln. L UISE G IFT Hast mich noch nie, was? A LFRED Nie. L UISE G IFT Und am siebzehnten März?

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Ein Epilog Rund um den Kongreß

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A LFRED (zu F ERDINAND ) Sie lügt. F ERDINAND (lächelt verlegen.) L UISE G IFT Bestie. A LFRED Kusch. (ab) D ER K ELLNER (kommt und stellt L UISE G IFTS Kännchen auf F ERDINANDS Tisch.) F ERDINAND (bietet L UISE G IFT Platz an.) Darf ich bitten – (Trommelwirbel in der Ferne) L UISE G IFT (erstarrt.) S CHMINKE (betritt rasch das Café Klups und setzt sich.) D ER K ELLNER (zu S CHMINKE ) Der Herr wünschen? S CHMINKE Kaffee. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? S CHMINKE Tasse. (Er zieht ein Manuskript aus seiner Tasche und korrigiert.) F ERDINAND (erkennt S CHMINKE .) (Abermals Trommelwirbel. Plötzlich ist alles beflaggt: Riesige Fahnen hängen in das Café Klups. Militärmusiktusch. Hochrufe und begeisterter Applaus in einem überfüllten Versammlungssaal) D ER K ELLNER (horcht.) F ERDINAND (fixiert S CHMINKE .) (Stille) L UISE G IFT (nähert sich tastend entsetzt DEM K ELLNER ; lallt.) Herr Doktor. Jetzt fang ich mich an zu fürchten, Herr Doktor. – D ER K ELLNER Ich bin kein Doktor. L UISE G IFT Hab ich Doktor gesagt? D ER K ELLNER Man soll sowas nicht vernachlässigen. L UISE G IFT Was? Du, warum ist denn plötzlich alles beflaggt? Ich hab so Angst vor diesen Fahnen – Weil dann sind auch im Spiegel lauter Fahnen, und dann merk ich, daß ich bald er – (Sie stockt.) D ER K ELLNER er –? L UISE G IFT Vor vier Wochen konnt ichs von hier aus noch lesen: „Für Damen“ – „Für Herren“ – Jetzt verschwimmts. Ich sehs nicht mehr. Mit der Zeit verschwimmt alles. Nicht? D ER K ELLNER Wahrscheinlich. L UISE G IFT Wie einfach sich das sagen läßt. Jetzt möcht ich eine Postkarte schreiben. D ER K ELLNER Nanu? L UISE G IFT (ist anderswo.) Kartengrüße. An mich selbst. F ERDINAND (zum K ELLNER ) Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Warum ist denn plötzlich alles beflaggt? D ER K ELLNER Um den Kongreß zu ehren. (Man hört wieder begeisterten Applaus.) F ERDINAND Was ist das für ein Kongreß? D ER K ELLNER Ein internationaler Kongreß. L UISE G IFT (lauernd) Was will denn der Kongreß? D ER K ELLNER Er will die Bekämpfung der Prostitution international organisieren mit besonderer Berücksichtigung des internationalen Mädchenhandels. L UISE G IFT (setzt sich.) D ER K ELLNER (stellt Tischfähnchen auf die Tische.) Laut einem Erlaß des Gesamtka-

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Rund um den Kongreß

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binetts und einer ortspolizeilichen Vorschrift muß alles beflaggt werden. Zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgt. L UISE G IFT (grinst irr.) Fahnen heraus! Fahnen heraus! D ER K ELLNER Ruhe! (Er horcht.) Wenn man nämlich sehr horcht, hört man den Kongreß reden, aber man muß ein feines Gehör haben. (Stille) D ER K ELLNER Jetzt spricht der Berichterstatter. L UISE G IFT Was erzählt er denn der Herr Berichterstatter? D ER K ELLNER Ich versteh nicht, was er sagt. Er spricht nämlich spanisch. F ERDINAND Nein, das ist portugiesisch. D ER K ELLNER Können Sie portugiesisch? F ERDINAND Nein. L UISE G IFT So. Also die Prostitution wollen Sie bekämpfen – D ER K ELLNER Genau wie am Kongo, so auch an der Spree. F ERDINAND Auch in Chile. D ER K ELLNER Auch in Kolumbien. F ERDINAND Auch in Ecuador. D ER K ELLNER Auch in Paraguay. F ERDINAND Auch in Uruguay. D ER K ELLNER Auch in Venezuela. F ERDINAND Auch in San Salvador. S CHMINKE Wo bleibt denn mein Kaffee? D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? S CHMINKE Tasse! L UISE G IFT Wer ist denn das? D ER K ELLNER Ein schlechter Mensch. F ERDINAND Haben Sie ihn vergessen, gnädige Frau? Das ist doch jener Herr, der einer verstorbenen Nutte dreiundfünfzig Mark schuldet. L UISE G IFT Was will denn dieser schlechte Mensch? D ER K ELLNER Eine Tasse. F ERDINAND Und dann will er die käufliche Liebe bekämpfen. L UISE G IFT Also ein Delegierter. (Sie erhebt sich.) D ER K ELLNER Aus Sumatra. F ERDINAND Aus Java. D ER K ELLNER Aus Parana! Aus Parana! L UISE G IFT (setzt sich an S CHMINKES Tisch und lächelt.) S CHMINKE (setzt sich an einen anderen Tisch.) (F ERDINAND und DER K ELLNER sehen interessiert zu.) L UISE G IFT (setzt sich wieder zu S CHMINKE und blickt in sein Manuskript.) S CHMINKE Sie wünschen? L UISE G IFT (lächelt.) Sie müssen deutlicher schreiben, sonst kennt sich ja keiner aus. Sie wollen doch den Mädchenhandel bekämpfen? S CHMINKE Ich bewundere Ihre Beobachtungsgabe. L UISE G IFT Oh, bitte! Herr! Nach Südamerika wird ein Fräulein verkauft. S CHMINKE Ich muß Ihnen leider sagen, daß ich mich für Einzelfälle nicht interessiere. Prinzipiell nicht. F ERDINAND Prinzipiell. S CHMINKE Ein derartiges Eingehen auf Einzelschicksale wäre lediglich zwecklose Zersplitterung. 462

Rund um den Kongreß

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L UISE G IFT Sie wollen sich also nicht zersplittern und lieber das Fräulein verkaufen – S CHMINKE (unterbricht sie.) Ich bin doch kein Kommissariat! Erstatten Sie Anzeige. L UISE G IFT Mir fehlt der zwote Zeuge. S CHMINKE Hätten Sie auch den zwoten Zeugen, könnte man meiner Überzeugung nach an dem Wesen der Dinge nichts ändern. Es ist doch völlig egal, ob sich das Fräulein in Südamerika oder in Mitteleuropa prostituiert. Der Mädchenhandel spielt ja auch eine sekundäre Rolle, das primäre ist die Prostitution und vor allem ihre Entstehung. (Stille.) L UISE G IFT Sie bekämpfen also prinzipiell die käufliche Liebe, junger Mann? S CHMINKE Wenn es Sie nicht stört: Ja. L UISE G IFT (grinst.) Es stört mich nicht, wenn du mich bekämpfst, Schnucki – S CHMINKE (zum K ELLNER ) Ich möchte endlich meinen Kaffee! D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? S CHMINKE Tasse! Tasse zum tausendsten Mal! D ER K ELLNER Nanana! (ab) F ERDINAND Ein schlechter Mensch. L UISE G IFT Nanana – Darf man fragen: Wie wird man hier eigentlich bekämpft? Mit dem Füllfederhalter? S CHMINKE Leider. L UISE G IFT (gehässig) Sie möchten wohl Reichspräsident werden? S CHMINKE Ich bitte zu berücksichtigen, daß ich eine Denkschrift korrigiere. An die Adresse des Kongresses. L UISE G IFT (ahmt ihn nach.) Ich bitte es zu berücksichtigen, daß ich von Ihrem Kongreß bekämpft werd. S CHMINKE Nicht Sie! Nur Ihr Beruf! L UISE G IFT Nur? Was soll ich denn, wenn der Kongreß meinen Beruf abschafft, he? Was kann ich denn? Ich muß wieder von vorn anfangen! (Sie ahmt ihn wieder nach.) Ich bitte es zu berücksichtigen, daß die ganzen Delegierten mich vernichten wollen, indem daß sie bloß immer vom großen S daherreden! Korrigieren Sie es in Ihrer Denkschrift, daß der Kongreß die wuchernden Hotels bestrafen soll! S CHMINKE (erhebt sich.) Das ist eine völlige Verkennung – L UISE G IFT Ein Skandal ist das! Ein Skandal! D ER K ELLNER (kommt mit S CHMINKES Tasse.) S CHMINKE Zahlen! D ER K ELLNER Dreiundfünfzig Mark. L UISE G IFT Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Eine tote Nutte bestehlen! F ERDINAND Prinzipiell.

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Ende des zweiten Bildes.

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Ein RundEpilog um den Kongreß

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S CHMINKE (wartet auf einem Platz voller Fahnen vor dem Kongreßsaal.) (Im Kongreßsaal wird begeistert applaudiert.) S CHMINKE (horcht; geht auf und ab.) D ER G ENERALSEKRETÄR (erscheint; er ist im Frack und sehr nervös.) Herr Schminke! S CHMINKE (eilt auf ihn zu.) D ER G ENERALSEKRETÄR Sie sind Herr Schminke? Ich bin der Generalsekretär des internationalen Kongresses für internationale Bekämpfung der internationalen Prostitution und habe enorm zu tun. Herr Schminke sind Presse? Ich bedauere es außerordentlich, daß Sie bei der Absendung der Pressekarten übersehen worden sind, denn ich und der Kongreß legen auf eine großzügige Zusammenarbeit mit der Presse den allergrößten Wert. Auf alle Fälle freut es mich ehrlich, Ihnen bereits heute mitteilen zu können, daß die aufopferungsvolle Arbeit des Kongresses bereits heute äußerst beachtliche Erfolge gezeitigt hat. So hat der Kongreß bereits bis heute zwölf Unterausschüsse eingesetzt, die die Reihenfolge der zur Diskussion stehenden Programmpunkte bestimmen sollen. Ja! S CHMINKE Es freut mich außerordentlich, daß die Reihenfolge der zur Diskussion stehenden Programmpunkte bereits heute bestimmt wird. D ER G ENERALSEKRETÄR Werden soll! Ja! S CHMINKE Und was die Absendung der Pressekarten betrifft, so würde ich mich allerdings außerordentlich wundern, wenn ich nicht übersehen worden wäre. D ER G ENERALSEKRETÄR Ja! S CHMINKE Und was die Bekämpfung der Prostitution betrifft – – D ER G ENERALSEKRETÄR (unterbricht ihn.) Ja! Na denn Hochachtung! (Er will ab.) S CHMINKE Halt! Es dreht sich hier nicht um Pressekarten! D ER G ENERALSEKRETÄR Sondern? S CHMINKE (überreicht ihm sein Manuskript.) D ER G ENERALSEKRETÄR Was ist das? S CHMINKE Eine Denkschrift. D ER G ENERALSEKRETÄR Was soll ich damit? S CHMINKE An die Adresse des Kongresses. D ER G ENERALSEKRETÄR Motto? S CHMINKE „Mit Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse verschwindet auch die aus ihnen hervorgehende offizielle und nicht offizielle Prostitution.“ D ER G ENERALSEKRETÄR Wer sagt das? S CHMINKE Das wissen Sie. (Stille) D ER G ENERALSEKRETÄR Ich weiß nichts. Lassen Sie die bürgerlichen Produktionsverhältnisse in Ruhe, Sie Kommunist! Ja! S CHMINKE Haben Sie den traurigen Mut zu leugnen, daß die Prostitution ausschließlich ein Produkt wirtschaftlicher Not ist? D ER G ENERALSEKRETÄR Nicht ausschließlich! S CHMINKE Zu neunundneunzig Prozent! D ER G ENERALSEKRETÄR Zu achtundneunzig! S CHMINKE Zu neunundneunzig! D ER G ENERALSEKRETÄR Zu hundert! Wenn Sie nämlich auch die seelische Not be-

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rücksichtigen wollen! Auch Königinnen leiden Not! Auch am Golfplatz wird gelitten! Ja! S CHMINKE Nur kein Pathos. D ER G ENERALSEKRETÄR Es ist mir bekannt, daß gewisse Elemente jede Regung seelischer Not als bürgerliches Vorurteil verhöhnen. Ja! Also: Ich bestätige hiermit den Einlauf Ihrer sogenannten Denkschrift, die der Kongreß zu den Akten legen wird, da die Prostitution bekanntlich unausrottbar, ja kaum bekämpfbar ist, weil das Prinzip der käuflichen Liebe zu tief in uns verankert ist, man möchte fast sagen: Die käufliche Liebe ist ein wesentlicher Bestandteil des Menschlichen schlechthin. Ja! S CHMINKE Sie verteidigen die Prostitution? D ER G ENERALSEKRETÄR Sie zwingen mich dazu! Ja! S CHMINKE Nein. D ER G ENERALSEKRETÄR Bringen Sie mich nicht aus dem Konzept, Sie! S CHMINKE Was soll denn der ganze Kongreß?! D ER G ENERALSEKRETÄR Organisieren! Die internationale Bekämpfung der internationalen Prostitution international organisieren. Ja! (Er will rasch ab, kehrt aber plötzlich um und fixiert S CHMINKE .) Was haben Sie soeben gesagt? S CHMINKE Kritik. D ER G ENERALSEKRETÄR Ich warne Sie. S CHMINKE Danke. D ER G ENERALSEKRETÄR Bitte. Ich warne Sie zum zweiten Male. Der Kongreß streitet Ihnen das moralische Recht zur Kritik kraft seines guten Willens glatt ab, und Ihr politisches Recht verstößt gegen die Verfassung. Ich warne Sie zum dritten Male. Wenn Sie Ihren Platz nicht schleunigst verlassen, so lasse ich ihn räumen. Ja! S CHMINKE (rührt sich nicht.) D ER G ENERALSEKRETÄR Also: Wollen Sie freiwillig folgen? S CHMINKE Nennen Sie das freiwillig? D ER G ENERALSEKRETÄR Ich fühle mich voll der Langmut, und Sie tragen die Konsequenz. Ich warne Sie zum vierten Male. S CHMINKE Zum fünften Male. D ER G ENERALSEKRETÄR Zum sechsten Male! Ich zähle noch bis zehn. Bei zehn stehen Sie an der Wand. Garantiert. Der Kongreß ist zwar gut, aber streng und infolgedessen gerecht. Ja! (Er zählt.) Sieben. Acht. Neun. Nun? S CHMINKE Zehn. D ER G ENERALSEKRETÄR Schweigen Sie! Wer zählt da?! Wer zählt da im wahren Sinne des Wortes?! Ich oder Sie?! S CHMINKE Zehn. D ER G ENERALSEKRETÄR So schweigen Sie doch, Sie Fanatiker! Das könnte Ihnen so passen, den Märtyrer zu markieren! Der Kongreß will keine Heiligenscheine, Herr! Und ich persönlich kann keiner Fliege ein Haar krümmen und bin zu guter Letzt nur ein Angestellter, der davon lebt, daß er für den Kongreß verantwortlich zeichnet! Wie wärs mit einem Kompromiß? S CHMINKE Ich zähle. D ER G ENERALSEKRETÄR Herr Schminke. Ich bin Familienvater, und wenn Sie den Platz nicht räumen, wird mir zum ersten gekündigt. S CHMINKE Ich möchte sehen, ob der Kongreß den Mut hat, mich bei zehn an die Wand zu stellen. 465

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D ER G ENERALSEKRETÄR Natürlich hat der Kongreß den Mut, aber ich trage die Verantwortung, Sie verantwortungsloses Subjekt! Sie tragen natürlich keine Verantwortung, wenn Sie erschossen werden! „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ – auch sone Literatenerfindung! Ja! S CHMINKE (zählt.) – – sieben, acht, neun, zehn! (Trommelwirbel) D ER G ENERALSEKRETÄR (hält sich verzweifelt die Ohren zu.) S OLDATEN (mit Gasmasken und aufgepflanztem Seitengewehr erscheinen im Hintergrunde.) D ER G ENERALSEKRETÄR Le Kladderradatsch! H AUPTMANN (tritt vor und spricht österreichisch.) Pardon, meine Sährverehrten! Mir scheint, als hätt hier wer bis zehn gezählt – A servus, Herr Generalsekretär! Na was machtn der Kongreß? Beratn? So? Apropos Kongreß: Die Henriett laßt si scheidn. Die Schwester von der Henriett is die Josephin. Und die Schwester von der Josephin is die Pojdi. S CHMINKE Hauptmann! Ich habe bis zehn gezählt und fordere, füsiliert zu werden. (Stille) H AUPTMANN (starrt S CHMINKE an; er spricht plötzlich preußisch.) Wa? Wie? Wer istn dieser Kümmeltürke? D ER G ENERALSEKRETÄR Er bekämpft die bürgerliche Produktionsweise. H AUPTMANN (österreichisch) Bürgerliche Produktionsweis? Weiß der Teifl, was das is! Apropos Produktionsweis: Die Christl heirat an Judn. S CHMINKE Na wirds bald? H AUPTMANN (preußisch) Halten Sie die Fresse, Lausejunge! Kümmeltürke! S CHMINKE Ich fordere, füsiliert zu werden! H AUPTMANN (preußisch) Fresse, Fresse! Hier wird nicht jefordert, hier wird jehorcht! Disziplin! Kümmeltürke, Kümmeltürke! D ER G ENERALSEKRETÄR Ich heiße Pontius Pilatus und wasche meine Hände in Unschuld. Mein Name ist Hase, und für Tumultschäden durch höhere Gewalt trägt ausschließlich jener Kümmeltürke die Verantwortung! Ja! H AUPTMANN (österreichisch) Aber mein sehr verehrter Herr von Hase, aber das is doch ganz wurscht, wer die Verantwortung trägt. (Er kommandiert.) Stillgestanden! S OLDATEN (stehen still.) H AUPTMANN (österreichisch) Wollns der Exekution beiwohnen, Herr von Hase? D ER G ENERALSEKRETÄR Danke, nein. Ich kann keine Exekution sehen, ich leide nämlich an einem nervösen Magen. H AUPTMANN (österreichisch) Geh, wer wirdn so verweichlicht sein, Herr von Hase! Oder sans gar gegn die Todesstraf? D ER G ENERALSEKRETÄR Oh, nein! H AUPTMANN (österreichisch) Wissens, so a Delinquenterl is halt nur a arms Hascherl, aber man muß ihm halt derschießn, wo bleibtn sunst die Autorität? Es muß halt sein, in Gotts Namen! D ER G ENERALSEKRETÄR Amen! (rasch ab) H AUPTMANN (kommandiert.) Zum Gebet! S OLDATEN (beten.) S CHMINKE (steht mit dem Rücken zum Publikum an einer imaginären Wand.) H AUPTMANN (kommandiert.) Legt an! Feuer!

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S OLDATEN (füsilieren S CHMINKE .) (Im Kongreßsaal wird begeistert applaudiert.) S CHMINKE (bleibt unbeweglich aufrecht stehen.) H AUPTMANN (kommandiert.) Weggetreten! S OLDATEN (ab) H AUPTMANN (zündet sich eine Zigarette an.) (In einer kleinbürgerlichen Wohnung erklingt der Donauwalzer: Klavier und Violine.) H AUPTMANN (summt mit.) S CHMINKE (nähert sich ihm langsam.) Hauptmann. H AUPTMANN Pardon! Mit wem hab ich die Ehr? S CHMINKE Sie haben mich doch soeben füsiliert. H AUPTMANN Ah, der Herr von Schminke! Aba freilich, i hab Sie ja jetzt grad hingricht. Aba wissens, Herr von Schminke, mit sowas is dann für mich so ein Fall erledigt. Sie san für Ihre Sachn bestraft, und wenn aner für seine Untaten gebüßt hat, so is die Sach für mich akkurat erledigt. I trag niemand was nach. Es is ganz so, als wär nix geschehn. Darf i Ihnen a Zigarettn –? (Er bietet ihm eine an.) S CHMINKE Sie irren sich. Ich bin ja tot. H AUPTMANN (starrt ihn an.) A so, ja. Aba natürlich! S CHMINKE Ich bitte Sie nur zu berücksichtigen, daß Sie mich erledigen konnten, daß man aber eine Idee nicht töten kann. H AUPTMANN Was meinens denn für a Idee? S CHMINKE Haben Sie Angst? H AUPTMANN Aba Herr von Schminke! S CHMINKE Ich bin kein Herr. Ich bin eine Idee. H AUPTMANN Also wissens, vor aner Idee hab i schon gar ka Angst. S CHMINKE Es gab einmal einen römischen Hauptmann, der sagte: „So stirbt kein Mensch.“ Und damit sagte er bereits – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Na was werd er scho gsagt habn, der römische Rittmeister? S CHMINKE Daß er die neue Welt sieht. H AUPTMANN Amerika? S CHMINKE Nein. (Stille) H AUPTMANN (begreift plötzlich.) A so. S CHMINKE Ja. (Stille) S CHMINKE Auf Wiedersehen! (ab) H AUPTMANN (zum Publikum) Also die neue Welt, des warn die Katholikn, und die ajt Welt, des warn die Judn, respektive die Antike. Die war a scho morsch, man muß ja bloß an die Ausschweifungen der Remerinnen denkn… (Er denkt.) Aba pensionieren hat er si do net laßn, der remische Rittmeister, wenn er a den allgemeinen Verfall, gewissermaßen Vision … A! Redn mer von was anderm!

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F ERDINAND (wartet im Hafen, dort wo man nach Südamerika fährt. Alle Schiffe sind reich beflaggt. Er steht unter einem Transparent: „Willkommen zum internationalen Kongreß für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels“.) E IN P OLIZIST (kommt.) F ERDINAND Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Ist denn schon neunzehn Uhr? D ER P OLIZIST Wenn die Sirene dort oben heult, dann ist es neunzehn. F ERDINAND Wo? D ER P OLIZIST (deutet nach oben.) Dort. (Stille) F ERDINAND Ich seh keine Sirene. D ER P OLIZIST Ich seh sie aber deutlich. F ERDINAND Ich bin nämlich kurzsichtig. D ER P OLIZIST Ich nicht. (Die Sirene heult. Stille) D ER P OLIZIST Jetzt ist es neunzehn. F ERDINAND (verbeugt sich.) Danke. D ER P OLIZIST (salutiert.) Bitte! (ab) F ERDINAND (sieht ihm nach.) Ein guter Mensch. A LFRED (kommt; grüßt kurz und lautlos.) F ERDINAND (grüßt infolgedessen auch lautlos.) (Stille) A LFRED (mißtrauisch) Das war doch ein Polizeipräsident? F ERDINAND Möglich. A LFRED Was wollt er von dir? F ERDINAND Nichts. Ich wollt was von ihm. A LFRED Erniedrig dich nicht. F ERDINAND Ich hab nur gefragt, ob es schon neunzehn ist – A LFRED Ich bin pünktlich. F ERDINAND Ich auch. A LFRED Hast dus dabei. F ERDINAND Ja. Ja. (Er lächelt verschämt.) A LFRED (fixiert ihn.) Den ganzen lieben Gott? F ERDINAND (verlegen) Ja. Nein. Ich hab mir nämlich gedacht, daß vielleicht vorerst auch der halbe liebe Gott reichen könnte, dürfte, müßte, sollte – – (Stille) A LFRED Trottel. F ERDINAND Bitte? A LFRED Na gib schon her. F ERDINAND (gibt ihm den halben lieben Gott.) A LFRED (zählt die Scheine, steckt sie ein und quittiert.) Da. (Er atmet auf.) Endlich Luft. Als kleiner Kaufmann erwürgt dich die Konkurrenz, aber schon mit einem halben lieben Gott in der Tasche kann man an die Gründung des Konzerns – (Er sinniert.) Unberufen! F ERDINAND Glück auf!

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A LFRED Kusch. (Stille) F ERDINAND Was bin ich jetzt eigentlich? A LFRED Mein Teilhaber. Mein Mitdirektor. Mein Aufsichtsrat! (Er reicht ihm die Hand.) F ERDINAND (schlägt ein.) Alfred! A LFRED Unberufen! F ERDINAND Glück auf! A LFRED Kusch! Man soll sowas nicht verschrein! F ERDINAND Man darf doch noch gratulieren – A LFRED (entdeckt das Transparent, starrt es fasziniert an und buchstabiert.) – „Internationaler Kongreß – Bekämpfung – des Mädchenhandels – – Willkommen“ – Willkommen? F ERDINAND Ja. A LFRED Was soll denn das? F ERDINAND Das ist der Kongreß. A LFRED Das aber peinlich. Hoffentlich kein Omen. Ausgerechnet am Tag der Geschäftserweiterung – „Willkommen“? – Der Kongreß kann uns ja zwar nichts, jedoch, aber, trotzdem, dennoch, infolge – F ERDINAND Wann krieg ich nun mein Kännchen? A LFRED Was für Kännchen? F ERDINAND Mein Kännchen Kaffee. Ich hab mich doch nur deshalb beteiligt. Was ich tu, ist doch alles nur um ein Kännchen. A LFRED Und mit sowas ist man verwandt. F ERDINAND Du kannst doch nichts dafür. A LFRED Trottel. F ERDINAND Bitte? (Stille) A LFRED (leise) Ich kann dich nicht länger vertragen. F ERDINAND Bitte? A LFRED (laut) Geh in das Café Klups und bestell dir dein Kännchen. Du bist mein Gast. F ERDINAND (starrt ihn erschüttert an.) Verzeih mir, bitte, lieber Bruder. A LFRED Was denn? F ERDINAND Daß ich dich für schlechter hielt, als du bist. Ich hätt es wirklich nicht gedacht, daß du soviel Herz hast. Ich danke dir. Ich werds dir nie vergessen. (Er will ab, hält jedoch plötzlich.) Verzeihung. Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Wie komm ich nun am besten in das Café Klups? A LFRED Du bist schon richtig. F ERDINAND Auf Wiedersehen! (ab) A LFRED (sieht auf seine Uhr und will ab.) L UISE G IFT (erscheint und versperrt seinen Weg.) A LFRED (fixiert sie, ohne zu grüßen.) (Stille) L UISE G IFT Lach mich nicht aus, bitte. A LFRED (grinst.) Du Krüppel. Du Mißgeburt. (schroff) Weg! Ich hab ein Rendezvous. L UISE G IFT Mit dem Fräulein?

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A LFRED Wahrscheinlich. L UISE G IFT Es ist mir aus den Augen gekommen, das Fräulein. A LFRED (ungeduldig) Aus den Augen – L UISE G IFT – aus dem Sinn. A LFRED (horcht auf.) Tatsächlich? L UISE G IFT (nickt; ja) A LFRED Gratuliere. (Er sieht wieder auf seine Uhr und will rasch ab.) L UISE G IFT Alfred! Ich wollt dich nur um eine Minute bitten – A LFRED Eine Minute hat sechzig Sekunden. Sechzig ist viel. (Er schreit sie an.) Einen anderen Kopf, wenn man bitten darf, ja?! L UISE G IFT Ich schneid sofort ein lustiges Gesicht, wenn ich weiß, daß du mir verzeihst – A LFRED Das zuvor? Eine Drohung ohne zwoten Zeugen? Quatsch, ich bin nicht kleinlich. L UISE G IFT Schlag mich. (Stille) A LFRED (fixiert sie mißtrauisch und nähert sich ihr.) L UISE G IFT Schlag mich. A LFRED Nein. L UISE G IFT Quäl mich nicht, schlag mich. A LFRED Warum? L UISE G IFT Weil ich es verraten hab, daß du das Fräulein nach Südamerika verkaufst – Schlag mich. (Stille) A LFRED (langsam lauernd) Wem hast du mich verraten? L UISE G IFT Dem Kongreß. A LFRED Und? L UISE G IFT Zuerst hab ichs einem Delegierten verraten, aber der wollt nichts davon wissen, der war nämlich so prinzipiell – Und dann hab ich das Fräulein überall gesucht und nirgends gefunden, und dann hats mich gepackt – (Sie brüllt.) Im Kopf hats mich gepackt, im Kopf – (Sie wimmert.) – Da bin ich zum Kongreß und habs dem Herrn Generalsekretär verraten – A LFRED Und was meinte der Herr Generalsekretär? L UISE G IFT Er war sehr höflich, der Herr Generalsekretär, und hat mich hinausbegleitet, und dann hat er gemeint, ohne Zeugen könnt man zwar nichts wollen, aber er will dennoch den Fall aufgreifen, hat er gemeint – in irgendeiner Form – (Stille) A LFRED (kneift sie in den Arm.) L UISE G IFT Au! Au! Au – (Stille) A LFRED Das war perfid. L UISE G IFT Ich widerrufs. Ich schwörs ab. A LFRED Hyäne. L UISE G IFT Verzeihs mir, bitte. Bitte. A LFRED Nein ich schlag dich nicht. L UISE G IFT Bitte schlag mir ins Gesicht. Mit der Faust. A LFRED Rechts oder links? L UISE G IFT Mitten ins Gesicht – bitte –

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(Stille) A LFRED Du riechst aus dem Mund. Nach Schnaps. L UISE G IFT Ich werd es wiedergutmachen – A LFRED Kannst du es ungeschehen machen? Nein, sagt Strindberg, der schwedische Dichter. L UISE G IFT Bitte. Sonst bin ich allein. A LFRED Ich nicht. L UISE G IFT Lüg nicht. Lach mich nicht aus, bitte. (Stille) A LFRED Wir wollen sachlich bleiben. Wir wollen uns nicht weh tun, lösen wir unsere Liaison, die uns viele reine Freude brachte, sanft und korrekt, um uns ohne bitteren Geschmack rückerinnern zu können. Schau, Luischen, ich bin jung, und du bist alt. Du darfst es nicht forcieren, daß ein normal immerhin entwickelter junger Mann sich zeitlebens an dich kettet. Es hat keinen Sinn, daß ich dir verzeihe, denn einerseits kannst du mir nur mehr Unannehmlichkeiten bereiten, und andererseits kannst du mir nicht mal mehr nützen. Mir hat nämlich der liebe Gott geholfen. Weißt du, was das heißt? L UISE G IFT Nein, das weiß ich wirklich nicht. Lach mich nur aus – A LFRED Das sieht nur so aus. (ab) L UISE G IFT (allein) Futsch. (Stille) L UISE G IFT Er war ja sogar höflich. – Radikal futsch. (Stille) L UISE G IFT Was hat der gesagt? Der liebe Gott hat ihm geholfen? – Wenn es einen lieben Gott gibt – Was hast du mit mir vor, lieber Gott? Hörst du mich, lieber Gott? – Du weißt, ich bin in Düsseldorf geboren. – Lieber Gott, was hast du mit mir vor, lieber Gott –? (In der Ferne spielt eine Jazzband und nähert sich; der Hafen verwandelt sich in das Café Klups; die Gäste, meist Prostituierte, Rennsachverständige und Zuhälter lassen sich vom K ELLNER bedienen; ein neues Transparent taucht auf: „Tanz im Café Klups. Betrieb! Stimmung! Laune!“; die Jazzband betritt das Podium.) L UISE G IFT (ist es, als würde sie all das träumen.) (Allgemeiner Tanz im Café Klups) D ER P OLIZIST (wächst aus dem Boden und hebt die Hand.) Halt! (A LLES verstummt.) D ER K ELLNER (verbeugt sich vor DEM P OLIZISTEN .) D ER P OLIZIST (schnarrt.) Wo ist denn das Tischfähnchen? Hier fehlt doch irgendwo ein Fähnchen – zu Ehren des Kongresses. D ER K ELLNER Hier fehlt kein Fähnchen. D ER P OLIZIST Hier fehlt ein Fähnchen – und zwar auf dem dritten Tische links hinten an der rechten Wand gegenüber – dieser Dame! (Er deutet ruckartig auf L UISE G IFT.) L UISE G IFT (heult auf.) Nein! Nein! Ich kann doch nichts dafür!! D ER P OLIZIST Das kann jede sagen! Jede sagen! L UISE G IFT Ich bin unschuldig, Herr Wachtmeister! Ich kann nichts für das Fähnchen! Ich hab noch keinem Fähnchen was getan – (Sie wimmert.) D ER P OLIZIST Kennen wir! Kennen wir! (Er zieht sein Notizbuch.) Ihr Name?

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Ein RundEpilog um den Kongreß

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D ER K ELLNER Herr Polizeipräsident! Überzeugen Sie sich doch persönlich. Darf man bitten – D ER P OLIZIST (eilt an den bezeichneten Tisch und hält ruckartig.) Hm. Der Tisch ist allerdings beflaggt. Das Fähnchen flattert im vorschriftsmäßigen Winde, jedoch – D ER K ELLNER (unterbricht ihn, fährt ihn an.) Was wollen Sie denn?! Was wollen Sie denn?! D ER P OLIZIST Kaffee. (Er nimmt Platz an dem Tischchen.) Vorerst. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? D ER P OLIZIST (bösartig) Hüten Sie sich vor mir. D ER K ELLNER Also Kännchen? D ER P OLIZIST Natürlich Kännchen! Natürlich! D ER K ELLNER (ab) (Allgemeiner Tanz im Café Klups) D AS F RÄULEIN (erscheint und spricht mit DEM K ELLNER .) L UISE G IFT (erkennt sie und horcht.) D AS F RÄULEIN Kennen Sie einen Herrn Alfred? D ER K ELLNER Herr Alfred müßte schon hier sein. Was wollen Sie? Kaffee, Tee, Schokolade – D AS F RÄULEIN Kaffee. D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? D AS F RÄULEIN Ist mir gleich. (Sie erblickt L UISE G IFT .) L UISE G IFT Herr Alfred müßte schon hier sein. D AS F RÄULEIN So laß mich doch! L UISE G IFT (zum K ELLNER, tonlos) Schnaps. D ER K ELLNER Ha? L UISE G IFT (tonlos) Schnaps. Den billigsten Schnaps. (Sie faßt sich an den Kopf und wankt.) D ER K ELLNER Ist Ihnen schlecht, Frau Baronin? L UISE G IFT (rülpst.) Vielleicht, Herr Baron. – Es dreht sich, als hätt ich schon zuviel Schnaps – Das war ein billiger Schnaps – der billigste. (Sie rülpst wieder und nähert sich torkelnd DEM F RÄULEIN .) Jetzt ists vorbei. Radikal. D AS F RÄULEIN Freut mich. L UISE G IFT Sei nicht grausam, bitte. D AS F RÄULEIN Es freut mich für dich. L UISE G IFT Das ist schön von dir. (Sie rülpst – horcht, rülpst noch mal.) Hörst du mich? D AS F RÄULEIN Das ist Schnaps. L UISE G IFT Billigster Schnaps. Nur um den Kummer zu löschen, den Kummer – Du wirst mich mal verstehen – D AS F RÄULEIN Ich verzichte. L UISE G IFT Ich auch. Ich verpfusch dich nicht, vielleicht findet mal eine in Südamerika das Glück. – Ich wünsch es dir. D AS F RÄULEIN Bitte, schau mich nicht an. L UISE G IFT Gestern hab ich ein Gedicht verfaßt. Ich kann nämlich auch dichten. Wenn ich allein bin, dann dicht ich manchmal. Hier hab ichs. (Sie entfaltet einen Zettel und liest.) „Und ich suche und suche dich, du meine Seele, mein besseres Ich.“ Das ist das Gedicht. D AS F RÄULEIN Das aber kurz.

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L UISE G IFT Aber romantisch. Nimm es mit dir über das Meer. Über das romantische Meer. (Sie rülpst.) Und verlier es nicht. D AS F RÄULEIN (steckt den Zettel ein.) L UISE G IFT Wann fährst du? D AS F RÄULEIN Das weiß nur Alfred. L UISE G IFT Und sein lieber Gott. (Pause) L UISE G IFT Gute Reise! D AS F RÄULEIN Danke. L UISE G IFT (will ab, wendet sich aber nochmals DEM F RÄULEIN zu.) Was ich noch fragen wollte –: Wo hast du heut nacht geschlafen? D AS F RÄULEIN Warum? L UISE G IFT Ich möcht dort vorbeigehen. D AS F RÄULEIN Ich hab zwölf Mark verdient. L UISE G IFT Zwölf? – In deinem Alter hab ich das auch verdient. Umgerechnet, denn damals war ja alles billiger. Bin ich sehr häßlich? D AS F RÄULEIN Nein. L UISE G IFT (rülpst und ab.) (Allgemeiner Tanz im Café Klups) A LFRED (betritt das Café Klups, entdeckt DAS F RÄULEIN , zieht sich mit ihr in eine Ecke zurück, das heißt: in den Vordergrund.) Der Paß ist in Ordnung. Ditto die Karte. Zwischendeck. Morgen früh. D AS F RÄULEIN (betrachtet den Paß.) Was bin ich? Kindergärtnerin? A LFRED Geben Sie acht! Wir werden beobachtet. D AS F RÄULEIN Ich wollt mal Kindergärtnerin werden. A LFRED Wenn Sie drüben sind, so grüßen Sie Herrn Ibanez, und richten Sie, bitte, meine besten Empfehlungen an seine werte Gemahlin aus. D AS F RÄULEIN Ist Herr Ibanez verheiratet? A LFRED Sehr sogar. Er macht nichts ohne seine Frau. Sie brachte zwei Pariser Bordelle mit in die Ehe, und er hat nämlich nur die Nutznießung. D AS F RÄULEIN Wie sieht er denn aus, der Herr Ibanez? A LFRED Er könnt Generalsekretär sein. D ER G ENERALSEKRETÄR (betritt rasch das Café Klups.) D ER K ELLNER Sie wünschen? Kaffee, Tee, Schokolade – D ER G ENERALSEKRETÄR Ich suche einen gewissen Herrn Alfred. D ER K ELLNER Was wollen Sie von ihm? D ER G ENERALSEKRETÄR Das werde ich ihm selbst sagen. D ER K ELLNER Ein gewisser Herr Alfred ist mir unbekannt. D ER G ENERALSEKRETÄR Leugnen Sie nicht! Ich weiß alles! Ja! A LFRED (tritt vor.) Na was wissen Sie denn schon? Wer sind denn Sie? Ich bin der Gewisse. D ER G ENERALSEKRETÄR Ich bin der Generalsekretär des internationalen Kongresses für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels – A LFRED (unterbricht ihn.) Es gibt keine Mädchenhändler! D ER G ENERALSEKRETÄR Sondern? A LFRED Na was wissen Sie denn schon? D ER G ENERALSEKRETÄR Sie irren sich! Ich komme keineswegs mit feindlicher Absicht, ich spreche lediglich im Namen der zivilisierten Nationen. Der Kongreß hat

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soeben einstimmig beschlossen, Damen und Herren aus dem Personenkreise der Prostitution über die Prostitution zu befragen, um die Prostitution wirksam bekämpfen zu können. Im Namen des Kongresses fordere ich Sie auf, an der Verwirklichung unserer hohen Ideale mitzuarbeiten! A LFRED Muß es sein? D ER G ENERALSEKRETÄR Ihr Mißtrauen entbehrt jeder Begründung. Der Kongreß appelliert lediglich an den korrekten Fachmann in Ihnen. Der Kongreß weiß, daß ein Fräulein nach Südamerika verkauft wird, und der Kongreß bittet Sie durch mich, ihm Gelegenheit zu gewähren, jenes Fräulein befragen zu können. Der achte Unterausschuß interessiert sich nämlich durch Mehrheitsbeschluß plötzlich für die psychologische Seite. Sozusagen die rein menschliche. Es dürfte ja voraussichtlich nur akademischen Wert – A LFRED (unterbricht ihn.) Jenes Fräulein fährt in sechs Stunden. D ER G ENERALSEKRETÄR Dann bitte ich Sie, jenes Fräulein sofort vor dem Kongreß erscheinen zu lassen. Es steht zwar ein Bankett auf dem Programm, aber zwischen den Gängen – A LFRED (unterbricht ihn wieder.) Garantieren Sie? D ER G ENERALSEKRETÄR Natürlich. Ja! A LFRED Falls aber jenes Fräulein die Überfahrt versäumt – D ER G ENERALSEKRETÄR – werden Ihre Verluste ersetzt. A LFRED Zu hundert Prozent. D ER G ENERALSEKRETÄR Natürlich! Ja! (Pause) A LFRED Was zahlen Sie, wenn jenes Fräulein vor dem Kongreß erscheint? D ER G ENERALSEKRETÄR Pardon! Es dreht sich doch nur um Informationen – A LFRED Egal! Wer lernt umsonst? Nicht unter fünfzig Mark. D ER G ENERALSEKRETÄR Vierzig Mark. A LFRED Fünfzig. D ER G ENERALSEKRETÄR Fünfundvierzig. A LFRED Fünfzig. D ER G ENERALSEKRETÄR Achtundvierzig. A LFRED Schämen Sie sich. D ER G ENERALSEKRETÄR Der Kongreß muß sparen, und so kann ich mich nicht schämen. Ich bin Beamter. A LFRED Ein sparsamer Mensch. D ER G ENERALSEKRETÄR Achtundvierzig? A LFRED Nehmen Sie es zu Protokoll, daß ich dem Kongreß zwo Mark schenke. Für Wiederinstandsetzung gefallener Mädchen. D ER G ENERALSEKRETÄR Ich danke Ihnen für Ihre hochherzige Stiftung im Namen des Kongresses. (Er grinst, verbeugt sich und ab.) F ERDINAND (betritt das Café Klups, setzt sich und klopft mit dem Spazierstock auf den Tisch; fröhlich) Kaffee! Kaffee! Kaffee! D ER K ELLNER Tasse oder Kännchen? F ERDINAND Ein Kännchen! Auf Herrn Alfreds Rechnung! D ER K ELLNER Das kann jeder sagen. F ERDINAND Herr Alfred ist mein Bruder, Herr! D ER K ELLNER (zu A LFRED ) Alfred! Kann das dein Bruder sein? D AS F RÄULEIN (erblickt F ERDINAND , schreit gellend auf und taumelt zurück.)

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Ein Epilog Rund um den Kongreß

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(A LLES verstummt.) F ERDINAND (ist aufgesprungen und starrt DAS F RÄULEIN an.) – Nein, so ein Zufall – ein Zufall – (Stille) A LFRED Kennt Ihr Euch? F ERDINAND Jawohl. A LFRED Wie kennt Ihr Euch? D AS F RÄULEIN (hat sich gefaßt.) Ich bin nur erschrocken. F ERDINAND Ist das jenes Fräulein, das wir nach Südamerika verkaufen? A LFRED Yes. F ERDINAND Komisch. A LFRED Wieso? F ERDINAND Das Fräulein war mal nämlich meine Frau. D AS F RÄULEIN (rasch ab) A LFRED (ihr nach) F ERDINAND (sieht ihnen nach, setzt sich dann mechanisch und nippt von seinem Kaffee.) (Musiktusch)

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Ende des vierten Bildes.

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D ER K ONGRESS (beim Bankett mit diskreter Tafelmusik von Mozart) (Fressen und Saufen) D ER G ENERALSEKRETÄR (erhebt sich nervös.) Hochzuverehrender Herr Präsident! Mit ehrlicher Ehrfurcht, rein menschlichem Stolz und tatsächlich aufrichtiger Dankbarkeit dürfen wir im Namen unserer Nachwelt die überragenden Verdienste des Kongresses rühmend erwähnen und feiern. Ja! E IN L AKAI (läßt eine Schüssel fallen, die klirrend zerbricht.) D ER K ONGRESS (zuckt nervös zusammen.) D ER G ENERALSEKRETÄR Das Unselbstische unserer Arbeit bietet die beste Gewähr für den endlichen Sieg unserer Ideale, den Triumph des An-sich-Seelischen über das An-sich-Körperliche, – E IN D ELEGIERTER (mit vollem Maul) Bravo! Bravo! E INE D ELEGIERTE Hört! Hört! D ER G ENERALSEKRETÄR – die Herrschaft der gereinigten Liebe und die unwiderrufliche Ausrottung der käuflichen Fleischeslust. Ja! Und so erhebe ich nun im Namen des Kongresses mein Glas auf das geistige Wohl unseres hochverdienten Präsidenten, des Generaldirektors der Vereinigten künstlichen Ölwerke, des wirklichen Geheimen Rates Dr. Dr. honoris causae! D ER K ONGRESS Hoch! Hoch! Hoch! (Fressen und Saufen) E IN D ELEGIERTER (leise zu SEINEM N ACHBAR ) Wie heißt der Präsident? S EIN N ACHBAR Honoris Causae. D ER D ELEGIERTE Das klingt romanisch.

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D ER N ACHBAR Ist aber ein guter Deutscher. D ER P RÄSIDENT (erhebt sich.) Mein Kongreß! Indem ich mir erlaube, für das mir dargebrachte seltene Vertrauen zu danken, begrüße ich vor allem den anwesenden Vertreter des Kriegsministeriums. H AUPTMANN (der in dieser Eigenschaft am Bankett teilnimmt, verbeugt sich leicht.) E INE D ELEGIERTE Hurra! D ER P RÄSIDENT Hoffen wir auf die tatkräftige Hilfe der beteiligten Ressorts. Dann bin ich überzeugt, daß wir bis zum nächsten Kriege gewaltige Fortschritte erzielt haben werden. Danke meine Damen und Herren! (Er setzt sich.) D ER K ONGRESS (erhebt sich, trinkt sich zu und setzt sich.) (Fressen und Saufen) E IN L AKAI (eilt herbei und überbringt DEM G ENERALSEKRETÄR ein Telegramm.) D ER G ENERALSEKRETÄR (öffnet es hastig, liest und erbleicht.) D ER K ONGRESS (starrt ihn erwartungsvoll an.) D ER G ENERALSEKRETÄR (erhebt sich.) Leider hat es Gott dem Allmächtigen laut seines unerforschlichen Ratschlusses gefallen, ausgerechnet den Vertreter des Wohlfahrtsministeriums soeben vom Schlage treffen zu lassen. Ja! (Er setzt sich.) E IN D ELEGIERTER Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse –? E IN ANDERER D ELEGIERTER Oh, bitte! D ER ERSTE D ELEGIERTE Oh, danke! (Fressen und Saufen) E IN DRITTER D ELEGIERTER Ja da nimmt man am besten etwas Sahne und röstet die Zwiebel – Kennen Sie Mazzesknedl? E INE D ELEGIERTE Ach! Betreffs der körperlichen Ertüchtigung unserer Jugend bin ich nämlich Laie. E IN VIERTER D ELEGIERTER Wie interessant! Wie interessant! D ER ERSTE D ELEGIERTE Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse –? E IN FÜNFTER D ELEGIERTER Da lob ich mir eine Weltanschauung. F. Nietzsche sagt – E IN SECHSTER D ELEGIERTER Warum? Nur darum? D IE D ELEGIERTE Genau so! Genau so! E IN SCHWERHÖRIGER D ELEGIERTER Ich zum Beispiel bin schwerhörig. E IN KURZSICHTIGER D ELEGIERTER Ich zum Beispiel bin kurzsichtig. D ER DRITTE D ELEGIERTE Wa? Wie? Mayonnaise? Mayonnaise? Nicht möglich! E INE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Stolz weht und treu die Wacht am Rhein! D ER ZWEITE D ELEGIERTE Kennen Sie den? Zwei Radfahrer treffen sich in Czernowitz – D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Vater, ich rufe dich! D ER VIERTE D ELEGIERTE Wissen Sie, was das Grundstück heute wert ist? D ER SECHSTE D ELEGIERTE Nein, ich bin kein Antisemit. D ER ERSTE D ELEGIERTE Jedoch. Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse –? E INE DRITTE D ELEGIERTE Mein Vater war kommandierender General. D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Ach! Wo? D IE DRITTE D ELEGIERTE In Luzern. D AS F RÄULEIN (erscheint vor dem Kongreß.) D ER K ONGRESS (starrt sie verdutzt an.) (Pause) D AS F RÄULEIN Als ich acht Jahr alt war, starb mein Vater, während meine Mutter noch lebt. Aber wir wollen nichts voneinander wissen, denn sie hat meinen Vater

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nicht ausstehen können. Ich hab sehr bald verdienen müssen, weil nichts da war, aber die ersten Jahre hat es mir nirgends gefallen, weil ich boshaft behandelt worden bin. Ich lernte nähen. (Pause) D ER P RÄSIDENT Was soll das? Wer ist denn die Person? D ER G ENERALSEKRETÄR Pardon! Die Damen und Herren scheinen vergessen zu haben: Diese Person ist jenes Fräulein, das nach Südamerika verkauft wird. D ER P RÄSIDENT Ach jaja – D ER G ENERALSEKRETÄR Laut Beschluß unseres achten Unterausschusses – E INE D ELEGIERTE (erhebt sich und unterbricht ihn.) Ich führe den Vorsitz im achten Unterausschuß. Wir hatten einstimmig beschlossen, diese Person zu analysieren, um auch von der seelischen Seite her die Prostitution bekämpfen zu können. D ER V ORSITZENDE Ach jaja – D IE V ORSITZENDE Wir legen dieser Person drei Fragen vor. Erstens: Ob sie sich freiwillig oder gezwungenermaßen verkauft? Zweitens: wenn freiwillig, dann wieso? Drittens: wenn gezwungenermaßen, dann warum? D ER G ENERALSEKRETÄR Also, bitte, Fräulein, antworten Sie. Ja! D AS F RÄULEIN Ich bin Kindergärtnerin. D ER V ORSITZENDE Lassen Sie das, wir sind unter uns! D ER G ENERALSEKRETÄR Hat man Sie gezwungen, Kindergärtnerin zu werden? D AS F RÄULEIN (schweigt.) D ER G ENERALSEKRETÄR Ja oder nein? D AS F RÄULEIN (schweigt.) D ER G ENERALSEKRETÄR So antworten Sie doch, bitte! Ja! D ER P RÄSIDENT Na los! Los! Los! D AS F RÄULEIN Ich habs mir überlegt. D ER G ENERALSEKRETÄR Geben Sie acht! Hat Sie jener Herr Alfred etwa gezwungen –? A LFRED (tritt rasch vor den Kongreß.) Halt! Ich verbitte mir jede Verdächtigung! Bitte, Fräulein, sagen Sie es dem Kongreß: Hab ich Sie gezwungen, oder sind Sie mir denn nicht direkt nachgelaufen? Antwort, bitte! D AS F RÄULEIN Ich bin Ihnen direkt nachgelaufen. A LFRED Na also! D ER G ENERALSEKRETÄR Pardon, Herr, aber unsereins hört so mancherlei – A LFRED Es gibt überhaupt keinen Mädchenhandel. Es gibt lediglich Stellenvermittler, und das gewaltsame Fortschleppen der Fräuleins ist Quatsch! E IN D ELEGIERTER (erhebt sich.) Pardon, aber das dürfte stimmen. A LFRED Und ob! D ER D ELEGIERTE Ich bin Sanitätsrat in Santa Fé de Bogota, und anhand meiner reichen persönlichen Erfahrungen sehe ich die Ururursache der Prostitution in einer gewissen Degeneration. A LFRED Na was denn sonst! D ER S ANITÄTSRAT In einer gewissen Entartung. Vor allem einzelner Muskelpartien. A LFRED Na klar! (Er zündet sich eine Zigarette an.) D ER S ANITÄTSRAT In Santa Fé de Bogota ist das Wetter meistens schön. (Er sieht in weite Fernen.) D ER P RÄSIDENT (lacht über einen Witz, den ihm SEIN N ACHBAR erzählt hat.) – Wie? Und dann hat er gesagt, sie wäre –

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S EIN N ACHBAR Kennen Sie den? Zwei Radfahrer treffen sich in Czernowitz – (Er flüstert.) A LFRED Sagen Sie, Herr Sanitätsrat, würde sich nach Ihrer Erfahrung der Export nach Santa Fé de Bogota rentieren? D ER S ANITÄTSRAT Sicherlich! Ich kenne jedes Bordell in meinem Vaterlande und kann Ihnen daher mit dem besten Gewissen nur raten zu exportieren. Leider Gottes sind derlei Geschäfte ungemein vorteilhafte Kapitalanlagen. A LFRED Hm. (Er rechnet in seinem Notizbuch.) D ER S ANITÄTSRAT Meine sehr verehrten Kongreßkommilitonen! Meiner Überzeugung nach kann bei einem etwaigen Exporte, zum Beispiel nach meiner Heimat, von einer Zwangslage der Exportierten nicht gesprochen werden. Wir sind doch immerhin noch Menschen und haben unseren freien Willen. Ich wiederhole: Es ist lediglich Degeneration. (Er setzt sich wieder, frißt und sauft.) A LFRED Lediglich. (Er rechnet mit dem Finger in der Luft.) Lediglich. S CHMINKE (erscheint.) D ER G ENERALSEKRETÄR (schnellt empor und starrt ihn an.) S CHMINKE (zu A LFRED ) Lediglich? Lügen Sie nicht, lügen Sie nicht. A LFRED (sieht ihn nicht, er hat noch den Finger in der Luft.) Hat wer was gesagt? S CHMINKE Hier dreht es sich nicht um Degeneration. A LFRED Sondern? S CHMINKE Sondern lediglich um wirtschaftliche Not. A LFRED Natürlich. Aber als Kaufmann muß man doch mit der wirtschaftlichen Not rechnen. Mit der Bedürfnisfrage. Wo käm man denn hin? D AS F RÄULEIN (zu A LFRED ) Mit wem sprechen Sie? S CHMINKE Mit mir. D AS F RÄULEIN (starrt ihn ängstlich an.) A LFRED Mir wars nur, als hätt wer was gesagt – was ganz Blödes – (Er rechnet weiter.) S CHMINKE (zum F RÄULEIN ) Fräulein, vielleicht finden Sie es eigenartig, daß ich Sie anspreche, und daß es sich dabei um Prinzipielles dreht. Ich kenne Sie. Es dreht sich hier nicht um Sie persönlich. D AS F RÄULEIN (weicht scheu zurück.) S CHMINKE Ich persönlich will nichts. D AS F RÄULEIN Sie reden wie ein Buch. S CHMINKE Bitte bilden Sie sich ein, Sie wären ein Buch und existierten in Millionen Exemplaren. Allein Ihre deutsche Ausgabe hat bereits die hundertste Auflage überschritten. Ich kenne das Buch. Ich kenne die Leser. Ich kenne den Verfasser! D AS F RÄULEIN Ich versteh Sie nicht. S CHMINKE Ich versteh, was Sie wollen, und weiß, was Sie müssen. D ER G ENERALSEKRETÄR (hat sich gefaßt und schreit S CHMINKE an.) Raus! Raus! Augenblicklich raus! S CHMINKE Machen Sie sich nicht lächerlich! D ER G ENERALSEKRETÄR Ich pflege mich nicht lächerlich zu machen, Sie! Raus! Raus! Oder – S CHMINKE (unterbricht ihn.) Was oder? Wer mir droht, den lach ich aus! Sie vergessen: Ich bin ja bereits ausgezählt. Hier steht eine Idee, Herr Generalsekretär! Lassen Sie es sich sagen: Selbst wenn das Fräulein degeneriert sein sollte, so verkauft

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sie sich dennoch lediglich unter dem Zwange der wirtschaftlichen Not, als Folge der bürgerlichen Produktionsverhältnisse! D ER G ENERALSEKRETÄR (wischt sich den Schweiß von der Stirne und setzt sich erschöpft.) D ER P RÄSIDENT (zum G ENERALSEKRETÄR ) Ist Ihnen schlecht? D ER G ENERALSEKRETÄR Zur Zeit – D ER P RÄSIDENT Wohl noch die gestrige Affaire? D ER G ENERALSEKRETÄR Ja. D IE V ORSITZENDE Was war das für eine Affaire? D ER S ANITÄTSRAT Unser lieber Herr Generalsekretär wurde gestern von einem Raubmörder überfallen. H AUPTMANN Wir mußtn sogar von der Schußwaffe Gebrauch machn. D IE V ORSITZENDE Ah! S CHMINKE Das war kein Raubmörder. D ER G ENERALSEKRETÄR (verzweifelt) So schweigen Sie doch! Schweigen Sie, ja! (Stille) D ER P RÄSIDENT Mit wem reden Sie denn da? D ER G ENERALSEKRETÄR Mit dem dort – D ER P RÄSIDENT (glotzt S CHMINKE an.) Wo? D ER G ENERALSEKRETÄR Sehen Sie denn nicht –? D ER P RÄSIDENT Ich sehe überhaupt nichts. D ER S ANITÄTSRAT (zum G ENERALSEKRETÄR ) Ich glaube, Herr Generalsekretär sind überarbeitet – Darf ich Ihren Puls – (Er fühlt ihn.) Ja, Sie opfern sich für uns. S CHMINKE (grinst.) D ER G ENERALSEKRETÄR Jetzt lacht er. D ER S ANITÄTSRAT Wer? D ER G ENERALSEKRETÄR Dort. Jener. D ER P RÄSIDENT (nervös) Wer jener? Ich seh keinen jenen! Wer sieht hier jenen? Meine Damen und Herren! Wer jenen sieht, der erhebe sich bitte! (Niemand erhebt sich.) D ER P RÄSIDENT Niemand. Hier sieht niemand was. (zu A LFRED ) Sehen Sie vielleicht jenen? A LFRED Nee. D AS F RÄULEIN Ich hab was gehört. D ER P RÄSIDENT Was denn? S CHMINKE Mich. H AUPTMANN (erhebt sich.) Meiner Seel, jetzt hab ich auch was gehört. (Er deutet plötzlich auf S CHMINKE .) – Dort! Jenen! Mir scheint gar, des is a Jud. D ER G ENERALSEKRETÄR Jener behauptet, er sei eine Idee. D ER P RÄSIDENT Wie kommt hier der Jud herein? D ER G ENERALSEKRETÄR Er behauptet, daß mit der Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse auch die aus ihnen hervorgehende Prostitution verschwinden wird. Schrecklich! D ER P RÄSIDENT Ein Bolschewist! D ER S ANITÄTSRAT Wie töricht! D IE V ORSITZENDE Die Prostitution ist zu tief in uns Menschen verankert. A LFRED Sehr richtig. D IE V ORSITZENDE Eine Änderung der Produktionsverhältnisse kann und kann die

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Prostitution nimmermehr irgendwie, mit Verlaub zu sagen, beeinflussen! Alles auf das Materielle zurückzuführen, das hieße doch die Seele leugnen! S CHMINKE (lacht.) E IN D ELEGIERTER (springt erregt empor.) Lachen Sie nicht, junger Mann! Ich bin Studienrat in Lissabon, und wenn Sie mal zwanzig Jahre älter sind, dann denken Sie auch anders darüber! S CHMINKE Über was? D ER S TUDIENRAT Über Gott. S CHMINKE Kaum. D ER S TUDIENRAT Abwarten! (Er deklamiert.) Rasch tritt der Tod den Menschen an – S CHMINKE (unterbricht ihn.) Ich bin kein Mensch, ich bin doch eine Idee. Sie Idiot! D ER S TUDIENRAT (brüllt.) Zur Geschäftsordnung! Z URUFE Bravo! Sehr wahr! Richtig! D ER G ENERALSEKRETÄR (erhebt sich.) Zur Geschäftsordnung. (Er setzt sich.) D ER VIERTE D ELEGIERTE (erhebt sich.) Wir lassen uns nicht beirren. Der Kongreß läßt sich nicht nehmen, an der Zusammenarbeit der Völker symbolisch mitzuwirken. Ich würde mich ehrlich freuen, wenn das schöne Zusammenarbeiten der kommerziellen Kreise – D ER P RÄSIDENT (unterbricht ihn.) Der Wirtschaft! D ER VIERTE D ELEGIERTE Natürlich der Wirtschaft. S CHMINKE Das Kapital. D ER P RÄSIDENT Natürlich das Kapital! Ich verbitte mir diese ständigen Selbstverständlichkeiten! D ER VIERTE D ELEGIERTE Wer würde sich nicht freuen über das völkerversöhnende Hand-in-Hand-Arbeiten des Kapitals, wo es gilt Kulturgüter zu schützen?! Zur Geschäftsordnung! (Er setzt sich und leert hastig sein Glas.) D ER ERSTE D ELEGIERTE Bitte, dürfte ich noch etwas Gemüse – D ER S ANITÄTSRAT Oh, bitte! D ER ERSTE D ELEGIERTE Oh, danke! (Fressen und Saufen) S CHMINKE Ich ersuche den Kongreß, das Fräulein nicht zu vergessen. D ER S TUDIENRAT (wirft wütend seine Gabel auf den Boden.) (Fressen und Saufen) D IE V ORSITZENDE (erhebt sich.) Erlauben Sie mir nun zur zweiten Frage überzugehen, da wir bereits festgestellt haben, daß sich diese Person aus freien Stücken verkauft. S CHMINKE Lügen Sie doch nicht! D IE V ORSITZENDE (kreischt.) Keine Kritik! Keine Kritik! S CHMINKE Sie wissen es doch, daß das Fräulein lediglich ein Opfer der bürgerlichen Produktionsverhältnisse ist! D IE V ORSITZENDE (kreischt.) Für die Allgemeinheit zu wirken ist Mannespflicht. / Einen Dank dafür erwart dir nicht. / Faulpelze und Quertreiber können Erfolg nicht leiden. / Um deren Gunst bist du wahrlich nicht zu beneiden! (Sie bricht auf ihrem Stuhl zusammen und schluchzt.) D ER P RÄSIDENT (zu S CHMINKE ) Was wollen Sie hier eigentlich?! S CHMINKE Beweisen, daß Sie Betrüger sind! D ER P RÄSIDENT Zur Geschäftsordnung! D IE V ORSITZENDE (kreischt.) Zur Geschäftsordnung!

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D ER G ENERALSEKRETÄR (erhebt sich.) Wir hörten soeben ein schlimmes Wort. Das Wort „Betrüger“. Selbst wenn wir uns die Argumentation verantwortungsloser Berufshetzer zu eigen machen, daß sich nämlich dies Fräulein ausschließlich unter dem Zwange ihrer wirtschaftlichen Not verkauft, so entkräftigen wir dennoch jede Gemeinheit mit der frommen Feststellung, daß es in keines Menschen Macht liegt, die, zu guter Letzt auch über dem Kongreß lastende, wirtschaftliche Not zu beseitigen. (Er leert sein Sektglas.) Z URUFE Hört! Hört! S CHMINKE Sagen Sie nur nicht „Erbsünde“ statt „Kapitalismus“! A LFRED Was mich betrifft, so glaub ich an Gott. S CHMINKE Sie müssen es ja wissen. A LFRED Dem einen hilft der liebe Gott, und dem anderen hilft er nicht. S CHMINKE Man müßte den lieben Gott besser organisieren. A LFRED Halt ich für ausgeschlossen. S CHMINKE Hat er Ihnen geholfen? A LFRED Gottseidank! S CHMINKE (grinst.) Der liebe Gott wird mir immer sympathischer – D ER P RÄSIDENT Zur Geschäftsordnung! D ER G ENERALSEKRETÄR (leert noch ein Glas Sekt.) Ich bin schon heiser, aber weiter! Nicht nur dieses Fräulein, sondern Millionen Fräuleins leiden unter akkurat derselben typischen Not, ohne sich dieserhalb zu verkaufen. Wir kommen jetzt zum psychologischen Kern. Wir fragen das Fräulein: Warum verkaufen Sie sich? Warum bringen Sie sich nicht um? D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Wäre ich gezwungen, zwischen Tod und Prostitution zu wählen – D IE V ORSITZENDE (schnellt empor und unterbricht sie kreischend.) Meine Herren! Wir alle würden uns erschießen!! Z URUFE Bravo! Bravo! D AS F RÄULEIN Ich wollt mich schon mal umbringen, aber dann hab ich mir gedacht, ich verkauf mich doch lieber. Weil es leichter geht. (Pause) D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Ist das noch ein Mensch? D ER S TUDIENRAT Ist denn diese schamlose Person bar jeder menschlichen Scham? D ER P RÄSIDENT Bitte, Herr Studienrat, nehmen Sie trotz Ihrer berechtigten Empörung Rücksicht auf die anwesenden Damen. D ER S TUDIENRAT An mir zittert alles – D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE (zum G ENERALSEKRETÄR ) Bitte fragen Sie doch die Person, ob sie den Begriff „reine Liebe“ kennt? D ER G ENERALSEKRETÄR Fräulein, kennen Sie – D AS F RÄULEIN (unterbricht ihn.) Nein. D ER G ENERALSEKRETÄR Und warum nein? D AS F RÄULEIN Weils das nicht gibt. H AUPTMANN (lacht hellauf.) D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Charmant! D ER G ENERALSEKRETÄR Geben Sie acht, Fräulein! Woher wollen Sie wissen, daß es keine reine Liebe gibt? D AS F RÄULEIN Ich war mal verheiratet. D ER S TUDIENRAT Korrekt?

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D AS F RÄULEIN Sogar kirchlich. Aber nicht lang. D ER G ENERALSEKRETÄR Weshalb nicht lang? D ER P RÄSIDENT Bitte um eine zusammenfassende Darstellung! D AS F RÄULEIN Mein Mann war sehr moralisch. Er hatte ein Zigarettengeschäft und ließ sich scheiden, weil ich mal mit einem fremden Herrn zu einer Gartenunterhaltung ging. Mein Mann hieß Ferdinand. D ER P RÄSIDENT Weiter! D AS F RÄULEIN Dann ließ mich aber auch der fremde Herr stehen, weil ich ihm auf die Dauer zu langweilig war. Ich glaub, er war ein Schuft. H AUPTMANN So wird man zum Schuft, meine Sehrverehrten! D ER S TUDIENRAT Toll! Fürwahr! H AUPTMANN Ein Cabaret! D ER P RÄSIDENT (höhnisch) Das gnädige Fräulein hofften wohl, wieder kirchlich getraut zu werden? D ER S ANITÄTSRAT (kichert.) D AS F RÄULEIN Nein. D ER G ENERALSEKRETÄR Sondern? D AS F RÄULEIN Ich hätt nur nicht gedacht, daß er mich hernach sofort stehen läßt. Heut bin ich ihm ja nicht mehr bös. D ER P RÄSIDENT (spöttisch) Was Sie nicht sagen! D AS F RÄULEIN Er hieß Arthur. D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE Weiter! D AS F RÄULEIN Dann gings halt so dahin mit mir. D ER P RÄSIDENT Wohin? D AS F RÄULEIN Ich hatte halt nichts. D ER P RÄSIDENT (grinst.) Keinen Arthur? D AS F RÄULEIN Kein Geld. D ER S ANITÄTSRAT Wer arbeiten will, der kann. S CHMINKE Verzeihung! Sie sind doch Sanitätsrat? D ER S ANITÄTSRAT Ja. Und? S CHMINKE Ihr Vater war doch Fabrikbesitzer? D ER S ANITÄTSRAT Wer arbeiten will, der kann. S CHMINKE Und Sie heirateten die Tochter eines Juweliers aus der Bremerstraße. D ER S ANITÄTSRAT (brüllt S CHMINKE an.) Wer arbeiten will, der kann!! D AS F RÄULEIN Ich konnt nicht. D ER S ANITÄTSRAT (schlägt mit der Faust auf den Tisch.) Ich verbitte mir das! D AS F RÄULEIN (zuckt die Achsel.) D ER P RÄSIDENT Also das mit dem Nichtkönnen ist keineswegs zwingend. D AS F RÄULEIN (zuckt die Achsel.) D ER S TUDIENRAT Faul und frech. D ER S ANITÄTSRAT Und degeneriert. D IE ALTMODISCHE D ELEGIERTE (zum G ENERALSEKRETÄR ) Bitte, Herr Generalsekretär, fragen Sie doch diese degenerierte Person, ob ihr die Ausübung ihres schändlichen Gewerbes besondere Lust bereitet? D AS F RÄULEIN Pfui! A LFRED (sieht auf seine Uhr.) Darf ich den Kongreß darauf aufmerksam machen, daß sich das Fräulein bald einschiffen muß. Es wird allmählich Zeit. Ich bitte also die Fragen –

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D ER P RÄSIDENT (unterbricht ihn.) Ich glaube, der Kongreß kann auf weitere Fragen verzichten. Wir haben soeben schaudernd einen Fall außerordentlicher Gefühlsroheit erlebt. S CHMINKE Wann werden Sie Wohlfahrtsminister? D ER P RÄSIDENT Zur Geschäftsordnung! D ER G ENERALSEKRETÄR (erhebt sich.) Herr Alfred! Es bereitet mir eine besondere Freude und Ehre, Ihnen für Ihre aufopferungsvolle Mitarbeit den tiefempfundenen Dank des internationalen Kongresses für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels aussprechen zu dürfen. Ihre solide Sachkenntnis lieferte dem Kongreß neue Waffen, neuen Mut, neue Ausdauer in seinem homerischen Kampfe gegen die Hydra der Prostitution, in einem mörderischen Schlachten, das zu guter Letzt schlechterdings den Sieg des Irrationalen über das Rationale erstrebt! S CHMINKE Bravo! D ER G ENERALSEKRETÄR Ich erhebe mein Glas auf Ihr ganz Spezielles – (Er trinkt auf A LFREDS Wohl.) A LFRED (verbeugt sich vor dem Kongreß.) D ER K ONGRESS (applaudiert.) (Musiktusch) D ER K ONGRESS (erhebt sich, weil es nun nichts mehr zum Fressen und Saufen gibt, da das Bankett zu Ende ist.) (Die Kapelle spielt nun einen flotten Militärmarsch.) D ER G ENERALSEKRETÄR (tritt zu A LFRED und drückt ihm die Hand.) Bitte hätten Sie nur noch die Liebenswürdigkeit, diesen Fragebogen über die Technik des Mädchenhandels auszufüllen – (Er überreicht ihm einen Bogen.) Es ist ein gedruckter Fragebogen, weil wir ja ungefähr fünftausend Persönlichkeiten aus dem Bereiche des Mädchenhandels befragen wollen. A LFRED Zur Geschäftsordnung. D ER G ENERALSEKRETÄR Ich wollte ja soeben – (Er überreicht ihm ein Couvert.) Hier das Honorar. A LFRED (zählt das Geld nach und schiebt es befriedigt ein.) Es bereitet mir eine besondere Freude und Ehre, mich in meinem Namen bedanken zu dürfen. D ER G ENERALSEKRETÄR (verbeugt sich.) A LFRED (klopft ihm auf die Schulter.) Wenn Sie mich wieder mal benötigen sollten –: Ich stehe dem Kongreß jederzeit mit Rat und Tat zur Verfügung. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich wohl in vierzehn Tagen eine brünette Witwe nach Santa Fé de Bogota verkaufen – D ER G ENERALSEKRETÄR Sie hören noch von mir! (Er schüttelt ihm die Hand, verbeugt sich, entdeckt S CHMINKE und fixiert ihn.) E INE ELEGANTE D ELEGIERTE Herr Alfred! Ich würde mich sehr freuen, Sie Donnerstagabend bei mir begrüßen zu können. Darf ich Sie erwarten? Ich veranstalte ein kleines Privatkonzert zugunsten gefährdeter Mädchen. Mein Onkel erhielt bei dem letzten Autoschönheitswettbewerb den ersten Preis. A LFRED (küßt ihre Hand.) H AUPTMANN (zur ELEGANTEN D ELEGIERTEN ) Pardon, Gnädigste! Darf ich Ihnen meinen Arm – gibt nämli no a kalts Buffet – (ab mit ihr) A LFRED Das aber ein eifersüchtiger Soldat – (Er füllt den Fragebogen aus.)

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D ER G ENERALSEKRETÄR (zu S CHMINKE ) Darf ich Sie fragen, ob Sie nun endlich den Platz räumen wollen? S CHMINKE Machen Sie sich nicht lächerlich. D ER G ENERALSEKRETÄR Sie haben mich das Bankett über in die größte Verlegenheit gestürzt. Es hat mir schon nichts mehr geschmeckt. Jetzt kommt das kalte Buffet. Wollen Sie mir noch immer den Appetit verderben? S CHMINKE So kleinlich bin ich ja gar nicht. D ER G ENERALSEKRETÄR Aber Sie wirken noch kleinlicher. Bitte lassen Sie mich jetzt aufatmen, es folgt der gesellige Teil. S CHMINKE (grinst.) Ich liebe die Geselligkeit. (Pause) D ER G ENERALSEKRETÄR (grinst.) So wird man sich an Sie gewöhnen müssen – Hoffen Sie nur nicht, daß ich an einem inneren Zwiespalt zugrunde gehen kann. Ich sage Ihnen das als Generalsekretär. Ja! (Er läßt ihn stehen.) D ER K ONGRESS (allmählich ab an das kalte Buffet) D AS F RÄULEIN (zu A LFRED , der den Fragebogen ausfüllt) Wann kann ich denn fort? A LFRED Sofort. D AS F RÄULEIN Es wird allmählich Zeit. A LFRED Ja. D AS F RÄULEIN Zu so einer Sache bringen Sie mich aber nicht mehr. Da geh ich schon lieber mit einem, der Prothesen hat. A LFRED Kusch, Fräulein! Das ist nämlich ein komplizierter Fragebogen. D AS F RÄULEIN Diese ganzen Fragen haben doch gar keinen Sinn – Was man den Leuten antwortet, das glauben sie ja nicht. Man regt sich nur unnötig auf. A LFRED Quatsch! Sie werden doch dafür bezahlt. Hier haben Sie Ihre zwo Mark. D AS F RÄULEIN Sie sagten doch drei – A LFRED (unterbricht sie.) Irren ist menschlich! (Pause) D AS F RÄULEIN Ich hab Hunger. A LFRED Beherrschen Sie sich, bitte! Ja? D AS F RÄULEIN (starrt plötzlich hinaus.) Jetzt kommt er. A LFRED Wer? D AS F RÄULEIN Unser Ferdinand. F ERDINAND (kommt und verbeugt sich vor DEM F RÄULEIN .) D AS F RÄULEIN (nickt.) F ERDINAND (unterdrückt) Alfred. A LFRED (ebenso) Ha? D AS F RÄULEIN (horcht.) F ERDINAND Ich hab es mir überlegt. A LFRED Was denn? F ERDINAND Das südamerikanische Geschäft. A LFRED Was heißt das? F ERDINAND Das heißt, daß ich dich bitte: Gib mir meinen halben lieben Gott zurück. A LFRED Meschugge? F ERDINAND Nein, ich meine das nur rein menschlich. Ich habe doch nicht gewußt, daß wir dieses Fräulein verkaufen – – A LFRED Rein menschlich darf man überhaupt kein Fräulein verkaufen! F ERDINAND Das ist zweierlei. Nämlich ich bin so menschlich, daß mir nichts

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Menschliches fremd ist, und deshalb versteh ich es ja auch, wie man ein Fräulein verkaufen kann, verdamm es nicht, sondern beteilige mich gegebenenfalls. Aber gerade dieses eine Fräulein – Sie ist mir doch immerhin mal nahegestanden. A LFRED Kusch! Geschäft ist Geschäft! F ERDINAND Ich verkauf jede, nur jene nicht. Ich weiß nicht, warum nicht. Das ist keine Sentimentalität. Weiß Gott, was das ist! A LFRED Kusch! Wenn ich dir jetzt deinen halben lieben Gott zurückgeben würde – wie steht es denn dann mit deinem Kännchen? F ERDINAND (starrt ihn an.) A LFRED Mit deinem Kännchen Kaffee? F ERDINAND (ist sprachlos.) A LFRED Du tust doch alles nur um das Kännchen – F ERDINAND Ja, das Kännchen – A LFRED Denk real und reell! Tasse oder Kännchen? (Pause) F ERDINAND (nach innerem Kampfe) Tasse. A LFRED Nimmermehr wirst du dein Kännchen – F ERDINAND (unterbricht ihn, bösartig) Gut! Trink ich kein Kännchen! S CHMINKE Halt! Sie werden Ihr Kännchen trinken! Sie vergessen wohl, daß dem Fräulein persönlich nicht geholfen werden kann! Prinzipiell! D AS F RÄULEIN Finden Sie? S CHMINKE Ja! F ERDINAND (erkennt S CHMINKE .) Prinzipiell – S CHMINKE Nach den unerbittlichen Gesetzen der kapitalistischen Gesellschaft muß das Fräulein in Südamerika enden. Krank, verkommen und vertiert! A LFRED Na hörst du? F ERDINAND Prinzipiell – – S CHMINKE Wir sehen einen typischen Fall – F ERDINAND (unterbricht ihn.) Wir wollen es doch sehen! Ich erkläre hiermit mit erhobener Stimme, daß ich auf die Hälfte meines lieben Gottes verzichte, daß ich das Fräulein wieder zu meiner Frau mache, daß ich mit der anderen Hälfte meines lieben Gottes abermals ein bescheidenes Zigarettengeschäft gründe, und daß ich nie wieder in meinem Leben nach einem Kännchen Kaffee trachten werde! S CHMINKE (zum G ENERALSEKRETÄR ) Hören Sie sich das nur mal an, Herr Generalsekretär! D ER G ENERALSEKRETÄR Was soll ich denn hören? S CHMINKE Das Fräulein wird nicht verkauft, sondern geehelicht. D ER G ENERALSEKRETÄR Oho! Zur Geschäftsordnung! F ERDINAND Verzeihung! Ich bin nämlich fremd und kenn mich nicht aus. Wer ist denn das? D ER G ENERALSEKRETÄR Der Kongreß. F ERDINAND Zur Bekämpfung des Mädchenhandels? D ER G ENERALSEKRETÄR Ja! F ERDINAND So wird es Sie freuen, daß es mir gelungen ist, das Fräulein zu retten. D ER G ENERALSEKRETÄR Zur Geschäftsordnung! S CHMINKE Ich protestiere gegen diese Verfälschung der wirklichen Verhältnisse durch die sogenannte Menschlichkeit dieses Herrn! D ER G ENERALSEKRETÄR Im Namen des Kongresses schließe ich mich diesem Prote-

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ste an. Wo kämen wir denn hin, wenn wir für das Studium einer Prostituierten achtundvierzig Mark bezahlen würden, und dann würde es sich plötzlich herausstellen, daß wir ja nur das Seelenleben einer kleinbürgerlichen Ehefrau durchleuchtet haben! Ich wäre die längere Zeit Generalsekretär gewesen! Sie mit Ihrer Menschlichkeit haben kein Recht den geschäftsordnungsmäßigen Gang der Bekämpfung des Mädchenhandels zu durchkreuzen! Ja! A LFRED Ganz Ihrer Ansicht, Herr Generalsekretär! Ich habe mit der Firma Ibanez in Parana bereits fest abgeschlossen. Abgesehen von der Konventionalstrafe würde auch mein kaufmännisches Renommée beträchtlich leiden, du Idiot. F ERDINAND (zum F RÄULEIN ) Bin ich ein Idiot? D AS F RÄULEIN Nein. F ERDINAND Ich war aber ein Idiot, als wir nämlich verheiratet waren. Ich war nämlich zu moralisch, wahrscheinlich weil ich aus einer verkommenen Familie stamm. Heut bin ich nicht mehr korrekt, heut bin ich menschlich. Komm. Komm, bitte. D AS F RÄULEIN Nein. F ERDINAND Wie? D AS F RÄULEIN Nein. S CHMINKE Richtig! D ER G ENERALSEKRETÄR Gottlob? A LFRED Bravo! F ERDINAND Nein –? D AS F RÄULEIN Als ich dich zuvor im Café Klups gesehen hab, da hab ich geschrien, so bin ich erschrocken – über das Frühere, weil es wieder da war. Ich hab nämlich geglaubt, in mir ist alles kaputt, aber derweil ist noch was ganz in mir. Ich kann das nicht anders erklären. Die Herren hier haben sehr recht –: Ich kann ja nicht mehr zurück, weil –: Es wär ja alles anders, und ich mags nicht mehr anders. Jetzt bin ich schon mal so weit. A LFRED (sieht auf die Uhr.) Es wird allmählich Zeit – F ERDINAND (zum F RÄULEIN ) Komisch. Hast du mir sonst nichts zu sagen? D AS F RÄULEIN Trink nur dein Kännchen – F ERDINAND Kaum. Hab keine Freud mehr dran – A LFRED Na denn los! Höchste Zeit! E IN V ERTRETER DES P UBLIKUMS (erscheint.) Halt! Ich protestiere gegen diesen Betrug! A LFRED Pfuschen Sie mir nicht ins Geschäft, Herr! Wer sind Sie denn überhaupt? D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Ich sitze dort links in der siebenten Reihe! Ich habe mir meine Karte gekauft, weil auf dem Theaterzettel stand, hier steigt eine Posse in fünf Bildern! Und jetzt gehts auf einmal tragisch aus! Ich laß mir das nicht gefallen! Das ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen! S CHMINKE Das ist die Wahrheit! Die unerbittliche Wahrheit! D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Ich verzichte auf Ihre Wahrheit! Ich bin ein müder abgearbeiteter Mensch und möchte abends meine Posse haben! Verstanden? Entweder gibt es hier augenblicklich eine Posse, oder ich laß mir mein Geld herauszahlen! S CHMINKE Bitte! D ER G ENERALSEKRETÄR (zu S CHMINKE ) Halts Maul! D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Ich will meine Posse! Ich schlage vor: Das Fräulein

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fährt nicht nach Südamerika, sondern heiratet ihren Ferdinand, und beide leben glücklich, gesund und zufrieden in ihrem gemeinsamen Zigarettenladen! S CHMINKE Das ist Betrug. D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Betrug ist, eine Posse anzukündigen und derweil mit einem tragischen Klamauk zu enden. A LFRED (zu S CHMINKE ) Schmink dich ab! Schmink dich ab! S CHMINKE (setzt sich, zieht eine Zeitung aus der Tasche und liest.) F ERDINAND (zum V ERTRETER DES P UBLIKUMS ) Verzeihung! Sie sind ein guter Mensch! S CHMINKE (liest.) „Eschenloher Hanf sieben zwölf – Enttäuschender Abschluß: nur zehn Prozent Dividende –“ D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS Na wirds bald? (Hochzeitsmarsch) F ERDINAND (schließt strahlend DAS F RÄULEIN in seine Arme und küßt sie.) D ER V ERTRETER DES P UBLIKUMS So ists richtig! H AUPTMANN (erscheint und klopft F ERDINAND auf die Schulter.) Pardon, mein lieber Ferdinand! F ERDINAND (läßt DAS F RÄULEIN nicht los.) Bittschön? H AUPTMANN Es ist eine Dame draußen, die das junge Paar sprechen möcht. D AS F RÄULEIN Wir lassen bitten, Herr Hauptmann! H AUPTMANN (winkt hinaus.) L UISE G IFT (kommt in weißem Kleidchen und überreicht DEM GLÜCKLICHEN P AAR einen riesigen Strauß.) Meine herzliche Gratulation – (Sie rülpst.) A LLE (zucken ob des Rülpsers zusammen.)

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Frühe Dramen Zu den frühen Dramen Horváths gibt es fast kein überliefertes genetisches Material. Der Autor bestätigt noch in einem Brief vom 22. März 1930 an Hans Ludwig Held, den Leiter der Münchner Stadtbibliothek, der ihn um die Zusendung eines Manuskripts gebeten hatte, dass er „die üble Angewohnheit“ habe, alles genetische Material seiner Werkprojekte zu vernichten, sobald diese abgeschlossen seien (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 6). Aus diesem Grund ist aus der Frühzeit der literarischen Arbeit Horváths kaum Material überliefert, das die Genese der hier abgedruckten frühen Dramen in irgendeiner Form nachvollziehen ließe. Die einzigen Ausnahmen bilden ein Blatt zu dem Schauspiel Mord in der Mohrengasse (MM/K/E1) und ein allerdings nicht im Original überliefertes Blatt zu dem Volksstück Revolte auf Côte 3018 (BB/K1/E1) und zu einem Stück mit dem Titel „Nach der Saison“ (ZSA/VA/E1), einer Vorstufe zu der Komödie Zur schönen Aussicht (1927). Außerdem finden sich in Notizbüchern und auf losen Blättern ein paar Werkverzeichnisse, in denen einzelne der hier behandelten frühen Dramen (nachträglich) erwähnt werden (vgl. WV/E1–E4).

Ein Epilog Konzeption: Ein Epilog – Dramatische Skizze T1 = ÖLA 27/W 1 – o. BS, Bl. 1–10 10 Blatt unliniertes Papier (270 × 208 mm), dünn, hs. Eintragungen mit brauner Tinte, Paginierung 1–8 TS1 = Endfassung mit Werktitel „Ein Epilog / von Ödön Josef von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: Prokop 1971 und KW 1, S. 9–16.

Bei dem kurzen Stück Ein Epilog handelt es sich vermutlich um das früheste Drama Horváths. Es ist in Form eines Typoskripts aus Horváths Hand überliefert, das 10 Blatt umfasst. Genetisches Material ist dazu keines überliefert. Bl. 1 enthält den Titel des Stückes mit dem Zusatz „von Ödön Josef von Horváth“. Es ist das einzige Stück, auf dem er mit seinem zweiten Vornamen zeichnet. Bei dem Minidrama handelt es sich um ein deutlich unter dem Eindruck des Expressionismus stehendes Stück. Es gibt nur zwei Figuren, ein Mädchen und einen jungen Mann. Diese ringen um eine Haltung zum Leben. Die zentrale Einsicht, die auch die Binnenerzählung über die Prinzessin, durchzieht, ist jene, dass das Leben „Elend“ (Bl. 7) ist. Zuletzt nimmt der junge Mann einen Revolver, den ihm das Mädchen gereicht hatte, und richtet ihn auf das Mädchen. Diese schreit auf und bricht leblos zusammen, jedoch ohne, dass er auf sie geschossen hätte. Der junge Mann atmet daraufhin „befreit“ (Bl. 10) auf. Damit endet das Dramolett. In der Transkription von TS1 werden überzählige und fehlende Zeichenabstände, wie sie sich vor allem zwischen Wort und nachfolgendem Satzzeichen finden, stillschweigend emendiert.

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Chronologisches Verzeichnis

Mord in der Mohrengasse Konzeption: Mord in der Mohrengasse – Schauspiel in drei Akten H1 = ÖLA 3/W 272 – BS 20 [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), Bleistift E1 = Figurenliste mit Werktitel „Mord in der Mohrengasse. / Schauspiel in 4 Bildern / von Ödön v. Horváth.“ (rechts unten)

Das Schauspiel Mord in der Mohrengasse war Horváths zweites vollendetes Stück und ist wahrscheinlich wie Ein Epilog 1923/24 entstanden. Dies lässt ein gegenüber dem Schriftsteller Géza von Cziffra geäußerter Hinweis Horváths annehmen (vgl. KW 1, S. 283f.), der die Arbeit an dem auf dem vorliegenden Blatt neben dem Entwurf zu Mord in der Mohrengasse skizzierten Dramenfragment Dósa auf 1923/1924 datieren lässt. In E1 notiert Horváth eine Figurenliste zu dem Schauspiel Mord in der Mohrengasse, das laut dem vorliegenden Entwurf vier Bilder umfassen sollte. In der Endfassung des Dramas sind es drei Akte (vgl. TS1). Bemerkenswerterweise ist die Figurenliste aber entgegen dem Titel in drei Abschnitte unterteilt, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie fragmentarisch ist oder dass der Autor doch bereits in drei Abschnitten (Akten) dachte. An Figuren werden hier erwähnt: Erich, Lia, ein Kellner, die Gräfin, Wenzel Klamuschke, der Mister (alle zum ersten Akt, der offensichtlich in der Folge wegfiel), Herbert Müller, Mutter Klamuschke, Ilse Klamuschke, Paul Klamuschke, Mathilde Klamuschke (zum zweiten Akt), drei Dirnen, ein Einäugiger, die Altmodische, ein Polizist, ein Kommissar, ein Detektiv u.a. (zum dritten Akt). Ein Großteil der genannten Figuren findet sich dann tatsächlich in dem Schauspiel Mord in der Mohrengasse, was vermuten lässt, dass das Drama zum Zeitpunkt der Niederschrift der Figurenliste E1 bereits relativ weit gediehen oder zumindest konzipiert war. Der erste Akt mit den Figuren Erich, Lia, Kellner, Gräfin und Mister dürfte jedoch in der Folge von Horváth gestrichen worden sein, wodurch alle diese Figuren (mit Ausnahme des ebenfalls dazu genannten Wenzel Klamuschke) weggefallen sind. Die einzige wichtige Figur des späteren Schauspiels, die in der Liste noch fehlt, ist der jüdische Juwelier Simon Kohn, der in TS1 entscheidend für das Stück und seinen Verlauf wird. T1 = ÖLA 3/W 1 – BS 13 a, Bl. 1–45 45 Blatt unliniertes Papier (285 × 220 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift, hs. Paginierung 1–45 TS1 = Endfassung mit Werktitel „Mord in der Mohrengasse / Schauspiel in drei Akten / von / Ödön von Horváth.“ (Korrekturschicht) Druck in: GW I, S. 383–405.

Wie Ein Epilog steht auch Mord in der Mohrengasse noch deutlich unter dem Einfluss des Expressionismus. Das Typoskript, das davon überliefert ist, trägt keine Datierung, dürfte aber Ende 1923 oder Anfang 1924 entstanden sein (vgl. dazu den Kommentar zu MM/K/E1) Horváth verwendete für das Typoskript eine Schreibmaschine, die auffällige Unter- und Überstriche bei den einzelnen Typen mitanschlug. Dieselbe Schreibmaschine hat er auch für einen Teil der Sportmärchen und der frühen Prosa

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Mord in der Mohrengasse / Niemand

verwendet (vgl. WA 13, S. 2f.), die nachweislich zwischen 1923 und 1927 entstanden sind. Innerhalb des Typoskripts lassen sich farbliche Unterschiede zwischen einzelnen Blättern erkennen (unterschiedlich starke Vergilbung, anderes Durchschlagspapier), sodass anzunehmen ist, dass sie aus zwei unterschiedlichen Durchschlägen stammen. Eine Einheit bilden die Blätter 16, 18, 26–29, 41 und 42, die sich durch vergilbteres Papier und eine blaue Schriftfarbe auszeichnen, der Rest ist weniger vergilbt und durch eine violette Schriftfarbe gekennzeichnet. Da mit dem Austausch der Blätter keine textlichen Änderungen verbunden waren (die Anschlüsse funktionieren überall, ohne dass Horváth handschriftliche Änderungen vornehmen hätte müssen), ist davon auszugehen, dass es sich dabei nicht um unterschiedliche Ansätze, sondern einfach um zwei unterschiedliche Durchschläge handelt. Im Zentrum des Stückes Mord in der Mohrengasse steht die Familie Klamuschke: Mutter, Tochter Ilse, Sohn Paul, dessen Frau Mathilde und Sohn Wenzel. Letzterer wird straffällig, d.h. er begeht einen Raubmord am Juwelier Simon Kohn, und erhängt sich anschließend selbst, sodass die ganze Familie das Grauen vor der Zukunft ereilt. Das Typoskript enthält nur wenige handschriftliche Eintragungen. Diese wurden in der Transkription von TS1 berücksichtigt. Im gesamten Typoskript fällt die uneinheitliche Absatzgestaltung auf. Figurennamen und Dialogtext sind oft durch einen Zeilensprung getrennt, ebenso Regieanweisungen und dazugehöriger Dialogtext. Solche überzähligen Absätze zwischen Figurennamen und Regieanweisungen bzw. Regieanweisungen und Dialogtext wurden aufgrund der großen Zahl ihres Vorkommens stillschweigend getilgt. In allen anderen Fällen wurde die Tilgung eines Absatzes jeweils separat vermerkt.

Niemand Konzeption: Niemand – Tragödie in sieben Bildern T1 = Niemand. Tragödie in sieben Bildern (Exemplar in: Wienbibliothek im Rathaus) Stammbuch des Verlags „Die Schmiede“, Berlin 1924, 97 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), in blauem Kartonumschlag, hs. Eintragungen mit Bleistift (Horváth), Paginierung 1–95 TS1 = Endfassung mit Werktitel „Niemand / Tragödie in sieben Bildern / von / Oedön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: Horváth 2016 und Horváth 2017.

Die Tragödie Niemand war Horváths drittes Stück und steht wie die beiden Vorgänger, Ein Epilog und Mord in der Mohrengasse, noch deutlich unter expressionistischen Vorzeichen. Das erst 2015 wieder aufgetauchte Typoskript ist ein maschinschriftlich vervielfältigtes Stammbuch des Berliner Verlags „Die Schmiede“ und trägt die Datierung 1924. Das Original-Typoskript befindet sich im Besitz der Wienbibliothek im Rathaus und ist in einen blauen Kartonumschlag geheftet. Das Typoskript wurde hs. mit Bleistift korrigiert. Die Korrekturen stammen mit großer Wahrscheinlichkeit von Horváth selbst und werden deshalb in der Transkription von TS1 umgesetzt. Die Zeichensetzung von TS1 weicht von Horváths sonstiger Handhabung insofern ab, als er hier in vielen Fällen, wo sonst wohl Beistriche oder Bindestriche stünden, Schrägstriche setzt. Diese werden in der Transkription von TS1 beibehalten. Die Groß- und

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Kleinschreibung wurde fallweise mittels gekennzeichnetem Herausgebereingriff emendiert, etwa im Anschluss an abschließendes Rufzeichen oder Fragezeichen, oder im Fall von Zahlwörtern wie „jemand“, „einer“, „keiner“, „alles“, „alle“ etc. Einzig die Großschreibung des titelgebenden „Niemand“ wurde beibehalten. Änderungen der Absatzgestaltung und alle weiteren Eingriffe sind im kritischen Apparat vermerkt. Überzählige und fehlende Zeichenabstände, vor allem zwischen Wörtern und Bindestrichen, werden indes stillschweigend korrigiert, Apostrophe stillschweigend getilgt. Das Stück Niemand kreist um den Pfandleiher Fürchtegott Lehmann, der autoritär über ein Zinshaus herrscht. Da er von Kind an ein „Krüppel“ (TS1/SB Schmiede 1924, Bl. 11) ist, d.h. zu kurze Beine hat und nur mit Krücken gehen kann, wird ihm zwar Mitleid, aber keine Liebe entgegengebracht. Dies scheint sich zu ändern, als die junge Ursula auftaucht, die sich aus Armut als Prostituierte verdingen wollte, aber gerade noch von Lehmann daran gehindert werden kann. Sie heiratet Lehmann, doch bereits die Hochzeitsnacht zeigt, dass die Ehe nicht auf Liebe gegründet ist und keine Zukunft hat, denn die Ehe wird nicht vollzogen. Ursula bekennt später, dass sie Lehmann nur geheiratet hat, weil er ihr zu essen gegeben hat. Im Erdgeschoss des Zinshauses betreibt die Prostituierte Gilda Amour ihr Metier. Sie ist verbandelt mit dem brutalen Kleinkriminellen Wladimir, der für einen Ring, der nur aus Blech ist, einen Mord verübt, für den er im Gefängnis landet. Das Opfer heißt Max Maria Lehmann, ist aber nicht verwandt mit Fürchtegott Lehmann. Am Scheitelpunkt des Stückes erscheint Fürchtegotts Bruder Kaspar im Zinshaus, der im Gegensatz zum Pfandleiher gesund ist. Das Unglück nimmt seinen Lauf, als Kaspar Ursula kennen lernt und die beiden ein Verhältnis miteinander eingehen. Fürchtegott fällt im Verlauf des Stückes zweimal die Treppe herunter und stirbt schließlich an den Folgen des zweiten Sturzes. Kaspar und Ursula brechen in eine unsichere gemeinsame Zukunft auf, wo auch das Kind, das Ursula bereits in sich trägt, von einer dunklen Vergangenheit vorherbestimmt scheint und alles andere als eine Glücksverheißung ist. Die zentrale Einsicht des Stückes wird von Kaspar formuliert: „Weh uns. Alles wiederholt sich / und immer wiederholt sich / und dieser Zusammenhang! als liefen alle Rollen nur in einem Kreise um einen Punkt! als wäre alles nur Eines! Ein Kern in unzählbaren Formen / in lauter kurzsichtigen Formen, denen obendrein noch Scheuklappen angezüchtet werden ---: sehen nicht rückwärts, nicht seitwärts, höchstens vorwärts / aber auch nicht weit: nur sieh! Verurteilt, Alles was vorher war zu vergessen und glauben müssen: es gibt keine Gerechtigkeit. Und das ist die schwerste aller Strafen: büssen müssen und nicht wissen: warum?“ (TS1/SB Schmiede 1924, Bl. 93). Ursula hält jedoch bis zuletzt an der Möglichkeit eines Wunders fest, das die Vorherbestimmung überwinden und aus dem ewigen Kreislauf des Immergleichen herausführen könnte. Insofern endet das düstere Stück doch mit einem, wenn auch nur kleinen Hoffnungsschimmer.

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Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn

Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn Konzeption 1: Revolte auf Côte 3018 – Volksstück in vier Akten H1 = ÖLA 84/S 59/F5/Bild 67 Diapositiv (schwarz/weiß) eines nicht erhaltenen Blattes E1 = Titelliste mit Werktitel „Revolte auf Punkt 3018“ Druck in: WA 13, S. 240f.

Das vorliegende Blatt ist allein über eine Diapositiv-Aufnahme überliefert, die von Traugott Krischke für einen gemeinsam mit Hans Prokop herausgegebenen Materialienband (Krischke/Prokop 1977, vgl. den Drucknachweis) angefertigt wurde und sich heute im Nachlass Traugott Krischke am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA 84) befindet. Der Verbleib des Originals ist unbekannt. Materiell handelte es sich bei dem abfotografierten Blatt mit hoher Wahrscheinlichkeit um unliniertes Schreibmaschinenpapier, das in der Mitte gefaltet und auf der vordersten Seite beschrieben wurde. Berücksichtigt man das in der Aufnahme festgehaltene Seitenverhältnis, ist eine ursprüngliche Größe des Blattes von etwa 285 × 225 mm anzunehmen, ein Format, das sich häufig in Horváths Nachlassmaterialien findet. Als Schreibmaterial wurde vermutlich Tinte verwendet. Die Eintragungen auf dem Blatt sind auf 1926/27 zu datieren, was sich zum einen aus den teilweise bekannten Entstehungs- bzw. Publikationsdaten der genannten Sportmärchen und anderen Kurzprosatexte des im oberen Blattdrittel skizzierten „Novellen-Band[es]“ ergibt. Zum anderen nennt Horváth in E1 den Titel „Revolte auf Punkt 3018“, womit auf sein frühes Volksstück Revolte auf Côte 3018 angespielt ist, das im Sommer 1927 als erstes Stück Horváths überhaupt vom Volksbühnen-Verlag angenommen und noch am 4. November desselben Jahres in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde (vgl. dazu das Vorwort in diesem Band, S. 3f. und 19–21). Wahrscheinlich handelt es sich bei E1 um einen frühen Entwurf zu diesem Stück, da der Titel in der Folge ja noch geändert wurde. Es ist der einzige überlieferte Entwurf zu dem Werkprojekt, sieht man von den erst nach Abschluss des Volksstücks entstandenen Werkverzeichnissen ab, in denen das darauf fußende Stück Die Bergbahn erwähnt ist (vgl. WV/E1–E4). Der ebenfalls in E1 genannte Titel „Novellen“ verweist neuerlich auf einen von Horváth geplanten Novellenband (vgl. den darüberstehenden Entwurf sowie WA 13/WP1/E1). In der unteren Blatthälfte hat Horváth einen Entwurf mit dem Werktitel „Nach der Saison“ (vgl. in diesem Band ZSA/VA/E1) notiert, wobei es sich um einen frühen Entwurf zur Komödie Zur schönen Aussicht handelt, die 1927 entstanden ist und noch 1927 vom Volksbühnen-Verlag verlegt wurde.

D1 = Revolte auf Côte 3018. Volksstück in vier Akten (Exemplar in: ÖLA 3/S 10) Stammbuch der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H., Berlin 1927, Paginierung 4–51, Widmungsexemplar mit Widmung „Meinen lieben Eltern von ihrem Ödön“ TS1 = Endfassung mit Werktitel „Revolte auf Côte 3018 / Volksstück in vier Akten / von / Ödön von Horváth.“ (Grundschicht) Druck in: GW I, S. 19–58.

Das Volksstück Revolte auf Côte 3018 bildet K1 des Volksstücks Die Bergbahn. Beide Stücke wurden 1927 fertiggestellt und von der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-

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GmbH vervielfältigt und vertrieben (zu den Unterschieden zwischen Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn vgl. die Übersichtsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 512–515). Mit den beiden Volksstücken Revolte auf Côte 3018 und Die Bergbahn beginnt Horváths Reihe der Volksstücke, die mit Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald (beide 1931), Kasimir und Karoline (1932) und Glaube Liebe Hoffnung (1933) so erfolgreich fortgesetzt wird. Die beiden frühen Stücke kreisen um den Tod des Arbeiters Schulz und einen daran anschließenden Arbeiteraufstand beim Bau der Zugspitzbahn. Horváth nahm sich damit erstmals eines sozial hoch aufgeladenen Themas an, nämlich der Unterdrückung der Arbeiterschaft durch die Unternehmer und Großkapitalisten. Die beiden Stücke, in Hamburg und Berlin mäßig erfolgreich uraufgeführt, sicherten Horváth dennoch einen ersten Bekanntheitsgrad als Schriftsteller und begründeten seine (vermeintliche) Nähe zum Marxismus in den Augen vor allem der rechtskonservativen Kritik. Der arbeitslose Friseur Max Schulz macht sich von Norddeutschland (Stettin) nach Bayern auf, weil er auf der Suche nach einer Anstellung ist. Wie er gehört hat, werden beim Bau der Zugspitzbahn noch Arbeiter gesucht. Die Kellnerin Veronika interessiert sich für den Neuankömmling und lässt sich auf ein Gespräch mit ihm ein, im Zuge dessen Schulz ihr einen Kuss abringen will. Veronikas Verlobter Moser bemerkt dies und verprügelt Schulz auf brutale Art und Weise. Schließlich wird Schulz eingestellt, stürzt aber am ersten Arbeitstag bei Schneefall ab und stirbt noch am Unglücksort. Die Arbeiter wollen ihn daraufhin ins Tal bringen und aufbahren, doch ein skrupelloser und erfolgssüchtiger Ingenieur hindert sie daran und möchte sie dazu zwingen, trotz des Todesfalls weiterzuarbeiten. So kommt es zu einer verbalen und bald auch handgreiflichen Auseinandersetzung der Arbeiter mit dem Ingenieur. Dieser zückt zuletzt einen Revolver, tötet den Arbeiter Oberle und verletzt Moser tödlich. Der Ingenieur selbst stürzt schließlich ab und Moser verblutet im Schneetreiben beim Abstieg vom Berg. Die Transkription von TS1 folgt dem Stammbuch im Volksbühnen-Verlag. Überzählige und fehlende Zeichenabstände werden stillschweigend korrigiert (vgl. die Anmerkung dazu im kritischen Apparat von TS1). Einzüge bzw. Zentrierungen von längeren Szenenanweisungen werden stillschweigend emendiert. T1 = ÖLA 3/W 226 – BS 64 c, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 224 mm), dünn, Durchschlag TS2 = Fassung mit Werktitel „Autobiographische Notiz / von Ödön von Horvath“ (Grundschicht) Druck in: GW III, S. 8.

Die Autobiographische Notiz ist einer der wenigen autobiographischen Texte, die Horváth verfasst hat, neben der Autobiographischen Notiz (auf Bestellung) und dem Text Fiume, Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien, München…. T1 ist das einzige Typoskript, das von der Autobiographischen Notiz erhalten ist. Es enthält die Fassung TS2, die eine Reinschrift darstellt. Anlass der Erstellung der Autobiographischen Notiz war die Uraufführung von Horváths erstem Volksstück Revolte auf Côte 3018 (unter dem Titel Revolte auf Höhe 3018) am 4. November 1927 an den Hamburger Kammerspielen, die den Text wahrscheinlich in Auftrag gegeben hatten. In dem Text weist Horváth nicht nur auf seine mehrsprachige Kindheit und auf das späte Erlernen der deutschen (Schrift-)Sprache hin, sondern auch auf die Bedeutung des Weltkriegs für seine Biographie. Dieser prägte seine Jugend (und die vieler Jahrgangskollegen, wie

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Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn

Horváth in dem Text andeutet) und hinterließ deshalb deutliche und vielfache Spuren in seinem literarischen Werk. TS2 wurde schließlich im Programmheft Der Freihafen. Blätter der Hamburger Kammerspiele abgedruckt (vgl. den Kommentar zu BB/ K1/TS3). D2 = Autobiographische Notiz In: Der Freihafen, Blätter der Hamburger Kammerspiele, 10. Jg. (1926/27), Heft 3, S. 3f. TS3 = Fassung mit Werktitel „Autobiographische Notiz / Von Ödön von Horvath“

Im Programmheft der Hamburger Kammerspiele Der Freihafen. Blätter der Hamburger Kammerspiele wurde Horváths Autobiographische Notiz abgedruckt, die auch in einer Reinschrift als Typoskript aus der Hand Horváths überliefert ist (vgl. BB/K1/TS2). In den folgenden Jahren hat der Autor nur selten weitere autobiographische Texte geschrieben, unter anderem den Text Fiume, Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien, München…, der im Februar 1929 im Ullstein-Magazin Der Querschnitt veröffentlicht wurde.

Konzeption 2: Die Bergbahn – Volksstück in drei Akten D1 = Die Bergbahn. Volksstück in drei Akten (Exemplar in: DTM B 3628) Stammbuch der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H., Berlin 1927, Paginierung 6–55, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte (Horváth), hs. Eintragungen von fremder Hand TS1 = Endfassung mit Werktitel „Die Bergbahn / Volksstück in drei Akten / von / Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW I, S. 59–99.

Die Endfassung des Volksstücks Die Bergbahn weist eine Gliederung in drei Akten auf, während dessen Vorstufe Revolte auf Côte 3018 noch in vier Akten angelegt war. Insgesamt fallen die Änderungen im Übergang von K1 zu K2 jedoch relativ gering aus (vgl. zu den Details die Übersichtsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes). Den Beginn des Stückes überarbeitet Horváth leicht, doch die Grundidee, das Auftauchen des Friseurs Schulz in der Arbeiterbaracke und seinen Konflikt mit Moser, bleibt erhalten. Die ersten beiden Akte von K1/TS1 legt der Autor in K2/TS1 zusammen, ohne dass er gröbere Änderungen am Dialogverlauf vornehmen würde. So entsteht in K2/TS1 die Struktur in drei Akten. Am Beginn des zweiten Aktes von Die Bergbahn fügt Horváth zwei neue Passagen ein: einen Dialog zwischen dem Ingenieur und Oberle über das Wetter. Hier finden sich schon erste Meinungsverschiedenheiten zwischen den Arbeitern und dem Ingenieur. Daran schließt ein Dialog zwischen Moser und Veronika über das mit Schulz Vorgefallene an, auf den eine kurze Dialogpassage zwischen Veronika und Simon folgt, in der dieser bekräftigt, dass es zwischen Moser und ihr wohl bald aus sein werde. Auf diese Passage folgt die Bergaufstiegs-Szene des dritten Aktes aus Revolte auf Côte 3018, die unverändert übernommen wird. Den folgenden Dialog zwischen dem Ingenieur und dem Aufsichtsrat übernimmt Horváth zunächst unverändert, arbeitet dann aber noch eine kurze Passage über die Liebe neu aus (vgl. K2/TS1/ SB Volksbühne 1927b, S. 32f.). Dann folgt er wieder der Szene von K1/TS1, die damit endet, dass das Notsignal ertönt und der Aufsichtsrat dem Ingenieur vorwirft, über Leichen zu gehen. Während in K1/TS1 der dritte Akt abbricht, folgt in K2/TS1 noch

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eine Dialogpassage zwischen dem Aufsichtsrat und Veronika über das Essen. Als siedie Notrufe hört, weist sie den Aufsichtsrat darauf hin, dass bereits einige Arbeiter „runter“ sind, also verunglückt. Der vierte bzw. dritte Akt beginnt in beiden Fassungen identisch. Hier folgt die Bergung des verunglückten Schulz, der kurze Zeit später verstirbt. Darauf kommt es zum Konflikt zwischen dem Ingenieur und den Arbeitern. Der Ingenieur zückt einen Revolver, tötet Oberle und verletzt Moser. Schließlich stürzt er selbst ab. In K1/TS1 folgt daraufhin erst die Szene zwischen dem Aufsichtsrat und Veronika über das Essen und die Verunglückten. Während in K1/TS1 zunächst die vier abgestiegenen Simon, Reiter, Xaver und Hannes auftauchen und von den Verunglückten (Schulz, Oberle, Moser und Ingenieur) berichten, folgt in K2/TS1 die Szene, in der Sliwinski und Maurer den verwundeten Moser im Schneesturm vom Berg herunterbegleiten und schließlich hinter sich lassen müssen. Diese Szene bildet in K1/TS1 den Schluss, während K2/TS1 mit der Szene endet, in der Hannes, Xaver, Simon und Reiter in der Baracke auftauchen und von den Verunglückten berichten, vor allem vom verunglückten Ingenieur, der vor seinem Tod noch wild um sich geschossen hatte: „bevor der zur Höll gfahrn is, da hat er vorher no auf Scheibn gschoßn“ (K2/TS1/SB Volksbühne 1927b, S. 53), womit er sich selbst und die anderen Arbeiter meint. Während die Revolte mit dem Tod Mosers endet, schließt Die Bergbahn mit dem höhnischen Lachen Hannes über die vermeintliche Furchtlosigkeit, die der Aufsichtsrat von sich behauptet. Die Transkription von Die Bergbahn folgt dem Stammbuch des Volksbühnen-Verlags von 1927, von dem sich ein Exemplar im Deutschen Theatermuseum (München) befindet. Überzählige und fehlende Zeichenabstände werden in TS1 stillschweigend korrigiert, mitunter von Horváth oder von fremder Hand eingefügte oder bereits in der Grundschicht enthaltene, inkonsequent gesetzte Apostrophe werden getilgt, mit Ausnahme des verkürzten bestimmten Artikels wie etwa „d’ Leut“ oder „and’ Faust“ (vgl. dazu auch die Anmerkungen im kritischen Apparat von TS1). Einzüge bzw. Zentrierungen von längeren Szenenanweisungen werden sillschweigend korrigiert. D2 = Natur gegen Mensch In: Tempo (Berlin), 4.1.1929. TS2 = Fassung mit Werktitel „Natur gegen Mensch / Von Oedon von Horvath“ (Grundschicht)

Am Tag der Uraufführung von Die Bergbahn an der Berliner Volksbühne (Theater am Bülowplatz) erschien in der Berliner Zeitschrift Tempo der vorliegende Text Horváths (TS2). Die Zeitschrift Tempo gehörte zum Ullstein-Verlagskonzern. Dass Horváths Text dort abgedruckt wurde, kündigt möglicherweise bereits den baldigen Wechsel des Autors vom Volksbühnen-Verlag zum Ullstein-Verlag an (vgl. dazu das Vorwort in diesem Band, S. 4f.). Unter dem Titel Natur gegen Mensch und einem Hinweis auf die Uraufführung desselben Tages stellt sich Horváth in dem kurzen Text zunächst persönlich vor und zitiert aus der „Randbemerkung“ zu seinem Stück die entscheidende Passage über den Dialekt als „psychologisches Problem“ (TS2; vgl. auch BB/K1/TS1/SB Volksbühne 1927a, o. Pag. (S. 2) und BB/K2/TS1/SB Volksbühne 1927b, o. Pag (S. 5)). Zuletzt erklärt er den titelgebenden Zusammenhang von „Natur gegen Mensch“ und konstatiert dazu: „Die Beherrschung der Natur ist das Endziel der menschlichen Gesellschaft. Die Natur ist der große Feind.“ (BB/K2/TS2) Er beschließt den Text mit der Feststellung: „Solange wir uns selbst belügen und betrügen lassen, solange schlägt uns die Natur. Auf der ganzen Linie.“ (ebd.)

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Zur schönen Aussicht

Zur schönen Aussicht Vorarbeit: Nach der Saison – Komödie H1 = ÖLA 84/S 59/F5/Bild 67 Diapositiv (schwarz/weiß) eines nicht erhaltenen Blattes E1 = Figurenliste mit Werktitel „Nach der Saison / Komödie von Ödön von Horváth“ Druck in: WA 13, S. 240f.

Das vorliegende Blatt ist nicht im Original überliefert (vgl. den Kommentar zu BB/K1/E1). Auf dem Blatt, das 1926/27 entstanden sein dürfte, notiert Horváth eine Reihe von Entwürfen zu drei Werkprojekten. Einerseits ist dies ein „Novellen-Band“, den der Autor in zwei Entwürfen erwähnt und mit dem er eine Zusammenstellung einiger damals bereits fertiggestellter Sportmärchen und anderer Kurzprosatexte plant (vgl. WA 13/WP1/E1 und E2). Andererseits notiert er den Titel „Revolte auf Punkt 3018“ (vgl. in diesem Band BB/K1/E1 und den Kommentar dort), mit dem er einen Titel für das wenig später fertiggestellte Volksstück Revolte auf Côte 3018 (1927) skizziert. Zuletzt hält Horváth die Figurenliste E1 zur Komödie „Nach der Saison“ fest. Es handelt sich dabei um einen frühen Entwurf zu der Komödie Zur schönen Aussicht, die 1927 fertiggestellt und vom Volksbühnen-Verlag vervielfältigt und vertrieben wurde. Es ist der einzige überlieferte Entwurf zu diesem Stück. Horváth nennt in der Liste folgende Figuren: Reichardt, Fräulein Stein, Gustl Müller, Gräfin, Graf, Kohberger, Rittmeister, Schnepf, Engelhardt, Oberst und Charlotte Klaus. Damit ist zwar keine Figur namentlich genannt, die später in Zur schönen Aussicht vorkommen wird, doch die Figuren Gräfin und Graf könnten auf die Freifrau und den Freiherrn von Stetten vorausweisen. Mit Charlotte Klaus ist möglicherweise eine Frühform der Christine genannt (vgl. auch den Charlotte-Roman, eine Vorarbeit zu Der ewige Spießer in WA 14). Ein Reichardt findet sich noch in einem Entwurf zu Wochenend am Staffelsee, einer Vorarbeit zu Italienische Nacht (vgl. WA 2/Italienische Nacht/VA/E1, E2 und E4; vgl. auch den Gustl (Müller) ebd., VA/E1 und E6), geht aber auch dort nicht in die Endfassungen des Stückes ein. Die genannten Figuren spiegeln ebenso wie jene in den Entwürfen zu Wochenend am Staffelsee reale Figuren, die Horváth aus Murnau kannte. Reichardt etwa hieß der Besitzer des „Strandhotels“ in Murnau. So gesehen dürfte es sich bei dem in E1 genannten Reichardt um einen Vorläufer des späteren Strasser in Zur schönen Aussicht handeln. Das Vorbild für das Hotel „Zur schönen Aussicht“ im gleichnamigen Stück gab jedoch vermutlich das Hotel „Schönblick“ in Murnau ab (vgl. KW 1, S. 291).

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Chronologisches Verzeichnis

Konzeption: Zur schönen Aussicht – Komödie in drei Akten D1 = Zur schönen Aussicht. Komödie in drei Akten (Exemplar in: ÖLA 3/S 9) Stammbuch der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H., Berlin 1927, Paginierung 4–81, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte (Horváth oder fremde Hand) TS1 = Endfassung mit Werktitel „Zur schönen Aussicht / Volksstück in drei Akten / von / Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW II, S. 7–74.

Die Komödie Zur schönen Aussicht markiert einen Wendepunkt in Horváths Frühwerk. Während die Prosa bereits seit den Sportmärchen (1923/24) und der verstreuten Kurzprosa (vgl. WA 13) deutlich ironisch gefärbt ist, schafft der Autor mit Zur schönen Aussicht erstmals den Sprung ins Komische auch in der Dramatik. Mit der vorliegenden Komödie, die durchaus auch den Gattungstitel Volksstück tragen könnte, entwickelt Horváth wesentliche Ingredienzien seiner Dramatik, die auch die folgenden Stücke Rund um den Kongreß (1929) und die großen Volksstücke Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald (beide 1931), Kasimir und Karoline (1932) und Glaube Liebe Hoffnung (1933) prägen werden. Zu diesen Ingredienzien zählt die Problematik des Mädchenhandels bzw. der Abhängigkeit der Frau vom Mann, die allerdings in der vorliegenden Komödie komisch gewendet ist, die alles dominierende Frage des Geldes, eine Dramenhandlung, die auf ein Fräulein bzw. auf Beziehungsfragen fokussiert ist, ein erhöhtes sprachliches Bewusstsein, sprachkritische und sprachspielerische Elemente, Anklänge an den ‚Bildungsjargon‘ und ein kreativer Umgang mit konventionellen dramatischen Formen. Die Handlung in Zur schönen Aussicht stellt die alleinstehende Christine, die ein uneheliches Kind hat, ins Zentrum. Diese war im Sommer davor im Hotel „Zur schönen Aussicht“ (vgl. den Kommentar zu VA/E1) abgestiegen und hatte dabei ein Verhältnis mit Strasser, dem Hotelbesitzer. Dieser ist auch der Vater ihres Kindes. Christine hat Strasser in einer Reihe von Briefen um Unterstützung gebeten. Doch dieser hat die Briefe unbeantwortet gelassen. Aus diesem Grund ist sie jetzt ins Hotel gekommen, um Strasser zur Rede zu stellen. Die Pointe des Stückes liegt nun aber darin, dass Strasser zunächst, gemeinsam mit seinem Kellner Max, seinem Chauffeur Karl, dem Bruder seiner älteren Geliebten Ada, Emanuel, sowie einem Herr Müller von der Sekt-Firma Hergt und Sohn einen Plan entwickelt, wie er der Verpflichtung auf Alimentezahlungen entkommen kann. Jeder der fünf Herren gibt vor, mit Christine intim geworden zu sein, um deren Unehrenhaftigkeit zu beweisen und die Vaterschaft Strassers in Zweifel zu ziehen. Als sich jedoch herausstellt, dass Christine gar kein Geld braucht, weil sie geerbt hat, sondern dass sie selbst eine gute Partie ist, versucht jeder der fünf „werten Herren“ (K/TS1/SB Volksbühne 1927c, S. 58, 60 und 79), sie für sich zu gewinnen. Christine zieht es jedoch vor, keinen der „werten Herren“ zu erhören und reist wieder ab. Strasser will sie erst wieder besuchen, wenn ihr Kind sie nicht mehr braucht. Sie zweifelt allerdings daran, dass sein Hotel dann noch stehen wird. Die Transkription von TS1 folgt dem Stammbuch im Volksbühnen-Verlag von 1927. Die wenigen handschriftlichen Eintragungen mit schwarzer Tinte, die sich in dem Stammbuch finden, dürften von Horváth oder aber einer fremden Hand stammen und werden in der Transkription realisiert. Überzählige und fehlende Zeichenabstände, fehlende Absätze vor oder nach Szenenanweisungen, überzählige Absätze

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Rund um den Kongreß

zwischen Figurennamen oder Regieanweisungen und dazugehörigen Repliken, sowie Apostrophe, die fallweise gesetzt wurden, werden stillschweigend korrigiert. Alle weiteren editorischen Eingriffe sind im kritischen Apparat vermerkt.

Rund um den Kongreß Konzeption: Rund um den Kongress – Posse in fünf Bildern D1 = Rund um den Kongress. Posse in fünf Bildern (Exemplar in: ÖLA 3/S 11) Stammbuch des Arcadia Verlags, Berlin 1929, Paginierung 4–73, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte (Horváth) TS1 = Endfassung mit Werktitel „Rund um den Kongress / Posse in fünf Bildern / von / Ödön Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW II, S. 75–138.

Die Transkription von TS1 folgt dem Stammbuch im Arcadia Verlag von 1929. Die wenigen handschriftlichen Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, die sich in dem Stammbuch finden, stammen eindeutig von Horváth und werden deshalb in der Transkription realisiert. Es handelt sich dabei um eine teilweise Streichung und Ersetzung des Dialogs auf den S. 10 und 12, die zum ersten Bild gehören. Darüber hinaus finden sich keine weiteren Korrekturen in dem Stammbuch. Die Posse Rund um den Kongreß stellt einen Schlüsseltext in Horváths Werk dar. Es ist der erste Dramentext Horváths, der in dem zum Ullstein-Konzern zählenden Arcadia Verlag erschienen ist, bei dem Horváth seit dem 11. Jänner 1929 unter Vertrag stand und von dem er monatliche „Pränumerando-Zahlungen“ von zunächst 500, dann (ab März 1929) 300 Reichsmark bekam (vgl. den Vertrag zwischen dem Ullstein Verlag und Ödön von Horváth vom 11. Jänner 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein-Buchverlags, Berlin). Im Arcadia Verlag werden Horváths große Volksstücke in Form von Stammbüchern verlegt: Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald, Kasimir und Karoline und Glaube Liebe Hoffnung. Überdies erschienen von Italienische Nacht und Geschichten aus dem Wiener Wald 1931 auch Buchausgaben im ebenfalls zu Ullstein gehörenden Propyläen-Verlag, der bereits Horváths ersten Roman Der ewige Spießer (1930) gebracht hatte. Mit Ullstein hatte Horváth eine auch pekuniär reizvolle verlegerische Heimat gefunden. Die zuvor zumeist beim Volksbühnen-Verlag erschienenen Stücke sicherten dem Autor wohl kaum das Auskommen. Immerhin war er jedoch mit dem Volksstück Die Bergbahn (UA 4.1.1929 Volksbühne) bereits hervorgetreten und hatte einiges an kritischer Fürsprache erfahren (vgl. das Vorwort zu diesem Band, S. 4f. und 21–26). Der Wechsel zu einem der renommiertesten und vor allem geschäftlich erfolgreichsten Verlage der Weimarer Republik war für Horváth auch nach eigenem Empfinden ein wichtiger Schritt in Richtung breiter Akzeptanz als Autor. Die Posse Rund um den Kongreß stellt jedoch nicht nur in verlegerischer Hinsicht, sondern auch thematisch einen zentralen Text in Horváths Werk dar. Ganz explizit widmet sich der Autor darin der Problematik des Mädchenhandels, die letztlich auch die großen Volksstücke unterschwellig dominiert. Zentral ist in der frühen Posse auch eine Figur, die schlicht „Das Fräulein“ heißt und die für Horváths Werk geradezu charakteristisch werden wird (vgl. Kastberger/Streitler 2006). Dieses unter äu-

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Chronologisches Verzeichnis

ßerster materieller Not leidende Fräulein wird von dem windigen Zuhälter Alfred nach Südamerika vermittelt, wo sie offiziell als „Kindergärtnerin“ arbeiten soll, inoffiziell aber als Prostituierte bei einem gewissen Herrn Ibanez. Der Deal platzt jedoch, weil der ehemalige Ehemann des Fräuleins, Ferdinand, Alfreds Bruder, auftaucht, und verspricht, das Fräulein wieder zu ehelichen. Eine ähnliche Handlungsstruktur findet sich auch in einer Vorarbeit zu Geschichten aus dem Wiener Wald, Elisabeth, die Schönheit von Thüringen (vgl. WA 3/VA1). Ein Teil der Handlung von Rund um den Kongreß taucht auch in der, Fragment gebliebenen, Vorarbeit zu demselben Volksstück, Ein Fräulein wird verkauft, auf (vgl. WA 3/VA2). Dort finden sich auch alle drei zentralen Figuren von Rund um den Kongreß, das Fräulein, Alfred und Luise Gift. Auch die beiden Dramenprojekte Die Mädchenhändler und Von Kongress zu Kongress (1929/30) stehen noch deutlich unter dem Einfluss von Rund um den Kongreß, der sie als Nacharbeiten zugeordnet werden könnten (vgl. auch WA 3, S. 1), sie werden jedoch im Band der Dramenfragmente (WA 12) separat ediert. Sowohl in der Posse als auch in den Nachbearbeitungen spielt der „Kongress für internationale Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels“ (RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 38) eine ganz wesentliche Rolle. Die Posse gipfelt darin, dass das Fräulein von diesem Kongress befragt wird und dort die Frage verhandelt wird, ob der Mädchenhandel, mithin die Prostitution, überhaupt vermeidbar ist oder ob sie nicht eine unabdingbare Folge der wirtschaftlichen Not von Frauen darstellt. Die Frage des Mädchenhandels wird in Rund um den Kongreß durch den Kongress zu dessen Bekämpfung nicht gelöst. Dies bildet gewissermaßen die werkgeschichtliche Prämisse für Horváths folgende Stücke der frühen 1930er Jahre, die letztlich allesamt um die Thematik des Mädchenhandels bzw. die (Ver-)Käuflichkeit des weiblichen Körpers kreisen, auch wenn dies nicht immer die zentrale thematische Idee darstellt. Deutliche inhaltliche Bezüge von Rund um den Kongreß bestehen auch zu der Komödie Zur schönen Aussicht (1927). Wie dort findet sich in der Posse die Idee des „liebe[n] Gott[es]“ als Geldsumme (vgl. ZSA/K/TS1/SB Volksbühne 1927c, S. 24 und RK/ K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 20). Auch Adas Satz „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“ (ZSA/K/TS1/SB Volksbühne 1927c, S. 73) taucht in der Posse als Luise Gifts Replik „Ich bin ja ganz anders, aber ich komme so selten dazu --“ (RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 15) wieder auf. Weiters findet sich sowohl in der Komödie als auch in der Posse der Satz „Man müsste den lieben Gott besser organisieren“, einmal von Christine, einmal von Schminke geäußert (vgl. ZSA/ K/TS1/SB Volksbühne 1927c, S. 80 und RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 62). Von Rund um den Kongreß gibt es auch Bezüge zu dem späteren Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald. So scheint die Beziehung zwischen Alfred und Luise Gift jene zwischen Alfred und Valerie vorwegzunehmen, die in frühen Konzeptionen des Volksstücks sogar noch den Namen Luise trägt, der ab WA 3/K3 zu Mathilde und erst in WA 3/K5 zu Valerie verändert wird. Besonders markant äußert sich dies in der Andeutung einer vermeintlichen körperlichen Misshandlung Luise durch Alfreds mittels Luises Replik: „Und am siebzehnten März?“ (RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 24), die sich in exakt gleicher Form auch in Geschichten aus dem Wiener Wald findet, dort von Valerie gegenüber Alfred geäußert (vgl. WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 35). Außerdem findet sich bereits in der Posse Alfreds Aufforderung, Luise solle sich bitte einen „anderen Kopf“ aufsetzen, was in ähnlicher Form in der entsprechenden Szene zwischen Alfred und Valerie im Volksstück wiederauftaucht (vgl. RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 41 und WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 11). Das in der Regieanwei-

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Rund um den Kongreß / Werkverzeichnisse

sung vermerkte Motiv, dass Luise Gift, während sie sich die Lippen schminkt, den „Totenmarsch“ von Chopin summt, findet sich sowohl in Rund um den Kongreß als auch in Ein Fräulein wird verkauft als auch in Geschichten aus dem Wiener Wald (hier: „Trauermarsch“), dort wieder auf Valerie bezogen (vgl. RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 7, WA 3/VA2/TS3/BS 24 [5], Bl. 24 und WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 12). Auch die dort eher kryptisch wirkende Zeigefinger-Geste von Geschichten aus dem Wiener Wald zwischen der Baronin und dem Hierlinger Ferdinand ist in Rund um den Kongreß vorgebildet (vgl. RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 23 und WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 64). Ein weiterer unmittelbarer dialogischer Bezug zwischen der Posse und dem Volksstück liegt mit der Passage „Lieber Gott, was hast du mit mir vor, lieber Gott?“ vor, die in der Posse von Luise Gift, im Volksstück jedoch von Marianne im Bild „Im Stephansdom“ geäußert wird (vgl. RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 43 und WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 79f.). Einen Vorläufer des späteren Rittmeisters von Geschichten aus dem Wiener Wald bzw. einen Vorläufer des Wiener Milieus und Jargons des Volksstücks hat man wohl in dem Hauptmann des dritten Bildes zu sehen, der „österreichisch“ spricht (vgl. RK/K/TS1/SB Arcadia 1929, S. 34–37). Zugleich könnte es sich beim Dialog zwischen Schminke und dem Hauptmann um eine (selbstironische) Parodie der Dialogszene zwischen Schminke und dem Hauptmann in Horváths dramatischer Historie Sladek oder: Die schwarze Armee (1928) handeln (vgl. WA 2). Wie die Figur Schminke ja generell eine Stehfigur in Horváths Dramatik und Prosa der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre darstellt (vgl. auch die Werkprojekte Ein Fräulein wird verkauft und Die Schönheit aus der Schellingstrasse in der Genese von Geschichten aus dem Wiener Wald, WA 3/VA2 und K1). Die Transkription TS1 der Posse Rund um den Kongreß folgt dem Stammbuch im Arcadia Verlag von 1929. Die handschriftlichen Streichungen und Ergänzungen Horváths in diesem werden in TS1 umgesetzt. Überzählige und fehlende Zeichenabstände sowie fehlende Absätze vor oder nach Szenenanweisungen werden stillschweigend korrigiert. Die inkonsequent gesetzten Apostrophe werden getilgt, wie es der Handhabung Horváths in den Typoskripten entspricht. Alle weiteren editorischen Eingriffe sind im kritischen Apparat vermerkt.

Werkverzeichnisse H1 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 8v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E1 = Werkverzeichnis Druck in: WA 2, S. 106f.

Das Notizbuch Nr. 6 hat Horváth im Zuge der Arbeit an Vorstufen zum Roman Der ewige Spießer verwendet, und zwar während seiner Fahrt zur Weltausstellung in Barcelona im September 1929 und danach bis Dezember 1929, also bereits nach Fertigstellung und Drucklegung seines Dramas Sladek, der schwarze Reichswehrmann, das wahrscheinlich im Sommer 1929 gedruckt wurde. Die im Notizbuch Nr. 6 enthaltenen Entwürfe zum Roman Der ewige Spießer gehören zu dessen K3, Herr Kobler wird Paneuropäer (vgl. WA 14). Auf dem vorliegenden Blatt notiert Horváth ein Werkverzeichnis E1, das folgende Titel enthält: „Die Bergbahn“, „Sladek, der schwarze

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Chronologisches Verzeichnis

Reichswehrmann“ und „Rund um den Kongress“, wobei er die beiden ersten mit dem Aufführungsort versieht: Zu Die Bergbahn notiert er „Hamburger Kammerspiele; Volksbühne“ und zu Sladek „Lessingtheater“. Die Uraufführung von Revolte auf Côte 3018 (1927), der ersten Fassung von Die Bergbahn (1927), fand am 4. November 1927 in den Hamburger Kammerspielen statt. Die Bergbahn selbst wurde am 4. Jänner 1929 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt. Die Uraufführung des Schauspiels Sladek, der schwarze Reichswehrmann (1929) fand am 13. Oktober 1929 als Matinee des Lessingtheaters Berlin durch die „Aktuelle Bühne“ statt. Das vorliegende Werkverzeichnis E1 dürfte kurz davor entstanden sein. Die Uraufführung der Posse Rund um den Kongreß (1929) fand erst am 5. März 1969 im Theater am Belvedere in Wien statt (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 26–28). Horváth notiert sich immer wieder solche Werkverzeichnisse, eine Besonderheit des vorliegenden ist jedoch die Hinzufügung von Aufführungsorten. H2 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 11 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E2 = Werkverzeichnis Druck in: WA 2, S. 108f. und WA 14, S. 312f.

In E2, der sich ebenfalls im Notizbuch Nr. 6 befindet (vgl. den Kommentar zu E1), notiert Horváth zuoberst den Titel „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“, darunter „Die Bergbahn“, „Rund um den Kongress“, „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Der europäische Spiessbürger“. Ein Teil der erwähnten Werkprojekte – Sladek, Die Bergbahn und Rund um den Kongreß – ist zu diesem Zeitpunkt schon fertig, die beiden Romanprojekte „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Der europäische Spiessbürger“ sind jedoch noch in Arbeit und werden von Horváth in E2 noch als getrennte Werkprojekte betrachtet (vgl. dazu den Kommentar zu WA 14/K3/E7). Bei dem auf dem Blatt untenliegenden Entwurf WA 14/K3/E8 handelt es sich um einen Strukturplan zum ersten Kapitel des Romans „Der europäische Spiessbürger“ (später: Herr Kobler wird Paneuropäer), das in der Münchener Schellingstraße angesiedelt sein soll. H3 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 4v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E3 = Werkverzeichnis Druck in: WA 14, S. 454f.

Das Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364) enthält Entwürfe zum Roman Der ewige Spießer, zu dem Hörspiel Stunde der Liebe (beide 1930) und die frühesten Entwürfe zu dem Werkprojekt Ein Wochenendspiel (vgl. den Kommentar zu WA 2/Italienische Nacht/K1/E1). Bei E3 handelt es sich um ein Werkverzeichnis, das wahrscheinlich im Frühjahr 1930 entstanden ist. Horváth vermischt darin bereits ausgearbeitete und erst in Planung befindliche Werkprojekte. In einem ersten Werkverzeichnis (vgl. WA 14/K4/E2), das der Autor wohl unmittelbar nach der Niederschrift wieder gestrichen hat, erwähnt er den Roman „Der ewige Spiesser“, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen war, und unter „Dramatische Skizzen“ „Die Bergbahn / Historie vom Schwarzen Reichswehrmann / Stunde der Liebe 1930 / Rund um den Kongress“.

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Werkverzeichnisse / Endfassungen, emendiert

Zu Stunde der Liebe 1930 gab es zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich erst einige fragmentarische Entwürfe. Die „Sieben Szenen für Rundfunk“ wurden jedoch noch 1930 fertiggestellt (vgl. KW 15, S. 128–144 und 207). Darunter notiert der Autor ein ähnliches Werkverzeichnis mit der Abfolge: „Der ewige Spiesser / Roman“ und „Dramatische Skizzen“: „Die Bergbahn / Historie vom Schwarzen Reichswehr{mann} / Rund um den Kongress / Stunde der Liebe 1930“, die überdies vom Autor mit den Jahreszahlen 1926, 1927, 1929 und 1930 versehen werden. Zuletzt notiert Horváth den Titel „Ein Wochenendspiel“ mit dem Zusatz „in drei Akten“. Es handelt sich dabei um die erste Erwähnung dieses Titels (vgl. WA 2/Italienische Nacht/K1/E1), der den Titel von K1 und zugleich der ersten Fassung des Volksstücks Italienische Nacht (1931) darstellt. H4 = IN 221.001/4 – BS 45 a [4], Bl. 7 1 Blatt kariertes Papier (208 × 150 mm), (Handelsregister), unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte E4 = gestrichenes Werkverzeichnis (oben) Druck in: WA 2, S. 110f. und WA 4, S. 110f.

Das vorliegende Blatt ist Teil der Werkgenese des Volksstücks Kasimir und Karoline (K2, Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Emil Wegmann, vgl. WA 4/K2/E27 und E28) und ist wahrscheinlich auf den Winter 1931/32 bzw. das Frühjahr 1932 zu datieren. Horváth notiert hier ein Werkverzeichnis E4, das folgendermaßen aussieht: Unter der Kategorie „Prosa und frühe dramatische Arbeiten“ vermerkt der Autor „Der ewige Spiesser“, „Norden“, „Bergbahn“ und „Sladek“, unter der Kategorie „Volksstücke: „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“ und „Die Kleinen, die man hängt“. Zuletzt nennt er auch noch unter „Zauberpossen“ „Himmelwärts“ und versieht diesen Eintrag mit der Bemerkung „usw.“. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Blattes waren nicht alle der erwähnten Stücke abgeschlossen. Wie so oft vermischt Horváth in dem Werkverzeichnis abgeschlossene und in Arbeit bzw. – im Falle der Zauberposse Himmelwärts – sogar erst in Planung befindliche Werkprojekte. Bei „Norden“ handelt es sich um ein bis heute der Forschung Rätsel aufgebendes Werkprojekt, das Horváth vielleicht gar nie begonnen und schon gar nicht vollendet hat und zu dem es kein überliefertes genetisches Material gibt. Der Autor streicht schließlich E4, um darunter den Entwurf WA 4/K2/E28 einzutragen, der eine Dialogskizze zum vierten Bild von Kasimir und Karoline in sieben Bildern (K2) enthält. Emil Wegmann erklärt darin Karoline, dass sich das ganze Leben in Prozenten ausdrücken lasse – eine Idee, die Horváth bereits in WA 4/K1/E1, TS5 und K2/E26 entwickelt hatte.

Emendierte Endfassungen Ein Epilog (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Ein Epilog bildet die Typoskript-Fassung von 1923 (K/T1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1922). Die von Horváth gesetzten Bindestriche wurden wie folgt normalisiert: Ein und zwei Bindestriche wurden zu einem Gedanken-

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Chronologisches Verzeichnis

strich vereinheitlicht. Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 522).

Mord in der Mohrengasse (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Mord in der Mohrengasse bildet die Typoskript-Fassung von 1923/24 (K/T1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1922). Die von Horváth durchgängig gesetzten drei Bindestriche wurden zu einem Gedankenstrich umgewandelt. Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 522).

Niemand (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Niemand bildet die Typoskript-Fassung des Verlags „Die Schmiede“ von 1924 (K/T1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1922). Die Schreibung des für das Stück entscheidenden Indefinitpronomens „niemand“ wird auch in der emendierten Fassung bei „Niemand“ belassen. Die von Horváth fast durchgängig gesetzten drei Bindestriche wurden zu einem Gedankenstrich umgewandelt, ebenso wie die fallweise gesetzten einzelnen Bindestriche, vier Bindestriche zu zwei Gedankenstrichen. Die vom Autor ebenfalls zur Satztrennung eingesetzten Schrägstriche wurden auch in der emendierten Fassung so belassen. Sie kommen in der Funktion Beistrichen nahe und ziehen folglich keine Großschreibung nach sich. Apostrophe werden getilgt, wie es der sonstigen Handhabung Horváths in den Typoskripten entspricht. Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 522).

Die Bergbahn (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Die Bergbahn bildet die Stammbuch-Fassung des Volksbühnen-Verlags von 1927 (K2/D1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1922). Einfache Bindestriche wurden zu einfachen Gedankenstrichen umgewandelt, doppelte zu doppelten, dreifache zu dreifachen. Apostrophe wurden, wie es der Handhabung Horváths in den Typoskripten entspricht, außer bei der Verkürzung des bestimmten Artikels (z.B. „d’ Leut“), getilgt. Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 522).

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Endfassungen, emendiert

Zur schönen Aussicht (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Zur schönen Aussicht bildet die Stammbuch-Fassung des Volksbühnen-Verlags von 1927 (K/D1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1922). Ein und zwei Bindestriche werden zu einem Gedankenstrich vereinheitlicht, drei und mehr Bindestriche zu zwei Gedankenstrichen. Die Zimmernummern, die in K/D1 teils numerisch realisiert sind, wurden allesamt ausgeschrieben. Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 522).

Rund um den Kongreß (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Rund um den Kongreß bildet die Stammbuch-Fassung des Arcadia Verlags von 1929 (K/D1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1929). Ein und zwei Bindestriche werden zu einem Gedankenstrich vereinheitlicht, drei und mehr Bindestriche zu zwei Gedankenstrichen. Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 522).

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Chronologisches Verzeichnis

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Endfassungen, emendiert

Übersichtsgrafik

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Tab1: Textvergleich RevolteChronologisches auf Côte 3018 / Verzeichnis Die Bergbahn (BB/K1/TS1, BB/K2/TS1)

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Tab1: Textvergleich Revolte auf Endfassungen, Côte 3018 / emendiert Die Bergbahn (BB/K1/TS1, BB/K2/TS1)

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Tab1: Textvergleich RevolteChronologisches auf Côte 3018 / Verzeichnis Die Bergbahn (BB/K1/TS1, BB/K2/TS1)

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Tab1: Textvergleich Revolte auf Endfassungen, Côte 3018 / emendiert Die Bergbahn (BB/K1/TS1, BB/K2/TS1)

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Editionsprinzipien

Anhang

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Editionsprinzipien

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Editionsprinzipien

Editionsprinzipien Die Wiener Ausgabe (WA) sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist eine historischkritische Edition. Sie umfasst alle abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Werke sowie alle verfügbaren Briefe und Lebensdokumente des Autors. Den Ausgangspunkt bilden die umfangreichen werkgenetischen Materialien aus dem Nachlassbestand des Autors im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (teilweise als Leihgabe der Wienbibliothek im Rathaus). Die einzelnen Bände der WA sind in Vorwort, Text- und Kommentarteil gegliedert. In ihrem Zusammenspiel machen diese Teile den Entstehungsprozess der Werke transparent und bieten die Möglichkeit eines schrittweisen Nachvollzugs bis in die Letztfassungen der Texte. Das Vorwort skizziert die Entstehungsgeschichte unter Miteinbeziehung der zeitgenössischen Rezeption. Der Textteil reiht die genetischen Materialien chronologisch, wobei die Edition in Auswahl und Textkonstitution auf Lesbarkeit zielt. Dem Lesetext ist ein kritisch-genetischer Apparat beigegeben. Dieser macht die Änderungsprozesse des Autors deutlich, auf denen die konstituierten Fassungen basieren, ferner verzeichnet er alle Eingriffe der Herausgeber. Die Endfassung des Werkes wird zusätzlich in emendierter Form dargestellt. Im Kommentarteil findet sich ein chronologisches Verzeichnis, das alle vorhandenen Textträger formal und inhaltlich beschreibt und Argumente für die Reihung der darauf befindlichen Entwürfe (E) und Textstufen (TS) sowie für die Konstitution der innerhalb der Textstufen vorliegenden Fassungen liefert. Simulationsgrafiken dienen zur Darstellung komplexer genetischer Vorgänge.

1 Textteil 1.1 Genetisches Material Das genetische Material wird in zwei unterschiedlichen Formen zur Darstellung gebracht: Entwürfe erscheinen in diplomatischer Transkription, Fassungen innerhalb von Textstufen werden linear konstituiert.

1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) Von genetischen Materialien, deren Topografie sich nicht in eine lineare Folge auflösen lässt, wird eine diplomatische Transkription geboten. Hierbei handelt es sich um sogenannte Entwürfe (E), in denen Horváth auf meist nur einem Blatt in Form von Strukturplänen u.ä. das grobe Konzept von Werken und Werkteilen oder knappe Textskizzen entwirft. Die diplomatische Transkription versteht sich als eine Orientierungshilfe zur Entzifferung des nebenstehend faksimilierten Originals und gibt dessen Erscheinungsbild nicht in allen Details, sondern nur insofern wieder, als dies der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre dient. Den verwendeten Schriftgrößen kommt dabei keine distinktive Funktion zu; sie dienen dazu, die räumlichen Verhältnisse des Originals annähernd wiederzugeben. Folgende Umsetzungen finden statt:

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Überschriebene Zeichen oder Wörter werden links neben den ersetzenden wiedergegeben, wobei der ursprüngliche Ausdruck gestrichen und der neue Ausdruck mittels zweier vertikaler Linien eingeklammert wird: tä|e|xt; text|text|. Unlesbare Wörter erscheinen als { }, gegebenenfalls mehrfach gesetzt; unsicher entzifferte Zeichen und Wörter als: te{x}t, {text}. Gestrichener Text in Zeilen erscheint als: text. Vertikale oder kreuzförmige Streichungen werden als solche dargestellt. Mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie gekennzeichneter Text wird als solcher wiedergegeben. Unterstreichungen erscheinen als: text, text. Deutlich von einem Wort abgesetzte Punkte werden entsprechend dargestellt: text . Eingerahmte oder in eckige Klammern gestellte Ziffern, Wörter und Textpassagen erscheinen als: [text], gegebenenfalls auch über mehrere Zeilen gestellt. Der vom Autor zur Strukturierung verwendete Stern (manchmal eingekreist und bis hin zu dicken schwarzen Punkten intensiviert) erscheint als: . Das vom Autor zur Strukturierung verwendete große X erscheint als: . Von Horváth zur Markierung verwendete An- und Durchstreichungen werden individuell angepasst wiedergegeben. Verweispfeile und Linien werden schematisch dargestellt, sofern sie Wörter und Textblöcke miteinander verbinden. Dienen solche Zeichen der Abgrenzung von Textteilen, werden sie nicht wiedergegeben. Liegen auf einem Blatt mehrere Entwürfe nebeneinander, werden diese ab dem zweiten Entwurf zur besseren Unterscheidung grau hinterlegt. Aktuell nicht relevanter Text (Entwürfe zu anderen Werken und Werkvorhaben) erscheint in grau 50 %: text. Die im Zuge der Berliner Bearbeitung von Horváths Nachlass partiell vorgenommene Transkription schwer lesbarer Wörter bzw. allfällige Kommentare direkt in den Originalen erscheinen kursiv und in grau 50 %: text.

1.1.2 Lineare Textkonstitution (Fassungen) Textausarbeitungen des Autors, die eine lineare Lektüre zulassen, werden (ohne Faksimileabdruck) konstituiert. Hierbei handelt es sich um Fassungen oft im Rahmen umfänglicher Textstufen (TS). Folgende Prinzipien kommen zur Anwendung: x

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Schichtwahl: Im Lesetext wird entweder die Grundschicht oder die in der jeweiligen Arbeitsphase gültige Korrekturschicht einer Textstufe ediert. Die Grundschicht wird im Allgemeinen dann gewählt, wenn es um die Präsentation frühester Schreibansätze geht; in eher seltenen Fällen liegen Typoskripte auch ohne handschriftliche Korrekturschichten vor. Ein genauer Ausweis der Schichtwahl (im Fall des Vorliegens komplexer Schichtungen differenziert nach unterschiedlichen Schreibwerkzeugen und Farben – z.B. schwarze Tinte, roter Buntstift) erfolgt im chronologischen Verzeichnis. Punktuelle Streichungen und Einfügungen, die aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, weil das Material im Laufe des Produktionsprozesses dorthin weitergewandert ist, werden im Lesetext nicht berücksichtigt. Besondere Auffälligkeiten werden gegebenenfalls im chronologischen Verzeichnis beschrieben.

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Textausarbeitungen, die linear in eine Fassung nicht sinnvoll integriert werden können, aber offensichtlich aus der gegenwärtigen Bearbeitungsphase stammen, erscheinen im Lesetext eingerückt und grau hinterlegt. Deutlich gesetzte Leerzeilen werden in entsprechender Anzahl wiedergegeben.

Emendiert (und im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesen) werden offensichtliche Schreib- und Tippfehler des Autors sowie inkonsequente Ersetzungen oder offensichtlich falsche Setzungen von Figuren- oder Ortsnamen. Folgende Normierungen finden statt: Regie- und Szenenanweisungen erscheinen kursiv, Figurennamen in Kapitälchen (innerhalb von Regie- oder Szenenanweisungen nur dann, wenn sie vom Autor grafisch hervorgehoben wurden, ansonsten bleiben sie ohne Auszeichnung). Von Horváth hs. fallweise anstelle von (runden Klammern) gesetzte [eckige Klammern] werden als runde Klammern wiedergegeben. Autortext erscheint in Times New Roman 12 pt. Herausgebertext innerhalb des Autortextes wird unter Backslashes in Helvetica 9 pt. gesetzt; im Einzelnen umfassen diese Eintragungen den Abbruch von Textbearbeitungen ohne Anschluss an den folgenden Text bzw. am Ende von Texten durch den Eintrag: \Abbruch der Bearbeitung\ sowie den Verlust von Text (z.B. durch Abriss oder Blattverlust): \Textverlust\.. Unsicher entzifferte Buchstaben bzw. unsicher entzifferte Wörter erscheinen als: te{x}t, {text}; unlesbare Wörter (gegebenenfalls mehrfach gesetzt) als: { }. Blattwechsel wird durch 얍 angezeigt, die Angabe des neuen Textträgers mit Signatur erfolgt in der Randspalte. Die Ansatzmarke: text kennzeichnet im Lesetext Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungsvorgängen des Autors oder Eingriffen der Herausgeber hervorgegangen sind; nachgewiesen wird beides im kritisch-genetischen Apparat. B

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1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat Werden Fassungen in der Grundschicht ediert, verzeichnet der kritisch-genetische Apparat die Veränderungsprozesse nur in dieser Schicht (Sofortkorrekturen). Werden Fassungen in der Korrekturschicht ediert, verzeichnet er alle Änderungsprozesse im Übergang von der Grundschicht zur Korrekturschicht; Sofortkorrekturen in der Grundschicht werden hier nicht mehr verzeichnet, sondern als Ausgangspunkt gesetzt. Ferner weist der kritisch-genetische Apparat alle Eingriffe der Herausgeber nach (diese werden von Herausgeberkommentaren eingeleitet, wie z.B. korrigiert aus:, gestrichen:, gemeint ist:). Autortext erscheint in Times New Roman 10 pt, Herausgebertext in Helvetica 9 pt.

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Editionsprinzipien

1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) Was die Gestalt der Endfassungen betrifft, werfen die bisherigen Leseausgaben Horváths zahlreiche Fragen auf. Um den Benutzern der Wiener Ausgabe einen einheitlich normierten Lesetext zu bieten, erscheinen die Endfassungen der Texte zusätzlich in emendierter Form. Die Basis der Emendation bieten die zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Gegenüber den (nicht immer konsequent gepflogenen) Eigentümlichkeiten von Horváths Schreibung ergeben sich Abweichungen vor allem in folgenden Punkten: x

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Zusammengeschriebene Wörter und Wortgruppen wie „garnicht“, „garkein“, „nichtmehr“ werden getrennt. Doppel-s anstelle von ß wird berichtigt (mit Ausnahme des Doppel-s im Format Figurennamen, z.B. G ROSSMUTTER ). Die Interjektionen, bei Horváth oft: „A“ und „O“, werden auf „Ah“ und „Oh“ vereinheitlicht. Falschschreibung von Fremdwörtern wird korrigiert, sofern es sich nicht um stilistische Setzungen handelt. Werden bereits zu Horváths Lebzeiten gemäß zeitgenössischer Rechtschreibkonvention veraltete Fremdwortschreibungen verwendet (z.B. „Affaire“, „Couvert“), so wird die Schreibung Horváths beibehalten. Fehlende Accents werden nachgetragen, ebenso fehlende Punkte, auch in „usw.“ etc. Gedankenstriche, die in Typoskripten als -- realisiert sind, erscheinen als –. Die groß geschriebene Anrede „Du“, „Ihr“ etc. wird klein gesetzt, die Höflichkeitsform erscheint groß. Ebenfalls groß bleiben persönliche Anreden in Zitaten innerhalb von Figurenreden (z.B. in von Figuren vorgelesenen Briefen, Schildern etc.). Kleinschreibung am Beginn ganzer Sätze nach Doppelpunkten und Gedankenstrichen wird korrigiert. Kommasetzung, im Einzelnen: – Überzählige Kommata in als- und wie-Vergleichen werden getilgt. – Fehlende Kommata in vollständigen Hauptsätzen, die durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, werden ergänzt; ebenso in Relativsätzen und erweiterten Infinitiv- und Partizipialgruppen. – Nach Interjektionen wie „Ja“, „Nein“, „Na“, „Ah“, „Oh“, „Geh“ wird nur dann ein Komma gesetzt, wenn die Interjektionen betont sind und hervorgehoben werden sollen. Wenn sie in den Folgetext integriert sind, werden sie nicht durch Kommata getrennt, z.B. „Na und?“ Grammatikalische Fehler werden nur so weit korrigiert, als es sich dabei nicht um stilistische Setzungen handelt; alle dialektal geprägten Formen bleiben erhalten. Figurennamen erscheinen in Kapitälchen (auch in Regie- und Szenenanweisungen). Normierungen in Regieanweisungen: Bilden Regieanweisungen ganze Sätze (auch in Verbindung mit vorangegangenen Figurennamen), so wird abschließend ein Punkt gesetzt.

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Editionsprinzipien

2 Kommentarteil 2.1 Chronologisches Verzeichnis Das chronologische Verzeichnis beschreibt alle zu einem Werk vorhandenen Textträger und sichert die Reihung der darauf befindlichen werkgenetischen Einheiten argumentativ ab. Textträger und Text werden getrennt sigliert: Die Materialsigle bezeichnet den Textträger und unterscheidet Handschrift (H), Typoskript (T) und Druck (D). Die Textsigle bezeichnet die auf dem Textträger befindliche werkgenetische Einheit und differenziert Entwürfe (E) und Textstufen (TS) mit teilweise mehreren Ansätzen (A). Die Beschreibung des Textträgers umfasst folgende Elemente: Signatur: Wiener Signatur (ÖLA bzw. IN) des Nachlassbestands und Berliner Signatur (BS), gegebenenfalls auch andere Angaben zu Bezeichnung und Herkunft des Textträgers Materielle Beschreibung: Umfang, Papierart samt Angaben über spezielle Erscheinung, Größe in Millimeter, Angabe über Teilung, Faltung, Reißung o.ä., Wasserzeichen, Schreibmaterial, Paginierung vom Autor samt Seitenzahlen und Blattnachweisen, Eintragungen fremder Hand Der Beschreibung des Textträgers folgt eine Auflistung und formale Beschreibung der auf dem jeweiligen Textträger befindlichen Entwürfe, Textstufen und Ansätze. Umfasst ein Textträger mehrere werkgenetische Einheiten und ist eine dieser Einheiten im Entstehungsprozess später einzuordnen, wird sie erst dort verzeichnet und kommentiert. Die Beschreibung des Textträgers wird an der späteren Stelle wiederholt. Auch das Weiterwandern von Textträgern (durch Übernahme von Blättern in spätere Fassungen) wird vermerkt. Sofern die Entwürfe und Fassungen veröffentlicht sind, wird deren Erstdruck in einer abschließenden Zeile verzeichnet. Das konkrete Erscheinungsbild der Texte in den Erstdrucken weicht jedoch von den in der Wiener Ausgabe gebotenen Neueditionen oftmals gravierend ab. Der nachfolgende werkgenetische Einzelkommentar beschreibt die Entwürfe, Textstufen und Ansätze auch inhaltlich. Argumente für deren Reihung (manchmal in Form von gesetzten Wahrscheinlichkeiten) werden genannt und Beziehungen zu anderen Einheiten im werkgenetischen Material hergestellt; gegebenenfalls wird auch auf den Zusammenhang mit anderen Werken des Autors verwiesen. Folgende werkgenetische Begriffe finden Verwendung: Konzeption Als Konzeption (K) gilt eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei Teile/sieben Bilder/etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt.

523

Editionsprinzipien

Vorarbeit Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten (VA) zugeordnet. Im Falle des Vorliegens mehrerer Vorarbeiten werden diese nach genetischen Zusammenhängen gruppiert und/oder in eine Folge gebracht. Entwurf In einem Entwurf (E) legt Horváth die Gesamtstruktur eines Werkes oder eines einzelnen Strukturelements (Bild, Kapitel, Szene, …) fest. Entwürfe sind fast ohne Ausnahme handschriftlich ausgeführt und zumeist auf ein einziges Blatt beschränkt. Zur näheren Beschreibung stehen (spezifisch für den Dramentext) folgende Begriffe zur Verfügung: x

x x

x

Strukturplan: Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z.B. Gliederung in Akte oder Teile, Szenen, Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren). Konfigurationsplan: Skizzierung einzelner Szenen (= Auftritte). Skizze: Punktuell bzw. schematisch ausgearbeitete Textsequenz. Der Begriff wird auch für grafische Entwürfe (z.B. zum Bühnenbild) verwendet. Darüber hinaus können Entwürfe auch lose Notizen zu Motiven, Figuren, Schauplätzen, Dialogpassagen oder Handlungselementen enthalten.

Textstufe Eine Textstufe (TS) bezeichnet eine klar abgrenzbare Arbeitseinheit im Produktionsprozess, die intentional vom Anfang bis zum Ende einer isolierten Werkeinheit (Bilderfolge, Bild, Akt, Kapitel, Unterkapitel, …) reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes dient. Materiell umfasst der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder Übernahme aus einer frühen Arbeitsphase zur Zusammenstellung aktueller Fassungen verwendet hat. Ansatz Ein neuer Ansatz (A) liegt dann vor, wenn der Autor innerhalb einer Textstufe eine materielle Ersetzung von Textträgern oder Teilen davon (Blattbeschneidungen, Austausch von Blättern) vornimmt. Innerhalb einer Textstufe bilden die einander folgenden Ansätze eine genetische Reihe; textlich repräsentiert sich in ihnen in der jeweils gültigen Textschicht die jeweils aktuelle Fassung des Textes. Der letzte Ansatz einer Textstufe, d.h. der letztmalige Austausch von Textträgern, bildet die materielle Grundlage der letzten Fassung innerhalb der jeweiligen Textstufe. Die Abfolge der Ansätze innerhalb einer Textstufe wird in komplizierten Fällen in Simulationsgrafiken dargestellt. Fassung Der Begriff der Textstufe ist ein dynamischer; er bezeichnet die Gesamtheit des in einer Arbeitsphase vorliegenden genetischen Materials, das in Grund- und Korrekturschicht und in verschiedene Ansätze differenziert sein kann. Der Begriff der

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Editionsprinzipien

Fassung bezeichnet im Gegensatz dazu die konkrete Realisation eines singulären Textzustands (z.B. K1/TS7/A5 – Korrekturschicht). Die Fassungen, die im Textteil konstituiert werden, stellen eine Auswahl innerhalb einer Vielzahl von Möglichkeiten dar. Der Produktionsprozess wird von ihnen an möglichst aussagekräftig gesetzten Punkten unterbrochen und ein jeweils aktuelles Textstadium linear fixiert. Endfassung Der Begriff Endfassung bezeichnet eine Fassung, in der sich aus Autorensicht eine endgültige Textgestalt repräsentiert. Durch spätere Wiederaufnahme der Arbeit können innerhalb einer Werkgenese mehrere Endfassungen (meist auch als Abschluss einzelner Konzeptionen) vorliegen. Stammbuch Mit dem Begriff Stammbuch (SB) bezeichneten Horváths Theaterverlage in kleiner Auflage hergestellte Drucke, die nicht für den allgemeinen Verkauf, sondern für den Gebrauch an Theatern bestimmt waren. Oft tragen solche Stammbücher den Aufdruck: „Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt“ sowie den meist handschriftlich notierten Vermerk „ST“ (für „Stammbuch“). Mit diesen Anmerkungen wurde der für die jeweilige Aufführung autorisierte Text gekennzeichnet. Vorarbeiten und Konzeptionen, Entwürfe, Textstufen und Ansätze werden im chronologischen Verzeichnis über Siglen gereiht, die Reihung von TS und E erfolgt innerhalb der jeweiligen Kategorie, sodass sich als genetische Abfolge z.B. ergeben kann: K2/E1, K2/TS1, K2/TS2/A1, K2/TS2/A2, K2/E2, K2/E3, K2/TS3 usw.

2.2 Simulationsgrafiken In den Simulationsgrafiken wird die Abfolge von Ansätzen innerhalb einer Textstufe dargestellt und zwar in der Art, dass die Textträger mit syntagmatisch zusammengehörendem Text untereinanderstehen und die ersetzenden Textträger rechts von den ersetzten positioniert werden. Ausgangspunkt der Darstellung ist der früheste Ansatz der jeweiligen Textstufe. Die Textträger werden an allen rekonstruierbaren Positionen abgebildet und damit die materiellen Vorgänge der Textentstehung und -ersetzung simuliert. Die ungefähre Form des Textträgers ist in der Grafik durch einen Rahmen wiedergegeben. Die Paginierung Horváths – so vorhanden – und die Berliner Blattnummer sind eingetragen. An seiner ersten Position wird der Textträger mit durchgezogenen Rahmenlinien dargestellt, an allen späteren mit strichlierten, wobei der Textträger so lange eingeblendet bleibt, wie er Gültigkeit hat. Die doppelt-strichpunktierten Linien kennzeichnen Schnitte, die punktierten Linien „Klebenähte“, die nach dem Ankleben von neuem Text auf den Originalen erkennbar sind. Zur Illustration der Funktionsweise dient die nachstehend abgebildete Simulationsgrafik zu einer Textstufe der Hofrat-Konzeption aus Geschichten aus dem Wiener Wald. Diese Grafik, die ausschließlich Material der Mappe BS 37 c darstellt, zeigt einen relativ gleichmäßig verlaufenden Produktionsprozess: Horváth beginnt (links oben eingetragen) auf Bl. 14 mit der Ausarbeitung des Bildes, bricht jedoch mitten

525

Editionsprinzipien

auf Bl. 15a ab, setzt auf Bl. 15b mit dem Text neu an und kommt bis Bl. 17. Er korrigiert den Text dieser Blätter handschriftlich und macht sich am Fuß von Bl. 17 Notizen zum weiteren Textverlauf. Auf Bl. 18 und 19 schreibt er den Text von Bl. 17 ins Reine und setzt ihn dann auf Bl. 19 neu fort, bricht jedoch wieder ab, noch bevor er das Blatt vollgeschrieben hat. Bl. 19 wird dann durch Bl. 20 ersetzt, Bl. 20 gemeinsam mit Bl. 21 durch Bl. 22–24. In dieser Art schreibt sich Horváth in immer neuen Ansätzen bis ans Ende des Bildes durch. Bei Bl. 32 wendet der Autor ein Verfahren an, das ihm kürzere Rückschritte ermöglicht: Er schneidet Bl. 32a von Bl. 32 ab und klebt ein Stück mit neuem Text an. Die anschließenden Blätter 33 bis 37 sind in einem Zug geschrieben.

526

Editionsprinzipien

527

Siglen und Abkürzungen

Siglen und Abkürzungen Schriftarten (allgemein) Times New Roman

Autortext

Helvetica

Herausgebertext, im Autortext unter Backslashes

Diplomatische Transkriptionen (Entwürfe) text, text

getilgtes Zeichen, getilgter Text. Tilgungen über mehrere Zeilen (meist durch Kreuz) werden grafisch entsprechend dargestellt

tä|e|xt

überschriebenes und ersetzendes Zeichen

text|text|

überschriebener und ersetzender Text

text, text

unterstrichener Text

text

unterwellter Text; mit Fragezeichen überschriebener Text wird grafisch entsprechend dargestellt

[text]

eingerahmter oder in eckige Klammern gestellter Text oder Ziffer; falls über mehrere Zeilen reichend, grafisch entsprechend dargestellt Strukturierungszeichen: Stern, Punkt Strukturierungszeichen: großes

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggfs. mehrfach gesetzt

Times New Roman, 50 % grau

Eintragung fremder Hand, Berliner Bearbeitung

Times New Roman, 50 % grau

aktuell nicht relevanter Text

\E1\

grau hinterlegte Fläche zur Abgrenzung verschiedener Entwürfe

Lineare Konstitutionen (Fassungen) B

textN, B N

Ansatzmarke; kennzeichnet Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungen des Autors hervorgegangen sind, sowie Eingriffe der Herausgeber



Blattwechsel; Angabe des Textträgers in der Randspalte eingerückt, grau hinterlegt; Textzusätze des Autors in der aktuellen Fassung, die sich in den Lesetext linear nicht integrieren lassen

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggfs. mehrfach gesetzt

\Abbruch der Bearbeitung\

Herausgebertext im Autortext

\Textverlust\

528

Siglen und Abkürzungen

Kritisch-genetischer Apparat text\e/

nachträglich eingefügtes Zeichen

\text/

nachträglich eingefügter Text

text[e]

getilgtes Zeichen

[text]

getilgter Text

t[ä]|e|xt

getilgtes Zeichen in Verbindung mit Ersetzung

[text] |text|

getilgter Text in Verbindung mit Ersetzung

[text]|text|

überschriebener Text

te{x}t, {text}

unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort

{}

unlesbares Wort, ggfs. mehrfach gesetzt

[text]

rückgängig gemachte Tilgung

text

mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie versehener Text

!text"!text"

durch Verweisungszeichen des Autors umgestellter und gegenseitig ausgetauschter Text

text f text [text]f x

Text von bis Textverschiebung

x

neuer Textanschluss

text2 text1

vom Autor geänderte Wort- oder Satzfolge

(1), (2) …

Variantenfolge

gestrichen: gemeint ist: Eintragung von fremder Hand: eingefügt verweist auf K3/TS7 fehlt in D2

irrrrorrrrp

korrigiert aus:

Herausgeberkommentare in Helvetica 9 pt.

Signaturen ÖLA

(vormals: Österreichisches) Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

BS

Berliner Signatur

DTM

Deutsches Theatermuseum, München

IN

Inventarnummer

IN 221.000/34 – BS 38 a [1], Bl. 1

Signatur Wienbibliothek im Rathaus, Wien

ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 9

Signatur Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

529

Siglen und Abkürzungen

Abkürzungen K

Konzeption

VA

Vorarbeit

H

Handschrift

T

Typoskript

D

Druck

SB

Stammbuch

E

Entwurf

TS

Textstufe

A

Ansatz

Bl.

Blatt

Pag.

Pagina (vom Autor eingefügt)

hs.

handschriftlich

masch.

maschinenschriftlich

fragm.

fragmentarisch

r

recto (Vorderseite)

v

verso (Rückseite)

o. BS

ohne Berliner Signatur

BB

Die Bergbahn

EE

Ein Epilog

MM

Mord in der Mohrengasse

NIE

Niemand

RK

Rund um den Kongreß

ZSA

Zur schönen Aussicht

WV

Werkverzeichnisse

530

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis GW

Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Dieter Hildebrandt/Walter Huder/Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970–71. GWA Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke/Dieter Hildebrandt. 2., verbesserte Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. GA Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. (= Gedenkausgabe anlässlich des 50. Todestages, Abdruck von Texten und genetischem Material aus den Gesammelten Werken und Bibliothek Suhrkamp-Bänden, der 5. Band mit Skizzen, Fragmenten und einem Gesamtkommentar ist nicht erschienen) Horváth 2009a Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann. Stuttgart: Reclam 2009. Horváth 2009b Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hg. v. Klaus Kastberger und Nicole Streitler. Stuttgart: Reclam 2009. Horváth 2016 Ödön von Horváth: Niemand. Tragödie in sieben Bildern. Hg. vom Verein der Freunde der Wienbibliothek und dem Thomas Sessler Verlag. Wien: Sessler/Wienbibliothek 2016. Horváth 2017 Das Stück: Ödön von Horváth: Niemand. Tragödie in sieben Bildern. (= Beilage zu Theater heute, Nr. 6/Juni 2017) KW Ödön von Horváth: Kommentierte Werkausgabe in 14 Einzelbänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984–88. KW 15 Ödön von Horváth: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. KW 16 Ödön von Horváth: Ein Fräulein wird verkauft und andere Stücke aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. WA Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Hg. v. Klaus Kastberger. Berlin: de Gruyter 2009ff. WA 2 Ödön von Horváth: Sladek. Italienische Nacht. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2016. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 2) WA 3 Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hg. v. Erwin Gartner und Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Charles-Onno Klopp, Kerstin Reimann und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2015. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 3 [2 Teilbände])) WA 4 Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2009. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 4) WA 6 Ödön von Horváth: Eine Unbekannte aus der Seine. Hin und her. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2012. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6) WA 8 Ödön von Horváth: Figaro läßt sich scheiden. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Andreas Ehrenreich und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 8) WA 9 Ödön von Horváth: Don Juan kommt aus dem Krieg. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 9)

531

Literaturverzeichnis

WA 10

WA 11

WA 13

WA 14

WA 15

WA 16

Ödön von Horváth: Der jüngste Tag. Ein Dorf ohne Männer. Hg. v. Nicole Streitler und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 10) Ödön von Horváth: Ein Sklavenball / Pompeji. Hg. v. Martin Vejvar unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Nicole Streitler-Kastberger. Berlin: de Gruyter 2015. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 11 [2 Teilbände])) Ödön von Horváth: Sportmärchen, Kurzprosa und Werkprojekte. Hg. v. Martin Vejvar unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Nicole Streitler-Kastberger. Berlin: de Gruyter 2017. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 13) Ödön von Horváth: Der ewige Spießer. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 14 [2 Teilbände]) Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2013. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 15) Ödön von Horváth: Ein Kind unserer Zeit. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2014. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 16)

Anonym: Kein Triumph: Horváths „Niemand“ in Wien uraufgeführt. In: Salzburger Nachrichten, 2.9.2016. Anzeigenblatt für die Dramatischen Werke der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H., Nr. 2, August 1927. Becker, Peter von: Unbekannter Horváth für 11 000 Euro versteigert. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 24.3.2015. Birbaumer, Ulf: Verhöhntes Humanitätsgefasel. Horváth-Uraufführung im Wiener Theater am Belvedere. In: Salzburger Nachrichten, 12.3.1969. Böhm, Gotthard: Horvath kündigt sich an. Uraufführung der Posse „Rund um den Kongreß“ im Theater am Belvedere. In: Die Presse (Wien), 7.3.1969. Br.: „Revolte auf Höhe 3018“. Uraufführung in den Hamburger Kammerspielen. In: Hamburger Echo, 5.11.1927. Butterweck, Hellmut: Horváth exekutiert. In: Die Furche (Wien), 8.10.1980. Dramaturgische Blätter, 4. Jg., Nr. 4, Juli 1927. Dramaturgische Blätter, 4. Jg., Nr. 6, November 1927. G., E.A.: „Revolte auf Höhe 3018“. Uraufführung in den Hamburger Kammerspielen. In: Hamburger Fremdenblatt, 5.11.1927. Gamper, Herbert: Horváths komplexe Textur. Dargestellt an frühen Stücken. Zürich: Ammann 1987. Gamper, Herbert: Horváths Auseinandersetzung mit Strindberg – Sein erstes Stück Mord in der Mohrengasse. In: Traugott Krischke: Horváths Stücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 54–65. Glaser, Michael: Lüge, Phrase, Dummheit. Horvath-Uraufführung im Wiener Theater am Belvedere. In: Abendzeitung (München), 11.3.1969. Grieser, Dietmar: Kitsch als Dichtung. Horvath – nunmehr komplett auf der Bühne. In: Main-Echo (Aschaffenburg), 8.10.1069. Haag, Ingrid: Zeigen und Verbergen. Zu Horváths dramaturgischem Verfahren. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 138–153. Haag, Ingrid: Ödön von Horváth: Fassaden-Dramaturgie. Beschreibung einer theatralischen Form. Frankfurt am Main: Peter Lang 1995. (= Literarhistorische Untersuchungen, Bd. 26) Hahnl, Hans Heinz: Die Horvath-Verwertungsgesellschaft. Ödön-von-Horvath-Uraufführung im Akademietheater. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 7.10.1980. Höbel, Wolfgang: Als der Dichter noch übte. Horváth-Entdeckung als deutsche Erstaufführung. In: Spiegel online, 26.3.2017.

532

Literaturverzeichnis

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533

Literaturverzeichnis

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534

Inhalt (detailliert)

Inhalt (detailliert) Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Ein Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption: Ein Epilog – Dramatische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Ein Epilog (EE/K/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 45 46

Mord in der Mohrengasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption: Mord in der Mohrengasse – Schauspiel in drei Akten Figurenliste (MM/K/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Mord in der Mohrengasse (MM/K/TS1) . . . . . .

. . . .

51 53 54 56

Niemand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption: Niemand – Tragödie in sieben Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Niemand (NIE/K/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 77 78

Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption 1: Revolte auf Côte 3018 – Volksstück in vier Akten Werktitel (BB/K1/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Revolte auf Côte 3018 (BB/K1/TS1) . . . . . . . Fassung Autobiographische Notiz (BB/K1/TS2) . . . . . . . . Fassung Autobiographische Notiz (BB/K1/TS3) . . . . . . . .

295 296 298 300 302

Ein Epilog. Dramatische Skizze (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Mord in der Mohrengasse. Schauspiel (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

Niemand. Tragödie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

Die Bergbahn. Volksstück (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

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Werkverzeichnisse . . . . . . Werkverzeichnis (WV/E1) Werkverzeichnis (WV/E2) Werkverzeichnis (WV/E3) Werkverzeichnis (WV/E4)

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249 251 252

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Rund um den Kongreß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption: Rund um den Kongress – Posse in fünf Bildern . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Rund um den Kongress (RK/K/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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197 199 200 203 204

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Konzeption 2: Die Bergbahn – Volksstück in drei Akten . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Die Bergbahn (BB/K2/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung Natur gegen Mensch (BB/K2/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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131 133 134 136 162 163

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Zur schönen Aussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorarbeit: Nach der Saison – Komödie . . . . . . . . . . . Figurenliste (ZSA/VA/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption: Zur schönen Aussicht – Komödie in drei Akten Endfassung Zur schönen Aussicht (ZSA/K/TS1) . . . . .

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Inhalt (detailliert)

Zur schönen Aussicht. Komödie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

Rund um den Kongreß. Posse (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . Frühe Dramen . . . . . . . . . . . . . . Ein Epilog . . . . . . . . . . . . . . Mord in der Mohrengasse . . . . . . . Niemand . . . . . . . . . . . . . . . Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn Zur schönen Aussicht . . . . . . . . . Rund um den Kongreß . . . . . . . . Werkverzeichnisse . . . . . . . . . . . . Emendierte Endfassungen . . . . . . . .

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Übersichtsgrafik Tab1: Textvergleich Revolte auf Côte 3018 / Die Bergbahn . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Textteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Genetisches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) 1.1.2 Lineare Textkonstitution (Fassungen) . . . . . . . . . 1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext). . . . . . . . 2 Kommentarteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Simulationsgrafiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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