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German Pages 732 [734] Year 2017
Ödön von Horváth Wiener Ausgabe
I
Ödön von Horváth
Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Historisch-kritische Edition Am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz herausgegeben von Klaus Kastberger
Band 13
De Gruyter II
Ödön von Horváth
Sportmärchen, Kurzprosa und Werkprojekte Prosa Herausgegeben von Martin Vejvar unter Mitarbeit von Nicole Streitler-Kastberger
De Gruyter III
Die Forschungsarbeiten an der Wiener Ausgabe werden unterstützt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF; P 23563-G20) und von der Kulturabteilung der Stadt Wien. Dank an die Österreichische Nationalbibliothek (Wien) und die Wienbibliothek im Rathaus für die Überlassung von Reprorechten an den Faksimiles. Die Forschungsarbeiten an der Wiener Ausgabe werden seit Oktober 2015 am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz durchgeführt.
ISBN 978-3-11-054476-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055047-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055038-2
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Druckhaus Nomos, Sinzheim Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Inhalt Sportmärchen, Kurzprosa und Werkprojekte Prosa Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportmärchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzprosa und Werkprojekte Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sportmärchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kurzprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 1: Zwei Briefe aus Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 2: Geschichte einer kleinen Liebe . . . . . . . . . . . . Einzeltext 3: Vom kleinen Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 4: Emil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 5: Theodors Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 6: Lachkrampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 7: Die Versuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 8: Großmütterleins Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 9: Der Tod aus Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 10: Aus den weissblauen Kalkalpen . . . . . . . . . . . Einzeltext 11: Abseits der Alpenstraßen . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 12: Begegnung mit Kriminellen . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 13: Das Bitterwasser-Plakat . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 14: Ein sonderbares Schützenfest . . . . . . . . . . . . Einzeltext 15: Mein Onkel Pepi / Pepis Album . . . . . . . . . . . Einzeltext 16: Das Fräulein wird bekehrt . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 17: In memoriam Alfred / Nachruf . . . . . . . . . . . Einzeltext 18: Hinterhornbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 19: Die gerettete Familie / Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand . . Einzeltext 20: Aus der Stille in die Stadt . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 21: Das Märchen vom Fräulein Pollinger . . . . . . . . . Einzeltext 22: Der mildernde Umstand . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 23: Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat Einzeltext 24: Der Fliegenfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Werkprojekte Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 1: Novellen-Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 2: Amazonas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V
Inhalt
Werkprojekt 3: „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann . . . . . . . . . Werkprojekt 4: Zwei Liebeserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 5: „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ . . . . . Werkprojekt 6: Verrat am Vaterland . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 7: „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ . . . . . . Werkprojekt 8: Die Fürst Alm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 9: „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 10: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert Werkprojekt 11: Die Colombine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 12: Mein Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 13: Der Mittelstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 14: Hannes, das Arbeiterkind . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 15: Im Himmel der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 16: Der römische Hauptmann . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 17: Himmelwärts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 18: Reise ins Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 19: Ein Teufel hat Ferien . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 20: Waisenkinder / Hinter dem Mond . . . . . . . . . . Werkprojekt 21: Das Märchen in unserer Zeit . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 22: Der Gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 23: Der brave Bürger / Der letzte Mensch . . . . . . . . Werkprojekt 24: Adieu, Europa! . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sportmärchen (Endfassungen, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Kurzprosa (Endfassungen, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Simulationsgrafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Informationsgrafiken (Sportmärchen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Editionsprinzipien . . . Siglen und Abkürzungen Literaturverzeichnis . . Register (Prosa) . . . . Inhalt (detailliert) . . .
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Vorwort Sportmärchen Sportmärchen Dauer der Schreibarbeiten: Um 1923/24, vereinzelte Bearbeitungen bis 1927. Umfang des genetischen Materials: 239 Blatt an Typoskripten und Durchschlägen, 60 Seiten Handschrift in einem Poesiealbum von Felizia Seyd. Erstdruck als Kompilation in: Horváth 1969; Veröffentlichung einzelner Märchen in Zeitschriften und Zeitungen ab 1924.
Datierung und Druck Im Ende 1929 entstandenen Kurzprosatext Nachruf (ET17/TS2) trägt Horváth eine der prägnantesten Figuren seiner Spießer-Prosa zu Grabe. Alfred Kastner aus der Münchner Schellingstraße, in den Romanen Herr Reithofer wird selbstlos und Der ewige Spießer Bekannter und verhinderter Zuhälter von Agnes bzw. Anna, ein windiger Charakter und darin das bayerische Pendant zu Alfred und dem Hierlinger Ferdinand aus Geschichten aus dem Wiener Wald, verstirbt „nach kurzem schwerem Leiden“1. Ein Ich-Erzähler rekapituliert in Nachruf seine Bekanntschaft mit Kastner, der ihm geraten hatte, sich von einer reichen Dame aushalten zu lassen, und der die fragilen schriftstellerischen Avancen des Erzählers nicht nachvollziehen konnte. „In dieser Zeit“, so der Schriftsteller, nahm eine freisinnige Zeitung eine Marienlegende von mir an, betitelt: „Maria geht durch den Hochwald“. Und der Feuilletonredakteur schrieb mir, ich soll noch zwei längere und drei kürzere Marienlegenden für „unter dem Strich“ schreiben, nämlich meine religiöse Inbrunst ist jenem direkt aufgefallen. Aber davon konnt ich nur sehr kärglich leben, und als ich mir eine Goldkrone machen lassen musste, bat ich Alfred, er sollte mir fünf Mark leihen, denn wenn ich keine Zahnschmerzen mehr hätte, könnte ich leicht auch zwanzig Marienlegenden schreiben und ausserdem hätte ich auch Aussicht, Reklameartikel für eine andere Firma verfassen zu können. Aber Alfred gab mir nichts. „Es hat keinen Zweck, Dich zu unterstützen“, sagte er. „Für mich bist Du ein Idealist, Du Idiot!“2
Horváths Prosa wird gerne eine gewisse Naivität attestiert, die sich bei genauerer Lektüre aber als vorgeschützt herausstellt und, hierin seinen Dramen nicht unähnlich, meist einen Abgrund kaschiert.3 In der Rekapitulation einer banalen Begeben1 2 3
ET17/TS2/BS 47 t, Bl. 1. Ebd., Bl. 2. Vgl. den Überblick bei Kurt Bartsch: Ödön von Horváth. Stuttgart: Metzler 2000 (= SM 326), S. 97–99 sowie detailliert die Ausführungen im Abschnitt „Rezeption (Kurzprosa)“.
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Vorwort
heit zeichnet sich in Nachruf das Bild eines von weltlichen Sorgen geplagten Autors von „Marienlegenden“ ab, dessen schriftstellerische Leistung banalerweise durch simple Zahnschmerzen gebremst wird. In dieser durchaus materiellen Not muss er sich auch noch im schlechtesten Sinne einen Idealisten heißen lassen, gleichwohl seine „Marienlegenden“ im selben Atemzug mit Reklameartikeln genannt werden und, so ist daraus zu schließen, im besten Falle Kitsch von der Stange zu sein scheinen. Der Text erschöpft sich aber nicht allein in der satirischen Darstellung einer neusachlichen Dichterexistenz. Horváth betreibt darin zugleich ein Spiel mit der eigenen Schriftstellerbiographie, wie es auch in anderen Texten dieser Zeit der Fall ist, die ein trügerisch-einfaches, oft missverstandenes ‚Ich‘ als Erzählinstanz führen. Auf dieser Ebene der Erzählung begegnet der Autor seiner eigenen Figur, die ihn seiner unpraktischen Art wegen verachtet, ihm aber trotzdem „Freund und Führer“4 war. Langt die fiktive Gestalt des Alfred Kastner somit in Form einer Eloge in die reale Schriftstellerexistenz Horváths hinein, ist wechselweise in den „Marienlegenden“, die den erhofften literarischen Durchbruch bringen, eine in die Fiktion transponierte Satire Horváths auf seine eigenen literarischen Anfänge zu erkennen, in denen er sich wiederholt ironisch der Gattung Legende bedient hat. Die „Marienlegenden“: Das ist Horváths selbstironische Anspielung auf die eigenen Sportmärchen. Die Sportmärchen, eine Sammlung von insgesamt 27, teilweise in verschiedenen Fassungen vorliegenden und in unterschiedlichen Kompilationen arrangierten Kunstmärchen, sind um 1923/24 entstanden. Erste Märchen erschienen bereits Ende 1924 in unterschiedlichen Zeitschriften. Sie gehören damit, neben dem Buch der Tänze (1922), Mord in der Mohrengasse sowie dem erst 2015 wiederentdeckten Stück Niemand (beide um 1923/24) und einigen Fragmenten, zu Horváths frühesten Arbeiten. Wohl von Beginn an als zusammengehörige Gruppe von Texten konzipiert, heben sich die Sportmärchen nicht allein durch ihre frühe Entstehung, sondern auch aufgrund ihrer stilistischen und gattungsbedingten Eigenheiten, ihrem Bemühen um eine ostentativ ‚poetische‘ Sprache wie auch hinsichtlich ihrer thematischen Begrenzung vom Gros der übrigen Kurzprosa ab.5 Sie konstituieren mithin eine eigene Werkgruppe, die aufgrund der auch in anderen Texten zu begegnenden Thematik des Sports wie des im späten Werk wieder stärker in den Vordergrund tretenden „Märchenstils“6 zugleich auch in vielfältigem Austausch mit dem übrigen Werk steht. Wenngleich die Veröffentlichung erster Sportmärchen Ende 1924 in Zeitschriften wie dem Simplicissimus einen belastbaren terminus ante quem ihrer Entstehung ableiten lässt, ist eine genauere Eingrenzung der Entstehungszeit einzelner Textträger und die Bestimmung der genetischen Chronologie im Allgemeinen nur auf Umwegen zu erreichen.7 Eine sehr grobe Abschätzung ihres Entstehungszeitraums erlaubt eine 4 5
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ET17/TS2/BS 47 t, Bl. 1. Vgl. hierzu etwa die Analysen zur sprachlichen Struktur bei Angelika Steets: Die Prosawerke Ödön von Horváths. Versuch einer Bedeutungsanalyse. Stuttgart: Heinz 1975, 131–234, hier vor allem die Analyse der substanziell anderen Lautstruktur und der Metaphorisierung in der frühen Prosa, S. 138f. sowie 160f. Vgl. dazu auch den Abschnitt „Rezeption (Sportmärchen)“. Axel Fritz: Zeitthematik und Stilisierung in der erzählenden Prosa Ödön von Horváths (1901–1938). Aalborg: Universitetsforlag 1981, S. 83. Vgl. zum Folgenden auch detailliert den Abschnitt „Das genetische Konvolut und seine Chronologie“.
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Sportmärchen
der für die zahlreichen Typoskripte und Durchschläge verwendeten Schreibmaschinen, die sich aufgrund eines markanten Anschlagfehlers eindeutig identifizieren lässt. Dieselbe Maschine hat Horváth für andere frühe Kurzprosatexte und Werkprojekte bis spätestens 1927 verwendet.8 Der wichtigste eindeutige Hinweis zur Datierung zumindest eines Teils des Konvoluts findet sich in einem Poesiealbum, das Felizia Seyd, einer Jugendfreundin Horváths, gehört hat, und von dieser den Erben Horváths übergeben wurde (TS15/BS 62 e).9 Darin hat Horváth vierzehn seiner Sportmärchen handschriftlich eingetragen und in einer abschließenden Widmung vermerkt: „Geschrieben zu Murnau im Jahre des Heils 1924 im Monate September“ (TS15/BS 62 e, S. 60). Wie ein Textvergleich mit den überlieferten Abschriften und Durchschlägen ergibt, lagen zum Zeitpunkt der Eintragung fast alle Märchen bereits vollständig vor und waren von Horváth auch schon in eine spezifische Abfolge gebracht worden (vgl. TS1/A2). Die Arbeit an den Sportmärchen war damit aber noch nicht abgeschlossen, wie zwei danach entstandene vollständige Neukompilationen mit dem Titel „Sportmärchen“ zeigen (vgl. TS17 und TS20), in denen Horváth die Anordnung und teilweise auch die Betitelung mehrerer Texte merklich verändert hat. Der im Poesiealbum notierte Text hält somit einen Zwischenzustand fest, der der ersten, teilweise fragmentarisch überlieferten Kompilation der Sportmärchen (TS1/A2) bzw. den davon angefertigten Durchschlägen (TS4–TS7) sowie darauf basierenden separaten Neuabschriften (TS8–TS14) entspricht. Die erste Kompilation TS1/A2 hat bereits einen Großteil der bekannten Sportmärchen enthalten, die in vollständigen Fassungen vorgelegen haben. Diese Kompilation trug überdies wohl noch einen anderen Titel, da „Sportmärchen“ hier nur als einer von drei Teiltiteln aufgeführt ist. Vermutlich nur kurze Zeit nach der Eintragung in das Poesiealbum hat Horváth sie jedoch wieder aufgelöst und aus einem Teil der dort verwendeten Blätter mithilfe neuer Materialien eine stark veränderte Kompilation (TS17) erstellt. In diese wurden einige der in TS1/A2 enthaltenen Märchen nicht übernommen und dafür neue Märchen ergänzt. TS17 kann anhand des dafür neu erstellten Titelblatts (vgl. TS17/BS 62 c, Bl. 1) datiert werden. Horváth hat hier auf Papier mit dem Wasserzeichen „Manila Schreibmaschinen“ zurückgegriffen, das im Nachlass sonst nur für Arbeiten zum frühen Dramenprojekt Dósa nachzuweisen ist, das um 1924 entstanden ist.10 Daraus lässt sich auf einen relativ dichten Entstehungs- bzw. Kompilierungsprozess der Sportmärchen schließen. Auch TS17 bietet eine vollständige, abgeschlossene Fassung. Innerhalb des Konvoluts im Nachlass ist sie zugleich die einzige, die auch vollständig in einer eigenen Mappe (BS 62 c) abgelegt worden ist.11
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Vgl. dazu den Kommentar zu ET1–ET7, ET9 und WP2 sowie die Ausführungen im Abschnitt „Das genetische Material und seine Chronologie“. Vgl. dazu die Anmerkung zum Faksimile des Poesiealbums in: Horváth-Blätter 2/1984, S. 69–73, hier S. 69. Vgl. KW 16, S. 231. Die Ablage der Nachlassmaterialien der Sportmärchen in der aus dem Berliner Archiv der Akademie der Künste übernommenen Ordnung, wo der Nachlass bis 1988 verwahrt wurde, ist äußerst unübersichtlich. Allein die TS17 konstituierenden Blätter befinden sich vollständig in einer Mappe, die übrigen sind ohne erkennbare Systematik auf vier Mappen verteilt. Dabei wurden auch genetisch eindeutig zusammengehörige Materialien teilweise weit voneinander entfernt abgelegt, vgl. exemplarisch etwa die Konstitution von TS20.
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Vorwort
TS17 hatte den größten Einfluss auf die Rezeption der Sportmärchen, da sie die Grundlage für ihre Edition in den von Traugott Krischke betreuten Ausgaben bildet.12 Die entstehungsgeschichtlich letzte Kompilation ist aber TS20. In dieser Textstufe adaptierte Horváth neuerlich die Anordnung und den Umfang seiner Sportmärchen, setzt hs. Änderungen aus TS17 typografisch um und nimmt an mehreren Texten weitere kleinere Veränderungen vor. Wie der Vergleich mit Ende 1924 veröffentlichten Texten aus den Sportmärchen nahelegt (vgl. D2/TS29–D4/TS31), ist sie bereits kurz nach TS17 entstanden, da die publizierten Texte meist mit jenen von TS20 übereinstimmen. Auf einem Durchschlag des Titelblatts von TS20 findet sich zudem ein handschriftlicher Adresseintrag, der auch eine spätere Verwendung dieser Kompilation nahelegt. Horváth notiert hier die Berliner Adresse „Berlin W30 Luitpoldstr. 34. bei Bergmann.“ (TS20/BS 62 b [2], Bl. 1), unter der er sich nachweislich im Jahr 1927 aufgehalten hat. Das belegen zwei an Herbert Ihering gerichtete Briefe vom 11. bzw. 19. Mai 1927, die dieselbe Adresse im Absender führen.13 Seit wann Horváth aber in der Luitpoldstraße wohnte bzw. ab wann nicht mehr, ist aufgrund fehlender Meldeunterlagen und der sehr lückenhaften Überlieferung der Briefe heute nicht mehr mit Gewissheit zu erschließen. Kontakte Horváths nach Berlin sind bereits ab 1924 belegt,14 worauf auch die Veröffentlichung von Sportmärchen in der Berliner Zeitung B.Z. am Mittag hindeutet (vgl. D4/TS31). Von 1926 bis 1931 lebte unter derselben Adresse der Schriftsteller Ernst Weiß (1882–1940), mit dem Horváth befreundet war und dem er 1930 seinen Romanerstling Der ewige Spießer gewidmet hat.15 Es scheint deshalb durchaus plausibel, einen Aufenthalt Horváths unter dieser Adresse frühestens ab 1926 anzunehmen. Derselbe Adresseintrag findet sich schließlich auch auf einem Typoskript des Einzeltexts Theodors Tod (vgl. ET5/TS2/BS 47 x, Bl. 3v), der sich aufgrund inhaltlicher Anspielungen eindeutig auf die Zeit um den Jahreswechsel 1926/27 datieren lässt. Vermutlich war die Adresse auf TS20/BS 62 b [2], Bl. 1 für die Vorlage einer Abschrift bei einer Zeitschrift oder einem Verlag gedacht. Sie belegt zudem, dass Horváth TS20 auch später noch als Endfassung erachtet hat. Der jüngste Textträger der Sportmärchen ist eine Abschrift von Legende vom Fußballplatz (TS27), die aufgrund einiger markanter Abweichungen mit hoher Sicherheit die Vorlage für den letzten bekannten Druck aus den Sportmärchen in der Münchener Literaturzeitschrift Jugend im Februar 1931 war (vgl. D19/TS45) und vermutlich auch erst kurz vor dieser Veröffentlichung entstanden ist. Diese Abschrift liegt allerdings nur in Form einer Fotokopie vor, der Verbleib des Originals ist unbekannt. Tatsächlich zeigt die Druckgeschichte, dass die Genese der Sportmärchen auch mit 20 TS nicht vollständig abgeschlossen war. Für die Veröffentlichung einzelner Texte aus den Sportmärchen hat Horváth wie im Falle von TS27 bzw. D19/TS45 auf leicht adaptierte bzw. in anderen Fällen auch auf frühere Fassungen zurückgegriffen. Zwischen 1924 und 1931 erschienen mehrere der Sportmärchen in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, allen voran in der Münchener Satirezeitschrift Simplicissi-
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Vgl. GW III, S. 25–55 sowie KW 11, S. 45–78. Briefe Ödön von Horváths an Herbert Ihering, Berlin, 11. und 19.5.1927, Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ihering-Archiv M. 1593. Vgl. Dieter Hildebrandt: Ödön von Horváth. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975 (= rm 50231), S. 34; vgl. auch Géza von Cziffra: Kauf Dir einen bunten Luftballon. Erinnerungen an Götter und Halbgötter. Berlin: Helbig 1975, S. 106. Vgl. Traugott Krischke: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit. Berlin: Propyläen 1998, S. 87.
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Sportmärchen
mus, später vornehmlich in der Jugend. Insgesamt wurden 14 der Sportmärchen teils allein, teils in Zusammenstellungen veröffentlicht. Aufgrund mehrfacher Publikationen einzelner Märchen wie etwa Legende vom Fußballplatz, die im Simplicissimus, in der Berliner Volks-Zeitung und in der Jugend erschienen ist, liegen insgesamt 19 Publikationen vor. Was die verwendete Textgrundlage der einzelnen Publikationen betrifft, zeigt sich ein etwas widersprüchliches Bild. Mehrere der frühesten Drucke basieren eindeutig auf dem Text von TS20, etwa Aus einem Rennradfahrerfamilienleben (D2/TS29) und Vom unartigen Ringkämpfer (D3/TS30), die am 13. Oktober bzw. 15. November 1924 im Simplicissimus publiziert wurden. Später hat Horváth aber zum Teil auch frühere Fassungen zum Abdruck gebracht. So greift er etwa im Falle des Abdrucks von Vom unartigen Ringkämpfer, das gemeinsam mit Vom artigen Ringkämpfer unter dem Titel „Zwei Sportmärchen“ (D13/TS39) am 16. Juni 1928 in der Jugend erschienen ist, auf den Text von TS17 zurück, wie sich anhand einiger markanter Formulierungsunterschiede ersehen lässt.16 Dieser erratische Umgang Horváths mit seinen Texten hat Auswirkung auf die Autorisation der überlieferten Fassungen: Neben der Fassung letzter Hand der vollständigen Kompilation, wie sie mit TS20 vorliegt, müssen diese Fassungen einzelner Märchen ebenfalls als von Horváth autorisiert gelten. Die Publikation von Sportmärchen in Berliner Zeitungen wie der B.Z. am Mittag und der Berliner Volks-Zeitung lässt sich auch als frühe Vorstellung Horváths bei zwei Verlagshäusern sehen, die für seine spätere Arbeit als anerkannter Schriftsteller von Bedeutung werden sollten. Die B.Z. am Mittag gehörte zu den Zeitungen der UllsteinVerlagsgruppe, die Horváth nach seinen ersten Erfolgen als Dramatiker unter Vertrag nahm.17 Die Berliner Volks-Zeitung wiederum erschien im Verlagshaus Rudolf Mosse, das auch das Berliner Tageblatt verlegte. Dort konnte Horváth ab 1928 mehrere seiner Kurzprosatexte veröffentlichen.18 1969 erschien unter dem Titel „Rechts und Links. Sportmärchen“ erstmals eine vollständige Fassung der Sportmärchen im Druck, die von Walter Huder besorgt und mit einem Nachwort versehen wurde.19 Der enthaltene Text hat TS20 zur Grundlage, wobei der Titel nicht von Horváth selbst stammt, und erschien in einer limitierten Auflage von nur 350 Stück in bibliophiler Aufmachung mit vierfarbigen Linolschnitten. Für die Rezeption maßgeblicher war indes der Abdruck im dritten Band der Gesammelten Werke. Obwohl Walter Huder als Leiter des Archivs der Akademie der Künste in Berlin, das den Nachlass Horváths zwischen 1963 und 1988 verwahrte, als Mitherausgeber fungierte, ist dort die mit TS17 vorliegende Fassung Grundlage des Abdrucks.20 In den Anmerkungen wird das zugrunde liegende Typoskript (T16) irrigerweise als „vermutlich die Fassung letzter Hand“21 bezeichnet. Möglicherweise war seine Ablage im Nachlass die Ursache für dieses Fehlurteil, denn die mit TS17 vorliegende Kompilation der Sportmärchen ist als einzige separat in einer Mappe abgelegt (BS 62 c). TS20 ist demgegenüber nur über diverse Durchschlagblätter zu er-
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Vgl. den Kommentar zu D13/TS39 im Chronologischen Verzeichnis. Vgl. dazu den Verlagsvertrag Ödön von Horváths mit Ullstein vom 10. Jänner 1929, Original im Vertragsarchiv des Ullstein Buchverlags, Berlin, ohne Signatur. Vgl. in diesem Band ET10–ET15, ET18 und ET20. Horváth 1969. GW III, S. 25–55. Ebd., S. 4*.
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Vorwort
schließen, die auf die Mappen BS 62 b [1], BS 62 b [2] und BS 62 d verstreut sind. Da Huder selbst jedoch in seiner Ausgabe der Sportmärchen eindeutig TS20 als Textgrundlage benutzt hat, musste er diese Fassung zum Zeitpunkt der Arbeit an den Gesammelten Werken bereits zwangsläufig rekonstruiert haben und über die genetischen Verhältnisse informiert gewesen sein. Wahrscheinlich haben sich hier die beiden Mitherausgeber Dieter Hildebrandt und Traugott Krischke durchgesetzt, worin vermutlich auch ein Keim für das spätere Zerwürfnis mit Huder gelegt wurde.22 Die in TS17 nicht enthaltenen Märchen erschienen in der zweiten Auflage der Gesammelten Werke in einem separaten Anhang am Schluss des dritten Bandes gemeinsam mit dem Kurzprosatext Der Fliegenfänger (ET24).23 In den Anmerkungen steht hierzu ein Hinweis auf ihre teilweise Publikation in der von Huder besorgten sowie auch in einer von Krischke zwischenzeitlich herausgegebenen Sammlung der Sportmärchen im Insel-Verlag.24 Erstmals sind an dieser Stelle auch die nicht in TS20 enthaltenen Märchen „Nur auf die Bindung kommt es an!“, Sommer und Winter, Das Sprungbrett, Der Fallschirm und Die drei Gesellen publiziert, die nur in der von der späteren Bearbeitung verschütteten Kompilation von TS1/A2 Teil der Sportmärchen waren. Ebenfalls in diesem Anhang enthalten sind die bereits von Huder veröffentlichten Märchen aus TS20 Die Regel und Was das romantische Rückenschwimmen erzählt. TS1/A2 Persönlichkeiten. Präzise Angaben zur Textgrundlage fehlen hier jedoch. Irritierend ist der Abdruck von Die beiden Magenschwinger an dieser Stelle. Dabei handelt es sich gemäß dem Titel um die frühe, in TS1/A2 enthaltene Fassung von Rechts und Links. Der hier gebotene Text stimmt dementsprechend nicht mit dem Text der späteren Fassung überein, weicht aber auch von der in TS1/A2 enthaltenen merklich ab. Eine entsprechende Vorlage ist im Nachlass nicht vorhanden, was auf den Verlust von Materialien aus dem Nachlass hindeutet, da aufgrund der starken Unterschiede einfache Transkriptionsfehler unwahrscheinlich sind.25 Die Veröffentlichung der Sportmärchen in der allein von Traugott Krischke betreuten Kommentierten Werkausgabe folgt weitgehend den Gesammelten Werken.26 Textgrundlage für die dort als Sportmärchen abgedruckten Texte ist wieder TS17, für die Krischke in der editorischen Notiz explizit das Typoskript der Mappe BS 62 c als Quelle angibt.27 Die nicht in TS17 enthaltenen Sportmärchen sind hier unter dem Titel „Weitere Sportmärchen“ versammelt,28 für die Krischke in der Editorischen Notiz 22
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Walter Huder legte nach Erscheinen des dritten Bandes der Gesammelten Werke seine Mitherausgeberschaft zurück. Vgl. auch Kurt Bartsch: Tendenzen der Horváth Forschung. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Hermann Kunisch. Bd. 18. Berlin: Duncker und Humboldt 1978, S. 365–382, hier S. 367. GW III (2. Aufl.), S. 519–526. Die 2. Auflage der Gesammelten Werke entspricht hier der Ausgabe der Gesammelten Werke in acht Bänden (vgl. GWA 6, S. 519–529 sowie S. 535). Der Abdruck weiterer Sportmärchen sowie von Der Fliegenfänger in einem Appendix deuten nachdrücklich auf die unzulängliche Recherche und die übereilte Drucklegung des Bandes in seiner ersten Auflage hin. Horváth 1972. Vgl. GW III (2. Aufl.), S. 7*. Auf mögliche Verluste deutet auch ein in der Kommentierten Werkausgabe grob transkribiertes „hs Konzept“ (KW 11, S. 265) hin, das vermutlich zu TS16 gehört hat, vgl. dazu den Abschnitt „Das genetische Material und seine Chronologie“ sowie den Kommentar zu TS16 im Chronologischen Verzeichnis. Vgl. KW 11, S. 45–78. Vgl. ebd., S. 265 und 294. Vgl. ebd., S. 79–87.
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Sportmärchen
aber keine Quellenangaben macht. Sie weisen gegenüber dem Abdruck in den Gesammelten Werken einige Abweichungen auf. Zum einen ist die Abfolge der Märchen hier gegenüber ihrer Reihenfolge in den Gesammelten Werken verändert, zum anderen wurde bei einigen Märchen nun, wie durch einen Textvergleich zu erschließen ist, eine andere Textgrundlage benutzt. Das Märchen Was das romantische Rückenschwimmen erzählt aus TS20 ist durch seine frühere Fassung ersetzt, die den Titel Persönlichkeiten trägt, und basiert hier auf der Korrekturschicht von TS1/A2 bzw. einer Abschrift davon.29 Auch beim Abdruck von Die Regel hat Krischke nicht die Fassung von TS20, sondern die aus TS1/A2 bzw. einer Abschrift davon verwendet, die hier zum ersten Mal publiziert ist. Der Text des Märchens Die beiden Magenschwinger wiederum folgt neuerlich wie bereits in den Gesammelten Werken einer nicht überlieferten Fassung.
Das genetische Material und seine Chronologie Zu den Sportmärchen ist ein umfangreiches Konvolut überliefert, das insgesamt 239 Blatt an Typoskripten und Durchschlägen umfasst. Typoskriptblätter machen davon nur einen geringen Anteil von 19 Blatt aus, mit insgesamt 210 Blatt liegen vor allem Durchschläge vor. Einige Blätter sind wiederum nur als Fotokopien nicht erhaltener Blätter überliefert, die vermutlich während der Verwahrung des Nachlasses an der Berliner Akademie der Künste angefertigt worden sind. Die oft in mehrfacher Ausfertigung erhaltenen Durchschläge stammen teilweise von den erhaltenen Typoskriptblättern ab, den größten Anteil am überlieferten Material haben aber Durchschlagsblätter ohne erkennbares Original. Der einzige handschriftliche Textträger in der Werkgenese der Sportmärchen ist das für die Datierung wie die relative Chronologie der Textgenese maßgebliche Poesiealbum von Felizia Seyd (TS15/BS 62 e) im Umfang von 60 Seiten. Ursprünglich haben anscheinend weitere handschriftliche Materialien vorgelegen, wie ein in der Kommentierten Werkausgabe abgedruckter Strukturplan zeigt, der im Nachlass nicht aufzufinden ist.30 Dieser weist eine Textanordnung auf, die mit keiner der überlieferten vollständigen Kompilationen (TS1/A2, TS17 und TS20) übereinstimmt und möglicherweise zur stark fragmentarischen Kompilation von TS16 gehört.31 Textgenetisches Material spezifisch zu einzelnen Märchen liegt einzig mit TS3 zu Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen und Wintersportlegendchen vor, sofern man von den meist nur geringfügigen Überarbeitungsspuren bereits abgeschlossener Märchentexte zwischen den erhaltenen Kompilationen und der fallweisen Umbenennung einzelner Texte (etwa Persönlichkeiten in TS1/A2 und Was das romantische Rückenschwimmen erzählt in TS20) absieht. Möglicherweise hat Horváth selbst große Teile der Vorarbeiten vernichtet.32
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Die in TS1/A2 enthaltene Fassung ist allein in Form einer Fotokopie überliefert, vgl. dazu den Kommentar zu TS1/A2. Eine Abschrift liegt mit TS8 in Form eines vom originalen Blatt abstammenden Durchschlags vor. Vgl. KW 11, S. S. 265f. Vgl. dazu den Kommentar zu TS16 im Chronologischen Verzeichnis. Zum Umgang Horváths mit Vorarbeiten, die er bis ca. 1930 bei abgeschlossenen Texten wohl vernichtet hat, vgl. die Ausführungen zur Kurzprosa im Abschnitt „Textkorpus“.
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Vorwort
Für die Arbeit an den Sportmärchen hat der Autor insgesamt vier unterschiedliche Schreibmaschinen benutzt. Der mit Abstand größte Teil an Typoskripten bzw. Durchschlägen ist auf einer Maschine entstanden, die bei mehreren Typen Ober- bzw. Unterlinien mit angeschlagen haben. Dieser markante Fehler gibt Hinweise zur Datierung des Konvoluts, da Horváth dieselbe Maschine auch für andere frühe Kurzprosatexte bzw. Werkprojekte verwendet hat.33 Vor allem auf Durchschlägen lässt sich der Anschlag von Ober- und Unterlinien gut erkennen, bei Originaltyposkripten liegen oft nur Einstanzungen auf dem Blatt vor, da das Farbband hier keine Farbe übertragen hat. Auf dieser Schreibmaschine sind TS1–TS10 sowie TS17–TS26 entstanden. Für TS11–TS14, bei denen es sich um Reinschriften einzelner Sportmärchen handelt, hat Horváth auf ein ungarisches Fabrikat zurückgegriffen, was an der Verwendung von Doppelakuts (˝o) anstelle von Punkten bei der ö-Type zu erkennen ist. Die fragmentarisch überlieferte Kompilation von TS16 wiederum ist auf einer Schreibmaschine mit auffällig hoher, schmaler Type entstanden. Dieselbe Schreibmaschine liegt im Nachlass auch für einige Arbeiten zum Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos von 1928/29 vor, das in den Roman Der ewige Spießer eingegangen ist.34 Es dürfte sich dabei jedoch um eine nur zufällige Übereinstimmung handeln; da beide Werkgenesen anderweitig gut zu datieren sind, ist eine entstehungsgeschichtliche Nähe äußerst unwahrscheinlich. Eine vierte Schreibmaschine liegt schließlich beim TS27 zugrunde liegenden Textträger vor. Dieser ist aber nur in Form einer Fotokopie überliefert, was weitere Aussagen über das Typoskript schwierig macht. Aufgrund einiger Übereinstimmungen von TS27, die eine Fassung von Legende vom Fußballplatz umfasst, mit dem letzten belegten Druck dieses Textes in der Jugend 1931 (vgl. D19/TS45) ist diese Textstufe vermutlich in großem zeitlichen Abstand zu den übrigen Arbeiten entstanden.35 Im Konvolut der Sportmärchen lassen sich mit TS1/A2, TS17 und TS20 insgesamt drei separate, größtenteils vollständige Kompilationen der einzelnen Texte unterscheiden. Mit TS16 liegt außerdem eine stark fragmentarische Kompilation vor. Während die letzte vollständige Kompilation TS20 als genuine Neuabschrift erstellt wurde, sind TS1/A2 und TS17 genetisch eng miteinander verwoben, da Horváth TS1/A2 aufgelöst und aus einem Teil der dort enthaltenen Blätter unter Verwendung von neuem Material TS17 hergestellt hat. Die stark fragmentarische Neukompilation TS16 dürfte dabei einen Zwischenschritt in dieser Umarbeitung darstellen. Von allen Kompilationen existieren teils mehrfache Durchschläge, wobei TS1/A2 in einem besonderen Verhältnis zu einem Teil der ihr zugehörigen Durchschläge steht. Diese konstituieren aufgrund weiterer Bearbeitungsspuren die fragmentarische Fassung TS2 und sind überdies aufgrund einer auffälligen Lochung am linken Blattrand als zusammengehöriges Konvolut zu erkennen. Ursprünglich bildeten sie einen vollständigen Durchschlag von TS1/A2, der von Horváth als Arbeitsexemplar für die Umwandlung von TS1/A2 zu TS17 benutzt worden ist. In TS2 sind zudem mehrere Blätter als Durchschlag erhalten, die im Zuge dieser Umwandlung verloren gegangen sind, woraus sich mittels der in
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Vgl. dazu den Abschnitt „Datierung und Druck“. Vgl. WA 14/K2/TS8. Vgl. dazu auch die Ausführungen zu den Materialschichten in der Zusammenstellung des Romans Der ewige Spießer im Kommentar zu WA 14/K4/TS3 sowie die dazu gehörige Übersicht in WA 14, S. 918–920. Vgl. dazu auch die Anmerkungen im Abschnitt „Datierung und Druck“.
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Sportmärchen
TS17 weitergewanderten Blätter eine nahezu vollständige Fassung von TS1 und ihren Ansätzen rekonstruieren lässt. Auf mehreren anderen Durchschlägen von TS1/A2 bzw. TS17 sowie von TS20 hat Horváth seinen Namen handschriftlich eingetragen und diese Texte so als unabhängige Einzeltexte gekennzeichnet (TS4–TS10 und TS20–TS26). Diese waren vermutlich zur Vorlage bei Zeitungen bzw. Zeitschriften gedacht. In einigen Fällen liegen auch Einzeltextfassungen von Märchen in Form separater Neuabschriften vor, die teilweise bereits einen Namenseintrag Horváths in der Grundschicht aufweisen (TS11–TS14, TS18, TS19 und TS27) und wohl ähnlichen Zwecken dienten. Durchschläge eines nicht erhaltenen Originals konstituieren den unabhängigen Text von TS3, die eine frühe, noch mit dem Text von Wintersportlegendchen verbundene Fassung des Märchens Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen enthält. Beide Märchen sind erst in TS17 bzw. TS20 Teil einer Kompilation. Im Detail stellen sich die textgenetischen Verhältnisse folgendermaßen dar: Die beiden Ansätze von TS1 sind die erste, ursprünglich vollständige Kompilation der Sportmärchen und zugleich die frühesten erhaltenen textgenetischen Materialien. Entwürfe bzw. Vorarbeiten zu den enthaltenen Märchen oder zu ihrer geplanten Anordnung sind nicht überliefert. Einen Großteil der Blätter von TS1 verwendete Horváth für die Konstitution von TS17, wobei die übrigen Materialien von TS1 verloren gegangen sind. Die ursprüngliche Kompilation von TS1 kann aber aus verschiedenen Quellen innerhalb des Konvoluts rekonstruiert werden. Neben den in TS17 weitergewanderten Blättern ist TS2 hier die wichtigste Quelle. Diese Textstufe enthält das Fragment eines ursprünglich vollständigen Durchschlags von TS1/A2, der einen Großteil der nicht in TS17 übernommenen Märchen textidentisch enthält. Bedeutsam für die Rekonstruktion von TS1/A2 ist ein in diesem Fragment erhaltener Durchschlag des Inhaltsverzeichnisses (TS2/BS 62 d, Bl. 1f.), in das Horváth handschriftliche Seitenangaben eingefügt hat. Insgesamt 24 der 34 Blatt von TS17/BS 62 c weisen eine korrigierte handschriftliche Paginierung auf, die mit dieser übereinstimmen. Die Märchen Start und Ziel und Was ist das? sind dabei im Inhaltsverzeichnis TS2/BS 62 d, Bl. 1 jeweils handschriftlich mit einer abgeleiteten Paginierung (8a bzw. 12a) ergänzt, woraus sich ergibt, dass TS1 in zumindest zwei Ansätzen entstanden sein muss. Dieselbe, in TS17 später korrigierte Paginierung findet sich auch auf den entsprechenden Blättern TS1/A2/BS 62 c, Bl. 4 und Bl. 17. Daraus kann auf die nachträgliche Einfügung beider Märchen in die Kompilation geschlossen und A2 von A1 abgegrenzt werden. Der enge textgenetische Zusammenhang von TS1/A2 mit TS2 und die Möglichkeit, damit TS1/A2 über die in TS17 erhaltenen Blätter hinausgehend zu rekonstruieren, kann exemplarisch anhand der Materialien zu Legende vom Fußballplatz nachvollzogen werden. Dieses Märchen liegt sowohl auf den ursprünglich aus TS1/A2 stammenden und in TS17 wieder verwendeten Blättern BS 62 c, Bl. 6–10 als auch auf den in TS2 enthaltenen Durchschlägen derselben, BS 62 a, Bl. 1–5, vor. Die in TS17 eingegangenen Blätter des Märchens weisen eine erste handschriftliche Paginierung gemäß dem Inhaltsverzeichnis TS2/BS 62 d, Bl. 2 sowie eine korrigierte Paginierung entsprechend ihrer Neuplatzierung in TS17 auf. Auf dem Durchschlag dieser Blätter in TS2, dessen erste handschriftliche Paginierung jener der weitergewanderten Blättern entspricht, vollzieht sich diese Korrektur in mehreren Schritten, wofür Horváth auch unterschiedliche Schreibmaterialien (roter Buntstift und Bleistift) gebraucht hat.
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Vorwort
Zugleich weist der Durchschlag mehrere handschriftliche Korrekturen auf, die auch auf den originalen Blättern eingetragen sind. Damit werden die Durchschläge von TS2 als identische Arbeitskopie Horváths erkenntlich, in der er die Umwandlung der Kompilation erprobt hat. Da die Blätter von TS2 aufgrund ihrer Lochung am linken Blattrand materiell eindeutig zu identifizieren sind, können auch Blätter für die Rekonstruktion von TS1/A2 herangezogen werden, die keine eindeutigen Korrekturen aus der Umarbeitung enthalten, sei es, weil Horváth hier keine Paginierungskorrekturen eingefügt hat oder die Texte ohne Änderung in TS17 eingegangen sind. Anhand der Übertragung von handschriftlichen Korrekturen auch in die Durchschläge kann zugleich die gültige Korrekturschicht in TS1/A2 bestimmt werden. Hinweise zur Abgrenzung von erst in TS17 auf aus TS1/A2 stammenden Blättern eingetragene Korrekturen gibt schließlich auch ein Textvergleich mit den Märchen im Poesiealbum von Felizia Seyd (TS15), die vor der Kompilation von TS17 und den erst dort gesetzten weiteren handschriftlichen Korrekturen festgehalten worden sind. Nicht überliefert und auch nicht mit dieser Methode zu rekonstruieren sind das Titelblatt von TS1/A2 und diverse Blätter mit Zwischentitel, die sich aber aus ihrer Eintragung im Inhaltsverzeichnis zumindest erschließen und anhand der auf den überlieferten Materialien entsprechend weiterspringenden Paginierung belegen lassen. Für zwei Märchen, Vom artigen Ringkämpfer und Vom unartigen Ringkämpfer, die Horváth in TS17 teilweise neu getippt hat, liegen in TS2 nur ungenügende Materialien für eine Rekonstruktion vor. Hier kann aber auf die weiteren, von Horváth als Einzeltext ausgewiesenen Durchschläge zurückgegriffen werden, die von TS1/A2 abstammen (TS4 und TS7). Als einziges Märchen kann Aus Leichtathletikland nicht vollständig in der Fassung von TS1/A2 wiederhergestellt werden, hier fehlen das ursprüngliche Typoskript wie die Durchschläge zweier Blätter, die Horváth für TS17 neu erstellt hat. TS1/A2 (bzw. TS2) enthält zwar bereits einen Großteil der einzelnen Sportmärchen in abgeschlossenen Fassungen, die im Lauf der weiteren Textgenese in den meisten Fällen keine großen Veränderungen mehr erfahren, unterscheidet sich aber strukturell wesentlich von den beiden anderen Kompilationen TS17 und TS20. Der wichtigste Unterschied ist zunächst, dass TS1/A2 mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht „Sportmärchen“ geheißen hat, was hier nur als Teiltitel fungiert. Möglicherweise hat TS1/A2 den Titel „Sportmärchen und Verwandtes“ getragen, da Horváth diesen Titel im Poesiealbum für Felizia Seyd erwähnt.36 Folgende Struktur liegt vor:37 I. Sportmärchen Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes Der sichere Stand Die Regel Start und Ziel Die drei Gesellen Das Sprungbrett Der grosse und der kleine Berg Was ist das? „Nur auf die Bindung kommt es an!“
Der Fallschirm Die beiden Magenschwinger Persönlichkeiten Sommer und Winter Stafetten Aus einem Rennradfahrerfamilienleben Begegnung in der Wand Die Mauerhakenzwerge Die Eispickelhexe Die Beratung Regatta
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Sportmärchen
III. Aus Leichtathletikland (Historie mit Randbemerkung)
II. Drei Sportlegenden Legende vom Fussballplatz Vom artigen Ringkämpfer Vom unartigen Ringkämpfer
Neben einer gänzlich anderen Abfolge der einzelnen Texte ist hier noch deutlich zwischen „Sportmärchen“ und „Sportlegenden“ unterschieden und bildet das in TS20/BS 62 a, Bl. 26 ebenfalls wieder als „Historie“ bezeichnete Märchen Aus Leichtathletikland eine eigene Gruppe. Der Text von TS1/A2 ist die Grundlage für die insgesamt vierzehn Märchen, die Horváth im September 1924 in das Poesiealbum von Felizia Seyd (TS15) eingetragen hat. Ihre Reihenfolge dort ist unabhängig von der Anordnung in den drei umfänglichen Kompilationen zu sehen. Im Titel des Poesiealbums bemerkt Horváth: „Legende vom Fussballplatz / und diejenigen meiner / Sportmärchen / die / wie ich glaube / meinem Lizulein / am meisten zusagen werden“38. Daraus wird deutlich, dass es sich um eine sehr persönliche und unvollständige Auswahl handelt. In der Umarbeitung zu TS17 scheiden mehrere Märchen aus dem mit TS1/A2 vorliegenden Korpus aus: Die Regel, Die drei Gesellen, Das Sprungbrett, „Nur auf die Bindung kommt es an!“, Der Fallschirm, Die beiden Magenschwinger sowie Sommer und Winter. Spätestens im Zuge der Umarbeitung zu TS17 gibt Horváth die Dreiteilung der Kompilation auf und gliedert alle beibehaltenen Texte unter dem gemeinsamen Titel „Sportmärchen“ in eine neue Struktur ein, die mit Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen, Wintersportlegendchen und Über das Meer drei neue Märchen umfasst:39 Was es alles gibt: Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes, Start und Ziel Der sichere Stand Legende vom Fussballplatz Regatta Vom artigen Ringkämpfer Vom unartigen Ringkämpfer Der grosse und der kleine Berg Was ist das?
Stafetten Wintersportlegendchen Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen Über das Meer Aus einem Rennradfahrerfamilienleben Begegnung in der Wand Die Mauerhakenzwerge Die Eispickelhexe Die Beratung Aus Leichtathletikland
TS17 besteht zu einem Großteil aus Blättern aus TS1/A2, neue Blätter liegen zum einen in Form des Deckblatts, des Inhaltsverzeichnisses „Was es alles gibt“ (TS17/BS 62 c, Bl. 2) sowie für die neu hinzugekommenen Märchen vor. Zum anderen hat Horváth für die Märchen Vom artigen Ringkämpfer, Vom unartigen Ringkämpfer und Aus Leichtathletikland, das hier die Gattungsbezeichnung Historie verloren hat, teilweise neues Material erstellt. Aufgrund ihrer fälschlichen Bewertung als Fassung 36 37 38 39
Vgl. TS15/BS 62 e, S. 2. Vgl. TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 d, Bl. 1f. TS15/BS 62 e, S. 2. Vgl. TS17/BS 62 c, Bl. 2. Zu den Änderungen vgl. auch die Informationsgrafik Tab2 in diesem Band, S. 698f.
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Vorwort
letzter Hand und dem Abdruck sowohl in den Gesammelten Werken als auch der Kommentierten Werkausgabe, ist TS17 die rezeptionsgeschichtlich einflussreichste Fassung der Sportmärchen.40 TS20, die werkgenetisch jüngste Kompilation, ist von Horváth vollständig neu getippt worden. Ihre Position in der genetischen Reihe lässt sich anhand der Umsetzung verschiedener handschriftlicher Korrekturen aus TS1/A2 bzw. TS17 bestimmen, die hier in der maschinenschriftlichen Grundschicht umgesetzt sind. In dieser Kompilation ist die Abfolge der einzelnen Texte neuerlich verändert, außerdem sind mehrere der im Übergang von TS1/A2 zu TS17 ausgeschiedenen Märchen unter teilweise neuen Titeln wieder Teil des Textkorpus. Den Titel des Inhaltsverzeichnisses „Was es alles gibt“ von TS17 behält Horváth bei:41 Was es alles gibt: Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes Start und Ziel Die Regel Legende vom Fussballplatz Regatta Vom artigen Ringkämpfer Vom unartigen Ringkämpfer, Fünf alpine Märchen (Begegnung in der Wand, Die Beratung, Der sichere Stand, Die Eispickelhexe, Die Mauerhakenzwerge) Was ist das?
Stafetten Rechts und links Aus einem Rennradfahrerfamilienleben Wintersportlegendchen Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen Über das Meer Was das romantische Rückenschwimmen erzählt Aus Leichtathletikland (Historie mit Randbemerkung)
Die auffälligste strukturelle Veränderung in TS20 ist die Zusammenfassung der Märchen, die vom Bergsteigen handeln, unter dem Obertitel „Fünf alpine Märchen“. Dabei scheidet das thematisch verwandte Märchen Der große und der kleine Berg aus den Sportmärchen aus. Neben den durch diese Bündelung hervorgerufenen Veränderungen in der Abfolge der Märchen verschiebt Horváth auch das Märchen Aus einem Rennradfahrerfamilienleben, das nun vor Wintersportlegendchen steht. Das Märchen Die Regel, das im Übergang von TS1/A2 zu TS17 ausgeschieden wurde, ist nun wieder Teil der Kompilation, weist aber einen teilweise veränderten Text auf. Unter den neuen Titeln Rechts und links sowie Was das romantische Rückenschwimmen erzählt sind die Märchen Die beiden Magenschwinger und Persönlichkeiten ebenfalls wieder präsent, wobei vor allem Rechts und links textlich merklich verändert wurde. Für die Eingriffe in diesen drei Texten gibt es im Konvolut keine Vorarbeiten. TS20 liegt in einer von Horváth paginierten Fassung nur unvollständig vor, kann aber aus den teils mehrfachen Durchschlägen anhand des Inhaltsverzeichnisses TS20/BS 62 d, Bl. 58 lückenlos wiederhergestellt werden. Da von späteren Textstufen, abgesehen von den Drucktexten, nur mehr Durchschläge dieser Blätter existieren, die von Horváth als Einzeltexte eingerichtet worden sind, ist der Text von TS20 in der 40 41
Vgl. dazu den Abschnitt „Datierung und Druck“. Vgl. TS20/BS 62 a, Bl. 30. Zu den Änderungen vgl. auch die Informationsgrafik Tab2 in diesem Band, S. 698f.
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Sportmärchen
Korrekturschicht die letzte nachweislich allein von Horváth eingerichtete vollständige Fassung der Sportmärchen. Nicht mit Gewissheit zu klären ist schließlich die Anordnung der einzelnen Texte, die Horváth für die nur stark fragmentarisch überlieferte Kompilation TS16 geplant hatte bzw. ob in TS16 jemals eine vollständige Kompilation vorgelegen hat. Möglicherweise steht diese Kompilation mit einem nur in einer Edition Traugott Krischkes überlieferten Strukturplan in Verbindung.42 Neben den Kompilationen von TS1/A2, TS16, TS17 und TS20 sowie der eng mit TS1/A2 verknüpften TS2 liegt eine Vielzahl von weiteren Durchschlägen bzw. Abschriften im Konvolut der Sportmärchen vor, die als Einzeltexte gekennzeichnet sind. Horváth hat dazu auf diesen Texten handschriftlich seinen Namen und in einigen Fällen bei mehrseitigen Texten auch eine separate Paginierung eingetragen. Bei TS4–TS10 handelt es sich um Durchschläge mehrerer Märchen, die von TS1/A2 abstammen. Die Eintragung von Nummerierungen auf den TS8–TS10 konstituierenden Blättern, deren Entstehungszeit nicht genau bestimmt werden kann, deutet zudem darauf hin, dass Horváth möglicherweise hier bereits eine Neuanordnung seiner Märchen überlegt hat. TS11–TS14 sind Abschriften von Märchen auf dem Stand von TS1/A2, die eindeutig als Einzeltexte konzipiert wurden und bereits in der maschinenschriftlichen Grundschicht über einen Namenseintrag Horváths verfügen. Bei TS18 und TS19 handelt es sich ebenfalls um Neuabschriften, TS21–TS26 schließlich sind von Horváth mittels handschriftlichem Namenseintrag als Einzeltexte gekennzeichnete Durchschläge von TS20. Aus diesen Kleintexten ist TS3 hervorzuheben, die eine frühe Fassung der Märchen Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen und Wintersportlegendchen enthält, die hier noch einen gemeinsamen Text bilden. Von fremder Hand wurde darauf „Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen“ (TS3/BS 62 a, Bl. 20) als Titel notiert. Horváth selbst hat hier keinen Titel vergeben, allerdings erschien eine sehr ähnliche Variante 1926 unter dem Titel „Der Herr von Bindunghausen“ im Simplicissimus (vgl. D9/TS36).43
Rezeption (Sportmärchen) Zu den Sportmärchen sind, wie auch zu einem Gutteil der übrigen Kurzprosa, nur wenige Spuren ihrer zeitgenössischen Rezeption überliefert.44 Sie waren, sieht man vom Buch der Tänze (1922) ab, die ersten Veröffentlichungen des nahezu unbekannten, im damaligen Literaturbetrieb nicht arrivierten jungen Autors Ödön von Horváth, weshalb sie nicht mit der Aufmerksamkeit der Literaturkritik rechnen konnten. Eine wesentliche Ursache für ihren geringen zeitgenössischen Widerhall liegt auch in der Kurzform selbst begründet: Während die Dramen im Zuge ihrer Uraufführung einem weiteren Publikum vorgestellt bzw. die Romane in größerem Stil vertrieben und beworben wurden und so auf die Resonanz von Theater- und Literaturkritikern stoßen konnten, gab der jeweils geringe Umfang der verschiedenen Einzeltexte 42
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Vgl. dazu sowie zum nicht überlieferten Strukturplan im Detail den Kommentar zu TS16 sowie hier Anm. 25. Zum teilweise widersprüchlichen Verhältnis zwischen den nachweislich zuletzt erarbeiteten Textstufen und der Textgrundlage verschiedener Abdrucke vgl. den Abschnitt „Datierung und Druck“. Vgl. dazu auch den Abschnitt „Rezeption (Kurzprosa)“.
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Vorwort
und ihre flüchtige Erscheinungsweise in Zeitungen und Zeitschriften kaum Anlass zu Kritikerreaktionen oder gar umfangreicheren Besprechungen. Allerdings sind auch im privaten Bereich um Horváth kaum Äußerungen zu den Sportmärchen überliefert. Einzig Felizia Seyd, für die Horváth einen Teil der Sportmärchen in ihr Poesiealbum (BS 62 e, vgl. TS15) eingetragen hatte, erinnert sich in einem Schreiben an Traugott Krischke daran, dass sie eine „Liebe für Lyrik und Märchen und ‚all things phantastic‘“45 gemeinsam hatten, gibt aber keine Auskunft über ihre Lektüre der Texte. Allgemein zum Märchen und seinem Interesse daran hat sich Horváth nur einmal und erst lang nach der Entstehung der Sportmärchen geäußert. In einem Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 14. September 1933 anlässlich seines Vorhabens, die Posse Hin und her in Wien uraufführen zu lassen,46 spricht er darin über sein kommendes Stück Himmelwärts (1934): Mein neues Stück soll eine Märchenposse werden, aber ohne Zauberei. Ich halte die Form der Märchenposse gerade in der gegenwärtigen Zeit für sehr günstig, da man in dieser Form vieles sagen kann, was man sonst nicht aussprechen dürfte …47
Die Anmerkung bezieht sich vornehmlich auf die dramatische Form der Märchenposse, ihr Kern dürfte aber auch Horváths allgemeine Einschätzung des Märchens bzw. des Märchenhaften widerspiegeln. Im Märchen, so lässt sich seine Position umschreiben, könne ein tabuisierter oder zumindest unliebsamer Gehalt verstellt wiedergegeben werden. Die Sportmärchen erfüllen diesen Zweck insofern, als sie mit den Registern märchenhaften Erzählens satirische Kritik am gesellschaftlichen Phänomen des Sports üben und damit zum Vehikel von Zeitkritik werden – eine literarische Strategie, auf die Horváth in seinem Werk wiederholt zurückgegriffen hat. Die unausgesprochene politische Spitze der Äußerung indes kann auf die zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Jahre alten Sportmärchen nicht verallgemeinert werden, steht sie doch unmittelbar in einem zeitgeschichtlichen Zusammenhang zunehmender politischer Oppression. Jedenfalls hat die spätere literaturwissenschaftliche Forschung auf eine durchgängige und sich im Spätwerk besonders manifestierende Beschäftigung Horváths mit märchenhaften Stoffen, Motiven und auch Formen hingewiesen.48 Indirekt kann aus einigen Indizien auf eine zumindest grundlegend positive zeitgenössische Resonanz der Sportmärchen geschlossen werden. Zum einen folgten schon bei den frühesten Veröffentlichungen von Märchen meist weitere in denselben Zeitschriften, etwa im Simplicissimus 1924/25 (D1/TS28–D3/TS30, D5/TS32) und in der Berliner Volks-Zeitung 1926 (D6/TS33–D8/TS35). Hier liegt die Vermutung nahe, dass im Falle einer negativen Reaktion auf die Sportmärchen weitere Publikationen unterblieben wären. Die große Zahl an Veröffentlichungen aus den Sportmärchen in der Jugend zwischen 1928 und 1931 (D13/TS39–D19/TS45) wiederum verdankt sich wohl Horváths gewachsener Bekanntheit als Schriftsteller, spricht aber gleichfalls für eine gewogene Rezeption. Ferner kann Horváths langjähriges Festhalten an Teilen der Sportmärchen und ihre Wieder- bzw. Weiterverwendung in anderen Werkkontexten als Indiz gewertet werden, dass er positive Rückmeldungen erhalten und diesen Texten weiteres Potenzial 45
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Brief von Felizia Seyd an Traugott Krischke, 22. Februar 1979, zitiert nach: Horváth-Blätter 2/1984, S. 69. Vgl. dazu das Vorwort zu Hin und her in WA 6, S. 169–189, hier S. 171f. Anonym: Ödön von Horváth über sein neues Stück. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 14.9.1933. Vgl. etwa Fritz 1981 (Anm. 6), S. 83–143.
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Sportmärchen
zugemessen hat. Besonders hervorzuheben ist hier die Legende vom Fußballplatz, die er neben den Ringkämpfer-Märchen am häufigsten publiziert hat. In dem um 1927 entstandenen Entwurf zu einem nie realisierten, „Novellen-Band“ (WP1/E1) ist unter anderem dieser Text sowie eine kleine Auswahl weiterer Sportmärchen vorgesehen. Die Geschichte des sterbenden, fußballbegeisterten kleinen Jungen greift Horváth auch später wieder motivisch auf, etwa gleich zu Beginn des dramatischen Märchens Himmelwärts (1934)49 und im Kapitel „Der Tormann“ des Romans Jugend ohne Gott (1937)50. Schließlich können auch die Hinweise auf den Versuch, um 1926/27 eine Kompilation der Sportmärchen zu publizieren, als Indizien für eine wohlwollende Rezeption der verschiedenen Einzeltexte gewertet werden.51 Die im späteren Werk auftauchenden Eigenzitate Horváths im Falle der Legende vom Fußballplatz sind nicht zufällig und stehen im Kontext der neuerlichen Hinwendung des Autors zu einem „Märchenstil“52 nach dem satirisch-neusachlichen Realismus der Spießer-Prosa um 1930, wenngleich diese ebenfalls teils eindrückliche Belege märchenhaften Erzählens wie das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET21) einschließt. Man kann hier von einer Art ‚Binnenrezeption‘ der Sportmärchen in Horváths späterem Werk sprechen, in der er sich wieder verstärkt mit der Märchenform, aber auch mit der Sport-Thematik auseinandersetzt. Wie die Anmerkungen zum dramatischen Märchen Himmelwärts im Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung bereits angedeutet haben, steht hinter der Märchenform in Horváths Werk ab 1933 durchaus auch ein politischer Ausdruckswille, erlaube das Märchen doch zu sagen, „was man sonst nicht aussprechen dürfte“53. Damit spielt Horváth auf die Zensur im nationalsozialistischen Deutschland und wohl auch auf die zunehmende Polarisierung im kurz vor dem Bürgerkrieg stehenden Österreich an.54 Tatsächlich erweist sich Horváths Werk nach 1933 formal wie sprachlich wesentlich konventioneller und an der Oberfläche zahmer als in der beißenden Satire der Volksstücke oder im Roman Der ewige Spießer.55 Die Gründe dafür sind allerdings nicht allein politischer, sondern auch kommerzieller Natur, da Horváth sich, nachdem er an den Bühnen des Deutschen Reichs nicht mehr gespielt wurde, mehr dem (österreichischen) Publikumsgeschmack anzupassen versuchte. Überdies vermied Horváth zwischen 1933 und 1935 eine explizit politische Positionierung, während er sich auf der Suche nach neuen Arbeitsmöglichkeiten auch den nationalsozialistischen Machthabern anbiederte und sich um eine Aufnahme in den gleichgeschalteten Reichsverband Deutscher Schriftsteller bemühte.56 49 50 51 52 53 54
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Vgl. KW 7, S. 159f. Vgl. WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 36–41. Vgl. dazu den Kommentar zu SM/TS20 im Chronologischen Verzeichnis der Sportmärchen. Fritz 1981 (Anm. 6), S. 83. Anonym 1933 (Anm. 47). Vgl. dazu auch Horváths ungewöhnliche Ausführungen über die Zensur als Ermöglichung einer bildhaften Sprache im nachgelassenen Textfragment Was soll ein Schriftsteller heutzutag schreiben? (KW 11, S. 223–226), das um 1937 entstanden ist. Hier schreibt er auch über die Funktion des Sports als Träger einer „ungeistige[n] Individualität“, die der „Liebe zur Mißgeburt“ (ebd., S. 225) entspringe. Vgl. zur Stildifferenz Steets 1975 (Anm. 5), S. 238–240 sowie Bartsch (Anm. 3), S. 119f. und 153. Vgl. dazu das Vorwort zu Hin und her in WA 6, S. 169–189, hier S. 170–174 sowie im Detail Christian Schnitzler: Der politische Horváth. Untersuchungen zu Leben und Werk. Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang 1990, S. 133–153.
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Neben der Märchenposse Himmelwärts und märchenhaft-überzeitlichen Elementen in weiteren späten Dramen wie Figaro läßt sich scheiden (1936) oder Ein Dorf ohne Männer (1937), findet diese fallweise als Regression interpretierte57 Rückwendung besonders eindringlich in den spätesten Arbeiten zur Kurzprosa ihren Niederschlag. Das belegen nachdrücklich die erhaltenen Prosa-Werkprojekte zwischen 1935 und 1938 (WP18–WP23), bei denen es sich fast ausschließlich um märchenhaft-fantastische Texte handelt. Die markanteste ‚Binnenrezeption‘ sowohl des Settings als auch des satirischen Tonfalls der Sportmärchen liegt aber bereits im 1932/33 entstandenen Romanfragment Himmelwärts (WP17) vor. Wie die Sportmärchen nutzt Himmelwärts, als „[r]omantischer Roman“ (WP17/E1) ausgewiesen, Formen des Märchenhaft-Fantastischen für Zeitkritik. Auf seiner Schelmenreise landet der Protagonist Schlamperl in mehreren der erhaltenen Fassungen auf einer Insel, deren Bewohner nichts anderes tun als Sport zu betreiben.58 Die ironische Verabsolutierung des Sports um des Sports willen im Romanfragment Himmelwärts, die in manchen Ausgestaltungen geradezu totalitäre Züge annimmt, erinnert dabei auch an das „Leichtathletikland“ der gleichnamigen Historie aus den Sportmärchen.59 Obwohl die von Freunden und Weggefährten versuchte postume Etablierung Horváths in Österreich nach 1945 seine Prosa wie seine Dramatik gleichermaßen würdigte und aus seinem Werk die späten Romane als Erste neu veröffentlicht vorlagen,60 wurde Horváth trotzdem bald fast ausschließlich als Dramenautor wahrgenommen. Diese Rezeptionslinie verstärkte sich im Zuge der sogenannten HorváthRenaissance in der BRD und der Verlagerung des Interesses vom von den Freunden Horváths präferierten Spätwerk zu den Volksstücken, was durch die einflussreiche Sammlung Stücke 1961 befördert wurde.61 Als Prosaschriftsteller wurde er erst Anfang der 1970er-Jahre mit der Veröffentlichung des dritten Bandes der Gesammelten Werke einer größeren Öffentlichkeit bekannt und rezipiert. Das früheste greifbare Rezeptionsdokument zu Horváths Sportmärchen ist das von Walter Huder, Mitherausgeber der Gesammelten Werke, verfasste Nachwort zu der von ihm in kleiner Auflage herausgegebenen Erstveröffentlichung der Sportmärchen als zusammengehörige Textsammlung.62 Es bekundet eine äußerst wohlwollende Lektüre. Huder stellt die Sportmärchen zunächst in den Kontext der Gattung Märchen, womit er vornehmlich das europäische Kunstmärchen meint. Entgegen der sonst üblichen „Erlösungsten-
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Vgl. exemplarisch Jürgen Schröder: Das Spätwerk Ödön von Horváths. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 125–155. Vgl. WP17/TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 18–21, TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 52–55 und TS13/A6. Vgl. zum Himmelwärts-Roman die Ausführungen zur Kurzprosa 1927–1933 im Folgenden. Zuletzt SM/TS20/BS 62 a, Bl. 26–29. Vgl. dazu Axel Fritz: Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit. München: List 1973, S. 224–226. Exemplarisch zeigt sich diese Rezeptionslinie etwa in der „Morgenfeier“ des Theaters in der Josefstadt vom 26. August 1945, bei der aus allen drei Romanen Horváths gelesen wurde (vgl. dazu Wolfgang Lechner: Mechanismen der Literaturrezeption in Österreich am Beispiel Ödön von Horváths. Stuttgart: Heinz 1978, S. 39f.), der frühen Wiederauflage von Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit 1948 bzw. 1951 im Wiener Bergland-Verlag, aber auch in einem Essay von Franz Theodor Csokor (Franz Theodor Csokor: Ödön von Horváth. In: Der Monat 33 (1951), S. 309–313). Horváth 1961. Vgl. Walter Huder: Über die „Sportmärchen“ und ihren Autor. In: Horváth 1969, o. Pag. [S. 46–54].
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denz“63 der Gattung seien die Sportmärchen beherrscht vom „Triumph des Todes, sei es durch Zerschmettern, Erwürgen, Erfrieren oder durch eine raffinierte Intrige der Umwelt“, in ihnen lauere eine „pessimistische, dunkle Romantik“64. Huder betont, dass es auch in den Märchen zu dem in der Gebrauchsanweisung (1931/32) umrissenen Kampf zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein und einer entsprechenden Demaskierung des Bewusstseins komme, was mit „einfachsten Mitteln“ erzählt werde und „gerade deshalb doppelt hintergründig“65 sei. Die einzelnen Texte, so Huder weiter, seien „eine Demonstration des menschlichen Talents für Dummheit auf den Grundnenner des zeitgenössischen Lieblingsthemas Sport gebracht und erzählend durchkalkuliert“66. Formal zeichnen sie sich durch eine dialektische Anlage und Dialogstärke aus, die bereits in nuce die raffinierte Sprachkunst der Volksstücke enthalte. Bemerkenswert sind schließlich die literarischen Traditionslinien, in die Huder die Sportmärchen stellt: E.T.A. Hoffmann, Wilhelm Busch und Jean Cocteau werden etwa als Vergleich herangezogen. Die Sportmärchen stehen für Huder dabei im Kontext des Expressionismus, was ihn in Horváth den „Georg Kaiser des österreichischen Expressionismus“67 erkennen lässt. Mit der Demaskierung des Bewusstseins und der literarischen Kritik menschlicher Dummheit weist Huders Nachwort auf zentrale Begriffe der Horváth’schen Poetik und mit dem Expressionismus auf einen wesentlichen Einfluss auf den jungen Schriftsteller hin. Spätere wissenschaftliche Untersuchungen der Sportmärchen etwa von Angelika Steets und Uwe Baur bestätigen den hier noch essayistisch dargelegten Befund. Zunächst teilten die Sportmärchen jedoch das teils vernichtende Urteil, das namhafte Kritiker wie Hellmuth Karasek und Marcel Reich-Ranicki angesichts der Edition von Horváths Prosa in den Gesammelten Werken fällten.68 Gespeist durch ein grundsätzliches Missverständnis der abweichend gestalteten, jedoch im Kern mit den Dramen verwandten poetischen Verfahren in Horváths Prosa geriet ihre literaturwissenschaftliche Aufbereitung so weiter ins Hintertreffen. Die Romane und vor allem die Sportmärchen sowie die weitere Kurzprosa erhielten damit in der Rezeption den nur schwer abzulegenden Charakter eines vernachlässigbaren Beiwerks, noch bevor sie einer profunden Analyse unterzogen werden konnten. Während sich die Romane im Lauf der weiteren Diskussion ästhetisch bzw. als prototypisch antifaschistische Literatur rehabilitieren konnten, verlief die Auseinandersetzung mit der Kurzprosa im Allgemeinen und mit den Sportmärchen im Besonderen nur schleppend, weshalb die Horváth-Forschung in diesen Punkten bis heute auffällige Leerstellen aufweist. Die nach wie vor ausführlichste Analyse der Sportmärchen hat Uwe Baur zunächst im Rahmen der Grazer Horváth-Diskussion vorgelegt und seine Ergebnisse in späteren Publikationen modifiziert und erweitert.69 Seine Inter-
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Ebd., [S. 49]. Ebd., [S. 50]. Ebd. Ebd., [S. 51]. Ebd., [S. 53]. Vgl. im Detail den Abschnitt „Rezeption (Kurzprosa)“. Vgl. Uwe Baur: Sport und Literatur in den Zwanziger Jahren. Horváths „Sportmärchen“ und die Münchner Nonsense-Dichtung. In: Kurt Bartsch/Uwe Baur/Dietmar Goltschnigg (Hg.): HorváthDiskussion. Kronberg: Scriptor 1976, S. 138–156; ders.: Horváth und die Sportbewegung der zwanziger Jahre. Seine Sportmärchen im Kontext der Münchner Nonsens-Dichtung. In: Hor-
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pretation zeigt, dass diese spielerisch wirkenden Kurztexte mehr als nur Präludien des späteren Dramatikers sind, die Horváth aufgrund ihrer absichtsvollen Gestaltung schon in seinen frühesten Texten als stilbewussten Erzähler erkennen lassen. In seinen Ausführungen, die sowohl die Sportmärchen als auch die Darstellung des Sports in anderen Werken betreffen, bettet Baur Horváths Texte in den breiteren Zusammenhang der Sportbegeisterung der 1920er-Jahre und die Entwicklung von Spitzenund Breitensport in der Weimarer Republik ein, wie sie auch von anderen Autorinnen und Autoren wie Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Georg Kaiser und Robert Musil thematisiert werden. Die literarische Beschäftigung mit dem Sport bzw. dem Bewegungserlebnis sei dabei keine singuläre oder neue Entwicklung, sondern Teil einer bis auf den Rousseauismus rückführbaren Tradition, die sich im Falle Horváths auch aus dem literarischen Umfeld Münchens speist. So schließen die „skurrilen Biographien“ der Sportmärchen und ihre personifizierten Gegenstände an die Gedichtzyklen Ringelnatz‘ und Morgensterns an.70 Einen wesentlichen Aspekt von Horváths Darstellung des Sports in den Sportmärchen entdeckt Baur im „Phänomen des Zuschauers“71, wie es in der Legende vom Fußballplatz zu erkennen ist. Der kleine Junge verkörpere zum einen die naive Kindlichkeit des Fans, zum anderen verfügt er selbst über keinerlei eigene Sporterfahrung und werde selbst im Himmel nicht zum Spieler, sondern zum seligen Zuschauer. Das Märchen lenke somit den Blick auf den eminent gesellschaftlichen Charakter des modernen Sports. Während Musil oder Brecht dem modernen Sport als individuellem Erlebnis auch positive Aspekte abgewinnen können, stelle Horváth trotz seiner eigenen Sportbegeisterung ausschließlich den von Musil konstatierten „Triumph des Sports über den Geist“72 in den Vordergrund, der den Sporttreibenden zusehends in monotoner, unhinterfragter Bewegung versachliche. Horváth öffne die Märchen für scharfe Satire und führe darin seine gesellschaftliche Zeitkritik mit der „Welt- und Lebensferne“73 des bornierten Spezialisten und des totalisierten Sports zusammen. Übrig bleiben so, wie auch im Romanfragment Himmelwärts, „seelenlose Sportmaschinen“74, die immer auch in den Tod führen, wie die oft tragischen Handlungsverläufe in den Märchen illustrieren. Die Sportmärchen übersteigen in Baurs Interpretation die sportliche Realität vornehmlich nicht durch ihre fantastischen Gehalte, sondern indem sie sie „parabelhaft vereinfachen, die potentielle Vielfalt der Beziehungen des Menschen zur Umwelt reduzieren auf eine einzige über den Sport vermittelte Beziehung“.75 Diese Beobachtungen ergänzt Baur um einige stilistische und formale Hinweise, unter anderem auf die Gattung des Kunstmärchens. Als eine vor allem in der deutschsprachigen Tradition beliebte Ausdrucksmöglichkeit für Zeitkritik ordnen sich die Sportmärchen damit in die kritische Märchenliteratur der Weimarer Republik ein. Ihre einfache Form und ihr naiver Erzählduktus seien bewusste
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váth-Blätter 2/1984, S. 75–96; neu durchgesehen in: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 9–33. Vgl. Baur 1989 (Anm. 69), S. 20–23. Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 28.
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ästhetische Entscheidungen, die durch satirische Bloßlegung eines gesellschaftlichen Phänomens Horváths Weg in die Neue Sachlichkeit dokumentieren.76 Aus gattungspoetologischer wie -historischer Perspektive widmet sich Jens Tismar den Sportmärchen im Rahmen seiner Abhandlung über das deutsche Kunstmärchen im 20. Jahrhundert, auf die sich auch Uwe Baur beruft. Das Märchen habe sich, so Tismar, spätestens mit den Versuchen, die Kriegshandlungen im Ersten Weltkrieg im Märchenton zu ‚poetisieren‘ und zu verharmlosen als „naive Metapher der Glückshoffnung“77 und damit als unproblematische Gattung erledigt. Viele Schriftsteller nach 1914 beginnen deshalb, das Märchen als „Material für Groteske und Vehikel der Satire“78 aufzufassen, darunter auch Horváth. Einstiegspunkt von Tismars Betrachtung ist das um 1937 entstandene Märchen in unserer Zeit (WP21), das er als ironisch auf seine eigene Unmöglichkeit bezogenes Märchen versteht. In dem Text, in dem ein kleines Mädchen sich in märchenloser Zeit auf die Suche nach dem Märchen macht, setzt Horváth sich eben nicht mit dem Volksmärchen selbst, sondern „mit dem abgeschliffenen, in seinem Wert offenbar abgenutzten Begriff von Märchen“79 auseinander. Die reflexiv-ironische Konstruktion soll dem Märchen einen Fortbestand als ernst zu nehmende Textsorte ermöglichen. Bereits in den Sportmärchen zeige sich dieser ironisch gebrochene Zugang zur Gattung, die „im Habitus kaltschnäuziger Desillusioniertheit“80 aufgerufen wird. Das gattungskonstitutive Merkmal des Wunderbaren sei in ihnen „am abgegriffenen Ende“81 gefasst. Die Texte personifizieren nicht bloß die Übungen vom sportelnden Menschen, sondern abstrahieren sie zudem von diesem und gestalten sie als quasi unsichtbare Mächte. Damit artikulieren die Sportmärchen nicht nur die auch bei Baur thematisierte Fremdbestimmung und Versachlichung, sondern nähren darin ein Moment des Aberglaubens ausgerechnet im sich objektiv gebenden, leistungs- und messungsbezogenen Feld des Sports. Die Legende vom Fußballplatz schließlich ist nach Tismar der einzige Text, der am ehesten einem hergebrachten Begriff von Märchen entspricht, da hier als einzigem der Sportmärchen das gattungskonstitutive Merkmal der Behebung einer Mangelsituation erfüllt ist. Gleichwohl sei auch die Legende vom Fußballplatz keine schlichte Erzählung, da der dargestellte Himmel aus einer Floskel gemacht ist und damit „das Scheinhafte der weltlichen Sportseligkeit diskret offenbar“82 mache. Auf die explizit zeitkritische Haltung, die sich in den Sportmärchen artikuliert, geht teilweise auch Axel Fritz in seiner Untersuchung zu Horváth als Zeitkritiker ein. Dessen Einstellung zum Sport ordnet Fritz „zwischen Faszination und Skepsis“ ein: Er hält ihn als Phänomen für wichtig genug, um ihn als Motiv immer wieder zu verwenden, besonders im Frühwerk, womit er dem Zug der Zeit folgt, aber schon in seiner frühesten Produktion, den Sportmärchen vom Beginn der zwanziger Jahre, ironisiert er mild in dem scheinbar naiven Märchenstil, den er im Spätwerk zum Träger der Gesellschaftssatire macht, über das Wettkampf- und Leistungsprinzip in seinen Übertreibungen.83 76 77
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Vgl. ebd., S. 28f. Jens Tismar: Das deutsche Kunstmärchen des zwanzigsten Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1981, S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 37. Fritz 1973 (Anm. 59), S. 222f. Vgl. zum „Märchenstil“ auch Fritz 1981 (Anm. 6).
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Horváth ist in seinen Märchen nach Ansicht Fritz‘ dem Sport gegenüber noch durchaus positiv eingestellt, er drücke in ihnen aber auch die potenzielle Gegensätzlichkeit von Sport und Geist aus. Dieser Gegensatz lasse sich durch weite Teile des späteren Werks verfolgen, wofür Fritz unter anderem auf die späten Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit, aber auch auf Figuren wie Harry Priegler aus Der ewige Spießer hinweist. Die nachhaltigste Vorführung des ambivalenten Verhältnisses zum Sport sieht Fritz schließlich in den Sport-Episoden des Romanfragments Himmelwärts, in denen positive wie negative Aspekte des Sports eng miteinander verknüpft sind.84 Auf die Sportmärchen kommt Fritz in einer später publizierten Studie nochmals zu sprechen, in der er den zeitkritischen Fokus um stilistische Fragestellungen spezifisch zur erzählenden Prosa erweitert. Er konstatiert darin einen „Hang zur Märchenform und im weiteren Sinne zum Märchenstil“85 bei Horváth, der sich von seinen frühesten literarischen Versuchen bis hin zum auch bei Tismar hervorgehobenen Märchen in unserer Zeit (WP21) erstrecke. Darunter sei nicht nur die deklarierte Verwendung der Gattungsbezeichnung Märchen zu verstehen, sondern auch eine „Stiltendenz“, die zur „modellhaften und parabolischen Vereinfachung und Verdeutlichung einer immer komplizierter und unübersichtlicher werdenden Wirklichkeit“86 neigt. Die Sportmärchen stellen sich in Fritz‘ Darlegung als Prototypen einer „Koppelung von Märchenform, Märchenstil und Zeitthematik“87 dar, als deren wichtigste, auf andere Werke verweisende Beispiele er Aus Leichtathletikland und die Legende vom Fußballplatz nennt. Ersteres präfiguriere die zeitkritische Sportdarstellung im Himmelwärts-Roman, der Fritz hier neuerlich breiten Raum einräumt. Letzteres transponiere über die Wiederaufnahme der Märchenhandlung im Himmelwärts-Drama und in Jugend ohne Gott das Motiv der „Erleichterung des Sterbens durch erbauliche und vorbildliche Geschichten als Wirkungsmöglichkeit des Märchens in unserer Zeit“88 in spätere Werkkontexte und thematisiere so die zeitgenössische, wenngleich melancholische Wirkungsmöglichkeit des Märchens. In der sehr ausführlichen, strukturalistisch-textlinguistischen Studie zum Prosawerk Horváths von Angelika Steets stehen die Sportmärchen gegenüber den Romanen und der Spießer-Prosa eher im Hintergrund, sie werden aber wiederholt als Belege für Horváths Prosastil herangezogen, der eine komplexe Erzählhaltung und dichte Motiv- wie Sprachstrukturen unter einer einfach scheinenden erzählerischen Oberfläche verberge. Die Sportmärchen und andere frühe Prosaarbeiten wie Amazonas (WP2/TS1) oder Die Versuchung (ET7) unterscheiden sich in Steets detaillierter Analyse von der Spießer-Prosa um 1930 durch eine „hochstilisierte Erzählsprache“89, die in stärkerem Maße von einer Überbetonung des Lautlichen Gebrauch mache, die bis zur Strukturierung ganzer Textabschnitte reichen kann.90 Im Umkehrschluss machen sie damit die naiv-mündliche Erzählhaltung der Spießer-Prosa als bewusstes Gestaltungselement kenntlich, was gegen die in der Frühphase der Prosa-Rezeption vertre84 85 86 87 88
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Vgl. Fritz 1973 (Anm. 59), S. 223–226. Fritz 1981 (Anm. 6), S. 83. Ebd. Ebd., S. 88. Ebd., S. 90. Vgl. dazu auch die Ausführungen zur ‚Binnenrezeption‘ der Sportmärchen in Horváths Werk oben. Steets 1975 (Anm. 5), S. 36. Vgl. ebd., S. 138f.
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tene These steht, Horváth sei als Erzähler gestaltungsschwach. Formal nehmen die Sportmärchen auch in der Erzählhaltung eine Sonderstellung ein, da die Erzähler-Figur hier weitaus zurückhaltender eingesetzt sei als im übrigen Werk, in dem sich sehr starke Erzählerfiguren finden wie der ‚teilnehmende‘, kommentierende Erzähler der Spießer-Prosa oder die Ich-Erzähler der späten Romane. Ein Erzähler ist in den Sportmärchen über den meist nur angedeuteten Erzählrahmen präsent, was sich prägnant in den Schlusssätzen der Märchen zeige, die Steets als besonderes Charakteristikum dieser Texte hervorhebt.91 Hinsichtlich ihrer motivischen Struktur stellt sie die Dominanz eines antithetischen Grundmusters in den Sportmärchen fest, das unterschiedlich variiert wird und darin der stark von Variation und Kombinatorik geprägten Form der Spießer-Prosa verwandt sei.92 Die sprachliche Struktur der Sportmärchen wiederum hebe sich neben ihrer lautlichen Qualität auch durch Archaismen93 und eine starke Tendenz zur personifizierenden Metaphorisierung vom übrigen Werk ab. Letztere sei vor allem der Gattung Märchen geschuldet, Horváth gehe aber auch über die gattungsimmanenten Anforderungen hinaus, indem er Sportarten, Sportgeräte und Sportbegriffe durchwegs belebe und damit dem Menschen seine exklusive Position streitig mache.94 In einem der wenigen Beiträge, der die Sportmärchen mit der übrigen Kurzprosa in Beziehung setzt, hat Wendelin Schmidt-Dengler konstatiert, dass der Sport in ihnen thematisch eigentlich fast keine Rolle spielt, was an der fundamentalen Opposition von Sport und Märchen liege: Märchen und Sport höhlen einander aus, aber gerade diese Mésalliance stellt ein besonders reizvolles Paar her, und das ist etwas grundlegend Neues, etwas völlig anderes als eben ein Bericht über den Sport, und auch etwas anderes als ein Märchen, und vielleicht sogar mehr als ein Antimärchen.95
Der Sport ist, so Schmidt-Denglers Folgerung daraus, in den Märchen nur mehr als „Sprachfigur“ vorhanden, die ein noch unverbrauchtes Bildfeld erschließt. In ihrer absichtsvollen Pointenlosigkeit und der Auflösung sowohl von gattungskonstitutiven Merkmalen wie der moralischen Nützlichkeit des Märchens als auch des Geschichtenerzählens selbst weist Schmidt-Dengler die Sportmärchen als „Geschichten vom Nichtigwerden“96 aus. Über die ihnen eingeschriebene kritische Selbstreflexion des Erzählens wiederum bilden sie eine literarische Einheit mit der übrigen Kurzprosa und stehen so zugleich in einer spezifischen, die großen Erzählungen hinterfragenden Erzähltradition der Moderne.97
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Vgl. ebd., S. 39–41. Vgl. ebd., S. 85–87. Vgl. ebd., S. 158–160. Vgl. ebd., S. 210–212. Wendelin Schmidt-Dengler: „Die Wahrheit hat selten Pointen.“ Zur Kurzprosa Ödön von Horváths. In: Klaus Kastberger (Hg.): Ödön von Horváth. Unendliche Dummheit – dumme Unendlichkeit. Wien: Zsolnay 2001 (= Profile, Bd. 8), S. 35–45, hier S. 38. Vgl. auch die Ausführungen im Abschnitt „Rezeption (Kurzprosa)“. Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 36f.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa Textkorpus Ödön von Horváths Prosa ist häufig als Nebenschauplatz seines dramatischen Werkes verstanden und zumeist von diesem überstrahlt worden. Tatsächlich bildet sie jedoch mit den Romanen, der Kurzprosa, dem eigenständigen Werkkomplex der Sportmärchen und einer Vielzahl unabgeschlossener Werkprojekte einen nicht geringen Teil seines Oeuvres, zu dem er im gesamten Verlauf seiner schriftstellerischen Arbeit kontinuierlich beigetragen hat. Jedoch, auch innerhalb der Prosa Horváths gibt es Abstufungen der literaturwissenschaftlichen Wahrnehmung wie literaturkritischen Wertung. Während die Romane sich nach einer Phase anfänglicher Geringschätzung literaturgeschichtlich etablieren konnten und heute Horváths Bewertung als Autor wesentlich mitprägen, scheint seine Kurzprosa, die immerhin 24 teilweise zu Lebzeiten publizierte Einzeltexte umfasst, tendenziell weiter im Schatten des übrigen Werks zu stehen, wie die bis heute geringe Zahl an einschlägigen Untersuchungen belegt.98 Unter den nicht abgeschlossenen Werkprojekten wiederum, die vor allem Arbeiten zur Kurzprosa umfassen, haben oft nur einige wenige wie die Materialien zum letzten geplanten Roman Adieu, Europa! (WP24) die Wahrnehmungsschwelle überschreiten können. Horváths Kurzprosa umfasst unterschiedlichste Genres: Erzählungen, Figurenporträts, Reiseberichte, Miszellen und Märchen. Die meisten Texte entstanden in den Jahren 1927 bis 1933 und können unter dem Begriff der Spießer-Prosa subsumiert werden, die thematisch, motivisch und strukturell um den 1930 erschienenen Roman Der ewige Spießer orientiert ist (vgl. WA 14). Eine buchstäbliche Kürze und der ostentativ prosaische Tonfall des Erzählens sind zweifelsohne ihre hervorstechendsten Merkmale. Die einzelnen Texte übersteigen nur selten den Umfang weniger Zeitungskolumnen, Druckseiten oder Typoskriptblätter, und die erzählten Begebenheiten sind auffällig beiläufig, sie sind lose gefügte und scheinbar nachlässig bis schlampig erzählte Episoden und Anekdoten, die sich im gleichen Zuge aber auch gegen eine allzu glatte Lektüre sperren, die das Anekdotische zunächst zu versprechen scheint.99 Ob dieser Kürze wie ihres Erzählduktus ist der Kurzprosa ein skizzenhafter Charakter zugesprochen worden, der zu ihrer Bewertung als schriftstellerisches Nebenprodukt beigetragen hat. Tatsächlich hat man es jedoch, so das Fazit der Forschung, wie in den Stücken mit einer raffinierten Poetik zu tun. Trotz ihrer vordergründigen Beliebigkeit weist Horváths Prosa um 1930 eine sehr einheitliche narrative Grundkonstellation auf: Ein notorisch abgelenkter Erzähler greift scheinbar nebenbei einen Erzählfaden auf, um ihn kurz danach wieder fallen zu lassen. Er reiht verschiedenste Episoden aneinander, schweift ab und findet wortreich die Pointe nicht. So unvermittelt die Geschichten beginnen, so abrupt brechen sie häufig wieder ab. Beispielhaft für diese Form der Narration ist die Erzählung Das Fräulein wird bekehrt (ET16), die 1929 in der von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler erschienen ist.100 Die Figuren scheinen hier in ihre Geschichte zu stolpern: „Als sich das Fräulein und der Herr Reithofer kennenlernten, fielen sie sich zuerst gar nicht besonders auf. Jeder dachte nämlich gerade 98 99 100
Vgl. dazu den Abschnitt „Rezeption (Kurzprosa)“. Vgl. Bartsch 2000 (Anm. 3), S. 101 und Schmidt-Dengler 2001 (Anm. 95), S. 36. Hermann Kesten (Hg.): 24 neue deutsche Erzähler. Berlin: Kiepenheuer 1929.
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an etwas Wichtigeres.“ (ET16/TS4/Kesten 1929, S. 396) Aber auch der Erzähler wirkt nicht bei der Sache und holt sogleich zu einem weitläufigen gesellschafts- wie familiengeschichtlichen Exkurs aus, nur um das Fräulein als deklassierte Angestellte zu kennzeichnen. Die erst drei Druckseiten später einsetzende Handlung ist bagatellhaft: Reithofer versucht das Fräulein politisch zu bekehren, was sich bald als eigentlich sexuelles Anliegen entpuppt. Hier will der Erzähler gleich wieder abbrechen und beginnt im Dialog mit einem unbekannten Gesprächspartner, der gleichermaßen der düpierte Leser sein mag, über Fußball zu schwadronieren. „Sie finden, daß das kein Schluß ist?“ (ebd./Kesten 1929, S. 401), meint er angesichts der imaginierten Gegenrede und führt schließlich noch eine weitere Episode aus, in der das Fräulein spätnachts in ihrem Zimmer sitzt und über die Begegnung mit Reithofer sinniert. Ihre Gedanken verfallen schließlich darauf, dass alles „ungerecht“ sei, und die Erzählung schließt, noch beliebiger als zuvor, mit dem Satz: „Vielleicht sei auch der Herr Reithofer trotzdem ungerecht, obwohl er wahrscheinich gar nichts dafür kann.“ (ebd./Kesten 1929, S. 402) Das Fräulein wird bekehrt ist für große Teile von Horváths Kurzprosa dieser Zeit bezeichnend: Kompositorisch wirkt die Erzählung desorganisiert und ziellos, springt von Assoziation zu Assoziation, unterbrochen von Digressionen des Erzählers. Diese Form stellt indes kein erzählerisches Unvermögen des Autors dar, wie ihm zunächst unterstellt wurde,101 sondern folgt einer kalkulierten Strategie. Die Skizzenhaftigkeit der Ausführung ist kein Effekt unachtsamer Autorschaft, sondern Folge einer bewussten Inszenierung schlampigen Erzählens. Aus der Perspektive seiner Genese betrachtet, stellt sich der Text schließlich auch als eine Form des Ready-made heraus. Entstanden als Teil der Spießer-Prosa, besteht er aus Versatzstücken des Romans Herr Reithofer wird selbstlos, der in Der ewige Spießer aufgegangen ist,102 die in eine veränderte Konfiguration gebracht und mit neuen Textstücken vermengt wurden. Die in der cut-and-paste-Arbeitsweise Horváths sich manifestierende Technik der Montage ist anhand der wechselseitigen Durchlässigkeit der Texte insbesondere der Spießer-Prosa eindrücklich auch als Organisationsprinzip seiner (Kurz-)Prosa zu erkennen. Diese unvollständige, episodische und digressive Erzählweise ist vor allem für Horváths Prosa bis 1933 typisch. Später wendet er sich wie in seinen Stücken auch in der Prosa eher konventionellen Strukturen zu, deren wesentliche Ergebnisse die beiden späten Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit sind. Kurzprosa liegt in den Jahren von 1933 bis 1938 zumeist nur noch im Status unabgeschlossener Werkprojekte vor. Für die genaue Abgrenzung des Textkorpus stellt die ihrer eigenen poetischen Logik folgende skizzenhaft-zufällige Faktur der Prosa bis 1933 sowie die Einbettung einzelner Texte in größere Textzusammenhänge wie die Spießer-Prosa eine besondere editorische Herausforderung dar. Zum einen sind abgeschlossene Einzeltexte von Fragment gebliebenen Werkprojekten zu scheiden, zum anderen ist jeweils zu bewerten, ob eine Prosaarbeit Teil einer anderen Werkgenese ist oder eigenständig (weiter-)entwickelt wurde und deshalb als unabhängige Kurzprosa gelten kann.103 101
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Vgl. dazu die Urteile von Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek im Abschnitt „Rezeption (Kurzprosa)“. Zum Zusammenhang von Herr Reithofer wird selbstlos mit Der ewige Spießer vgl. WA 14. Zur Definition von Einzeltext und Werkprojekt vgl. auch die Editionsprinzipien, in diesem Band S. 708.
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Als abgeschlossene und damit eigenständige Einzeltexte werden in der vorliegenden Konstitution zunächst naheliegenderweise die Kurzprosaarbeiten gewertet, die Horváth zu Lebzeiten publiziert hat. Hier liegen insgesamt zwölf Texte vor, zu denen in einigen Fällen auch genetisches Material überliefert ist. Nicht in diesen Kreis gehörig sind verschiedene Einzelveröffentlichungen von Kapiteln seiner Romane, da diese keinen eigenen Werkcharakter beanspruchen können.104 Sie werden im vorliegenden Band nicht ediert. Nicht unter die Einzeltexte zu zählen ist indes die Veröffentlichung des Textes Neue Wellen aus Horváths spätem Romanprojekt Adieu, Europa! (vgl. WP24/TS5). Dieser Druck erschien auf Veranlassung von Freunden erst nach Horváths Tod und ist überdies von diesem nicht autorisiert worden, weshalb er gemeinsam mit dem erhaltenen genetischen Material den (unvollendeten) Werkprojekten zuzurechnen ist. Insbesondere am Beginn seiner schriftstellerischen Karriere fehlten Horváth die Publikationsmöglichkeiten, weshalb sich im Nachlass mehrere Konvolute an unveröffentlichtem Prosamaterial finden, die dennoch als vollendet gelten können. Der Status dieser Texte ist aufgrund der absichtsvoll skizzenhaften Gestalt von Horváths Kurzprosa in einigen Fällen schwer zu beurteilen. Nur wenige Texte weisen belastbare Spuren auf, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine geplante Publikation und damit auf ihre Fertigstellung schließen lassen. Auf einem Durchschlag des Typoskripts zu Theodors Tod (ET5) etwa wurde von fremder Hand Horváths Berliner Adresse der Zeit um 1926/27 notiert, was ähnlich wie bei der letzten überlieferten Kompilation der Sportmärchen auf eine Vorlage bei einer Zeitung oder einer Zeitschrift hindeutet.105 In das Typoskript von Der Tod aus Tradition (ET9/TS1) wiederum hat Horváth den handschriftlich ergänzten Untertitel „Legende aus den nördlichen Kalkalpen“ mit „können Sie auch weglassen. Horváth“ (ET9/TS1/BS 47 e [2], Bl. 1) kommentiert, womit gleichfalls angenommen werden kann, dass er diesen Text jemandem angeboten hatte. Weniger eindeutige Spuren sind hand- oder maschinenschriftliche Namenseintragungen des Autors, die er häufig auf vollendeten Texten einfügt, aber teilweise auch auf Fragment gebliebenen Arbeiten zu finden sind, sowie handschriftliche Strukturmarkierungen, die allerdings oft nur zur Fixierung eines vorläufigen Textzustands dienen.106 Einen indirekten Hinweis zur Beurteilung der Frage, welche Texte er als abgeschlossen erachtet hat, hat Horváth zumindest für die Zeit bis 1930 in einem Brief an Hans Ludwig Held gegeben. Held, Leiter der Münchener Stadtbibliothek und Handschriftensammler, fragte Anfang 1930 in einem nicht überlieferten Schreiben bei Horváth an, ob er ihm ein Manuskript für das im Aufbau befindliche Literaturarchiv der Stadt München überlassen könnte. Horváth antwortet darauf am 22. März 1930: Natürlich bin ich sehr bereit, für Ihre Sammlung, über die ich schon viel las und hörte, ein Manuscript zu übersenden, aber leider habe ich eben die üble Angewohnheit, meine Manuscripte, sobald sie in irgendeiner Form vervielfältigt vorliegen, zu verbrennen.107
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Vgl. dazu die Edition der jeweiligen Romane, WA 14–WA 16. Vgl. im Detail den Kommentar zu Theodors Tod, WP5/TS1. Vgl. dazu auch die letzte Kompilation der Sportmärchen, SM/TS20. Vgl. dieselbe Praxis in den Sportmärchen, SM/TS4–TS14, TS18, TS19 sowie TS21–TS26. Brief Ödön von Horváths an Hans Ludwig Held, Murnau, 22. März 1930, zitiert nach dem hs. Original in der Monacensia München, Signatur A I/2.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa
Tatsächlich hat Horváth bis dahin häufig werkgenetische Materialien vernichtet, was sich etwa im Fehlen selbiger bei den frühen Stücken zeigt. Werkgenetische Materialien aus dieser Zeit haben sich allein für diejenigen Arbeiten erhalten, die noch nicht abgeschlossen waren.108 Helds Anfrage zeigte Wirkung auf Horváths „üble Angewohnheit“: Er begann danach, auch bei abgeschlossenen Werken das werkgenetische Material aufzubewahren. Für die nicht publizierten Arbeiten der Kurzprosa folgt demnach, dass Texte dieser Zeit, die allein in Form hand- oder maschinenschriftlicher Reinschriften ohne genetisches Material und gegebenenfalls ergänzt um Durchschläge überliefert sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit von Horváth als abgeschlossen erachtet worden und deshalb den Einzeltexten zuzuordnen sind. Um einen von Horváth zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Text als abgeschlossen erkennen zu können, müssen somit mehrere Kriterien erfüllt sein. Exemplarisch kann das an der Erzählung Vom kleinen Beamten (ET3/TS1) nachvollzogen werden, die am Schluss unvermittelt abzubrechen scheint. Der Text ist in Form eines Originaltyposkripts samt zweier davon abstammender Durchschläge überliefert, in die Horváth jeweils identische handschriftliche Korrekturen eingetragen hat. Da keine werkgenetischen Materialien erhalten sind, der Name Horváths bereits in der maschinenschriftlichen Grundschicht aller Textträger aufscheint und diese über identische handschriftliche Korrekturen verfügen, kann Vom kleinen Beamten eindeutig als abgeschlossener Text identifiziert werden. Der abrupte Schluss des Prosastücks ist somit kein Abbruch der Bearbeitung, sondern bewusstes Stilmittel. Hinweise darauf, dass Horváth mehrere seiner frühen Texte als abgeschlossen erachtet hat, gibt auch der Entwurf zu einem „Novellen-Band“ (WP1/E1), der um 1926/27 entstanden ist. Hier notiert er u.a. die Titel „Lachkrampf“, „Die Versuchung“, „Grossmutter“, „Geschichte einer kleinen Liebe“ und „Der Tod aus Tradition“, was auf den Abschluss der genannten Erzählungen hindeutet. Überdies hat Horváth für diesen Band noch einige Texte aus den Sportmärchen sowie einen nicht überlieferten Text mit dem Titel „Panne über Palästina“ vorgesehen, der vermutlich ebenfalls vollständig vorgelegen ist. Prosaarbeiten, die wie Das Fräulein wird bekehrt im unmittelbaren werkgenetischen Umfeld anderer Werke entstanden und in dieser Form teilweise bereits in der Wiener Ausgabe ediert sind,109 wurden in der vorliegenden Edition dann (wieder) aufgenommen, wenn sie einen relativen Grad an Eigenständigkeit gegenüber dem ursprünglichen Werkvorhaben aufweisen. Das ist zumeist durch eine vom ursprünglichen Entstehungskontext unabhängige Publikation angezeigt, wie etwa im Falle von Das Fräulein wird bekehrt oder Das Märchen vom Fräulein Pollinger. Nicht aufgenommen wurden demgegenüber die stark in die jeweilige Werkgenese eingebetteten Arbeiten etwa zum Roman einer Kellnerin (WA14/K1) sowie die Variationen über die Lebensgeschichte des Fräulein Pollinger aus Herr Reithofer wird selbstlos und Der
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Vgl. die vollendeten frühen Stücke Mord in der Mohrengasse (1923/24), Niemand (1924), Zur schönen Aussicht (1926/27) und Revolte auf Côte 3018/Die Bergbahn (1927/28), zu denen nahezu keine werkgenetischen Materialien überliefert sind, gegenüber etwa dem unvollendeten Dramenfragment Dósa (1923/24), dessen Werkgenese in den Mappen ÖLA 3/W 272–277 – BS 20 [1–6] erhalten ist. Vgl. WA 14/ET1–ET3.
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Vorwort
ewige Spießer110 oder die verstreuten Versuche, die Stoffe von Figaro läßt sich scheiden und Don Juan kommt aus dem Krieg in Prosaform zu bearbeiten.111
Druck- und Editionsgeschichte Horváth hat zwölf seiner insgesamt 24 Einzeltexte zu Lebzeiten in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.112 Als frühester Text erschien am 1. März 1929 Abseits der Alpenstraßen (ET11) im Reiseblatt des Berliner Tageblattes. Noch im selben Jahr folgten, ebenfalls im Berliner Tageblatt, die Texte Begegnungen mit Kriminellen (ET12, unter dem Titel Verbrecher kurz darauf auch in der Wiener Zeitung Freiheit!), Das Bitterwasser-Plakat (ET13) und Pepis Album (ET15). Das Berliner Tageblatt aus dem Verlagshaus Rudolf Mosse war eine der bedeutendsten Zeitungen Berlins ihrer Zeit. Den Kontakt zum Berliner Tageblatt hatte Horváth möglicherweise bereits einige Jahre zuvor durch die Veröffentlichung mehrerer Texte aus den Sportmärchen in der Berliner Volks-Zeitung herstellen können, die ebenfalls Teil der Verlagsgruppe Rudolf Mosse war.113 1929 veröffentlichte Horváth überdies mit der Erzählung Das Fräulein wird bekehrt (ET16) in dem Band 24 neue deutsche Erzähler seinen einzigen Text in einer zeitgenössischen Anthologie. Die Texte Hinterhornbach (ET18) und Aus der Stille in die Stadt (ET20) erschienen 1930 ebenfalls im Berliner Tageblatt. In der Münchener Satirezeitschrift Simplicissimus, die seit 1924 mehrere Sportmärchen veröffentlicht hatte, erschien 1930 Die gerettete Familie (ET19/TS3). Unter dem neuen Titel Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand (ET19/TS4) war diese Erzählung zugleich einer der Begleittexte für die Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald 1931 und wurde vom Autor für den Abdruck in den Blättern des Deutschen Theaters teilweise überarbeitet. Im August 1930 veröffentlichte Horváth in der Münchener Literaturzeitschrift Jugend den Kurzprosatext Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET21), den er auch im Roman Der ewige Spießer verwendet hat.114 Die aufgrund ihrer NS-Thematik eng verwandten Texte Der mildernde Umstand (ET22) und Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat (ET23) veröffentlichte Horváth 1931 im Simplicissimus. Als letzter von Horváth zu Lebzeiten publizierter Text erschien schließlich 1932 Der Fliegenfänger (ET24) in der Zeitschrift Uhu, die Teil der Ullstein-Verlagsgruppe war, bei der Horváth bis Ende 1932/Anfang 1933 unter Vertrag stand. Nach Horváths Tod erschien seine Kurzprosa erst wieder im Rahmen des dritten Bandes der Gesammelten Werke. Viele bis dato nicht publizierte Texte liegen dort zum ersten Mal veröffentlicht vor.115 An dieser Edition ist aus verschiedenen Gründen teils harsche Kritik geübt worden.116 Besonders schwerwiegend waren die editorischen Mängel aber im Bereich der Kurzprosa, die aufgrund fehlender Recherchen äußerst lückenhaft vorlag. Unter dem Obertitel „Erzählungen und Skizzen“ wurden die Texte
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Vgl. WA 14/K2. Vgl. WA 8/VA1/E1 und K4/TS2 sowie WA 9/K1/TS5. Vgl. zu den genauen Publikationsangaben im Folgenden das Chronologische Verzeichnis. Vgl. SM/D6/TS33–D8/TS35. Vgl. WA 14/ET2/TS1 sowie WA 14/K4/TS4/BS 8, Bl. 30f. GW III, S. 25–142. Vgl. exemplarisch Bartsch 1978 (Anm. 22), S. 367–369.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa
hier nach den nicht von Horváth stammenden Bezeichnungen „Schauplätze“, „Fräulein Pollinger und andere“, „Zwei Märchen“ und „Die stille Revolution“ gruppiert. Dabei unterschieden die Herausgeber nur sehr unzureichend zwischen vollendeten und Fragment gebliebenen Texten und verschafften so verschiedenen Fragmenten wie Amazonas (WP2), Der Stolz Altenaus (WP9) oder „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ (WP5) Werkstatus. Die nur mangelhafte Trennung zwischen tatsächlich vollendeten und nicht abgeschlossenen Texten sowie die Unklarheiten über den textuellen Status mancher Vorarbeiten erstreckte sich schließlich auch auf die Edition weiterer Prosatexte im vierten Band der Gesammelten Werke, der deklariert Fragmente und Varianten umfassen sollte.117 Werkprojekte wie Der Mittelstand (WP13) etwa wurden hier als Exposés bewertet. Die unzulängliche Editionsweise verzerrte den Eindruck von Horváths Kurzprosa, die zwar inhärent skizzenhaft, jedoch nicht in diesem Ausmaß beliebig gestaltet ist und hatte so nachdrücklichen Einfluss auf die Rezeption. Weitere Unklarheiten zu Horváths Kurzprosa und ihrer Stellung im Gesamtwerk entstanden in den folgenden Jahren durch die Veröffentlichung neuer wie bekannter Texte und Werkprojekte in verschiedenen Einzel- und Materialienbänden, die den mangelhaften Zustand des Textkorpus in den Gesammelten Werken kompensieren sollten. In diesen Einzelausgaben sind neuerlich Fragment gebliebene und abgeschlossene Prosa ohne deutlichen Ausweis ihres textuellen Status vermischt bzw. Texte ohne Erläuterung aus ihrem Entstehungszusammenhang gelöst. Der 1975 erschienene Band Die stille Revolution etwa stellte Werkprojekte wie Das Märchen in unserer Zeit (WP21), Der Gedanke (WP22) und Neue Wellen aus Adieu, Europa! (WP24/TS5) neben Arbeiten zu einzelnen Kapiteln des Romans Ein Kind unserer Zeit (WA 16), die hier als Einzeltexte ausgegeben sind.118 Wenngleich die Gruppierung dieser Konvolute im weitesten Sinne sachlich korrekt war – alle Texte entstanden um 1937/38 in themenverwandten Kontexten –, erweckt die gewählte Bezeichnung „Kleine Prosa“ den Eindruck, es handle sich bei den Materialien aus der Werkgenese von Ein Kind unserer Zeit um eigenständige Werkprojekte. Besonders eklatant ist diese undifferenzierte Editionspraxis im Falle des Auswahlbandes Von Spießern, Kleinbürgern und Angestellten.119 Hier stehen zum einen Einzeltexte wie Der Tod aus Tradition (ET9) und Die gerettete Familie (ET19) neben (verworfenen) Kapiteln und Textteilen aus Herr Reithofer wird selbstlos bzw. Herr Kobler wird Paneuropäer aus der Werkgenese von Der ewige Spießer.120 Zum anderen wurde der Roman Herr Reithofer wird selbstlos unter dem auch in den Gesammelten Werken verwendeten, nicht von Horváth stammenden Titel „Geschichten vom Fräulein Pollinger“ in einzelne Teilgeschichten zerlegt und mit nicht von Horváth stammenden Titeln wiedergegeben. Diese Form behielt der Band auch in seiner Neuauflage 1979 bei, zu diesem Zeitpunkt lag allerdings bereits eine Edition des Materials als zusammenhängender Text vor, die den Text unter dem Titel „Sechsunddreißig Stunden“ popularisierte.121 Die nach Erscheinen der Gesammelten Werke aufgetauchten und verstreut edierten Texte der Kurzprosa wurden schließlich mit dem zuvor bekannten Textbestand ge117
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GW IV, S. 409–654, darin sind auch Teile der werkgenetischen Materialien von Der ewige Spießer und Ein Kind unserer Zeit enthalten. Horváth 1975. Horváth 1971. Vgl. WA 14/K2 und K3. Vgl. Horváth 1979.
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Vorwort
sammelt in der Kommentierten Werkausgabe ediert.122 Wenngleich diese Ausgabe ihre Textgrundlage besser ausweist als die Gesammelten Werke, bleibt das grundlegende Problem der Scheidung zwischen vollendeten und Fragment gebliebenen Texten indes auch hier ungelöst. Weitere Nachträge insbesondere aus dem Bereich der unvollendeten Werkprojekte liegen zuletzt mit dem Supplementband Himmelwärts zur Kommentierten Werkausgabe vor.123
Zu den Einzeltexten und Werkprojekten Die hier zur besseren Übersicht vorgeschlagene Einteilung der Einzeltexte und ProsaWerkprojekte in die Zeiträume bis 1927, 1927–1933 und 1933–1938 folgt im Wesentlichen der üblichen Untergliederung von Horváths Gesamtwerk.124 Auch wenn sie nicht streng zu ziehen ist, korrespondiert diese Einteilung mit einigen poetologischen Eigenheiten der in der jeweiligen Zeit entstandenen Kurzprosa. Die Veränderung von Horváths Poetik nach 1933 ist in der Forschung hinsichtlich seiner Dramaturgie oft konstatiert worden und trifft auch auf sein Prosaschaffen zu, wie sich am deutlichsten an den späten Romanen ersehen lässt.125 Für die Werkprojekte dieser Zeit – abgeschlossene Einzeltexte abseits der Romane sind nicht überliefert – lässt sich die zunehmende Dominanz märchenhafter Formen und Themen feststellen, die diese Texte von den zwischen 1927 und 1933 entstandenen merklich abhebt, wenngleich märchenhafte Elemente unterschiedlicher Gewichtung im gesamten Oeuvre zu entdecken sind.126 Die frühe Prosa bis 1927 wiederum ist stilistisch noch deutlich vom Expressionismus geprägt und weist einige sprachliche Charakteristika, etwa in der Lautgestaltung, auf, die sie von den später entstandenen Texten unterscheidet.127 Zur Abgrenzung der frühesten Prosa können überdies ein materielles sowie ein konzeptionelles Kriterium herangezogen werden: Horváth hat für diese Einzeltexte und Werkprojekte dieselbe Schreibmaschine verwendet, die bei einigen Typen Ober- und Unterlinien mit angeschlagen hat und auch in einem Großteil des Materials der Sportmärchen zu entdecken ist. Als letzter Text auf dieser Schreibmaschine ist Der Tod aus Tradition (ET9) entstanden. Dieser sollte gemeinsam mit anderen frühen Prosatexten Teil eines 1926/27 geplanten Novellenbandes werden (vgl. WP1/E1). Zwischen 1927 und 1933 war Horváth als Autor von Kurzprosa am produktivsten. In dieser Phase entstanden alle seine zu Lebzeiten veröffentlichten Texte, die seine 122 123 124
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KW 11, S. 91–178. Vgl. KW 15. Vgl. Bartsch 2000 (Anm. 3), S. 16. Bartsch lässt das Frühwerk allerdings bereits 1925 enden, da Horváth mit den 1926 entstandenen Stücken Revolte auf Côte 3018 und Zur schönen Aussicht einen „eigenen Ton“ (ebd.) finde. Die stilistischen Kontinuitäten in der Kurzprosa lassen für den vorliegenden Zusammenhang aber eine Abgrenzung mit 1927 probater erscheinen. Vgl. zur Dramaturgie exemplarisch Johanna Bossinade: Vom Kleinbürger zum Menschen. Die späten Dramen Ödön von Horváths. Bonn: Bouvier 1988 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 364), zu den Veränderungen in der Prosa detailliert Steets 1975 (Anm. 5). Vgl. Fritz 1981 (Anm. 6), S. 15f. sowie die Ausführungen zu den Sportmärchen oben. Vgl. Steets 1975 (Anm. 5), S. 134–140. Die expressionistische Orientierung Horváths ist am deutlichsten in seinen frühesten Stücken wie Mord in der Mohrengasse (1923/24) zu erkennen, vgl. dazu Bartsch 2000 (Anm. 3), S. 30f. sowie Herbert Gamper: Horváths komplexe Textur. Dargestellt an frühen Stücken. Zürich: Ammann 1987.
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Wahrnehmung als Verfasser von Kurzprosa maßgeblich mitbestimmt haben, sowie eine Reihe weiterer, teils umfangreicher Prosa-Werkprojekte. Ein Großteil dieser Texte ist stärker noch als die frühe Prosa bewusst skizzenhaft-unfertig ausgeführt und kann dem erweiterten Umfeld der Spießer-Prosa zugerechnet werden, die als thematisch-motivischer, aber auch stilistischer Komplex große Teile von Horváths Arbeit dieser Zeit überspannt.128 Unter dem Begriff Spießer-Prosa werden im engeren Sinne die Arbeiten am Roman Der ewige Spießer, die bis zum Roman einer Kellnerin zurückreichen, sowie damit werkgenetisch verwandte Einzeltexte wie die Erzählung Das Fräulein wird bekehrt (ET16) subsumiert.129 Darüber hinaus erstreckt sich die Spießer-Prosa aber auch auf weitere Prosaarbeiten und in einigen thematischen Aspekten auch auf das dramatische Werk.130 Sie konstituiert, im weitesten Sinne verstanden, einen eigenen Textcluster, der überdies Anschlusspunkte zu vergleichbaren Clustern wie den Arbeiten an Geschichten aus dem Wiener Wald aufweist.131 Die Spießer-Prosa nimmt dabei auch poetologisch eine Sonderstellung ein, insofern die einzelnen Arbeiten insbesondere in ihrem engeren Kreis strukturell nicht isoliert betrachtet werden können, sondern ein verbundenes „Text-Paradigma“ bilden.132 Dieses bedingt ein dynamisches Textverständnis, innerhalb dessen die einzelnen, oft aus vorformuliertem Material bestehenden Texte und Fragmente nach den Prinzipien von Wiederholung und Variation aufeinander bezogen sind. Ihre Bedeutung ergibt sich somit auch aus den thematischen wie stilistischen Korrespondenzen, womit dem werkgenetischen Material besondere Relevanz zukommt und worin auch die Bevorzugung skizzenhaft-unfertig wirkender Formen begründet liegt. Die Abgrenzung entlang poetologischer Eigenheiten der Texte ist allerdings nicht immer exakt zu ziehen. Motive und Elemente märchenhaften Erzählens etwa, wie sie ab 1933 dominant werden, sind in Horváths gesamtem Werk vertreten. Das Thema und die formale Gestaltung der Spießer-Prosa wiederum finden sich bereits in einigen frühen Prosaarbeiten vorweggenommen. In den Jahren um 1930 hat Horváth schließlich mit seinen satirischen (Reise-)Berichten aus Bayern und Tirol Texte verfasst, die thematisch der Spießer-Prosa nahe stehen und motivische Konvergenzen wie wörtliche Entsprechungen aufweisen, jedoch nicht unmittelbar als Teil des Textclusters zu bewerten sind.
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Wann bzw. von wem der Begriff geprägt wurde, ist unklar; erstmals konsequent im Sinne der zum Umkreis des Romans Der ewige Spießer gehörigen Materialien scheint er in Axel Fritz’ Darstellung der Zeitkritik auf, vgl. Fritz 1973 (Anm. 59), S. 136. Vgl. dazu auch das Vorwort zu Der ewige Spießer, WA 14, S. 1–13. Die genaueste Bestimmung des Umfangs der Spießer-Prosa hat Angelika Steets in ihrer detaillierten Studie zu Horváths Prosa vorgelegt, in dem sie drei Textkreise unterscheidet, die vom Grad ihrer motivisch-thematischen Verknüpfung aus differenziert werden und in deren Mittelpunkt der Roman Der ewige Spießer steht. Im weitesten Kreis, der sich durch die generelle zeitkritische Thematik, eine verwandte Motivik und textlich durch punktuelle Korrespondenzen auszeichnet, gruppieren sich nahezu alle Prosatexte dieser Zeit. Vgl. Steets 1975 (Anm. 5), S. 70–77. Zu Geschichten aus dem Wiener Wald als Textcluster vgl. Klaus Kastberger: Nachwort. In: Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hg. v. Klaus Kastberger und Nicole Streitler. Stuttgart: Reclam 2009, S. 220–243, hier S. 222f. sowie im Detail WA 3, S. 1–4 und 9f. Vgl. Steets 1975 (Anm. 5), S. 125.
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Vorwort
Bis 1927 Horváths früheste Kurzprosa kann anhand der verwendeten Schreibmaschine und sprachlichen Indizien gut von den später entstandenen Texten abgegrenzt werden, im Einzelnen sind die Texte allerdings nur schwer zu datieren. Einer seiner frühesten Texte dürfte mit einiger Sicherheit Zwei Briefe aus Paris sein, der möglicherweise bereits 1923/24 und damit parallel zu den Sportmärchen entstanden ist. Traugott Krischke vermutet, dass dieser Text im Zusammenhang mit einer Paris-Reise 1923 entstanden ist.133 Geschichte einer kleinen Liebe (ET2) ist wahrscheinlich Anfang 1924 entstanden und wurde im Rahmen eines literarisch-musikalischen Abends der Kallenberg-Gesellschaft gelesen. Den Komponisten Siegfried Kallenberg hatte Horváth bereits 1921/22 kennengelernt und war von diesem zum Buch der Tänze (1922) angeregt worden. Kaum präzise zu datieren sind die Texte Vom kleinen Beamten (ET3) und Emil (ET4), die beide vermutlich Mitte der 1920er-Jahre entstanden sind. Emil ist hierbei besonders hervorzuheben, da dieser Text im satirischen Porträt einer Figur bereits einige Merkmale der späteren Spießer-Prosa aufweist, stilistisch allerdings noch deutlich im Kontext der frühen Prosa steht. Der Text Theodors Tod (ET5), in dem das Horváths Männerfiguren häufig quälende Dilemma von Erotik und Politik erstmals exemplarisch gestaltet wird, kann anhand mehrerer Indizien auf 1926/27 datiert werden. Der Text spielt auf verschiedene zeitgeschichtliche Ereignisse wie die bald wieder verbotene Vorführung von Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin in Berlin 1926, die Diskussion um eine Briefmarke Friedrichs des Großen im selben Jahr sowie die Einführung des sogenannten ‚Schmutz- und Schundgesetzes‘ durch Reichsinnenminister Wilhelm Külz 1926/27 an. Zum anderen weist einer der Textträger dieselbe Adresse (Berlin W30, Luitpoldstraße 34, c/o Bergmann) auf wie schon ein Durchschlag der letzten Kompilation der Sportmärchen (SM/TS20), unter der Horváth vermutlich seit 1926 gelebt hat.134 Zu den Prosatexten Lachkrampf (ET6), Die Versuchung (ET7), Großmütterleins Tod (ET8) und Der Tod aus Tradition (ET9) liegen nur wenige Hinweise zu einer genauen Datierung vor, ihre Zugehörigkeit zu Horváths frühen Arbeiten lässt sich aber aus dem Plan zu einem Novellenband (WP1/E1) erschließen, der diese Texte neben anderen enthalten sollte und parallel zu einem der wenigen erhaltenen Entwürfe zu der frühen Komödie Zur schönen Aussicht entstanden ist, an der Horváth 1926/27 gearbeitet hat. Stärker noch als die Erzählung Emil, weisen einige dieser Texte Merkmale der ab 1927 dominierenden Spießer-Prosa auf. Lachkrampf liegt in zwei leicht unterschiedlichen Fassungen (ET6/TS1 und TS2) vor und lässt eine auffällige textliche Kongruenz mit dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos von 1929 erkennen. So erklärt hier Ulrich Stein der verdutzten Charlotte Mager: „das Bett ist ein Symbol. Ein Symbol für das Bett“ (TS2/BS 47 s, Bl. 3). Ganz ähnlich äußert sich der Kunstmaler Arthur Maria Lachner im späteren Roman gegenüber Agnes Pollinger.135 In der Erzählung Großmütterleins Tod gestaltet Horváth erstmals die Figur einer Großmutter, wie sie in meist boshafter Gestalt in seinem Werk wiederholt auftritt und als Motiv auch
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Vgl. KW 11, S. 266. Vgl. dazu auch den Kommentar zu SM/TS20 im Chronologischen Verzeichnis. Vgl. WA 14/K2/TS5/BS 5 a [5], Bl. 16.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa
in der Spießer-Prosa aufscheint.136 Der Quellenstatus dieses Textes ist problematisch, da er allein in einer von Traugott Krischke angefertigten Abschrift (ÖLA 3/S 5 – BS 47 n [2]) überliefert ist, die Editionen in den Gesammelten Werken wie in der Kommentierten Werkausgabe von dieser aber in einigen Punkten abweichen.137 Der Tod aus Tradition, eine „Legende aus den nördlichen Kalkalpen“ (WP9/TS1/BS 47 e [2], Bl. 1), erzählt die Geschichte von Franz Xaver Loibl, der Tradition und Heimat durch die Errichtung der Republik und jüdischen Einfluss gefährdet sieht und sich schlussendlich in einen ewigen Schlaf flüchtet. Mit der Satire auf bornierten Traditionalismus und der Ausgestaltung der Biographie eines prototypischen Spießers weist der Text ebenfalls auf die sich entwickelnde Spießer-Prosa voraus. Die Erzählung Die Versuchung schließlich weist aufgrund der Rekapitulation der Lebensgeschichte von Seraphine Hinterteil einige Ähnlichkeiten mit den Lebensläufen verschiedener Spießer-Figuren in den Arbeiten am Roman einer Kellnerin und Herr Reithofer wird selbstlos auf (vgl. WA 14), steht aber stilistisch noch stärker im Kontext der frühen Prosa. Neben dem nicht realisierten Plan, mehrere der frühen Kurzprosatexte gemeinsam mit einer Auswahl an Sportmärchen in Form eines Novellenbandes (WP1) zusammenzufassen, liegen aus Horváths frühester Zeit verschiedene andere Werkprojekte vor. Zu Amazonas (WP2) sind zwei sehr unterschiedliche Textstufen (WP2/TS1 und TS2) mit jeweils nur geringem Umfang überliefert, die vermutlich in großem zeitlichen Abstand entstanden sind. In WP2/TS1 wird von einer Amazonas-Expedition des Konquistadors Francisco de Orellana (1511–1546) erzählt, während WP2/TS2 über eine Expedition dreier Europäer im Jahr 1926 berichtet. Für TS1 hat Horváth dieselbe Schreibmaschine wie für die anderen frühen Prosatexte verwendet, weshalb sie vermutlich um das Jahr 1925 zu datieren ist. TS2 entstand auf einer anderen Schreibmaschine und ist nicht zuletzt aufgrund des im Text erwähnten Datums vermutlich erst 1926/27 verfasst worden.138 Das einige fragmentarische Entwürfe sowie eine Textstufe umfassende Werkprojekt „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann (WP3) ist auf mehreren Blättern eines nicht erhaltenen Notizbuchs überliefert, das Horváth auch für die Arbeit am Roman einer Kellnerin (WA 14/K1) benutzt hat. In der Textstufe WP3/TS1, die aufgrund des Schreibmaterials auf etwa 1926/27 zu datieren ist, wird die Geschichte eines mittellosen jungen Mannes geschildert, der zehn Mark gefunden hat und damit in den Zoo geht. Aufgrund verschiedener Anspielungen in mehreren Arbeiten dürfte auch ein direkter inhaltlicher Bezug zu den Arbeiten am Roman einer Kellnerin bestehen. Das Werkprojekt Zwei Liebesbriefe (WP4) umfasst zwei Textstufen und steht in engem Zusammenhang mit dem Kurzprosatext Theodors Tod (ET5), wie sich an der Verwendung einiger sehr ähnlicher Formulierungen ersehen lässt. Auf die Rückseiten der für WP4/TS2 verwendeten Blätter hat Horváth je einen bald wieder abgebrochenen Briefentwurf an zwei Murnauer Freundinnen eingetragen, die auf den 10. Februar 1927 datiert sind. Das Werkprojekt kann deshalb sowie 136
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Vgl. insbesondere die Großmutter-Figuren in Geschichten aus dem Wiener Wald (WA 3) und Don Juan kommt aus dem Krieg (WA 9) sowie im Kontext der Prosa ET16/TS1 und die Vorarbeiten zu Der ewige Spießer in WA 14/K1 und K2. Die vorliegende Transkription basiert auf der im Nachlass beigeschlossenen Abschrift und bietet den Text aus den Gesammelten Werken bzw. der Kommentierten Werkausgabe zusätzlich als Einblendungen im Apparat, vgl. im Detail den Kommentar zu ET8 Traugott Krischke vermutet, dass Horváth durch den Roman Das Urwaldschiff (1927) von Richard A. Bermann angeregt wurde, vgl. KW 11, S. 267.
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aufgrund neuerlicher Anspielungen auf das ‚Schmutz- und Schundgesetz‘ auf Anfang 1927 datiert werden, was auch mit der Datierung von Theodors Tod übereinstimmt. Das Werkprojekt „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ (WP5) ist als fragmentarische Textstufe überliefert, für die Horváth Papier mit dem Wasserzeichen „Marran Schreibmaschinen“ verwendet hat. Papier dieser Sorte liegt sonst nur bei zwei Briefen Horváths an den Theaterkritiker Herbert Ihering vom Mai 1927 vor, was für eine Datierung von WP5 auf dieselbe Zeit spricht.139 Den Namen des Protagonisten, Michael Babuschke, verwendet Horváth auch im Werkprojekt Verrat am Vaterland (WP6, vgl. hier TS4), das vermutlich kurze Zeit später entstanden ist. Wesentliches Indiz hierfür ist neuerlich das für einen Teil der Arbeiten verwendete Papier, das ein Wasserzeichen „Biela Mühle Schreibmaschinenpaier / Auxilio Dei“ trägt und ebenfalls für einen Brief an Ihering im Juni 1927 verwendet worden ist.140 Verrat am Vaterland umfasst zwei Entwürfe und vier Textstufen, die drei sehr unterschiedliche Konzepte einer Spionage- bzw. Kriminalgeschichte enthalten. In der frühesten Ausarbeitung WP6/TS1 berichtet ein Ich-Erzähler über seinen Verrat, der im Diebstahl militärischer Dokumente bestanden hat. In den Entwürfen sowie in WP6/TS2 und TS3 wird eine ähnliche Handlung, präziser situiert während der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen 1923, in der dritten Person anhand des Protagonisten Hannes Tomkowiak erzählt. WP6/TS4, bei dem es sich vermutlich um ein Romanexposé handelt, hebt sich hinsichtlich des Settings wie des Ausreifungsgrads deutlich von den anderen Arbeiten ab und erzählt von den drei Brüdern Babuschke, die in den Diebstahl militärischer Geheimnisse verwickelt sind.
1927–1933 Die Zeit zwischen 1927 und 1933 ist Horváths produktivste Phase als Autor von Kurzprosa. Neben dem Textcluster der Spießer-Prosa entstehen hier auch mehrere satirische (Reise-)Berichte aus Oberbayern und Tirol, die teilweise im Berliner Tageblatt erschienen sind. Als erster davon kann der zeitlebens unveröffentlichte Text Aus den weißblauen Kalkalpen (ET10) gelten, der drei Anekdoten aus Oberbayern während der Sommerfrische schildert. Der Text spielt auf die Landtagswahlen in Bayern vom 20. Mai 1928 an und ist vermutlich Mitte 1928 entstanden. Abseits der Alpenstraßen (ET11) erschien als erster der Reisetexte im Frühjahr 1929 im Berliner Tageblatt. Die darin erzählte Anekdote einer Begegnung mit dem Teufel spielt verklausuliert auf das oberbayerische Murnau am Staffelsee an, wo Horváth neben Berlin ständig wohnte. Begegnung mit Kriminellen (ET12) erschien als zweiter Text Horváths im April 1929 im Berliner Tageblatt. Im zweiten Teil dieser Erzählung berichtet ein Ich-Erzähler von einer Begegnung mit den Raubmördern Heidger, die im Oktober 1928 nach einer Verbrechensserie bei einem Schusswechsel ums Leben kamen. Wie aus zeitgenössischen Quellen hervorgeht, befanden sich die Brüder Heidger sowie ein weiterer Komplize tatsächlich im Sommer 1928 in Bayern, wo ihnen der Erzähler schließlich
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Briefe Ödön von Horváths an Herbert Ihering, Berlin, 11. bzw. 19. Mai 1927, zitiert nach den hs. Originalen im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Ihering-Archiv, M. 1593. Brief Ödön von Horváths an Herbert Ihering, Murnau, 20. Juni 1927, zitiert nach dem hs. Original im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Ihering-Archiv, M. 1593.
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begegnet sein will.141 Damit lässt sich belegen, dass zumindest Teile der verschiedenen Anekdoten der Kurzprosa auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen, auch wenn Horváth in anderen Texten bewusst mit einem Authentizitätsversprechen spielt. Im August 1929 veröffentlichte Horváth im Berliner Tageblatt die Erzählung Das Bitterwasserplakat (ET13), die ebenfalls in den Kreis der (Reise-)Berichte zu zählen ist. Der Text erschien gemeinsam mit Beiträgen anderer Autoren auf einer dem Phänomen Reklame gewidmeten Themenseite. Die Ortschaft Vorderaltenau, in der die Bevölkerung Opfer ubiquitärer Werbemaßnahmen für ein Bitterwasser wird, hat vermutlich in dem nahe Murnau gelegenen Dorf Altenau in Oberbayern ihr Vorbild. Unmittelbar in Murnau am Staffelsee ist die Handlung von Ein sonderbares Schützenfest (ET14) zu verorten, der zu Lebzeiten Horváths nicht publiziert wurde. In diesem Text, der nahe an den darin erwähnten Daten (Ende Juli bzw. Anfang August) in der zweiten Jahreshälfte 1929 entstanden ist, reflektiert Horváth kritisch das Brauchtum einer Schützenveranstaltung. Dazu hat er auch zeitgenössisches Material aus der Illustrierten Das Bayerland entnommen und in seinen Text montiert.142 Als letzter seiner Reiseberichte erschien Ende März 1930 Hinterhornbach (ET18) im Berliner Tageblatt. Auf die landschaftlichen Vorzüge des Hornbachtals, wo Horváth mit Freunden öfter seinen Urlaub verbracht hat,143 hatte er bereits in Abseits der Alpenstraßen (ET11) hingewiesen, hier wendet er sich satirisch der dort ansässigen Bevölkerung zu. Zu Hinterhornbach sind als einzigem der Reisetexte werkgenetische Materialien überliefert, die zum einen die rasche Entstehung des Textes dokumentieren und zum anderen belegen, wie Horváth in seiner Prosa mit autobiographischen Versatzstücken spielt bzw. authentische mit erfundenen Episoden vermengt.144 Zwei Textstufen sowie ein Entwurf sind im Notizbuch Nr. 3 festgehalten, das Horváth ab Mitte März 1930 verwendet hat, und als Titel noch „Brief“ (WP18/TS1) bzw. „Kurzer Bericht aus Hinterhornbach“ (ebd./TS2) vorsehen. Der Brief ist an eine Frau namens Klara adressiert, während sich der Bericht an den Verantwortlichen beim Berliner Tageblatt richtet, der Horváth bzw. dem Erzähler in Aussicht gestellt habe, einen Text veröffentlichen zu können, womit sich bereits tatsächliche Gegebenheiten und satirische Überspitzungen zu vermischen beginnen. Ein weiteres Indiz für die wechselseitige Durchlässigkeit von Fakt und Fiktion ist zuletzt die Schilderung der Episode über die Urgroßmutter, die in der Kirche immer noch auf der Hurenbank sitzen muss. Dieselbe Geschichte berichtet die Erzählerin im Werkprojekt „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ (WP7), das bereits um 1928 entstanden ist (vgl. WP7/TS1). Einen explizit autobiographischen Hintergrund hat die Miniatur Pepis Album (ET15/TS2), die im August 1929 im Berliner Tageblatt erschienen ist. In diesem Text, der in einer leicht veränderten Fassung ursprünglich den Titel „Mein Onkel Pepi“ (ET15/TS1) getragen hat, erzählt Horváth vom Fotoalbum seines Onkels Pepi, mit dem der 1929 verstorbene Bruder seiner Mutter, Josef Prehnal, gemeint ist. Im Jahr 1919 hatte Horváth mehrere Monate bei seinem Onkel in der Piaristengasse in der Wiener 141
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Vgl. etwa den Bericht „Mörder Heidger den Verletzungen erlegen“. In: Vossische Zeitung (Berlin), 26.10.1928. Vgl. Elisabeth Tworek-Müller: Provinz ist überall. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Prosa. Frankfurt am Main 1989, S. 34–56, hier S. 43f. Vgl. Gustl Schneider-Emhardt: Erinnerungen an Ödön von Horváths Jugendzeit. In: HorváthBlätter 1/1983, S. 63–81, hier S. 74. Vgl. dazu auch die Reportage von Susanna Foral-Krischke: Hinterhornbach 1983. In: HorváthBlätter 1/1983, S. 85–91.
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Vorwort
Josefstadt gewohnt, um sich auf die Externistenmatura vorzubereiten.145 Den am Schluss zitierten Ausspruch „Also, wenn Du mal recht blöd bist, so denk an mich!“ übernimmt Horváth überdies in den Roman Herr Reithofer wird selbstlos, was Pepis Album lose an den Textcluster der Spießer-Prosa anknüpft.146 Zum Kern der Spießer-Prosa zählen die zwischen 1929 und 1930 entstandenen bzw. veröffentlichten Texte Das Fräulein wird bekehrt (ET16), In memoriam Alfred / Nachruf (ET17) und Das Märchen vom Fräulein Pollinger (ET21). Das Fräulein wird bekehrt ist 1929 in der von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler erschienen. Teile davon, für die Horváth auf Arbeiten aus dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos zurückgegriffen hat, sind vermutlich bereits 1928 entstanden. Mit dieser Erzählung hat Horváth erstmals einen Text veröffentlicht, der eines seiner typischen ‚Fräulein‘ in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Die erhaltenen Vorarbeiten unterscheiden sich wesentlich von der vollendeten Fassung des Textes, denn hier tritt das Fräulein die erträumte Reise in die Alpen tatsächlich an. Dabei lassen sich Anknüpfungspunkte an das Werkprojekt „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus (WP9) entdecken. Horváth verwendet hier fast gleichlautende Formulierungen über einen aus dem Alpendorf stammenden Generaldirektor, worin sich abermals die enge Verzahnung der Einzeltexte und Werkprojekte im Textcluster der Spießer-Prosa zeigt. Die zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Texte In memoriam Alfred (ET17/TS1) bzw. Nachruf (ebd./TS2), eine auf In memoriam Alfred aufbauende, abgeänderte Fassung, stellen mit Alfred Kastner eine weitere Figur der Romane Herr Reithofer wird selbstlos bzw. Der ewige Spießer in den Mittelpunkt. Horváth betreibt darin zugleich ein ironisches Spiel mit seiner eigenen schriftstellerischen Entwicklung, indem er seine Identifikation mit der Erzählerfigur absichtsvoll in Schwebe hält.147 Das Märchen vom Fräulein Pollinger schließlich ist Teil des Kapitels „Herr Kobler wird Paneuropäer“ aus dem Roman Der ewige Spießer, wurde von Horváth aber auch nahezu unverändert als separater Text im August 1930, während der Drucklegung des Romans, in der Münchener Jugend publiziert. Lose in den Kontext der Spießer-Prosa ist die Erzählung Die gerettete Familie einzuordnen, die im Mai 1930 im Simplicissimus erschienen ist. Eine adaptierte, sprachlich teilweise dem Wienerischen angenäherte Fassung dieses Textes mit dem Titel Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand wurde im Programmeheft der Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald im November 1931 veröffentlicht. Als Begleittext hatte Horváth, wie Einträge im Notizbuch dieser Zeit zeigen, zunächst das Werkprojekt Im Himmel der Erinnerung (WP15) vorgesehen, sich dann aber für die Wiederverwertung des bereits veröffentlichten Textes entschieden. Der im Titel genannte Hierlinger Ferdinand ist eine wichtige Nebenfigur im Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald, ein Freund Alfreds, der Marianne an eine Nacktbar vermittelt. Aus der Stille in die Stadt (ET20) erschien im Mai 1930 im Berliner Tageblatt auf einer mit „Adressat verzogen“ betitelten Themenseite gemeinsam mit dem komplementären Text Aus der Stadt in die Stille von Wilhelm von Scholz. Früheren Editionen war dieser Abdruck nicht bekannt, Teile des erhaltenen werkgenetischen Materials wurden dort als genuine autobiographische Äußerung Horváths im Sinne einer 145 146 147
Vgl. Krischke 1998 (Anm. 15), S. 33f. Vgl. WA 14/K2/TS6/BS 5 a [9], Bl. 3f. Vgl. dazu die Ausführungen zu den Sportmärchen am Beginn dieses Vorworts, hier S. 1.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa
Selbstauskunft gewertet und entsprechend ediert.148 Sowohl die umfangreiche Genese des Textes über zwölf Textstufen hinweg, die seine zunehmende Stilisierung dokumentieren, als auch seine Publikationsform weisen ihn jedoch deutlich als Text aus, der die poetischen Strukturmerkmale der übrigen (fiktionalen) Kurzprosa trägt. Aus der Stille in die Stadt gehört zweifelsohne in eine Reihe von Texten dieser Zeit, in der Horváth autobiographische Episoden aufnimmt bzw. inszeniert und mit ihrem implizierten authentischen Gehalt operiert. Die Verschränkung authentisch-autobiographischer Elemente mit satirisch überspitzter Fiktion und ihre Darstellung durch einen unzuverlässigen, naiven wie komplizenhaften Erzähler, dessen Position zwischen Teil der Fiktion und Stimme des Autors bewusst in Schwebe gehalten wird, drückt sich hier exemplarisch aus. Ähnliche Fälle dieser Erzählform liegen in unterschiedlich starker Ausprägung in den (Reise-)Berichten aus Oberbayern und Tirol (vgl. ET10–ET14 und ET18) ebenso vor wie in den Texten der engeren Spießer-Prosa (vgl. ET16 und ET17). Auf autobiographische Versatzstücke, wenngleich nicht mehr ironisch gebrochen, greift Horváth schließlich auch in seinen letzten Prosaarbeiten zurück, wie sich besonders eindringlich am Romanprojekt Adieu, Europa! (WP24)ablesen lässt. Wesentliche Motive und Themen stammen hier aus seiner eigenen Emigrationserfahrung und der kritischen Aufarbeitung seines ambivalenten Verhaltens nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich 1933.149 Der erstarkende Nationalsozialismus zu Beginn der 1930er-Jahre ist das verbindende Thema der beiden deutlich im bayerischen bzw. Münchener Raum angesiedelten Erzählungen Der mildernde Umstand (ET22) und Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat (ET23), die im Jänner bzw. Februar 1931 im Simplicissimus erschienen sind. In Der mildernde Umstand trifft der Erzähler in der Münchener Schellingstraße auf den Nazi Lallinger, der von einem Prozess wegen schwerer Körperverletzung während einer Parteiveranstaltung berichtet. Der Handlungsort Schellingstraße schließt diese Erzählung deutlich an den Textcluster der Spießer-Prosa an, das Motiv einer politisch grundierten Schlägerei indes weist auf eine Nähe zu Horváths Volksstück Italienische Nacht hin, das am 20. März 1931 in Berlin uraufgeführt wurde.150 Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat weist demgegenüber keine unmittelbaren Werkbezüge auf, dürfte aber auch in das Umfeld der SpießerProsa gehören. Mit dem durch eine Sozialdemokratin in Versuchung geführten Nazi Tafelhuber gestaltet Horváth hier neuerlich die Satire einer im Dilemma von Erotik und Politik gefangenen Männerfigur, wie sie erstmals in Theodors Tod (ET5) vorliegt. Die Erzählung Der Fliegenfänger (ET24) ist im Juni 1932 im Uhu, einer Monatszeitschrift des Ullstein-Verlags, erschienen und Horváths letzte zu Lebzeiten publizierte Kurzprosa. Die Geschichte um eine absurde Wette während einer Trauergesellschaft im Allgäu schließt atmosphärisch an die im Berliner Tageblatt veröffentlichten (Reise-)Berichte an. Der hier geäußerte Satz „Das ist halt die Tücke des Objekts“ fiel zuvor bereits an zentraler Stelle in Geschichten aus dem Wiener Wald.151
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Vgl. Flucht aus der Stille oder das Werden eines neuen gesellschaftlichen Bewußtseins und in KW 11, S. 187–192. Diese Texte liegen in der vorliegenden Edition als Textstufen von Aus der Stille in die Stadt vor, vgl. ET20/TS5 und TS8. Vgl. dazu die Ausführungen zu Adieu, Europa! (WP24) im Folgenden. Vgl. dazu das Vorwort zu Italienische Nacht in WA 2, S. 209–231. Vgl. WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 23.
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Vorwort
Aus den Jahren 1927 bis 1933 sind mehrere unvollendete Prosa-Werkprojekte überliefert, von denen einige kaum über das Entwurfsstadium hinausgekommen, andere wiederum weit ausgereift sind. Zumeist sind sie parallel zu anderen Arbeiten entstanden, zu denen sie einen teils diffusen Bezug aufweisen, ohne unmittelbar Teil der jeweiligen Werkgenese zu sein. Ähnlich wie die unveröffentlichten abgeschlossenen Kurzprosatexte, sind sie teilweise nur schwer zu datieren. Das von Horváth unbetitelte Werkprojekt „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ (WP7) ist um 1928 in Zusammenhang mit Horváths Arbeit am Roman einer Kellnerin bzw. Herr Reithofer wird selbstlos (vgl. WA 14) entstanden und gehört eindeutig in den Textcluster der Spießer-Prosa. In der einzigen erhaltenen Textstufe berichtet eine junge Frau einem Bekannten, wie ihr Leben seit ihrer letzten Begegnung verlaufen ist, wobei sich einige auffällige Ähnlichkeiten mit Episoden des Romans Herr Reithofer wird selbstlos zeigen. So ähnelt die Erzählung von „Clementine“, die „den Gashahn aufgedreht hat“ (WP7/TS1/Bl. 1), der Erzählung vom Selbstmordversuch der Mutter Pollinger (vgl. WA 14/K2/TS6/BS 5 a [4], Bl. 3), und wie Agnes Pollinger wohnte die Erzählerin damals bei ihrer Tante. Die hier erzählte Geschichte von der Urgroßmutter auf dem Dorf, die immer noch auf der Hurenbank sitzen muss, hat Horváth nochmals im satirischen Reisebericht Hinterhornbach verwendet (vgl. ET18/TS4). Ebenfalls in das engere Umfeld der Spießer-Prosa zu zählen ist das Werkprojekt „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus (WP9), das überdies Übereinstimmungen mit einigen Reisetexten aufweist. Die auf etwa 1928/29 zu datierende einzige Textstufe des Werkprojekts berichtet von einem Generaldirektor, der, aus dem oberbayerischen Markt Altenau stammend, der Stolz der Ortschaft geworden sei. Der Erzähler ist Journalist und soll einen Artikel über den Generaldirektor für seine Zeitung, an der dieser Anteile hat, verfassen, wofür er die Ortschronik Altenaus ebenso wie die Familiengeschichte des Generaldirektors rekapituliert. Neben der stilistischen wie thematischen Ähnlichkeit mit der übrigen Spießer-Prosa weist der Text auffällige Übereinstimmungen mit Das Fräulein wird bekehrt (ET16) auf, wo ein Generaldirektor als Stolz des Ortes erwähnt wird (vgl. ET16/TS1/BS 4 c [1], Bl. 5).152 Die Ortschaft Altenau ist überdies Schauplatz des in die Gruppe der satirischen (Reise-)Berichte zu zählenden Textes Das Bitterwasserplakat (ET13). Ein nicht vollendeter Text aus dieser Gruppe liegt mit dem Werkprojekt Die Fürst Alm (WP8) vor, dessen einzige Textstufe vermutlich um 1928/29 entstanden ist. Die titelgebende Fürst Alm war eine von Josef Fürst betriebene Bergstation, die Horváth besucht und geschätzt hat.153 Die hier erwähnte Tradition des Arco-Preisschießens wird in Ein sonderbares Schützenfest (ET14) kritisch thematisiert. Die beiden Werkprojekte Die Colombine (WP11) und Mein Selbstmord (WP12) wurden im Notizbuch Nr. 6 (ÖLA 3/W 363), das Horváth in der zweiten Jahreshälfte 1929 verwendet hat, zwischen verschiedenen Entwürfen zum Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer (vgl. WA 14/K3) notiert, das später in den ersten Teil des Romans Der ewige Spießer umgewandelt wurde. Aufgrund einer mangelhaften Restaurierung des
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Diese Textstufe ist bereits in der historisch-kritischen Edition von Der ewige Spießer gedruckt (vgl. WA 14/ET3/TS1) und im vorliegenden Band nicht enthalten. Vgl. den Brief Ödön von Horváths an Lotte Fahr, Berlin, 15. Jänner 1929, zitiert nach dem hs. Original im Kryptonachlass Ödön von Horváth im Nachlass Traugott Krischke, ÖLA 84/Schachtel 57.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa
Notizbuchs ist ihre genaue Reihenfolge allerdings unsicher.154 Zu beiden Werkprojekten liegt jeweils nur eine Textstufe vor: In Die Colombine räsoniert ein Ich-Erzähler über seinen Geldmangel und seine versuchte Annäherung an eine Dame auf einem Faschingsfest. In Mein Selbstmord erklärt ebenfalls ein Ich-Erzähler seine sentimentalen Gründe für einen Selbstmordversuch. Trotz ihrer Eintragung neben Entwürfen zum Kobler-Roman weisen sie keine erkennbare Verbindung dazu auf. Es dürfte sich dabei um spontane Einfälle handeln. Eines der bedeutsamsten Werkprojekte dieser Zeit und zugleich zentrales Dokument für Horváths Beschäftigung mit sozialen Fragen im Rahmen der Spießer-Prosa ist das Werkprojekt Der Mittelstand (WP13), das 1930 entstanden ist. Mehrere kleinere Textstufen und Entwürfe befassen sich hier mit dem Werden der mittelständischen Familie Qu., die in der Familie Querfeld, Hannoveraner Vorfahren von Horváths Mutter, ihr Vorbild hat.155 Den Kern des Werkprojekts, das in einen Roman münden sollte, bildet indes WP13/E1, bei dem es sich um einen der umfangreichsten Strukturpläne im gesamten Werk handelt. Auf zwei großformatigen Kanzleibögen ist hier ein ausführliches Gesellschaftspanorama notiert, in dem Horváth die verschiedenen Spielformen des Mittelstands in ihrem zeithistorischen Kontext verortet. Der hohe Detailgrad vor allem in der Differenzierung verschiedener Formen des neuen Mittelstands lässt vermuten, dass er dafür auch auf zeitgenössische sozialwissenschaftliche Literatur zurückgegriffen hat. Eine Vielzahl an Notizen, Motiven und die diversen Mittelstandstypen verknüpfen die Eintragungen in E1 mit verschiedenen anderen Arbeiten Horváths. So lässt sich etwa in der Figur des Stadtrats die Kontur von Stadtrat Ammetsberger aus Italienische Nacht und in der des proletarischen Studenten die Emil Wegmanns, der Vorläuferfigur von Eugen Schürzinger aus der Werkgenese von Kasimir und Karoline (vgl. WA 4/K2), erkennen. Mit der „Schönheit von Fulda“ wiederum ist eine Vorarbeit aus Geschichten aus dem Wiener Wald (vgl. WA 3/VA1) genannt, und die unter „Tragik und Überwindung des Mittelstandes“ (WP13/E1/BS 12 a, Bl. 5) erwähnte „Lehrerin von Regensburg“ verweist auf ein nicht abgeschlossenes dokumentarisches Dramenprojekt.156 Verschiedene Motive wie die Inflation oder die Revolution der Frau durchziehen fast alle Texte thematisch und wirken teilweise auch noch im Spätwerk fort, wie sich in Don Juan kommt aus dem Krieg (WA 8) exemplarisch zeigt. Der Mittelstand ist somit zum einen nicht abgeschlossenes Romanprojekt, zum anderen eine Art Summe bzw. eine Grundstruktur zu Horváths Werk um 1930 und darüber hinaus. Bei der Ergänzung „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“ (WP13/E1/BS 12 a, Bl. 4) handelt es sich vermutlich um das gleich betitelte Werkprojekt Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert (WP10). Die in der einzigen Textstufe dieses Werkprojekts entwickelte Geschichte der Prostituierten Frieda und ihre schicksalhafte Begegnung mit dem Geschäftsreisenden Neuhuber ist vermutlich um 1929/30 entstanden. Das Werkprojekt Hannes, das Arbeiterkind (WP14) kann aufgrund seines auffälligen Schreibmaterials präzise auf den 11. Juni 1930 datiert werden. Horváth hat einen Entwurf sowie eine Textstufe auf eine Drucksorte der Murnauer Gastwirtschaft Kirch154 155 156
Vgl. im Detail den Kommentar zu WP12 sowie zum Notizbuch Nr. 6 den Kommentar zu ET20/TS5. Vgl. GWA 8, S. 731. Vgl. dazu die Nachlassmaterialien ÖLA 3/W 298–W 301 – BS 9 [1–4] sowie den Editions- und Dokumentationsband Jürgen Schröder (Hg.): Horváths Lehrerin von Regensburg. Der Fall Elly Maldaque. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (= st 2014).
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Vorwort
meir eingetragen und dabei auch den Datumsvordruck ausgefüllt. Unter diesem Titel sollte eine episodische Märchensammlung entstehen, wie die Gattungsangabe in einem Werkverzeichnis (vgl. WP14/E1) und die charakteristische Formel „Es war einmal“ (WP14/TS1) belegen. Mit dem Werkprojekt Im Himmel der Erinnerung (WP15) greift Horváth ein nicht verwendetes Motiv aus Geschichten aus dem Wiener Wald wieder auf. In der Werkgenese der Fassung in sieben Bildern sollte nach den Ereignissen im Maxim im fünften Bild die Handlung unterbrochen werden und der Rittmeister das Publikum ob der schrecklichen Situation quasi als Entlastung in den „Himmel der Erinnerung“157 führen. Die auf Mitte 1931 zu datierenden Eintragungen zum Werkprojekt befinden sich im Notizbuch Nr. 5 kurz vor denen zur Umarbeitung von Die gerettete Familie in Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand (ET19/TS3 und TS4, vgl. E1–E5). Horváth plante also zuerst, den Rittmeister und seine Reminiszenzen als Material für das Programmheft der Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald zu verwenden, hat sich aber schließlich dagegen entschieden. Zum Werkprojekt Der römische Hauptmann (WP16) liegt eine einzige Textstufe vor, die 1932 auf einem Blatt mit Entwürfen zu Glaube Liebe Hoffnung eingetragen wurde. Trotz der materiellen Nähe steht der Text in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Volksstück. Lose an die biblischen Erzählungen vom römischen Hauptmann anknüpfend,158 wird hier von einem römischen Soldaten erzählt, der nach der Kreuzigung Jesu zu zweifeln beginnt. Die Geschichte vom römischen Hauptmann bildet schließlich in Horváths Roman Jugend ohne Gott ein wiederkehrendes Motiv.159 Als umfangreichstes Prosa-Werkprojekt ist das 1932/33 entstandene Romanfragment Himmelwärts (WP17) überliefert. Hierzu liegen über 90 Blatt an Entwürfen und Textstufen vor. Den Titel „Himmelwärts“ verwendete Horváth auch für zwei Dramenprojekte, zuerst für eine lose an das Volksstück Kasimir und Karoline anschließende Zauberposse, an der er vermutlich kurz vor bzw. parallel zum Romanfragment gearbeitet hat, und für das später entstandene dramatische Märchen Himmelwärts (1934). Das Romanprojekt Himmelwärts steht deutlich in der Gattungstradition des Schelmenromans. Entlang einer über verschiedene Stationen verlaufenden, teilweise fantastisch-märchenhaften Reisehandlung wird ein zeitkritisches Panorama der Gegenwart gezeichnet, das verschiedenste Lebensbereiche umfasst. Unter den erhaltenen Arbeiten lassen sich zwei unterschiedliche Konzepte ausmachen. Anfänglich hat Horváth die Reise eines Protagonistentrios vorgesehen, das vom Stammtisch aus zu einer Reise um die Welt antritt. Bereits die ersten Entwürfe zeigen ein weit gediehenes Vorhaben, das die Protagonisten – zuletzt heißen sie Ludwig, Heinrich Kowarek und Christian Schlamperl – an verschiedene Orte reisen lässt, die allegorisch für zeitgeschichtliche Phänomene stehen. Zu diesem Konzept liegt eine bereits weit gediehene Textstufe in sechs Ansätzen vor (WP17/TS1), in der die Protagonisten beschrieben werden, denen ein Lotteriegewinn neben ihrem liederlichen Leben auch die Reise ermöglicht. Der ausgearbeitete Text reicht hier bis zur Begegnung mit einem schiffbrüchigen Robinson, der seit Jahrzehnten auf einer einsamen Insel lebt und 157 158
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WA 3/K3/TS7/BS 38 f [4], Bl. 16. Vgl. den Hauptmann von Kafarnaum (Matthäus 8, 5–13 bzw. Lukas 7, 1–10) sowie den Hauptmann Kornelius (Apostelgeschichte 10) im Neuen Testament. Vgl. das Kapitel „Der römische Hauptmann“, WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 71–76 sowie zuvor ebd., S. 61.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa
Möpse züchtet. An dieser Stelle bricht die Textstufe unvermittelt ab und geht in ein nachgereichtes Vorwort über, das sich als Lob des Narrentums herausstellt. Horváth knüpft hier deutlich an das bereits seine Volksstücke bestimmende Thema der menschlichen Dummheit an: „Nach wie vor gilt aber dem Verfasser als höchster Spruch: gegen Lüge und Dummheit. Werdet aufrichtig, erkennt Euch selbst! Nehmt Euch nicht zu ernst, es steht Euch weder an noch gut.“160 Die folgenden Textstufen zeigen ein verändertes Konzept. Mit Christian bzw. Ludwig Schlamperl steht nur mehr ein einzelner Hauptakteur im Vordergrund, der sich aufgrund der grassierenden Arbeitslosigkeit eines herrenlosen Bootes bemächtigt und damit auf Reise geht. Dieses Konzept macht den Hauptteil der Arbeiten zu Himmelwärts aus, insgesamt liegen zwölf Textstufen mit teils mehreren Ansätzen dazu vor. Mit der Beschränkung auf einen einzelnen Protagonisten gelangen Versatzstücke eines Bildungsromans in die Handlung, die weiterhin allegorisch-märchenhafte Episoden umfasst. Auch das bereits apostrophierte Narrentum bleibt ein wichtiges Element der Handlung, das durch die Einführung einer Handlung auf einem Narrenschiff, die über alle Textstufen nach TS1 hinweg zu finden ist, besonders herausgestrichen wird. Die große Menge an erhaltenem Material deutet darauf hin, dass Horváth der Verbindung von Zeitkritik und märchenhafter Form große Bedeutung zugemessen hat. Er brach die Arbeit an Himmelwärts deshalb vermutlich allein aufgrund der zunehmend bedrohlicher werdenden politischen Lage im Deutschen Reich ab, in dem die Nationalsozialisten Anfang 1933 die Macht an sich rissen. Auf einem Blatt der letzten erhaltenen Textstufe TS13 findet sich dazu auch eine direkte textliche Spur: Auf dem ersten Blatt des zweiten Ansatzes notiert Horváth handschriftlich am oberen Blattrand: „R. Hitler / I. Frick / Au. Neurath / F. Schwerin-Krosigk / Wirt. Hugenberg / A. Seldte“ (WP17/TS13/A2/BS 61 d [2], Bl. 64). Dabei handelt es sich um einen Teil des am 30. Jänner 1933 angelobten Kabinetts Hitler. Neben Hitler als Reichskanzler sind hier die Minister des Inneren (Wilhelm Frick, NSDAP), des Äußeren (Konstantin von Neurath, parteilos), der Finanzen (Johann Ludwig Schwerin von Krosigk, parteilos), für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung (Alfred Hugenberg, DNVP) und für Arbeit (Franz Seldte, Stahlhelm) benannt. Da diese Eintragung in keinerlei Beziehung zum Romanprojekt steht, dürfte es sich um eine spontane Notiz Horváths handeln, der während der Arbeit von dieser Ministerliste erfahren hat und sie hier provisorisch festhält. Die Arbeiten an Himmelwärts umfassen danach nur noch wenige Blätter. Im März 1933 verließ Horváth, der sich zu dieser Zeit in München und Murnau aufgehalten hatte, das Deutsche Reich.
1933–1938 Nach 1933 waren Horváth nicht nur die Bühnen des Deutschen Reiches verschlossen, auch sein bisheriges literarisch-verlegerisches Umfeld existierte nicht mehr. Obwohl er nie offiziell mit einem Schreibverbot belegt wurde und die Nationalsozialisten seine Werke erst nach dem Erscheinen von Jugend ohne Gott im Deutschen Reich verboten, hatte er nun keine Publikationsmöglichkeiten mehr. Die Ullstein Verlagsgruppe, mit der Horváth Ende 1932 seinen Exklusivvertrag aufgelöst hatte, wie der 160
WP17/TS1/A6/BS 61 [4], Bl. 13.
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Vorwort
Kiepenheuer Verlag, zu dem er wechseln wollte, wurden rasch Opfer der nationalsozialistischen Gleichschaltungs- und Säuberungspolitik, ebenso das Berliner Tageblatt und der Simplicissimus. Eine Mitarbeit an den sich formierenden Zeitungen und Zeitschriften des literarischen Exils und damit eine eindeutige politische Positionierung vermied er, um sich alle Optionen offenzuhalten, wie seine Versuche der Anbiederung an das neue Regime ab 1934 letztlich belegen.161 Horváth konzentrierte sich nun auf seine Dramen, die er, meist erfolglos, an österreichischen und später auch an deutschen Bühnen unterzubringen hoffte, sowie auf seine neu gewonnene Arbeitsmöglichkeit als Filmtexter. Zu seinen Lebzeiten publizierte er keinen einzigen Kurzprosatext mehr. Unmittelbar nach 1933 sind auch Prosawerkprojekte aufgrund fehlender Publikationsperspektiven nur spärlich überliefert. Die Arbeit am abgebrochenen Himmelwärts-Roman nahm Horváth nicht wieder auf, er verwendete den Titel schließlich für das dramatische Märchen Himmelwärts (1934). In den Werkgenesen der Dramen Don Juan kommt aus dem Krieg und Figaro läßt sich scheiden experimentierte Horváth zwar vereinzelt mit Bearbeitungen des Stoffes in Prosa, ein eigenständiges Prosawerkprojekt liegt aber erst wieder um 1935/36 mit Reise ins Paradies (WP18) vor. Am Beginn des Vorhabens steht der Briefwechsel eines Schriftstellers mit seinem Bruder, den er als Illustrator für ein Buch gewinnen möchte. Anhand einiger autobiographischer Anspielungen und des Namens „Luci“ für den Bruder lassen sich hinter beiden Figuren Horváth selbst sowie sein Bruder Lajos erkennen, der als Zeichner und Karikaturist tätig war. Lajos von Horváth war in die Pläne seines Bruders indes nicht eingeweiht, er erfuhr davon erst nach Ödöns Tod.162 Die Handlung des geplanten Buches besteht neuerlich aus märchenhaft-fantastischen Geschehnissen: Mittels eines Autos, das durch die Zeit zurückfahren kann, reist anfänglich der Erfinder Sobottka, später ein Onkel Ferdinand durch verschiedene Epochen, die, ähnlich den Episoden im Romanfragment Himmelwärts, als zeitkritische Allegorien gestaltet sind. Neben mehreren Entwürfen und Textstufen zu den unterschiedlichen Einfällen liegen zuletzt der Briefwechsel der beiden Brüder sowie ein Anfangskapitel vor, in dem Onkel Ferdinand eine Probefahrt in seine Kinderzeit unternimmt. Märchenhaft-fantastische Geschichten als Rahmen für Zeitkritik dominieren auch viele andere Prosaideen dieser Jahre. Die Beschäftigung mit Märchenformen geht zumindest teilweise mit einer allgemein konventionelleren Ausrichtung von Horváths Schaffen nach 1933 einher, wie sie auch in seinem dramatischen Werk zu beobachten ist. Ein Teufel hat Ferien (WP19) ist aufgrund des verwendeten Papiers auf 1937 zu datieren und umfasst zwei Entwürfe zu einem Roman, in dem der Teufel Urlaub auf der Erde machen soll. Seine jeweiligen Reisestationen dienen, abermals ähnlich dem Romanfragment Himmelwärts, als Anlass für Zeitkritik. Das nur eine fragmentarische Textstufe umfassende Werkprojekt Waisenkinder / Hinter dem Mond (WP20) ist vermutlich ein Nebenprodukt einer Vorarbeit des Romans Ein Kind unserer Zeit und deshalb auf Mitte 1937 zu datieren.163 Mit dem ebenfalls aufgrund des Papiers Mitte 1937 zu verortenden Das Märchen in unserer Zeit (WP21) thematisiert Horváth die Märchenform direkt. Der darin gestalteten märchenlosen Zeit, in der selbst die Tiere das Märchen meiden, da es falsche Hoffnungen wecke, wird ein kleines Mädchen ge161 162 163
Vgl. dazu ausführlich Schnitzler 1990 (Anm. 56), S. 133–153. Vgl. GW IV, S. 35*. Vgl. dazu WA 16/VA2/TS5 und TS6.
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genübergestellt, das sich auf die Suche nach dem verschwundenen Märchen macht und dabei entdeckt, selber das Märchen zu sein. Der Gedanke (WP22) ist in der zweiten Jahreshälfte in unmittelbarer Nähe der Arbeiten an Ein Kind unserer Zeit 1937 entstanden. Das Werkprojekt umfasst zwei Textstufen, wobei eine davon (WP22/TS2) möglicherweise sogar in ein Kapitel des Romans eingehen sollte.164 Ein Ich-Erzähler begegnet hier einem personifizierten Gedanken, den er sogleich wieder vergessen hat. Auf seiner Suche danach begegnet er letztlich dem Tod bzw. dem Nichts, das sich als ebendieser Gedanke herausstellt. Auf demselben Blatt wie die früheste Textstufe von Der Gedanke (WP22/TS1) hat Horváth auch Teile des Werkprojekts Der brave Bürger / Der letzte Mensch (WP23) eingetragen. Dazu sind insgesamt zwei Textstufen überliefert, die über den genauen Inhalt indes nur wenig preisgeben. WP23/TS1 trägt den Titel „Der brave Bürger“ und zerfällt in drei kurze Textabschnitte, in denen ein Gespräch mit einer Ameise und die Verwandlung von Feinden in Zwerge bzw. Hunde skizziert werden. In WP23/TS2, die den Titel „Der letzte Mensch“ trägt, beginnt Gott nochmals mit der Schöpfung, wobei der Sündenfall Adams und Evas möglicherweise nicht eingetreten ist. Der genaue konzeptionelle Zusammenhang beider Textstufen ist abseits ihrer gemeinsamen Eintragung unklar, zweifelsohne stehen sie aber gleichfalls im Kontext des Märchenhaft-Fantastischen wie die zuvor entstandenen Werkprojekte. Das Werkprojekt Adieu, Europa! (WP24) umfasst eine Reihe von Entwürfen und Textstufen zu Horváths drittem Exilroman nach Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit, den er in einem Schreiben an Walter Landauer, seinen Lektor beim Amsterdamer Verlag Allert de Lange, vom 25. April 1938 ankündigt: Ich arbeite schon sehr an dem neuen Roman und habe auch bereits den Titel. Er gefällt mir so gut, dass ich Angst habe, es könnt ihn mir jemand nehmen. Lässt sich dagegen etwas praktisch tun? Wenn man es vielleicht irgendwo veröffentlicht, das [sic] ich an einem Roman mit diesem Titel arbeite – schützt das einen? Der Titel lautet: Adieu, Europa! Wie gefällt er Ihnen?165
Erste Andeutungen dazu hatte er gegenüber Landauer bereits einige Wochen zuvor gemacht.166 Einige Monate vorher erwähnte er aber auch ein anderes Romanprojekt mit dem Titel „Das Ende der Kunst“, das an bereits in der Werkgenese von Ein Kind unserer Zeit verwendete Motive anschließt und zumindest teilweise in Adieu, Europa! eingegangen sein dürfte.167 Der Großteil der erhaltenen Arbeiten ist während Horváths Aufenthalt im Haus der Schauspielerin Lydia Busch in Teplitz-Schönau (Teplice-Sˇanov) in der Tschechoslowakischen Republik von Ende März bis Mai 1938 entstanden, worauf ein Zeugnis Buschs hindeutet.168 Insgesamt liegen 13 Blatt an 164
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Vgl. die Einordnung dieses Textes in die genetische Reihe von Ein Kind unserer Zeit, WA 16/ K2/TS19. Brief Ödön von Horváths an Walter Landauer, Teplice-Sˇanov, 25. April 1938, zitiert nach dem hs. Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISH), Signatur 27/553. Vgl. den Brief Ödön von Horváths an Walter Landauer, Teplice-Sˇanov, 2. April 1938, zitiert nach dem hs. Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISH), Signatur 27/541. Vgl. den Brief Ödön von Horváths an Walter Landauer, Wien, 26. Februar 1938, zitiert nach dem hs. Original im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISH), 27/529–531. Vgl. zum Romanprojekt Das Ende der Kunst WA 16/VA1 und VA2. Vgl. Lydia Busch: Teplitz. In: Traugott Krischke (Hg.): Materialien zu Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (= es 436), S. 109f., hier S. 109.
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Vorwort
handschriftlichen Entwürfen und Textstufen vor. Nach seinem überraschenden Tod in Paris am 1. Juni 1938 publizierten Freunde und Weggefährten das zu diesem Zeitpunkt geplante erste Kapitel unter dem Titel „Neue Wellen“ in der Zeitschrift Maß und Wert, wobei jedoch berechtigte Zweifel daran bestehen, dass Horváth diesen Titel beibehalten wollte.169 Die beherrschenden Themen von Adieu, Europa! sind die Emigration und die Rolle des Schriftstellers in der zeitgenössischen politischen Situation, wie Horváths sie auch in Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit, einer Vorarbeit von Jugend ohne Gott, umrissen hat (vgl. WA 15/VA2). Zugleich ist das Werkprojekt stark von autobiographischen Elementen durchsetzt, weshalb spekuliert wurde, ob es als Versuch Horváths zu einer Autobiographie zu lesen sei.170 Zweifelsohne sind Versatzstücke von Horváths eigenem Leben, insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit seinem ambivalenten Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime nach 1933, in die Arbeit eingeflossen. Der Strukturplan WP24/E4 etwa gliedert den Text in drei „Emigrationen“ und eine „Rückkehr“, die Horváths mäanderndem Weg zwischen Akzeptanz des Exils und versuchter Rückkehr zwischen 1933 und 1935 entsprechen. Verschiedene Anmerkungen rufen dabei einzelne Stationen dieses Weges auf, etwa der Aufenthalt am Wolfgangsee (vgl. ebd.), von dem Alexander Lernet-Holenia berichtet hat,171 die Arbeiten beim Film (WP24/E5 und E8–E10), die mit einem JudasMotiv hinterlegt werden,172 sowie die Notiz zu einem Stück „Kuss[es] im Kongress“ (WP24/E5), das auf ein von der NS-Zensur untersagtes Filmvorhaben hinweist, an dem Horváth 1934 mitgearbeitet hat.173 Hervorzuheben sind auch die expliziten Verweise auf andere Texte in den Entwürfen, etwa auf Figaro läßt sich scheiden, in dem ebenfalls das Verhältnis von Revolution und Exil thematisiert wird, sowie die Übernahme verschiedener Motive und Einfälle aus Don Juan kommt aus dem Krieg, Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit bzw. deren Werkgenesen. In der Gesamtschau erweist sich Adieu, Europa! nicht als Versuch zu einer Autobiographie, wohl aber als ein stark von autobiographischen Elementen getragener Text, der Züge eines Schlüsselromans trägt. Der Umgang mit autobiographischen Versatzstücken ist in diesem Werkprojekt zugleich fundamental anders als in der Prosa um 1930. Stand dort das in die Poetologie der Texte eingebundene ironische Spiel mit autobiographischen Inhalten und der Leseerwartung im Vordergrund, so fungieren
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Vgl. dazu im Detail den Kommentar zu WP24/TS4 und TS5. Vgl. Ian Huish: „Adieu, Europa!“ Entwurf zu einer Autobiographie? In: Horváth-Blätter 1/1983, S. 11–23. Vgl. Alexander Lernet-Holenia: – und Salzburg. In: Krischke 1970 (Anm. 168), S. 60–62. Horváth traf laut den erhaltenen Meldeunterlagen von St. Wolfgang kommend am 18. April 1933 in Wien ein (Auskunft des Wiener Stadt- und Landesarchivs/MA 8 vom 21. August 2012). Horváth hat seine Arbeit für den Film später bereut, wie er etwa in Was soll ein Schriftsteller heutzutag schreiben? festgehalten hat (vgl. KW 11, S. 223–226), und als eine Form des Verrats an seinen schriftstellerischen Verpflichtungen bewertet. Vgl. dazu auch allgemein Evelyne Polt-Heinzl/Christine Schmidjell: Geborgte Leben. Horváth und der Film. In: Kastberger 2001 (Anm. 95), S. 193–261. Möglicherweise spielt Horváth damit zugleich auf seinen Besuch am Filmset von Judas von Tirol 1933 mit Marianne Hoppe an, die darin den weiblichen Hauptpart übernommen hatte. Vgl. dazu Huish 1983 (Anm. 170), S. 19. Vgl. den Brief Ödön von Horváths an Hans Geiringer, Berlin, 16. April 1934, Original verschollen, zitiert nach einer Kopie im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Lokatur H br (p), Druck in GW IV, S. 675f.
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sie hier als Ausgangspunkt einer Selbstreflexion, die nicht mehr dem erzählerischen Witz, sondern zunehmend einer kritischen Hinterfragung der eigenen Zeit und der eigenen Rolle darin dienen.
Rezeption (Kurzprosa) Zu Horváths Kurzprosa sind nur wenige zeitgenössische Rezeptionszeugnisse überliefert. Sowohl ihre Kürze als auch die meist flüchtige Publikationsform in Zeitungen und Zeitschriften machten sie nur in Ausnahmefällen zum Gegenstand von Besprechungen. Jedoch kann, ähnlich den Sportmärchen, aus der wiederholten Veröffentlichung von Kurzprosa in Zeitungen wie dem Berliner Tageblatt und dem Simplicissimus auf eine grundlegend positive Resonanz geschlossen werden. Texte wie Das Bitterwasserplakat (ET13) und Hinterhornbach (ET18) erschienen im Berliner Tageblatt überdies auf Themenseiten gemeinsam mit Texten anderer Autoren. Möglicherweise ist Horváth zu diesen Beiträgen explizit eingeladen worden. Als eines der wenigen zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse zur Kurzprosa liegt eine von Kurt Tucholsky für die Weltbühne verfasste Besprechung des 1929 von Hermann Kesten herausgegebenen Bandes 24 neue deutsche Erzähler vor, in dem Horváth mit der Erzählung Das Fräulein wird bekehrt (ET16) vertreten ist. Ohne den Namen Horváths zu nennen, widmet Tucholsky in der unter seinem Pseudonym Peter Panter verfassten Literaturglosse Auf dem Nachttisch dieser Erzählung eine längere, wenngleich abschätzige Kritik: Da witzelt sich einer eine kleine Geschichte zusammen, von einer kaufmännischen Angestellten. Keine Schreibmaschine ohne das, was unterhalb der Tischplatte ist. Gut. Und da läuft so ein Satz unter … aber ich will doch gleich aus dem Bett fallen, wenn ich diesen Satz nicht einmal aufpuste, daß etwas aus ihm wird. Wie kann man sich das entgehen lassen! „Sie tat sehr stolz“, heißt es von der Stenotypistin, „das Fräulein zählte sich nicht zum Proletariat, weil ihre Eltern mal zugrunde gegangen sind (muß heißen: waren). Sie war überzeugt, daß die Masse nach Schweiß riecht, sie leugnete jede Solidarität und beteiligte sich an keiner Betriebsratswahl. Sie tat sehr stolz, weil sie sich nach einem Sechszylinder sehnte.“ Guter Mann, das ist gewiß sehr höhnisch gemeint. Doch der Hohn geht daneben. Natürlich stimmt alles – aber wer hat hier unrecht? Hier hat der Marxismus unrecht, der nicht sieht, daß dieser – sicherlich komische – Stolz auf die Sehnsucht nach dem Sechszylinder eine seelische Realität ist, mit der man zu rechnen hat. Daran ist beinahe alles in Deutschland gescheitert: daß Ihr die Angestellten als Arbeiter klassifiziert, und sie sind es nicht, sie sind es nicht, sie sind es nicht. Ich weiß wie und daß man beweisen kann, sie seien es doch. Sie sind es nicht. Ihr erreicht nicht ihr Ohr, weil Ihr ihre Sprache nicht sprecht … ach, wäre das eine schöne Erzählung geworden, wenn Sie den Angestellten wirklich da gepackt hätten, wo er zu fassen ist! Ein Jammer.174
Die Kritik Tucholskys, sieht man von der nonchalanten grammatischen Intervention ab, entzündet sich hier zu gleichen Teilen an der unterstellten ideologischen Fundierung der Erzählung im Marxismus und dem diffizilen Verhältnis der (organisierten) Arbeiterschaft zu der verhältnismäßig jungen Kaste der Angestellten wie an der aufklärerischen Wirkungslosigkeit der Erzählung selbst. Mit Hohn, so Tucholsky, lasse sich diese gesellschaftliche Gruppe literarisch nicht erreichen. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive überrascht indes, dass Tucholsky das Verfehlen der Sprache 174
Peter Panter [i.e. Kurt Tucholsky]: Auf dem Nachttisch (22.4.1930). In: Die Weltbühne, 26. Jg., 22.4.1930, S. 621–626, hier S. 623f.
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Vorwort
der Angestellten gerade bei Horváth kritisiert, der später als genauester Beobachter und Aufzeichner der verkürzten Sprachmuster des deklassierten Bürgertums und der Angestellten gelten sollte. Vergleichbare Missverständnisse der erzählerischen Intention, der Erzählsprache sowie insbesondere der ambivalenten Rolle des Erzählers finden sich auch später in der beginnenden Rezeption von Horváths Kurzprosa nach 1945, wo sie allerdings vornehmlich aus ihrer Gegenüberstellung mit den Volksstücken hervorgehen. In dem im Notizbuch Nr. 6 erhaltenen Textfragment „Sie haben keine Seele!“175 reagierte Horváth vermutlich auf diese Kritik Tucholskys sowie auch auf eine kurz zuvor erschienene Besprechung von 24 neue deutsche Erzähler durch Heinrich Mann in der Literarischen Welt.176 Ungewohnt direkt und mit scharfen Worten spricht Horváth darin dem literarischen Programm der Neuen Sachlichkeit das Wort. Positiv äußerte sich indes die Berliner Börsenzeitung in der Kurzbesprechung eines Rezitationsabends des Schauspielers Max Koninski, bei der auch Das Fräulein wird bekehrt gelesen wurde, über den Text. Sie bescheinigt ihm, eine „ironisch-bittere Novelle“ zu sein, die zum Lachen anrege. Pikanterweise wurde gerade dieser Abend mit der Lesung eines Gedichts von Theobald Tiger eingeleitet – ein weiteres Pseudonym Tucholskys.177 In der literaturkritischen wie -wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Horváth nach 1945 ist der Widerhall der (Kurz-)Prosa bedeutend geringer als der des dramatischen Werkes. Obwohl seine Romane schon bald nach dem Krieg wieder in neuer Auflage vorhanden waren,178 wurde er vor allem im Zuge der Horváth-Renaissance der 1960er-Jahre vornehmlich als Dramenautor rezipiert. Als Verfasser von Prosa wurde er erst im Zuge des 1970 veröffentlichten dritten Bandes der Gesammelten Werke wieder bekannt. Neben den Romanen enthielt dieser Band auch die Sportmärchen sowie große Teile der Kurzprosa, von der die meisten Texte hier zugleich erstmals gedruckt zugänglich vorlagen. Das bis zu diesem Zeitpunkt vor allem auf die Volksstücke gründende Autorbild Horváths erfuhr sowohl durch die vollständige Publikation aller seiner Dramen als auch durch das Bekanntwerden der Prosa merkliche Erschütterung, nicht zuletzt da wichtige Stimmen der Literaturkritik damit nichts anzufangen wussten. Besonders nachteilig für die weitere Rezeption wirkten sich die auf die Gesammelten Werke gründenden harten Urteile von Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek aus. Reich-Ranicki sieht die Veröffentlichung der Gesammelten Werke positiv, arbeite sie doch als Korrektiv einem sich formierenden „Horváth-Mythos“179 entge-
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ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 3, 2 und 5. Vgl. KW 11, S. 193f. Heinrich Mann: Gelegentlich der neuesten Literatur. In: Die literarische Welt (Berlin), 6. Jg., Nr. 14 (4.4.1930). Vgl. dazu auch den Kommentar zu ET20/TS5 sowie Martin Vejvar: „Überhaupt bilden wir Jungen uns viel zu viel ein …“. Ödön von Horváth reagiert auf Heinrich Mann. In: Marcel Atze/Volker Kaukoreit (Hg.): Erledigungen. Pamphlete, Polemiken und Proteste. Wien: Praesens 2014 (= Sichtungen 14/15), S. 267–272. H. Str.: Der junge Schauspieler Max Koninski. Kopie eines undatierten Zeitungsausschnitts aus der Berliner Börsenzeitung des Jahres 1930 im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Lokatur H br (p). Vgl. dazu Anm. 60. Marcel Reich-Ranicki: Horváth, Gott und die Frauen. Die Etablierung eines neuen Klassikers der
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gen. Bemerkenswert ist indes seine argumentative Volte zu Horváths Sprache im Hinblick auf seine Prosa. Die fatale Verstrickung der Volksstück-Figuren in ihre Sprechweisen sei die Folge des späten Kontakts ihres Autors mit der deutschen Sprache, was ihn sensibel für spezifische Nuancen gemacht habe. Zugleich aber verfüge Horváth, so Reich-Ranicki weiter, selber nur über eine dürftige, restringierte Ausdrucksweise im Deutschen, die sich gleichfalls in seinen Figuren niedergeschlagen habe. Während er im Drama in der Lage war, die „Dürftigkeit“180 seiner Sprache produktiv umzusetzen, trete sie in der Prosa als Stilschwäche zutage. Reich-Ranicki verbindet dieses Verdikt zudem mit dem nicht weniger harten Urteil, Horváth sei zwar ein guter Dichter, aber kein ‚Denker‘ gewesen, was sich insbesondere in seinen beiden späten Romanen Jugend ohne Gott und ein Kind unserer Zeit manifestiere, an denen er ihre Behandlung des Faschismus und ihren ambivalenten zeithistorischen Hintergrund sowie Horváths politische Naivität beanstandet. Als einzigen Prosatext lässt er schließlich Sechsunddreißig Stunden gelten, womit der Roman Herr Reithofer wird selbstlos gemeint ist, der in Der ewige Spießer aufgegangen ist, da Horváth darin „Sprache und Thema“ zur Übereinstimmung gebracht habe und „objektivierende Distanz“181 ermögliche. Äußerst kritisch zeigt sich auch Hellmuth Karasek in seiner Besprechung der ProsaEdition der Gesammelten Werke. Die Prosa Horváths scheint ihm eine „Randerscheinung“182 zu sein, die zwar Themen und Motive mit den Dramen teile, jedoch in ihrer Behandlung ästhetisch scheitere: Was das erzählerische Werk Horváths sonst gefährdet, ist die Tatsache, daß er das, was er seinen Bühnenfiguren in den Mund legt, um ihr verstörtes Bewußtsein in den Stilbrüchen, kitschigen Entgleisungen, in der Mischung aus Sentimentalität und Brutalität zu dekouvrieren, in seinen Erzählungen und Romanen oft auch unreflektiert als seinen Erzählstil auszugeben scheint. Der Kitsch, dessen dramatische Funktion er wie kein anderer Autor aufdeckt, den er als den Abdruck der Gesellschaft im Einzelleben definiert, dieser Kitsch taucht in seiner Prosa oft verstörend undistanziert auf.183
Einen möglichen Grund für die konstatierte mangelhafte Distanzierung in der Prosa meint Karasek in ihrem skizzenhaften Charakter zu finden. Allerdings lag durch die intransparente Editionsweise der Gesammelten Werke, die in der Kurzprosa keine scharfe Unterscheidung zwischen abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Texten macht, sowohl Karasek als auch allen anderen zeitgenössischen Kritikern ein verzerrter Befund vor.184 Trotz seines eher negativen Urteils gesteht Karasek, anders als Reich-Ranicki, der Prosa jedoch zu, von thematischem Interesse zu sein und hebt den Status der Texte als zeithistorische Dokumente hervor. Eine ähnlich abwertende Haltung gegenüber der (Kurz-)Prosa wie Reich-Ranicki und Karasek nimmt auch der Schweizer Dramaturg und Literaturkritiker Urs Jenny ein, der die die weitere Rezeption prägende Unterscheidung zwischen einem „realistischen“ und einem „metaphy-
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Moderne. In: Dieter Hildebrandt/Traugott Krischke (Hg.): Über Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 (= es 584), S. 83–90, hier S. 83. Ebd., S. 85. Ebd., S. 89. Hellmuth Karasek: Das Prosawerk Ödön von Horváths. In: Hildebrandt/Krischke 1972 (Anm. 179), S. 79–82, hier S. 79. Ebd., S. 81. Vgl. dazu die Ausführungen in den Abschnitten „Textkorpus“ und „Druck- und Editionsgeschichte“.
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sischen“ Horváth in die Diskussion eingeführt hat.185 Auch er sieht in der gegenüber den Dramen mangelnden Reflexion der Prosasprache die Hauptursache dafür, dass die Prosa „so dünn, ausdrucksarm und oft bläßlich sentimental“186 sei. Einzelne Stücke aus der Kurzprosa konnten in der Horváth-Rezeption zwar punktuelle Textkarrieren absolvieren bzw. wurden gerne als Belegquellen für die Darstellung verschiedener Aspekte oder gar nur als Zitatsteinbrüche herangezogen. Das Gros der Texte stand jedoch nicht zuletzt aufgrund der angeführten literaturkritischen Verdikte meist im Abseits. Den Urteilen von Reich-Ranicki, Karasek und Jenny, die exemplarisch für die früheste Rezeption der Prosa stehen können, ist gemein, dass sie sich vor allem aus der Überraschung über die so gänzlich anders wirkende ästhetische Faktur der Prosa speisen. Sie rühren indes vor allem von einem Missverständnis sowohl von Horváths Poetik als auch, im Falle Reich-Ranickis, von biographischen Umständen wie Horváths vermeintlicher sprachlicher Schwäche im Deutschen her, die wiederum mit der zu Beginn sehr schlechten Quellenlage und der damit verbundenen schwachen Forschungssituation zusammenhängen. Die einsetzende literaturwissenschaftliche Aufarbeitung konnte demgegenüber sukzessive den Wert der Kurzprosa wie die veränderte poetische Verfahrensweise darin herausstellen. Dass Horváth etwa in seiner so oft als skizzenhaft und spontan attribuierten Kurzprosa einem durchaus stringenten und keineswegs zufälligen, die Spontaneität stattdessen bewusst inszenierenden Erzählprogramm folgt, hat Angelika Steets anhand detaillierter Strukturanalysen des gesamten Prosawerks belegen können. Besonders nachdrücklich tritt dies im Textcluster der Spießer-Prosa zutage, den sie als „Textparadigma“187 versteht, in dem die verschiedenen Einzeltexte sowie der Roman Der ewige Spießer samt seinen Vorarbeiten ein zusammengehöriges Ganzes ergeben, aus dessen Verhältnis dazu der Einzeltext seine Bedeutung erlange. Die Skizzenhaftigkeit der Texte ist in dieser Deutung somit zumindest für die Texte um 1930 kein einer Gestaltungsschwäche entspringender Mangel, sondern produktionsästhetisches Kalkül.188 In seiner breit angelegten Studie über Horváth als Zeitkritiker konnte Axel Fritz die dem Autor unterstellte politische Naivität zurückweisen und Horváths differenzierte Aufnahme wie Verarbeitung zeithistorischer Bezüge aufzeigen.189 Seine darauf aufbauende Studie über Zeitthematik und Stilisierung bei Ödön von Horváth widmete Fritz überdies spezifisch der Prosa und ihrem zeitkritischen Potenzial, indem er auf die zunehmende Bedeutung des „Märchenstils“190 hingewiesen hat. Dieser wird, besonders anschaulich etwa im Romanfragment Himmelwärts, auch auf komplexe Erzählmaterien angewandt, wobei Fritz diesen Versuch dezidierter Zeitkritik in Märchenform schlussendlich aber als ästhetisch gescheitert bewertet.191 Auf die große Bedeutung von Horváths Aufenthalten in Murnau für seine Prosa hat
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Urs Jenny: Horváth realistisch, Horváth metaphysisch. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur, 18. Jg., Heft 4 (1971), S. 289–295. Urs Jenny: Ödön von Horváths Größe und Grenzen. In: Hildebrandt/Krischke 1972 (Anm. 179), S. 71–78, hier S. 76. Steets 1975 (Anm. 5), S. 125. Vgl. dazu auch die auf der Arbeit Steets’ aufbauenden Ausführungen zur Beschaffenheit der Kurzprosa Horváths um 1930 im Abschnitt „Textkorpus“ oben. Vgl. Fritz 1973 (Anm. 59). Fritz 1981 (Anm. 6), S. 83. Vgl. ebd., S. 94–108.
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Kurzprosa und Werkprojekte Prosa
Elisabeth Tworek aufmerksam gemacht, die von einem „Vorbildcharakter“192 von Oberbayern spricht. Die Ortschaft Murnau diente Horváth laut Tworek als „Modell“193 und bot durch ihre Lage in der Provinz wie ihrer Bedeutung als Fremdenverkehrsort für die Münchener Mittel- und Oberschicht eine reiche Palette an Themen und Motiven für Satire. Tatsächlich wird Oberbayern wie Murnau, teilweise chiffriert, in einer Vielzahl von abgeschlossenen wie Fragment gebliebenen Kurzprosatexten als Schauplatz erwähnt, wobei vor allem die satirischen (Reise-)Berichte der Jahre 1928–1930 hervorstechen (vgl. ET10–ET14 und ET18 sowie WP8 und WP9). Den bis dato wichtigsten Beitrag zur Rehabilitierung Horváths als Prosa-Autor hat Viktor Zˇmegaˇc vorgelegt.194 Er setzt bei den apodiktischen Urteilen der frühen Kritik und der Marginalisierung der (Kurz-)Prosa als „Fingerübungen“ und „Beiwerk“195 an, dem gegenüber er die eigenständige Bedeutung insbesondere der um 1930 entstandenen Texte hervorhebt und sie in einen literarischen Epochenkontext einbettet. Das poetische Verfahren der Prosa, die Karasek als „verstörend undistanziert“196 bezeichnet hat, verstößt nach Zˇmegaˇc, darin Karaseks Urteil explizit aufgreifend und ins Positive wendend, bewusst gegen konventionelle Leseerwartungen. Tatsächlich sei sie als eine Form von Pop-Literatur zu bewerten, in der, ähnlich dem jungen Brecht, eine „unliterarische Haltung“ als „Bestandteil einer literarischen Taktik“197 eingesetzt werde. Die naive Wirkung, die diese Texte erzielen und die die Kritik auf eine falsche Fährte gelockt hätte, verdanke sich einer hergestellten „komplexe[n] Einfachheit“, die sich an vier Aspekten ablesen lasse. Erstens verfahren die Texte nach einem diffusen Diskurs, der Ereignisse assoziativ reiht, anstatt sie strukturiert zu ordnen, was auf Kritiker wie Karasek „literarisch ungepflegt“198 wirke. Die Momente der Kontingenz und der Digression, die einem derartigen Erzählen innewohnen, stehen laut Zˇmegaˇc nicht isoliert, sondern sind auch in anderen Werken der Zeit wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) wirksam. Eine „organologische Poetik“199, die auf stringente Erzählweise und logische Komposition dränge, versage so bei Horváth bereits von vornherein. Zweitens sei die Prosa stark von ihrem stilistischen Lakonismus geprägt, ein wesentliches Merkmal der Neuen Sachlichkeit, in dessen Umfeld Horváth sich um 1930 bewegte. Ein immanenter Aperspektivismus sei ein dritter Aspekt, der Horváths Prosa präge, in der auf eine „perspektivische, moralisch und logisch ordnende Gliederung des Wirklichkeitsrepertoires“200 im Erzählakt verzichtet werde. Dies führe zu einem standpunktlosen Erzählen, das zum einen fast willkürlich zwischen erzählerischen Details springe und zum anderen die Übergänge von Figurenund Erzählerrede fließend gestalte. Viertens benennt Zˇmegaˇc eine maskenhafte Rede des Erzählers als kennzeichnendes Merkmal. Der Erzähler sei hier eine zumeist „anonyme Stimme“ im Text, die nicht präzise zu verorten ist und die „die naive und sen192 193 194
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Tworek-Müller 1989 (Anm. 142), S. 34. Ebd., S. 38. Viktor Zˇmegaˇc: Horváths Erzählprosa im europäischen Zusammenhang. Tradition und Innovation. In: Literatur und Kritik, H. 237/238 (1989), S. 332–345. Zur Bedeutung von Zˇmegaˇcs Beitrag vgl. Bartsch 2000 (Anm. 3), S. 97–99. Zˇmegaˇc 1989 (Anm. 194), S. 332. Karasek 1972 (Anm. 182), S. 81. Zˇmegaˇc 1989 (Anm. 194), S. 335. Ebd., S. 336. Ebd., S. 337. Ebd., S. 341.
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timentale Anschauung“, die eine Erzählpassage dominiere, „maskenhaft ausdrückt“201. In gewisser Weise übernehme die Erzählerstimme so die Funktion der Szenen- und Regieanweisungen in den Volksstücken. Zˇmegaˇcs Auslotung der gegenüber den Dramen veränderten poetischen Verfahrensweise stellt somit einen konzisen Gegenentwurf zur Ablehnung der (Kurz-)Prosa als gestaltungsschwach in der vorangegangenen Kritik dar. Einen verbindenden Bogen zwischen den Sportmärchen und der späteren Kurzprosa schlägt Wendelin Schmidt-Dengler, der in einem der seltenen allein auf die Kurzprosa fokussierenden Beiträge ihre Bewertung als Beiwerk produktiv wendet. Schmidt-Dengler wertet die Kurzprosa als „Etüden, als das, was übrig bleibt vom großen Hauptwerk“, dem sich zuzuwenden sich dennoch lohne, einerseits, weil es „Rückschlüsse auf die Gußform zuläßt, die zerschlagen werden mußte, um das Werk zu gewinnen“202, andererseits, weil die Kleinform gerade dem Misstrauen der literarischen Moderne gegen das große Werk entspreche. Das hervorstechendste Merkmal sowohl der Sportmärchen als auch der Kurzprosa sieht er in ihrer ostentativen Pointenlosigkeit und der selbstreflexiven Auflösung narrativer Strukturen gegeben. Beide stünden so in einer literarischen Tradition kleiner Formen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, die von Musil, Kafka und Canetti bis zu H.C. Artmann und Konrad Bayer reiche.203
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Ebd., S. 343. Schmidt-Dengler 2001 (Anm. 95), S. 36. Vgl. ebd., S. 36f. und 44f.
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Lesetext
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Sportmärchen
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Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
얍 I N H A LT S V E R Z E I C H N I S :
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 1
I. Sportmärchen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Der, Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite: 5 Der sichere Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Start und Ziel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8a Die drei Gesellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Das Sprungbrett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Der grosse und der kleine Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12a „Nur auf die Bindung kommt es an!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Der Fallschirm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Die beiden Magenschwinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Persönlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Sommer und Winter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Stafetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Aus einem Rennradfahrerfamilienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Begegnung in der Wand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Mauerhakenzwerge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 B
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Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Die Eispickelhexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Die Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Regatta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
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B
N
B
N
B N
5
얍 I I . D r e i S p o r t l e g e n d e n : B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B N Legende vom Fussballplatz B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B N Vom artigen Ringkämpfer B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B N Vom unartigen Ringkämpfer B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 29 34 36
N N
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 2
N N
10
III. Aus Leichtathletikland . (Historie mit Randbemerkung) B
N
B
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38–43. B
N
\Textverlust\ 15
20
얍 Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes
! k. o. !! k. o. !!! heulten grelle Plakate in die Stadt; und der eines überhörte, dem sprangen drei ins Gesicht: ! k. o. !! k. o. !!! Und nur ein einziges Zeitschriftlein wagte zu widersprechen; aus eines schwindsüchtigen Buchladens schmalbrüstiger Auslage wisperte sein fadenscheiniges Stimmlein: Harfenkonzert --- Harfenkonzert ---
25
30
35
Tausende gingen vorbei bis einer es hörte; und das war ein grauer grober Mann, der sogleich stehen blieb; auf seine niedere Stirne zogen finstere Falten und aus seiner Tasche quoll ein grosser gelber Zettel, den er knurrend auf das Fenster der Auslage klebte; und der Zettel brüllte bereits kaum die Scheibe berührend derart durchdringend, dass Männlein und Weiblein von weitumher zusammenliefen: ! k. o. !! k. o. !!! Da verstummte das Zeitschriftlein, denn nun schwand auch seine letzte Hoffnung; und in dem Schatten, den das tobende Plakat auf sein kleines Titelblatt warf, ward es sich klar, dass seine Sache im Sterben sei. Und es schlich aus der Auslage, riss sich in Stücke und erhängte sich an einem gewissen Orte. 1 1 2 2 3 4 5 6 6 7 7 8 8 11 11
] … f 25N ] B N] B… f 26N ] B… f 27N ] B N] B… f 28N ] B N] B… f 29N ] B N] B… f 34N ] B N] B… f 36N ] BL e i c h t a t h l e t i k l a n d N ] B… f 43.N ] B N B
gestrichen: \Berg/ vgl. D12
\ … f 25/ gestrichen: \Berg/ vgl. D12
\ … f 26/ \ … f 27/ gestrichen: (wenden!)
\ … f 28/ gestrichen: \Simpl./ vgl. D5
\ … f 29/ gestrichen: \B.Z.a.M./ vgl. D4
\ … f 34/ gestrichen: \Simpl./ vgl. D3
\ … f 36/ korrigiert aus: L e i c h t a t l e t i k l a n d
\ … f 43./
53
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 3
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Später, als man das dem lieben Gott mitteilte, da zuckte er die Achsel und meinte: „Hja, mein Gott ---“ 5
10
얍 Der sichere Stand
Einst kletterte ein Kletterer über einen berüchtigten ungemein brüchigen Grat empor --- und fürwahr! er war ein kühner Bursche: denn selbst von Zacken mit Zipperlein (die nur noch den erlösenden Rülps ersehnten um die Fahrt nach dem Friedhof tief unten im Kaar antreten zu können) rief er denen, die hinter ihm herkletterten, zu: „Kommt immer nur nach! Habe sicheren Stand!“ B
15
20
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 5
N
Und einmal hielt er sich gar nur mit zwei Fingerspitzen der linken Hand an einem kaum sichtbaren Griff, doch schon rollte er rasch mit der Rechten das Seil ein und schrie: „Sicherer Stand!“ --- da seufzte sein Griff und brach ab: kopfüber flog er aus der Mutterwand und mit ihm unser Kletterer, während ein scharfer Stein grinsend das Seil durchbiss --- --und erst nach gut fünfhundert Metern klatschte er wie eine reife Pflaume auf eine breite Geröllterrasse . Aber sterbend schrie er noch seinen Gefährten zu: „Nachkommen! Sicherer Stand!“ B
B
N
B
25
N
N
War das ein Optimist!! B
N
얍 Die Regel
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 33
Der Hochsprung und der Weitsprung waren Todfeinde . Das kam so: B
30
35
40
N
Der Hochsprung behauptete, Höhe sei im Leben das Erstrebenswerteste und benahm sich daher gegenüber dem Weitsprung wie ein arroganter Aristokrat. Der Weitsprung hingegen betonte bei jeder mehr oder minder geeigneten Gelegenheit, wohl sei Höhe ein schöner Faktor, jedoch man müsse auch vom Fleck kommen, wenn man die Dinge von der praktischen Seite aus betrachte, und das sei Pflicht des Staatsbürgers und --„Bitte“ unterbrach ihn der Hochsprung und führte ihn an einen Zaun, den er fast ohne Anlauf nur so überschwebte. Doch der Weitsprung versuchte gar nicht zu springen, sondern führte den Hochsprung an einen breiten Fluss --- und sein „Bitte“ tönte bereits vom anderen Ufer herüber.
11 20 21 22 25 29
KaarN ] grinsendN ] BnachN ] BGeröllterrasseN ] BOptimist!!N ] BTodfeindeN ] B B
gemeint ist: Kar TS17 [grinsend] schmunzelnd
|
\nach/ korrigiert aus: Geröllterasse korrigiert aus: Optimist !! korrigiert aus: todfeinde
54
|
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Der Hochsprung hätte ja nun auch stehen bleiben können, aber eben weil er Hochsprung hiess biss er die Zähne zusammen und schnellte sich in die Wolken empor --- Das war ein Sprung! --- doch da es nur Höhe war, stürzte er kopfüber in die Wogen; Stromschnellen sprangen über ihn, in seine Gurgel gurgelten Wirbel und der Grund ergriff ihn mit schlammigen Händen --- --- Erbärmlich ertrank der stolze Hochsprung. B N
5
10
Jedoch ein regelbegeisterter Zwerg, der zu selbiger Zeit an besag-얍tem Flussufer unter einem Farnkraute sass und Wasserflöhe fischte, hat mir erklärt, dass der Weitsprung ebenfalls ersoffen ist: logischerweise --- denn nach den Regeln aller Verbände gilt ein Weitsprung nur dann als vollbracht, wenn der ihn Ausführende beim Aufsprung im Stande geblieben ist. Und das war unser Weitsprung nicht. Also --??? B
15
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 34
N
얍 Start und Ziel
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 4
Manchmal plaudern Start und Ziel miteinander. B
N
Es sagt das Ziel: „Stände ich nicht hier --- wärest Du ziellos!“
20
Und der Start sagt: „Das ist schon richtig; doch denke: wäre ich ziellos --- was dann?“ 25
„Das wäre mein Tod.“ Da lächelt der Start: „Jaja --- so ist das Leben, Herr Vetter!“ 30
얍 Die drei Gesellen
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 36
Im Wirtshaus zum „Asketen Sport“ sassen in einer Ecken drei Gesellen beim Bier. B
N
35
40
„Ich trinke auf die Kraft!“ sprach der Eine mit Stentorstimme aus griechisch-römischem Brustkasten. „Ich trinke auf den harten Schlag!“ sprach der Zweite und unbewusster Weise ballten sich seine Hände zu Fäusten. „Ich trinke auf die Gewandtheit!“ sprach der Dritte, ein dürres Männlein mit gelben Schlitzaugen, der auf seinem Stuhle sass wie eine Schlange, die sich zwingt aufrecht zu tun.
3 12 18 34
] unserN ] BplaudernN ] BEckenN ] B N B
[(selbst der Gegner am anderen Ufer riss das Maul auf vor Staunen)] [dieser] |unser| [sprechen] |plaudern| gemeint ist: Ecke vermutlich bewusst gesetzte Dialektform
55
Fragmentarische Fassung
5
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Nachdem nun alle Drei getrunken haben, wollte ein Jeder den eigenen Trinkspruch mit Erläuterungen versehen --- leider: gleichzeitig. Denn da hörte ein Jeder nur sich selbst, was zur Folge hatte, dass Keiner den Anderen verstehen konnte, was wiederum zur Folge hatte, dass alle Drei in Wut gerieten. Und die Wut wuchs und wuchs bis zu pompöser Keilerei --- immer Einer gegen Zwei! Dazu benötigt man aber bekanntlich genau so viel Kraft, wie harten Schlag und Gewandtheit. B
N
Jedoch erst am nächsten Morgen brachte sie der Spiegel zu dieser Erkenntnis . Da sassen sie nun im Stübchen und schrieben in ihre Tagebücher mit gefühldurchdrungenen Lettern: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede unter den Sportlern auf Erden, sofern sie guten Willens sind!“ was heissen soll: „--- sofern sie dem Leben abgewandt bleiben.“ B
10
Lesetext
B
N
N
15
얍 Das Sprungbrett
20
25
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 38
Ein Sprungbrett ärgerte sich grün und gelb, da es ständig nur solch Gedanken spann: „Bei Poseidon! Es ist doch empörend, dass sich diese Springer nur dann in die Höhe schnellen können, wenn sie mich niederdrücken!“ Und an einem heissen Sommersonntagnachmittag riss ihm endlich die Geduld: als nun Einer, der es durch seine zahllosen Kopfsprünge am häufigsten gedemütigt hatte, zum Salto ansetzend es zum ixstenmal brutal hinabdrückte, brach es sich einfach selber ab. Dadurch fiel der Springer aber weder auf Hirn noch Hintern, sondern platschte auf seinen Bauch, der platzte. Da war er tot.
30
Sehr stolz ob dieser gewonnenen Schlacht wiegte sich nun das Sprungbrett auf den Wellen. Doch bald und unerbittlich kam die Erkenntnis , dass der Sieg wohl an der Form, nicht aber am Wesen seiner Lage eine Änderung brachte: denn nun wurde es eben als Balken von ermüdeten Schwimmern missbraucht, die sich auf ihm ausruhten indem sie es niederdrückten. B
35
N
Moral: Solange ein Sprungbrett das Schwimmen nicht verbieten kann, solange entgeht Keiner seinem Schicksaal ! B
N
40
5 8 14 32 39
B
[riesiger] |pompöser|
B
korrigiert aus: Erkenntniss korrigiert aus: „ --- sofern korrigiert aus: Erkenntniss gemeint ist: Schicksal
pompöserN ] ErkenntnisN ] B„--- sofernN ] BErkenntnisN ] BSchicksaalN ]
56
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Der grosse und der kleine Berg
5
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 15
Als einst der grosse Berg, der vor lauter Erhabenheit schon schneeweiss geworden war, dem kleinen Berge gebot: „Staune ob meiner Grösse!“ antwortete jener Felsenzwerg schnippisch nur dies: „Wieso?“
10
Da reckte sich der Riese und sein Scheitel berührte die Wolken, als stünde Goliath in einer niederen Bauernstube --- und durch seine drohende Stimme lief das Grollen der Lawinen: „Ich bin der Grössere!!“
15
Doch der kleine Berg liess sich nicht einschüchtern: „Aber ich bin der Stärkere!“ Wie lachte da der grosse Berg! B
20
Doch der Kleine wiederholte stolz: „Ich bin der Stärkere, denn ich bin der Schwierigere! Du wirst bei unseren Feinden, den Bergsteigerkreisen, nur als leicht belächelt, ich hingegen werde als sehr schwierig geachtet und gefürchtet. Mich ersteigen jährlich höchstens sieben! Und Dich --- ? Blättere nur mal nach in Deinem Gipfelbuch, dort steht der Unterschied unverfälschbar!“ B
25
N
N
Auf das sichere Auftreten des bisher (über die Achsel) Angesehenen 얍 hin wurd der Grosse doch etwas stutzig und blätterte stirnrunzelnd in seinem Gipfelbuche und --oh, Graus! 30
---: Namen, Namen, zehntausende! und was für Namen!! fünfjährige Kinder und achtzigjährige Lehrerinnen !! B
N
Er zitterte. 35
Da bröckelten Steine aus seiner Krone und wurden als Steinschlag eines Bergsteigers Tod, der wenn er seinen Namen in ein Gipfelbuch schrieb, immer nur dies dachte: „Berge! staunet ob meiner Grösse!“ 40
Und als dies der grosse Berg erfuhr, sagte er nur: „Wehe mir!“
18 23 32
Berg!N ] schwierigN ] BLehrerinnenN ] B B
korrigiert aus: Berg ! [schwer] |schwierig| korrigiert aus: Lehrerinen
57
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 16
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Was ist Bdas?N
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 17
Zwei Schwergewichte werden als Zwillinge geboren und hassen sich schon in der ersten Sekunde ihres Daseins. Aber nie reicht die Kraft, um den Anderen im freien Styl zu erwürgen, nie wirken die heimlich im Ring verabreichten Gifte genügend gefährlich und alle Schüsse aus dem Hinterhalt prallen von den zu Stein trainierten Muskelteilen (vom Gürtel aufwärts!) ab. B
5
B
B
N
B
10
N
N
N
Und so leben die Beiden neunzig Lenze lang. Aber eines Nachts schläft der Eine bei offengelassenem Fenster, hustet dann morgens und stirbt noch am selbigen Abend. B
15
N
Was ist das? B
N
Ein Punktsieg. 얍 „Nur auf die Bindung kommt es an!“
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 37
20
Es waren einmal zwei Schneeschuhläufer. B
N
Der Eine konnte hervorragend laufen, besass aber, da er sehr arm war, nur billigste Bindung auf schlechten Brettern. B
25
N
Der Andere konnte überhaupt nicht laufen, höchstens stehen, besass aber, da er sehr reich war, vorteilhafteste Bindung auf wundervollgeschwungenen Brettern. 30
Nun sprang der Arme über den Hügel so an die vierzig Meter, brach sich aber der vermaledeiten Bindung wegen den Knöchel. Der Reiche sah ihm dabei zu und dachte nicht daran zu springen; war vielmehr froh, dass er stand.
35
Und der Sachverständige sprach: „Nur auf die Bindung kommt es an!“
1 4 5 6 7 12 15 22 24
das?N ] als ZwillingeN ] BSekundeN ] BStylN ] BalleN ] Bbei offengelassenemN ] Bdas?N ] BSchneeschuhläufer.N ] Blaufen,N ] B B
korrigiert aus: das ? [zur gleichen Zeit] |als Zwillinge| TS17 [Sekunde] |Runde| gemeint ist: Stil alle[s] bei[m] offengelassene[n]|m| korrigiert aus: das ? [Skiläufer.] |Schneeschuhläufer.| korrigiert aus: laufen
58
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Der Fallschirm
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 43
Ein Fallschirm sprach zum Flieger, seinem Herrn: „Zahlst Du mir heut Abend wieder kein Glas Bier, so verschliesse ich mich, springst Du morgen aus dem Flugzeug, wie eine hartherzige Geliebte!“ B
5
B
N
N
Doch der Flieger lachte nur: „Du musst Dich öffnen mein Lieber, kenne Dich ja zu genau!“ B
N
10
Aber der Fallschirm fuhr fort: „Ich weiss, dass Du mich erfunden und erbaut, jedoch: hüte Dich! Denn folgst Du etwa Dessen Geboten, der Dich ersann? Beichtest Du, fastest Du --- ?“ Da erbleichte der Flieger, sein Mut erstarrte zu Angst und er lief zum Priester beichten und tat im Dom das feierliche Gelöbnis , dass er von nun ab jeden Freytag fasten werde.
15
B
N
B
N
Aber trotz all dem tötete ihn tags darauf sein Fallschirm: der hat seine Drohung verwirklicht --- weil er sich selber das Bier zahlen musste. B
20
N
얍 Die beiden Magenschwinger
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 39
Sowohl noch nie, als auch schon oft, habt Ihr folgende Geschichte gehört:
25
Es war einmal ein uralter Kampfrichter, der hatte in seinem Leben bereits derart Viele ausgezählt, dass, wenn man heute Alles zusammenzählte, dies sicherlich die Summe von über einer Million ergeben würde. 30
Zu diesem berühmten Salomo stürzte nun eines Morgens der einarmige Magenschwingerrechts, fuchtelte erregt mit seinem Vierunzenhandschuh und sprach voll ehrlicher Verzweiflung: 35
B
„Oh , Gott, was soll ich nur tun?! mein Bruder der Magenschwingerlinks wurd meineidig! beschwört, er besässe härtere Schlagkraft als ich!“ N
„So ist das ein Fehler im System!“ unterbrach ihn der Richter. „Rechts und links sollen gleich sein: dies ist heilig Wort!“ 40
„Wahr bleibt das Wort, denn wir sind gleich!“ 5 6 9 16 16 19 35
mich,N ] Flugzeug,N ] BmusstN ] BGelöbnisN ] BFreytagN ] BhatN ] B„OhN ] B B
mich\,/ Flugzeug\,/ [musst] |musst| korrigiert aus: Gelöbniss gemeint ist: Freitag hat[te] korrigiert aus: Oh
59
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
„Oh nein!“ lächelte weise der Greis. „Denn höre: wäret Ihr gleich, kämet Ihr Beide --oder auch: es würde mich Vetter Kinnhaken rufen um den Unglücklicheren auszuzählen. So aber seh ich: leider hat Dein Bruder recht: denn wäre er nicht der Stärkere, kämst Du auch nicht zu mir. Doch wie ich Euch kenne ---“ und dabei verbeugte er sich leicht --- „hast sicher Du den besseren Charakter!“ B
5
B
10
15
Lesetext
N
Tiefgerührt verliess Magenschwingerrechts den Richter und 얍 strafte von nun ab seinen Bruder mit Verachtung. N
Jedoch eines Sonntags vor dem Hochamt stellte ihn dieser ob seines blöden Benehmens, das sich ein Etwas in der Stellung eines Magenschwingerlinks unmöglich (selbst vom eigenen Vater) gefallen lassen durfte; und nachdem er ihm mit der unbehandschuhten Faust einige blaugrüne Flecken beigebracht hatte, war Magenschwingerrechts nicht nur mehr davon fest überzeugt, dass er selbst der weitaus Bessere, sondern auch, dass sein Bruder Magenschwingerlinks ein richtiger Verbrecher ist. 얍 Persönlichkeiten
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 44
B N
20
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 40
Ein Fesselballon lag in der Luft nicht allzuhoch und fühlte wie fest er mit der Erde verbunden und wusste auch, dass wenn diese Verbindung reissen sollte (was Gott behüten wolle!) er verloren wäre. Trotzdem betrachtete er mit stiller Zufriedenheit immerzu das selbe Stückchen Land; und da es eben nur ein Stückchen war, sah er auch oft lange in den Himmel.
25
Doch bald flog ein weisser Walfisch stolz an ihm vorbei: es war das lenkbare Luftschiff, das, weil es kein Tau mit Mutter Erde verband, in solch kurzer Zeit über solch verschiedene Länder flog, dass seine Augen vom vielen Nach-unten-schauen dem Himmel eben abgelenkt waren. 30
Ganz oben aber produzierte ein Flugzeug immerzu nur Sturzflüge und sah weder Himmel noch Erde --- denn es musste ja so sehr auf seinen Motor aufpassen. So erzählte mir dies tief unten am Teiche ein romantisches Rückenschwimmen. B
N
35
얍 Sommer und Winter
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 42
Sowohl noch nie, als auch schon oft habt Ihr folgende Geschichte gehört: 40
Ein Skisprunghügel aus Holz erbaut lebte auf einem regelrecht geneigtem Hange; es war Winter und er hörte tagtäglich entzückt: „Ist das ein prächtiger Sprunghügel!“
2 7 18 34
KinnhakenN ] TiefgerührtN ] B N] Bmir diesN ] B B
korrigiert aus: Kinnhacken korrigiert aus: Tiefgerührte gestrichen: \von Ödön von Horváth/
dies2 mir1
60
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Und weil er dies eben tagtäglich hörte wurd er grössenwahnsinnig und leugnete selbst entfernteste verwandtschaftliche Bande zu den rings um ihn kauernden Bäumchen, die traurig unter der Schneelast in sich gegangen waren. --B
5
N
Später aber schmolz der Schnee und die Bäumchen reckten und streckten sich wie ebenerwachte Katzenkinder und zogen ein gar wunderbar grünes Kleidchen an; nun wurde der Sprunghügel von niemandem mehr beachtet, sondern musste vielmehr tagtäglich hören: „Sind das liebliche Bäumchen!“
B N
B
B
N
N
10
Und als gar Einer sagte: „Sieh nur Tante Agathe, welch hässliche kahle Bretter! Wie die Alles verhunzen!“ da dachte er an Selbstmord. 15
Doch neues Leben zog in sein verzagendes hölzernes Herz, da Tante Agathe antwortete: „Wart nur auf den Winter!“ 얍 B StafettenN
20
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 18
Nur an der Schaltjahre Schalttagen treffen sich die Brüder Stafetten zu einem gemütlichem Plausch. B
N
Die Stafette von und zu Ski erzählt von korrekt verschneiten Tannenwäldern, drolligen Lawinenkindern, neckisch vereisten Stellen und störig verharschten Sprunghügeln. B
N
25
Die Stafette aus dem Stadion ergeht sich in Prophezeiungen über die Aussichten der guten und schlechten Starte anlässlich einer Nachricht über Möglichkeit der Abhaltung des jüngsten Gerichts und liest zwecks seelischer Gesundung mahnende Stellen aus dem Werke „Das ewige Übergeben“ vor. B
N
B
N
30
Die Schlittschuhstafette propagiert mit einem Temperament, das der Laie ihren eisgrünen Augen niemals zutraute, die Erbauung künstlicher Eisbahnen --- wegen der immer mehr zunehmenden Impotenz der Stadtwinter. B
N
B
35
B
N
B
N
N
Und die Schwimmstafette gibt Ergötzlichkeiten aus Wiesenbächen und Weltmeeren zum Besten ; unter Anderem, von einer neuentdeckten Sardinenart, für die der freie B
B
2 6 7 8 18 20 23 26 27 31 31 31 32 35 36
N
N
BandeN ] ] BniemandemN ] BtagtäglichN ] BStafettenN ] BStafettenN ] BStafetteN ] BStafetteN ] BStarteN ] BSchlittschuhstafetteN ] BTemperament,N ] BihrenN ] BAugenN ] BSchwimmstafetteN ] BBestenN ] B
B N
korrigiert aus: Band
[und] korrigiert aus: niemanden korrigiert aus: tagtälich
Stafet\t/en Stafe\t/ten Stafe\t/te Stafe\t/te Start[s]|e| Schlittschuhstafe\t/te Temperament\,/ TS17 ihre[n]|r| TS17 [Augen] |Hornbrille| Schwimmstafe\t/te korrigiert aus: Bessten
61
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Styl ein Buch mit sieben Siegeln sei, und von menschenfressenden träumerischen Tiefseelilien.
B
N
B
N
Zu all dem trinkt man köstlichen Café und raucht seinen Lieblingstabak. B
N
5
Kurzum: unvergessliche Stunden! 얍 Aus einem Rennradfahrerfamilienleben
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 24
10
Er überrundet bereits die sechste Nacht im Sportpalast --- und sein Endspurt zwingt den Zeitrichter die Lichtsekundenstoppuhr aus der Tasche zu ziehen! B
15
20
N
Inzwischen streitet zuhause seine Frau mit der Nachbarin: „Was? ich habe ein Rad zuviel? Ja --- gibt es denn ein Rad mit weniger als zwei Rädern?!“ Und was schreibt wohl dem Weihnachtsmann dieser Beider Kindlein, das fast auf einem Damenrade geboren wurde, wäre seine geistesgegenwärtige Mutter nicht noch im allerletzten Augenblicke abgesprungen? Es schreibt: „Du guter Weihnachtsmann gib, dass ich bald kann radfahren um häuslichen Herd rascher als Mond um Erd“
25
30
Dann schläft es ein und träumt, während Vater siegt und Mutter Reifen flickt, von Motorradelfen und dem Prinzesslein im Beiwagen; und von Kühlerkobolden auf Märchenkraftwägen und den sieben radfahrenden Geislein , Bremshexen und Übersetzungsschlänglein --B
35
얍 Begegnung in der Wand
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 25
Als einst der geübte Bergsteiger von einer stolzen Alpenzinne herabkletterte, begegnete er in der sich nach unten zu einem äusserst schwierigen Kamin verengenden plattigen Rinne dem ungeübten Bergsteiger. B
40
N
N
Der lag schon seit einigen Jahren an dieser Stelle. Kopfabwärts. Sein Rückgrat war gebrochen und lugte nun aus seiner Kehle wie eine schlechtsitzende Kravatte; da1 1 4 13 32 38
StylN ] SiegelnN ] BCaféN ] Baus f ziehen!N ] BGeisleinN ] BstolzenN ] B B
gemeint ist: Stil
Siegel\n/
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|
korrigiert aus: [Kaffee] Cafè TS17 [aus f ziehen!] zu zücken! gemeint ist: Geißlein TS17 [stolzen] hehren
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62
|
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
durch hing sein Schädel hinten herunter als hätt er den Hals vergessen. Statt Kleider flatterten im kühlen Bergwind nur Fetzen der Wickelgamaschen um seine Knochen, auf denen sich am relativ besten die Fleischteile über der Brust behaupteten. Und er besass nur mehr einen Arm, denn der Andere hatte bereits zu letztem Frühjahr seinen Rumpf verlassen und war nach unten in die finstere Randkluft geflogen. Das Fliegen hatte jener wahrscheinlich den Jochgeiern abgeguckt, denen die Augen seines Herrn seinerzeit als Leckerbissen mundeten. B
N
B
5
B
N B
N
N
B N
10
Da nun der geübte Bergsteiger neben diesem Wesen an der Wand klebte, sprach er nach kurzem Grusse: „Wenn ein Ungeübter mit solch Schuhzeug (geschweige denn Kletterschuhe) hier herunterklettert, obendrein allein, so hab ich kein Mitleid!“ „Verzeihen Sie ---“ erwiderte der ungeübte Bergsteiger „verzeihen Sie, dass als 얍 ich noch klein war über meinem Bette ein Gebirgsbild hing; denn seit jenen Jahren hört ich sie singen in mir: die Sehnsucht nach den blauen Bergen --- ohne jemals auch nur einen Hügel erblickt zu haben. Und dies war meine erste ---“ B
15
N
B
N
„Man merkts“ unterbrach ihn der Geübte und hielt sich die Nase zu. „Jaja!“ nickte die Leiche und lächelte leise. „Sichere Kletterer behalten immer Recht: es duftet nicht nach Hyazinthen --- jedoch ich hoffe Sie werden mir trotzdem einen Gefallen tun: wenn Sie auch kein Mitleid mit mir haben. Aber ich sehe: Sie sind geübt und gelangen daher wieder heil hinab ins Tal. Und ich bitte: wären Sie nicht so liebenswürdig diese Postkarte die ich bereits vor zwei Sommern an meine Mutter in Tilsit schrieb mitzunehmen und in einen Briefkasten zu befördern?“ B
20
25
B
N
„Warum nicht?“ „Warum ja? -- haben Sie Angst?“ „Geben Sie die Karte her!!“ schrie da der Sichere --- und kaum fühlte er sie in der Hand kletterte er fluchtartig, als drohten ihm Gewitterfinger, fort ohne Gruss von dem redseligen Leichnam. B
30
B
35
N
N
Doch dieser hat ihm noch freundlich nachgewunken mit seinem einen Arm: als er unten über den Ferner lief --- bis er verschwand: dort hinter dem Buckel wo die Hütte liegt im Tal, das schon ganz in Schatten versank. N
3 4 6 6 7 13 16 20 20 30 33 33 33
B
bestenN ] letztemN ] BhatteN ] BjenerN ] B N] BerwiderteN ] Berste ---“N ] Bdie LeicheN ] Bleise.N ] Bohne GrussN ] BDochN ] BihmN ] BeinenN ] B B
N
B
korrigiert aus: bessten korrigiert aus: letzt
hatt\e/ [er] |jener| [So ward die Leiche auch noch blind.] korrigiert aus: erwiederte korrigiert aus: erste --[der Tote] |die Leiche| korrigiert aus: leise \ohne Gruss/ [Aber] |Doch| korrigiert aus: ihn eine[m]|n|
63
N
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 26
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Und bald umrangen auch Nachtnebel grau die verlassenen Gipfel und 얍 die Dunkelheit hielt Hochzeit im stillen Kaar . Und irgendwo sang ein Salamander Ständchen --B
5
N
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 27
Da grub der ungeübte Bergsteiger aus einer Felsenspalte einen Führer hervor und las nach welch Wand oder Grat seiner blauen Berge er noch nicht erklettert hat. Denn die Nächte gehören den Abgestürzten. 얍 Die BMauerhakenzwergeN
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 28
10
Unzählbare Mauerhaken stecken in Spalten und Falten der Felsen. Auf diesen turnt in Neumondnächten ein gar lustiges Völklein: die Mauerhakenzwerge . B
N
B
15
N
Da machen sie Handstand und Purzelbaum und nie kugelt einer herunter, denn sie sind derart winzig leicht, dass sie in der Luft klettern, wie wir, beispielsweise, in einem Kamin. B
N
Aber am Tage bleiben sie unsichtbar und treiben mit den Bergsteigern harmlosen Ulk. So unter Anderem, wenn Einer klettert, kneiffen sie ihn in die Ohren oder krabbeln an seiner Nase, damit er sich kratzen muss; und kichern wenn er flucht. B
20
B
Gerät aber ein Gerechter in Lebensgefahr und finden seine zitternden Glieder weder Griff noch Tritt --- so schweben die Mauerhakenzwerge heran und schmiegen sich dort an die Wand, wo er gerade einen Griff oder Tritt erfleht: wie ein Bienenschwarm mit weissen wallenden Bärten unter Tarnkäppchen und lassen sich als Stufe benützen --- und der solch Stelle überwand wundert sich hernach selber wie dies nur möglich gewesen sei! B
25
30
N
N
N
B
N
Freilich: an die braven Mauerhakenzwerge denkt Keiner. B
N
Und es sind doch so sehr sympathische Leute! 얍 Die Eispickelhexe
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 29
35
Hoch droben in dem Lande in dem es weder Wälder noch Wiesen nur zerklüftete Eisäcker gibt, dort haust die Eispickelhexe.
2 9 12 13 15 19 20 24 24 30
KaarN ] MauerhakenzwergeN ] BMauerhakenN ] BMauerhakenzwergeN ] Bnie f einerN ] BharmlosenN ] BkneifenN ] BMauerhakenzwergeN ] BschmiegenN ] BMauerhakenzwergeN ] B B
gemeint ist: Kar Mauerha[c]kenzwerge korrigiert aus: Mauerhacken korrigiert aus: Mauerhackenzwerge [nie fällt einer] |nie f einer| \harmlosen/ [zwicken] |kneiffen| korrigiert aus: Mauerhackenzwerge [lehnen] [|pressen|] |schmiegen| korrigiert aus: Mauerhackenzwerge
64
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Statt den Zehen wuchsen ihr Pickelspitzen und ihre Zähne sind klein und aus blauem Stahl. Ihre Brüste sind mächtige Hängegletscher und --- trinkt sie Kaffee mit Gemsenblut, darf Niemand sie stören. Nicht einmal die Mauerhakenzwerge . B
5
N
Sie ist aller Eispickel Schutzpatronin. Drum in den Nächten auf den Hütten, wenn jene sich unbeobachtet meinen, schleichen sie aus den Schlafräumen ihrer Herrn: von den Haken herab, aus den Ecken heraus, unter den Bänken hervor --- unhörbar zur Türe hinaus. Dort knieen sie nieder und falten ihre Pickelschlingen und beten zum Schutzpatron um guten Schnee --B
N
B
10
N
얍 Die Beratung
15
20
25
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 30
Es war einmal ein Bergsteiger, der vernachlässigte in gar arger Weise seine Ausrüstung. Das liess sich diese aber nicht länger mehr gefallen und trat zusammen zur Beratung. Die Nagelschuhe fletschten grimmig die Zähne und forderten, da er sie ständig fettlos ernähre, seinen sofortigen Tod. Darin wurden sie vom Seil unterstützt. Die Kletterschuhe zeigten ihre offenen Wunden dem Rucksack, der noch etwas ungläubig tat, da er erst gestern aus dem Laden gekommen war, und erzählten ihm erbebend den jeglicher Zivilisation hohnsprechenden Martertod seines Vorgängers. Der Eispickel bohrte sich gehaltvoll bedächtig in den Boden und sprach: „Es muss anders werden!“ Und die Windjacke kreischte empört: „Er zieht mich sogar in der Stadt an!“ Endlich ward man sich einig über seinen Tod bei der nächsten Tour:
30
Die Windjacke sollte sich zuhause verstecken um überhaupt nicht dabei zu sein. Zuerst müssten dann die Nagelschuhe, vornehmlich mit ihren besonders spitzen Absatzzähnen, seine Fersen und Sohlen blutig beissen. Später in der Wand wird ihn der Rucksack aus dem Gleichgewicht bringen, wobei sich die Kletterschuhe aalglatt zu benehmen haben --- und sogleich wird der Pickel in seine Gedärme dringen und das Seil ihn mit einer Schlinge erwürgen.
35
Jedoch zu selbiger Zeit glitt der Bergsteiger auf der Strasse über eine Apfelsinenschale und brach sich das Bein. Und --- er würde sicher nicht mehr fluchen, dass er nun niemehr in die Berge kann, wüsste er von der Beratung.
3 7 8
B
korrigiert aus: Mauerhackenzwerge
B
MauerhakenzwergeN ] jeneN ] BHakenN ]
[diese] |jene| korrigiert aus: Hacken
65
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Regatta
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 11
Tausend Fähnlein flattern im Wind: regettete regattata
5
In hundert Segel speit der Wind: Huuuu --10
B
15
B
Einer wird Erster, Einer wird Letzter: Regatta! N
Einer ist munter: regattattatatararaaa!!!
N
Einer geht unter: r. 20
\Textverlust\
얍 Legende vom Fussballplatz
25
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 6
Es war einmal ein armer kleiner Bub, der war kaum sieben Jahre alt, aber schon loderte in ihm eine Leidenschaft: er liebte den Fussball über Alles. Bei jedem Wettspiel musst er dabei gewesen sein: ob Liberia gegen Haidhausen, ob Beludschistan gegen Neukölln --- immer lag er hinter einem der Tore im Grase ( meistens bereits lange vor Beginn) und verfolgte mit aufgerissenen runden Kinderaugen den mehr oder minder spannenden Kampf. Und wenn ein Spieler grob rempelte, ballten sich seine Händchen erregt zu Fäusten und mit gerunzelter Stirne fixierte er finster den Übeltäter. Doch wenn dann vielleicht gar gleich darauf des Schicksaals Laune (quasi als Racheakt) ein Goal schoss, so tanzte er begeistert und suchte strahlend all den Anderen, die um ihn herum applaudierten, ins Antlitz zu schauen. Die Anderen, die neben ihm lagen, waren ja meistens schon um ein oder zwei Jahre älter und andächtig horchte er, wenn sie sich in den ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken, die sie weiss Gott wo zusammengehört hatten, über die einzelnen Spieler und Clubs ergingen; ergriffen lauschte er trüben Weissagungen, bis ihn B
30
N
B
35
B
N
B
B
12 15 29–30 33 35 35 36 39 39
Regatta!N ] regattattatatararaaa!!!N ] BmeistensN ] BSchicksaalsN ] Bapplaudierten,N ] BDieN ] BmeistensN ] BergriffenN ] BihnN ] B B
N
B
N
N
N
B
korrigiert aus: Regatta ! korrigiert aus: regattattatatararaaa !!! korrigiert aus: meisstens Schicksaal[{a}] s gemeint ist: Schicksal
||
applaudierten\,/ TS17 Die\se/ korrigiert aus: meisstens [andächtig] |ergriffen| ih[m]|n|
66
N
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
wieder ein wunderbar vollendet geköpfter Ball mitriss , dass sein Herz noch höher flog wie der Ball. B
5
10
15
20
N
So sass er oft im nassen Grase. Stundenlang. Der Novemberwind schmiegte sich an seinen schmalen Rücken, als 얍 wollt er sich wärmen und hoch über dem Spielplatz zog die Fieberhexe ihre Raubvogelkreise.
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 7
Und als der Schlusspfiff verklungen war, da dämmerte es bereits; der kleine Bub lief noch einmal quer über das Feld und ging dann allein nach Hause. In den leeren Sonntagsstrassen war es ihm einigemale als hörte er Schritte hinter sich: als schliche ihm Jemand nach, der spionieren wolle, wo er wohne. Doch er wagte nicht umzuschauen und beneidete den Schutzmann der solch grosse Schritte machen konnte. Erst zuhause, vor dem hohen grauen Gebäude, in dem seine Eltern den Gemüseladen hatten, sah er sich endlich um: ob es vielleicht der dicke Karl ist mit dem er die Schulbank teilt und der ihn nie in Ruhe lässt --- aber es war nur ein dürres Blatt, das sich mühsam die Strasse dahinschleppte und sich einen Winkel suchte zum Sterben. B
N
Und am Abend in seinem Bette fror er trotz tiefroter Backen; und dann hustete er auch und es hob ihn vornüber, als haute ihm der dicke Karl mit der Faust in den Rücken. Nur wie durch einen Schleier sah er seiner Mutter Antlitz, die am Bettrande sass und ihn besorgt betrachtete; und er hörte auch Schritte im Zimmer, langsame, hin und her: das war Vater. B
N B
N
25
Der Nordwind hockte im Ofenrohr und zu seinem Gesumm fingen Regenbogen an einen Reigen um ihn zu tanzen. Er schloss die Augen. Da wurd es dunkel. Und still.
30
35
40
Doch nach Mitternacht wich plötzlich der Schlaf und feine Fingerknöchelchen klopften von aussen an die Fensterscheibe --- und er 얍 hörte seinen Namen rufen --„Hansl!“ rief eine sanfte Stimme --- „Hansl!“ Da erhob sich der kleine Bub aus seinem Bette, trug einen Stuhl vor das Fenster, erkletterte ihn und öffnete ---: draussen war tiefe stille Nacht; keine Trambahn läutete mehr und auch die Gaslaterne an der Ecke war schlafen gegangen und --- vor seinem Fenster im vierten Stock schwebte ein heller Engel; der ähnelte Jenem, welcher Grossvaters Gebetbuch als Spange umschloss, nur, dass er farbige Flügel hatte: der Linke blau und gelb: das waren die Farben des Fussballvereins von Oberhaching; der Rechte rosa und grün: das waren die Farben dessen von Unterhaching; seine schmalen Füsse staken in purpurnen Fussballschuhen; an silberner Sternenschnur hing um seinen Schwanenhals eine goldene Schiedsrichterpfeife und in den durchsichtigen Händen wiegte sich ein mattweisser Fussball. B
1 15 23 23 40
mitrissN ] dasN ] BZimmer,N ] Blangsame,N ] BstakenN ] B B
N
mit[ sich ]riss korrigiert aus: dass Zimmer\,/ langsam\e,/ korrigiert aus: stacken
67
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 8
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
„ Schau ---“ sprach der Engel --- „schau!“ und köpfte den Ball kerzengerade in die Höhe; der flog, flog --- bis er weit hinter der Milchstrasse verschwand. B
5
N
Dann reichte der Himmlische dem staunenden Hansl die Hand und lächelte: „Komm mit --- zum Fussballwettspiel ---“ BB
N
N
Und Hansl ging mit. Wortlos war er auf das Fensterbrett gestiegen und da er des Engels Hand ergrifwar es ihm als hätte es nie einen dicken Karl gegeben. Alles war vergessen, fen versank unter ihm in ewigen Tiefen --- und als die Beiden an der Milchstrasse vorbeischwebten fragte der kleine Bub: „Ist es noch weit?“ „Nein“ lächelte wieder der Engel „bald sind wir dort.“ 얍 Und weil Engel nie lügen leuchtete bald durch die Finsternis eine weisse rechteckige Fläche, auf die sie zuflogen. Anfangs glaubte Hansl es wäre nur ein Blatt unliniertes Papier, doch kaum, dass er dies gedacht hatte, erfasste sein Führer auch schon den Rand; nur noch ein Klimmzug --- und es war erreicht! B
N
B
N B N
10
15
20
25
B
N
Doch wie erstaunte da der kleine Bub! Aus dem Blatt unliniertem Papier ward eine grosse Wolke geworden, deren Oberfläche ein einziger herrlichangelegter Fussballplatz war; auf buntbewimpelten Tribünen sassen Zuschauer wie sie in solcher Zahl unser Kleiner noch bei keinem Wettspiel erlebt hatte. Und das ganze Publikum erhob sich zum Gruss und Aller Augen waren voll Güte auf ihn gerichtet, ja selbst der Aufseher, der ihn doch sonst immer sofort hinter das Tor in das nasse Gras trieb, führte ihn unter fortwährenden Bücklingen auf seinen Platz: Tribüne (!) Erste Reihe (!!) Mitte (!!!) B
N
B
N B
N
„Wie still nur all die Leute sind!“ meinte der kleine Bub. „Sehr recht, mein Herr“ lispelte der Aufseher untertänig „dies sind ja auch all die seligen Fussballwettspielzuschauer.“ B
N
B
N
30
Unten am Rasen losten die Parteien nun um die Sonne-im-Rücken-Seite und --- „das sind die Besten der seligen Fussballspieler“ hörte Hansl seinen Nachbar sagen; und als er ihn ansah nickte ihm dieser freundlich zu: da erkannte er in ihm jenen guten alten Herrn, der ihn einst (als Borneo gegen Alaska verlor) vor dem dicken Karl verteidigte; noch hielt er den Rohrstock in der Hand mit dem er dem Raufbold damals drohte. Wie der dann lief! B
35
1 5 5 8 8–9 9 10 25 25 25 28 28 32 32
N
B
Schau ---“N ] FussballwettspielN ] BFussballwettspiel ---“N ] BdaN ] BergriffenN ] B N] BalsN ] BTribüne (!)N ] BReihe (!!)N ] BMitte (!!!)N ] BjaN ] BseligenN ] BBestenN ] BseligenN ] B B
N
korrigiert aus: Schau --- “ Fussballwe\t/tspiel korrigiert aus: Fussballwettspiel --- “ [als] |da| ergriffen[,] [da] [da] |als| Tribüne \(/!\)/ korrigiert aus: Reihe \(/! !\)/ korrigiert aus: Mitte \(/! ! !\/) \ja/ se[e]ligen korrigiert aus: Bessten se[e]ligen
68
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 9
Fragmentarische Fassung
얍
5
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Unermessliche Seeligkeit erfüllte des armen kleinen Buben Herz. Das Spiel hatte begonnen um nimmermehr beendet zu werden und die Zweiundzwanzig spielten wie er noch nie spielen sah. Manchmal kam es zwar vor, dass der Eine oder Andere dem Balle einfach nachflog (es waren ja auch lauter Engel) doch da pfiff der Schiedsrichter (ein Erzengel) sogleich ab: wegen unfairer Kampfesweise. B
N
B
N
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 10
Das Wetter war herrlich. Etwas Sonne und kein Wind. Ein richtiges Fussballwetter . B
10
N
Seit dieser Zeit hat Niemand mehr den armen kleinen Buben auf einem irdischen Fussballplatze gesehen. B
N
얍 Vom artigen Ringkämpfer
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 7
B N
15
Manche Menschen besitzen das Pech zu spät geboren worden zu sein. Hätte zum Beispiel der Ringkämpfer, den dies Märlein des öfteren ringen sah, Sonne und Sterne nur tausend Jahre früher von der Erde aus erblickt, so wär er wahrscheinlich Begründer einer Dynastie geworden --- so aber wurd er nur: Weltmeister. B
N
20
Nichtsdestotrotz war er artig gegen Jedermann. Selbst gegen unartige Gegner, selbst gegen ungerechte Richter. Nie hörte man ihn murren --- er verbeugte sich höflich und rang bescheiden weiter; und legte Alles auf beide Schultern. 25
So ward er Beispiel und Ehrenmitglied Aller zu Vereinen zusammengeschlossenen tugendsamen Ringkämpfer . B
N
Eines Nachts nun (es war nach seinem berühmten Siege über den robusten kanibalensischen Herkules) setzte sich Satan in persona an sein Bett und sprach wie eine Mutter zu ihrem Kinde: B
N
30
35
„Ach, Du mein artiges zuckersüsses Würmchen, wenn Du mir folgst und den bösen Erzengel besiegst, so schenk ich Dir auch etwas Wunderwunderschönes!“ „Was denn?“ frug unser braver Ringkämpfer. „Die Welt!“ flüsterte Satan und stach mit dem Zeigefinger in die Luft. Doch da gähnte der artige Knabe: „Danke dafür --- bin ja bereits Weltmeister.“ Und drehte sich der Wand zu und schlief sogleich ein. Und im Traume hörte er 얍 die Engelein Beifall klatschen --B
40
1 1 7 10 14 19 25–26 28–29 38–70,3
B
gemeint ist: Seligkeit
B
SeeligkeitN ] armenN ] BFussballwetterN ] BirdischenN ] B N] Bnur:N ] Bzu f RingkämpferN ] BkanibalensischenN ] BUnd f April.N ]
\armen/ Fussballwet\t/er korrigiert aus: irrdischem gestrichen: \von Ödön von Horváth/ TS17/BS 62 c, Bl. 12 nur TS17/BS 62 c, Bl. 12 Ringkämpfer-Kongregationen gemeint ist: kannibalischen fehlt in TS17
69
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 8
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Satan aber kratze sich am Kahlkopf und war nahe daran zu flennen. So geschehen am ersten April. 5
10
15
얍 Vom unartigen Ringkämpfer
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 13
War das ein unartiger Ringkämpfer! Wie der kratzte, pfauchte, biss und schlug! Haare ausriss, Bein stellte und Finger brach (selbst wenn der Gegner nur seine Hälfte wog!) --- bei Gott! es war platterdings das unsportlichste Ungeheuer, das jemals die Matte entweihte! Und wie eitel er war! Sah über Alles hinweg (wohl weil sein kurzes Köpfchen kraft seines Corpus Alles überragte) und sprach nur mit dem Spiegel, vor dem er gar gerne, manchmal sogar schäkernd , seine Muskeln spielen liess. Und als er sieben Jahre unbesiegt blieb, schwor er schier jeden Eid, dass es vor ihm noch nie einen Weltmeister gegeben habe. B
N
B
20
N
N
Eines Abends nun kam er an einem alten Kloster vorbei, dessen Kirchlein sich einst einen Turm gebaut, wohl um des lieben Gottes Stimme besser erhören zu können. Und rings um das Zifferblatt auf seiner Stirne mahnten die Worte aus Stein: „Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“
25
Als dies der unartige Weltmeister las, da fuhr ihm die Schlange Übermut ganz in den Bauch und juckte ihn dortselbst derart, dass er mit seinen Riesenhänden das Türmlein um den Hals packte; und feist grinsend presste er dessen Kehle zu --- bis die Turmspitze 얍 entseelt herabhing, wie eines Erhängten Kopf in Zipfelmütze. B
N
30
Nach dieser Untat verschwand nun der starke Mann überaus befriedigt in dem Gasthof um die Ecke. Dort trank er roten und weissen Burgunderwein und liess die Päpstin der Amazonen hochleben --- denn dies war die einzige Frau die er schätzte. B
35
B
N
Und als er sie das siebenundsiebzigstemal hochleben liess, da ward er plötzlich von dem Verlangen nach jener Einsiedelei geplagt, von der die Sage geht, dass man sie meistens nur durch einen hinteren Ausgang erreichen kann. Dort schrieb er, während er sich entleerte, mit Kreide an die Wand: „Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“ B
40
N
N
Da traf ihn der Schlag. 17 18 29 32 32 37
B
[scg]|sch|äkernd
B
korrigiert aus: Eid korrigiert aus: erhängten TS17/BS 12 c, Bl. 14 Ecke, zum „Asketen Sport“. TS17/BS 12 c, Bl. 14 Ungarwein korrigiert aus: meisstens
schäkerndN ] Eid,N ] BErhängtenN ] BEcke.N ] BBurgunderweinN ] BmeistensN ]
70
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 52
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Ein unsichtbarer Weltmeister war eingetreten und legte den unartigen Ringkämpfer auf beide Schultern, obwohl er körperlich weit leichter war, denn er bestand ja nur aus Knochen --Aber er besass eine brillante Technik!! B
5
N B
N
\Textverlust\
10
얍 der Falter verschwand und die Nacht hob die dunkle Hand. Nun erst griff sich das „Lang“ an die Kniee (seinen Kopf) und machte kehrt --- doch wohin es sich auch wand, überall lagen Leichen der Riesenbäume.
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 32
Sechs Tage und sechs Nächte sass nun das „Lang“ gefangen auf Moos und spreizte verzweifelt die Zehen. Es war still --- nur ab und zu stöhnte ein sterbender Stamm. Und die Luft murmelte lau --15
In der siebenten Mitternacht (es war vor Angst bereits halbtot) rief eine helle Stimme: „Siehe, dort liegt eine tote Tanne! Gehe hin und befolge das Gebot, Du Auserkorener!“ Da senkte das Langstreckenlaufen gläubig die abgezehrten Zehen und rannte blind und bleich auf die dunkle Masse zu --- zwei Urhasen im Unterholz schrieen gellend auf, denn sie sahen es bereits mit gespaltenen Kniescheiben vermodern --- jedoch im allerletzten Augenblick hob ein beflügeltes weisses Wesen das „Lang“ über den toten Riesen und liess es drüben unversehrt zu Boden gleiten. Da falteten die beiden ungläubigen Urhasen die Ohren und lobpreisten laut die Allmacht; es war ja ein Wunder geschehen: Hochsprung ist erstanden! B
20
25
Wie unendliche Heuschreckenschwärme flog das Gerücht vom heiligen Hochsprung über die Welt und allüberall sang man Dankchoräle. Als aber kurze Zeit darauf auch das Kurzstreckenlaufen einen Hochsprung vollführte, glaubte niemand mehr an das Wunder. Und die folgende Generation glaubte überhaupt nichts mehr --- denn nun konnte ja Jeder schon vom dritten Lebensjahre ab hochspringen. Sogar aus dem Stande.
30
B
35
40
N
Da aber erzürnte der liebe Gott gar sehr ob der allgemeinen Gottlosig-얍keit und sprach zum Eis: „Eis, tust Du meinen Willen nicht, so geb ich Dir die Sonne zum Gemahl!“ Sogleich warf sich der Vater aller Winter auf den Bauch vor Gott; und gerade dort, wo er den Nabel trug, drehte sich die Erde. N
(--- und grimmige Kälte und grüner Frost erwählten die Erde zu ihren Brautbett und finstere Stürme triumphierten. Alles erstarb ohne verwesen zu dürfen. Es waren Bilder, wie sie grausiger kaum an Verfolgungswahn leidende Insassen der Hölle hätten malen können. B
5 5 19 33 42
brillanteN ] Technik!!N ] BabgezehrtenN ] BDa aberN ] BVerfolgungswahn leidendeN ] B B
korrigiert aus: brilliante korrigiert aus: Technik !!
\abgezehrten/ [Da] [|Nun|] |Da aber| korrigiert aus: verfolgungswahnleidende
71
N
ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 33
Fragmentarische Fassung
SM/TS1/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Die Wenigen, deren Blut nicht stillstand, hausten in Höhlen und weinten bittere Eiszapfen)
5
10
15
20
25
30
Und das Eis sprach zu Gott: „Ich werde Dein Wille , Herr!“ Und der Allgütige antwortete: „So stehe auf! Denn allein wenn Du so sagst, sind sie genügend gestraft!“ B
N
Kaum war das Wort verklungen schien die Sonne wieder auf die Erde und all die Eiszapfentränen schmolzen und bildeten mächtige Ströme --- überall; einmal sogar zwischen einem Liebespaar. So entstand der Weitsprung. Und selbst die reuigsten Sünder konnten nicht umhin fest zu fühlen, dass dies kein Wunder sei, sondern nur natürlich. Daher beantragten sie (eben weil es kein Wunder war) ein Weitsprungverbot . Aber eben weil es natürlich war blieb es immer nur beim Antrag. B
N
Erst bedeutend später verfertigte ein Geistvoller, der weder Gott noch Weib verehrte, einen Stab, mit dem der Hochsprung einen hoch- \Textverlust\ Randbemerkung zu Satz eins: Nur um der Wahrheit Willen soll corrigieret werden, was aus Bequemlichkeit der Ausdruckweise Überlieferung geworden war --- dass nämlich jener geniale Mensch von jenem Baume nicht heruntersprang, sondern bloss herunterfiel. Und selbst kopfunten warf er noch heulend Gebetbrocken an den Horizont: denn damals herrschte in unserem Geschlechte der Glaube, dass am Boden nicht zu leben sei. Als er aber ebendortselbst dank seines vortrefflichen Genickerbauers heil landete, staunte er zunächst stumm ob des nichteintretenden Todes. Doch bald verkündete er mit lauter Lunge seinen Brüdern und Schwestern, dass er heruntergesprungen sei. Dies war seine geniale Tat. Und begeistert sprangen ihm die Geschwister nach ins neue Land; in der alten Heimat gab es nämlich schon viel zu viel Menschen und viel zu wenig Äste. Freilich mit der neuen Heimat entdeckten sie auch nicht das Paradies: denn damals wimmelte es vor Drachen . Aber es waren ja bei dem Sprung aus dem Vaterlande nicht gerade Alle auf den Kopf gefallen: einige wussten Rat. Mit Steinen und spitzen Stämmen (den Ahnen von Diskos und Speer) rotteten sie die Ungeheuer 얍 mit Müh und Plag nach und nach aus. Aber nur so, durch Leid geläutert, konnte sich die Leichtathletik entfalten. Und das ist doch Fortschritt --- und uns Allen liegt auch nichts ferner als dies: jenem Mitmenschen die kleine Formlüge nicht verzeihen zu können.
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 46
B N
B
N
35
B
N
B
B
B N
5 15 31 32 32–33 33 35 36 39
WilleN ] WeitsprungverbotN ] B N] BdamalsN ] Bwimmelte f DrachenN ] BVaterlandeN ] BMühN ] BLeichtathletikN ] B N] B B
N B
Wille[n] Wei\t/sprungverbot [damals] [überall] |damals| TS17/BS 62 c, Bl. 34 herrschten noch Drachen Vaterland\e/ korrigiert aus: Mih korrigiert aus: Leichtatletik TS17/BS 62 c, Bl. 34 Juppiter Fürchtegott Weltrekordinhaber h. c.
72
N
N
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 47
Fassung
SM/TS3 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍BN I.
5
10
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 20
Wächtengleich droht des Herrn von Bindunghausen Burg dort droben auf jenem Sprunghügel, der trutzig verharscht in lawinenloser Landschaft wurzelt. B
N
Seht Ihr? --- rings gleiten die eisblauen Berge als das ideale Skigelände in den glattgefrorenen See, an dessen Gestaden Seehundfelle röhren; und nirgends findet der Wanderer Strassen, nur Bobbahnen und statt der Pfade Rodelbahnen --- und an so mancher stimmungsvollen Kurve mahnt zum inneren Bremsen ein Kreuz aus ungleichem Schneeschuhpaar.
15
Sanft überwölbt der silbergraue Himmel Bilder emsiger Arbeit: um dereinst magere Jahre zu mästen verspeichert sich heute die Pulverschnee-Ernte, dort drinnen, wo das Skifett sich konserviert, des Burgherrn pikanteste Delikatesse.
20
Und der Gemächer Wände verkünden aus grosser Zeit der Vorfahren Ruhm: da hängen Schneereifenschilde, Skistocklanzen und krumme Säbel aus Schlittschuhstahl. Und der Wappen derer von Bindunghausen spricht: „Nur auf die Bindung kommt es an!“ --- (Was aber angezweifelt werden kann) Wahrlich: ein bezaubernder Besitz!
25
30
II. Und immer noch staunt jenseits der Grate ein uralter Rabe, denn einst entschnellte sich dem Sprunghügel der Herr von Bindung-얍hausen mit solchem Schwung, dass er fast die Höchstleistung im Segelfluge überbot; und, weil er unüberlegterweise obendrein noch westwärts absprang, so kam es (da sich doch die Erde ostwärts dreht) dass er plötzlich überaus perplex auf den Philippinen landete, inmitten hungeriger Menschenfresser. Diese hätten ihn gar hurtig verschlungen, wäre unser Herr nicht schon lange ganz Ski geworden. Da man jedoch selbst als Kannibale nicht gerade Zahnstocher zu speisen pflegt, so liessen sie ihn wieder laufen. Es wäre ja auch zu schade gewesen! B
N
B
35
1
B N
]
gestrichen: Eintragung von fremder Hand: Vom wunderlichen Herrn v. Bindung-
hausen 5 33 34
lawinenloserN ] BKannibaleN ] BschadeN ] B
N
korrigiert aus: lavinenloser korrigiert aus: Kanibale korrigiert aus: Schade
73
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 21
Fassung
SM/TS3 (Korrekturschicht)
Lesetext
III.
5
Des Nachts, wenn am Hochgericht Sturm, Strick und Rad musicieren, besucht ihn die wilde Jagd --- und jedesmal wieder führt er die Gäste gerührt in jenen einfachen Anschnallraum, in welchem König Winter MLXXVII. das letztemal nächtigte, als er gen Süden zum Frühling nach Canossa zog.
IV. 10
Leitartikel las er nur schlittschuhlaufend: Bogen links, Bogen rechts, Dreier, Dreiersprung, sprungpung --- pung! da sass er am Hintern und rülpste, während tief im Teiche der Wassermann „Herein!“ rief. Denn man darf nicht aufhören zu hoffen. 15
Und wenns dämmerte zwinkerten unterm durchsichtigen Eise Nixlein aus den Schlingpflanzen: „Kleiner komm runter ---“. Selbe waren zwar recht kitschig, doch nichts Menschliches blieb ihm fremd. 얍 V.
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 22
20
Obzwar er durchaus kein Wüstling war, dürfte wohl seinem Geschlechtsleben auch der gebildete Laie Interesse entgegenbringen.
25
30
Wahrscheinlich weil er wintersportlich empfand, reizten ihn nur weibliche Schneemänner. Wie peinlich für ihn, falls es mal zu sehr fror, doch um wie viel peinlicher für die Frauen, wenn er mal zu sehr transpirierte! Seine angetraute Gemahlin war jene zweieinhalbmeter hohe nibelungenhaft herbe Erscheinung, die ihm bereits sieben rassereine Albinos gebar: bei roten Äuglein weiss an Haut und Haar. Mutter und Kinder stellten fürwahr malerische Familienbilder.
35
So, frönend seiner Gefrierfleischeslust, führte gar oft geile Intuition seine Finger und er formte am nahen Übungshügel Dicke, Dünne, Grosse, Kleine, Reife --- und selbst wenn Niemand hineinhauchte liess er das Haupt nicht sinken, obwohl er die Heiligen liebte. Aber nur jene heiligen Herren, die, wenn Schneeflocken fallen, sich Skier unter die blossen Sohlen binden.
40
VI.
B
N
Drum las er mit Liebe die Legende vom heiligen Franz. Dem war kein Hang zu steil, kein Hügel zu hoch, kein Holz zu dicht, kein Hindernis zu hinterlistig --- er lief und sprang und bremste derart meisterhaft, dass er nie seinen Heiligen-얍schein verbog. B
45
33 44
B B
frönendN ] HindernisN ]
korrigiert aus: fröhnend
Hinderni[{i}]|s|
74
N
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 23
Fassung
5
SM/TS3 (Korrekturschicht)
Lesetext
So glitt er durch winterliche Wälder. Es war still ringsum und --- eigentlich ist er noch keinem Menschen begegnet und auch keinem Reh. Nur eine verirrte Skispur erzählte einmal, sie habe ihn auf einer Lichtung stehen sehen, wo selbst er einer Gruppe Skihaserln predigte. Die sassen um ihn herum im tiefen Schnee, rot, grün, gelb, blau --- und spitzten andächtig die Ohren, wie er so sprach von unbefleckten Trokkenkursen im Kloster „zur guten Bindung“, von den alleinseligmachenden Stemmbögen, Umsprung-Ablässen und lauwarmen Telemarkeln. Und wie erschauerten die Skihaserln, da er losdonnerte wider gewisse +++ undogmatische Unterrichtsmethoden ! B
N
B
10
N
VII. 15
Weltberüchtigt war die grosse Kurve, die noch von Niemandem befriedigend bezwungen worden war. Dieselbe richtig zu nehmen, war des Herrn von Bindunghausen Lebensziel --- „dann erst“ so sprach er zu seinen Söhnen „kann ich ruhig sterben. Denn Leben heisst Kurven nehmen.“ --- --B
6–7 9–10 15
TrockenkursenN ] UnterrichtsmethodenN ] BNiemandemN ] B B
korrigiert aus: Trokenkursen korrigiert aus: Unterrichtsmetoden korrigiert aus: Niemanden
75
N
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
얍
B
Lesetext
To Lizy from {Masha} Rome May 22 1924
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. II
N
5
This book belongs to Felizia Seyd B
N
10
얍 Oh, könnt ich nur schreiben so sauber und rein Für mein buchstabierendes Lizulein! 얍
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 1
Legende vom Fussballplatz und diejenigen meiner Sportmärchen die wie ich glaube meinem Lizulein am meisten zusagen werden von all denen die ich für sie schrieb unter dem Titel: Sportmärchen und Verwandtes von ihrem Ödön.
15
20
25
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 2
얍 Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes.
30
! k. o. !! k. o. !!! heulten grelle Plakate in die Stadt; und der eines überhörte, dem sprangen drei ins Gesicht: ! k. o. !! k. o. !!! Und nur ein einziges Zeitschriftlein wagte zu widersprechen ; aus eines schwindsüchtigen Buchladens schmalbrüstiger Auslage wisperte sein fa-얍denscheiniges Stimmlein: Harfenkonzert – Harfenkonzert – B
35
40
N
Tausende gingen vorbei bis einer es hörte; und das war ein grober grauer Mann, der sogleich stehen blieb; auf seine niedere Stirne zogen finstere Falten und aus seiner Tasche quoll ein grosser gelber Zettel, den er knurrend auf das Fenster der Auslage klebte; und der Zettel brüllte bereits, kaum die Scheibe berührend, derart durch얍dringend, dass Männlein und Weiblein von weit umher zusammenliefen: ! k. o. !! k. o. !!!
45
1–3 6–7 34
To f 1924N ] This f SeydN ] BwidersprechenN ] B B
Eintragung von fremder Hand Eintragung von fremder Hand (Felizia Seyd) korrigiert aus: wiedersprechen
76
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 3
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 4
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 5
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
Da verstummte das Zeitschriftlein, denn nun schwand auch seine letzte Hoffnung; und in dem Schatten, den das tobende Plakat auf sein kleines Titelblatt warf, ward es sich klar, dass seine Sache im Sterben sei. Und es schlich aus der Auslage, riss sich 얍 in Stücke und erhängte sich an einem verschwiegenem Orte. B
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 6
5
Später, als man das dem lieben Gott mitteilte, da zuckte er die Achsel und meinte: „Hja, mein Gott –“ 10
얍
Der sichere Stand. Einst kletterte ein Kletterer über einen berüchtigten ungemein brüchigen Grat empor – und fürwahr! er war ein kühner Bursche! denn selbst von Zacken mit Zipperlein (die nur noch den erlösenden Rülps ersehnten um die Fahrt nach dem Friedhof tief unten im Kaar antreten zu 얍 können) rief er denen, die hinter ihm herkletterten, zu: „Kommt immer nur nach! Habe sicheren Stand!“
15
B
20
25
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 7
N
Und einmal hielt er sich gar nur mit zwei Fingerspitzen der linken Hand an einem kaum sichtbaren Griff, doch schon rollte er rasch mit der Rechten das Seil ein und schrie: „Sicherer Stand!“ – da seufzte sein Griff und brach ab: kopfüber flog er aus der Mutterwand und mit 얍 ihm unser Kletterer, während ein scharfer Stein grinsend das Seil durchbiss – – und erst nach gut 500 Metern klatschte er wie eine reife Pflaume auf eine breite Geröllterrasse . Aber sterbend schrie er noch seinen Gefährten zu: „Nachkommen! Sicherer Stand!“
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 8
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 9
B
N
War das ein Optimist!!
30
얍 35
40
Start und Ziel. Manchmal plaudern Start und Ziel miteinander. Es sagt das Ziel: „Stände ich nicht hier – wärest Du ziellos!“ Und der Start sagt: „Das ist schon richtig; doch denke: wäre ich ziellos – was dann?“ „Das wäre mein Tod.“ Da lächelt der Start: „Jaja – so ist das Leben, Herr Vetter!“
4 17 26–27
anN ] KaarN ] BGeröllterrasseN ] B B
korrigiert aus: am gemeint ist: Kar korrigiert aus: Geröllterasse
77
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 10
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
얍
Lesetext
Was ist das?
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 11
Zwei Schwergewichte werden als Zwillinge geboren und hassen sich schon in der ersten Sekunde ihres Daseins. Aber nie reicht die Kraft, um den Anderen im freien Styl zu erwürgen, nie wirken die heimlich im Ring verabreichten Gifte genügend gefährlich und alle Schüsse aus dem Hinterhalt prallen von den zu Stein trainierten Mus-얍kelteilen (vom Gürtel aufwärts!) ab.
5
B
N
B
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 12
Und so leben die Beiden neunzig Lenze lang.
10
Aber eines Nachts schläft der Eine bei offengelassenem Fenster, hustet dann morgens und stirbt noch am selbigen Abend. Was ist das?
15
Ein Punktsieg.
20
얍
Stafetten.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 13
Nur an der Schaltjahre Schalttagen treffen sich die Brüder Stafetten zu einem gemütlichen Plausch. 25
Die Stafette von und zu Ski erzählt von korrekt verschneiten Tannenwäldern, drolligen Lawinenkindern, neckisch vereisten Stellen und störig verharschten Sprunghügeln. B
30
Die Stafette aus dem Stadion ergeht sich in Prophezeiungen über die 얍 Aussichten der guten und schlechten Starte anlässlich einer Nachricht über Möglichkeit der Abhaltung des jüngsten Gerichts und liest zwecks seelischer Gesundung mahnende Stellen aus dem Werke „Das ewige Übergeben“ vor. B
B
35
40
N
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 14
N
Die Schlittschuhstafette propagiert mit einem Temperament, das der Laie ihren eisgrünen Augen niemals zutraute, die Erbauung künstlicher Eisbahnen – wegen der immer mehr zunehmenden Impotenz der Stadtwinter. 얍 Und die Schwimmstafette gibt Ergötzlichkeiten aus Wiesenbächen und Weltmeeren zum Besten; unter Anderem, von einer neuentdeckten Sardinenart, für die der freie B StylN ein Buch mit sieben Siegeln sei, und von menschenfressenden träumerischen Tiefseelilien. 6 7 27 30 33 41
B
gemeint ist: Stil
B
StylN ] zuN ] BverharschtenN ] BProphezeiungenN ] B„DasN ] BStylN ]
[{ }]|z|u korrigiert aus: verharrschten
[Proh] |Prophezeiungen| [{da}] |„Das| gemeint ist: Stil
78
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 15
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
Zu all dem trinkt man köstlichen Cafè und raucht seinen Lieblingstabak. B
N
Kurzum: unvergessliche Stunden! B
N
5
얍
Aus einem Rennradfahrerfamilienleben.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 16
Er überrundet bereits die sechste Nacht im Sportpalast --- und sein Endspurt zwingt den Zeitrichter die Lichtsekundenstoppuhr zu zücken!
10
B
N
Inzwischen streitet zuhause seine Frau mit der Nachbarin: „Was? ich habe ein Rad zuviel? – Ja – gibt es denn ein Rad mit weniger als zwei Rädern?!“
15
얍 Und was schreibt wohl dem Weihnachtsmann dieser Beider Kindlein, das fast auf einem Damenrade geboren wurde, wäre seine geistesgegenwärtige Mutter nicht noch im allerletzten Augenblicke abgesprungen?
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 17
20
Es schreibt: „Du guter Weihnachtsmann gib, dass ich bald kann radfahren um häuslichen Herd rascher als Mond um Erd.“
25
30
35
얍 Dann schläft es ein und träumt, während Vater siegt und Mutter Reifen flickt, von Motorradelfen und dem Prinzesslein im Beiwagen; und von Kühlerkobolden auf Märchenkraftwägen und den sieben radfahrenden BGeisleinN, Bremshexen und Übersetzungsschlänglein –
얍
Begegnung in der Wand.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 18
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 19
Als einst der geübte Bergsteiger von einer stolzen Alpenzinne herabkletterte, begegnete er in der sich nach unten zu einem äusserst schwierigen Kamin verengenden plattigen Rinne dem ungeübten Bergsteiger. 40
Der lag schon seit einigen Jahren an dieser Stelle. Kopf-얍abwärts. Sein Rückgrat war gebrochen und lugte nun aus seiner Kehle wie eine schlechtsitzende Kravatte; dadurch hing sein Schädel hinten herunter als hätt er den Hals vergessen. Statt Kleider
1 4 11 30
CafèN ] unvergesslicheN ] Bzu zücken!N ] BGeisleinN ] B B
gemeint ist: Café [unv] |unvergessliche| [aus der Tasche zu ziehen] |zu zücken!| gemeint ist: Geißlein
79
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 20
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
flatterten im kühlen Bergwind nur Fetzen der Wickelgamaschen um seine Knochen, auf denen sich am relativ besten die Fleischteile über der Brust behaupteten. Und er besass nur mehr einen Arm, 얍 denn der Andere hatte bereits zu letztem Frühjahr seinen Rumpf verlassen und war nach unten in die finstere Randkluft geflogen. Das Fliegen hatte jener wahrscheinlich den Jochgeiern abgeguckt, denen die Augen seines Herrn seinerzeit als Leckerbissen mundeten.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 21
Da nun der geübte Bergsteiger neben diesem Wesen an der Wand klebte, sprach er nach kurzem 얍 Grusse: „Wenn ein Ungeübter mit solch Schuhzeug (geschweige denn Kletterschuhe) hier herunterklettert, obendrein allein, so hab ich kein Mitleid!“
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 22
B
N
B
5
10
N
„Verzeihen Sie –“ erwiderte der ungeübte Bergsteiger „verzeihen Sie, dass als ich noch klein war über meinem Bette ein Gebirgsbild hing; denn seit jenen Jahren hört ich sie singen in mir: die Sehnsucht 얍 nach den blauen Bergen – ohne jemals auch nur einen Hügel erblickt zu haben. Und dies war meine erste –“ B
15
Lesetext
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 23
„Man merkts“ unterbrach ihn der Geübte und hielt sich die Nase zu. 20
„Jaja!“ nickte die Leiche und lächelte leise. „Sichere Kletterer behalten immer Recht : es duftet nicht nach Hyazinthen – jedoch ich hoffe, Sie werden mir trotzdem einen Gefallen tun: wenn Sie auch kein Mitleid 얍 mit mir haben. Aber ich sehe: Sie sind geübt und gelangen daher wieder heil hinab ins Tal. Und ich bitte: wären Sie nicht so liebenswürdig diese Postkarte, die ich bereits vor zwei Sommern an meine Mutter in Tilsit schrieb, mitzunehmen und in einen Briefkasten zu befördern?“ „Warum nicht?“ „Warum ja? – haben Sie Angst?“ „Geben Sie die Karte her!!“ schrie 얍 da der Sichere – und kaum fühlte er sie in der Hand, kletterte er fluchtartig, als drohten ihm Gewitterfinger, fort ohne Gruss von dem redseligen Leichnam. B
B
25
30
N
N
B
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 25
Doch dieser hat ihm noch freundlich nachgewunken mit seinem einen Arm: als er unten über den Ferner lief – bis er verschwand: dort hinter dem Buckel wo die Hütte liegt im Tal, das schon ganz in Schatten versank. B
35
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 24
N
얍 Und bald umrangen auch Nachtnebel grau die verlassenen Gipfel und die Dunkelheit hielt Hochzeit im stillen BKaarN. Und irgendwo sang ein Salamander Ständchen –
2 3 13 20 21 25 34 38
bestenN ] letztemN ] BerwiderteN ] Bleise.N ] BRechtN ] BzuN ] BBuckelN ] BKaarN ] B B
korrigiert aus: bessten korrigiert aus: letzt korrigiert aus: erwiederte korrigiert aus: leise
[{Rec}] |Recht| eingefügt
Buckel[,] gemeint ist: Kar
80
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 26
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
Da grub der ungeübte Bergsteiger aus einer Felsenspalte einen Führer hervor und las nach welch Wand oder Grat seiner blauen Berge er noch nicht erklettert hat. B
N
Denn die Nächte gehören den Abgestürzten. 5
얍
Die Mauerhakenzwerge . B
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 27
Unzählbare Mauerhaken stecken in Spalten und Falten der Felsen. Auf diesen turnt in Neumondnächten ein gar lustiges Völklein: die Mauerhakenzwerge . B
N
B
10
N
Da machen sie Handstand und Purzelbaum und nie kugelt einer herunter, denn sie sind derart winzig leicht, dass sie in der Luft 얍 klettern, wie wir, beispielsweise, in einem Kamin.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 28
15
Aber am Tage bleiben sie unsichtbar und treiben mit den Bergsteigern harmlosen Ulk. So unter Anderem, wenn Einer klettert, kneiffen sie ihn in die Ohren oder krabbeln an seiner Nase, damit er sich kratzen muss; und kichern wenn er flucht. B
N
Gerät aber ein Gerechter in Lebens-얍gefahr und finden seine zitternden Glieder weder Griff noch Tritt – so schweben die Mauerhakenzwerge heran und schmiegen sich dort an die Wand, wo er gerade einen Griff oder Tritt erfleht: wie ein Bienenschwarm mit weissen wallenden Bärten unter Tarnkäppchen und lassen sich als Stufe benützen – und der solch Stelle überwand, wundert sich hernach selber, wie dies nur möglich 얍 gewesen sei!
20
B
25
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 29
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 30
Freilich: an die braven Mauerhakenzwerge denkt Keiner. B
N
Und es sind doch so sehr sympathische Leute! 30
얍
Die Eispickelhexe.
35
Hoch droben in dem Lande, in dem es weder Wälder noch Wiesen nur zerklüftete Eisäcker gibt, dort haust die Eispickelhexe.
1 7 9 10 17 21 27
B
gr[{ }]|u|b
B
korrigiert aus: Mauerhackenzwerge korrigiert aus: Mauerhacken korrigiert aus: Mauerhackenzwerge gemeint ist: kneifen korrigiert aus: Mauerhackenzwerge korrigiert aus: Mauerhackenzwerge
grubN ] MauerhakenzwergeN ] BMauerhakenN ] BMauerhakenzwergeN ] BkneiffenN ] BMauerhakenzwergeN ] BMauerhakenzwergeN ]
81
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 31
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
Statt den Zehen wuchsen ihr Pickelspitzen und ihre Zähne sind klein und aus blauem Stahl. Ihre Brüste sind mächtige Hängegletscher und – trinkt sie Cafè mit Gemsenblut, darf Niemand sie stören. Nicht einmal die Mauerhakenzwerge . B
B
5
N
N
얍 Sie ist aller Eispickel Schutzpatronin.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 32
Drum in den Nächten auf den Hütten, wenn jene sich unbeobachtet meinen, schleichen sie aus den Schlafräumen ihrer Herrn: von den Haken herab, aus den Ecken heraus, unter den Bänken hervor – unhörbar zur Türe hinaus. Dort knieen sie nieder und falten ihre Pickelschlingen und beten zum Schutzpatron um guten Schnee – B
10
얍
N
Die Beratung.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 33
15
Es war einmal ein Bergsteiger, der vernachlässigte in gar arger Weise seine Ausrüstung. Das liess sich diese aber nicht länger mehr gefallen und trat zusammen zur Beratung. B
20
N
Die Nagelschuhe fletschten grimmig die Zähne und forderten, da er sie ständig fettlos ernähre, seinen sofortigen Tod. Darin wurden sie vom Seil unterstützt. Die Kletterschuhe 얍 zeigten ihre offenen Wunden dem Rucksack, der noch etwas ungläubig tat, da er erst gestern aus dem Laden gekommen war, und erzählten ihm erbebend den jeglicher Zivilisation hohnsprechenden Martertod seines Vorgängers. Der Eispickel bohrte sich gehaltvoll bedächtig in den Boden und sprach: „Es muss anders werden!“ Und die Windjacke kreischte empört: „Er zieht mich sogar in der Stadt an!“ B
25
N
얍 Endlich ward man sich einig über seinen Tod bei der nächsten Tour: 30
35
Die Windjacke sollte sich zuhause verstecken um überhaupt nicht dabei zu sein. Zuerst müssten dann die Nagelschuhe, vornehmlich mit ihren besonders spitzen Absatzzähnen, seine Fersen und Sohlen blutig beissen. Später in der Wand wird ihn der Rucksack aus dem Gleichgewicht bringen, wobei sich die Kletter-얍schuhe aalglatt zu benehmen haben – und sogleich wird der Pickel in seine Gedärme dringen und das Seil ihn mit einer Schlinge erwürgen. Jedoch zu selbiger Zeit glitt der Bergsteiger auf der Strasse über eine Apfelsinenschale und brach sich das Bein. Und – er würde sicher nicht mehr fluchen, dass er nun niemehr in die Berge kann, wüsste er von der Beratung.
40
2 3 8 16 21
CafèN ] MauerhakenzwergeN ] BHakenN ] BvernachlässigteN ] BsieN ] B B
gemeint ist: Café korrigiert aus: Mauerhackenzwerge korrigiert aus: Hacken korrigiert aus: Vernachlässigte
[{ }] |sie|
82
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 34
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 35
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 36
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
얍
5
Lesetext
Legende vom Fussballplatz.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 37
Es war einmal ein armer, kleiner Bub, der war kaum sieben Jahre alt, aber schon loderte in ihm eine Leidenschaft: er liebte den Fussball über Alles. Bei jedem Wettspiel musst er dabei gewesen sein: ob Liberia gegen Haidhausen, ob Beludschistan gegen Neukölln – immer lag er hinter einem der Tore im Grase ( meistens bereits lange vor Beginn) und verfolgte mit 얍 aufgerissenen runden Kinderaugen den mehr oder minder spannenden Kampf. Und wenn ein Spieler grob rempelte, ballten sich seine Händchen erregt zu Fäusten und mit gerunzelter Stirne fixierte er finster den Übeltäter. Doch wenn dann vielleicht gar gleich darauf des Schicksaals Laune (quasi als Racheakt) ein Goal schoss, so tanzte er begeistert und suchte strahlend all den Anderen, die um ihn herum applaudierten, ins 얍 Antlitz zu schauen. Die Anderen, die neben ihm lagen, waren ja meistens schon um ein oder zwei Jahre älter und andächtig horchte er, wenn sie sich in den ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken, die sie weiss Gott wo zusammengehört hatten, über die einzelnen Spieler und Clubs ergingen; ergriffen lauschte er trüben Weissagungen, bis ihn wieder ein wunderbar vollendet geköpfter Ball mitriss, dass sein Herz noch höher flog, wie der Ball. B
N
10
B
15
N
B
B
20
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 38
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 39
N
얍 So sass er oft im nassen Grase. Stundenlang. Der Novemberwind schmiegte sich an seinen schmalen Rücken, als wollt er sich wärmen und hoch über dem Spielplatz zog die Fieberhexe ihre Raubvogelkreise.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 40
25
Und als der Schlusspfiff verklungen war, da dämmerte es bereits; der kleine Bub lief noch einmal quer über das Feld und ging dann allein nach Hause. In den leeren Sonntagsstrassen war es ihm einigemale als hörte er Schritte hinter sich: als schliche ihm Jemand nach, der 얍 spionieren wolle, wo er wohne. Doch er wagte nicht umzuschauen und beneidete den Schutzmann, der solch grosse Schritte machen konnte. Erst zuhause, vor dem hohen, grauen Gebäude, in dem seine Eltern den Gemüseladen hatten, sah er sich endlich um: ob es vielleicht der dicke Karl ist mit dem er die Schulbank teilt und der ihn nie in Ruhe lässt – aber es war nur ein dürres Blatt, das sich mühsam die Strasse dahinschleppte und sich einen Winkel suchte zum Sterben. B
30
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 41
35
얍 Und am Abend in seinem Bette fror er BtrotzN tiefroter Backen; und dann hustete er auch und es hob ihn vornüber, als haute ihm der dicke Karl mit der Faust in den Rücken. 40
Nur wie durch einen Schleier sah er seiner Mutter Antlitz , die am Bettrande sass und ihn besorgt betrachtete; und er hörte auch Schritte im Zimmer, langsame, hin und her: das war Vater. B
8–9 13 15 17 28 36 40
meistensN ] SchicksaalsN ] BmeistensN ] BhochdeutschenN ] BSonntagsstrassenN ] BtrotzN ] BAntlitzN ] B B
korrigiert aus: meisstens gemeint ist: Schicksal korrigiert aus: meisstens
\hochdeutschen/ korrigiert aus: Sonntagstrassen
tro\t/z Antli[z]|tz|
83
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 42
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
Der Nordwind hockte im Ofenrohr und zu seinem Gesumm fingen Regenbogen an einen Reigen um ihn zu tanzen. Er 얍 schloss die Augen. Da wurd es dunkel. Und still. 5
10
15
Doch nach Mitternacht wich plötzlich der Schlaf und feine Fingerknöchelchen klopften von aussen an die Fensterscheibe – und er hörte seinen Namen rufen – „Hansl!“ rief eine sanfte Stimme – „Hansl!“ Da erhob sich der kleine Bub aus seinem Bette, trug einen Stuhl vor das Fenster, erkletterte ihn und öffnete –: draussen war tiefe stille Nacht; keine Trambahn läutete mehr und auch die Gaslaterne an der Ecke war schlafen gegangen und – 얍 vor seinem Fenster im vierten Stock schwebte ein heller Engel; der ähnelte Jenem, welcher Grossvaters Gebetbuch als Spange umschloss, nur, dass er farbige Flügel hatte: der Linke blau und gelb: das waren die Farben des Fussballvereins von Oberhaching; der Rechte rosa und grün: das waren die Farben dessen von Unterhaching; seine schmalen Füsse staken in purpurnen Fussballschuhen, an silberner Sternenschnur hing um seinen Schwanenhals eine goldene Schiedsrichterpfeife und in den durchsichtigen Händen wiegte sich ein mattweisser Fussball. B
20
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 43
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 44
N
얍 „Schau –“ sprach der Engel – „schau!“ und köpfte den Ball kerzengerade in die Höhe; der flog, flog – bis er weit hinter der Milchstrasse verschwand.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 45
Dann reichte der Himmlische dem staunenden Hansl die Hand und lächelte: „Komm mit – zum Fussballwettspiel –“ 25
30
35
40
45
Und Hansl ging mit. Wortlos war er auf das Fensterbrett gestiegen und da er des Engels Hand ergriffen, war es ihm als hätte es nie einen dicken Karl gegeben. Alles war vergessen, versank unter ihm in ewigen Tiefen – 얍 und als die Beiden an der Milchstrasse vorbeischwebten, fragte der kleine Bub: „Ist es noch weit?“
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 46
„Nein“ lächelte wieder der Engel „bald sind wir dort.“ Und weil Engel nie lügen leuchtete bald durch die Finsternis eine weisse rechteckige Fläche, auf die sie zuflogen. Anfangs glaubte Hansl es wäre nur ein Blatt unliniertes Papier, doch kaum, dass er dies gedacht hatte, erfasste sein Führer auch schon den Rand; nur noch ein Klimmzug – und es war erreicht! 얍 Doch wie erstaunte da der kleine Bub! Aus dem Blatt unliniertem Papier ward eine grosse Wolke geworden, deren Oberfläche ein einziger herrlichangelegter BFussballplatzN war; auf buntbewimpelten Tribünen sassen Zuschauer wie sie in solcher Zahl unser Kleiner noch bei keinem Wettspiel erlebt hatte. Und das ganze Publikum erhob sich zum Gruss und Aller Augen waren voll Güte auf ihn gerichtet, ja selbst der Aufseher, der ihn doch sonst immer sofort hinter das Tor in das nasse Gras trieb, führte ihn unter 얍 fortwährenden Bücklingen auf seinen BPlatzN: Tribüne (!) Erste Reihe (!!) Mitte (!!!) 16 39–40 44
stakenN ] FussballplatzN ] BPlatzN ] B B
korrigiert aus: stacken Fussballpla[{z}]|tz| Pla[{z}]|tz|
84
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 47
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 48
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
„Wie still nur all die Leute sind!“ meinte der kleine Bub. „Sehr recht, mein Herr“ lispelte der Aufseher untertänig „dies sind ja auch all die seligen Fussballwettspielzuschauer.“ 5
Unten am Rasen losten die Parteien nun um die Sonne-im-Rücken-Seite und – „das sind die Besten der seligen Fussballspieler“ hörte Hansl seinen Nachbar sagen; und als er ihn ansah nickte ihm dieser freundlich zu: da erkannte er in ihm jenen guten alten Herrn, der ihn einst (als Borneo gegen Alaska 얍 verlor) vor dem dicken Karl verteidigte; noch hielt er den Rohrstock in der Hand mit dem er dem Raufbold damals drohte. Wie der dann lief! B
10
N
Unermessliche Seeligkeit erfüllte des armen kleinen Buben Herz. Das Spiel hatte begonnen um nimmermehr beendet zu werden und die Zweiundzwanzig spielten, wie er noch nie spielen sah. Manchmal kam es zwar vor, dass der Eine oder Andere dem Balle einfach nachflog (es waren ja auch lauter Engel) doch da pfiff der Schieds얍richter (ein Erzengel) sogleich ab: wegen unfairer Kampfesweise. B
15
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 49
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 50
Das Wetter war herrlich. Etwas Sonne und kein Wind. Ein richtiges Fussballwetter. 20
Seit dieser Zeit hat niemand mehr den armen kleinen Buben auf einem irdischen Fussballplatze gesehen. B
N
25
얍
30
Vom unartigen Ringkämpfer.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 51
War das ein unartiger Ringkämpfer! Wie der kratzte, pfauchte, biss und schlug! Haare ausriss, Bein stellte und Finger brach (selbst wenn der Gegner nur seine Hälfte wog) – bei Gott! es war platterdings das unsportlichste Ungeheuer, das jemals die Matte entweihte! B
N
35
Und wie eitel er war! Sah über Alles hinweg (wohl weil sein kurzes Köpfchen kraft seines Corpus Alles 얍 überragte) und sprach nur mit dem Spiegel, vor dem er gar gerne, manchmal sogar schäkernd, seine Muskeln spielen liess. Und als er sieben Jahre unbesiegt blieb, schwor er schier jeden Eid, dass es vor ihm noch nie einen Weltmeister gegeben habe.
40
Eines Abends nun kam er an einem alten Kloster vorbei, dessen Kirchlein sich einst einen Turm gebaut, wohl um des lieben Gottes Stimme besser erhören zu können. Und rings um das Zif-얍ferblatt auf seiner Stirne mahnten die Worte aus Stein: B
7 13 21 30 40
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 52
N
BestenN ] SeeligkeitN ] BirdischenN ] BHälfteN ] Beinen TurmN ] B B
korrigiert aus: Bessten gemeint ist: Seligkeit korrigiert aus: irrdischem
Hälf[{ }]|te| \einen Turm/
85
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 53
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
„Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“ Als dies der unartige Weltmeister las, da fuhr ihm die Schlange Übermut ganz in den Bauch und juckte ihn dortselbst derart, dass er mit seinen Riesenhänden das Türmlein um den Hals packte; und feist grinsend presste er dessen Kehle zu – bis die Turmspitze entseelt herabhing, wie eines Erhängten Kopf in Zipfelmütze.
5
B
10
N
얍 Nach dieser Untat verschwand nun der starke Mann überaus befriedigt in dem Gasthof um die Ecke. Dort trank er roten und weissen Burgunderwein und liess die Päpstin der Amazonen hochleben – denn dies war die einzige Frau, die er schätzte.
Und als er sie das siebenundsiebzigstemal hochleben liess, da ward er plötzlich von dem Verlangen nach jener Einsiedelei geplagt, von der die Sage geht, dass man sie meistens 얍 nur durch einen hinteren Ausgang erreichen kann. Dort schrieb er, während er sich entleerte, mit Kreide an die Wand: „Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“
B
15
N
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 54
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 55
Da traf ihn der Schlag.
20
Ein unsichtbarer Weltmeister war eingetreten und legte den unartigen Ringkämpfer auf beide Schultern, obwohl er körperlich weit leichter war, denn er bestand ja nur aus Knochen – 25
Aber er besass eine brillante Technik!! 얍
Persönlichkeiten.
30
35
Ein Fesselballon lag in der Luft, nicht allzuhoch, und fühlte wie fest er mit der Erde verbunden und wusste auch, dass, wenn diese Verbindung reissen sollte, (was Gott behüten wolle!) er verloren wäre. Trotzdem betrachtete er mit stiller Zufriedenheit immerzu das selbe Stückchen Land; und da es eben nur ein Stückchen war, sah er auch oft lange in den Himmel.
40
얍 Doch bald flog ein weisser Walfisch stolz an ihm vorbei: es war das lenkbare Luftschiff, das, weil es kein Tau mit Mutter Erde verband, in solch kurzer Zeit über solch verschiedene Länder flog, dass seine Augen vom vielen Nach-unten-schauen dem Himmel eben abgelenkt waren.
B
N
Ganz oben aber produzierte ein Flugzeug immerzu nur Sturzflüge und sah weder Himmel noch Erde 얍 – denn es musste ja so sehr auf seinen Motor aufpassen.
7 15 31
TurmspitzeN ] meistensN ] BLuft,N ] B B
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 56
Turmspi[{ }]|tz|e korrigiert aus: meisstens Luft\,/
86
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 57
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 58
Fassung
SM/TS15 (Korrekturschicht)
Lesetext
So erzählte mir dies tief unten am Teiche ein romantisches Rückenschwimmen.
5
얍
10
15
Regatta.
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 59
Tausend Fähnlein flattern im Wind: regettete regattata In hundert Segel speit der Wind: Huuuu – Einer wird Erster, Einer wird Letzter: Regatta! Einer ist munter: regattattatatararaaa!!! Einer geht unter: r.
20
얍 Geschrieben zu Murnau im Jahre des Heils 1924 im Monate BSeptember.N Dieses Buch wurde in einem Exemplar auf ff. Bütten, in Leder gebunden, und vom Autor signiert, hergestellt.
No 1.
25
Ödön v Horváth
21
B
September.N ]
[Okto] |September.|
87
ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 60
Fassung (Das Sprungbrett)
SM/TS19 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Das Sprungbrett B von Ödön von Horváth.N
5
10
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 35
Ein Sprungbrett ärgerte sich grün und gelb, da es ständig nur solch Gedanken spann: „Bei Poseidon! Es ist doch empörend, dass sich diese Springer nur dann in die Höhe schnellen können, wenn sie mich niederdrücken!“ Und an einem heissen Sommersonntagnachmittag riss ihm endlich die Geduld: als nun Einer, der es durch seine zahllosen Kopfsprünge am häufigsten gedemütigt hatte, zum Salto ansetzend es zum ixstenmal brutal hinabdrückte, brach es sich einfach selber ab. Dadurch fiel der Springer aber weder auf Hirn noch Hintern, sondern platschte auf seinen Bauch, der platzte. Da war er tot.
15
Sehr stolz ob dieser gewonnenen Schlacht wiegte sich nun das Sprungbrett auf den Wellen. Doch bald und unerbittlich kam die Erkenntnis , dass der Sieg wohl an der Form, nicht aber am Wesen seiner Lage eine Änderung brachte: denn nun wurd es eben von ermüdeten Schwimmern als Balken missbraucht , die sich auf ihm ausruhten indem sie es niederdrückten. B
N
B
N
20
Moral: Solange ein Sprungbrett das Schwimmen nicht verbieten kann, solange entgeht Keiner seinem Schicksaal ! B
N
25
(Was nur ein romantisches Rückenschwimmen bestritt)
2 17 18–19 24
B
\von f Horváth./
B
von f Horváth.N ] ErkenntnisN ] Beben f missbrauchtN ] BSchicksaalN ]
korrigiert aus: Erkenntniss
eben1 als5 Balken6 von2 ermüdeten3 Schwimmern4 missbraucht7 gemeint ist: Schicksal
88
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 BS P O RT M Ä R C H E N N
5
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 58
von Ödön von Horváth . B
N
B N
얍 Was es alles gibt:
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 30
10
15
Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes Start und Ziel Die Regel Legende vom Fussballplatz Regatta Vom artigen Ringkämpfer Vom unartigen Ringkämpfer Fünf alpine Märchen: Begegnung in der Wand/ Die Beratung/ Der sichere Stand/ Die Eispickelhexe/ Die Mauerhakenzwerge . Was ist das? Stafetten. Rechts und links. Aus einem Rennradfahrerfamilienleben. Wintersportlegendchen. Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen. Über das Meer. Was das romantische Rückenschwimmen erzählt. Aus Leichtathletikland . (Historie mit Randbemerkung) B
20
25
B
N B
N
B
N
B
N
N
B
N
30
얍 Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes
! K. o. !! k. o. !!! heulten grelle Plakate in die Stadt; und der eines überhörte, dem sprangen drei ins Gesicht: ! k. o. !! k. o. !!! B
35
1 5 7 19 19 19 20 20 29 34 34
N B
N
SPORTMÄRCHENN] HorváthN ] B N] BDieN ] BDerN ] BDieN ] BDieN ] BMauerhakenzwergeN ] BLeichtathletiklandN ] BK. o. !!N ] Bk. o. !!!N ] B B
korrigiert aus: S P O R T M Ä R C H E N
Horv[a]|á|th gestrichen: \(unvollständig)/ korrigiert aus: die korrigiert aus: der korrigiert aus: die korrigiert aus: die korrigiert aus: Mauerhackenzwerge korrigiert aus: Leichtatletikland korrigiert aus: K.[,] . o[,] . !! korrigiert aus: k.o.!!!
||
89
||
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 31
Endfassung
5
10
15
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
Und nur ein einziges Zeitschriftlein wagte zu widersprechen; aus eines schwindsüchtigen Buchladens schmalbrüstiger Auslage wisperte sein fadenscheiniges Stimmlein: Harfenkonzert --- Harfenkonzert --Tausende gingen vorbei, bis einer es hörte; und das war ein grauer grober Mann, der sogleich stehen blieb; auf seine niedere Stirne zogen finstere Falten, und aus seiner Tasche quoll ein grosser gelber Zettel, den er knurrend auf das Fenster der Auslage klebte; und der Zettel brüllte bereits, kaum die Scheibe berührend, derart durchdringend, dass Männlein und Weiblein von weitumher zusammenliefen: ! k. o. !! k. o. !!! Da verstummte das Zeitschriftlein, denn nun schwand auch seine letzte Hoffnung; und in dem Schatten, den das tobende Plakat auf sein kleines Titelblatt warf, ward es sich klar, dass seine Sache im Sterben sei. Und es schlich aus der Auslage, riss sich in Stücke und erhängte sich an einem gewissen Orte. Später, als man das dem lieben Gott mitteilte, da zuckte er die Achsel und meinte: „Tja, mein Gott --- --- “ B
N
얍 Start und Ziel
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 32
20
25
Manchmal plaudern Start und Ziel miteinander. Da sagt das Ziel: „Stände ich nicht hier --- wärest Du ziellos!“ Und der Start sagt: „Das ist schon richtig; doch denke: wäre ich ziellos -- was dann?“ „Das wäre mein Tod.“ Da lächelt der Start: „Jaja --- so ist das Leben, Herr Vetter!“
30
얍 Die Regel
35
40
45
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 23
Der Hochsprung und der Weitsprung waren Todfeinde. Das kam so: Der Hochsprung behauptete, Höhe sei im Leben das Erstrebenswerteste und benahm sich daher gegenüber dem Weitsprung wie ein arroganter Aristokrat. Der Weitsprung hingegen betonte, wohl sei Höhe ein schöner Faktor, jedoch man müsse auch vom Flecke kommen, wenn man die Dinge von der praktischen Seite aus betrachte, und das sei Pflicht des Staatsbürgers und --„Bitte!“ unterbrach ihn der Hochsprung und führte ihn an einen Zaun, den er fast ohne Anlauf nur so überschwebte. Doch der Weitsprung versuchte gar nicht zu springen, sondern führte den Hochsprung an einen breiten Fluss --- und sein „Bitte!“ tönte bereits vom anderen Ufer herüber. Der Hochsprung hätte ja nun auch stehen bleiben können, aber eben weil er Hochsprung hiess biss er die Zähne zusammen und schnellte sich in die Wolken empor --- das war ein Sprung! Doch da es nur Höhe war, stürzte er kopfüber in die Wo10
B
! k.N ]
korrigiert aus: !k.
90
Endfassung
5
10
15
20
25
30
40
45
Lesetext
gen; Stromschnellen sprangen über ihn und der Grund ergriff ihn mit schlammigen Fingern. Erbärmlich ersoff der Stolze. Jedoch ein regelbegeisterter Jurist, der zu selbiger Stund an besagtem Flussufer unter einem Farnkraute sass und Wasserflöhe fischte, hat mir erklärt, dass der Weitsprung ebenfalls ersoffen ist: logischerweise --- denn nach den Regeln aller Verbände gilt ein Weitsprung nur dann als vollbracht, wenn der ihn Ausführende beim Aufsprung im Stande geblieben ist. Und das war unser Weitsprung nicht. Also. 얍 Legende vom Fussballplatz
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 60
Es war einmal ein armer kleiner Bub, der war kaum sieben Jahre alt, aber schon loderte in ihm eine Leidenschaft: er liebte den Fussball über alles. Bei jedem Wettspiel musste er dabei gewesen sein: ob Liberia gegen Haidhausen, ob Belutschistan gegen Neukölln --- immer lag er hinter einem der Tore im Grase (meistens bereits lange vor Beginn) und verfolgte mit aufgerissenen runden Kinderaugen den mehr oder minder spannenden Kampf. Und wenn ein Spieler grob rempelte, ballten sich seine Händchen erregt zu Fäusten, und mit gerunzelter Stirne fixierte er finster den Übeltäter. Doch wenn dann vielleicht gar gleich darauf des Schicksals Laune (quasi als Racheakt) ein Goal schoss, so tanzte er begeistert und suchte strahlend all den anderen, die um ihn herum applaudierten, ins Antlitz zu schauen. Die Anderen, die neben ihm lagen, waren ja meistens schon um ein oder zwei Jahre älter, und andächtig horchte er, wenn sie sich in den ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken, die sie weiss Gott wo zusammengehört hatten, über die einzelnen Spieler und Klubs ergingen; ergriffen lauschte er trüben Weissagungen, bis ihn wieder ein wunderbar vollendet geköpfter Ball mitriss, dass sein Herz noch höher flog wie der Ball. So sass er oft im nassen Grase. Stundenlang. Der Novemberwind schmiegte sich an seinen schmalen Rücken, als wollte er sich wärmen, und hoch über dem Spielplatz zog die Fieberhexe ihre Raubvogelkreise. Und als der Schlusspfiff verklungen war, da dämmerte es bereits; 얍 der kleine Bub lief noch einmal quer über das Feld und ging dann allein nach Hause. In den leeren Sonntagsstrassen war es ihm einige Male, als hörte er Schritte hinter sich: als schliche ihm jemand nach, der spionieren wolle, wo er wohne. Doch er wagte nicht umzuschauen und beneidete den Schutzmann, der solch grosse Schritte machen konnte. Erst zuhause, vor dem hohen grauen Gebäude, in dem seine Eltern den Gemüseladen hatten, sah er sich endlich um: ob es vielleicht der dicke Karl ist, mit dem er die Schulbank teilt und der ihn nie in Ruhe lässt --- aber es war nur ein dürres Blatt, das sich mühsam die Strasse dahinschleppte und sich einen Winkel suchte zum Sterben. Und am Abend in seinem Bette fror er trotz tiefroter Backen; und dann hustete er auch und es hob ihn vornüber, als haute ihm der dicke Karl mit der Faust in den Rücken. Nur wie durch einen Schleier sah er seiner Mutter Antlitz, die am Bettrande sass und ihn besorgt betrachtete; und er hörte auch Schritte im Zimmer, langsame, hin und her: das war Vater. B
35
SM/TS20 (Korrekturschicht)
34
B
jemandN ]
N
korrigiert aus: Jemand
91
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 61
Endfassung
5
10
15
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Der Nordwind hockte im Ofenrohr, und zu seinem Gesumm fingen Regenbogen an einen Reigen um ihn zu tanzen. Er schloss die Augen. Da wurde es dunkel. Und still. Doch nach Mitternacht wich plötzlich der Schlaf, und feine Fingerknöchelchen klopften von aussen an die Fensterscheibe --- und er hörte seinen Namen rufen --„Hans!“ rief eine sanfte Stimme --- „Hans!“ Da erhob er sich aus seinem Bette, trug einen Stuhl vor das Fenster, erkletterte ihn und öffnete ---: draussen war tiefe stille Nacht; keine Trambahn läutete mehr, und auch die Gaslaterne an der Ecke war schlafen gegangen, und --- vor seinem Fenster im vierten Stock schwebte ein heller Engel; der ähnelte jenem, welcher Grossvaters Gebetbuch als Spange umschloss, nur, dass er 얍 farbige Flügel hatte: der linke blau und gelb: das waren die Farben des Fussballvereins von Oberhaching; der rechte rosa und grün: das waren die Farben dessen von Unterhaching; seine schmalen Füsse staken in purpurnen Fussballschuhen; an silberner Sternenschnur hing um seinen Schwanenhals eine goldene Schiedsrichterpfeife, und in den durchsichtigen Händen wiegte sich ein mattweisser Fussball. „ Schau“, sprach der Engel, „schau!“ und köpfte den Ball kerzengerade in die Höhe; der flog, flog --- bis er weit hinter der Milchstrasse verschwand. Dann reichte der Himmlische dem staunenden Hans die Hand und lächelte: „Komm mit --- zum Fussballwettspiel ---“ Und Hans ging mit. Wortlos war er auf das Fensterbrett gestiegen, und da er des Engels Hand ergriffen, war es ihm, als hätte es nie einen dicken Karl gegeben. Alles war vergessen, versank unter ihm in ewigen Tiefen --- und als die beiden an der Milchstrasse vorbeischwebten, fragte der kleine Bub: „Ist es noch weit?“ „ Nein“, lächelte wieder der Engel, „bald sind wir dort.“ Und weil Engel nie lügen, leuchtete bald durch die Finsternis eine weisse rechteckige Fläche, auf die sie zuflogen. Anfangs glaubte Hans, es wäre nur ein Blatt unliniertes Papier, doch kaum, dass er dies gedacht hatte, erfasste sein Führer auch schon den Rand; nur noch ein Klimmzug --- und es war erreicht! Doch wie erstaunte da der kleine Bub! Aus dem Blatt unliniertem Papier war eine grosse Wolke geworden, deren Oberfläche ein einziger herrlich angelegter Fussballplatz war; auf buntbewimpelten Tribünen sassen Zuschauer, wie sie in solcher Zahl unser Kleiner noch bei keinem Wettspiel erlebt hatte. Und das ganze Publikum erhob sich zum Gruss, und aller Augen 얍 waren voll Güte auf ihn gerichtet; ja selbst der Aufseher, der ihn doch sonst immer sofort hinter das Tor in das nasse Gras trieb, führte ihn unter fortwährenden Bücklingen auf seinen Platz: Tribüne (!) Erste Reihe (!!) Mitte (!!!) „Wie still nur all die Leute sind!“ meinte der kleine Bub. „Sehr recht, mein Herr“, lispelte der Aufseher untertänig, „dies sind ja auch all die seligen Fussballwettspielzuschauer.“ Unten am Rasen losten die Parteien nun um die Sonne-im-Rücken-Seite und --„das sind die Besten der seligen Fussballspieler“ hörte Hans seinen Nachbar sagen; und als er ihn ansah, nickte ihm dieser freundlich zu: da erkannte er in ihm jenen guten alten Herrn, der ihn einst (als Borneo II gegen Alaska verlor) vor dem dicken Karl B
20
25
30
35
40
Lesetext
ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 62
N
B
N
B
N
16 25 25 39
B
Schau“,N ] Nein“,N ] BEngel, „baldN ] BHerr“,N ] B
B
N
korrigiert aus: Schau,“ korrigiert aus: Nein,“ korrigiert aus: Engel,„bald korrigiert aus: Herr,“
92
ÖLA 3/W 184 – BS 62 b [1], Bl. 9
Endfassung
5
10
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
verteidigte; noch hielt er den Rohrstock in der Hand, mit dem er dem Raufbold damals drohte. Wie der dann lief! Unermessliche Seligkeit erfüllte des armen kleinen Buben Herz. Das Spiel hatte begonnen, um nimmermehr beendet zu werden, und die Zweiundzwanzig spielten, wie er noch nie spielen sah. Manchmal kam es zwar vor, dass der eine oder andere dem Balle einfach nachflog (es waren ja auch lauter Engel), doch da pfiff der Schiedsrichter (ein Erzengel) sogleich ab: wegen unfairer Kampfesweise. Das Wetter war herrlich. Etwas Sonne und kein Wind. Ein richtiges Fussballwetter. Seit dieser Zeit hat niemand mehr den armen kleinen Buben auf einem irdischen Fussballplatze gesehen. 얍 Regatta
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 6
15
Tausend Fähnlein flattern im Wind: regettete regattata
20
In hundert Segel speit der Wind: Huuu --Einer wird Erster, Einer wird Letzter: Regatta!
25
Einer ist munter: regattattatararaaa!!! Einer geht unter: r.
30
얍 Vom artigen Ringkämpfer
35
40
ÖLA 3/W 184 – BS 62 b [1], Bl. 11
Manche Menschen besitzen das Pech, zu spät geboren worden zu sein. Hätte zum Beispiel der Ringkämpfer, den dies Märlein des öfteren ringen sah, Sonne und Sterne nur tausend Jahre früher von der Erde aus erblickt, so wäre er wahrscheinlich Begründer einer Dynastie geworden --- so aber wurde er nur Weltmeister. Nichtsdestotrotz war er artig gegen jedermann. Selbst gegen unartige Gegner, selbst gegen ungerechte Richter. Nie hörte man ihn murren --- er verbeugte sich höflich und rang bescheiden weiter; und legte alles auf beide Schultern. So ward er Beispiel und Ehrenmitglied aller zu Vereinen zusammengeschlossenen staatserhaltenden Ringkämpfer. Eines Nachts nun, es war nach seinem berühmten Siege über den robusten, kannibalensischen Herkules, setzte sich Satan in persona an sein Bett und sprach wie eine Mutter zu ihrem Kinde: B
N
N
45
42 43–44
B B
staatserhaltendenN ] kannibalensischenN ]
[tugendsamen] |staatserhaltenden| gemeint ist: kannibalischen
93
Endfassung
5
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
„Ach, Du mein artiges, zuckersüsses Würmchen, wenn Du mir folgst und den bösen Erzengel besiegst, so schenke ich Dir auch etwas Wunderwunderschönes!“ „Was denn?“ frug unser braver Ringkämpfer. „Die Welt!“ flüsterte Satan und stach mit dem Zeigefinger in die Luft. Doch da gähnte der artige Knabe: „Danke dafür --- bin ja bereits Weltmeister.“ 얍 Vom unartigen Ringkämpfer
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 8
10
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War das ein unartiger Ringkämpfer! Wie der kratzte, pfauchte, biss und schlug! Haare ausriss, Bein stellte und Finger brach (selbst wenn der Gegner nur seine Hälfte wog!) --- bei Gott! es war platterdings das unsportlichste Ungeheuer, das jemals die Matte entweihte! Und wie eitel er war! Sah über alles hinweg (wohl weil sein kurzes Köpfchen kraft seines Korpus alles überragte) und sprach nur mit dem Spiegel, vor dem er gar gerne, manchmal sogar schäkernd, seine Muskeln spielen liess. Und als er sieben Jahre unbesiegt blieb, schwor er schier jeden Eid, dass es vor ihm noch nie einen Weltmeister gegeben habe. Eines abends nun kam er an einem alten Kloster vorbei, dessen Kirchlein sich einst einen Turm gebaut, wohl um des lieben Gottes Stimme besser erhören zu können. Und rings um das Zifferblatt auf seiner Stirne mahnten die Worte aus Stein: „Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“ Kaum las dies der unartige Weltmeister, fuhr ihm auch schon die Schlange Übermut ganz in den Bauch und juckte ihn dortselbst derart, dass er mit seinen Riesenhänden das Türmlein um den Hals packte; und feist grinsend presste er dessen Kehle zu --- bis die Turmspitze entseelt herabhing, wie eines Erhängten Kopf in Zipfelmütze. Nach dieser Untat verschwand nun der starke Mann überaus befriedigt in dem Gasthof um die Ecke. Dort trank er roten und weissen Burgunderwein und liess die Päpstin der Amazonen hochleben --- denn dies war die einzige Frau, die er schätzte. Und als er sie das siebenundsiebzigste Mal hochleben liess, da ward er plötzlich 얍 von dem Verlangen nach jener Einsiedelei geplagt, von der die Sage geht, dass man sie meistens nur durch einen hinteren Ausgang erreichen kann. Dort schrieb er, während er sich entleerte, mit Kreide an die Wand: „Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“ Da traf ihn der Schlag. Ein unsichtbarer Weltmeister war eingetreten und legte den unartigen Ringkämpfer auf beide Schultern, obwohl er körperlich weit leichter war, denn er bestand ja nur aus Knochen --Aber er besass eine brillante Technik!
45
94
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 9
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Fünf alpine Märchen.
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 10
Begegnung in der Wand. 5
10
Als einst der geübte Bergsteiger von einer stolzen Alpenzinne herabkletterte, begegnete er in der sich nach unten zu einem äusserst schwierigen Kamin verengenden plattigen Rinne dem ungeübten Bergsteiger. Der lag schon seit einigen Jahren an dieser Stelle. Kopfabwärts. Sein Rückgrat war gebrochen und lugte nun aus seiner Kehle wie eine schlechtsitzende Kravatte; dadurch hing sein Schädel hinten herunter als hätt er den Hals vergessen. Statt Kleider flatterten im kühlen Bergwind nur Fetzen der Wickelgamaschen um seine Knochen, auf denen sich am relativ besten die Fleischteile über der Brust behaupteten. Und er besass nur mehr einen Arm, denn der andere hatte bereits zu letztem Frühjahr seinen Rumpf verlassen und war nach unten in die finstere Randkluft geflogen. Das Fliegen hatte jener wahrscheinlich den Jochgeiern abgeguckt, denen die Augen seines Herrn seinerzeit als Leckerbissen mundeten. Da nun der geübte Bergsteiger neben diesem Wesen an der Wand klebte, sprach er nach kurzem Grusse: „Wenn ein Ungeübter mit solch Schuhzeug (geschweige denn Kletterschuhe) hier herunterklettert, obendrein allein, so hab ich kein Mitleid!“ „Verzeihen Sie ---“ erwiderte der ungeübte Bergsteiger „verzeihen Sie, dass als ich noch klein war über meinem Bette ein Gebirgsbild hing; denn seit jenen Jahren hört ich sie singen in mir: die Sehnsucht nach den blauen Bergen --- ohne jemals auch nur einen Hügel erblickt zu haben. Und dies war meine erste ---“ „Man merkts“ unterbrach ihn der Geübte und hielt sich die Nase zu. 얍 „ Jaja“, nickte die Leiche und lächelte leise. „Sichere Kletterer behalten immer Recht: es duftet nicht nach Hyazinthen --- jedoch ich hoffe, Sie werden mir trotzdem einen Gefallen tun, wenn Sie auch kein Mitleid mit mir haben; aber ich sehe, Sie sind geübt und gelangen daher wieder heil hinab ins Tal, und ich bitte: wären Sie nicht so liebenswürdig diese Postkarte, die ich bereits vor zwei Sommern an meine Mutter in Tilsit schrieb, mitzunehmen und in einen Briefkasten zu befördern?“ „Warum nicht?“ „Warum ja? -- haben Sie Angst?“ „Geben Sie die Karte her!!“ schrie da der Sichere --- und kaum fühlte er sie in der Hand kletterte er fluchtartig, als drohten ihm Gewitterfinger, fort ohne Gruss von dem redseligen Leichnam. Doch dieser hat ihm noch freundlich nachgewunken mit seinem einem Arm, als er unten über den Ferner lief --- bis er verschwand: dort hinter dem Buckel wo die Hütte liegt im Tal, das schon ganz in Schatten versank. B
N
B
15
20
B
25
B
30
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N
B
B
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B
40
13 14 22 27 32 34 38
bestenN ] letztemN ] BerwiderteN ] BJaja“,N ] BzuN ] Bja?N ] BdieserN ] B B
N
N
N
korrigiert aus: bessten korrigiert aus: letzt korrigiert aus: erwiederte korrigiert aus: Jaja,“ eingefügt korrigiert aus: ja?“ korrigiert aus: Dieser
95
N
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 11
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Und bald umrangen auch Nachtnebel grau die verlassenen Gipfel und die Dunkelheit hielt Hochzeit im stillen Kaar . Und irgendwo sang ein Salamander Ständchen. Da grub der ungeübte Bergsteiger aus einer Felsenspalte einen Führer hervor und las nach welch Wand oder Grat seiner blauen Berge er noch nicht erklettert hat. Denn die Nächte gehören den Abgestürzten. B
5
Lesetext
N
Die Beratung. 10
15
Es war einmal ein Bergsteiger, der vernachlässigte in gar arger Weise seine Ausrüstung. Das liess sich diese aber nicht länger 얍 mehr gefallen und trat zusammen zur Beratung. Die Nagelschuhe fletschten grimmig die Zähne und forderten, da er sie ständig fettlos ernähre, seinen sofortigen Tod. Darin wurden sie vom Seil unterstützt. Die Kletterschuhe zeigten ihre offenen Wunden dem Rucksack, der noch etwas ungläubig tat, da er erst gestern aus dem Laden gekommen war, und erzählten ihm erbebend den jeglicher Zivilisation hohnsprechenden Martertod seines Vorgängers. Der Eispickel bohrte sich gehaltvoll bedächtig in den Boden und sprach: „Es muss anders werden!“ Und die Windjacke kreischte empört: „Er zieht mich sogar in der Stadt an!“ Endlich ward man sich einig über seinen Tod bei der nächsten Tour: Die Windjacke sollte sich zuhause verstecken, um überhaupt nicht dabei zu sein. Zuerst müssten dann die Nagelschuhe, vornehmlich mit ihren besonders spitzen Absatzzähnen, seine Fersen und Sohlen blutig beissen. Später, in der Wand, wird ihn der Rucksack aus dem Gleichgewicht bringen, wobei sich die Kletterschuhe aalglatt zu benehmen haben --- und sogleich wird der Pickel in seine Gedärme dringen und das Seil ihn mit einer Schlinge erwürgen. Jedoch zu selbiger Zeit glitt der Bergsteiger auf der Strasse über eine Apfelsinenschale und brach sich das Bein. Und --- er würde sicher nicht mehr fluchen, dass er nun nimmer in die Berge kann, wüsste er von der Beratung. B
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B
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N
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Der sichere Stand.
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Einst kletterte ein Kletterer über einen berüchtigten ungemein brüchigen Grat empor --- und fürwahr! er war ein kühner Bursche: denn selbst von Zacken mit Zipperlein (die nur noch den erlösenden Rülps ersehnten, um die Fahrt nach dem Friedhof tief unten im Kaar antreten zu können) rief er denen, die hinter ihm herkletter-얍ten, zu: „Kommt immer nur nach! Habe sicheren Stand!“ Und einmal hielt er sich gar nur mit zwei Fingerspitzen der linken Hand an einem kaum sichtbaren Griff, doch schon rollte er rasch mit der Rechten das Seil ein und schrie: „Sicherer Stand!“ --- da seufzte sein Griff und brach ab: kopfüber flog er aus der Mutterwand und mit ihm unser Kletterer, während ein scharfer Stein grinsend das Seil durchbiss --B
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2 17 23 37
N
KaarN ] Vorgängers.N ] BSpäter, inN ] BKaarN ] B B
gemeint ist: Kar korrigiert aus: Vorgängers korrigiert aus: Später,in gemeint ist: Kar
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 13
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
und erst nach gut fünfhundert Metern klatschte er wie eine reife Pflaume auf eine breite Geröllterrasse . Aber sterbend schrie er noch seinen Gefährten zu: „Nachkommen! Sicherer Stand!“ B
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Die Eispickelhexe.
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Hoch droben in dem Lande in dem es weder Wälder noch Wiesen nur zerklüftete Eisäcker gibt, dort haust die Eispickelhexe. Statt der Zehen wuchsen ihr Pickelspitzen und ihre Zähne sind klein und aus blauem Stahl. Ihre Brüste sind mächtige Hängegletscher und --- trinkt sie Cafe mit Gemsenblut, darf niemand sie stören. Nicht einmal die Mauerhakenzwerge . Sie ist aller Eispickel Schutzpatronin. Drum in den Nächten auf den Hütten, wenn jene sich unbeobachtet meinen, schleichen sie aus den Schlafräumen ihrer Herrn: von den Haken herab, aus den Ecken heraus, unter den Bänken hervor --- unhörbar zur Türe hinaus. Dort knieen sie nieder, falten ihre Pickelschlingen und beten zum Schutzpatron um guten Schnee --B
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Die Mauerhakenzwerge . B
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Unzählbare Mauerhaken stecken in Spalten und Falten der Felsen. Auf diesen turnt in Neumondnächten ein gar lustiges Völklein: die 얍 Mauerhakenzwerge . Da machen sie Handstand und Purzelbaum und nie kugelt einer herunter, denn sie sind derart winzig leicht, dass sie in der Luft klettern, wie wir, beispielsweise, in einem Kamin. Aber am Tage bleiben sie unsichtbar und treiben mit den Bergsteigern harmlosen Ulk. So unter anderem, wenn Einer klettert, kneiffen sie ihn in die Ohren oder krabbeln an seiner Nase, damit er sich kratzen muss; und kichern, wenn er flucht. Gerät aber ein Gerechter in Lebensgefahr und finden seine zitternden Glieder weder Griff noch Tritt --- so schweben die Mauerhakenzwerge heran und schmiegen sich dort an die Wand, wo er gerade einen Griff oder Tritt erfleht: wie ein Bienenschwarm mit weissen wallenden Bärten unter Tarnkäppchen und lassen sich als Stufe benützen --- und der solch Stelle überwand, wundert sich hernach selber, wie dies nur möglich gewesen sei! Freilich: an die braven Mauerhakenzwerge denkt Keiner. „Und es sind doch so sehr sympathische Leute! Nicht wahr, Herr Müller?“ „Jaja, die schöne Literatur, mein Herr!“ B
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GeröllterrasseN ] MauerhakenzwergeN ] BHakenN ] BMauerhakenzwergeN ] BMauerhakenN ] BMauerhakenzwergeN ] BkneiffenN ] BMauerhakenzwergeN ] BMauerhakenzwergeN ] B B
korrigiert aus: Geröllterasse korrigiert aus: Mauerhackenzwerge korrigiert aus: Hacken korrigiert aus: Mauerhackenzwerge korrigiert aus: Mauerhacken korrigiert aus: Mauerhackenzwerge gemeint ist: kneifen korrigiert aus: Mauerhackenzwerge korrigiert aus: Mauerhackenzwerge
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N
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 14
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Was ist das?
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 15
Zwei Schwergewichte werden als Zwillinge geboren und hassen sich schon in der ersten Runde ihres Daseins. Aber nie reicht die Kraft, um den anderen im freien Stil zu erwürgen, nie wirken die heimlich im Ring verabreichten Gifte genügend gefährlich, und alle Schüsse aus dem Hinterhalt prallen von den zu Stein trainierten Muskelteilen (vom Gürtel aufwärts) ab. Und so leben die beiden neunzig Lenze lang. Aber eines Nachts schläft der eine beim offen gelassenen Fenster, hustet dann morgens und stirbt noch am selben Abend. Was ist das? Ein Punktsieg. B
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얍 Stafetten
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Nur an der Schaltjahre Schalttagen treffen sich die Schwestern Stafetten zu einem gemütlichen Plausch. Die Stafette von und zu Ski erzählt von korrekt verschneiten Tannenwäldern, drolligen Lawinenkindern, neckisch vereisten Stellen und störig verharschten Sprunghügeln. Die Stafette aus dem Stadion ergeht sich in Prophezeiungen über die Aussichten der guten und schlechten Starte anlässlich einer Nachricht über Möglichkeit der Abhaltung des jüngsten Gerichts und liest zwecks seelischer Gesundung mahnende Stellen aus dem Werke „Das ewige Übergeben“ vor. Die Schlittschuhstafette propagiert mit einem Temperament, das der Laie ihren eisgrünen Augen niemals zutraute, die Erbauung künstlicher Eisbahnen --- wegen der immer mehr zunehmenden Impotenz der Stadtwinter. Und die Schwimmstafette gibt Ergötzlichkeiten aus Wiesenbächen und Weltmeeren zum Besten; unter anderem, von einer neuentdeckten Sardinenart, für die der freie Styl ein Buch mit sieben Siegeln sei, und von menschenfressenden träumerischen Tiefseelilien. B
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 16
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Zu all dem trinkt man köstlichen Cafe und raucht seinen Lieblingstabak. Kurzum: unvergessliche Stunden! 얍 Rechts und links
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 17
Es war einmal ein uralter Ringrichter, der hatte in seinem Leben bereits so Viele ausgezählt, dass, wenn man heute Alles zusammenzählte, dies sicherlich die Summe von über einer Million ergeben würde.
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RundeN ] StylN ]
[St]|R|unde gemeint ist: Stil
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Endfassung
5
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Zu diesem berühmten Salomo stürzte nun eines Tages der einarmige Magenschwinger-rechts, fuchtelte erregt mit seinem Vierunzenhandschuh und jammerte voll ehrlicher Verzweiflung: „Ach, Himmel! Was soll man nur tun?! mein Vetter, der Magenschwinger-links wurd meineidig! beschwört, er hätte den härteren Schlag!“ „So ist das ein Fehler im System“, unterbrach ihn der Richter, „rechts und links sollen gleich ---“ „Wir sind gleich!“ „Kaum!“ lächelte der Greis. „Leider hat Dein Vetter recht: denn wäre er nicht der Stärkere, kämst Du auch nicht zu mir; doch, wie ich Euch kenne“, und da verbeugte er sich leicht, „hast sicher Du den besseren Charakter.“ Tiefgerührt verliess Magenschwinger-rechts den höflichen Richter und strafte von nun ab seinen Vetter mit Verachtung. Aber wer verachtet gibt sich eine Blösse. Und Magenschwinger-links wäre nicht er selbst gewesen, hätte er eine Blösse nicht blitzschnell in einen eindrucksvollen k. o. verwandelt. Als jedoch Magenschwinger-rechts wieder erwachte, war er nun nicht nur mehr davon überzeugt, dass er selbst der weitaus Bessere, sondern auch, dass sein Vetter ein richtiger Verbrecher ist. B
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Lesetext
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얍 Aus einem Rennradfahrerfamilienleben
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 18
Er überrundet bereits die sechste Nacht im Sportpalast --- und sein Endspurt zwingt den Zeitrichter, die Lichtsekundenstoppuhr zu zücken! Inzwischen streitet zu Hause seine Frau mit der Nachbarin: „Was? ich habe ein Rad zuviel? Ja --- gibt es denn ein Rad mit weniger als zwei Rädern?!“ Und was schreibt wohl dem Weihnachtsmann dieser beider Kindlein, das fast auf einem Damenrade geboren wurde, wäre seine geistesgegenwärtige Mutter nicht noch im allerletzten Augenblicke abgesprungen? Es schreibt: „Du guter Weihnachtsmann gib, dass ich bald kann radfahren um häuslichen Herd rascher als Mond um Erd“ Dann schläft es ein und träumt, während Vater siegt und Mutter Reifen flickt, von Motorradelfen und dem Prinzesslein im Beiwagen; und von Kühlerkobolden auf Märchenkraftwägen und den sieben radfahrenden Geislein , Bremshexen und Übersetzungsschlänglein --B
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System“,N ] kenne“,N ] BLichtsekundenstoppuhrN ] BGeisleinN ] B B
korrigiert aus: System,“ korrigiert aus: kenne,“
Lichtsekunden\stopp/uhr gemeint ist: Geißlein
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N
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Wintersportlegendchen
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ÖLA 3/W 184 – BS 62 b [1], Bl. 23
Wenn Schneeflocken fallen binden sich selbst die heiligen Herren Skier unter die blossen Sohlen. Also tat auch der heilige Franz. Und kein Hang war zu steil, kein Hügel zu hoch, kein Holz zu dicht, kein Hindernis zu hinterlistig --- er lief und sprang und bremste derart meisterhaft, dass er nie seinen Heiligenschein verbog. So glitt er durch winterliche Wälder. Still wars ringsum und die verirrten Skispuren hielten den Atem an; und sahen ihm noch lange nach, und dachten: wann kommt endlich der Schneesturm, der uns verweht --얍 Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen
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I. Wächtengleich droht des Herrn von Bindunghausen Burg dort droben auf jenem Sprunghügel, der trutzig verharscht in lawinenloser Landschaft wurzelt. Seht Ihr? --- rings gleiten die eisblauen Berge als das ideale Skigelände in den glattgefrorenen See, an dessen Gestaden Seehundfelle röhren; und nirgends findet der Wanderer Strassen, nur Bobbahnen und statt der Pfade Rodelbahnen --- und an so mancher stimmungsvollen Kurve mahnt zum inneren Bremsen ein Kreuz aus ungleichem Schneeschuhpaar. Sanft überwölbt der silbergraue Himmel Bilder emsiger Arbeit: um dereinst magere Jahre zu mästen verspeichert sich heute die Pulverschnee-Ernte, dort drinnen, wo das Skifett sich konserviert, des Burgherrn pikanteste Delikatesse. Und der Gemächer Wände verkünden aus grosser Zeit der Vorfahren Ruhm: da hängen Schneereifenschilde, Skistocklanzen und krumme Säbel aus Schlittschuhstahl. Und der Wappen derer von Bindunghausen spricht: „Nur auf die Bindung kommt es an!“ --- (was aber angezweifelt werden kann) Wahrlich: ein bezaubernder Besitz! B
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ÖLA 3/W 184 – BS 62 b [1], Bl. 24
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II. Des Nachts, wenn am Hochgericht Sturm, Strick und Rad musicieren, besucht ihn die wilde Jagd --- und jedesmal wieder führt er die Gäste gerührt in jenen einfachen Anschnallraum, in welchem König Winter MLXXVII. das letztemal nächtigte, als er gen Süden zum Frühling nach Canossa zog. 얍 III. Leitartikel las er nur BschlittschuhlaufendN: Bogen links, Bogen rechts, Dreier, Dreiersprung, sprungpung --- pung! da sass er am Hintern und tief im Teiche rief der Wassermann: „Herein!“ Denn man darf nicht aufhören zu hoffen. So denken auch die Nixlein unterm durchsichtigem Eis und zwinkern ihm, wenns dämmert, aus Schlingpflanzen zu: „Kleiner, komm runter ---“ Sie waren zwar recht kitschig, doch nichts Menschliches blieb ihm fremd.
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verharschtN ] lawinenloserN ] BschlittschuhlaufendN ] B B
korrigiert aus: verharrscht korrigiert aus: lavinenloser korrigiert aus: Schlittschuhlaufend
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ÖLA 3/W 184 – BS 62 b [1], Bl. 25
Endfassung
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SM/TS20 (Korrekturschicht)
IV. Obwohl er durchaus kein Wüstling war, dürfte wohl seinem Geschlechtsleben auch der gebildete Laie Interesse entgegenbringen. Wahrscheinlich weil er wintersportlich empfand, reizten ihn nur weibliche Schneemänner. Wie peinlich für ihn, falls es mal zu sehr fror, doch um wieviel peinlicher für die Frauen, wenn er mal zu sehr transpirierte! Seine angetraute Gemahlin war jene zweieinhalbmeter hohe nibelungenhaft herbe Erscheinung, die ihm bereits sieben rassereine Albinos gebar: bei roten Äuglein weiss an Haut und Haar. Mutter und Kinder stellten fürwahr malerische Familienbilder. Und gar oft führte geile Intuition seine Finger und er formte am nahen Übungshügel Dicke, Dünne, Grosse, Kleine, Reife --- so frönte er seiner Gefrierfleischeslust. B
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Lesetext
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V. Weltberüchtigt war die grosse Kurve, die noch von niemandem befriedigend bezwungen worden war. Dieselbe richtig zu nehmen, war des Herrn von Bindunghausen Lebensziel --- „dann erst“ so sprach er zu seinen Söhnen „kann ich ruhig sterben. Denn Leben heisst Kurven nehmen.“ B
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얍 Über das Meer
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 24
Sowohl noch nie als auch schon oft habt Ihr folgende Geschichte gehört: Ein nüchternes Brustschwimmen wollte nach Amerika. Es sprang zu Le Havre ins Meer und schwamm --Tagelang. Jahrelang. Jedoch mitten im Meere wurde es müd. Schlief ein und träumte --Tagelang. Jahrelang. Und erwachte als romantisches Rückenschwimmen. 얍 Was das romantische Rückenschwimmen erzählt:
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Ein Fesselballon lag in der Luft, nicht allzuhoch, und fühlte wie fest er mit der Erde verbunden und wusste auch, dass wenn diese Verbindung reissen sollte (was Gott verhüten wolle) er verloren wäre. Trotzdem betrachtete er mit stiller Zufriedenheit immerzu dasselbe Stückchen Land; und da es eben nur ein Stückchen war, sah er auch oft und lange in den Himmel. Aber bald flog ein weisser Walfisch stolz an ihm vorbei: es war das lenkbare Luftschiff, das, weil es kein Tau mit Mutter Erde verband, in solch kurzer Zeit über solch verschiedene Länder flog, dass seine Augen vom vielen Nach-unten-schauen dem Himmel eben abgelenkt waren. 12 16
B B
frönteN ] niemandemN ]
korrigiert aus: fröhnte korrigiert aus: niemanden
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 25
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
Lesetext
Ganz oben aber produzierte ein Flugzeug immerzu nur Sturzflüge, und sah weder Himmel noch Erde --- denn es musste ja so sehr auf seinen Motor aufpassen. Das Arme. 5
얍 Aus BLeichtathletiklandN (Historie mit Randbemerkung)
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 26
Als jener geniale Mensch, der als erster seines Geschlechtes aus der Baumwipfelheimat zu Boden sprang --- da wurde die Leichtathletik geboren. Zu jenen Zeiten wuchs in allen Ländern nur Urwald --- und schüchtern schritt das Gehen durch Dickicht und Dschungel. Doch eines abends grunzte im Moor das Riesenschwein und wieder verdämmerte ein Zeitalter; ein Neues pochte an die Pforten unseres Planeten: denn nun l i e f das Gehen! Jedoch erst vieltausend Jahre später teilte der Häuptling die Menschheit in Kurzstrecken- und Langstreckenläufer. (denn naturgemäss musste lange Zeit verfliessen, ehe selbst ein Häuptling zwischen Schenkel und Schenkel unterscheiden konnte) Und nun lief das Langstreckenlaufen unzählbare Male um die Erde und wurd weder müde noch alt --- aber der Wald ward gar bald zum Greis; die vielen Jahre hatten Höhlen in seine Knochen gegraben und sassen nun drinnen und sägten und sägten; und fällten die stolzen Stämme, deren Leichen das Langstreckenlaufen oft zu meilenlangen Umwegen zwangen. Da flog eines Morgens an dem Langstreckenlaufen ein Schmetterling vorbei, der derart lila war, dass das „Lang“ ihm sogleich nachhaschte wie ein einfältiges Mädchen. Über die Lichtung, und dann immer tiefer und tiefer hinein in den Wald. Bis die Sonne versank, der Falter verschwand und die Nacht hob die dunkle Hand. Nun erst griff sich das „Lang“ an die Kniee (seinen Kopf) und machte kehrt --- doch wohin es sich auch wand, überall lagen Leichen der Riesenbäume. Sechs Tage und sechs Nächte sass nun das „Lang“ gefangen auf Moos 얍 und spreizte verzweifelt die Zehen. Es war still, nur ab und zu stöhnte ein sterbender Stamm. Und die Luft murmelte lau. In der siebenten Mitternacht (es war vor Angst bereits halbtot) rief eine helle Stimme: „Siehe! dort liegt eine tote Tanne! Gehe hin und befolge das Gebot, Auserkorener!“ Da senkte das Langstreckenlaufen gläubig die Zehen und rannte blind und bleich auf die dunkle Masse zu --- zwei Urhasen im Unterholz schrieen gellend auf, denn sie sahen es bereits mit gespaltenen Kniescheiben vermodern --- jedoch im allerletzten Augenblick hob ein beflügeltes Wesen das „Lang“ über den toten Riesen und liess es drüben unversehrt zu Boden gleiten. Da falteten die beiden ungläubigen Urhasen die Ohren und lobpreisten laut die Allmacht; es war ja ein Wunder geschehen: Hochsprung ist erstanden! Wie unendliche Heuschreckenschwärme flog das Gerücht vom heiligen Hochsprung über die Welt und allüberall sang man Dankchoräle. Als aber kurze Zeit darB
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B B
LeichtathletiklandN ] LeichtathletikN ]
N
korrigiert aus: Leichtatletikland korrigiert aus: Leichtatletik
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 27
Endfassung
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Lesetext
auf auch das Kurzstreckenlaufen einen Hochsprung vollführte, glaubte niemand mehr an das Wunder. Und die folgende Generation glaubte überhaupt nichts mehr --denn nun konnte ja Jeder schon vom dritten Lebensjahre ab hochspringen. Sogar aus dem Stand. Da erzürnte der liebe Gott gar sehr ob der allgemeinen Gottlosigkeit und sprach zum Eis: „Eis! Tust Du meinen Willen nicht, so geb ich Dir die Sonne zur Gemahlin!“ Sogleich warf sich der Vater aller Winter auf den Bauch vor Gott; und gerade dort, wo er den Nabel trug, drehte sich die Erde. (--- und grimmige Kälte und grüner Frost erwählten die Erde zu ihrem Brautbett und finstere Stürme triumphierten. Alles erstarb ohne verwesen zu dürfen. Es waren Bilder, wie sie grausiger kaum an Verfolgungswahn lei-얍dende Insassen der Hölle hätten malen können. Die Wenigen, deren Blut nicht stillstand, hausten in Höhlen und weinten bittere Eiszapfen) Und das Eis sprach zu Gott: „Ich werde Dein Willen, Herr!“ Und der Allgütige antwortete: „So stehe auf! Denn allein wenn Du so sagst, sind sie genügend gestraft!“ Kaum war das Wort verklungen schien die Sonne wieder auf die Erde und all die Eiszapfentränen schmolzen und bildeten mächtige Ströme --- überall; einmal sogar zwischen einem Liebespaar. So entstand der Weitsprung. Und selbst die reuigsten Sünder konnten nicht umhin fest zu fühlen, dass dies kein Wunder sei, sondern nur natürlich. Daher beantragten sie (eben weil es kein Wunder war) ein Weitsprungverbot. Aber eben weil es natürlich war, blieb es immer nur beim Antrag. Erst bedeutend später verfertigte ein Geistvoller, der weder Gott noch Weib verehrte, einen Stab, mit dem der Hochsprung einen hochaufgeschossenen Sohn zeugte: den Stabhochsprung der heutzutage besonders bei Sportphotographen beliebt ist. B
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SM/TS20 (Korrekturschicht)
N
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Randbemerkung zu Satz eins: Nur um der Wahrheit Willen soll corrigieret werden was aus Bequemlichkeit der Ausdruckweise Überlieferung geworden war --- dass nämlich jener geniale Mensch von jenem Baume nicht heruntersprang, sondern bloss herunterfiel. Und selbst kopfunten warf er noch heulend Gebetbrocken an den Horizont: denn damals herrschte in unserem Geschlechte der Glaube, dass am Boden nicht zu leben sei. Als er aber ebendortselbst dank seines vortrefflichen Ge-얍nickerbauers heil landete, staunte er zunächst stumm ob des nichteintretenden Todes. Doch bald verkündete er mit lauter Lunge seinen Brüdern und Schwestern, dass er heruntergesprungen sei. D i e s war seine geniale Tat. Und begeistert sprangen ihm die Geschwister nach ins neue Land; in der alten Heimat gab es nämlich schon viel zu viel Menschen und viel zu wenig Äste. Freilich mit der neuen Heimat entdeckten sie auch nicht das Paradies: denn damals wimmelte 9 20
ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 28
B B
(--- undN ] EiszapfentränenN ]
korrigiert aus: ( --- und korrigiert aus: Eiszapfenträhnen
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ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 29
Endfassung
SM/TS20 (Korrekturschicht)
es vor Drachen. Aber es waren ja bei dem Sprunge aus dem Vaterlande nicht gerade alle auf den Kopf gefallen: einige wussten Rat. Mit Steinen und spitzen Stämmen (den Ahnen von Diskos und Speer) rotteten sie die Ungeheuer mit Schweiss und Plag nach und nach aus. Aber nur so, durch Leid geläutert, konnte sich die Leichtathletik entfalten. Und das ist doch Fortschritt --- und uns allen liegt auch nichts ferner als dies: jenem Mitmenschen die kleine Formlüge nicht verzeihen zu können. B
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Lesetext
N
Juppiter Fürchtegott Weltmeister h. c.
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B
LeichtathletikN ]
korrigiert aus: Leichtatletik
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Kurzprosa
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Einzeltext 1: Zwei Briefe aus Paris
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Endfassung (Zwei Briefe aus Paris)
ET1/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 BFriedrich Antoine BPiesecke (Zwickau):N N Zwei Briefe aus Paris. Eingesandt von Ödön von BHorváthN. 5
I. Göttlich zu atmen Luft fremder Rasse! Denn irgendwie ist alles Fremde, jedwede Rasse und Luft geheimnisvoll und irgendwie peitscht dies auf. Ich spreche vollbewusst von „peitschen“, selbst wenn einige gefühlslogisch Eingestellte mich noch für so ehrbar halten, dem köstlichen Marquis de Sade zu huldigen --- nein! fern aller kindlichen Einfalt wie auch bürgerlicher Beschwerden bewegen sich meine Gedanken: Seht Ihr den Platz mit seinen plattgedrückten Barockkaminen über Gebäuden mit Brüsten zu raschgewachsener Vierzehnjähriger, die aber bereits, gleich wissend alternden Frauen, rokokohaft ihre blassen Mundwinkel schürzen? Nach solchen Plätzen dürste ich. Hier enthaupteten zartbeknöchelte Königinnen wirrbehaarte Mönche, nur (!) weil sie die Art ihrer Liebesbeweise enttäuschte. Und heute ist es als hätte sich ein gewisser Teil jenes Herrscherinnenetwas irgendwie in den Frauen reinkarniert, die die Boulevards zu bewohnen scheinen. Denn nie wird man durch ihre ab und zu prickelnden Gebärden Herkunft aus den Quartiers der Lumpensammler fühlen, nur manchmal die Tradition rechtsstehender Kreise, was einer gewissen Pikanterie nicht entbehrt. Gestern nachts rief eine zu mir aus Seitenstrassen; die sah meiner längst entschlafenen Mutter überaus ähnlich --- doch 얍 „halte!“ Fort mit aller Sentimentalität! Selbst wenn unsere Seele zerfetzt im Schmerzsturm flattert, lasset uns lächeln, lächeln wie die Keuschheitsgürtel im Musée Cluny! B
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ÖLA 3/W 222 – o. BS, Bl. 1
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II. Ein alter deutscher Meister, der das Unglück geniesst manchmal mit Oskar Wilde verwechselt zu werden (doch ich will nicht boshaft sein) sagte einst: eine pariser Kokotte mit einem Holzbein besitzt immer noch bedeutend mehr Charme als eine Berliner mit sämtlichen Gliedmassen. Und er hatte das unbestreitbare Recht dies zu offenbaren, denn gebunden durch keinerlei unästhetisch geartete Beziehungen zu drallen weiblichen Vorsprüngen, ist er ein überaus feinnerviger Erotiker --- und nun erst verstehe ich voll seinen Satz, gesprochen aus Dämmerungen sexueller Urerregtheit: „Wie harmonisch in ihrer Atonalität sind doch das Klappern eines niedlichen Holzfusses über das blutgeschwängerte pariser Pflaster und die lockend girrenden Töne, die in den gallischen Lauten ihre ganze Eindeutigkeit verneinen um zweideutig zu werden.“ --- Fürwahr! B
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1 1 3 7 9 14 15 23 26 26
Friedrich f Zwickau):N ] Piesecke (Zwickau):N ] BHorváthN ] BgeheimnisvollN ] BehrbarN ] BKöniginnenN ] BLiebesbeweiseN ] BMuséeN ] BgeniesstN ] BOskar WildeN ] B B
N
[Franzxaver Antoine Huber:] |Friedrich f Zwickau):| korrigiert aus: Piesecke: (Zwickau) Horv[a]|á|th korrigiert aus: geheimnissvoll korrigiert aus: ehrbahr korrigiert aus: Königinen [Wollusterzeugung] |Liebesbeweise| Mus[e]|é|e korrigiert aus: geniest gemeint ist: Oscar Wilde
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ÖLA 3/W 222 – o. BS, Bl. 2
Einzeltext 2: Geschichte einer kleinen Liebe
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Endfassung (Geschichte einer kleinen Liebe)
ET2/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Geschichte einer kleinen Liebe von Ödön von BHorváthN.
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ÖLA 3/W 199 – BS 67, Bl. 1
Still wirds im Herbst, unheimlich still. Es ist alles beim alten geblieben, nichts scheint sich verändert zu haben. Weder das Moor noch das Ackerland, weder die Tannen dort auf den Hügeln noch der See. Nichts. Nur, dass der Sommer vorbei. Ende Oktober. Und bereits spät am Nachmittag. In der Ferne heult ein Hund und die Erde duftet nach aufgeweichtem Laub. Es hat lange geregnet während der letzten Wochen, nun wird es bald schneien. Fort ist die Sonne und die Dämmerung schlürft über den harten Boden, es raschelt in den Stoppeln, als schliche wer umher. Und mit den Nebeln kommt die Vergangenheit. Ich sehe Euch wieder, Ihr Berge, Bäume, Strassen -- wir sehen uns alle wieder! Auch wir zwei, Du und ich. Dein helles Sommerkleidchen strahlt in der Sonne fröhlich und übermütig, als hättest Du nichts darunter an. Die Saat wogt, die Erde atmet. Und schwül wars, erinnerst Du Dich? Die Luft summte, wie ein Heer unsichtbarer Insekten. Im Westen drohte ein Wetter und wir weit vom Dorfe auf schmalem Steig, quer durch das Korn, Du vor mir -- -- Doch, was geht das Euch an?! Jawohl, Euch, liebe Leser! Warum soll ich das erzählen? Tut doch nicht so! Wie könnte es Euch denn interessieren, ob zwei Menschen im Kornfeld verschwanden! Und dann gehts Euch auch gar nichts an! Ihr habt andere Sorgen, als Euch um fremde Liebe -und dann war 얍 es ja überhaupt keine Liebe! Der Tatbestand war einfach der, dass ich jene junge Frau begehrte, besitzen wollte. Irgendwelche „seelische“ Bande habe ich dabei weiss Gott nicht verspürt! Und sie? Nun, sie scheint so etwas, wie Vertrauen zu mir gefasst zu haben. Sie erzählte mir viele Geschichten, bunte und graue, aus Büro, Kino und Kindheit, und was es eben dergleichen in jedem Leben noch gibt. Aber all das langweilte mich und ich habe des öfteren gewünscht, sie wäre taubstumm. Ich war ein verrohter Bursche, eitel auf schurkische Leere. Einmal blieb sie ruckartig stehen. „ Du“, und ihre Stimme klang scheu und verwundet, „Warum lässt Du mich denn nicht in Ruh? Du liebst mich doch nicht, und es gibt ja so viele schönere Frauen.“ „Du gefällst mir eben“ antwortete ich und meine Gemeinheit gefiel mir über alle Massen . Wie gerne hätte ich diese Worte noch einigemale wiederholt! Sie senkte das Haupt. Ich tat gelangweilt, kniff ein Auge etwas zu und betrachtete die Form ihres Kopfes. Ihre Haare waren braun, ein ganz gewöhnliches Braun. Sie trug es in die Stirne gekämmt, so wie sie es den berühmten Weibern abgeguckt hatte, die für Friseure Reklame trommeln. Ja, freilich gibt es Frauen, die bedeutend schöneres Haar haben und auch sonst -- Aber ach was! Es ist doch immer dasselbe! Ob das Haar dünkler oder heller, Stirn frei oder nicht -„Du bist ein armer Teufel“ sagte sie plötzlich wie zu sich selbst. Sah mich gross an und gab mir einen leisen Kuss. Und ging. Die Schultern etwas hochgezogen, das Kleid verknüllt -B
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2 16 17 24 30 31 32–33
B
Horv[a]|á|th
B
korrigiert aus: schwühl korrigiert aus: schmalen korrigiert aus: weis korrigiert aus: Du,“
HorváthN ] schwülN ] BschmalemN ] BweissN ] BDu“,N ] BFrauen.“N ] Büber f MassenN ]
Frauen[,]|.“| [als ich.“] korrigiert aus: überallemassen
110
ÖLA 3/W 199 – BS 67, Bl. 2
Endfassung (Geschichte einer kleinen Liebe)
얍
5
10
ET2/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Ich lief ihr nach, so zehn Schritte, und hielt. Machte kehrt und sah mich nicht mehr um. Zehn Schritte lang lebte unsere Liebe, flammte auf, um sogleich wieder zu verlöschen. Es war keine Liebe bis über das Grab, wie etwa Romeo und Julia. Nur zehn Schritte. Aber in jenem Augenblick leuchtete die kleine Liebe, innig und geläutert, in märchenhafter Pracht.
XXXXXXXXXXXXXXXXXXX
111
ÖLA 3/W 199 – BS 67, Bl. 3
112
Einzeltext 3: Vom kleinen Beamten
113
Endfassung (Vom kleinen Beamten)
ET3/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Vom kleinen Beamten
von Ödön von Horváth . B
5
N
Es war einmal ein möbliertes Zimmer. Das war nicht gross, das war nicht klein, das war auch nicht gerade schön --- ja: eigentlich war es hässlich; aber es war billig; doch fast immer noch zu teuer für den kleinen Beamten.
20
Denn die monatliche Miete forderte ein Drittel seines Gehalts, das er jeden Ersten seiner Wirtin, der Witwe eines anderen kleinen Beamten, auf den Tisch zählte. Und er zählte sehr genau und ebenso genau zählte es wieder die gute Frau. Dann zählten es Beide noch genauer so ungefähr zehn- zwanzigmal, obwohl es noch niemals geschah, dass auch nur ein lumpiger Pfennig gefehlt hätte; denn der kleine Beamte war von Grund auf ein genauer Mann, jedoch die Witwe ward noch genauer, da sie sparen musste, mehr noch, wie er: denn dies Geld war nur die Hälfte ihres Einkommens; die andere Hälfte bestritt ihre Pension und die war gerade um zwei Drittel geringer, wie der ehemalige Gehalt ihres verstorbenen Mannes. Aber sie rauchte ja keine Pfeife und schnupfte auch nicht und trank nie Bier, nur Wasser: das war ihr Trost. Wenn auch nur ein schwacher. Aber irgendeinen Trost muss man doch haben! – Dies spürte auch der kleine Beamte und da er keinen hatte, so suchte er einen und sass nun alle Abend in der Küche bei ihr am selben Tisch.
25
Sie stopfte seine Strümpfe und er sah zu. Und sprach nur sel-얍ten, denn sie sprach fast immer: von der Milch und dem Wetter, der Regierung und dem Herd und ihrem seligen Manne. Der war ein braver Mann, es war eine glückliche Ehe, aber sie würde trotzdem nie mehr heiraten, nie mehr ---
10
15
ÖLA 3/W 219 – BS 47 ad [1], Bl. 1
B
B
N
N
Und der kleine Beamte dachte: „ Jaja, es ist schon so ---“ --- obwohl er eigentlich anderer Meinung war. B
2 18 20 27
HorváthN ] haben! –N ] BbeiN ] BJaja,N ] B B
N
Horv[a]|á|th haben! \–/ [mit] |bei| Jaja [---:] |,|
114
ÖLA 3/W 219 – BS 47 ad [1], Bl. 2
Einzeltext 4: Emil
115
Endfassung (Emil)
ET4/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Emil von Ödön von BHorváthN.
5
10
15
20
25
30
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40
ÖLA 3/W 193 – BS 47 k, Bl. 1
Er war Stammgast in jenem Cafe, in das ich mich eines abends verirrt hatte und das ich dann nie wieder betrat, denn es stank nach Literatur und sauerem Schweiss. Seinen Namen habe ich vergessen, aber ihn selbst würde ich sofort wiedererkennen, obwohl nun schon einige Jahre seit jenem abend, an dem wir uns getroffen hatten, vergangen sind. Damals sprachen wir über Kunstprobleme, das heisst: er öffnete alle Schleusen seiner Dialektik und ich hörte zu. Er sprach über Lyrik, obwohl er doch merken musste, dass ich nichts davon verstand, und schielte dabei fortgesetzt auf mein Käsebutterbrot, dass mir der Brocken im Rachen stecken blieb. War dies Schielen eine Bosheit für die man noch Verständnis haben konnte, eine Bosheit aus Verärgerung: sich trotz seiner geistigen Überlegenheit kein Käsebutterbrot leisten zu können -- so war das Gerede über Lyrik eine glatte Gemeinheit. Denn dadurch, dass ich ihn nicht verstand, setzte er mir ja ständig auseinander, in vorwurfsvollem Tone, dass er mehr sei, als Jemand, der sich ein Käsebutterbrot leisten könne, obwohl er selbst sich keines leisten konnte. Eine Gemeinheit diese Selbstbeweihräucherung, indem man einem Menschen den Appetit verdirbt, nur weil er nichts von Lyrik versteht, und man selbst kein Käsebutterbrot fressen kann! Doch heute will ich nicht schimpfen, heute nicht! Man soll nichts Böses über Tote sagen. Soeben erhielt ich nämlich die Nachricht, dass er gestorben sei. , Ich habe seinen Namen vergessen -- aber nun will ich seiner gedenken, 얍 und so werde ich ihm der Deutlichkeit und Bequemlichkeit halber einen Namen geben, einen Namen, den meines Ermessens dieser traurige Kunde hätte tragen müssen, wenn er ihn nicht getragen hatte, nämlich den Namen Emil. Es gibt viele Emils. Und jene unter ihnen, die meiner Menschenkenntnis trauen, sollen sich damit trösten, dass ihr Name nur tückischer Zufall ist, dass sie von rechtswegen Alexander, Herrmann der Cheruskerfürst, Sardanapal oder Moriz heissen müssten. Mein Emil war von knabenhaftem Wuchse und wenn man den Kopf nicht berücksichtigte schien er ein altgriechischer Jüngling in den Flegeljahren zu sein, aber mit Kopf war er eine Kaulquappe. Ohne ein Wasserkopf zu sein, war er doch viel zu schwer. Ansonsten hatte Emil Sommersprossen, Pickel auf Stirn, Nase und Kinn, finstere Fingernägel, altmodische Halbschuhe und eine einzige Kravatte. Diese Kravatte war so unwahrscheinlich dünn, so ausgedörrt und abgemagert, als irrte sie ständig durch Wüsten ohne Wasser und hätte bereits als Säugling gefastet. Und zerfranst war sie und schlecht gebunden auch. Eine richtig traurige Kravatte, verschlampt und verkommen, einsam und sentimental. Sie hätte Emils schwache Schwester sein können, gewisse unableugbare Familienähnlichkeiten waren vorhanden, nur dass Emil nicht zur Zierde geboren worden war, sondern zu Höherem ausersehen sich dünkte. Kraft hiezu fühlte er in sich. Eine Kraft, die ihn aufhorchen liess.
2
B
HorváthN ]
Horv[a]|á|th
116
ÖLA 3/W 193 – BS 47 k, Bl. 2
Endfassung (Emil)
ET4/TS1 (Korrekturschicht)
Sonst horchte niemand. Keiner, nur er , sah den Unterschied zwischen Kravatte und Emil. Ja, man verwechselte sogar die beiden miteinander, und dies nicht nur aus Unfähigkeit zu formulieren. Und die Frauen, die sahen überhaupt nur die Kravatte. Kein Wunder also, wenn das Kapitel „Emil und das Weib“ zerfahren, zergrübelt, gestammelt, asketisch und arrogant, schwülstig und verzweifelt wirkte. Denn zuguterletzt war doch der arme Teufel Emil ge-얍nau wie all die anderen seiner Art: wenn der Nachbar fehlte, der das Käsebutterbrot verzehrte, so konnte er also auch keine Gespräche über Lyrik führen. Dann stierte er in die Ferne, seinen Horizont entlang, und zumeist blieb sein Auge an dem ihm räumlich zunächst befindlichen weiblichen Wesen kleben. Denn kurzsichtig war er auch. Aber sie sah nur die Kravatte. Gestern, heute, morgen. Und entschwebte dem Cafe, wie ein sogenannter Traum. Armer Emil! Jetzt, wo Du unter dem Rasen verwest und die Kravatte im Mülleimer liegt, jetzt wird man Euch unterscheiden können, und jetzt werden die Frauen nur Dich sehen. Und werden sagen: Emil war ein grosser Mann. Schon aus Pietät. Vielleicht, nur weil Du solch eine fadenscheinige Kravatte trugst. Wahrscheinlich sogar. B
5
N
B N
B
10
B
15
Lesetext
N
20
------------
1 1 9 13
nurN ] ] BseinenN ] BsogenannterN ] B
B N
[ausser] |nur| [selbst] seine[m]|n| korrigiert aus: sogenanter
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N
ÖLA 3/W 193 – BS 47 k, Bl. 3
118
Einzeltext 5: Theodors Tod
119
Endfassung (Theodors Tod)
ET5/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Theodors Tod von Ödön von BHorváthN
5
10
ÖLA 3/W 215 – BS 47 x, Bl. 1
Der „Fall Theodor“ ist ein Schulbeispiel für den tragischen Kampf des Fleisches wider den Geist, ist die Geschichte des durch politischen Fanatismus gehemmten Geschlechtslebens. Theodors Fleisch war willig, aber der Geist war schwach. Wesen und Ziel seiner Politik, für die er sich des öfteren tollkühn und rücksichtslos einsetzte, konnte allerdings noch niemand enträtseln, da er immer eine eigene Meinung hatte, nicht aus Überschätzung seiner Persönlichkeit, sondern aus Demut vor ihr. Er war Führer und Trommler, Masse und Sturmtrupp, alles in einer Brust, und hielt jedes Jahr mit sich selbst Parteitag, leider unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So steht also nur fest, dass er alle Parteien, Fahnen, Vereinsabzeichen, sowie Thron und Altar, Republik und Mussolini, Locarno und Komintern mit einem Hasse verfolgte, der selbst einen Grossinquisitor sicher ans Reichsgericht befördert hätte. Dieser sein infernalischer Hass raubte ihm aber die Manneskraft, bereits in den besten Jahren. Er brach seinen Trieb, wie der Tod Augen bricht. B
15
N
B N
So sass er eines abends mit Klara im Kino und je oberflächlicher er den Film beäugte, umso hurtiger schien sich eine innere Harmonie zwischen ihr und ihm herauszukristallisieren. Zuguterletzt war ja der arme Teufel Theodor, wie jeder andere seiner Art: seine Liebe war Sehnsucht nach Romantik und Wille zur Sachlichkeit. Seine Romantik war Sehnsucht nach Sachlichkeit und seine Sachlichkeit war Wille zur Romantik. --Nun gehörte aber Klara zu jenen Mädchen, die selbst bei völliger Auflösung ihres 얍 Ichs, es nicht vergessen können, dass ihr Bruder im Weltkrieg Leutnant gewesen war. Plötzlich, mitten im Kristallisationsprozess, hub sie an begeistert zu applaudieren. Theodor fuhr empor: da! dort! über die Leinwand schritt er, ER und nochmals ER! Fridericus, die Briefmarke! --- Da war es aus. Restlos aus. Das Verlangen verkroch sich in bittere Gleichgültigkeit, ja Abscheu und Ekel , wie die erschreckte Schnecke ins Haus. Die Felle schwammen zu Tal. Und drei Tage später, diesmal mit Anna: wieder Applaus! wieder brutale Vernichtung zartester Triebe, nur diesmal statt durch „Panzerkreuzer Stingl“ durch den „Reichspostminister Potemkin“! Aber fünf Tage später: endlich, endlich! Theodor in Weissglut durch das Lächeln der lenden- und schenkelschönen Frau Bloch: „Madame! Ich möchte mit Euch in einem melancholischen Parke spazieren, aber wir müssten uns in einem Urwald verirren und mitten im Zwielicht des Dickichts müsste ein breites weiches Bett uns entgegenkommen, und kaltes warmes fliessendes Wasser, Löwen und Papageien, und ein Zimmerkellner, gütig wie Grosspapa, eine lieblich schizophrene Landschaft, fern von Külz!“ „Pardon, Theodore! Kein Wort contre Külz! Ich liebe Külz!“ So geschehen im Jahre des Schmutz und Schundes. N
B
B
20
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B
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B N
2 12 17 18 19 29 30
B
Horv[a]|á|th
B
Korrektur von fremder Hand: T!ro"!h"n
HorváthN ] ThronN ] B N] BSo f KlaraN ] Bihr f ihmN ] BEkelN ] B N]
[Zum Beispiel:] \So1/ eines4 abends5 sass2 er3 mit6 Klara7 [den Zweien] |ihr f ihm| Korrektur von fremder Hand: E[c]kel Absatz vom Autor eingefügt
120
N
ÖLA 3/W 215 – BS 47 x, Bl. 2
Endfassung (Theodors Tod)
5
10
ET5/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Es liegt auf der Hand, dass diese ständigen Pyrrhussiege des Geistes über das Fleisch zur Vernichtung beider führen mussten. Ich will hier aus Raummangel meiner Gestaltungskraft kurz nur die Schlussszene darbieten. Die ersten Akte pflegen ja meistens auch ihren besonderen Reiz zu haben, aber die der Tragödie „Theodors letzte Liebe“ sind uninteressant. Zwar könnte sie ein einfallsreicher Regisseur mit allerlei Kniffen schmackhaft würzen, da ich aber ein schlechter Regisseur bin, nicht weil ich keine Einfälle habe, sondern aus mangelnder Ehrfurcht vor dem Dichter, lasse ich sie aus Liebe zum Publikum weg. Also: 얍 T HEODOR (führt Gretchen auf sein Zimmer) Still, Liebste, still! Die Götter sind so neidisch -- nein, ich bin nicht verrückt, ich fürchte mich nur -- still! Nenne mir nichtmal Deinen Namen, er könnte mich an Entsetzliches erinnern! Ich will in Dir das Prinzip --- Zieh Dich aus! Nur rede nichts, rede nichts, Du kriegst Deine fünf Mark! Hier --- Ha, das Weib! Weisst Du, wer so viel Enttäuschungen erlitt, der sehnt sich nach taubstummer Liebe --Hernach, Weib, hernach! Dann kannst Du reden was Du willst, wie Du willst und solange Du willst --(er setzt sich und sieht ihr zitternd zu, wie sie sich entkleidet; aber plötzlich verfärbt er sich, schnellt ruckartig empor und lallt idiotisch: ihr Hemdchen ist schwarzweissrot eingesäumt, auf dem Büstenhalter funkeln zwei Sowjetsterne, die Kokarde am Strumpfband leuchtet schwarzrotgold und die, etwas altmodischen, Spitzen des Höschens sind nach Hakenkreuzmanier gehäkelt; er wankt, fasst sich an Kopf und Herz und bricht zusammen. Kombinierter Gehirn- und Herzschlag . Vorhang. Schlussmarsch) B
15
20
B
14 23
B B
WeisstN ] Kombinierter f HerzschlagN ]
N
korrigiert aus: Weist [Gehirnschlag] |Kombinierter f Herzschlag|
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N
ÖLA 3/W 215 – BS 47 x, Bl. 3
122
Einzeltext 6: Lachkrampf
123
Fassung (Lachkrampf)
ET6/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Lachkrampf von Ödön von BHorváthN.
5
Die Geschichte, die ich hiemit mir erlaube Ihnen zu erzählen, ereignete sich in einem Tanzlokal. Nicht in einem jener Tanzpaläste, deren Strassenfassaden mit der lässigen Grausamkeit wohlhabender Ästheten über Nacht, Nässe und Schmutz lächeln. Es war auf einem jener Tanzböden, die sich nur „Palast“ nennen, mehr aus Grössenwahn, als aus Höflichkeit zu ihren Gästen. Diese Säle haben keine Sektnischen, wie Seitenaltäre. Man trinkt Bier und wer eintritt, den klebrigen Vorhang zur Seite schiebt, überblickt den ganzen Raum. Links, dort hinter der Säule am dritten Tische sass die Charlotte Mager mit Ulrich Stein. Woher ich die Beiden kenne? Na hören Sie! Das Mädchen sass doch zwo Jahre hindurch als Stenotypistin bei Buck et Co. Der rote Buck ging pleite und turnt heut als Agent durch die Treppenhäuser, wie der Orang im Zoo. Die Mager sass dann bei ihrer verheirateten Schwester, einem knochigen langen Elend mit Augen, als kriegt sie den Stockschnupfen nimmer los. Ob sie noch heute da wohnt, glaube ich kaum, da das schwägerliche Paar samt Bubi nur ein möbliertes Zimmer mit Küchenbenützung -- und der Ulrich Stein, den lernte ich vor Jahren am Landsitz seiner verwitweten Mutter kennen. Eine herzensfeine, hochgebildete alte Dame, die nach dem Tode ihres geliebten Gatten die Rolle der gefeierten Gesellschaftserscheinung ablegte und sich nur mehr der Ergänzung ihrer anerkannt herrlichen 얍 ostasiatischen Sammlung, die drei Zimmer füllt, widmete. So lebt sie nun still und bescheiden. Ulrich studiert Musik. Ob er sich einst Lorbeer erdirigieren wird, fiel mir nicht auf. Sein Äusseres wirkt beruhigend, wie ein vornehmes Treppenhaus, und als wohlerzogener junger Mann ist er nicht bar des sozialen Verständnisses. Ja, er beschwört sogar alle Abendkleider zu hassen und nur einfache Mädchen, gewissermassen aus dem Volke, zu lieben. Er vertritt nämlich die Auslegung, dass Liebe Mitleid sei. Aber zum zweiten Stelldichein kommt er nicht mehr, denn er lechzt nach immer neuen Erschütterungen. Eine echte Künstlernatur, hatte er statt Gewissen nur formvollendete Ausreden. Das dem Schicksal nie entrinnen können und so. Er hatte mit der Mager soeben zum drittenmal getanzt. Musikpause. Die zwei Lichtenberger Broadway-Boys samt Stimmungskanone Fritzi setzten sich an den Tisch neben den Toiletten und der Ober mit dem Chaplingang brachte den kontraktlich vereinbarten Tee und Kuchen. Eine Blumenfrau hinkte von Gast zu Gast. Der Ventilator surrte. Drei Männer kamen gewichtig herein, wässerigen Schnee am Absatz. „Es schneit“ sagte Charlotte. Er kaufte ihr zwei Rosen, sie lächelte: „Rosen im Winter. Man sollte in Betten voller Rosen liegen. Wenns nur wieder Sommer wär!“ Das ist Kitsch, durchzuckte es unsern Ulrich, übelster Kitsch! Pfui Dreiteufel! Und infolge seines unstreitbar vorhandenen ästhetischen Feingefühls, packte ihn die Wut über solch sentimentalen Dreck. Es war eine Wut aus Literatur, sozusagen. (Lachen Sie nicht! Sowas gibts!) Eine schamlose Wut, die mit apokalyptischem 얍 Hasse B
10
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ÖLA 3/W 203 – BS 47 r, Bl. 1
N
B
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2 9 18–19
HorváthN ] SäleN ] BverwitwetenN ] B B
Horv[a]|á|th Sä[ä]le korrigiert aus: verwittweten
124
ÖLA 3/W 203 – BS 47 r, Bl. 2
ÖLA 3/W 203 – BS 47 r, Bl. 3
Fassung (Lachkrampf)
5
ET6/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
darnach lechzt, jede arme Seele, die ihre Sehnsucht nicht stilvoll auszudrücken vermag, zu rädern. „Was für ein Bett?“ höhnte er und bildete sich ein hypnotisieren zu können. Im Augenblicke hasste Ulrich Stein die Stenotypistin Charlotte Mager. Er beugte sich vor, dass sein Kinn fast das Tischtuch berührte: „Hören Sie!“ Und erklärte ihr klipp und klar, dass ihre Äusserung in puncto Rosenbett und Jahreszeiten reiner Mist , und von jedweder geschmacklichen Warte aus abzulehnen sei. Er bellte ihr die Begründung ins Antlitz und sprach neben Renaissance und Weiss-Gott-was auch über Bewusstsein und Unterbewusstsein , nebst Doppelsinn aller Worte, als hätte er den ganzen Freud in den Fingerspitzen. Erschreckt presste sie ihre schwachen Oberarme an sich und sass da, wie ein Kanari auf dem Stänglein, wenn im finsteren Zimmer ein Streichholz aufflammt. Und sie dachte, ich kann doch nicht anders, ich empfinde eben so, und tat sich leid wegen ihrer paar poetischen Worte. Und die Worte selbst taten ihr leid, jedes einzelne, gross und klein -- es waren doch ihre Worte, und was will er denn überhaupt. Man weiss doch, dass man nichts kann, nichts ist, und, dass man auch niemals was werden kann. Also, was will denn dieser dumme Kerl mit dem Geschwätz? Es ist ja zum lachen! Und nun geschah das, wovon alle Anwesenden noch tagelang sprachen. Die Mager zuckte zusammen und fing an ganz leise zu lachen. Zuerst stotternd, wie ein Idiot. Doch plötzlich schnellte sie empor und lachte schrill hellauf, riss das Tuch vom Tische, zertrampelte kreischend Tassen, Gläser, Rosen -- besessen, wie nur eine 얍 Schwester Sankt Veits . Warf sich zu Boden und wieherte, dass man das Zahnfleisch sah. -- -- -Eine halbe Stunde später sah man Ulrich Stein einsam und erlebnisschwanger durch Seitenstrassen streichen. B N
B
10
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N
B
N
B
N
B
B
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B
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XXXXXXXXXX
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7 9 9 9 15 16 23
B N
[sei]
B
] Weiss-Gott-wasN ] BBewusstseinN ] BUnterbewusstseinN ] BweissN ] Bniemals wasN ] BVeitsN ]
korrigiert aus: Weis-Gott-was korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: Unterbewustsein korrigiert aus: weis
[nichts] |niemals was| korrigiert aus: Veiths
125
N
N
ÖLA 3/W 203 – BS 47 r, Bl. 4
Endfassung (Lachkrampf)
ET6/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Lachkrampf B SkizzeN von Ödön von BHorváthN.
5
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ÖLA 3/W 204 – BS 47 s, Bl. 1
Die Geschichte, die ich hiemit mir erlaube Ihnen zu erzählen, ereignete sich in einem Tanzlokal. Nicht in einem jener Tanzpaläste, deren Strassenfassaden mit der lässigen Grausamkeit wohlhabender Ästheten über Nacht, Nässe und Schmutz lächeln. Es war auf einem jener Tanzböden, die sich nur „Palast“ nennen, mehr aus Grössenwahn, als aus Höflichkeit gegen ihre Gäste. Diese Säle haben keine Sektnischen wie Seitenaltäre. Man trinkt Bier, und jeder, der eintritt und den klebrigen Samtvorhang zur Seite schiebt, überblickt sogleich den ganzen Raum; links, dort hinter der Säule am dritten Tische sass die Charlotte Mager mit Ulrich Stein. Woher ich die beiden kenne? Na, hören Sie! Das Mädchen sass doch zwo Jahre als Stenotypistin bei Buck et Co. Der rote Buck ging bekanntlich pleite und turnt heute als Agent durch die Treppenhäuser wie der Orang im Zoo. Die Mager sass dann bei ihrer verheirateten Schwester, einem knochigen langen Elend, mit Augen, als bekäme sie den Stockschnupfen nimmer los. Ob sie noch heute da wohnt? Ich glaube es kaum, da das schwägerliche Paar samt Bubi bloss ein möbliertes Zimmer mit Küchenbenützung --- und der Ulrich Stein, den lernte ich vor Jahren auf dem Landsitz seiner verwitweten Mutter kennen. Einer herzensfeinen hochgebildeten alten Dame, die nach dem Tode ihres geliebten Gatten die Rolle der gefeierten Gesellschaftserscheinung ablegte und sich nur mehr der Ergänzung ihrer anerkannt herrlichen ostasiatischen Sammlung, die drei Zimmer füllt, widmete. So lebt sie nun still und bescheiden. Ulrich studiert Musik. Ob er sich einst Lorbeeren erdiri-얍gieren wird, fiel mir nicht auf. Sein Äusseres wirkt beruhigend wie ein vornehmes Treppenhaus, und als wohlerzogener junger Mann ist er nicht bar des sozialen Verständnisses. Ja, er beschwört sogar, alle Abendkleider zu hassen und nur einfache Mädchen, gewissermassen aus dem Volke, zu lieben. Er vertritt nämlich die Auslegung, dass Liebe Mitleid sei. Aber zum zweiten Stelldichein kommt er nicht mehr, denn er lechzt nach immer neuen Erschütterungen. Eine echte Künstlernatur, hat er statt Gewissen nur formvollendete Ausreden. Das dem Schicksal nie entrinnen können und so. Er hatte mit der Mager soeben zum drittenmale getanzt. Musikpause. Die zwei Lichtenberger Broadway-Boys samt „Stimmungskanone“ Walterchen setzten sich an den Tisch neben den Toiletten und der Ober mit dem Chaplingang brachte ihnen den kontraktlich vereinbarten Tee und Kuchen. Eine Blumenfrau hinkte von Gast zu Gast, der Ventilator surrte, drei Männer kamen gewichtig herein, wässerigen Schnee am Absatz. „Es schneit“, sagte Charlotte. Er kaufte ihr zwei Rosen. Sie lächelte: „Rosen im Winter! Man sollte in Betten voller Rosen liegen! Wenns nur wieder Sommer wär!“ Das ist Kitsch, durchzuckte es unsern Ulrich, übelster Kitsch! Pfui, Dreiteufel! Und infolge seines unstreitbar vorhandenen ästhetischen Feingefühls, packte ihn die Wut über solch sentimentalen Dreck. Es war eine Wut aus Literatur, sozusagen. (Lachen Sie nicht! Sowas gibts!) Eine schamlose Wut, die mit apokalyptischem Hasse danach lechzt, jede arme Seele, die ihre Sehnsucht nicht stilvoll auszudrücken vermag, zu rädern. B
2 2 35
SkizzeN ] HorváthN ] BTeeN ] B B
N
\Skizze/ Horv[a]|á|th korrigiert aus: Thee
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ÖLA 3/W 204 – BS 47 s, Bl. 2
Endfassung (Lachkrampf)
5
ET6/TS2 (Korrekturschicht)
„Was für ein Bett?“ höhnte er und bildete sich ein hypnotisieren zu können. Im Augenblicke hasste Ulrich Stein die Stenotypistin Charlotte Mager. „Hören Sie! Von was für einem Bette reden Sie da?“ „Ein Bett, irgendein Bett --“ „Aha!“ triumphierte er. „Wollen wir nicht tanzen?“ Sie tat aus Unsicherheit über die ihr unerklärliche 얍 plötzliche Veränderung seines Benehmens gelangweilt, und dies steigerte seine Wut. Jetzt hätte er sie niedermetzeln wollen, doch stoppte er seinen Blutdurst noch im letzten Augenblicke ab, nicht aus Feigheit, sondern infolge der Erkenntnis, dass der Tod ja auch Erlösung bedeuten könnte. Als lyrisches Temperament war er nämlich zu tiefst im Innern zweifelsohne metaphysisch orientiert und huldigte lediglich aus Schamgefühl und Eitelkeit der Psychoanalyse. „Das Bett“, stellte er fest und betonte feierlich jedes Wort „das Bett ist ein Symbol. Ein Symbol für das Bett. Verstehen Sie das?“ „Nein.“ „Nein?“ fuhr er zischend empor und schien zu frohlocken. „Nein?“ wiederholte er gedehnt und beugte sich langsam vor, dass sein Kinn fast das Tischtuch berührte: „Aufgepasst!“ „Ach was! Die paar poetischen Worte!“ „Poetisch? Poetisch ist gut!“ Und erklärte ihr klipp und klar, dass ihre Äusserung in puncto Rosenbett und Jahreszeiten nicht nur nicht poetisch, sondern reiner Mist und von jedweder geschmacklichen Warte aus abzulehnen sei. Er bellte ihr die Begründung ins Antlitz und sprach neben Bewusstsein und Unterbewusstsein , auch über Libido und Primitivität, nebst Doppelsinn aller Worte, als hätte er den ganzen Freud in den Fingerspitzen. Die Traumdeutung begriff sie nicht; sie verstand nur, dass sie sich wegen der Worte, auf die sie eigentlich stolz gewesen war, schämen sollte. Und es tat ihr plötzlich fast wohl, es einzusehen und sie dachte, ich kann doch nicht anders, ich empfinde eben so, und tat sich leid wegen ihrer paar poetischen Worte. Und die Worte selbst taten ihr leid, jedes einzelne, gross und klein -- es waren doch ihre Worte, und was will er denn überhaupt! Man weiss doch, dass man nichts kann, 얍 nichts ist, und, dass man auch niemals was werden kann. Also, was will denn nur dieser dumme Kerl mit dem Geschwätz!? Es ist ja zu lachen! Und nun geschah das, wovon alle Anwesenden noch tagelang sprachen. Die Mager zuckte zusammen und fing an ganz leise zu lachen. Zuerst stotternd wie ein Idiot. Doch plötzlich schnellte sie empor und lachte schrill, riss das Tuch vom Tische, zertrampelte kreischend Tassen, Gläser, Teller -- besessen wie nur eine Schwester Sankt Veits . Warf sich zu Boden und wieherte, dass man das Zahnfleisch sah. Eine halbe Stunde später sah man Ulrich Stein einsam und erlebnisschwanger durch Seitenstrassen streichen. Das Herz voll Leid, das Hirn voll kühner literarischer Pläne. B
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Lesetext
6 23 23 31 38
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SieN ] BewusstseinN ] BUnterbewusstseinN ] BweissN ] BVeitsN ] B B
korrigiert aus: sie korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: Unterbewustsein korrigiert aus: weis korrigiert aus: Veiths
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N
B
ÖLA 3/W 204 – BS 47 s, Bl. 3
N
ÖLA 3/W 204 – BS 47 s, Bl. 4
128
Einzeltext 7: Die Versuchung
129
Endfassung (Die Versuchung)
ET7/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 D i e Ve r s u c h u n g
ÖLA 3/W 218 – BS 47 i, Bl. 1
von 5
Ödön von Horváth . B
10
N
얍 Am Abend jenes Tages, dessen Vormittag die Firmung zahlreicher weissgekleideter Jungfrauen durch überaus blauen Himmel nur noch erhebender überwölbte, nahte sich der Einen aus jener unschuldigen Schar, namens Seraphine Hinterteil, zum erstenmal Satan --- in Gestalt eines geilen Greises, der auf eine Krücke gestützt hinter ihr herhüstelte und lüstern also lispelte: „Ach, hast Du einen süssen BFamiliennamen ---“N
ÖLA 3/W 218 – BS 47 i, Bl. 2
15
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Seit diesem Tage waren nun Jahre vergangen --- und erst in ihrem achtzehnten Lenze wuchs Seraphinens Neugierde zu jenem Mut, der ihr Zagen derart überwand, dass sie ohne Beben den Beichtvater frug, wie jener Spruch wohl zu deuten sei. Es dämmerte im Dome und der Pfaffe hinterm Gitter hob die Augen himmelwärts vom Hosenlatz und flüsterte errötend: „Höre, Du reine Magd: wohl kann Keiner um seinen Familiennamen, wir erben den Samen der Sünde und tragen ihre erblühende, blühende, verblühende Frucht lebenlang, doch hüte Dich! der Duft, der uns umschmeichelt, wird höllischer Gestank, riechen wir ausserehelich. Drum hebe die Nase hinweg von dem Nabel, aus dem diese böse Blume spriesst und lebe so engelsrein, wie Dein Vorname klingt; und bete darum --- Amen.“ B
25
N
Da betete Seraphine und wie sie so betete, wurde jener geile Greis immer schwächer und kränker. Und am siebenten Tage war er 얍 tot. 30
35
Und wieder waren viele Sommer und Winter vergangen. Aus der kleinen Seraphine wurde ein Fräulein Hinterteil und der Komet, der das vorigemal anlässlich ihrer Geburt durch die Erdnebel guckte, nahm nun, als er so einige Jahrzehnte später wiederkam, mit Erstaunen wahr, wie sehr sie gewachsen --- denn dies war auch das Einzige, was selbst einem solch geschlechtlosem Gestirn (und daher besonders scharfschauendem) auffallen konnte. Sie hatte sich zwar von den Knöcheln bis herauf zum Haar genau so entwickelt, wie all ihre Altersgenossinnen , jedoch die fremden Männer auf der Strasse sahen es nicht, denn ihr Alles war zu ausdruckslos, wohl weil ihr Leben nie einen tieferen Eindruck empfing. Wie sollte sie auch? --- hatte weder einen Bruder, der Freunde besass, noch Geld, da ihr allzu bald entschlafener Vater nur ein wenig besuchter, aber umso frömmerer Zahnarzt gewesen --- so wurde sie Lehrerin in dem gleichen christlichen Stift, das sie auf Freiplatz erzog; brachte vieltausend KinB
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7 14 23 37
N
B
Horv[a]|á|th
B
korrigiert aus: Familiennamen --- “ korrigiert aus: Duft,der korrigiert aus: Altersgenossinen
HorváthN ] Familiennamen ---“N ] BDuft, derN ] BAltersgenossinnenN ]
130
ÖLA 3/W 218 – BS 47 i, Bl. 3
Endfassung (Die Versuchung)
ET7/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
dern den Sinn bei von Punkt, Komma, --- und unterdessen schrieb sich ihr Leben ohne jegliches Komma. Geschweige denn Punkt. B N
So kam die Nacht nach dem Tage ihres dreiundvierzigsten Geburtstages. Da nahte sich ihr die Versuchung.
5
Sie hatte sich eben zu Bette begeben --- da traten die galanten Geister der Hölle in ihr billig möbliertes Gemach. 10
얍 Noch schnarchte nur die Finsternis, doch bald tropften an ihr Trommelfell sonderbare Töne: wie Brautnacht in einem uraltem Bette, das krächzt, als wären die Daunen dürres Laub --- und es liefen zwei Knaben in ihre Augen, im herbstlichem Walde die Notdurft verrichtend --- wie es ihr einst beim Schulausfluge des Zufalls feiner Finger offenbarte.
ÖLA 3/W 218 – BS 47 i, Bl. 4
15
Die Beiden dürften ja jetzt schon fast Männer sein, und der Eine war dunkel und der Andere blond --- das Brautbett hielt den Atem an ---: so fühlte Seraphine zweier Stiftenköpfe Spitzen ihre schlaffen Brüste berühren --- sie fühlte, was dunkel und was blond, und mit aufgerissenen Augen dachte sie nach, wie sich Alles verändert --B
N
20 B
An der Wand hing ein Bild: ein norddeutscher General, der nun plötzlich stramm die Hacken zusammenschlug und (wie auf höheren Befehl) sich zu entkleiden begann --- scheu flog ein Lächeln um ihre Lippen --- da zog er den Degen und schrie roh: „Was willst Du Hinterteil?!“ N
B
N
25
Sie stöhnte und schloss die Augen ---: langsam gebar die Dunkelheit ewige Fernen, aus denen bedächtig purpurne Kugeln hervorrollten, immer mehr und mehr --- bis ein stummer Sturm sie durcheinander wirbelte und aufhob in eine Fläche --- als stände die Sonne dicht hinter ihren Lidern, wie eine Woge Blut --- die zu einem Vorhang erstarrt sich alsbald auseinanderfaltete und einen Jüngling hervortreten hiess, der nur mit einer goldenen Schärpe geschmückt sich verbeugte 얍 und frug, was Königin Seraphine wünsche --B N
30
35
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B
N
Ihre Kniee zuckten und schlugen fiebernd aneinander: noch zweimal zerbrach fast der zarte Junge seinen Rumpf vor ihr, doch diesmal nach rückwärts -- bis, sich wiedererhebend, Staub auf seiner Stirne stand. Sie warf sich auf den Bauch und presste ihr Antlitz in das kaltfeuchte Kissen, droben am Dache sang ein Kater und tief vom höllischem Meere umbraust erzeugte sich selbst ein Ungeheuer ---: halb Mann, halb Stier --- und das stürzte auf den höflichen Jüngling, biss ihm die Seele aus der bescheidenen Brust und schleuderte ihn ins --- All!
1 18 21 22 29 30
B N
[Strich]
B
] schlaffenN ] BAnN ] BHackenN ] B N] BalsbaldN ]
korrigiert aus: schlafen korrigiert aus: an korrigiert aus: Haken
[von] korrigiert aus: allsbald
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ÖLA 3/W 218 – BS 47 i, Bl. 5
Endfassung (Die Versuchung)
B
5
10
15
ET7/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Denn da erst sah sie, dass Beide auf einer Kugel gestanden, die sich schier unfassbar schnell drehte, und sie erkannte auf ihr die verschlungenen Linien der Weltteile. N
China, Paris, Amazonas --- doch der Stiermann zwang den Globus zum Stehen. Mit geschwollenen Adern stierte er brünstig sie an --- und plötzlich waren es zwei Globusse, als er nun schäumend nach ihrem Schosse sprang --- sie wehrte sich, wand sich --- aber des Ungeheuers stämmige Hörner schlitzten gar unbarmherzig ihre Innenschenkel auf: heiss rieselte ihr Blut und wurde zur Wolke gesotten vom Schweiss auf seinem breiten, behaartem Rücken --- ihr Gesicht, wie aus Flammen geballt, drang durch den Dunst an das Fussende: dort röhrte ein rosa Elefant und reckte den Rüssel und alle Ecken öffneten sich und spieen ganze Klassen magerer Mädchen aus, die mit Zuckerfeigen um seine Gunst buhlten. Rings aus den Schubladen sahen blauäugige Knaben traurig zu --- da stampfte ein Pferdehuf in ihr Kreuz, da hob sich ihr Hin-얍tern, sie spreizte die Zehen und knirschte keuchend mit den Zähnen und winselte dann --- Da schritt Herr Satan über ihren Leib --- ---
Und vom nächsten Tage ab, hatte sie bei den Kindern in der Schule den Spitznamen: die Hexe.
1
B
DennN ]
korrigiert aus: denn
132
ÖLA 3/W 218 – BS 47 i, Bl. 6
Einzeltext 8: Großmütterleins Tod
133
Endfassung (Großmütterleins Tod)
얍B
ET8/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
N
ÖLA 3/S 5 – BS 47 n [2], Bl. 1
GROSSMÜTTERLEINS TOD B
5
Marie, die Frau des Buchhalters Hannes Moser hatte ihren Mann verlassen. Die Frau des Hannes Moser war ihrem Mann davongelaufen. Sie hatte den Tag über nichts gesprochen und war am abend verschwunden. Man sah sie noch am Bahnhof stehen und auf den Zug warten, der in die Stadt fuhr. Das war das einzige, was Hannes erfahren konnte. N
B
B
N
N
B N
10
Sie war ihm davongelaufen, nicht weil er sich in eine Andere verguckt hatte, und auch nicht weil sie sich in einen anderen verguckt hatte. Er war auch kein Spieler, ein solider Mann - wie man so sagt. Sie hatte ihr kleines Kind zurückgelassen und war davon. Halb besinnungslos. Sie war eine Frau, bleich und abgemagert, mit fettigem Haar und säuerlichem Geruch . Aber sie hatte schöne große dunkle Augen, voll Scheu. Und dann blickte sie immer drein, als fühlte sie sich zurückgesetzt, als dächte sie immer, Gott, mein lieber Gott, ich lebe ja doch auf der Schattenseite des Lebens. Aber sie hatte nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen - ihr mangelte der Mut, weil sie ihre Erkenntnis nicht klar formulieren konnte. B
B
B
15
N
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N
B N
20
Daß sie nun weg war, den Grund hierzu, gab Großmütterlein. Großmütterlein genannt, seit das Kind noch nicht da, aber unterwegs war , war die Mutter ihres Mannes. Die Alte wohnte bei den beiden Jungen und hatte die stärkste Vitalität. Trotz ihrer 70 Jahre gab sie den Ton an; sie herrschte; nicht schreiend, nicht befehlend, aber ewig Rücksicht fordernd und aus Wut, daß man ihr die Rücksicht erweise, voll Bosheit und verärgert. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man ihr etwas schenkte. Sie sog das Blut der jungen Leute, sog ihre ganze Kraft in sich. Dabei lief sie in die Kirche am Sonntag, schimpfte aber auf den Pfarrer. Konnte sich mit niemandem vertragen. B
B
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N
N
B N
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얍 Oh, Großmütterlein konnte aber auch so friedlich Baussehen!N Alle, die nicht näher hinsahen, lobten sie. Wenn sie so an einem Tage, an einem BwarmenN Spätherbsttage in dem Garten des Häuschens saß, auf einer Bank und strickte - ab und zu nachsann, in die Ferne blickte - in einem Buche las. Und, wenn sie zwischen den Seiten eine Rose fand, wie die Großmutter in Andersens Märchen, so dachte sie auch darüber
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B N
] Marie f verlassen.N ] BMannN ] BabendN ] B N] BAndereN ] BFrau, bleichN ] BGeruchN ] B N] Bnoch f warN ]
22 29 30 31
B
D[{e}]|i|e
B N
GW III, S. 98 keine Leerzeile korrigiert aus: aussehen ! korrigiert nach KW 11, S. 104 aus: warem
B
DieN ] ] Baussehen!N ] BwarmenN ]
gestrichen: Transkription Ödön von Horváth Archiv 47n (Krischke) fehlt in KW 11, S. 103 KW 11, S. 103 Manne GW III, S. 98, KW 11, S. 103 Abend GW III, S. 98 keine Leerzeile KW 11, S. 103 andere korrigiert aus: Frau, bleich KW 11, S. 103 Geruche GW III, S. 98 keine Leerzeile korrigiert aus: war noch nicht da, aber unterwegs; GW III, S. 98 zwar noch nicht da, aber unterwegs; KW 11, S. 103 zwar noch nicht da, aber unterwegs war
134
ÖLA 3/S 5 – BS 47 n [2], Bl. 2
Endfassung (Großmütterleins Tod)
ET8/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
nach - aber sie bekam eine Wut, einen Haß auf das Leben, weil es verging. Sie haßte das Leben, die Jugend, sie sah in ihnen ihren Tod, und ihr Lächeln voll Nachsicht und Güte, war aus Schwäche. Ihre Güte war verlogen, ihr Haß echt! B
N
B N
5
In der Frau ihres Sohnes sah sie die Rivalin, das Weib. Sie ekelte sich vor ihrer Fraulichkeit, vor ihren Brüsten, vor ihrer Jugend! Sie hatte einen Haß auf die beiden Betten. Einmal waren die Zwei abends fortgegangen, da saß sie allein im Zimmer. Sie humpelte umher und trat auch in das Schlafzimmer ein. Sie stand in der Türe und ihr Gesichtsausdruck war so entsetzlich verzerrt, so entstellt, daß sie einer Furie glich. Sie ging drinnen auf und ab, und hegte die finstersten Gedanken. Dort stand das Bett, ihr Bett - in diesem Bette ist sie einst gelegen, sie kennt ja noch das ganze Zimmer, die Bilder und alles - aber jetzt muß sie in der Kammer hinten wohnen und dort an ihrem Bette liegt das Nachthemd der jungen Frau. Dort wäscht sie sich, dort liegt ihre Zahnbürste, im Schranke ist ihre Wäsche. Ihr Duft liegt im Zimmer - und wo blieb sie. In der Kammer! Es war Alles vergangen, Alles verflossen - und die Alte schnaubte Rache gegen die Jungen. B
10
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B
N
N B N B N
B N
Als die Beiden nach Hause kamen fühlten sie, daß Jemand in ihrem Zimmer war, sie fühlten die feindselige Luft, die dunklen Gedanken, aber keiner wagte ein Wort zu sagen, weil sie wußten, wer hier war. Ihre gute Laune war vorbei - schweigend zogen sie sich aus. Plötzlich setzte sich die Frau an den Bettrand und fing an leise zu weinen. Er horchte auf, er wußte genau Bescheid. Unschlüssig, unsicher, zog er sich aus. Er sah den gekrümmten Rücken seiner Frau. „Warum weinst Du denn? Was hast Du denn schon wieder?“ frug er. „Ich 얍 halte das nicht mehr länger aus -“ „Was nicht mehr länger? “ herrschte er sie an. Und er machte seiner Wut auf die Mutter Luft, indem er sie auf seiner Frau ausließ. Und es tat ihm wohl, das tun zu können. - „Halte doch endlich Dein Maul! Ich weiß, was dahintersteckt, es ist nur B
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N
B
B
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echt!N ] ] BJugend!N ] BKammer!N ] B N] B N] B N] BBeidenN ] BJemandN ] BDuN ] Bdenn?N ] BDuN ] Bwieder?“N ] Baus -“N ] Blänger?N ] Bendlich DeinN ] BDeinN ] BMaul!N ] B
B N
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NN B
N
korrigiert aus: echt ! GW III, S. 98 keine Leerzeile korrigiert aus: Jugend ! korrigiert aus: Kammer ! KW 11, S. 104 Leerzeile GW III, S. 99 kein Absatz GW III, S. 99 keine Leerzeile GW III, S. 99, KW 11, S. 105 beiden GW III, S. 99, KW 11, S. 105 jemand GW III, S. 100, KW 11, S. 105 du korrigiert aus: denn ? GW III, S. 100, KW 11, S. 105 du korrigiert aus: wieder ? “ korrigiert aus: aus - “ korrigiert aus: länger ? korrigiert aus: endlich Dein GW III, S. 100, KW 11, S. 105 dein korrigiert aus: Maul !
135
N
B
N
ÖLA 3/S 5 – BS 47 n [2], Bl. 3
Endfassung (Großmütterleins Tod)
ET8/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
der Haß auf meine Mutter! Hetze nicht mehr gegen sie! Es verfängt bei mir nicht! Wer meine Mutter angreift, greift mich an! “ B
B
N
B
N
B
N
B
N
N
B N
5
Die Großmutter saß aufrecht in ihrem Bette und freute sich satanisch über den Krach. Sie horchte die Wände durch. - Lange war es schon still geworden, noch saß sie aufrecht und horchte. Und freute sich. Die Frau lag still weinend, und der Mann dachte nach, wie er das Geld herschaffen muß für die zwei Weiber! Plötzlich fiel ihm das auf und er sah klar einen Zusammenhang. Er haßte nun die Alte und wollte sich seiner Frau nähern. Diese wehrte ab, worauf er sie kniff, daß sie einen blauen Fleck bekam. Er biß sich dabei so auf die Lippen, daß das Blut kam. Die Frau stöhnte leise auf und weinte weiter. B N
B
10
N
B
-----
N
15
20
Am nächsten Tage ging die junge Frau fort und kam nicht wieder. Man wartete mit dem Essen auf sie und die Alte meinte, wo sie sich nur wieder herumtriebe, und, daß man zu ihrer Zeit bedeutend pünktlicher gewesen sei, und überhaupt, was streune sie in der Nacht umher - doch er gab keine Antwort. Und das war ihr unheimlich. Sie fühlte sich unsicher und ärgerte sich, ihn nicht ärgern zu können. Bin ich ihm so gleichgültig geworden? - dachte sie eifersüchtig. B
N B
N
B N
Die Frau kam nicht wieder und Hannes erfuhr, daß sie in die Stadt gefahren war, wahrscheinlich zu ihrer Schwester. Er ging an die Bahn - die Alte sagte: „ Ich fahre mit.“ „Gut!“ sagte er. Der Alten wurde es unheimlich zu Mut , sie dachte ja gar nicht daran zu fahren, es war nur eine kindische Bosheit. Aber er erriet ihren Gedanken, daß sie am liebsten zu Hause bleiben möchte und er erklärte nun sicher und unwiderstehlich, ohne Widerspruch duldend: „Du fährst mit! Der nächste Zug geht in einer Stunde!“ B
25
B
N
B
B
30
N
N
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B N
얍 Eine Stunde später saß Hannes und Großmütterlein auf dem Bahnhof. So im Freien sah die Alte viel älter aus, kleiner, BverhutzelterN wie ein Zwerg. Sie saßen auf einer Bank neben dem Bahnhof. Es war eine laue Sommernacht und in der Ferne ging der 1 1 1 2 2 3 6 8 14 21 21 22 24 25 25 29 30 32
Mutter!N ] sie!N ] BverfängtN ] Bnicht!N ] Ban!N ] B N] B N] BWeiber!N ] B-----N ] BgleichgültigN ] Bgeworden?N ] B N] BIch fahreN ] Bmit.“N ] Bzu MutN ] BStunde!“N ] B N] BverhutzelterN ] B B
korrigiert aus: Mutter ! korrigiert aus: sie !
ver[g]|f|ängt korrigiert aus: nicht ! korrigiert aus: an ! GW III, S. 100 keine Leerzeile KW 11, S. 105 Leerzeile korrigiert aus: Weiber ! [‘] - ---- fehlt in GW III, S. 100, KW 11, S. 105
||
gleichgü[t]|l|tig korrigiert aus: geworden ? GW III, S. 100 keine Leerzeile korrigiert aus: ich hafre
mit. [;]|“| KW 11, S. 106 zumut KW 11, S. 106 Stunde!“ – GW III, S. 101 keine Leerzeile GW III, S. 101, KW 11, S. 106 verhutzelter,
136
ÖLA 3/S 5 – BS 47 n [2], Bl. 4
Endfassung (Großmütterleins Tod)
5
ET8/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
Wind. Man konnte die Sterne sehen, aber der halbe Himmel war tiefschwarz. Dort waren Wolken. Und ab und zu strich ein kleiner Wind über den Bahnsteig. Die Alte in ihrem Kapotthütchen, saß da wie ein maskiertes Kind. Sie betrachtete voll Neugier eine Gruppe Kinder, die mit einem Hunde spielten und es sah aus, als wollte sie fast mitspielen. Sie blickte voll Ehrfurcht auf die Uniform des Bahnbeamten, auf die vielen Ziffern und Signale, die sie nicht enträtseln konnte. Sie ging wenig aus in der letzten Zeit. B
N
B N
10
Der Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung. Hannes saß mit gesenktem Kopf da und stierte auf die Risse in dem Boden. „Es zieht“, sagte plötzlich die Alte. Er gab keine Antwort. „Es zieht“, wiederholte sie, „es fröstelt mich. Setzen wir uns doch anderswohin.“ „Überall ziehts“, antwortete er. „Aber hier ist es mir zu windig“, keifte sie, „willst Du denn, daß ich eine Lungenentzündung bekomme, daß ich mir den Tod hole?! Den Tod!! “ Er blickte auf und ihre Augen trafen sich. Den Tod, dachte er. Ja, den Tod! Mir solls recht sein! Das beste wäre es! Du hast kein Recht mehr! Du hast Deine Rolle ausgespielt und mußtest schon längst abtreten! Sie erschrak vor seinem Blicke. „Es zieht“, wiederholte sie und es lag etwas unendlich wehmütiges in ihrer Stimme. Diesen Blick hatte sie bei Hannes noch nicht gesehen, so hatte er sie noch nie angesehen. In ihrer Stimme lag ein Bitten. Es sprach die Frau aus ihr, die zurückgesetzte Frau. Er blieb sitzen. Sie aber stand plötzlich auf, doch er faßte sie am Handgelenk und drückte sie nieder. „Bleib. Es zieht ja nicht!“ Ein Windstoß strich an ihr vorüber, ein Fenster klirrte in der Nähe. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er hat sich nicht viel verändert so im Profil. Sie nahm Abschied. Plötzlich wurde es ihr klar, wie einem Sterbenden. Was steht sie auch noch da herum 얍 und hemmt die Lebenden? Sie sah ihren Sohn, wie er noch ganz klein war. Ein Signal läutete. „Jetzt muß er bald kommen, der Zug“, sagte er plötzlich leise. „Ja, jetzt muß er bald kommen -“ „Es zieht hier wirklich“, sagte er, „komm, Mutter! Setzen wir uns anderswohin!“ „Nein. Ich bleibe hier. Es zieht gar nicht mein Sohn. Es zieht nicht mehr. - Und B
N
B
15
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B
N
B
B
B
B
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6 8 3 13 14 14 15 15 16 17 18 19 19 26 27 28 30
ging wenigN ] ] B N] Bziehts“,N ] Bwindig“,N ] BDuN ] Bhole?!N ] BTod!!N ] BTod!N ] Bsein!N ] Babtreten!N ] Bzieht“,N ] BwehmütigesN ] BverändertN ] BeinemN ] BLebenden?N ] BZug“,N ] B
B N
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korrigiert aus: ging wenig GW III, S. 101 keine Leerzeile GW III, S. 100 keine Leerzeile korrigiert aus: ziehts“ korrigiert aus: windig“ GW III, S. 101, KW 11, S. 107 du korrigiert aus: hole ?! korrigiert aus: Tod !!
Tod[,]|!| korrigiert aus: sein ! korrigiert aus: abtreten!“ KW 11, S. 107 abtreten! korrigiert aus: zieht“ GW III, S. 101, KW 11, S. 107 Wehmütiges KW 11, S. 107 verändert – KW 11, S. 107 einer korrigiert aus: Lebenden ? korrigiert aus: Zug“
137
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ÖLA 3/S 5 – BS 47 n [2], Bl. 5
Endfassung (Großmütterleins Tod)
ET8/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
dann will ich auch nicht in die Stadt fahren. Hol Du Dir Deine Frau allein. Ich will da nicht dabei sein. Laß mich hier noch etwas sitzen, bevor ich umkehre -“ Der Zug fuhr ein. „Leb wohl, Mutter!“ sagte er. „Leb wohl!“ Sie blieb auf dem Bänkchen sitzen. Der Wind wehte scharf. Der Zug fuhr ab. Sie sah den beiden roten Lichtern noch nach. Dann saß sie still allein. Sie hatte ihm noch nachgewinkt. Die Lichter am Bahnhof gingen aus. B
5
N
10 B
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20
-----
N
Die Großmutter ist tot. Sie war nur kurze Zeit krank gewesen, hatte sich erkältet und eine Lungenentzündung war hinzu getreten. Der Hannes hatte sein Weib aus der Stadt zurückgebracht, und nun lebten sie zusammen. Allmählich wich auch der Schatten der Großmutter aus dem Hause, und als das Kind geboren war, da war von der Großmutter nichts mehr übrig, als das Holzkreuz und die Erinnerung. Eine gleichgültige Trauer. Man hat ihren Tod nicht betrauert, weil sie alt war. B
1 11 15
Du f DeineN ] ----- N ] Bsie zusammen.N ] B B
N
GW III, S. 102, KW 11, S. 108 du dir deine fehlt in GW III, S. 102, KW 11, S. 108
[zu] |sie zusammen.|
138
Einzeltext 9: Der Tod aus Tradition
139
Endfassung (Der Tod aus Tradition)
ET9/TS1 (Korrekturschicht)
얍 D e r To d a u s T r a d i t i o n B Eine Legende aus den nördlichen KalkalpenN von Ödön von BHorváthN. 5
10
15
Lesetext
ÖLA 3/W 217 – BS 47 e [2], Bl. 1
BN
In der Haupt- und Residenzstadt einer mitteleuropäischen Republik, die südwärts an harmlose Schlawiner, dagegen im Norden leider an umso gewalttätigere Piraten grenzt, lebte noch 1925 ein biederer aufrechter Mann, voll Gottesfurcht und Ahnenkult, namens Franz Xaver Loibl. Hausbesitzer, Familienvater und Ehrenmitglied des Männergesangvereins „Athen-Ost“, war er von Mutter Natur mit jener oft gerühmten behäbigen derben Heiterkeit begnadet und bis zum Abschluss der allzu grossen Zeit zu allen barocken Spässen immer bereit gewesen, aber seit die Juden samt ihren Knechten vor einigen Jahren den Landesvater vertrieben und die Republik proklamiert hatten, hatte ihn niemand mehr lachen gesehen, höchstens lächeln, hämisch und sardonisch. Das Herz voll Bitternis und Bier suchte er die Einsamkeit und fand sie an einem verödeten Stammtisch. Er kegelte nicht mehr, noch sang er oder spielte Tarock. Witterte überall Republikaner und hatte schwarzrotgoldene Angstträume. So träumte er einst, er fahre von Salzburg gen Berchtesgaden. Ostern wars, noch roch es nach Schnee trotz der hellgrünen Matten. Und da er an den Königssee kam, stand er plötzlich unter tausend und abertausend Menschen, lauter Landsleuten in sonntäglichem Gewand. Aber wie er sich so umsah, schienen sie ihm seltsam verändert, und wie er nochmals hinsah, bemerkte er bestürzt eine entsetzliche Wandlung: die Lederhosen reichten ihnen bis an die Knöchel, so waren sie zusammengeschrumpft, 얍 und alle hatten schwarzes geschneckeltes Haar, Locken an den Schläfen und Plattfüss. Und die Sennerinnen hiessen Sara und Rebekka, Lea, Ruth und Sabinnerl ! Und dann hielt ein engbrüstiger Intellektueller eine Rede in peinlich nordischer Mundart (alles schrie begeistert „hoch!“) und er sagte, er sei schnurstracks von Tarnopol („hoch!“) hierhergeeilt um den weihevollen Akt der Umtaufe des Königssees in „See der Republik“ zu vollziehen. Und wieder widerhallte brausend vieltausendstimmiges Hoch! von den Felsen ringsum, und wie unser Loibl auf den Kalender sah, da wars der erste Mai. Und die Ziffer war rot. Und Schabbes obendrein. Da schlug er mit dem Mute der Verzweiflung blindlings um sich und -- erwachte. Aufatmend konstatierte er, dass man doch noch nicht so weit sei und, dass er schwitze wie eine mannbare Sau. Besorgt sass Maria, die andere Hälfte seiner fünfundzwanzigjährigen Ehe und Mutter seiner Tochter Therese, in ihrem Bette und frug, was er denn nur schon wieder für Ungereimtheiten geträumt hätte, und ob er denke, jede Nacht so zu winseln und zu schnauben wie ein krankes Ross. Und legte ihm nahe, in Zukunft vor dem Einschlafen immer etwas zu lesen, irgendetwas, das einen entrückt oder entzückt, dann träume man auch davon. Sie, zum Beispiel, lese die Romane in den Neuesten Nachrichten, dann träume sie überhaupt nichts. Ja, er solle, nein! er müsse nun fortab lesen -- man schwitze dann auch nicht gleich einer Tobsau, und seufze nicht wie ein Hirsch und belästige sein Weib, indem dass die Bettstatt kracht, wie ein Maschinengewehr, und man als gläubige Christin schon gleich zum B
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B
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B
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2 2 3 18 24–25 27
B
Eine f KalkalpenN ]
] HorváthN ] BKönigsseeN ] BSabinnerlN ] BKönigsseesN ] B N B
(1) \Eine f Kalkalpen/ (2) \(Verkalk-Gruppe)/ gestrichen: \können Sie auch weglassen. Horváth./
Horv[a]|á|th korrigiert aus: Königsee [Rahel] |Sabinnerl| korrigiert aus: Königsees
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N
ÖLA 3/W 217 – BS 47 e [2], Bl. 2
Endfassung (Der Tod aus Tradition)
Lesetext
Pfarrer rasen möchte, von wegen der letzten Ölung, indem dass man nie nichts wissen könne. Unter der Wucht ihrer Rhetorik brach er zusammen. Erschlafft und zermürbt von seinen apokalyptischen Visionen hatte er keine Kraft ihre Beweisführung zu widerlegen. Seine rehhafte Scheu vor dem gedruckten 얍 Worte schwand, und noch am gleichen Vormittage betrat er tapfer eine Buchhandlung. Der Entschluss, die Schwelle eines solchen „Ausschanks“ zu überschreiten, fiel ihm wahrlich nicht leicht. Drinnen, zwischen Goethe und Kant, dünkte ihm alles fremd, so irgendwie nicht bodenständig, fast ausländisch. Nur nicht lange diese Luft atmen, durchzuckte es ihn, und er äusserte hastig seinen Wunsch, ein Buch oder dergleichen über die gute alte Zeit kaufen zu wollen. Mit einem „Sittenbrevier aus ehernen Zeitaltern ungebeugten Germanentums“ gesammelt von einem, der es wissen muss, verliess er den Laden, um drei Mark ärmer -- sechs Mass, rechnete er. Die Nacht kam und mit mürrischem Misstrauen blätterte Loibl in seiner Bibliothek. Löschte dann das Licht aus, rülpste und schlief ein. Und sieh da! Er träumte von lauter Zinnsoldaten und Dekolletes a la Luise. Was er von den Zinnsoldaten träumte, kann nicht mitgeteilt werden, um nicht mit dem Gesetze gegen Verrat militärischer Geheimnisse in Konflikt zu geraten, und auch nicht was er von den Dekolletes träumte, um nicht gegen Schmutz und Schund zu sündigen -- kurzum: als er am morgen erwachte, lächelte er wie ein gestillter Säugling, und fühlte sich durch frische Hoffnung gebläht. -Nach vierzehn Tagen hielt er auf Seite elf und kam zu Kapitel vier mit der seltsamen Überschrift: ius primae noctis. Infolge seiner radikalen Ablehnung aller Fremdwörter wollte er es kurzerhand überblättern, doch da sprang ihm der Untertitel in die Augen, der lautete: Das Recht auf die erste Nacht. Was wäre denn jetzo nur dieses? dachte er und las. Las und las. Zuerst, wie üblich, verstand er nicht, was er las, dann, als er es begriffen hatte, glaubte er es seien lauter Druckfehler und fing wieder von vorne an, buchstabierte jedes Wort, bis er Absatz für Absatz auswendig hersagen konnte wie ein Suppenschüler seine Hausaufgabe. Längst schon schnarchte seine Zeltgenossin, doch ihn mied jede Müdigkeit. Ungewöhnlich rege sprangen durch sein Hirn Gedanken, Bilder, 얍 Akkorde, wie tolle Zirkuspferde. Und plötzlich schoss aus dem Chaos seiner Phantasien ein ungeheuerer Plan, fuhr blitzartig durch sein ganzes Sein, dass er schier erzitterte: er bringt seinem Herrscher sein Kind dar, sein Fleisch sein Blut, die Theres! Der Landesvater, und nur er, trotz Republik und Erfüllungspolitik, hat das Recht auf die erste Nacht! Erst durch die Weihe des Gottbegnadeten wird der Mensch zum Mensch! Oh, der Herr soll es fühlen, dass es noch Männer gibt in seinem Lande, Männer, die treu an der Tradition hängen, er soll es spüren, dass die Verehrung der Sitten der Vorfahren noch lange nicht zur hohlen Phrase geworden ist -- er, Franz Xaver Loibl wird es beweisen! B
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ET9/TS1 (Korrekturschicht)
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PfarrerN ] RhetorikN ] BapokalyptischenN ] BirgendwieN ] Behernen ZeitalternN ] BDekolletes aN ] BVerratN ] B B
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ÖLA 3/W 217 – BS 47 e [2], Bl. 3
Pfa\r/rer R\h/etorik apokaly\p/tischen i[e]|r|gendwie [goldenen Jahren] |ehernen Zeitaltern| gemeint ist: Dekolletés à Verrat[s]
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ÖLA 3/W 217 – BS 47 e [2], Bl. 4
Endfassung (Der Tod aus Tradition)
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ET9/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Und hoch klang das Lied vom treuen Mann, wie Trommelfeuer bei Masskrugklang! -- doch am folgenden morgen meinte seine Frau, was denn nicht noch. Und fernerhin meinte sie auch, es scheine ihr fast, dass er spinne, und ausserdem sei dieser Plan eine Unkeuschheit und sicher nur bei den Norddeutschen so gewesen und niemals nicht bei uns. Und er sagte, er spinne gar nie nicht und sie sei auch schon solch eine verdorbene Neuerin, verweichlicht und ohne Schmalz, und sie solle doch sogleich nach einem bestimmten ehemaligen Künstlerviertel ziehen und Rhythmus tanzen. Und sie sagte, unter keinen Umständen tanzt sie nicht Rhythmus , und er aber sagte, sie werde schon sehen, wie sie Rhythmus tanzen werde und rief: „Therese!“ Aber da schrie die Frau, sie rufe den Arzt, und er sagte: nur zu! Es sei ihm bereits bekannt, dass der verrückt sei, der treu an der grossen Vergangenheit hänge. Und wieder rief er nach seinem Kinde. Es kam. Und der es da erzeugte sprach: „Ich weiss , dass Du ein braves Mädchen bist, und obwohl Du an Starkbierfesten gar mannigfach in den Hintern gezwickt worden warst, bist Du dennoch unberührt, eine Jungfrau, auf und nieder. So ziehe denn hin zum Landesvater und reiche ihm all Dein Unerwecktes, auf dass er es wecken möge. So will es das 얍 Gesetz.“ Und er wollte sein Kind segnen. Doch es wehrte ab: „Du irrst, oh Vater! Oh, Du irrst!“ „Wieso nachher?“ „Indem, dass ich mein Herz in Heidelberg verloren hab.“ „Ha?!“ „In einer lauen Sommernacht.“ „Verloren?“ zischte er wie der Held einer Pubertätstragödie. „Verloren?! Oh, über Dich Fetzen! Kein anständiges Bürgermädchen verliert so etwas nicht!“ „Vater spinntisieret wohl?“ frug die Tochter ihre Mutter; jene nickte nur: und ob! Hierauf wandte sie sich wieder ihrem Vater zu und bat um Beantwortung folgender Fragen: ob er wohl ihre Entwicklungsjahre über geschlafen hätte, da er ihr solch unhygienischen Lebenswandel zutraue, und ob er ausserdem nicht denke, dass der Landesvater denn doch schon etwas gebrechlich wäre, und ob er denn überhaupt nicht wüsste, dass es ja gar keinen Landesvater nicht mehr gäbe, und ob er also vielleicht den Landtagspräsidenten gemeint hätte -- -- Aber Loibl würdigte sie keiner Antwort. Er lachte nur ab und zu grimmig wie ein dem Grabe entstiegener Hoftheaterschauspieler. -Seit dieser Szene traute er keiner Seele mehr. Und er hub an den Tag und die Sonne zu hassen. Er verfluchte das Licht als den Zerstörer seiner Sehnsucht. Der Schlaf, immer schon eine seiner liebsten Beschäftigungen, wurde ihm zur Leidenschaft. Nach vierzehn Tagen schlief er bereits ab nachmittags. Und so träumte er nun täglich sechzehn bis achtzehn Stunden lang von Hörigkeit und Gottesgericht, Ketzern am Scheiterhaufen, Hexenprozessen und Judenblut, und wenigstens die Finsternis gehörte der Vergangenheit. B
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RhythmusN ] Umständen tanztN ] BRhythmusN ] BRhythmusN ] BweissN ] BspinntisieretN ] BeineN ] B B
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korrigiert aus: Rythmus korrigiert aus: Umständen tanzt korrigiert aus: Rythmus korrigiert aus: Rythmus
weis\s/ gemeint ist: spintisieret korrigiert aus: einer
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ÖLA 3/W 217 – BS 47 e [2], Bl. 5
Endfassung (Der Tod aus Tradition)
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ET9/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Nach weiteren vierzehn Tagen schlief er bereits Tag und Nacht, und erwachte nur zur Brotzeit. Aber nach abermals zwei Wochen wachte er überhaupt nicht mehr auf. Mit den Flügeln des Schlafes war er in eine Monarchie geflogen, in der alles so geblieben war wie am ersten Tag. Nun frohlockt er in jenen Gefilden, allwo alles Tradition ist. Die Tradition der Ewigkeit.
XXXXXX
143
ÖLA 3/W 217 – BS 47 e [2], Bl. 6
144
Einzeltext 10: Aus den weissblauen Kalkalpen
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Endfassung (Aus den weissblauen Kalkalpen)
ET10/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Aus den weissblauen BKalkalpenN.
ÖLA 3/W 191 – BS 47 c, Bl. 1
I. 5
15. Juli. Die Schulen sind aus, die Ferien beginnen, die Städter strömen in die Natur um sich auszuschwitzen. Heuer gibt es wiedermal besonders viele unbefriedigte Damen. Pflichtgetreu absolvieren die Bauernburschen ihre galanten Abenteuer, diese Meister der praktischen Psychologie. Ich sitze in einem Aussichtscafe . Misstrauisch erkundigt sich die Kellnerin, warum ich so ohne irgendeiner Frau dasitze. Ich sage, ich sitze auch gern mal so allein, worauf sie meint: „Freilich, man muss auch mal ausschnaufen, jetzt ist wieder Saison, jetzt haben die Herren wieder streng zu tun.“ B
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II. 15
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Ein Fremder frägt zwei eingeborene Brüder: „Verzeihen Sie, bitte, könnten Sie mir sagen welche Kuppe der Krottenkopf ist?“ „Ha?“ „Der Krottenkopf, bitte.“ „Der Krottenkopf“ befleissigte sich der eine schriftdeutsch zu antworten „des is dort der dicke, der dritte rechts hinter dem vierten links ganz hint, aber jetzt sehngs den net, von hier aus kann man nämli den Krottenkopf nicht sehen.“ „????“ „Geh lass do den Socka!“ meinte der ältere Bruder freundlich. „Leck mi am Arsch“ belehrte ihn der Jüngere. „Wannst a Fremdnort sein wuillst, musst scho freundli sein zu de Leut, da hilft si nix.“ B
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얍 III. 30
ÖLA 3/W 191 – BS 47 c, Bl. 2
Erst sieben Wochen nach dem 20. Mai wurde das Wahlmysterium zu Mittelsöchering enträtselt. Dort wurden 68 Stimmzettel abgegeben, davon 67 für die Bayerische Volkspartei und einer für die Kommunisten. Natürlich wurde unter Leitung des Pfarrers nach dem roten Hund geforscht. Aber wie gesagt erst nach sieben Wochen kam man durch Zufall dahinter, dass die kommunistische Stimme nicht vom Anderlbauern stammt (der im Weltkrieg verschüttet worden war und seither nichts von all dem wissen wollte) und der als vermeintlicher Roter schon des öfteren gefotzt worden war, sondern von der achtzigjährigen Schwester des Pfarrers , die bei der Wahl ihre Brille daheim vergessen hat und also das Kreuz statt bei der sieben bei der fünf gemacht hat. -- Die Wahrheit hat selten Pointen. B
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oh.
1 9 25 32–33 37
KalkalpenN ] AussichtscafeN ] BJüngere.N ] BPfarrersN ] BPfarrersN ] B B
K[l]|a|lkalpen Aussichts[k]|c|afe korrigiert aus: Jüngere korrigiert aus: Pfarers korrigiert aus: Pfarers
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Einzeltext 11: Abseits der Alpenstraßen
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Endfassung (Abseits der Alpenstrassen)
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ET11/TS1
Lesetext
Abseits der Alpenstrassen. Von Ödön Horváth. B N
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Auf einer Probe meines Volksstückes „Die Bergbahn“ entspann sich eine längere Debatte über Aberglauben. Wir waren einer Meinung, dass abergläubisch fast jeder Mensch sein dürfte, auch wenn er es bestreiten sollte. So hat wohl jeder sein „Unberufen!“ in sich – seine atavistische Angst vor dem bösen Blick. Was man mir aber nur mit einem leisen Misstrauen glauben wollte, war dies: dass heute in Mitteleuropa noch Deutsche leben, die ehrlich an Hexen glauben, das heisst: an die Möglichkeit, dass sich Satanas persönlich für ein menschliches Weiblein interessiert. Der erotisizierte Satan – hier ist das Mittelalter am finstersten. „Drüben im Obermarkt, dort wohnt die rote Hand. Die rote Hand heisst eigentlich Therese, hat einen Kramladen, einen zwanzigjährigen Sohn und mit dem Teufel ein Gschpusi. Der besucht sie jede Nacht. Ich weiss das von ihrem Zimmerherrn, der ist dem Gottseibeiuns auf der Treppe begegnet. Der Teufel hat einen Cutaway angehabt, einen sogenannten „Gehsthintere“, und den Schwanz hat er die Treppen nachgeschleift wie eine Schlepp.“ Diese tolldreiste Angelegenheit erzählte mir im vorigen Herbst eine Kellnerin im Gasthaus, Mutter dreier Kinder; ihr Mann liegt in Galizien. Dies Hotelchen steht in einem Orte mit dreitausend Einwohnern auf der oberbayerischen Hochebene zwischen Füssen und Tölz – Sommer und Winter regster Fremdenverkehr, Bar, Jazz und acht Autoreparaturwerkstätten, eine Stunde Schnellzug weit von München, 700 Meter hoch über dem fernen Meere. Wie ist es möglich, dass in einem korrekten Kurort, mitten in der Fremdenindustrie, noch derart wahnwitziger Blödsinn als Glaube erzählt wird? Sehr einfach: entfernt man sich ungefähr fünf Kilometer von einem dieser Kurorte, so befindet man sich oft um Jahrhunderte zurückversetzt. Es liegt nicht an der Unberührtheit der Landschaft, der Siedlungen, – es liegt an der Unberührtheit der Atmosphäre. Es ist Luft des Mittelalters, ohne gotische Dome – es ist bäuerliches Mittelalter. In solchen Gegenden fühlt man sich ungeheuer weit entfernt von unserer Zeit. So ungefähr in Australien, vor Erfindung des Dampfschiffes. Wer also auf diese Weise Australien erreichen will, den will ich auf einen Flecken Erde aufmerksam machen, der fast völlig unbekannt, relativ unschwer zu erreichen ist und der landschaftlich mit zu dem Grossartigsten gehört, was Nordtirol zu bieten hat: das Hornbachtal. Allerdings: die Unterkunftsverhältnisse sind natürlich sehr primitiv. Aber ich denke nicht daran, für Hotels Reklame zu machen. Kaufen Sie sich einen Reiseführer! Das Hornbachtal ist ein noch einsameres Tal des einsamen Lechtales. Es liegt nördlich der Hornbachkette, südlich des Hochvogel und des grossen Wilden, östlich von Oberstdorf im bayerischen Algäu . Die nächsten Bahnstationen sind im Norden Reutte, im Süden Stuben an der Arlbergbahn. Von Reutte nach Stuben fährt das Postauto über Stanzach, Lech, Zürs, einem mit amerikanischer Hast sich entwickelnden Wintersportplatz und den 1900 Meter hohen Flexenpass, der berühmt-berüchtigten Autostrasse. B
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2 41
] AlgäuN ]
B N B
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gestrichen: [Nachdruck verboten.] gemeint ist: Allgäu
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Reiseblatt des Berliner Tageblatts, 1. März 1929
Endfassung (Abseits der Alpenstrassen)
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Ausgangspunkt für das Hornbachtal ist Stanzach im Lechtal. Jenseits des Lechs liegt das Dorf Vorderhornbach, der grosse und reiche Bruder des armen Dörfchens Hinterhornbach zwei Stunden weiter im Tal. „Sanft“ ansteigend, wie das schöne Baedeker-Wort lautet, führt die Strasse taleinwärts. An einer Klamm vorbei, durch Hochwald und Felsen – von Telegraphenstangen keine Spur. Während der Wintermonate ist das Tal wegen der Lawinengefahr im wahrsten Sinne des Wortes von der Aussenwelt abgeschnitten. Im Sommer gibt es nur dreimal wöchentlich Post, die Hebamme ist gleichzeitig Postbotin – aber im letzten Jahre lief eine Beschwerde beim Bezirksamt ein, den alten Zustand wieder einzuführen. Nämlich, dass die Post nur einmal wöchentlich kommt. So etwas gibt es noch! Anderthalb Tagereisen von Berlin. Wer bergsteigen kann, der soll nicht in Hinterhornbach umkehren, sondern über das Hornbachjoch nach Oberstdorf pilgern. Er wird den grossartigsten Wald Tirols sehen, einen Urwald, gesetzlich geschützt. Seit über dreissig Jahren darf dort kein Baum gefällt und kein Wild geschossen werden. Hirsche, Gemsen, Murmeltiere – und die letzten Adler Tirols. Und wer gar hochalpine Sehnsüchte verspürt, der beschäftige sich mit der Hornbachkette – Urbeleskar und Bretterspitze –; ich kenne kein Gebiet in den Alpen mit solch legendärer Einsamkeit. B
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ET11/TS1
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noch! AnderthalbN ]
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korrigiert aus: noch! Anderthalb
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Einzeltext 12: Begegnung mit Kriminellen
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Endfassung (Begegnung mit Kriminellen)
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Lesetext
Begegnung mit Kriminellen. Von Ödön Horváth.
Berliner Tageblatt, 1. Beiblatt, 25. April 1929, S. 1
Von Ödön Horváth, dem Verfasser des erfolgreichen Volksstückes „Die Bergbahn“, erscheint demnächst ein Roman „Herr Reithofer wird selbstlos“. Wir veröffentlichen aus den Vorstudien den nachstehenden Beitrag. Die Redaktion. B
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Vor Weihnachten lernte ich durch den Kellner eines gemütlichen Cafés, in dem ich fast jeden Abend sass, einen freundlichen jungen Mann kennen. Er hatte den Kellner gefragt, ob er niemanden wüsste, der mit ihm Schach spielen würde, und der Kellner wusste, dass ich gerne spiele, obwohl ich fast immer verliere, und ausserdem wollte der Kellner dem freundlichen jungen Mann auch einen Gefallen tun, weil der ihm statt 10 immer 20 Prozent gab. Ich willigte ein, und so spielten wir drei Wochen hindurch jeden Abend Schach. Der freundliche junge Mann war ein leidenschaftlicher Spieler, und wenn er mal verlor, so weinte er, denn er liebte das Schach mehr als seine Braut, die fast immer neben ihm sass, und die er ständig beschenkte, obwohl sie nichts davon wissen wollte, da sie sehr bescheiden war. Er ass oft tagelang nur Brot, nur um ihr irgendetwas schenken zu können. So überraschte er sie eines Abends mit einer goldenen Armbanduhr. Trotzdem war sie auf das Schach eifersüchtig, denn sie fühlte ja, dass er die goldene Armbanduhr dem Schachbrett geschenkt hätte, wenn das Schachbrett einen Arm haben würde. „Heben Sie sich doch das Geld lieber auf“, meinte ich. „Ihr Fräulein Braut ärgert sich doch, wenn Sie ihr was mitbringen.“ „Das ist mir sehr egal“, antwortete er. „Wenn ich nicht schenken darf, macht mir selbst das Schach keine Freud’.“ Eines Abends kam er etwas später und begrüsste mich folgendermassen: „Heute gebe ich Ihnen die Dame vor.“ „In wieviel Zügen wollen Sie Matt sein?“ fragte ich. „Sie sind es in zwanzig“, prophezeite er und hielt sein Wort. Er spielte fast genial, unerhört sicher, präzis und überlegt, und als er mich das dritte Mal schlug, fragte ich ihn: „Woher haben Sie so zerkratzte Hände?“ „Die hab’ ich von meiner Braut“, sagte er. „Ist ja gar nicht wahr“, sagte die Braut. „Er hat mir ja erst gestern die Nägel geschnitten, nämlich das tut er am liebsten.“ „Dann hab’ ichs von der Katz’“, sagte er und bestellte sich ein Wiener Schnitzel. Es war das erste Mal seit drei Jahren, dass er sich ein Pfannengericht vergönnte, so versicherte mir seine Braut. Vier Wochen später wurde er verhaftet, und es wurde bekannt, dass alles, was er seiner Braut schenkte, um geraubtes Geld erstanden war. Er gestand, dass er bereits seit drei Jahren vierundzwanzigmal alte Frauen und Kassenboten auf dem Postscheckamt beobachtet und hernach in einer günstig gelegenen Strasse überfallen und beraubt hat. Ferner, dass er an jenem Abend, da er mir die Dame vorgab und sich das Pfannengericht vergönnte, die Witwe eines Oberstleutnants, die er auf der Bank beobachtete, wie sie ihre Pension abhob, ermordete und beraubte. Er schlich ihr in das Treppenhaus nach und warf sie die Treppe hinab, bis sie sich das Genick brach. Diese
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ReithoferN ]
korrigiert aus: Reithöfer
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Endfassung (Begegnung mit Kriminellen)
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ET12/TS1
Lesetext
Greisin war jene Katze, die ihm die Hände zerkratzte. Seinen Namen will ich verschweigen, denn als er gestanden hatte, setzte sein Vater, ein allseits geachteter Gerbermeister, folgende Notiz in die Zeitung: „Ich teile hiermit mit, dass dieser Raubmörder nicht mein leiblicher Sohn ist, sondern das uneheliche Kind meiner Frau, das sie in die Ehe mitgebracht, und das ich nur adoptiert hatte.“
Im Sommer 1928 arbeitete ich in der Nähe von Partenkirchen. Dort lag ein Gasthof an einem fast idyllischen See und lebte vom Fremdenverkehr. Im Juni erschienen drei Herren und mieteten sich drei Zimmer. Sie waren achtzehn, zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt, hatten neue Lederhosen an und waren überhaupt ganz frisch auf oberbayerisch hergerichtet. „Sie sprechen wirklich nicht berlinerisch“, belehrte mich der Gasthofbesitzer. „Sie sprechen niederrheinisch und sind Industriellensöhne.“ Die Industriellensöhne waren seine besten Gäste. Noch niemals sah ich derartige Mengen Alkohol vertilgen und vertragen, und noch niemals sah ich Menschen mit solcher zähen Verbissenheit raufen. Es grenzte an Verzweiflung. Sie rauften jeden zweiten Tag und wurden also die prominentesten Erscheinungen der ganzen Gegend. Besonders seit jener Zeit, da die beiden Bräute der beiden älteren Industriellensöhne aus Saarbrücken kamen. Die eine war blond und erzählte mal einen ganzen Abend über Märchen von Grimm und Andersen. Die andere lächelte jeden Mann an und wartete, bis 얍 einer zurücklächelte. Dann beschwerte sie sich bei ihrem Bräutigam, und dann gab es jedesmal eine gigantische Keilerei. So stach mal dieser Bräutigam einen meiner guten Bekannten nieder. Es war ein lebensgefährlicher Rückenstich in die linke Lunge, worauf er mit einem eisernen Gartenstuhl niedergeschlagen wurde. Ich dachte, er sei tot, er stand aber nach fünf Minuten wieder auf und raufte mit seinen beiden Kameraden gegen ungefähr zwanzig Personen, bis die Gendarmen kamen. „Es war ja nur Notwehr!“ fuhr er den Kommissar an. „Quatsch!“ sagte ich. „Das war doch ein Rückenstich!“ „Ist ja auch nur Notwehr!“ brüllte er mich an. „Das verstehst du nicht!“ Und nun geschah etwas Sonderbares: der Aelteste, der an der Rauferei mit Abstand am geringsten beteiligt war, kam plötzlich auf mich zu, verbeugte sich etwas vor mir und sagte: „Meine Mutter, Mensch! Meine Mutter!“ „Dir passiert doch nichts“, sagte ich. „Meine Mutter“, wiederholte er leise und sah mich so entsetzt an, dass ich erschrak. Damals begriff ich es nicht, warum jener so entsetzt war, da die Gendarmen kamen. Erst im Herbst verstand ich es, als ich seine Photographie in den Zeitungen sah. Er war der ältere der Brüder Heidger, die seinerzeit in Köln nach tagelangem Kampfe von der Polizei mit Handgranaten getötet wurden. Der jüngste der Industriellensöhne war sein Bruder und der Messerstecher ihr Complice Lindemann, der sich in Köln sofort ergab. Damals, da sie von den Gendarmen verhört wurden, waren bereits wegen zweier Raubmorde über zwanzigtausend Mark auf ihre Ergreifung ausgesetzt. Aber die Gendarmen liessen sie damals wieder laufen, obwohl sie vierzigtausend Mark bei
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Berliner Tageblatt, 1. Beiblatt, 25. April 1929, S. 2
Endfassung (Begegnung mit Kriminellen)
ET12/TS1
Lesetext
sich hatten und keine Ausweise. Um sich welche zu beschaffen, erbrachen die Heidgers und Lindemann drei Wochen später die Passabteilung der Münchener Polizeidirektion und stellten sich selbst die Pässe aus.
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Einzeltext 13: Das Bitterwasser-Plakat
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Endfassung (Das Bitterwasser-Plakat)
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ET13/TS1
Lesetext
DAS BITTERWASSER-PLAKAT. Von Ödön Horváth.
Berliner Tageblatt, 3. Beiblatt, 10. August 1929
Tief in den Tiroler Bergen, dort, wo sich alles „Gute Nacht!“ sagt, liegt unter anderem auch ein Dorf namens Vorderaltenau. Von seinen achtundneunzig Einwohnern sind innerhalb der letzten zwanzig Jahre lediglich sieben bis in die nächste Stadt gekommen und zweiundneunzig hatten noch nie eine Strassenbahn gesehen. Im März 1927 erschien nun in Vorderaltenau plötzlich ein aufgeweckter junger Mann auf einem Motorrad, dem einzigen Kraftfahrzeugtyp, mit dem Vorderaltenau erreicht werden kann. Dieser aufgeweckte Herr klebte an jedes Haus, jede zweite Scheune, jeden dritten Bretterzaun je ein Plakat und gab dafür dem jeweiligen Besitzer je vier Zigaretten. Die Besitzer waren wie vor den Kopf geschlagen ob des unerwarteten Verdienstes und verlangten mehr Plakate. Ganz Vorderaltenau wurde ein Plakat. Auf diesem sah man einen nervösen geplagten abgerackerten Grossstadtmenschen, der sich ausserordentlich schlecht zu fühlen schien. Hinter ihm stand der Tod mit Sense und Stundenuhr und man konnte lesen, was der sprach: „In den besten Jahren hol’ ich Dich, Nur Bitterwasser rettet Dich!“ „Das Anheften der vielen Plakate in unserem weltabgeschiedenen idyllischen Dorfe dürfte wohl kaum von einem grossen Erfolg gekrönt werden“, sagte der Pfarrer zu dem aufgeweckten Motorradfahrer. Von den achtundneunzig Einwohnern des idyllischen Dorfes litten nämlich nur vier an Verdauungsstörungen: dem Bürgermeister sein Vater, der Lehrer, der Pfarrer und dessen Köchin. „Die Wirkungen einer grosszügigen Reklame grenzen häufig, mit Verlaub zu sagen, an Wunder“, erwiderte der grosszügige Plakateur dem kleingläubigen Priester, verabschiedete sich und ging. Er liess rund zweihundert Plakate in Vorderaltenau. Zweihundertmal hing da der an entsetzlichen Qualen einer ungeregelten Verdauung langsam dahinsiechende Herr. Arbeiteten die Vorderaltenauer auf dem Felde, im Stall oder in der Werkstatt, sassen sie im Wirtshaus oder gingen sie in die Kirche, überall stand der drohende Tod und krümmte sich sein verzweifeltes Opfer. Ja, sie mussten gar nicht vor das Haus treten, sie mussten nur durch irgendein Fenster schauen, so sahen sie ihr unabänderliches Schicksal, falls es bei ihnen mal aussetzen sollte. Zuerst hatten sie über die vier Zigaretten geschmunzelt, doch dann fingen sie an, einer nach dem anderen, von der Sense in den besten Jahren zu träumen, und dann wurde es ihnen plötzlich bange. Manche von ihnen standen ja gerade in den besten Jahren, andere standen dicht davor, und wieder andere waren sogar schon darüber hinaus. Und so dauerte es nicht lange, da litten statt vier acht Vorderaltenauer an Verdauungsstörungen, und dann elf, und im März 1928 litt bereits das halbe Dorf. Und noch heute leiden ungefähr vierzig Vorderaltenauer, falls sie sich kein Bitterwasser beschafft haben, oder, wenn sie nicht gestorben sind. Das klingt wie im Märchen, und es ist doch lediglich ein Tatsachenbericht, den ich mir hiermit erlaube, dem lächelnden Apotheker von Nancy zu widmen, dem seligen Coué. B
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ZuerstN ]
korrigiert aus: Zuert
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Einzeltext 14: Ein sonderbares Schützenfest
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Endfassung (Ein sonderbares Schützenfest)
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Anfang August fuhr ich durch das bayerische Oberland und in der Nähe von Partenkirchen, dort wo die Berge beginnen, durchfuhren wir auch einen sogenannten schmucken Markt. Die Sonne schien und Sonntag wars. Aber auch abgesehen vom Tage des Herrn herrschte eine überaus feiertägliche Stimmung. Fahnen, Musik, jubelnde Bevölkerung, sowohl Eingeborene als auch Fremde, biedere Landmänner und erholungsbedürftige Bürgersleut. Und warum jubilierten all die Braven? Darum: Durch die Hauptstrasse zogen Schützen, viele Schützen, lauter Schützen. Ein Schützenzug. Im gleichen Schritt und Tritt. Fürbass. Mit wallenden Bärten und Gamsbärten, Gewehren und Bowiemessern, Standarten und heroischen Wunschträumen. Meist waren es bereits in Lederhosen Geborene, aber es waren auch welche dabei aus Ingolstadt , Köln, Jena und Berlin. Ja sogar aus Sachsen marschierten welche mit, wortkarg und unnahbar. Trotzdem hätte ich den ganzen grossen Schützenzug ziemlich bald vergessen, hätte ich nicht zufällig ein Plakat erblickt. Auf diesem Plakate stand: „Graf Arco Erinnerungsschiessen.“ Ich dachte zuerst an jenen Herrn, der Kurt Eisner ermordet hatte, aber jener konnte es nicht sein, denn da stand ja ausdrücklich: „Historisches 120. Arco Schiessen am 28. Juli, 3. und 4. August 1929.“ Also etwas ganz historisches , dachte ich mir und las 얍 weiter: „In dankbarer Erinnerung an die Befreiung des vor 120 Jahren am 18. Juli 1809 von den Tirolern belagert und schwer bedrängten Marktes M. durch den kgl. Bayer. Obersten Grafen Maximilian von Arco, der den Markt vor schwerer Brandschatzung bewahrte, begeht die unterfertigte Schützengesellschaft alljährlich ein „Arco-Schiessen“. Jeder Gast wird sicherlich eine stete Erinnerung an unseren anmutigen Sommerort, den schönen See und das herrliche Gebirge behalten. Möge es uns daher vergönnt sein, eine recht grosse Zahl froher Schützenbrüder beim 120. Arcoschiessen willkommen zu heissen. Kgl. priv. Feuerschützengesellschaft.“ Was bedeutet das? Ich forschte weiter: ein um die sogenannte Heimatbewegung überaus verdienter Priester schreibt in der Zeitschrift „Bayerland“ folgende Sätze: „ -- Noch schlimmer (als die Schweden. Anmerkung meiner Wenigkeit) spielte der spanische Erbfolgekrieg den M.-ern mit, als die erbitterten Tiroler bis M. und H. vordrangen und die wehrlosen Orte plünderten und einäscherten. Als im Jahre 1809 dreitausend Tiroler den Markt aufs neue brandschatzen wollten, wurden sie allerdings mit blutigen Köpfen heimgeschickt; Oberst Arco, der zum Entsatz aus Benediktbeuern herbeigeeilt war, wird noch heute durch das sogenannte Arco-Schiessen als Befreier des Marktes (mit Hilfe der verbündeten Franzosen. Anmerkung meiner Wenigkeit) gefeiert.“ B
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Lesetext
Ein sonderbares Schützenfest von Ödön Horvath.
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ET14/TS1 (Grundschicht)
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17 24 30 34 41 42
IngolstadtN ] historischesN ] BSeeN ] BforschteN ] B N] Bgefeiert.“N ] B B
korrigiert aus: Ingoldstadt korrigiert aus: hostorisches
[ST] |See| f[i]|o|rschte [(mit Hilfe der verbündeten Franzosen. Anmerkung meiner Wenigkeit)] [gefeiert.] |gefeiert.“|
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ÖLA 3/W 211 – BS 47 j, Bl. 2
Endfassung (Ein sonderbares Schützenfest)
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ÖLA 3/W 211 – BS 47 j, Bl. 3
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Lesetext
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass sich noch heute Deutsche dazu hergeben, einen Tag, an dem Deutsche auf Deutsche geschossen haben, durch ein Schützenfest zu feiern. Dass es im dritten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts noch Deutsche gibt, die sich nicht schämen, einen Trauertag des deutschen Volkes als Freudentag zu begehen. Dass es Deut-얍sche gibt, die mit markigen Ansprachen die Bedeutung des Tages würdigen (mit nachfolgendem Tanz) -- die jenen Tag rühmen, da Deutsche Deutsche „mit blutigen Köpfen heimschickten“, weil sie „brandschatzen und plündern“ wollten -- die sich frischfrommfröhlich an jenen Tag zurückerinnern, voll Pietät und „Jubilarscheibe“, statt die Borniertheit und das Unglück ihrer Urväter zu verfluchen und ihr Volk zu beweinen ob seiner tragischen Geschicke im Kampfe um seine Einigung. Es gibt also noch Deutsche, denen die Errettung ihrer Marktgemeinde vor 120 Jahren wichtiger zu sein scheint, als Grossdeutschland. Anders lässt sich das nicht formulieren. Denn sonst müsste ja diese „Kgl. priv. Feuerschützengesellschaft“ jenen Tag von ihrem Festprogramm streichen und statt des „Historischen Arco Schiessens“ einen Trauergottesdienst abhalten. Denn religiös sind sie wahrscheinlich. Doch die Gerechtigkeit gebiete es zu sagen, dass dieser Kgl. priv. Gesellschaft mildernde Umstände zugebilligt werden müssen: nämlich sie überlegt es sich ja gar nicht und wird sich also gar nicht darüber klar, was sie da eigentlich feiert. Und das ist das Traurigste. Ich sprach mit vielen Bürgern des Marktes M. Jeder, aber auch jeder, Lehrer, Bauer, Arzt, Briefträger, Wirt, Arbeiter, Student bestätigte mir, es sei ein grober Unfug. Trotzdem war alles beflaggt, alles jubilierte, die Beteiligung am Schiessen war „überaus zahlreich“, die Preisverteilung im „prächtig festlichem Rahmen bei begeisterter Stimmung“, der Tanzsaal überfüllt. Es i s t ein grober Unfug. Dieses sonderbare Schützenfest ist wahrlich kein Zeichen partikularistischer Tendenzen, es ist lediglich ein Produkt sträflich leichtsinniger Gedankenlosigkeit, politischer Wurschtigkeit und Unwissenheit -- das typisch politische Merkmal breiter 얍 Schichten des Mittelstandes. „Das deutsche Volk einig in seinen Stämmen --“ -- mir, als sogenanntem Auslandsdeutschem, als von den garantiert echten Vaterländischen unter der Rubrik „Internationalist“ Geführtem, mir wurd es übel, Zeuge dieser entarteten Heimatliebe zu sein. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es im Deutschen Reiche hoffentlich nur ein einziges „Arco-Schiessen“ gibt. Vielleicht! Man könnte es sich ja gar nicht ausdenken, wieviel Feste gefeiert werden müssten, wenn jeder Sieg, den Deutsche über Deutsche im höchstpersönlichem Interesse vaterlandsloser Dynastien errungen haben, gefeiert werden würde! Jeder Tag wäre ein Doppelfeiertag. Wie heisst es doch in dem Einladungsschreiben zur Kgl. priv. Arcoschiesserei? „Möge es uns daher vergönnt sein, eine recht grosse Zahl froher Schützenbrüder beim 120. Arco-Schiessen willkommen zu heissen --“ Nein! Sagen wir so: Möge es uns daher vergönnt sein, dass wir es möglichst bald erleben , dass kein Deutscher B
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ET14/TS1 (Grundschicht)
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korrigiert aus: Das
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DassN ] KöpfenN ] BKgl.N ] BbestätigteN ] BpolitischerN ] BunsN ] BerlebenN ]
Köpfen[{h}] K[{g}, ]|gl.| korrigiert aus: bestättigte korrigiert aus: poltischer
un[d]|s| korrigiert aus: erlben
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ÖLA 3/W 211 – BS 47 j, Bl. 4
Endfassung (Ein sonderbares Schützenfest)
ET14/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
mehr nationale Verbrechen seiner Ahnen als „Tradition“ pflegt, nur um eine „Jubilarscheibe“ gewinnen und Bier saufen zu können!
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Einzeltext 15: Mein Onkel Pepi / Pepis Album
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Fassung (Mein Onkel Pepi)
ET15/TS1 (Grundschicht)
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Lesetext
Mein Onkel Pepi von Ödön Horvath.
ÖLA 3/W 208 – BS 68, Bl. 1
Ich hab es Jahre lang nicht in der Hand gehabt, nämlich Onkel Pepis Photographiealbum. Aber neulich nahm ich es mal wieder in die Hand, draussen regnete es sehr stark, ich hatte gerade nichts zu tun und war trotzdem so müde, dass ich mir wieder ganz klein vorgekommen bin. Onkel Pepis Album ist purpurrot gebunden mit einer silbernen Spange a la Jugend. Genau mittendrin, zwischen dem Kinderbildnis der verarmten Tante Mariann und der letzten Aufnahme Grosspapas, befinden sich zwei Seiten, die der Onkel Pepi sich selbst gewidmet hatte. Sie sind seines Albums Herz, in jedem Sinne des Wortes. Links sieht man den Onkel Pepi als feschen altösterreichischen Leutnant um die Jahrhundertwende, wohnhaft im achten Bezirk, Piaristengasse, mezzanin. Herrlich ist seine Wespentaille, korrekt seine Haltung, überhaupt: „wie aus an Schachterl“ -aufregend für die Damenwelt, von der grande Zozott bis zum süssen Mädl aus Purckersdorf . Kein Wunder also, dass dies Bild von vier Photographien vierer pikanter Damen umgeben ist -- und auf der Seite nebenan kleben auch vier um eine fünfte, grössere auserwähltere, eine Blondine mit traurigen Augen -- und wenn man das Album zuklappt, so liegen diese Auserwählte und der fesche Leutnant aufeinander. Das hat er sich direkt so ausgerechnet, der Onkel Pepi. Und neben jeder dieser neun „Kisstihandknädigste“ ist je ein Bildchen eingeklebt, eine Stadtansicht -- die jeweilige Garnison. Przemysl, Budapest, Lemberg, Agram, Wien und Ujvidek -- und jede Frau vertritt eine Nation der 얍 ehemaligen Doppelmonarchie, als da sind: Polen, Ungarn, Rumänen, Böhmen, Kroaten, Italiener oder Wiener -- der Onkel Pepi ist nämlich noch niemals nationalistisch gewesen, sondern immer äusserst objektiv. Er schätzte an jeder ihre besondere nationale Note. Und wie sah Onkel Pepis Damenflor aus? Heiliges fin de siecle von ÖsterreichUngarn! Dieser Damenflor sah so aus, jede einzelne: Mein Mann ist der Graf von Monbijou Sie können mir alle nichts beweisen Nur in der Phantasie war ich mit ihm auf „Du“ -So sahen sie aus. Der Onkel Pepi sieht mich an, stolz, elegant und liebenswürdig. Auch lächeln tut er, der Onkel Pepi. Ein ganz klein wenig. Er lächelt über seinen eigenen Stolz und ist stolz auf sein Lächeln über seinen Stolz. Er ist ein echter Altösterreicher und konstatiert mit wehmütiger Ironie, dass er in der feschen Uniform eines verfaulten Reiches steckt. -Als ich mich das letztemal vom Onkel Pepi verabschiedete, sagte er: „Also wenn Du mal recht blöd bist, so denk an mich!“ B
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sehrN ] a laN ] BZozottN ] BPurckersdorfN ] BklebenN ] BliegenN ] B„Kisstihandknädigste“N ] BUjvidekN ] Bfin de siecleN ]
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Endfassung (Mein Onkel Pepi)
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Pepis Album. Von Ödön Horváth. B
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Berliner Tageblatt, 5. Beiblatt, 11. August 1929
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Ich hab es jahrelang nicht in der Hand gehabt, Onkel Pepis Photographiealbum. Aber neulich nahm ich es mal wieder in die Hand, draussen regnete es sehr stark, ich hatte gerade nichts zu tun und war trotzdem so müde, dass ich mir wieder ganz klein vorgekommen bin. Onkel Pepis Album ist purpurrot gebunden mit einer silbernen Spange à la Jugend. Genau mittendrin, zwischen dem Kinderbildnis der verarmten Tante Mariann und der letzten Aufnahme Grosspapas, befinden sich zwei Seiten, die der Onkel Pepi sich selbst gewidmet hatte. Sie sind seines Albums Herz, in jedem Sinne des Wortes. Links sieht man den Onkel Pepi als feschen altösterreichischen Leutnant um die Jahrhundertwende, wohnhaft im achten Bezirk, Piaristengasse, mezzanin. Herrlich ist seine Wespentaille, korrekt seine Haltung, überhaupt: „wie aus an Schachterl“ – aufregend für die Damenwelt, von der grande Zozott Natalie bis zum süssen Mädl aus Purckersdorf . Kein Wunder also, dass dies Bild von vier Photographien pikanter Damen umgeben ist („Ich bin eine anständige Frau, Herr Leutnant!“) – und auf der Seite nebenan kleben auch vier um eine fünfte, grössere, auserwähltere, eine Blondine mit traurigen Augen – und wenn man das Album zuklappt, so liegt diese Auserwählte und der fesche Leutnant aufeinander. Das hat er sich direkt so ausgerechnet, der Onkel Pepi. Und neben jeder dieser neun „Kisstihandknädigste“ ist je ein Bildchen eingeklebt, eine Stadtansicht: die jeweilige Garnison. Przemysl, Budapest, Lemberg, Agram, Wien und Ujvidék – und jede Frau vertritt eine Nation der ehemaligen Doppelmonarchie, als da sind: Polen, Ungarn, Rumänien, Böhmen, Kroaten, Italiener oder Wiener – der Onkel Pepi ist nämlich noch niemals nationalistisch gewesen, sondern immer äusserst objektiv. Er schätzte an jeder ihre besondere nationale Note. Und wie sieht Onkel Pepis Damenflor aus? Heiliges fin de siècle von OesterreichUngarn! Dieser Damenflor sieht so aus, jede einzelne: Mein Mann ist der Graf von Monbijou, Sie können mir alle nichts beweisen; Nur in der Phantasie war ich mit ihm auf „Du“ – Der Onkel Pepi sieht mich an, stolz, elegant und liebenswürdig. Auch lächeln tut er, der Onkel Pepi. Ein ganz klein wenig. Er lächelt über seinen eigenen Stolz und ist stolz auf sein Lächeln über seinen Stolz. Er ist ein echter Altösterreicher und konstatiert mit wehmütiger Ironie, dass er in der feschen Uniform eines verfaulten Reiches steckt. Als ich mich das letztemal vom Onkel Pepi verabschiedete, sagte er: „Also, wenn du mal recht blöd bist, so denk an mich!“ B
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Lesetext
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Horváth.N ] ZozottN ] BPurckersdorfN ] BUjvidékN ] B B
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korrigiert aus: Horváth… gemeint ist: Cocotte, Kokotte gemeint ist: Purkersdorf gemeint ist: Újvidék
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Einzeltext 16: Das Fräulein wird bekehrt
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Endfassung (Das Fräulein wird bekehrt)
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Lesetext
Ödön Horváth Das Fräulein wird bekehrt Als sich das Fräulein und der Herr Reithofer kennenlernten, fielen sie sich zuerst gar nicht besonders auf. Jeder dachte nämlich gerade an etwas Wichtigeres. So dachte der Herr Reithofer, daß sich der nächste Weltkrieg wahrscheinlich in Thüringen abspielen wird, weil er gerade in der Zeitung gelesen hatte, daß die rechten Kuomintang wieder mal einhundertdreiundvierzig Kommunisten erschlagen haben. Und das Fräulein dachte, es sei doch schon sehr schade, daß sie monatlich nur hundertzehn Mark verdient, denn sie hätte ja jetzt bald Urlaub und wenn sie zwohundertzehn Mark verdienen würde, könnte sie in die Berge fahren. Bis dorthin, wo sie am höchsten sind. Gesetzlich gebührten nämlich dem Fräulein jährlich sechs bezahlte Arbeitstage – jawohl, das Fräulein hatte ein richtiggehendes Recht auf Urlaub und es ist doch noch gar nicht so lange her, da hatte solch Fräulein überhaupt nichts zu fordern, sondern artig zu kuschen und gegebenenfalls zu kündigen, sich zu verkaufen oder dgl., was zwar auch heute noch vorkommen soll. Aber heute beschützen uns ja immerhin einige Paragraphen, während noch vor zwanzig Jahren die Gnade höchst unkonstitutionell herrschte und infolgedessen konnte man es sich gar nicht vorstellen, 얍 daß auch Lohnempfänger Urlaub haben dürfen. Es oblag allein in des Brotherrn Ermessen, ob solch Fräulein zu Weihnachten oder an einem anderen christlichen Doppelfeiertage auch noch den zweiten Tag feiern durfte. Aber damals war ja unser Fräulein noch kaum geboren – eigentlich beginnt ihr Leben mit der sozialen Gesetzgebung der Weimarer Republik. Wie schön war doch die patriarchalische Zeit! Wie ungefährdet konnte Großmama ihre Mägde kränken, quälen und davonjagen, wie war es doch selbstverständlich, daß Großpapa seine Lehrlinge um den Lohn prellte und durch Prügel zu fleißigen Charakteren erzog. Noch lebten Treu und Glauben zwischen Maas und Memel, und Großpapa war ein freisinniger Mensch. Großzügig gab er seinen Angestellten Arbeit, von morgens vier bis Mitternacht. Kein Wunder, daß das Vaterland immer mächtiger wurde! Und erst als sich der weitblickende Großpapa auf maschinellen Betrieb umstellte, da erst ging es empor zu höchsten Zielen, denn er ließ ja die Maschinen nur durch Kinder bedienen, die waren nämlich billiger als ihre Väter, maßen das Volk gesund und ungebrochen war. Also kam es nicht darauf an, daß mannigfache Kinder an der Schwindsucht krepierten, kein Nationalvermögen wächst ohne Opfersinn. Und während Bismarck, der eiserne Kanzler, erbittert das Gesetz zum Schutze der Kinderarbeit bekämpfte, wuchs Großpapas einfache Werkstatt zur Fabrik. Schlot stand an Schlot, als ihn der Schlag traf. Er hatte sich überarbeitet. Künstler, Gelehrte, Richter und hohe Beamte, ja sogar ein Oberstleutnant a.D. gaben ihm das letzte Geleite. Trotzdem blieb aber Großmama immer die bescheidene tiefreligiöse Frau. Nämlich als Großmama geboren wurde, war es natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. Alles stand blau am Ho-얍rizont und der Mond hing über schwarzen Teichen und dem Wald. Natürlich hatte Großmama auch ein Gebetbuch mit einer gepreßten Rose mittendrin. Wenn sie in ihrem gemütlichen Sorgenstuhl saß, betrachtete sie die Rose und dann trat ihr je eine Träne in das rechte und das linke Auge, denn die Rose hatte ihr einst der nunmehr längst verstorbene Großpapa gepflückt und dieser tote Mann tat ihr
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Hermann Kesten (Hg.): 24 neue deutsche Erzähler. Berlin: Kiepenheuer 1929, S. 396
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Endfassung (Das Fräulein wird bekehrt)
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nun leid, denn als er noch lebendig gewesen ist, hatte sie ihn oft heimlich gehaßt, weil sie sich nie von einem anderen Großpapa hatte berühren lassen. Und Großmama erzählte Märchen und knapp vor dem Weltkrieg zog sie sich in ein besseres Jenseits zurück. Auch unseres Fräuleins Großmama hatte solche Rose in ihrem Gebetbuch, aber ihre Kinder gingen in der Inflation zugrunde und sieben Jahre später treffen wir das Fräulein im Kontor einer Alteisenwarenhandlung in der Schellingstraße mit einem monatlichen Verdienst von hundertundzehn Mark. Aber das Fräulein zählte sich nicht zum Proletariat, weil ihre Eltern mal zugrunde gegangen sind. Sie war überzeugt, daß die Masse nach Schweiß riecht, sie leugnete jede Solidarität und beteiligte sich an keiner Betriebsratswahl. Sie tat sehr stolz, weil sie sich nach einem Sechszylinder sehnte. Sie war wirklich nicht glücklich und das hat mal ein Herr, der sie in der Schellingstraße angesprochen hatte, folgendermaßen formuliert: „In der Stadt wird man so zur Null“, meinte der Herr und fuhr fort: „Ich bin lieber draußen auf dem Lande auf meinem Gute. Mein Vetter ist Diplomlandwirt. Wenn zum Beispiel, mit Verlaub zu sagen, die Vögel zwitschern – –“ und er fügte rasch hinzu: „Wolln ma mal ne Tasse Kaffee?“ Das Fräulein wollte und er führte sie auf einen Dachgarten. Es war dort sehr vornehm und plötzlich schämte sich der Herr, weil der Kellner 얍 über das Täschchen des Fräuleins lächelte und dann wurde der Herr unhöflich, zahlte und ließ das Fräulein allein auf dem Dachgarten sitzen. Da dachte das Fräulein, sie sei halt auch nur eine Proletarierin, aber dann fiel es ihr wieder ein, daß ihre Eltern zugrunde gegangen sind, und sie klammerte sich daran. Das war am vierten Juli und zwei Tage später begegnete das Fräulein zufällig dem Herrn Reithofer in der Schellingstraße. „Guten Abend“, sagte der Herr Reithofer. „Haben Sie schon gehört, daß England in Indien gegen Rußland ist? Und, daß der Reichskanzler operiert werden muß.“ „Ich kümmere mich nicht um Politik“, sagte das Fräulein. „Das ist aber Staatsbürgerpflicht“, sagte der Herr Reithofer. „Ich kann’s doch nich ändern“, meinte das Fräulein. „Oho!“ meinte der Herr Reithofer. „Es kommt auf jeden einzelnen an, zum Beispiel bei den Wahlen. Mit Ihrer Ansicht, Fräulein, werden Sie nie in die Berge fahren, obwohl diese ganzen Wahlen eigentlich nur kapitalistische Machenschaften sind.“ Der Herr Reithofer war durchaus Marxist, gehörte aber keiner Partei an, teils wegen Noske, teils aus Pazifismus. „Vielleicht ist das letztere nur Gefühlsduselei“, dachte er und wurde traurig. Er sehnte sich nach Moskau und war mit einem sozialdemokratischen Parteifunktionär befreundet. Er spielte in der Arbeiterwohlfahrtslotterie und hoffte mal sehr viel zu gewinnen und das war das einzig Bürgerliche an ihm. „Geben Sie acht, Fräulein“, fuhr er fort, „wenn ich nicht vor drei Jahren zweihundert Mark gewonnen hätt, 얍 hätt ich noch nie einen Berg gesehen. Vom Urlaub allein hat man noch nichts, da gehört noch was dazu, ein anderes Gesetz, ein ganz anderes Gesetzbuch. Es ist schön in den Bergen und still.“ Und dann sagte er dem Fräulein, daß er für die Befreiung der Arbeit kämpft. Und dann klärte er sie auf, und das Fräulein dachte: er hat ein angenehmes Organ. Sie hörte ihm gerne zu, und er bemerkte es, daß sie ihm zuhört. „Langweilt Sie das?“ fragte er. „Oh nein!“ sagte sie. B
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muß.“N ]
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korrigiert aus: muß“
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Endfassung (Das Fräulein wird bekehrt)
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Lesetext
Da fiel es ihm auf, daß sie so rund war rundherum, und er mußte direkt achtgeben, daß er nicht an sie ankommt. „Herr Reithofer“, sagte plötzlich das Fräulein, „Sie wissen aber schon sehr viel und Sie können es einem so gut sagen“ – aber der Herr Reithofer ließ sich nicht stören, weil er gerade über den Apostel Paulus sprach und darüber ist es sehr schwer zu sprechen. „Man muß sich schon sehr konzentrieren“, dachte der Herr Reithofer und ging über zur französischen Revolution. Er erzählte ihr, wie Marat ermordet wurde, und das Fräulein überraschte sich dabei, wie sehr sie sich anstrengen mußte, wenn sie an einen Sechszylinder denken wollte. Es war ihr plötzlich, als wären nicht ihre Eltern, sondern bereits ihre Urureltern zugrunde gegangen. Sie sah so plötzlich alles anders, daß sie einen Augenblick stehen bleiben mußte. Der Herr Reithofer ging aber weiter, und sie betrachtete ihn von hinten. Es war ihr, als habe der Herr Reithofer in einem dunklen Zimmer das Licht angeknipst und nun könne sie den Reichswehrminister, den Prinz von Wales und den Poincaré, den Mussolini und zahlreiche Aufsichtsräte sehen. Auf dem Bette saß ihr Chef, auf dem Tische stand ein Schupo, vor dem Spiegel ein General 얍 und am Fenster ein Staatsanwalt – als hätten sie immer schon in ihrem Zimmer gewohnt. Aber dann öffnete sich die Türe und hereintrat ein mittelgroßer stämmiger Herr, der dem Herrn Reithofer sehr ähnlich sah. Er ging feierlich auf den Herrn Reithofer zu, drückte ihm die Hand und sprach: „Genosse Reithofer, du hast ein bürgerliches Fräulein bekehrt. Das ist sehr schön von dir.“ Und das Fräulein dachte: „Ich glaub gar, dieser Herr Reithofer ist ein anständiger Mensch.“ „Die Luft ist warm heut abend“, sagte der anständige Mensch. „Wollen Sie schon nach Haus oder gehen wir noch etwas weiter?“ „Ja“, meinte sie. „Dort drüben ist nämlich die Luft noch besser, das ist immer so in den Anlagen“, sagte er und dann fügte er noch hinzu, der Imperialismus sei die jüngste Etappe des Kapitalismus und dann sprach er kein Wort. Warum er denn kein Wort mehr sage, fragte das Fräulein. Weil es so schwer sei, die Menschen auf den rechten Weg zu bringen, sagte der Herr Reithofer. Hierauf konnte man beide nicht mehr sehen, denn es war sehr dunkel in den Anlagen. Wollen wir ihnen folgen? Nein. Es ist doch häßlich, zwei Menschen zu belauschen, von denen man doch schon weiß, was sie voneinander wollen. Kaufen wir uns lieber eine Zeitung, die Sportnachrichten sind immer interessant. Ich liebe den Fußball – und Sie? Wie? Sie wollen, daß ich weitererzähle? Sie finden, daß das kein Schluß ist? Sie wollen wissen, ob sich das Fräulein wirklich bekehrt hat? Sie behaupten, es sei unfaßbar, daß solch ein individualistisches Fräulein so rasch eine andere Weltanschauung bekommt? Sie sagen, das Fräulein wäre katholisch? Hm. Also wenn Sie es unbedingt hören wollen, was sich das Fräulein dachte, nachdem 얍 sich der Herr Reithofer von ihr verabschiedet hatte, so muß ich es Ihnen wohl sagen. Entschuldigen Sie, daß ich weitererzähle. Es war ungefähr dreiundzwanzig Uhr, als das Fräulein ihr Zimmer betrat. Sie setzte sich und zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund. Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: ein großer weißer Engel schwebte in einem Zimmer und verkündete der knienden Madonna: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ Und das Fräulein dachte, der Herr Reithofer hätte wirklich
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Kesten 1929, S. 401
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Endfassung (Das Fräulein wird bekehrt)
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Lesetext
schön acht gegeben und sei überhaupt ein anständiger Mensch, aber leider kein solch weißer Engel, daß man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonderes geleistet, daß sie so fürstlich belohnt wurde? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen und das hätten ja alle mal gehabt. Auch sie selbst hätte das mal gehabt. Die Mutter Gottes hätte eben Protektion gehabt genau wie die Henny Porten, Lia de Putty , Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. „Wenn man keine Protektion hat, indem daß man keinen Regisseur kennt, so wird man halt nicht auserwählt“, konstatierte das Fräulein. „Auserwählt“, wiederholte sie, und es tat ihr alles weh. „Bei Gott ist kein Regisseur unmöglich“, lächelte der große weiße Engel, und das Fräulein meinte: „Sei doch nicht so ungerecht!“ Und bevor sie einschlief, fiel es ihr noch ein, eigentlich sei alles ungerecht, jeder Mensch, jedes Ding. Sicher sei auch der Stuhl ungerecht, der Schrank, der Tisch, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe. Vielleicht sei auch der Herr Reithofer trotzdem ungerecht, obwohl er wahrscheinlich gar nichts dafür kann. B
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Lia de PuttyN ]
gemeint ist: Lya de Putti
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Einzeltext 17: In memoriam Alfred / Nachruf
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Fassung (In memoriam Alfred)
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ET17/TS1 (Grundschicht)
In memoriam Alfred
ÖLA 3/W 209 – BS 47 o, Bl. 1
Alfred starb vor wenigen Wochen. An der Kopfgrippe, aber ich glaub es war was anderes. R. I. P. Ich genüge lediglich einer primitiven menschlichen Pflicht, wenn ich mit diesen Zeilen Alfreds gedenke, weil ich ihm viel zu verdanken habe. Ohne ihn hätte ich, zum Beispiel, niemals meine Posse in fünf Bildern „Rund um den Kongress“ verfassen können. Er war mir Freund und Führer. Er war eine elegante Erscheinung und ein moralisch verkommenes Subjekt, scheinbar. Bereits achtzehnjährig führte er einen erbitterten Kampf gegen den Paragraphen 181a (Zuhälter) und drgl. Man sah es ihm gar nicht an, wenn man nicht psychologisch und physiologisch geschult war. So hielt ihn mal eine Syndikusgattin für einen Assessor und da diese Syndikusgattin sehr leidenschaftlich war, spielte er den Assessor und wenn er nicht gedroht hätte, dass er ihre Leidenschaft dem Herrn Syndikus mitteilt, hätte sie ihn sogar angezeigt, als sie entdeckte, dass er ihr anlässlich einer Soiree einen Brillanten aus dem Ohrring gebissen hatte. Als ich Alfred kennen lernte, ging es mir gerade sehr schlecht. Ich hatte mir nämlich eingebildet, dass ich schriftstellerisch was leisten könnte, aber ich hatte keine Beziehung zu den schönen Künsten. Das war eine arge Zeit und ich erinnere mich wirklich nicht gerne daran. Damals sagte mir Alfred: „Ich glaub, die Kunst hört allmählich auf. Man muss sich ja nurmal vorstellen, was die Menschheit heut für Interessen hat, heut lebt doch jeder nach seinem Instinkt. Wenn ich Du wär, würd ich in eine Druckerei einheiraten und lauter Gebetbücher drucken noch und noch und die würd ich jenem christlichen chinesischen General offerieren, der übrigens ein ungarischer 얍 Jud sein soll.“ Und zwei Wochen später meinte er: „Du musst natürlich etwas tun. Weisst Du, was ich nicht versteh? Dass Du Dich nicht aushalten lasst! Ich hätt für Dich drei Damen, eine adelige Pensionsinhaberin, evangelisch, eine hochintelligente Witwe , katholisch und ein vollschlankes Halbblut aus Prag.“ Ich erwiderte aber Alfred auf das Bestimmteste, dass ich mich unter keinen Umständen aushalten lasse, denn das würde mir meine Ehre verbieten. „Wenn schon!“ sagte er und fügte hinzu: „Nebbich!“ Und dann fuhr er fort, ob ich mir etwa einbilde, eine besondere Ehre zu besitzen? „Nein“, sagte ich, „ich hab eine normale Ehre.“ „Na also!“ meinte er. Aber ich blieb fest und liess mich nicht aushalten, weil man so was nicht machen soll. Man könnt sich ja selbst nimmermehr ins Antlitz schauen oder gar vor sich selbst hintreten! In dieser Zeit nahm eine freisinnige Zeitung eine Marienlegende von mir an, betitelt „Maria geht durch den Hochwald“. Und der Feuilletonredakteur schrieb mir, ich soll noch zwei längere und drei kürzere Marienlegenden für unter den Strich schreiben, nämlich meine religiöse Inbrunst ist jenem direkt aufgefallen. Aber davon konnt ich nur sehr kärglich leben und als ich mir eine Goldkrone machen lassen musste, bat ich Alfred, er solle mir fünf Mark leihen, denn wenn ich keine Zahnschmerzen mehr hätte, könnte ich leicht auch zwanzig Marienlegenden B
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Kongress“N ] schlecht.N ] BWitweN ] BerwiderteN ] BUndN ] B B
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Kongress“[{ }] [{ }] |schlecht.| korrigiert aus: Wittwe korrigiert aus: erwiederte [{V}] |Und|
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ÖLA 3/W 209 – BS 47 o, Bl. 2
Fassung (In memoriam Alfred)
ET17/TS1 (Grundschicht)
schreiben und ausserdem hätte ich auch Aussicht Reklameartikel für eine andere Firma verfassen zu können. Aber Alfred gab mir nichts. „Es hat keinen Zweck, Dich zu unterstützen“, sagte er. „Für mich bist Du ein Poet, Du Idiot!“ Er konnt es mir niemals verzeihen, dass ich mich nicht aushalten liess. Lieber Alfred, der Du bist im Himmel, verzeihe mir, was ich Dir angetan hab, denn ich danke Dir immer wieder, dass Du mich unterrichtet hast, wie man trotz allem ein guter Mensch ist. Dein Ödön Horvath B
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Lesetext
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\für f Firma/
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für f FirmaN ] unterstützen“,N ] BniemalsN ] BÖdön HorvathN ]
korrigiert aus: unterstützen“½
niema[h]|l|s Hier kein Farbauftrag, erschlossen aus Einkerbung der Typen im Papier.
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Endfassung (Nachruf)
ET17/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Nachruf
In der Nacht vom Sonntag zum Montag verschied Herr Alfred Kastner aus der Schellingstrasse nach kurzem schweren Leiden.
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ÖLA 3/W 210 – BS 47 t, Bl. 1
Ich genüge lediglich einer primitiven menschlichen Pflicht, wenn ich mit diesen Zeilen Alfred Kastners gedenke, weil ich ihm viel zu verdanken habe. Er war mir Freund und Führer. Er war eine elegante Erscheinung und ein moralisch scheinbar verkommenes Subjekt. Bereits achtzehnjährig führte er einen erbitterten Kampf gegen den Paragraphen 181a (Zuhälter). Man sah es ihm gar nicht an, wenn man nicht psychologisch und physiologisch geschult war. So hielt ihn mal eine Syndikusgattin für einen Assessor, und da diese Syndikusgattin sehr leidenschaftlich war, spielte er den Assessor, und wenn er nicht gedroht hätte, dass er ihre Leidenschaft dem Herrn Syndikus mitteilt , hätte sie ihn sogar angezeigt, als sie entdeckte, dass er ihr anlässlich einer Soiree einen Brillanten aus dem Ohrring gebissen hatte. Als ich Alfred kennenlernte, ging es mir gerade sehr schlecht. Ich hatte mir nämlich eingebildet, dass ich schriftstellerisch was leisten könnte, aber ich hatte keine Beziehungen zu den schönen Künsten. Das war eine arge Zeit, und ich erinnere mich wirklich nicht gerne daran. Damals sagte mir Alfred: „Ich glaub, die Kunst hört allmählich auf. Man muss sich ja nur mal vorstellen, was die Menschheit heut für Interessen hat, heut lebt doch jeder nach seinem Instinkt. Wenn ich Du wär, würd ich in eine Druckerei einheiraten und lauter Gebetbücher drucken noch und noch, und die würd ich jenem christlichen chinesischen General offerieren, der übrigens ein ungarischer Jud sein soll.“ Und zwei Wochen später meinte er: „Du musst na-얍türlich etwas tun. Weisst Du, was ich nicht versteh? Dass Du Dich nicht aushalten lässt! Ich hätt für Dich eine adlige Pensionsinhaberin.“ Ich erwiderte aber Alfred auf das bestimmteste, dass ich mich unter keinen Umständen aushalten lasse, denn das würde mir meine Ehre verbieten. „Wenn schon!“ sagte er und fügte hinzu: „Nebbich!“ Und dann fuhr er fort, ob ich mir etwa einbilde, eine besondere Ehre zu besitzen? „Nein“, sagte ich, „ich habe eine normale Ehre.“ „Na also!“ meinte er. Aber ich blieb fest und liess mich nicht aushalten, weil man so was nicht machen soll. Man könnt sich ja selbst nimmermehr ins Antlitz schauen oder gar vor sich selbst hintreten! In dieser Zeit nahm eine freisinnige Zeitung eine Marienlegende von mir an, betitelt: „Maria geht durch den Hochwald“. Und der Feuilletonredakteur schrieb mir, ich soll noch zwei längere und drei kürzere Marienlegenden für „unter dem Strich“ schreiben, nämlich meine religiöse Inbrunst ist jenem direkt aufgefallen. Aber davon konnt ich nur sehr kärglich leben, und als ich mir eine Goldkrone machen lassen musste, bat ich Alfred, er sollte mir fünf Mark leihen, denn wenn ich keine Zahnschmerzen mehr hätte, könnte ich leicht auch zwanzig Marienlegenden B
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mitteiltN ] DichN ]
korrigiert aus: mittelit eingefügt, vgl. ET17/TS1/BS 47 o, Bl. 2
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Endfassung (Nachruf)
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ET17/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
schreiben und ausserdem hätte ich auch Aussicht, Reklameartikel für eine andere Firma verfassen zu können. Aber Alfred gab mir nichts. „Es hat keinen Zweck, Dich zu unterstützen“, sagte er. „Für mich bist Du ein Idealist, Du Idiot!“ Er konnt es mir niemals verziehen, dass ich mich nicht aushalten liess. Er ruhe in Frieden! Ödön Horváth . B
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HorváthN ]
Horv[a]|á|th
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Einzeltext 18: Hinterhornbach
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Fragm. Fassung (Brief aus Hinterhornbach)
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ET18/TS1 (Korrekturschicht)
Brief aus Hinterhornbach
ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 8
Sehr geehrter Herr, also ich bin hier nun glücklich eingetroffen und versuche nun meiner Aufgabe gerecht zu werden. Sie stellten mir in Aussicht, mal im „B. T.“ gedruckt zu werden, falls ich Ihnen einen passenden Bericht über dieses Dorf hier, in dem ich gerade weile, liefere. Das soll nun geschehen: das Dorf heisst Hinterammerbach und liegt an dem Ammerbach und zwar 얍 an dessen hinterem Teil. Es besteht aus 12 Häusern, 97 Einwohnern, einem Kirchlein und einem Schulhäuslein. Es liegt fast 1200 meter hoch, es ist still hier, der Himmel ist blau und die Luft seltsam rein. Auf den Bergen liegt noch viel Schnee, aber man könnte das Lied schon singen „wanns Mailüfterl weht“ – Ich habe bisher 3 Leute kennen gelernt: 1.) den versoffenen ehemaligen Lehrer, der Ibsen liest. 2.) den Wirtssohn, der den abgestürzten Turisten nicht bergen will 3.) die Frau mit dem Fernrohr. B
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Lesetext
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\Abbruch der Bearbeitung\
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Sehr f Fernrohr.N ]
einemN ] 1.)N ] B N] B TuristenN ] B N] BdemN ] B B
[[Meine liebe Klara,] |Sehr geehrter Herr,| [ich] |also ich| bin hier nun glücklich eingetroffen und versuche meiner Aufgabe gerecht zu werden. Ich will mein Möglichstes tun, um für Ihr geschätztes Blatt, diesen Teil] |Sehr f Fernrohr.| [{un}] |einem| \1.)/ gestrichen: Eintragung von fremder Hand (Berliner Bearbeitung): abgestürzten gemeint ist: Touristen gestrichen: Eintragung von fremder Hand (Berliner Bearbeitung): bergen de[r]|m|
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ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 9
Strukturplan in fünf Teilen
ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 9
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Strukturplan in fünf Teilen
ET18/E1
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Lesetext
Fragm. Fassung (Kurzer Bericht aus Hinterhornbach)
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ET18/TS2 (Grundschicht)
Lesetext
Kurzer Bericht aus Hinterhornbach. Hinterhornbach liegt 1200 meter hoch über dem fernen Meer, am Hornbach und zwar an dessen hinterem Teil. Es hat 12 Häuser, 94 Seelen, ein Kirchlein, 43 Kühe und einen Gemeindestier. \Abbruch der Bearbeitung\
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ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 8v
Fassung (Souvenir de Hinterhornbach)
ET18/TS3 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Souvenir de Hinterhornbach von Ödön Horvath.
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ÖLA 3/W 212 – BS 47 u, Bl. 1
Wir waren nun drei Wochen lang in Hinterhornbach, in einem der finstersten Winkel des heiligen Landes Tirol, 1200 meter hoch über dem fernen Meer. Wir sind auf die Berge gestiegen und sind auch wieder herabgestiegen, wir haben dort droben die seltsam stille Luft ein- und ausgeatmet und dabei das Wild im Walde geärgert. Das waren schöne Ferien! Nun sind sie aber leider zu Ende und so kehren wir halt mit einer gewissen Wehmut, erfrischt und beruhigt in unsere Stadt zurück. Und diese Rückkehr ist ziemlich kompliziert. Zuerst mussten wir ein Stück laufen, jetzt sitzen wir in einem hohen Wägelchen, drunten in Stanzach kommt dann die Motorpost und erst in Reutte die Eisenbahn. Es ist Nacht, die Strasse ist noch vom K. K. Ärar angelegt worden, herrlich und halsbrecherisch -- immer am oberen Rande einer Klamm entlang, tief unter uns tobt der Hornbach, aus dem schwarzen Walde wächst das silberne Grau der Felsen in den Mondhimmel und das alles zusammen ist direkt wildromantisch. Und während wir so ins Lechtal hinunterfahren, fällt es mir immer wieder ein: Hinterhornbach, zwölf Häuser und dreiundachtzig Seelen. 얍 Und ich muss immer wieder an diese Seelen denken und zwar hintereinander. Jede einzelne Seele tritt vor mich hin und fragte mich: „Erinnerst Du Dich noch an mich?“ „Natürlich, Du bist doch der Pfarrer , der den anderen Seelen das tanzen verbietet, und der erst vorgestern eine weibliche Seele von der Kanzel herab verdonnerte, weil sie mit blossem Hals auf dem Felde gearbeitet hat“ -- und nun winkt mir eine alte Seele zu, eine richtige Urgrossmutter, die in der Kirche auf der Hurenbank sitzen muss, weil sie vor fünfundsechzig Jahren ein aussereheliches Kind neben ihren vierzehn ehelichen bekommen hatte -- ihre Enkelkinder haben schon längst kirchlich geheiratet, aber die Ahnfrau muss auf der Schandbank beten. Der Einzige, der nicht beten will, das ist der verzweifelte alte Lehrer, der sich völlig versoffen hat, und dessen Frau lbsen liest, um den Pfarrer zu ärgern -- und jetzt fällt mir ein abgestürzter Turist aus Geislingen ein , dessen Leichnam in einer Scheune verweste, weil die Hinterhornbacher für die Bestattungskosten nicht aufkommen wollten, und auch an den kleinen Gemeindestier Sebastian muss ich nun denken, dem man heimlich Nähnadeln ins Heu gestreut hatte, um den Bürgermeister zu ärgern. Man weiss es noch heute nicht, wer dies tat, ein jeder meint, der andere sei es gewesen -- sie kennen sich nämlich genau, weil sie leidenschaftlich gern spionieren. So hat jedes Haus ein Fernrohr, durch die sie sich schadenfroh gegenseitig in die Häuser zu schauen trachten. Und weil die Hinterhornbacher so boshaft sind, drum haben sie auch ein boshaftes Gespenst, namens Buhz. Der Buhz schleicht sich an die Höfe heran, reisst den LeuB
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PfarrerN ] vorN ] BverzweifelteN ] BPfarrerN ] BTuristN ] Baus f einN ] BnichtN ] BschleichtN ]
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korrigiert aus: Pfarer
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[f]|v|or verzwei[g]|f|elte korrigiert aus: Pfarer gemeint ist: Tourist [ein] |aus f ein| [nich] |nicht| schle[c]|i|cht
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ÖLA 3/W 212 – BS 47 u, Bl. 2
Fassung (Souvenir de Hinterhornbach)
ET18/TS3 (Grundschicht)
Lesetext
ten den Hut vom Kopf, zerbricht Brücken, ruiniert das Vieh, verdirbt das Heu, versperrt durch Steine und Stämme die Wege und 얍 glaubt auch nicht an den lieben Gott. Den wievielten haben wir denn heut?“ fragte plötzlich jemand im Wagen. „Den 15. März 1930“, sagte ich.
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ÖLA 3/W 212 – BS 47 u, Bl. 3
Endfassung (Hinterhornbach)
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ET18/TS4
Lesetext
Hinterhornbach. Von Ödön Horváth. B N
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Wir waren nun drei Wochen lang in Hinterhornbach, in einem der finstersten Winkel des heiligen Landes Tirol, 1200 Meter hoch über dem fernen Meer. Nun sind sie aber leider zu Ende und so kehren wir halt mit einer gewissen Wehmut, erfrischt und beruhigt in unsere Stadt zurück. Und diese Rückkehr ist ziemlich kompliziert. Zuerst mussten wir ein Stück laufen, jetzt sitzen wir in einem hohen Wägelchen, drunten in Stanzach kommt dann die Motorpost und erst in Reutte die Eisenbahn. Es ist Nacht, die Strasse ist herrlich und halsbrecherisch – immer am oberen Rande einer Klamm entlang, tief unter uns tobt der Hornbach, aus dem schwarzen Walde wächst das silberne Grau der Felsen in den Mondhimmel und das alles zusammen ist direkt wildromantisch. Und während wir so ins Lechtal hinunterfahren, fällt es mir immer wieder ein: Hinterhornbach, zwölf Häuser und dreiundachtzig Seelen. Und ich muss immer wieder an diese Seelen denken, und zwar hintereinander. Jede einzelne Seele tritt vor mich hin und fragt mich: „Erinnerst du dich noch an mich?“ „Natürlich, du bist doch der Pfarrer, der den anderen Seelen das Tanzen verbietet, und der erst vorgestern eine weibliche Seele von der Kanzel herab verdonnerte, weil sie mit blossem Hals auf dem Felde gearbeitet hat“ – und nun winkt mir eine alte Seele zu, eine richtige Urgrossmutter, die in der Kirche auf der Hurenbank sitzen muss, weil sie vor fünfundsechzig Jahren ein aussereheliches Kind neben ihren vierzehn ehelichen bekommen hatte – ihre Enkelkinder haben schon längst kirchlich geheiratet, aber die Ahnfrau muss auf der Schandbank beten. Der Einzige, der nicht beten will, das ist der verzweifelte pensionierte Lehrer, der sich völlig versoffen hat, und dessen Frau Ibsen liest, um den Pfarrer zu ärgern – und jetzt fällt mir ein abgestürzter Tourist aus Geislingen ein, dessen Leichnam in einer Scheune verweste, weil die Hinterhornbacher für die Bestattungskosten nicht aufkommen wollten, und auch an den kleinen Gemeindestier Sebastian muss ich nun denken, dem man heimlich Nähnadeln ins Heu gestreut hatte, um den Bürgermeister zu ärgern. Man weiss es noch heute nicht, wer dies tat, ein jeder meint, der andere sei es gewesen – sie kennen sich nämlich genau, weil sie leidenschaftlich gern spionieren. So hat jedes Haus ein Fernrohr, durch das sie sich schadenfroh gegenseitig in die Häuser zu schauen trachten. Und weil die Hinterhornbacher so boshaft sind, drum haben sie auch ein boshaftes Gespenst, namens Buhz. Der Buhz schleicht sich an die Höfe heran, reisst den Leuten den Hut vom Kopf, zerbricht Brücken, ruiniert das Vieh, verdirbt das Heu, versperrt durch Steine und Stämme die Wege und glaubt auch nicht an den lieben Gott. „Den wievielten haben wir denn heut?“ fragte plötzlich jemand im Wagen. „Den 15. März 1930“, sagte ich.
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gestrichen: (Nachdruck verboten.)
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Berliner Tageblatt, 5. Beiblatt, 30. März 1930
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Einzeltext 19: Die gerettete Familie / Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand
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Fassung (Die gerettete Familie)
ET19/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Die gerettete Familie von Ödön Horvath
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ÖLA 3/W 197 – BS 47 g, Bl. 1
Am 7. August 1922 war ich sehr verliebt und zwar in eine gewisse Frau Elisabeth Tomaschek aus dem VIII. Bezirk. Der Herr Tomaschek war damals gerade verreist und so stand meinen Gefühlen fast nichtsmehr im Wege. Ich gebs heut gerne zu, dass das moralisch nicht schön von mir war, aber von einem natürlichen Standpunkt aus betrachtet wars doch auch wieder nicht unschön. Die Natur ist halt mal ungerecht und obendrein war ich damals noch ziemlich hemmungslos, der Krieg war ja auch noch kaum vorbei. Am 12. November 1928 kam nun der Herr Tomaschek, den ich inzwischen schätzen gelernt hatte, unerwartet zu mir. Er war seltsam erregt und sagte: „Ich hab grad eine Karambolage hinter mir!“ Und dann setzte er mir auseinander, dass diese Karambolage mit einem scharfen Wortwechsel zwischen ihm und seiner Gemahlin begann und zwar über das Thema, ob der Bubi humanistisch gebildet werden müsste oder ob er in die Oberrealschule gehen sollte. Die Frau war absolut für die Oberrealschule, weil diese ganz in der Nähe lag, aber er hatte eine Schwäche für das Unpraktische. Energisch verteidigte er den Wert des humanistischen Bildungsideals und dabei entschlüpfte ihm leider Gottes ein ordinäres Schimpfwort. Die Frau schimpfte natürlich zurück, das ging so her und hin, bis die Frau (und für sie dürfte diese ganze De-얍batte wahrscheinlich nur ein Anlass gewesen sein, um einem seit 1920 aufgestapeltem Groll das Ventil zu öffnen) -- „und jetzt kommt die Karambolage!“ schrie mich der Tomaschek an, „sagt das Luder nicht, dass sie am 7. August 1923 etwas mit Dir gehabt hätt!“ „So“, sagte ich, „also das find ich unerhört!“ „Ich möcht halt jetzt nur klar sehen“, fuhr der Tomaschek fort, „ob das nämlich stimmt, denn wenn das nämlich stimmt, lass ich mich nämlich scheiden, das kann mir niemand zumuten, dass ich mit einer zusammenleb, die sich mit Dir eingelassen hat! Sags mir nur ruhig, das wird unsere Freundschaft nicht stören! Ich bin Dir nicht bös, denn Du kannst ja nichts dafür. Meiner Seel, das Weib ist halt mal so ein Grundübel, die personifizierte Sünd, das Laster in persona!“ Während er so sprach, überlegte ich krampfhaft, wie ich vorgehen sollte. Also eine Familie wollte ich nicht zerstören, denn das wäre gegen meine Prinzipien gewesen. Aber eigentlich wollt ich auch den braven Tomaschek nicht täuschen, ich hatte ein direkt miserables Gefühl bei dem Gedanken, dass ich sein verständnisvolles Vertrauen missbrauchen sollte -- schliesslich siegte mein Altruismus: zwei Menschen, die das Schicksal gesetzlich zusammengetrieben hat, sagte ich mir, dürften nicht voneinandergejagt werden, und solches erst recht nicht, weil dann der herzige Bubi auseinandergerissene Eltern hätt -- und so antwortete ich dem Tomaschek: „Also ich find das von Deiner lieben Gemahlin schon ziemlich legere, dass sie mich da in ein Drama hineinziehen möcht, bloss um Dich aufzuregen. Natürlich ist das alles erlogen!“ Mein Tonfall beruhigte ihn und er gab mir seine klebrige Hand. „Ich muss jetzt noch ins Continental“, sagte er. „Also Du glaubst mir?“ fragte ich. „Ich glaub alles“, sagte er und 얍 es lag eine gewisse Resignation in seiner Stimme. B
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aufgestapeltemN ] verständnisvollesN ]
korrigiert aus: aufgestappeltem korrigiert aus: verständnissvolles
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Fassung (Die gerettete Familie)
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ET19/TS1 (Grundschicht)
Kaum war er weg, rannte ich zu seiner Frau. „Elisabeth!“ fuhr ich sie an. „Der Viktor war grad bei mir und hat sich erkundigt --“ „Ich weiss schon!“ unterbrach sie mich. „Einen Schmarrn weisst Du!“ brüllte ich und das war alles programmgemäss. „Ich hab ihm natürlich gebeichtet, dass ich was mit Dir gehabt hab, weil er mich an meiner Ehre gepackt hat! Und jetzt will er sich partout scheiden lassen!“ „Also endlich!“ sagte sie und setzte sich. Das hatte ich nicht erwartet, denn ich wollte ja gerade das Gegenteil. Ich dachte sie durch mein erfundenes Geständnis einzuschüchtern, aber jetzt musste ich mitansehen, dass sie direkt erleichtert tat. Momentan wusste ich garnicht, was ich sagen sollte. „Du kannst es ja garnicht wissen“, unterbrach sie plötzlich die Stille und sah mich lang an. „Was denn?“ erkundigte ich mich kleinlaut. „Wie gut dass er und ich zusammenpassen“, sagte sie und betrachtete spöttisch meine modernen Schuhe. „Ich hätt mich ja mit Dir nie eingelassen“, fuhr sie fort, „wenn ich nicht gewusst hätt, dass er sich bereits mit allerhand Menschern abgibt.“ Nun stand sie am Fenster und das sah aus, als wollte sie überall hinaus. Auch aus sich hinaus. „Und der Bubi?“ fragte ich plötzlich scheinbar nebenbei, denn nun kam mein letzter Trumpf. „Wenn sich der Viktor jetzt scheiden lässt, bist natürlich Du der schuldige Teil und den Bubi kriegt natürlich der Viktor.“ Das riss sie aber sehr zusammen! „Was sind das für unnatürliche Gesetze!“ schrie sie und war fürchterlich verzweifelt. Eine Mutter muss man eben bei ihrem Bubi packen, wenn man was bei ihr erreichen will. In diesem Augenblick trat abermals unerwartet der Tomaschek ein. „Was machst denn Du da?“ fragte er mich misstrau-얍isch, aber sie liess mich nicht antworten, sondern stürzte sich weinend auf ihn, umklammerte ihn und jammerte grauenhaft. Immer wieder bat sie ihn unartikuliert um Verzeihung und küsste ihm sogar die Hand. Er sah mich fragend an. „Ich hab ihr nur grad Vorwürfe gemacht“, sagte ich, „wie sie nur sowas behaupten kann, dass ich was mit ihr gehabt hätt, wo das doch gar nicht wahr ist.“ Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch kaum gehabt. Sie taumelte direkt vom Tomaschek zurück und zitterte wie ein verprügeltes Tier. Und dann blickte sie mich an, und das war derart unheimlich gehässig, dass es mir eiskalt hinunterlief. Aber der Tomaschek machte bloss eine wegwerfende Geste. „Sie ist halt blöd, das arme Hascherl!“ sagte er. So rettete ich eine Familie vor dem Verfall. B
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hat!N ] gutN ] Bnun f Trumpf.N ] B B
[ha{h}] |hat| [gut,] |gut| [das war mein letzter] |nun f Trumpf.|
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ET19/TS3
Lesetext
D i e g e r e t t e t e F a m i l i e / Vo n Ö d ö n H o r v á t h Am 7. August 1922 war ich sehr verliebt, und zwar in eine gewisse Frau Elisabeth Tomaschek aus dem VIII. Bezirk. Der Herr Tomaschek war damals gerade verreist, und so stand meinen Gefühlen fast nichts mehr im Wege. Ich geb’s heut gerne zu, daß das moralisch nicht schön von mir war, aber von einem natürlichen Standpunkt aus betrachtet, war’s doch auch wieder nicht unschön. Die Natur ist halt mal ungerecht, und obendrein war ich damals noch ziemlich hemmungslos, der Krieg war ja auch noch kaum vorbei. Am 12. November 1928 kam nun der Herr Tomaschek, den ich inzwischen schätzen gelernt hatte, unerwartet zu mir. Er war seltsam erregt und sagte: „Ich hab’ grad eine Karambolage hinter mir!“ Und dann setzte er mir auseinander, daß diese Karambolage mit einem scharfen Wortwechsel zwischen ihm und seiner Gemahlin begann, und zwar über das Thema, ob der Bubi humanistisch gebildet werden müßte oder ob er in die Oberrealschule gehen sollte. Die Frau war absolut für die Oberrealschule, weil diese ganz in der Nähe lag, aber er hatte eine Schwäche für das Unpraktische. Energisch verteidigte er den Wert des humanistischen Bildungsideals, und dabei entschlüpfte ihm leider Gottes ein ordinäres Schimpfwort. Die Frau schimpfte natürlich zurück, das ging so her und hin, bis die Frau (und für sie dürfte diese ganze Debatte wahrscheinlich nur ein Anlaß gewesen sein, um einem seit 1920 aufgestapelten Groll das Ventil zu öffnen) – „und jetzt kommt die Karambolage!“ schrie mich der Tomaschek an, „sagt das Luder nicht, daß sie am 7. August 1922 etwas mit dir gehabt hätte!“ „So“, sagte ich, „also das find ich unerhört!“ „Ich möcht halt jetzt nur klar sehen“, fuhr der Tomaschek fort, „ob das nämlich stimmt, denn wenn das nämlich stimmt, laß ich mich nämlich scheiden, das kann mir niemand zumuten, daß ich mit einer zusammenleb’, die sich mit dir eingelassen hat! Sag’s mir nur ruhig, das wird unsere Freundschaft nicht stören! Ich bin dir nicht bös, denn du kannst ja nichts dafür. Meiner Seel, das Weib ist halt mal so ein Grundübel, die personifizierte Sünd, das Laster in persona!“ Während er so sprach, überlegte ich krampfhaft, wie ich vorgehen sollte. Also eine Familie wollte ich nicht zerstören, denn das wäre gegen meine Prinzipien gewesen. Aber eigentlich wollt’ ich auch den braven Tomaschek nicht täuschen, ich hatte ein direkt miserables Gefühl bei dem Gedanken, daß ich sein verständnisvolles Vertrauen mißbrauchen sollte – schließlich siegte mein Altruismus: zwei Menschen, die das Schicksal gesetzlich zusammengetrieben hat, sagte ich mir, dürften nicht voneinandergejagt werden, und solches erst recht nicht, weil dann der herzige Bubi auseinandergerissene Eltern hätt’ –, und so antwortete ich dem Tomaschek: „Also ich find das von deiner lieben Gemahlin schon ziemlich legere, daß sie mich da in ein Drama hineinziehen möcht, bloß um dich aufzuregen. Natürlich ist das alles erlogen!“ Mein Tonfall beruhigte ihn, und er gab mir seine klebrige Hand. „Ich muß jetzt noch ins Continental“, sagte er. „Also du glaubst mir?“ fragte ich. „Ich glaub’ alles“, sagte er, und es lag eine gewisse Resignation in seiner Stimme. Kaum war er weg, rannte ich zu seiner Frau. „Elisabeth!“ fuhr ich sie an. „Der Viktor war grad bei mir und hat sich erkundigt –“ – „Ich weiß schon!“ unterbrach sie mich. „Einen Schmarrn weißt du!“ brüllte ich, und das war alles programmgemäß. „Ich hab’ ihm natürlich gebeichtet, daß ich was mit dir gehabt hab’, weil er mich an
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Simplicissimus, 35. Jg., Heft 6, 5. Mai 1930
Endfassung (Die gerettete Familie)
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ET19/TS3
Lesetext
meiner Ehre gepackt hat! Und jetzt will er sich partout scheiden lassen!“ – „Also endlich!“ sagte sie und setzte sich. Das hatte ich nicht erwartet, denn ich wollte ja gerade das Gegenteil. Ich dachte sie durch mein erfundenes Geständnis einzuschüchtern, aber jetzt mußte ich mitansehen, daß sie direkt erleichtert tat. Momentan wußte ich gar nicht, was ich sagen sollte. „Du kannst es ja gar nicht wissen“, unterbrach sie plötzlich die Stille und sah mich lang an. „Was denn?“ erkundigte ich mich kleinlaut. „Wie gut daß er und ich zusammenpassen“, sagte sie und betrachtete spöttisch meine modernen Schuhe. „Ich hätt’ mich ja mit dir nie eingelassen“, fuhr sie fort, „wenn ich nicht gewußt hätt‘, daß er sich bereits mit allerhand Menschern abgibt.“ Nun stand sie am Fenster, und das sah aus, als wollte sie überall hinaus. Auch aus sich hinaus. „Und der Bubi?“ fragte ich plötzlich scheinbar nebenbei, denn nun kam mein letzter Trumpf. „Wenn sich der Viktor jetzt scheiden läßt, bist natürlich du der schuldige Teil, und den Bubi kriegt natürlich der Viktor.“ Das riß sie aber sehr zusammen! „Was sind das für unnatürliche Gesetze!“ schrie sie und war fürchterlich verzweifelt. Eine Mutter muß man eben bei ihrem Bubi packen, wenn man was bei ihr erreichen will. In diesem Augenblick trat abermals unerwartet der Tomaschek ein. „Was machst denn du da?“ fragte er mich mißtrauisch, aber sie ließ mich nicht antworten, sondern stürzte sich weinend auf ihn, umklammerte ihn und jammerte grauenhaft. Immer wieder bat sie ihn unartikuliert um Verzeihung und küßte ihm sogar die Hand. Er sah mich fragend an. „Ich hab ihr nur grad vorgehalten“, sagte ich, „wie sie nur so was behaupten kann, daß ich was mit ihr gehabt hätt‘, wo das doch gar nicht wahr ist.“ Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch kaum gehabt. Sie taumelte direkt vom Tomaschek zurück und zitterte wie ein verprügeltes Tier. Und dann blickte sie mich an, und das war derart unheimlich gehässig, daß es mir eiskalt hinunterlief. Aber der Tomaschek machte bloß eine wegwerfende Geste. „Sie ist halt blöd, das arme Hascherl!“ sagte er. So rettete ich eine Familie vor dem Verfall.
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Werktitel, Notiz
ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 2
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Werktitel, Notiz
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Werktitel, Werkverzeichnis
ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7
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Werktitel, Werkverzeichnis
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Werktitel, Notizen
ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7v, 8
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Werktitel, Notizen
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EIN KAPITEL AUS DEN MEMOIREN DES HERRN HIERLINGER FERDINAND V O N Ö D Ö N H O RV Á T H Am 7. August 1922 war ich sehr verliebt, und zwar in eine gewisse Frau Elisabeth Tomaschek aus dem VIII. Bezirk. Der Herr Tomaschek war damals gerade verreist, und so stand meinen Gefühlen fast nichts mehr im Wege. Ich gebs heut gerne zu, daß das moralisch nicht einwandfrei von mir war, aber von einem unvoreingenommenen Standpunkt aus betrachtet, war das doch nur natürlich. Die Natur ist halt bekanntlich etwas Ungerechtes, und obendrein war ich damals noch ziemlich hemmungslos, der Krieg war ja noch kaum vorbei. Am 12. November 1928 kam nun der Herr Tomaschek, den ich inzwischen schätzen gelernt hatte, unerwartet zu mir. Er war seltsam erregt und sagte: „Ich hab grad eine Karambolage hinter mir!“ Und dann setzte er es mir auseinander, daß diese Karambolage mit einem scharfen Wortwechsel zwischen ihm und seiner Gemahlin begonnen hätt, und zwar über das Thema, ob der Bubi humanistisch gebildet werden müßt oder ob er in die Oberrealschul gehen sollt. Die Frau war absolut für die Oberrealschul, weil diese ganz in der Nähe lag, aber er hatte eine Schwäche für das Unpraktische. Energisch verteidigte er den Wert des humanistischen Bildungsideals, und dabei entschlüpfte ihm leider Gottes ein ordinäres Schimpfwort. Die Frau schimpfte natürlich zurück, das ging so her und hin, bis die Frau (und für sie dürfte diese ganze Debatte wahrscheinlich nur ein Anlaß gewesen sein, um einer seit längeren Jahren aufgestapelten Antipathie das Ventil zu öffnen) – „und jetzt kommt die Karambolage!“ schrie mich der Tomaschek an, „sagt das Luder nicht, daß sie am 7. August 1922 etwas mit dir gehabt hätt!“ „So“, sagte ich, „also das find ich unerhört!“ „Ich möcht halt jetzt nur klar sehen“, fuhr der Tomaschek fort, „ob das nämlich stimmt, denn wenn das nämlich stimmt, laß ich mich nämlich scheiden, das kann mir niemand zumuten, daß ich mit einer zusammenleb, 얍 die sich mit dir eingelassen hat! Sags mir nur ruhig in das Gesicht, das wird unsere Freundschaft nicht stören! Ich bin dir nicht bös, denn du kannst ja nichts dafür. Meiner Seel, das Weib ist halt mal so ein Grundübel, die personifizierte Sünd, das Laster in persona!“ Während er so sprach, überlegte ich krampfhaft, wie ich vorgehen sollte. Also ein Familienleben wollte ich nicht zerstören, denn das wäre gegen meine Prinzipien gewesen, aber eigentlich wollt ich auch den braven Tomaschek nicht täuschen, ich hatte ein direkt miserables Gefühl bei dem Gedanken, daß ich sein verständnisvolles Vertrauen mißbrauchen könnt – doch schließlich siegte halt mein Altruismus: zwei Menschen, die das Schicksal gesetzlich zusammengefügt hat, sagte ich mir, dürften nicht voneinandergejagt werden, und solches erst recht nicht, weil dann der herzige Bubi auseinandergerissene Eltern hätt – und so antwortete ich dem Tomaschek: „Also das find ich von deiner lieben Gemahlin schon ziemlich legère, daß sie mich da in ein Drama hineinziehen möcht, bloß um dich zu echauffieren. Natürlich ist das alles erlogen!“ Mein Tonfall beruhigte ihn, und er reichte mir seine Hand. „Ich muß jetzt noch ins Continental“, sagte er. „Also du glaubst mir?“ fragte ich. „Ich glaub alles“, sagte er, und es lag eine gewisse Resignation in seiner Stimme. Kaum war er weg, rannte ich zu seiner Frau. „Elisabeth!“ fuhr ich sie an. „Der Viktor war grad bei mir und hat sich erkundigt –“ – „Ich weiß schon!“ unterbrach sie
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Blätter des Deutschen Theaters, Heft III, 1931/32, o. Pag. (S. 3)
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betrachteteN ] Viktor.“N ] BHerzerbrechenN ] Bvorgehalten“,N ] B B
korrigiert aus: betrachtet korrigiert aus: Viktor“. korrigiert aus: herzerbrechen korrigiert aus: vorgehalten,“
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Einzeltext 20: Aus der Stille in die Stadt
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Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
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ET20/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Die Stille ist oft besungen worden und zwar nach allen BRegeln der BReimereiN.N B N Und sie ist zu allen Zeiten besungen worden, sicherlich schon Bknapp nachN der Ermordung des Urpapas. Und alle Völker haben sie besungen, die Bschwarzen, weissen, roten und gelbenN -- die Stille ist nämlich etwas sehr BSchönes.N B Denn inN BderN Stille träumt man B N unwillkürlich und Bwenn man genauer hinsiehtN B steht manN immer BpersönlichN der Mittelpunkt, Bund das BtutN einem Bwohl.N N B Nun wird aber oft der Irrtum begangen, dass die Stille gleichbedeutend ist mit dem ländlichen Leben. BSofern man die Stille als den Antipoden einer Trambahn nimmt.N Das ist natürlich ein Bgr.N Irrtum. N
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\Abbruch der Bearbeitung\
1 1 1 2 3–4 4 5 5 5 5 6 6 6
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Regeln f ReimereiN ] Reimerei.N ] B N] Bknapp nachN ] Bschwarzen f gelbenN ] BSchönes.N ] BDenn inN ] BderN ] B N] Bwenn f hinsiehtN ] Bsteht manN ] BpersönlichN ] Bund f wohl.N ]
6 6 7–10 8–9 9
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B
tutN ] wohl.N ] BNun f N] BSofern f nimmt.N ] Bgr.N ] B
Regeln[, me-]|der Reimerei| [lancholisch und optimistisch,] korrigiert aus: Reimerei [in freien Versen und streng nach den Regeln der Reimerei.] [vor] |knapp nach| korrigiert aus: schwarzen,1 roten,3 weissen2 und gelben4 Schönes[,]|.| [etwas Romantisches.] \Denn/ [I]|i|n korrigiert aus: derr [\nämlich/] korrigiert aus: \wenn [{ }] |genauer hinsieht|/ man [ist] |steht man| \persönlich/ [in der Grossstadt verschwindet man und das können viele nicht vertragen.] |und f wohl.| [{gefällt}] |tut| [natürlich][.]|wohl.| \Nun f / \Sofern f nimmt./ gemeint ist: grosser
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ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 2
Notiz
ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 2
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Notiz
ET20/E1
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Lesetext
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
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ET20/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Die Sehnsucht nach der stillen Einfalt des ländlichen Lebens ist oft besungen worden B von Grossstädtern,N und zwar BsowohlN in freien Versen als auch streng nach den Regeln der Reimerei. Weit weniger oft Bhört manN Bvon derN Sehnsucht nach der BGrossstadt reden.N In unserer Zeit ist der Mittelpunkt die Stadt, die Stadt herrscht über dem Lande und das ist auch recht so. Denn die Stadt ist das Kulturelle Zentrum und das Land \Abbruch der Bearbeitung\
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von Grossstädtern,N ] sowohlN ] Bhört manN ] Bvon derN ] BGrossstadt reden.N ] B B
[und die St] |von Grossstädtern,| [nach allen Regeln] |sowohl| [{redet}] |hört man| [die] |von der| Grossstadt[.]|reden.|
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ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 2
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
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15
ET20/TS3 (Grundschicht)
얍 Die Stille ist oft besungen worden und zwar nach allen Regeln der Reimerei. Und sie ist zu allen Zeiten besungen worden, sicherlich schon knapp nach der Ermordung des Urpapas. Und wahrscheinlich haben sie auch alle Völker besungen, die schwarzen weissen roten und gelben -- die Stille ist nämlich etwas sehr schönes. Denn in der Stille träumt man unwillkürlich und wenn man genauer hinsieht, steht man immer persönlich im Mittelpunkt seiner Phantasien, und dies tut einem natürlich wohl. Aber das ist bekanntlich sehr gefährlich, denn meist ist es wohl völlig uninteressant für andere, wenn man selbst in BdemN Mittelpunkt steht, man muss sehen, dass der andere im Mittelpunkt steht. Soviel über die Stille, über die Möglichkeit einer ungebändigten Phantasie, der neuen Illusion.
Zuallererst muss ich den Leser um Verzeihung bitten Wenn ich antworten soll, warum ich nun nach Berlin übersiedelt bin, und warum ich dem Lande den Rücken gekehrt habe, so kann ich das abgesehen von der Möglichkeit der Existenz oberflächlich so formulieren: auf dem Lande ist man zu weit fort vom Zentrum, die Stadt ist bekanntlich immer mehr das Zentrum, die Industrie gibt den Ton an, das neue Bewusstsein wird in der Stadt geboren, das gesellschaftliche Bewusstsein . Das ist aber natürlich nicht erschöpfend, ich muss noch etwas anderes sagen, aber das lässt sich schon bedeutend schwieriger formulieren. Man wird mir sagen: Sie können doch auf dem Lande genau so arbeiten, genau so Ihre Zeitungen lesen, usw. Sie haben aber die Stille. Nun ist das natürlich ein grosser Irrtum mit der Stille \Textverlust\ B
N
B
N
20
B
B
N
N
B
25
Lesetext
N
9 18 18
B
demN ] demN ] BkannN ]
18–19 21 22 24
B
\abgesehen f Existenz/
B
korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: [l] ä sst
B
abgesehen f ExistenzN ] BewusstseinN ] BBewusstseinN ] BlässtN ]
korrigiert aus: den korrigiert aus: der (1) muss (2) kann
||
207
N
B
ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 3
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS4 (Grundschicht)
Lesetext
얍 B Wenn Bich antworten soll,N N warum ich nun nach Berlin übersiedelt bin und warum ich der stillen Einfalt des ländlichen Lebens den Rücken gekehrt habe, so muss ich zu allererst mal nachdenken, um die Antwort richtig formulieren zu können. Denn das ist sehr schwer. 5 Wohl könnte ich BimN Augenblick sehr viel darauf Bantworten,N wie: Sehnsucht nach Betrieb, nach dem Herz des Landes, die Stadt ist das Kulturzentrum. (Ich liess zu Fleiss das Kapitel der Existenzfrage aus. Darüber muss man wohl nicht debattieren) Aber das alles erschöpft es nicht richtig. 10
B
15
Das Problem liegt tiefer: auf dem Lande besteht die Gefahr des „Romantisch-werden“ N
\Abbruch der Bearbeitung\
1 1 5 5 13
Wenn f soll,N ] ich f soll,N ] BimN ] Bantworten,N ] B N] B B
[{ }] [ |Die Stille ist|] |Wenn f soll,| [mich wer fragt,] |ich f soll,| [{m}] |im| antworten[:]|,| [{A}] |Das f tiefer:|
208
ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 1
Fragm. Fassung (Flucht aus der Stille)
ET20/TS5 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 B Flucht aus der Stille oder Bdas Werden eines neuen Bgesell. Bew.N N
Wenn ich die Frage beantworten soll, warum ich aus der geruhsamen Stille des Dorfes nach Berlin gezogen bin, so muss ich gestehen, dass mir die Antwort teils leicht und teils sehr schwer fällt. Es ist natürlich leicht zu sagen, dass die Stadt den Ton angibt und nicht das Land. Dass das Land kulturell tot ist, unfähig zur Erzeugung einer neuen Kultur, dass die Das Abrücken von der Natur Mich besuchte mal ein Freund und wir gingen zusammen spazieren, es war ihm alles ungewöhnlich und er sah und genoss alles bedeutend empfindlicher als ich. Wir sprachen über die Natur und die Landwirtschaft, über das kleine Leben der Bauern und kleine Bürger, das sich aber in ihrem privatem Leben genau so abspielt, wie in der Stadt, das der einzelnen Leute. Mein Freund gab mir recht und nun erschien uns alles plötzlich recht komisch, wir lachten über die Sorgen dieser Bauern, und das wars weil wir sie als einzelne Wesen sahen. Plötzlich sagte mein Freund: es ist höchste Zeit, dass du in die Stadt kommst, du lebst hier am Rande der Welt. Gewiss haben hier die Leute auch genau die gleichen Eigenschaften Tugend und Laster wie der einzelne Städter , aber du vergisst, dass es in der Stadt etwas gibt, das ist die Umwandlung des gesellschaftlichen Bewusstseins . Kannst du es hier vertragen, keine Ahnung von dieser Wandlung zu haben, zu kennen? In der Stadt wandelt sich das um, die Stadt ist gewissermassen das laufende Band, das Land der kleine Privatwirtschaftler. Es ist klar, dass die Stadt den Ton angibt, du kannst am Dorfe draussen auch all die Zeitungen lesen, aber es fehlt 얍 dir das Fluidum der Wandlung. Es bildet sich B N
5
ÖLA 3/W 229 – BS 64 k [2], Bl. 4
B
N
N B
B
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B
B
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10
B
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20
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B
1 1
B
1 4 4 4 4–5
B
5 5–8
B
6–7 9 11 12 16 16 16 19
B
19 20–21 25 25
B
B
Flucht f Bew.N ] das f Bew.N ]
gesell. Bew.N ] ] BbeantwortenN ] BichN ] Baus f BerlinN ] B N
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gezogen bin,N ] mir f dieN ]
die f Land.N ] Das f NaturN ] BgenossN ] BsprachenN ] BalsN ] BeinzelneN ] BWesenN ] Bder f StädterN ] B
duN ] BewusstseinsN ] BfehltN ] BWandlung. EsN ] B
N
B
N
[Flucht f Bew.] |Flucht f Bew.| (1) das neuedgesellschaftliche Bewustsein. (2) das Werden eines neuen ges[ ]ell. Bew. gemeint ist: gesellschaftlichen Bewusstseins [auf] \be/antworten [ich] (1) dem [Lande] [|Lande|] [|Dorfe|] den Rücken gekehrt habe[\,/] (2) \aus f Berlin/ [und in die Stadt gezogen bin,] |[und nach Berlin] gezogen bin,| (1) [ich diese] [Frage] |Antwort im {Handumdrehen} lediglich| [sogleich] [nurobrflächlich] oberflächlich [beantworten kann] |formulieren kann|, \und zwar/ ungefähr so: in der Grossstadt habe ich mehr Eindrücke, sehe ich mehr und wichtigeres afür unsere Zeit als auf dem Lande. (2) \mir f die/ [die Stadt {nun auf den}] |die f Land.| \Das f Natur/ korrigiert aus: genos korrigiert aus: spr chen eingefügt korrigiert aus: einzel ne korrigiert aus: +Wesen (1) die Grossstädter (2) der f Städter korrigiert aus: due korrigiert aus: Bewustseins korrigiert aus: fehl korrigiert aus: Wandlung.Es
209
ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [2], Bl. 5
Fragm. Fassung (Flucht aus der Stille)
5
ET20/TS5 (Korrekturschicht)
Lesetext
eine neue Menschheit, auf dem Lande heraussen wirst du zum Beobachter, es fehlt dir die Atmosphäre der neuen Menschen. Du lebst auf dem Lande in der sozialen Schicht, die untergeht. Und dann ist noch die Gefahr auf dem Lande, das ist die Stille. Unter Stille verstehe ich nun natürlich nicht die Geräuschlosigkeit, die man sich zum arbeiten auch in der Grossstadt beschaffen kann. Es ist die Stille der Atmosphäre , des Stillstands. Die Stille ist oft besungen worden und zwar nach allen Regeln der Reimerei. B
N
B
N
10
15
Auf dem Lande besteht die Gefahr des Romantischwerdens . Der sogenannten neuen Illusion. Ich will hier das Problem der absoluten Notwendigkeit des Träumens nicht berühren, das Phantasieren ist genau so notwendig wie das Sachlichsein, es ist da eine Vernachlässigung der seelischen Bedürfnisse. Aber auf dem Dorfe das sich in den Mittelpunkt stellen.
20
Hier berührt sich das Problem mit dem Ausspruch: die junge Generation hat keine Seele, was natürlich ein enormer Quatsch ist. Es hängt mit dem verlorenen Kontakt, mit dem verlorenen oder geopferten Trieb zusammen. (Der immer mehr sich verlierende Kontakt zur äusseren Natur ist nur ein Triebverzicht zum Nutzen der Kultur. )
B
B
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B
N
B
N
B
N
B
25
B
N N
Und nun das Wichtigste: bekanntlich braucht man zum denken einen Stuhl, auf dem man sitzt. Es hat sich allmählich herumgesprochen, dass das Materielle unentbehrlich ist. Und das bietet dem jungen Schriftsteller nur Berlin, von allen deutschen Städten. Berlin, das die Jugend liebt, und auch etwas für die Jugend tut, im Gegensatz zu den meisten anderen Städten, die nur platonische 얍 Liebe kennen. Ich liebe Berlin. \Abbruch der Bearbeitung\
7 8 11 12 14 17 18 19–20 20
AtmosphäreN ] allenN ] BRomantischwerdensN ] BwillN ] BVernachlässigungN ] Bdas ProblemN ] Bist. EsN ] B(Der f Kultur.N ] BKultur.)N ] B B
korrigiert aus: Atmospäre korrigiert aus: alle korrigiert aus: Romantischwerden korrigiert aus: wwill korrigiert aus: Vernach lässigung korrigiert aus: dasProblem korrigiert aus: ist. Es
\(Der f Kultur./ korrigiert aus: Kultur.
210
ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [2], Bl. 6
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
얍B
5
ET20/TS6 (Korrekturschicht)
Lesetext
N
ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 6a
„Ich verstehe es vollkommen“, sagte mir neulich ein Bekannter, „dass Sie es draussen auf dem Lande nichtmehr ausgehalten haben und endlich nach Berlin übersiedelt sind , denn in Berlin tut sich was. Aber was ich nicht verstehe ist einfach dies: Sie sind doch sogenannter Schriftsteller und wenn ich mich in Sie hineinzuleben {trachte} so stelle ich es mir so vor, dass Sie auf dem Lande vielmehr Ruhe zum arbeiten haben, ausserdem haben Sie dort auch noch eine würzige Luft.“ E R Oder brauchen sie Anregungen? I CH Nein. E R Warum ziehen Sie in die Stadt? I CH Das werdende Bewusstsein . Verstehen Sie das? E R Nein. I CH Vielleicht hab ichs nicht richtig formuliert – B
N
B
N B N B
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B
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15
„Also was die würzige Luft betrifft“, sagte ich, „da haben Sie absolut recht. Aber von der Luft kann man bekanntlich nicht leben, selbst wenn sie würzig ist. Ich muss doch nach Berlin, um Beziehungen zu bekommen, um Geld zu verdienen, damit ich weiterdichten kann -- Sie dürfen doch nicht vergessen, dass man zum dichten genau so einen Stuhl braucht wie zum denken.“ „ Das ist doch klar“, sagte er, „das hat sich allmählich herumgesprochen. Aber hören Sie: warum kommen Sie nicht ab und zu nach Berlin, bleiben aber draussen wohnen und schreiben dort Ihre Belletristik , Sie können sich doch draussen vielmehr konzentrieren, als herinnen in der Stadt. Hier haben Sie zuviel Bekannte, die treffen Sie immer wieder und bringen Sie ab von Ihrer Intuition.“ B N
B
B
20
B
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B
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B
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1
5 5 5 5 5 6–7 7 7–8 9–15 12 17 17 17 19 19 21 21 23 24 25 25
B N
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sindN ] was.N ] B N] BAberN ] Beinfach dies:N ] Bwenn f {trachte}N ] Bstelle f soN ] BarbeitenN ] BE R f N] BBewusstseinN ] B N] BbekanntlichN ] BselbstN ] Bkann --N ] BSieN ] BDasN ] Bherumgesprochen.N ] BBelletristikN ] BderN ] BIhrerN ] BIntuition.“N ] B B
N
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25
N
N B
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[Wenn ich gefragt werde, warum und weshalb ich aus dem Dorfe, in dem ich nun längere Zeit lebte nach Berlin gezogen bin, so will ich ma mal zuallererst meine Antwort ganz primitiv formulieren, nämlich: weil in Berlin mehr los ist als im Dorf.“] sind[.“] korrigiert aus: was[=] |.|“ [So sagte mir mein Bekannter und] [„]Aber [folgendes:] |einfach dies:| [ich stelle es mir wenigstens] |wenn f {trachte}| \stelle f so/ arb\e/iten \E R f / korrigiert aus: Bewustsein [würzigen] \bekanntlich/ selb\st/ korrigiert aus: kann ‛‛ korrigiert aus: sie korrigiert aus: das korrigiert aus: herumgesprochen= [Werke] |Belletristik| eingefügt
Ihre[m]|r| [geraden Weg.“] |Intuition.“|
211
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS6 (Korrekturschicht)
Lesetext
Und dann erzählte er mir noch langmächtig, wie gerne er draussen auf dem Lande wäre, wie gerne er in meiner Haut stecken würde, und dass er mich um mich beneidet -- -- „Lieber Herr“, unterbrach ich ihn, „Sie verstehen das nicht genau, wenn Sie wollen werde ich es \Textverlust\ B
N
2–3
beneidet --N ]
B
korrigiert aus: beneidet ‛‛
212
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS7 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 B Unlängst traf ich einen Bekannten in der BMotzstraße.N N „Ich verstehe BSie“N B N, aber was ich nicht verstehe ist einfach dies: Bwarum haben Sie Ihrem idyllischen Dorfleben den Rücken gekehrt und sind hierher nach Berlin gezogen?N Sie sind doch sogenannter Schriftsteller und wenn ich mich in Sie Bhinein5 lebeN, so stelle ich mir das so vor, dass Sie BdraussenN BaufN dem B N Lande vielmehr Ruhe zum arbeiten haben, ausserdem haben Sie dort auch noch eine würzige Luft.“ B „AlsoN was die würzige Luft betrifft“, sagte ich, „da haben Sie BrelativN recht, aber bekanntlich kann man von der Luft nicht leben, selbst wenn sie würzig ist. Ich muss doch nach Berlin, Bund zwarN erstens: um Geld zu verdienen, Bvergessen SieN doch 10 nicht B{ }N, dass man nicht nur zum Bdenken,N B N sondern auch zum dichten B N Papier, B Tinte oderN Bleistift BbrauchtN, vom Essen, Schlafen, Wohnen garnicht zu reden.“ B „AlsoN, das hat sich allmählich Bherumgesprochen“N, Bberuhigte er mich,N B„aberN hören Sie mal: Bwenn ich Sie wäre, würde ich nur nochN nach Berlin Bum sich hier Papier, Tinte und drgl. zu holenN, bleiben aber draussen wohnen und schreiben dort ihre 15 Belletristik, Sie können sich doch draussen Bin der himmlischen StilleN Bbedeutend konsequenterN konzentrieren B N B N als wie hier BimN BTrubel der B{Welt}N.N Hier BmüssenN Sie doch BbedeutendN leichter von Ihrer Intuition Babgebracht werden.“N 1 1 2 2
Unlängst f Motzstrasse.N ] Motzstrasse.N ] BSie“N ] B N] B B
2–4 4–5 5 5 5 7 7 9 9 10 10 10 10 11 11 12 12 12 12 13
B
13–14 15 15–16 16 16 16 16 16 16 17 17
B
warum f gezogen?N ] hineinlebeN ] BdraussenN ] BaufN ] B N] B„AlsoN ] BrelativN ] Bund zwarN ] Bvergessen SieN ] B{ }N ] Bdenken,N ] B N] B N] BTinte oderN ] BbrauchtN ] B„AlsoN ] Bherumgesprochen“N ] Bberuhigte f mich,N ] B„aberN ] Bwenn f nochN ] B
um f holenN ] in f StilleN ] Bbedeutend konsequenterN ] B N] B N] BimN ] BTrubel f {Welt}N ] B{Welt}.N ] BmüssenN ] BbedeutendN ] Babgebracht werden.“N ] B
\Unlängst f Motzstrasse./ [{Passauers}] |Motzstrasse.| Sie“[,] [sagte mir unlängst ein Bekannter, „[dass Sie] |und ich beglückwünsche Sie {dafür} dass Sie| es draussen auf dem Lande nichtmehr ausgehalten haben und nun endlich nach Berlin [übersiedelt] |gezogen| sind] \warum f gezogen?/ hinein[zuleben]|lebe| [trachte] \draussen/ \a/uf [\fried/] \„/Also [absolut] [|schon sehr|] [|{selbst}|] |relativ| \und zwar/ [Sie dürfen] |vergessen Sie| [vergessen] |{ }| denken\,/ [einen Stuhl braucht, auf dem man sitzt,] [brauch ich] Tinte[,] |oder| \braucht/ [„Das ist klar] |„Also| herumgesprochen\“/ [\sagte er,/] |beruhigte f mich,| korrigiert aus: ab er (1) warum kommen Sie nicht ab und zu nur mal (2) [\ich an Ihrer Stelle/] |wenn f [trotzdem] |nur noch|| \um f Papier\,/ [und] f holen/ \in f Stille/ [vielmehr] |bedeutend [{stä}] |konsequenter|| gestrichen: in \–/ [der Stille] i[n]|m| [der Stadt.“] |Trubel f {Welt}| korrigiert aus: {Welt} [werden] |müssen| [viel] |bedeutend| abgebracht[.“]|werden.“|
213
ÖLA 3/W 230 – BS 64 k [3], Bl. 10
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
Lesetext
„Also hier in Berlin werde ich von meiner Intuition auch nicht weniger abgebracht, ich kann wenn ich will hier genau so still leben, wie auf dem Lande. Ich kann ein Eremitendasein führen, allerdings gibt es hier mehr Versuchungen, aber meistens nur nach sieben Uhr abends. Man braucht die Stille absolut zum arbeiten, aber sehen Sie das ist so: es ist ein Unterschied zwischen der Stille des ländlichen Lebens und der selbstgewählten Stille der Stadt. Die Stille ist bekanntlich oft besungen worden und zwar nach allen Regeln der Reimerei. Und sie ist zu allen Zeiten besungen worden, 얍 sicherlich bereits knapp nach der Ermordung des Urpapas. Und wahrscheinlich haben sie alle Völker besungen, die schwarzen, weissen, roten, gelben -- die Stille ist nämlich etwas sehr schönes. Denn in der Stille träumt man unwillkürlich und wenn man genauer hinsieht, steht man immer persönlich im Mittelpunkt seiner Phantasien, und dies tut einem natürlich wohl. Natürlich verführt die Stille auf dem Lande unwillkürlich zur Romantik, das merkt man am besten, wenn man sich beobachtet, wie die Landschaft auf einen immer schwächer wirkt, je mehr man sich mit anderen Fragen beschäftigt, verstehen Sie mich jetzt?“ „ Nein.“ „Ich will es mal anders sagen: es ist eben ein Unterschied zwischen der selbstgewählten Stille in Berlin und der aufgezwungenen des Landes. Auf dem Land bleibt Ihnen das Phantasieren übrig, in der Stadt auch.“ „Sie könne doch aber auch alle Nachrichten in der Stadt heraussen auf dem Lande lesen, durch Zeitungen, Radio, usw. Sie erfahren also alles auch auf dem Lande, höchstens einige Stunden später, und auf die einige Stunden kommts doch nicht an, wo Sie doch ewige Werte schaffen sollen.“ „Auf die Stunden kommts wirklich nicht an, lieber Herr, aber ich brauche auch keine übermittelte Nachricht, ich muss das einzelne sehen. Nehmen wir zum Beispiel an, es ist eine Arbeitslosendemonstration gewesen, in der Zeitung steht das, aber ich weiss nicht, was das alles für Nüancen hat, auf diese Nüancen kommt es an, jeder sieht so seine eigenen Nüancen.“ „Jetzt kommt aber eine Gewissensfrage : halten Sie das für so wichtig? Glauben Sie nicht auch, dass es vielleicht gar nicht so wichtig ist, was in der Stadt passiert? Glauben Sie denn tatsächlich an Ihren Ausspruch vom Stillstand des Landes und vom 얍 neuen Bewusstsein in der Stadt?“ „Ich fühle das neue Werden, das We r d e n des neuen sehe ich in der Stadt, verstehen Sie das? Das vom gesellschaftlichen Sein zum gesellschaftlichen BewusstB
5
ET20/TS7 (Korrekturschicht)
N
B
B
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inN ] StilleN ] Bselbstgewählten StilleN ] BStilleN ] BNein.“N ] B„IchN ] BUnterschiedN ] BaufgezwungenenN ] Balle NachrichtenN ] BerfahrenN ] BNüancenN ] BNüancenN ] BNüancen.“N ] BGewissensfrageN ] B N] BBewusstseinN ] BgesellschaftlichenN ] BBewusstseinN ] B B
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1 5 6 9 16 17 17 18 20 21 27 27 28 29 29 32 34 34–215,1
N
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30
ÖLA 3/W 230 – BS 64 k [3], Bl. 11
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korrigiert aus: in der korrigiert aus: Stil le korrigiert aus: Stille selbstgewählten korrigiert aus: S ille korrigiert aus: Nein“. korrigiert aus: „ Ich korrigiert aus: Untersch ied korrigiert aus: aufgezwun genen korrigiert aus: alleNachrichten korrigiert aus: er fahren gemeint ist: Nuancen gemeint ist: Nuancen korrigiert aus: Nüancen. gemeint ist: Nuancen korrigiert aus: Gewissens frage gestrichen: ds korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: Gesellschaftliche korrigiert aus: Bewustsein
214
B
ÖLA 3/W 230 – BS 64 k [3], Bl. 12
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS7 (Korrekturschicht)
Lesetext
sein . Die Stadt ist gewissermassen auf dem laufenden Band, und die Umbildung in das denken per „wir“. Verstehen Sie das?“ „Nein.“ „Vielleicht liesse es sich auch noch besser formulieren --“ N
5
\Abbruch der Bearbeitung\
215
Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
5
10
15
20
25
30
ET20/TS8 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Unlängst traf ich einen Bekannten in der BRosentalerstrasse.N „Ich verstehe Sie“, begrüsste er mich, „aber was ich nicht verstehe, ist einfach dies: warum haben Sie eigentlich Ihrem herrlich idyllischem Dorfleben den Rücken gekehrt und sind hierher nach Berlin gezogen? Sie sind doch sogenannter Schriftsteller und wenn ich mich in Sie hineinlebe, so stelle ich mir das so vor, dass Sie draussen auf dem Lande vielmehr Ruhe zum dichten Bhaben, ausserdemN haben Sie dort auch noch eine würzige Luft.“ „Also was die würzige Luft betrifft“, sagte ich, B„daN haben Sie relativ recht, aber bekanntlich kann man von der Luft nicht leben, selbst wenn sie würzig ist. Ich muss doch unbedingt nach Berlin, und zwar erstens: um unbedingt Geld zu verdienen. Vergessen Sie doch bitte nicht, dass man nicht nur zum denken, sondern auch zum dichten unbedingt Papier, Tinte oder Bleistift braucht, vom Essen, Schlafen, und der Garderobe will ich jetzt garnicht reden!“ „Also das hat sich allmählich herumgesprochen“, beruhigte er mich, „aber hören Sie mal: wenn ich Sie wäre, würde ich nur dann nach Berlin ziehen, wenn mir die Tinte, Papier oder drgl. gerade mal ausgegangen ist, wie ich dann aber die BUtensilienN habe, würde ich mich sofort wieder von Berlin empfehlen, hinaus B N in den ländlichen Frieden, um dort meine Belletristik zu schreiben. Sie können sich doch BdraussenN in der himmlischen Stille und an dem Busen der Natur bedeutend konsequenter konzentrieren, als wie im Trubel der Weltstadt. Hier wird man doch nur zu leicht von seiner Intuition abgelenkt.“ „Das glaube ich weniger“, sagte ich, B„vonN der sogenannten wahren Intuition 얍 kann man nicht so BmirnixN dirnix abgelenkt werden, aber abgesehen hievon: ich kann, wenn ich will, hier in Berlin genau so still leben, wie an dem Busen der BNatur. WennN man gerade eine Intuition hat, kann man hier leicht ein Eremitendasein führen, allerdings gibt es hier mehr Versuchungen, als wie draussen im Dorf jedoch meist nur nach sieben Uhr abends. Aber ich hätte ja gar keinen Willen, wenn ich diesen Versuchungen nicht standhalten könnte! Es gibt natürlich auch unbewusste Versuchungen und Ablenkungen, man wird natürlich oft abgelenkt, ohne dass man es merkt. Aber in dieser Weise kann ich auch auf dem Lande abgelenkt werden, zum Beispiel durch B eine BaumgruppeN, und in der Stadt Bz.B.N durch eine BDemonstrationN -- aber das hat ja auch natürlich alles seine Vorteile, es wirkt in mir weiter, und springt auf einmal heraus Bals ein { }N oder BeineN Kapitelüberschrift. So würde dann auf dem Lande ein
1 6 8 16–17 17 18–19 22 23 24–25 31 31 31 33 33
B
Rosentalerstrasse.N ]
haben, ausserdemN ] „daN ] BUtensilienN ] B N] BdraussenN ] B„vonN ] BmirnixN ] BNatur. WennN ] Beine BaumgruppeN ] Bz.B.N ] BDemonstrationN ] Bals f { }N ] BeineN ] B B
[Zimmerstrasse.] [|Nähe der {Rosentalerstrasse}|] |Rosentalerstrasse.| gemeint ist: Rosenthaler Straße korrigiert aus: haben ,ausserdem korrigiert aus: „ da korrigiert aus: [Sachen] |Untensilien| [aufs stille friedliche Dorf, in den Frieden des Landes,] korrigiert aus: draus sen korrigiert aus: „ von korrigiert aus: mirnis korrigiert aus: Natur.Wenn eine[n] [Wald, durch eine Lichtung] |Baumgruppe| \z.B./ [Fabrik, eine Strassenbahn] |Demonstration| [in]|als| [irgendeine[r]|m|] |ein| [Szene eines Buches,] |{ }| [nur einer] |eine|
216
ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 13
ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 14
Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS8 (Korrekturschicht)
Lesetext
Kapitel heissen „Abendsonnenschein im Hochwald“ und in der Stadt „Die Arbeitslosenunterstützung wird gekürzt.“ B N
B N
„ Aber vielleicht ist das zu kompliziert formuliert, ich kann es ja auch nicht einfacher. Kehren wir lieber zu dem Begriff „Stille“ zurück. Das ist ein sehr schöner Begriff , er ist ja auch nicht umsonst schon oft besungen worden, von allen Völkern, den schwarzen, weissen, roten, gelben, und zwar nach allen Regeln der Reimerei. Und zu allen Zeiten, sicherlich bereits knapp nach der Ermordung des Urpapas. Es ist aber natürlich ein grosser Unterschied zwischen der Stille der Stadt und des Landes. Erstere ist selbstgewählt mit einem bestimmten Zweck, nämlich zur dichterischen Arbeit, letztere ist ein „muss“, eine 얍 Mussstille. Und die Stille verführt zum Träumen und logischerweise zur Romantik, während die städtische Stille nur der Arbeit gewidmet ist, arbeit ich aber mal nicht, so kann ich in der Stadt keine Stille verspüren, es entsteht also statt des Phantasierens das Sehenmüssen, ob mir das nun ganz bewusst wird oder nicht, spielt natürlich keine Rolle.“ Es hat sich allmählich herumgesprochen, dass ein neues gesellschaftliches Bewusstsein heraufdämmert. „Es ist mir bekannt, dass die Stadt das Zentrum ist, dass die Stadt den Ton angibt und die ländliche Einfalt zwingt, ihren Ton nachzuahmen, wenn sie überhaupt einen Ton haben will. Das Land ist heute kulturell kaum entwicklungsfähig, die lebendige Kultur gibt es nur in der Stadt, darüber sind wir uns doch im Klaren. Das Schwergewicht verschiebt sich immer mehr zur Industrie. Die künftigen Kulturzentren sind sicherlich die Industrieorte. Das wissen wir doch alle. Das können Sie vor allem genau so auf dem Lande wissen, wie hier in Berlin, Sie können ein Buch darüber lesen, Zeitungen, Radio, Zeitschriften abonnieren, usw. Bei ihnen kommt es doch nicht so sehr darauf an, ob sie nun die neueste Nachricht einige Stunden später erfahren, wo Sie doch ewige Werte schaffen wollen.“ „Hm“, sagte ich nachdenklich, „es ist für mich als junger Dichter, der ewige Werte schaffen will, natürlich gleichgültig, ob ich es etwa drei Stunden früher oder B
5
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B
2 3 4 4 4 5 5 5 5 5 5 5 5 6 6 7 13 16–17
B N
] ] BAber f dasN ] B N] Bja auchN ] Beinfacher.N ] B N] Bzu f BegriffN ] B„Stille“N ] Bzurück.N ] B N] BDasN ] BeinN ] Bschöner BegriffN ] BerN ] B N] BgewidmetN ] BEs f heraufdämmert.N ]
16–17 18 26 28
B
B N
BewusstseinN ] zwingt, ihrenN ] Bwollen.“N ] BetwaN ] B
N
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[Verstehen Sie mich?“] [„Nein“.] [Dann hab ich das vielleicht] |Aber f das| [aber] \ja auch/ einfacher[,]|.| [Sie haben mich ja überhaupt erst auf den Gedanken gebracht.] zu[r] \dem Begriff/ \„/Stille\“/ korrigiert aus: zurück, [zu diesem Begriff.] [Die Stille, lieber Herr,] |Das| [etwas] |ein| schöne[s]|r| \Begriff/ [sie]|er| [den] korrigiert aus: gewiedmet [„Jetzt versteh ich Sie überhaupt nichtmehr“, sagte mein Bekannter und sah mich mitleidig an. „Reden wir doch wieder deutsch“, bat er mich freundlich und fuhr sogleich fort:] |Es f heraufdämmert.| korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: zwingt,ihren korrigiert aus: wollen“. \etwa/
217
ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 15
Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS8 (Korrekturschicht)
später erfahre, dass sich wiedermal einige Personen infolge wirtschaftlicher Not das Leben genommen haben. Das ist doch klar, das hat mit dem Schaffen ewiger Werte nichts zu tun. Aber es kommt doch beim Dichten nicht darauf an, dass ich das erfahre, sondern dass ich selbst dabei bin . Bei so einem Selbstmord kommt es doch auf die Nuancen {unendlich} an. So einen Selbstmord sieht doch ein jeder anders, bekanntlich durch ein anderes Temperament. Aber wichtiger als dies, 얍 scheint mir folgendes zu sein: es bildet sich ein neues gesellschaftliches Bewusstsein , es ist alles im Werden begriffen, auch die bisher bekannten Typen der Menschen bilden sich um, es entstehen gewissermassen ganz neue Mischungen -- -- sehen Sie: und das können Sie heute auf dem Lande weder fühlen noch sehen, das Land lässt der Stadt den Vortritt, und für mich als jungen Dichter ist dies natürlich kolossal wichtig, die persönlichen Eindrücke von diesem Wandel des Bewusstsein . Sie werden das vielleicht garnicht so verspüren?“ „Also da haben Sie schon sehr recht! Leben Sie wohl!“ „Auf Wiedersehen!“ B
B N
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dochN ] ] Bdabei binN ] BBei f an.N ] BbekanntlichN ] BAber f dies,N ] BgesellschaftlichesN ] BBewusstseinN ] BMischungen --N ] BBewusstseinN ] Brecht! LebenN ] B N] B
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N
\doch/ [das] [sehe] |dabei bin| [Es kommt doch auf die Nüancen an.] |Bei f an.| \bekanntlich/ korrigiert aus: [Aber f dies,] korrigiert aus: gesellschaft liches korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: Mischungen ‛‛ korrigiert aus: Bewustsein korrigiert aus: recht!Leben \ /
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ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 16
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
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ET20/TS9 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Unlängst traf ich einen Bekannten in der Charlottenstrasse. Er schien sich sehr zu wundern, mich in Berlin begrüssen zu Bkönnen, undN erkundigte sich neugierig, warum ich dem herrlich idyllischem Dorfleben den Rücken gekehrt hätte, wo ich doch draussen auf dem Lande aber schon ganz entschieden mehr Ruhe zum dichten haben würde, abgesehen von der würzigen Luft. „Also was die Luft betrifft“, sagte ich, „da haben Sie BrelativN recht, aber bekanntlich kann man von der Luft nicht leben, selbst wenn sie würzig ist. Ich als junger Poet muss doch unbedingt nach Berlin, denn zur Zeit kann man im deutschen Kulturkreis nur in Berlin von der Poesie leben. Vergessen Sie doch bitte nicht, dass man nicht nur zum BdenkenN, sondern auch zum dichten unbedingt Beinen Stuhl undN drgl. benötigt, vom Essen, Schlafen und drgl. will ich jetzt garnicht reden!“ „BJa“N, beruhigte mich mein Bekannter und liess mich höflich stehen. Lang sah ich ihm nach und hatte dabei ein BtriumphierendesN Gefühl. Als ich ihn BaberN nichtmehr sah, Bmusste ichN über meinen Umzug nach Berlin intensiver BnachdenkenN. Und plötzlich BfingN ich an zu zweifeln, BobN ich nicht vielleicht besser getan hätte, Bfragte ich mich, {wirklich}N nur dann nach Berlin zu kommen wenn B{ich}N mal Beinen Stuhl oder drgl. B{würde}N leisten können –N BmichN BdanachN, wie ich mir diese Utensilien beschafft BhätteN, sofort wieder von Berlin zu empfehlen, hinaus in den ländlichen Frieden, um dort meine Belletristik zu schreiben. Es ist doch klar, so dachte Bich plötzlichN verzweifelt, dass man als junger Schriftsteller draussen B N B N an dem Busen der Natur sich bedeutend konsequenter konzentrieren kann, als wie im Trubel der Weltstadt. In der Weltstadt wird man doch nur zu leicht von seiner Intuition abgelenkt. So dachte ich damals, aber heute denke ich ganz Banders überN \Textverlust\
2 6 9 10 12 13 13 14 14 15 15 15–16 16 16–17 17 17 17 18 19–20 20 20 24
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korrigiert aus: können,und
B
können, undN ] relativN ] BdenkenN ] Beinen f undN ] BJa“N ] BtriumphierendesN ] BaberN ] Bmusste ichN ] BnachdenkenN ] BfingN ] BobN ] Bfragte f {wirklich}N ] B{ich}N ] Beinen f können –N ] B{würde}N ] BmichN ] BdanachN ] BhätteN ] Bich plötzlichN ] B N] B N] Banders überN ]
re[al]|la|tiv [denken] |denken| [Papier, Tinte, Bleistift und] |einen f und| [Also das hat sich allmählich herumgesprochen“] |Ja“| korrigiert aus: triumphiendes \aber/ [fing ich plötzlich an,] |musste ich [plötzlich]| nach[zu]denken fi[m]|n|g korrigiert aus: [o]|O|b \fragte f {wirklich}/ [mir] |{ich}| [das Papier, die Tinte oder drgl. ausgegangen ist,] |einen f können –| \{würde}/ [und] |mich| [dann aber]|danach| [habe] |hätte| [ich] [im moment] [|{ei}|] |plötzlich| [im Rahmen] [|der Atmosphäre|] [der stillen Einfalt des ländlichen Lebens und] anders[.]über
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ÖLA 3/W 231 – BS 64 k [4], Bl. 7
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS10 (Korrekturschicht)
Lesetext
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얍 der Weltstadt. In der Weltstadt wird man doch nur zu leicht von seiner Intuition abgelenkt. So dachte ich damals, aber heute weiss ich, dass diese Zweifel betr. Intuition keine Berechtigung haben. Ich kann ja, wenn ich will, hier in Berlin genau so zurückgezogen leben, wie an dem Busen der Natur, in jedem möblierten Zimmer lässt es sich als Eremit fein BhausenN. Allerdings braucht man in Berlin zu einem solchen lediglich seiner Intuition BgewidmetenN Leben mehr freien Willen, als draussen im Dorfe, denn hier gibt es natürlich mehr Versuchungen, jedoch meist nur nach sieben Uhr abends. Auch wird man hier natürlich oft abgelenkt, ohne dass man es im Augenblick merken würde. Zwar wird man auf diese Weise auch draussen auf dem Lande Bnatürlich oft abgelenktN, ohne dass man es im Augenblick merken würde. Zwar passiert dies einem auch draussen auf dem Dorfe, zum Beispiel durch eine Baumgruppe, genau so wie in der Stadt zum Beispiel durch eine Arbeitslosenkundgebung -- der Unterschied besteht dann lediglich im folgenden: als Folge der Ablenkungskünste des Landes würde ich ein Kapitel schreiben mit der Ueberschrift: „Abendsonnenschein im BHochwald“, währendN als Folge der städtischen Ablenkungskünste die Ueberschrift lauten würde: „Protest gegen die Kürzung der Arbeitslosenversicherung.“ Wenn ich mich nicht irre, hat es sich allmählich herumgesprochen, dass sich unser gesellschaftliches Sein allmählich zu einem gesellschaftlichen BBewusstseinN umbildet, BundN dass BdiesN Werden B N nur in der Stadt spürbar ist. Dass BdemN Land BlängstN nurmehr die Rolle des einfältigen BlangsamenN Nachahmers Bzukommt.N BMan wird mir vielleicht sagen, sie können ja dieses Werden auch draussen auf Lande verfolgen, durch Zeitung und Radio, höchstens erfahren sie es einige Stunden {später.}N Und es kommt mir als jungen Dichter, der wo ewige Werte sich zu schaffen befleissigt, nicht darauf an, diese Tatsache durch Radio, usw. zu wissen, sondern sie BselbstN durch ihre B NüancenN zu erleben. Zum BBeispielN: für mich als jungen Dichter, der wo ewige Werte schaffen will, ist Bes natürlich völlig egalN \Abbruch der Bearbeitung\
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hausenN ] gewidmetenN ] Bnatürlich f abgelenktN ]
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B N
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Hochwald“, währendN ] BewusstseinN ] BundN ] BdiesN ] B
] demN ] BlängstN ] BlangsamenN ] Bzukommt.N ] BMan f {später.}N ] BselbstN ] BNüancenN ] BBeispielN ] Bes f egalN ] B
[leben] |hausen| korrigiert aus: gewiedmeten (1) abgelenkt (2) natürlich f abgelenkt korrigiert aus: Hochwald“, während korrigiert aus: Bewustsein \und/ (1) das (2) \dies/ [eines neuen gesellschaftlichen Bewustseins] d[as]|em| \längst/ [\{ }/] |langsamen| [spielt.] |zukommt.| \Man f {später.}/ korrigiert aus: sel st gemeint ist: Nuancen korrigiert aus: Besispiel \es f egal/
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ÖLA 3/W 231 – BS 64 k [4], Bl. 8
Fragm. Fassung (Aus der Stille in die Stadt)
ET20/TS11 (Grundschicht)
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얍 schlag hat sicher seine Berechtigung, aber er übersieht BleiderN etwas für einen jungen Dichter, der wo ewige Werte schaffen möchte, Wesentliches. Und zwar: es spielt natürlich keine Rolle, ob ich es Binfolge der geographischen Entfernung von Stadt und Dorf etwa drei Stunden später erfahre,N dass sich wiedermal einige Personen infolge wirtschaftlicher Not das Leben genommen haben. Das ist doch klar, das hat mit dem Schaffen ewiger Werte nicht zu Btun. AberN beim Dichten kommt es doch nicht darauf an, dass ich zum Beispiel B N Beine BTatsacheN durch Zeitung oder Radio erfahre,N sondern dass ich sie selbst erlebe. Bei so einem Selbstmord BkommtN es doch in erster Linie auf die BNüancenN an. BDennN solch einen BSelbstmordN sieht doch ein jeder anders, bekanntlich durch ein anderes Tem \Abbruch der Bearbeitung\
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leiderN ] infolge f erfahre,N ] Btun. AberN ] B N] Beine f erfahre,N ] B B
TatsacheN ] kommtN ] BNüancenN ] BDennN ] BSelbstmordN ] B B
leide[t]|r| [etwa drei Stunden später erfahre] |infolge f erfahre,| korrigiert aus: tun. Aber Absatz getilgt (1) diese Selbstmorde erfahre (2) eine f erfahre, korrigiert aus: Tatsche
komm[e]|t| korrigiert aus: Nü n en gemeint ist: Nuancen korrigiert aus: denn korrigiert aus: Selbst mord
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ÖLA 3/W 231 – BS 64 k [4], Bl. 9
Endfassung (Aus der Stille in die Stadt)
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Berliner Tageblatt, 5. Beiblatt, 25. Mai 1930
Ödön von Horváth, der Verfasser des erfolgreichen Volksstücks „Die Bergbahn“, hat einen Roman „Der ewige Spiesser“ vollendet, der demnächst erscheint. Unlängst traf ich einen Bekannten in der Charlottenstrasse. Er schien sich sehr zu wundern, mich in Berlin zu sehen, und erkundigte sich neugierig, warum ich denn dem herrlich idyllischen Dorfleben den Rücken gekehrt hätte, wo ich doch draussen auf dem Lande schon ganz entschieden mehr Ruhe zum Dichten haben würde, abgesehen von der würzigen Luft. „Also was die Luft betrifft“, sagte ich, „da haben Sie relativ recht, aber bekanntlich kann man von der Luft nicht leben, selbst wenn sie würzig sein sollte. Ich als junger Schriftsteller muss doch unbedingt nach Berlin. Vergessen Sie doch bitte nicht, dass man nicht nur zum Denken, sondern auch zum Dichten unbedingt einen Stuhl und dergleichen benötigt, vom Essen, Schlafen und dergleichen will ich jetzt gar nicht reden!“ „Ja“, beruhigte er mich und liess mich höflich stehen. Lang sah ich ihm nach und hatte dabei ein triumphierendes Gefühl. Als ich ihn aber nicht mehr sehen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als über meinen Umzug nach Berlin etwas intensiver nachzudenken. Ob ich nicht wahrscheinlich besser getan hätte, fragte ich mich, nur dann nach Berlin zu kommen, wenn ich mir mal keinen Stuhl und dergleichen würde leisten können – um mich hernach, bis ich mir diese Utensilien beschafft hätte, sofort wieder von Berlin zu empfehlen, hinaus in den ländlichen Frieden, um dort meine Belletristik zu schreiben. Es ist doch vielleicht klar, so dachte ich plötzlich verzweifelt, dass man sich als junger Schriftsteller draussen in der Natur bedeutend konsequenter konzentrieren kann, als im Trubel der Weltstadt. In der Weltstadt wird man doch nur zu leicht von seiner Intuition abgelenkt. So dachte ich damals, aber heute weiss ich, dass diese Zweifel keine Berechtigung besitzen. Ich kann ja, wenn ich nur will, hier in Berlin genau so zurückgezogen leben, wie an dem Busen der Natur, in jedem möblierten Zimmer lässt es sich als Eremit fein hausen. Allerdings braucht man in Berlin zu einem solchen lediglich seiner Intuition gewidmeten Leben mehr freien Willen, als draussen im Dorfe, denn hier gibt es natürlich mehr Versuchungen, jedoch meist nur nach sieben Uhr abends. Auch wird man hier natürlich oft abgelenkt, ohne dass man es im Augenblick merken würde. Zwar passiert dies einem auch draussen in Gottes freier Natur, zum Beispiel durch eine Baumgruppe, genau so wie in der Stadt zum Beispiel durch eine Arbeitslosenkundgebung – der Unterschied besteht dann lediglich im folgenden: als Folge der Ablenkungskünste des Landes würde ich etwa ein Kapitel schreiben mit der Ueberschrift: „Abendsonnenschein im Hochwald“, während als Folge der städtischen Ablenkungskünste die Ueberschrift lauten würde: „Protest gegen die Kürzung der Arbeitslosenversicherung“. B
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Aus der Stille in die Stadt. Von ÖDÖN VON HORVÁTH.
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betrifft“,N ]
korrigiert aus: betrifft,“
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det, und dass dieses Werden vorerst nur in der Stadt spürbar ist, da doch das Land längst nurmehr die Rolle des immer etwas verspäteten Nachahmers spielt. Und jetzt höre ich folgendes: Sie könnten ja Ihr Wissen um das Werden mit Ihrem „Abendsonnenschein im Hochwald“ zu etwas literarisch ganz Auffallendem verbinden – dieser Vorschlag hat sicher seine Berechtigung, aber leider übersieht er etwas. Und zwar dies: es spielt natürlich keine Rolle, ob ich es infolge der geographischen Entfernung von Stadt und Dorf etwa drei Stunden später erfahre, dass sich wiedermal einige Personen infolge wirtschaftlicher Not das Leben genommen haben. Das ist doch klar, das hat mit dem Schaffen ewiger Werte nichts zu tun. Aber beim Dichten kommt es doch bekanntlich nicht darauf an, dass ich eine Tatsache durch Zeitung oder Radio erfahre, sondern, dass ich sie selbst miterlebe, indem ich in der jeweiligen Atmosphäre lebe.
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Einzeltext 21: Das Märchen vom Fräulein Pollinger
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Endfassung (Das Märchen vom Fräulein Pollinger)
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Das Märchen vom Fräulein Pollinger VON ÖDÖN HORVÁTH
Es war einmal ein Fräulein, das hieß Anna Pollinger und fiel bei den besseren Herren nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur hundertundzehn R.M. und hatte nur eine Durchschnittsfigur und ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett. Sie arbeitete im Kontor einer Autoreparaturwerkstätte, doch konnte sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie ab und zu auf einem Motorrad hinten mitfahren, aber dafür erwartete man auch meistens was von ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und verschloß sich den Herren nicht. Oft liebte sie zwar gerade ihren einen nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte, im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen und wenn sie dies trotzdem tat, wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade mal mußten. Oft wurde sie dann in den Anfangssätzen boshaft und tückisch, aber bald ließ sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in ihrem Leben einerlei, denn das mußte es ja sein. Nur wenn sie unpäßlich war, dachte sie intensiver an sich. Einmal ging sie mit einem Herrn beinahe über das Jahr, der hieß Fritz. Ende Oktober sagte sie: „Wenn ich ein Kind bekommen tät, das wär das größte Unglück.“ Dann erschrak sie über ihre Worte. „Warum weinst Du?“ fragte Fritz. „Ich hab es nicht gern, wenn Du weinst! Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag und wir machen eine Bergtour.“ Und er setzte ihr auseinander, daß bekanntlich die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, daß sie kein Kind kriegt. Sie stieg dann mit Fritz auf die Westliche Wasserkarspitze, 2037 Meter hoch über dem fernen Meer. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon ganz Nacht, aber droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt und Anna sagte: „Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.“ Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein. Seit dieser Bergtour hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch nie wieder ganz gesund und ab und zu tat ihrs im Unterleib schon sehr verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch.
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Jugend, 35. Jg., Heft 33, 9. August 1930, S. 518
Einzeltext 22: Der mildernde Umstand
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Der mildernde Umstand / Von Ö d ö n H o r v á t h Der Drogist Lallinger ist ein begeisterter Nazi, und zwar schon seit längerer Zeit. Er ist ein direkt prominentes Mitglied in seiner Ortsgruppe, aber in den Landtag ist er halt noch nicht hineingewählt worden, sondern der Herr Major. Dieser Major ist ein Norddeutscher – „überhaupts wächst sich unser Herr Major zu einem Schädling in unserer Bewegung aus, der Saupreiß, der windige!“ versicherte mir der Lallinger, als ich ihn unlängst in der Schellingstraße traf. „Dir darf ich‘s sagen“, fuhr er fort, „denn du bist ja ein Internationalist! Aber meiner Seel’, mir ist schon manchmal a so a roter Hund lieber als wia so a Preiß! Du wirst schon sehen, wie sehr daß der völkische Gedanke bei uns in Bayern zusammenschrumpfen wird, seitdem daß der Hitler in Norddeutschland droben einen derartigen Sukzeß hat!“ So unterhielten wir uns, natürlich ausschließlich über Politik, denn der Lallinger war ein durchaus politisierter Mensch. Er erzählte mir auch, daß er gerade vom Gericht komme, aus einem hochpolitischen Prozeß ersten Ranges; dort hätte er nämlich einen Entlastungszeugen markieren müssen, aber man habe ihm kein Sterbenswörtchen geglaubt. Es drehte sich um die gerichtliche Sühne einer schweren Körperverletzung anläßlich einer Wahlversammlung in Oberlochhausen, und an dem ganzen Schlamassel waren natürlich nur einige Zwischenrufer schuld, die um einen runden Tisch herumgehockt seien und ihre Schandmäuler nicht hätten halten können. „Was waren denn das für Zwischenrufe?“ erkundigte ich mich schüchtern. „Lauter zustimmende natürlich!“ versicherte mir stolz der Lallinger. Ich sah ihn überrascht an, worauf er mir auseinandersetzte, daß die Sache natürlich einen Haken gehabt hätte, denn die Zwischenrufer seien total besoffen gewesen, und durch diese Tatsache wären nun ihre begeistert zustimmenden Rufe in einer eigentümlichen Weise in das Gegenteil verwandelt worden. „Und plötzlich“, fuhr er fort, „war eine ganz lächerliche Atmosphäre im Saal. So hab’ ich mich halt erheben müssen, weil ich den Vorsitz geführt hab’, und hab’ gesagt: ‚Meine Herren Zwischenrufer‘, hab’ ich gesagt, ‚ich werde jetzt wohl bald gezwungen werden, von meinem Hausherrnrechte Gebrauch zu machen, falls die Herren Zwischenrufer nicht das Maul halten wollen, das ganz abscheuliche! Hier dreht es sich um unsere Erneuerung‘, hab’ ich gesagt, ‚und nicht um den Bierrausch der Herren Zwischenrufer!‘ Aber kaum hab’ ich geendet, da hab’ ich schon den Kopf zur Seite tun müssen, denn da ist auch schon ein Maßkrug durch die Luft geflogen. Und dann ist‘s halt aufgangen. Es werden wohl hundertzwanzig Personen gewesen sein, die wo da gerauft haben. Hernach waren halt zwanzig Stühl’ zerbrochen, dreißig bis vierzig Maßkrüg’ – auf nähere Details erinnere ich mich aber nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß die B‘soffenen meinen Bruder unter ihren Tisch nunterzogen haben und mit ihren Genagelten in seinem Antlitz herumgetrampelt haben, direkt fanatisch, die Hammeln, die hundsheiternen! Aber zum Glück hat das Ganze nicht lange gedauert, durch einen glücklichen Irrtum. Nämlich als die Rauferei grad angegangen ist, ist ein B‘soffener hereingekommen, der wo von nichts eine Ahnung gehabt hat – und dem hat dann mein Bruder, der wo sonst ein sehr friedliebender Charakter ist, den Maßkrug von hinten auf den Schädel naufg‘setzt, daß er zersplittert ist in tausend Teile – und der B‘soffene ist umg‘fallen, ohne einen Ton von sich zu geben, wie eine Leich‘. Jetzt sind halt natürlich alle furchtbar erschrokken und haben gemeint: ‚Schau, jetzt ist der gar tot!‘ – und so habens halt gleich aufg‘hört zu raufen vor lauter Entsetzen. Wir haben dann den Toten in das Neben-
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Simplicissimus, 35. Jg., Heft 41, 5. Jänner 1931, S. 483
Endfassung (Der mildernde Umstand)
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Lesetext
zimmer ge-얍schafft, und ich hab’ die Versammlung wegen dieses traurigen Ereignisses schließen wollen. Aber kaum hab’ ich mit meinem Schlußwort angefangen, es war eine feierliche Stille, weil halt jeder gemeint hat, nebenan liegt ein Toter – also kaum hab’ ich die ersten Worte gesagt, geht die Tür auf, und der Tote kommt rein; er hat einen ganz blutigen Schädel gehabt und war noch immer nicht ganz nüchtern. ‚Ja Blutsakrament!‘ brüllte der Tote. ‚Wo is er denn, der Hund, der Schlawack, der Häuter, der wo mi da niedagschlagn hat?! Sakrament, Sakrament, den spring i jetzt aba aufn Nabel nauf!‘ – Natürlich hat man aber den Toten sofort beruhigt durch gütliches Zureden. Aber angezeigt hat er meinen Bruder halt doch, und heut war die Verhandlung. Mein Bruder hat gesagt, es tät ihm sehr leid und er empfände Reue darüber, daß er den Toten niedergschlagen hat, aber es wäre halt ein Irrtum gewesen, und er bitte um mildernde Umständ, weil der Tote ja einen derartigen Rausch gehabt hätte, daß er eh umgfallen wär. Er hat dann auch nur die Mindeststrafe bekommen, und zwar mit Bewährungsfrist.“
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Simplicissimus, 35. Jg., Heft 41, 5. Jänner 1931, S. 484
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Einzeltext 23: Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat
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Endfassung (Tafelhuber Toni)
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W i e d e r Ta f e l h u b e r To n i s e i n e n H i t l e r v e r l e u g n e t h a t / Von Ö d ö n H o r v á t h Gegen den Satan der Fleischeslust ist noch kein Kraut gewachsen, besonders im Fasching nicht. Auch wenn man eingeschriebenes Mitglied der NSDAP. ist, erliegt man halt leicht der Versuchung, wie uns dies der Fall Tafelhuber zeigt. Der Tafelhuber Toni war nämlich ein überaus eifriger Hakenkreuzler, aber trotzdem verleugnete er bei der letzten Redoute seinen Hitler, und daran war nur so ein raffiniertes Frauenzimmer, Gott verzeih ihr die Sünd, schuld. Die hat den Tafelhuber Toni direkt um ihre Finger gewickelt, akkurat wie die Dalila ihren Simson. Dabei war der Tafelhuber gar kein Simson nicht. Begonnen hat es so: wie es nämlich angefangen hat, da ist der Toni noch bei seinen speziellen Parteifreunden gesessen, in der Nähe der illuminierten Tanzfläche. Eine illustre Korona war das. Noch hat er sich nicht mal nach dem Schatten eines Weibes umgeschaut, sondern hat bloß sarkastische Bemerkungen fallen lassen über dem Kardinal Faulhaber seine letzte Predigt. Aber dann wollte es plötzlich das hinterlistige Schicksal, daß er seine Circe findet. Das war eine üppige Erscheinung, direkt rassig. Sie ging als Andalusierin und hatte was für ihn. Sie ist an ihm vorbeigerauscht, und er fühlte sich magisch hingezogen. Und sie hat halt nicht locker gelassen mit ihren verheißungsvollen Augen und den halbgeöffneten sinnlichen Lippen. So wurde er verzaubert. Fünfmal hat er dann getanzt damit, und zwar gleich hintereinander. Sie preßte sich an ihn, und ihm tat das wohl, denn sie war halt kein Krischperl. Hernach wurde er plötzlich romantisch und gebrauchte ein dichterisches Bild, worauf sie sich an seinen Arm hängte und meinte, sie müsse nun etwas trinken vor lauter Linksrum. Er stieg mit ihr auf die Galerie in ein schattiges Eck. Dort setzten sie sich, und wie auf ein Kommando intonierte die Musik eine getragene Weise. Aber das war alles nur Schicksal. Sie trank einen süßen roten Likör, und er sah ihr dabei zu. Dann kamen sie sich immer näher und gaben keinen Ton von sich. Mittendrin ging aber plötzlich ein Herr vorbei, und dieser Herr war ein Jud. Er lächelte rabulistisch und warf der Andalusierin einen provozierenden Blick zu, den diese automatisch erwiderte, denn sie war halt eine kokette Person. Der Tafelhuber jedoch wollte seiner Beobachtungsgabe schier nicht trauen. Vor seinem geistigen Auge wiederholte er sich diese Szene, und immer mehr wurde für ihn diese Episode abermals zum Beweis. Er wollte es sich nicht gefallen lassen, daß ein Semit die Seinige so orientalisch-lüstern anschaut, aber der Orientale war schon verschwunden, und nun entstand zwischen dem Paar ein Meinungsaustausch über diese ganze Judenfrage. Der Tafelhuber wurde immer stolzer und setzte seiner Andalusierin allerhand auseinander, aber diese blieb verstockt. Ja sie meinte sogar, daß ihr das schon sauwurscht wäre, ob Jud, ob Christ, ob Heid, für sie wäre die Hauptsache, daß einer ein Menschenantlitz trägt. Und plötzlich fuhr sie ihn an: „Oder bist du gar a so a Hakenkreizler? Die mag i nämli scho gar net!“ Sie sah ihn direkt durchbohrend an. „Mei Vater is Sozialdemokrat, mei Mutter is Sozialdemokrat, und i bin‘s a“, sagte sie und zog sich zurück von ihm, so daß es ihm an der ihr bisher zugewandten Seite ganz eisig entlang wehte. Weil er halt auch schon ziemlich durchschwitzt war. Er wollte sich an ihr wärmen wie an einem Feuer – aber da fiel ihm schon wieder der Kardinal ein und der Herr Owen Young, besonders letzterer grinste sehr höhnisch – „Nur nichts mehr denken“, dachte der Tafelhuber verzweifelt und konnte
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Simplicissimus, 35. Jg., Heft 47, 16. Februar 1931, S. 559
Endfassung (Tafelhuber Toni)
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nicht mehr anders. Sein aufgestacheltes Verlangen nach den einladenden Formen seiner marxistischen Andalusierin blieb weiter bestehen und wuchs sich aus, trotz der diametral anderen Weltanschauung. Auch ein SA-Mann ist halt zu guter Letzt nur ein Mensch. Auch er ist doch nur ein Mann mit demselben Gestell wie ein Exot. Was helfen da alle guten Vorsätze, das Leben legt seine Netze aus und fragt weder nach Rasse noch nach Religion. Manchmal ist halt auch bei einem Hitlermann der Geist willig und das Fleisch schwach. Und er sagte: „Nein, ich bin kein Hitler nicht.“ – So hatte er seinen Hitler verleugnet, ehe die dritte Française getanzt war. Aber hernach hat er es mit den Gewissensbissen bekommen und nicht zu wenig. Er ist ganz dasig an den Tisch seiner Parteigenossen zurückgekehrt und hat sich einen furchtbaren angetrunken vor lauter Zerknirschung. Düster hat er vor sich hingestarrt und gegrübelt, eine lange Zeit. Dann ist er plötzlich aufgesprungen und hat losgebrüllt: „Ja Herrgottsakrament, sind wir denn noch in Deutschland oder nicht?!“ Man beruhigte ihn und setzte ihm auseinander, daß er sich noch in Deutschland befände, und zwar mitten in München, aber er wollte es nicht glauben. Er lallte nur Abwegiges vor sich hin und wankte benommen. Man führte ihn hinaus in die frische Luft. Ein feiner Nebel lag über dem Asphalt, und wenn er sich nicht hätt‘ übergeben müssen, dann hätt‘ er die Sterne der Heimat gesehen.
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Einzeltext 24: Der Fliegenfänger
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ET24/TS1
Lesetext
Der Fliegenfänger Von Ödön Horváth Vor zirka zwei Jahren lernte ich einen tatsächlich merkwürdigen Menschen kennen, und zwar in der Nähe von Füssen im Allgäu. Es ist dies ein uraltes Kulturland, und jener merkwürdige Mensch hatte bereits häufiger mit den Gerichten als Angeklagter zu tun gehabt, und zwar ist dann hernach in der Zeitung immer unter derartigen Ueberschriften darüber berichtet worden, wie zum Beispiel: „Ein Rohling“, „Ein Unhold“, „Vertierter Bursche“ oder dergleichen. Als ich ihn kennenlernte, war es schon spät am Nachmittag, so Ende September gegen sechs. Es dämmerte draußen auf der Landstraße und drinnen im Wirtshaus saßen sechs betrunkene Herren. Nämlich um neun Uhr früh wurde im nahen Städtchen dem einen Herrn seine Frau begraben – es ist das ein gelungenes Begräbnis gewesen, und der Herr war nun ein Witwer. Und der Bruder dieses Witwers war besagter merkwürdiger Mensch. Auch er hatte bereits sein 얍 Quantum Bier in sich und versicherte nun in einer Tour, daß ihm schon rein gar nichts den Appetit verderben könne, und zwar besonders heute nicht. Man beruhigte ihn und versicherte ihm, daß man es ihm natürlich auf der Stelle glaube, daß ihm nichts den Appetit verderben könne, aber der merkwürdige Mensch tat sehr ungläubig, und plötzlich wurde er rabiat. „Das möcht ich aber doch gerne sehen“, brüllte er, „schon sehr gerne möchte ich das sehen, ob da einer da ist, der es vielleicht gar meint, daß ich mich vor irgend etwas grause! So etwas hat die Technik noch nicht erfunden, meine Herren, vor dem ich mich grausen tät! O du angenagelter Himmelherrgott, wer hat denn jetzt eine Schneid und wettet jetzt mit mir, daß ich den Fliegenfänger dort zusammenfriß?!“ Der Fliegenfänger hing in der Herrgottsecke, knapp vor dem Kruzifix. An dem gelben Zeug klebten zirka hundert Fliegen. Einige bewegten sich noch und verendeten langsam. Andere waren schon seit Tagen tot. „Also wer hat jetzt hernach eine Schneid und wettet mit mir um zehn Maß Bier?“ ließ sich der merkwürdige Mensch abermals vernehmen und fixierte seinen Bruder, den Witwer, suggestiv und hinterlistig. Aber dieser kannte sich schon aus und sah den Herausforderer melancholisch an. „Ich“, meinte er, „ich wette schon mit dir, denn das wirst du heute nicht fertigbringen, daß ich mich heute aufrege, lieber Albert.“ – „Es bleibt in der Familie!“ rief einer der Herren und leerte sein Glas auf das Wohl der beiden Brüder, während Albert sich daran machte, den Fliegenfänger zu verzehren. Inzwischen hatte es draußen angefangen zu regnen, kalt und zart. Der erste stille Herbstregen fiel auf das Grab der toten Frau und Schwägerin, an die momentan keiner der Herren dachte. – Ihr Schwager Albert hatte nun bereits drei Viertel des Fliegenfängers verschlungen, jedoch plötzlich ging es nicht mehr voran, das letzte Endchen wollte partout nicht verschwinden. Es hing aus dem Munde heraus und er wurde rot im Gesicht, dann weiß und dann grau. Er hatte die Wette verloren und die zehn Maß Bier empfahlen sich artig am Horizont. „Das ist halt die Tücke des Objektes“, konstatierte sein Bruder so von oben herab und bestellte sich einmal Schweinsschlegel mit gemischtem Salat. Auch wir ließen uns das gleiche kommen. Nur der merkwürdige Mensch bestellte sich einen Fisch mit Salzkartoffeln und zerlassener Butter.
236
Uhu, 8. Jg., Heft 9, Juni 1932, S. 32
Uhu, 8. Jg., Heft 9, Juni 1932, S. 33
Werkprojekte Prosa
237
238
Werkprojekt 1: Novellen-Band
239
Titelliste, Werkverzeichnis
ÖLA 84/S 59/F5/Bild 67
240
Titelliste, Werkverzeichnis
WP1/E1–E2
241
Lesetext
242
Werkprojekt 2: Amazonas
243
244
Fragmentarische Fassung (Amazonas)
얍
5
10
WP2/TS1 (Korrekturschicht)
Amazonas. Eine romantische Novelle von Ödön v. Horváth.
Lesetext
B
ÖLA 3/W 190 – BS 47 b, Bl. 1
N
Die christliche Welt schrieb das Jahr 1544, als der Seefahrer Orellana mit den Seinen, fern von Portugal, den Para-Fluss überquerte. Dort kam ihm die Kunde aus dem Norden von einem gigantischem Strome, der scheinbar ohne Ursprung breit und tief wie das ferne Meer, und den die Indianer „Amassona“ nannten (welches Wort in ihrer Sprache „Bootzerstörer“ bedeutet). Aber Orellana deutete falsch und glaubte durch Zufalls Gnade endlich vor den Toren jenes sagenhaften langgesuchten Reiches der kriegerischen Weiber zu sein und taufte das Riesenwasser „Rio das Amazonas“. B
N
B N
Und sandte noch in folgender Nacht, nachdem die Zahl der Wachen um das Lager verdoppelt worden war, zweie seiner tapfersten Mannen, und zwar den jungen Officier Sennor Manuele de los Cascados und dessen holländischen Knappen, einen ergrauten Landsknecht namens Ludewig gen Nordwesten , die nicht mehr zurückkehrten --- selbst da die Lagerfeuer schon im Sterben lagen und durch den nahen Urwald rosagrau schüchtern des neuen Tages erstes At-얍men flog. Fröstelnd und bleich trat Orellana aus schlafloser Nacht, in der er die Ewigkeit gähnen sah, vor sein schwarzes Zelt; und als es rot am Horizont ward, da zog er aus um die beiden Freunde, von denen er hoffte, dass sie sich doch nur verirrt hätten, wiederzufinden. Vergebens. Und als wieder eine Nacht vorbei, liess er den Priester die Totenmesse lesen --- denn nun schwor er jeden Eid, dass die Zwei von den Amazonen niedergemetzelt worden waren. B
15
N B
N
B N
B
N
B N
B N
B
20
25
30
35
N
B N
So berichtet das Schreiberlein. Und fügte naseweiss und wichtigtuend sogleich noch hinzu, dass die Verschollenen unter gar keinen Umständen von „sogenannten Amazonen“ getötet werden konnten, da ja „ein Volk von Weibern ohne Männer einfach undenkbar“ und deshalb wohl „nie ein solches gab und auch nie geben wird. Daher seien die Zwei wahrscheinlich der Riesenaffen Opfer geworden.“ B
N
Jedoch ich sprach einmal in eines kleinen Bahnhofes Wartesaal Jemanden (es war ein trüber Novembernachmittag) der weder die Ansicht Orellanas noch die des Schreiberleins teilte, sondern fest behauptete, dass der Sennor und Ludewig tatsächlich in B
1–2 10 13 14
B
Amazonas f Horváth.N ] sagenhaftenN ] B N] Bsandte f inN ]
14 15 16 17 18 19 19 30 36
B
B
folgenderN ] ] BSennorN ] B N] B N] BrosagrauN ] B N] BdeshalbN ] BSennorN ] B N
N
\Amazonas f Horváth./ sagenhaften[,] [So berichtet die Geschichte.] [nur ein einziges Schreiberlein erwähnt so nebenbei als Randbemerkung, dass in der] |sandte [in] |noch in|| folgende[n]|r| [Orellana] gemeint ist: Señor, Senhor gestrichen: sandte Absatz getilgt
\rosagrau/ gestrichen: [und rosagrau] korrigiert aus: desshalb gemeint ist: Señor, Senhor
245
ÖLA 3/W 190 – BS 47 b, Bl. 2
Fragmentarische Fassung (Amazonas)
5
10
15
WP2/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
das Reich der Amazonen gelangt seien; und erzählte mir unaufgefordert all ihre wunderlichen Abenteuer, wie er sie einst von einem alten Eingeborenen am Oberen Amazonas hörte, der sie wieder von seinem Grossvater hörte -- -- und, wenn sich auch Vieles 얍 in puncto Wahrheit nicht gerade genau nachprüfen lässt, so bleibt dies doch eine eigenartige Geschichte und ich hoffe, ja ich glaube sogar, niemanden zu belästigen, wenn ich mir erlaube, sie hier wieder zu erzählen, so, wie ich sie von dem Unbekannten vernahm, dem ich einmal begegnet bin. 얍 Es war eine helle Nacht, da die beiden Männer die ihren verliessen. Wenige Worte waren der Abschied gewesen, dann sprangen ihre Mähren über den weichen Moorboden und nur einmal noch wandte sich der BSennorN im Sattel um: Orellana hob stumm die Hand --- dann waren die Reiter verschwunden.
ÖLA 3/W 190 – BS 47 b, Bl. 3
ÖLA 3/W 190 – BS 47 b, Bl. 4
Und vorbei am letzten Posten rasten sie bereits; selbst Ludewig, dessen schwerer Schecke doch niemals Schritt hielt mit Manuelos Rappen, hörte nur mehr den halben Ruf der Wache --- die andere Hälfte flog an den kärglichen Resten seiner linken Ohrmuschel entlang über die kleine Steppe und rief sich selbst zurück aus dem Wald : als wär sie ein Schalk gewesen.
20
Doch da der Sennor jene Stelle erreichte, war sie verklungen. Unheimlich still, wie ein Heer schlummernder Riesen, umstand sie der Wald und langsam durch tückische Ranken zwangen die Zwei ihre Rosse zwischen die uralten Stämme, die mit unzählbaren Ästen die Sterne vom Himmel zu schaben schienen. B
N
25
So schwand Stunde um Stunde und noch immer ritt zu ihrer Seite das Schweigen. Nur einmal riss der Sennor sein Pferd zum Stand und spähte fast ohne zu atmen nach einem nahen Sumpfe --- dort 얍 drüben in dem Dunste hatt er einen Schatten mit Speer zerfliessen sehen, doch --- „nichts!“ knurrte Ludewigs Knebelbart und indem er sein Tier wieder weiter trieb, gab er kund, wie sehr er alle Weiber verwünsche --- da schnaubte der Rappe und auch des Holländers Schecke bäumte sich hurtig hochauf. B
30
N
„Hölle!“ zischte der Landsknecht und folgte ungewollt seinem Herrn, der flugs aus den Bügeln zu Boden gesprungen war. 35
Da standen sie nun am Rande einer Lichtung und starrten auf einen Baum, dessen Krone sich mächtiger wölbte, wie die Kuppel Sanct Peters zu Rom, und von dessen dunklen Holze der Nachtschein eine weisse kopfabwärts gehenkte Gestalt fast durchsichtig abhob. 40
Es war dies die Leiche eines nackten, gefesselten Jünglings, der, nachdem ihm des kleinen Gottes Werkzeug an der Wurzel abgebissen war, an den Knöcheln erhenkt verbluten musste.
12 21 27
SennorN ] SennorN ] BSennorN ] B B
gemeint ist: Señor, Senhor gemeint ist: Señor, Senhor gemeint ist: Señor, Senhor
246
ÖLA 3/W 190 – BS 47 b, Bl. 5
Fragmentarische Fassung (Amazonas)
WP2/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Bleich vor Grausen wandte sich Manuelo von dem geronnenem Blute, dessen Spur über den Nabel in den Mund floss; und Ludewig spuckte bombastisch aus und verdammte alle Weiber in jenes Land, in dem der Mannsleut Glieder Fischschuppen zieren. 5
\Abbruch der Bearbeitung\
247
Strukturplan in sechs Teilen
ÖLA 3/W 189 – BS 47 a, Bl. 1
248
Strukturplan in sechs Teilen
WP2/E1
249
Lesetext
Fragmentarische Fassung (Amazonas)
5
10
15
20
25
30
WP2/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Am Rande des Urwalds lagerte am 7. September 1926 eine Expedition. Es waren da drei Europäer und zwei Indianer. Die fünf Männer waren in einem grossen Boote den Amazonas emporgefahren und standen nun mitten im Urwald und Dschungel, nahe am Ursprung des Flusses. Auf unerforschtem Land. Es war windstill und rechts und BlinksN des träge dahinfliessenden Riesenstromes breitete sich der Wald aus. Sträucher BFarneN und Gräser ragten bis an den Rand heran. Ein leichter Abendnebel lag über dem Wasser, der Himmel war lichtblau und grau und in der Ferne stand eine mächtige Wolkenmauer. Zwei Monate waren sie unterwegs von La Plata. Seit drei Wochen sahen sie keine Menschenseele mehr, keine Fussspur, keine Gebäude, keine Ruine. Das letzte war ein kleiner Dampfer, der stromabwärts fuhr, drei Indianer am Ufer und eine verfallene Ruine eines BWachtturmsN aus der Zeit, da die Portugiesen dies Land eroberten. Seit drei Wochen nichts als Wald! Während des Tages war es still, die Sonne Bbrütete sengendN herab, der Wald schlief. Aber in der Nacht wurde es laut im Walde. Papageien krächzten, Leoparden heulten, die BAligatorenN traten heraus. Es war lebendig und übergross stand der Mond am Himmel. Leiter der Expedition war ein Mann namens Heinrich Marc. Er stammte irgendwo aus Norden, ein Schwede. BNach einer harten Jugend in steinernen Städten sehnte er sich nach BRomantikN.N Im Auftrage einer Filmfabrik leitete er die Expedition. Sein Operateur war ein kleiner stämmiger schwarzer Mann, und der Dritte im Bunde war der Zoologe Gerhardt Klaus. Dieser Letztere war ein Mann, der neben seiner BwissenschaftlichenN Ehrgeiz und Exaktheit, auch ein grosses Quantum geistiger Phantastik hatte. BAls Objekt seines Spottes beschäftigte er sich mit Phantastereien. BEr hatte immer zum Essen gehabt, drum war er mit der Realität zufrieden.N N Er brauchte sie gewissermassen zum ausruhen. Marc dagegen lebte in Phantastik, er fühlte in sich, dass er daran glauben könnte, und er sehnte sich darnach, etwas zu erleben. Der Operateur hingegen, dem war Alles gleich, wenn er nur etwas vor die Linse 얍 bekam. Er war das Gewissen des Augenlichts. Er konnte sich betrügen, aber er führte immer sofort BdieN Gegenprobe an, und so dauerte es nie lange. BIn seinem Kopf war es, wie in einer Filmrolle und seine Augen das Objektiv.N \Abbruch der Bearbeitung\
5 6 12 13–14 15 18–19 19 22 23–24 24 29 29–30
linksN ] FarneN ] BWachtturmsN ] Bbrütete sengendN ] BAligatorenN ] BNach f RomantikN ] BRomantik.N ] BwissenschaftlichenN ] BAls f zufrieden.N ] BEr f zufrieden.N ] BdieN ] BIn f Objektiv.N ] B B
korrigiert aus: links, \Farne/ [W]|W|achtturms korrigiert aus: sengend brütete gemeint ist: Alligatoren \Nach f Romantik/ korrigiert aus: Romantik korrigiert aus: wissentschaftlichen \Als f zufrieden./ \Er f zufrieden./ korrigiert aus: den \In f Objektiv./
250
ÖLA 3/W 189 – BS 47 a, Bl. 2
ÖLA 3/W 189 – BS 47 a, Bl. 3
Werkprojekt 3: „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann
251
Notiz, Werktitel, Strukturplan
ÖLA 3/W 201 – BS 60 c [2], Bl. 1
252
Notiz, Werktitel, Strukturplan
WP3/E1–E3
253
Lesetext
Fragmentarische Fassung (Der junge Mann)
5
10
15
20
25
WP3/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Es ist Sonntag und ich habe soeben einen Zehnmarkschein gefunden. Zehn Mark BistN viel Geld, ich BhatteN nurmehr 2 Mark, und hätte noch vier Tage bis zum 1. auskommen müssen. Ich bin also gerettet, ich habe nun jeden Tag drei Mark zu verzehren. Da ich Miete, Essen, Trinken, Rauchen schuldig bin, auf der Trambahn schwarzfahre, so komme ich also aus. 얍 Ich bin ein junger Mann. Es ist Frühling, die Strassen stinken, die Frauen sind bunt, die Anlagen grün – ich will in den Zoo gehen. BDie gefundenen 10 Mark machen mich zum Casanova.N B Ich überlege:N es ist Frühling, die Sonne scheint es wird aber bald regnen – auf alle Fälle: ich brauche eine Frau. Was für Frau, weiss ich nicht. Ich habe keinen Typ. Mir gefällt jede. Ich bin nicht wählerisch, nur feig. Aber mit 10 Mark in der Tasche, da brauch ich keine Angst zu haben vor einer Tasse Café, sie kann auch zwo Kuchen essen – wenn ich ein Auto hätte, dann wäre ich unwiderstehlich. Also: die erste Frau war eine grosse schlanke blonde Frau. Sie stand vor einem 얍 Käfig, in dem nichts drinnen war. „Es ist nichts drinnen“ sagte ich. „BNein“,N sagte sie, „es ist wirklich nichts drinnen.“ Wir schauten beiden auf den leeren Käfig. „Es BwarN vielleicht etwas drinnen“ sagte ich. Sie schwieg. „Ich glaub, es war etwas drinnen“ log ich. „Es wird vielleicht noch immer drinnen sein, ich habe gehört, dass etwas drinnen ist.“ Ein Junge blieb stehen und guckte hinein. Immer mehr Leute kamen und guckten. „Was ist da drinnen?“ frug ein Herr. „Es ist was drinnen“ antwortete ich. 얍 BDie Frau lächelte und ging weiter.N „Junger BMann“,N frug eine dicke Frau „Bwat is hier drinnN?“ Es sammelten sich immer mehr und mehr Leute. Ich ging. Meine Blondine stand vor den Löwen. Der Löwe sah traurig aus. Vor ihr stand ein Herr, der bildete sich ein den Löwen hypnotisieren zu können.
ÖLA 3/W 201 – BS 60 c [2], Bl. 1
ÖLA 3/W 201 – BS 60 c [2], Bl. 2
ÖLA 3/W 201 – BS 60 c [2], Bl. 3
ÖLA 3/W 201 – BS 60 c [2], Bl. 4
\Abbruch der Bearbeitung\
1 2 6–7 8 14 15 20 20 20–21
istN ] hatteN ] BDie f Casanova.N ] BIch überlege:N ] BNein“,N ] BwarN ] BDie f weiter.N ] BMann“,N ] Bwat f drinnN ] B B
[sind] |ist| ha[b]|tt|e [Dort] |Die f Casanova.| [Oh Gott im {Hi}] |Ich überlege:| korrigiert aus: Nein,“ [ist] |war| || [Die Frau ging.] |Die f weiter.| korrigiert aus: Mann,“ vermutlich bewusst gesetzte Dialektalform
254
ÖLA 3/W 201 – BS 60 c [2], Bl. 3
Werkprojekt 4: Zwei Liebeserklärungen
255
Fassung (Zwei Liebeserklärungen)
WP4/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Zwei Liebeserklärungen
ÖLA 3/W 223 – BS 47 ai [1], Bl. 1
I. „Madame! Meine Liebe ist Sehnsucht nach Romantik und Wille zur Sachlichkeit. Madame, ich möchte mit Euch in einem melancholischen Parke spazieren, in einem Urwald verirren – aber mitten in dem Urwald müsste ein breites Bett stehen, warmes und kaltes fliessendes Wasser, fern von Külz so lieblich schizophren müsste die Landschaft sein. Madame, ich bin verzückt, entrückt, verrückt! Bleibt! Bitte – Madame! Jedesmal, wenn Ihr Euch erhebt, überrieselt es mich, wie beim Klange der Marseillaise. Ihr seht so gottbegnadet majestätisch aus, eine blonde Aphrodite wenn Ihr Euch erhebt – Bleibt sitzen! Bleibt, bitte! Ich will Euch doch noch erklären – das, was man nicht erklären kann. Wäre ich nur ein Dichter, würde ich dafür Reime finden, formvollendete, für das, was sich nicht ausdrücken lässt – aber so bleibt mir nur die Hoffnung, die bange, dass Ihr mich versteht, was ich nicht verstehe – Ja? (er küsst sie) – Nu eben – –“
5
B
N B
B
10
N
B
N
N
B
B
15
N
B N
얍 20
N
B
II.
ÖLA 3/W 223 – BS 47 ai [1], Bl. 2
Na was ist denn schon wieder? Was ist denn los?! So sprich doch! Wie? (er steht vor dem Spiegel und kämpft mit dem Kragenknopf) –. Na los, ich kann es doch nicht erraten! Was hab ich Dir denn getan? Was? Wie? Ich hätte Dich nicht lieb? Aber Kind! – wie? Ich liebte nur Deinen Körper – ? – Aber, aber! Seit wann külzt Du denn? Was? Also: gut! Im ernst: abgesehen davon, dass ich Deinen Körper liebe, tatsächlich liebe, abgesehen davon – also: wie bitte? Du lachst. Jetzt wird es mir zu dumm! Ja, was denkst Du denn?! Nicht genug, was ich für Dich tue! (er hält in seinem Kravattebinden inne) – – Also, höre: weine nicht! weine nicht! Ich kann das Geräusch nicht hören! – Du liebst mich? Meine „Seele“? Schön. Und ich liebe Dich. Der Mann hat Seele, die Frau ist Körper. Mutter Erde. Verstehst Du? Nein, das kannst Du nicht verstehen – – Und dann, weisst Du, ich bitte Dich: sprechen wir nicht mehr darüber. Ich 얍 meine, die Liebe ist etwas so Erhabenes, dass man es nur zu leicht entheiligt, profaniert. Man entheiligt das Göttliche durch unsere mehr oder minder doch nur barbarischen Laute – – Man soll so etwas gar nicht in den Mund nehmen – – Guten Morgen! (ab) N
B
N
B
N
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B
N
B
30
35
N
B
8 8 8 9 11 15–16 16 20 23 23–24 26–27 29 30
N
fliessendes Wasser,N ] fern f KülzN ] BschizophrenN ] BMadame, ichN ] Beine f AphroditeN ] B(er f sie)N ] B N] B(er f Kragenknopf)N ] BKörper –N ] Bkülzt f denn?N ] B(er f inne)N ] BSeele,N ] BNein f verstehen –N ] B B
[Wass] |fliessendes Wasser,| \fern f Külz/ schizophren[,] Madame[!] |,| [I]|i|ch \eine f Aphrodite/ \(er f sie)/ [{ }] \(er f Kragenknopf)/ Körper \–/ [liest Du Courts-Mahler] |külzt f denn?| \(er f inne)/ [Körper] |Seele,| \Nein f verstehen –/
256
ÖLA 3/W 223 – BS 47 ai [1], Bl. 3
Fragmentarische Fassung (Zwei Liebeserklärungen)
WP4/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Zwei Liebeserklärungen von Ödön von BHorváthN
ÖLA 3/W 224 – BS 47 aj, Bl. 1
I. An eine unbekannte Geliebte. (wir sitzen in der Untergrundbahn. Sie mir gegenüber) Madame! Meine Liebe ist Sehnsucht nach Romantik und Wille zur Sachlichkeit . Madame! Ich möchte mit Euch in einem melancholischen Parke spazieren, aber wir müssten uns in einem Urwald verirren. Und mitten im Dickicht, im Zwielicht, müsste ein breites Bett stehen. Und Regenbogenkaltes warmes fliessendes Wasser – ein Zimmerkellner, gütig wie der Grosspapa, fern von Külz, eine lieblich schizophrene Landschaft. Madame, ich bin verzückt, entrückt, verrückt! Bitte seht mich doch mal an! Ich bin zwar nicht rasiert, aber wenn ich rasiert bin, dann – (Wittenbergplatz) – Bleibt! Bitte! – – Nein, wir sind noch nicht am Ziel! Madame! Wenn Ihr Euch erhebt hör ich die Nationalhymne . Ihr seht so gottbegnadet majestätisch aus, wenn Ihr Euch so von der Bank erhebt, wie eine blonde Aphrodite aus dem Meer -- Bleibt sitzen! Bleibt, um des Himmels Willen! Madame! Versteht Ihr mich denn nicht?! Hört! Ich verstehe mich selber nicht. Es ist etwas da, was ich nicht verstehe -- wäre ich ein Dichter würde ich dafür formvollendete Reime finden, für das, was sich nicht ausdrücken lässt -- Madame! Ich bin das Kind eines Versicherungsdirektors und der Tochter eines Geschlechtsarztes. Madame! Ich bin das Kind einer zerrütteten Zeit -- wir sind alle Kinder einer zerrissenen Zeit! -- Lasst uns zusammenkitten! Ich würde Euch ja gerne ansprechen, aber das kann ich nicht. Ja? Nu eben -B
5
N
B
B
NN
B N
B
N
B
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B
N B
N B N
10
B
N
B
B
N
N B
N B N
B
N B
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B
B
N
N B
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B
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N
B
N
B
B
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N
N
얍 II. Na was ist denn schon wieder los? Was denn?! So sprich Bdoch!N Wie? (ich BkämpfeN erbittert mit meinem Kragenknopf) Na los! Ich kann es doch nicht erraten! Was hab 2 4 5 5 6 6–7 7 7–8 8 8 8–9 9 9 9 10 10 10 11–13
B
HorváthN ] An f Geliebte.N ] B(wir f gegenüber)N ] Bmir gegenüber)N ] B N] BSachlichkeitN ] BParkeN ] Bspazieren, f uns N ] Bverirren.N ] BUndN ] BZwielicht,N ] B N] BRegenbogenkaltesN ] B N] BWasser –N ] BGrosspapa,N ] BfernN ] BBitte f Bitte! –N ]
12 13 14 20–21 21 22 25 25
B
B
(Wittenbergplatz)N ] – Nein f Ziel!N ] BNationalhymneN ] BzerrüttetenN ] BzerrissenenN ] BIch f nicht.N ] Bdoch!N ] BkämpfeN ] B
Horv[a]|á|th \An f Geliebte./ \(wir f gegenüber)/ [zwei meter von mir.] |mir gegenüber)| [[(er] |(sie| sitzt in der Untergrundbahn] [|Bitte f Bitte! –|]f x korrigiert aus: Sach lichkeit korrigiert aus: Par ke spazieren\,/ [und] |aber f uns| verirren [--]|.| [aber] |Und| Zwielicht\,/ [im regenbogenfarbenen,] \Regenbogen/kaltes [und] Wasser [und]|–| Grosspapa[.]|,| korrigiert aus: Fern (1) \(Wittenbergplatz)/ Bleibt! Bitte -- -(2) x Bitte f Bitte! – \(Wittenbergplatz)/ \– Nein f Ziel!/ korrigiert aus: Nationa hymne korrigiert aus: zerütteten korrigiert aus: zerissenen \Ich f nicht./ korrigiert aus: doch ! korrigiert aus: kämpfen
257
ÖLA 3/W 224 – BS 47 aj, Bl. 2
Fragm. Fassung (Zwei Liebeserklärungen)
WP4/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
ich Dir denn getan?! Was? Wie! Ich hätte Dich nicht lieb ? Aber Kind! Wie, Du bist kein Kind? Ja, -- und was? Ich liebte Dich nicht? Aber, aber! Ich meine, das dürfte nur Rederei, also nur keine Hysterie! Was? Ich liebte nur Deinen Körper? Entsetzlich, wie kitschig! B
5
N
\Abbruch der Bearbeitung\
1 1
B B
hätteN ] liebN ]
korrigiert aus: hät te korrigiert aus: lien
258
B
N
Werkprojekt 5: „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“
259
Fragm. Fassung („Das Cafe, in dem …“)
5
10
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20
25
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40
WP5/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 I. Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass, lag in dem Eckhaus Steinstrasse und Lindenstrasse. Erstere war eine rege Geschäftsstrasse, zweite eine kurze Sackgasse, die an einem hohen Bretterzaun mit Drahtverhau jäh mündete. Hinter diesem Bretterzaun breitete sich, mitten in der Stadt, ein grosser Privatpark aus, mit vornehmen Statuetten, der ursprünglich von einem Fürsten erbaut worden war, jetzt aber einem Bankier gehörte, namens S. I. Goldmann. Ein Mann, der sich nach einer aufreibenden, hastenden Börsentätigkeit einem geruhigen Lebenswandel annahm. Er bewohnte das Barockschlösschen, unterstützte die Wissenschaft. Ehrendoktor verschiedener Fakultäten, verstand er zwar nichts davon, aber er baute der Universität ein Untersuchungsinstitut. Die Steinstrasse hatte B57N Häuser und rund 800 Wohnungen, in denen etwa 4000 Menschen wohnten. In den letzten zwei Jahren waren 27 geboren worden und 45 gestorben. Drei davon auf gewaltsame Art. Ein Dienstmädchen hatte ihr neugeborenes Kind erwürgt und in einer Pappschachtel über den Bretterzaun in den Park geworfen, ein junger Mann wurde von der Strassenbahn erfasst und geschleift und eine alte Frau wurde von einem Auto, dessen Chauffeur betrunken war, überfahren. Der junge Mann war eben aus dem grossen BCinoN gekommen, und wollte rasch über die Strasse, weil er dort ein hübsches Mädchen erblickte. Die alte Frau, eine Witwe, wollte eine Freundin besuchen, ein altes Fräulein, das sich vom Sprachenlernen ernährte, die aber bessere Tage gesehen hat. BVon ihrem Fenster aus konnte sie auf den Park sehen.N B Bei dem Kreisler hats gebranntN Vor zwanzig Jahren noch, war diese Gegend eine vornehme, die Leute fuhren mit Pferdedroschken hinaus, und es gab kaum ein Geschäft. Aber die Vornehmen sind alle fort, haben sich weiter draussen hingesetzt, und diese Strasse wurde eine rege Geschäftsstrasse, die Etappe der vornehmen Villenviertel. Heute fuhr die Trambahn durch mit entsetzlichem Gekrache und Getöse. Es waren fünf Linien, die nach auswärts führten. Als Michael das Cafe betrat, war es zwei Uhr. Er setzte sich nicht sogleich, denn 얍 er suchte einen Eckplatz, denn er war gern „Bgeschützt“.N Er las die Zeitung. Er las verschiedene Zeitungs- und Kunstzeitschriften. Er blätterte scheinbar uninteressiert -- aber die nackten Weiber hatten es ihm angetan. Besonders die eine. Aber die Liebe war nichts für ihn. Er hasste die Liebe. Die Weiber interessierten ihn nicht. B EinmalN hatte er sich für eine interessiert, aber da bekam er einen Tripper. Er hätte sie sich am liebsten kaufen mögen und bekam einen Hass auf Jede, warum sie sich so lange ziert. Auf der Untergrundbahn, überall, wo er ihnen unter die Röcke sehen konnte -- im Cafe, er hätte ihnen am liebsten ein Glas an den geschminkten Schädel geschmissen. Drei Tische von ihm entfernt sass eine Frau. Er beobachtete sie. Sie zündete sich eine Zigarette an -- sah ihn gross an, doch als sie merkte, dass er keinen einwandfreien BSchlipsN trug, sah sie weg. „Du BDreck“,N dachte Michael. 12 18 21 23 31 35 41 41
B
[78]|57|
B
gemeint ist: Kino \Von f sehen./ \Bei f gebrannt/ korrigiert aus: geschützt korrigiert aus: Ein mal korrigiert aus: Schlipps korrigiert aus: Dreck
57N ] CinoN ] BVon f sehen.N ] BBei f gebranntN ] Bgeschützt“.N ] BEinmalN ] BSchlipsN ] BDreck“,N ]
260
ÖLA 3/W 192 – BS 47 d, Bl. 1
ÖLA 3/W 192 – BS 47 d, Bl. 2
Fragm. Fassung („Das Cafe, in dem …“)
WP5/TS1 (Korrekturschicht)
„Freilich! man müsste gekleidet sein, wie ein Geck -- dann ja sofort -- einen grellen Anzug, grelle Kravatte, alles so gut sitzend, lässige Bewegungen, blasiertes Gesicht, geschniegelt, usw.“ Joachim betrat das Cafe. Er war geschniegelt und auffallend gekleidet. Und stank nach Parfum. B
5
Lesetext
\Abbruch der Bearbeitung\
1
B
sofort --N ]
korrigiert aus: sofort -
261
N
262
Werkprojekt 6: Verrat am Vaterland
263
264
Fragm. Fassung (Verrat am Vaterland)
얍
5
WP6/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Verrat am Vaterland Roman.
ÖLA 3/W 356 – BS 47 y, Bl. 1
Ich habe mein Vaterland verraten. Ich habe mein Vaterland verkauft. Ich erhielt 500 Mark in Scheinen zu 50 Mark und 20 Mark, für ein kleines Stück Papier. Es ist mir zum erstenmal aufgefallen, was für Zeichnung auf den Scheinen steht. Das Stück Papier habe ich aus der Kaserne entwendet. Es war ein militärischer Plan des Fortes, ein geheimes Dokument der Befestigung, die mein Vaterland schützte. {S TIMME } Ich bin kein Frauenrechtler, aber ich gebe die Brutalität zu. Die Befestigung lag in einem Tale, der Fluss entsprang bei uns, aber er lief über die Grenze, und man konnte es ihm nirgends anmerken, wo er die Grenze überschritt. Er strömte ins Meer. Der Fluss war überall klar und hell, aber im Frühjahr schmutzig und grau. Ich erinnere mich als Kind, da spielte ich an einem Bache, es war nicht dieser Bach – es gibt 100 000 Bäche – aber er sah ihm ähnlich. Diesen Bach erblickte ich zum ersten Male, als ich 15 Jahre alt war. Drüben am Hügel stand eine Ruine. Darunter die Bordelle und die Judenstadt. B
N
B
10
15
N
B
N
(Historische Erinnerung – keine Einstellung dazu) 20
(Schule – Familie keine Verbindung –Volk) Ich weiss, dass ich über dem Durchschnitt intelligent bin, aber ich habe kein Talent, um es zu beweisen. B
N
B
N
(keine Arbeit oder Arbeit ohne Verdienst – Polizei – die anderen Agenten – die Orgie im Bordell – die Flucht) B
25
N
B
N
\Abbruch der Bearbeitung\
5–6 9 10 20 21–22 24–25 25
Es f steht.N ] {S TIMME } f zu.N ] BFlussN ] Bkeine VerbindungN ] BIch f beweisen.N ] Bdie f Bordell –N ] BFlucht)N ] B B
\Es f steht./ \{S TIMME } f zu./ [f]|F|luss \keine Verbindung| \Ich f beweisen./ \die f Bordell –/ Flucht [–]|)|
265
Strukturpläne
ÖLA 3/W 358 – BS 47 aa [1], Bl. 1
266
Strukturpläne
WP6/E1–E2
267
Lesetext
Fragm. Fassung (Verrat am Vaterland)
얍
B
WP6/TS2 (Korrekturschicht)
Verrat am Vaterlande.
ÖLA 3/W 357 – BS 47 z, Bl. 1
Der Hannes Tomkowiak hatte das Vaterland verraten. Am Morgen des zwölften März, zwei Wochen vor Ostern, ging er zu dem Agenten Faber , der ein kleines Zigarettengeschäft betrieb, und sagte ihm was er wusste und was Faber hören wollte. Er setzte sich etwas linkisch und erzählte ruhig, was er wusste. Er erzählte in einem Tonfall, als hätte er diese Geschichte schon x-mal erzählt und wiederholte sie nur, als hätte er eine fremde Sache 얍 auswendig gelernt und leierte sie nun herunter. Es war nichts überragend Wichtiges. Das meiste wusste Faber schon, wie sein gelangweiltes Lächeln verriet. Trotzdem nahm er gewissenhaft ein Protokoll auf. Und dann sass noch ein Herr da, den Namen hatte Tomkowiak nicht verstanden, der sprach kein Wort, nickte nicht mal. Am Schluss bekam Tomkowiak 500- Mark, grüsste, der Fremde nickte, und ging. B
5
Lesetext
N
B
N
B
10
N
B
N
N
\Abbruch der Bearbeitung\
1–13
4 5 9–10 12
B
Verrat f ging.N ]
Agenten FaberN ] sagte f wollte.N ] BgelangweiltesN ] B B
B
nicht mal.N ]
[Verrat am Vaterland. Roman. [Hannes] [|Der|] |Der Hannes Tomkowiak| hatte das Vaterland verraten. Am Morgen des siebten März, zwei Wochen vor Ostern, ging er zu dem Agenten Faber, der mit den Franzosen in Verbindung stand. Es war 1923. [Die] |Militär| stand an der Ruhr, marschierte nach Deutschland, besetzte die Dörfer. Der Irrsinn] |Verrat f ging.| [Agen] |Agenten Faber| [bot sich an] |sagte f wollte.| (1) spöttisches (2) \gelangweiltes/ [nur einma] |nicht mal.|
268
ÖLA 3/W 357 – BS 47 z, Bl. 2
Fragm. Fassung (Verrat am Vaterland)
5
WP6/TS3 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Der Hannes BTomkowiakN hatte sein Vaterland verraten. Am Morgen des zwölften März, zwei Wochen vor Ostern, war er zu dem Agenten Faber gegangen, den er kurz vorher durch seinen Freund Karl Sliwinski kennen gelernt hatte. Eigentlich war Sliwinski nicht sein Freund, aber Sliwinski nannte ihn immer Freund und so gab er ihm den Titel zurück. Und es tat ihm auch ganz wohl, das Wort Freund aussprechen zu können. \Abbruch der Bearbeitung\
1
B
TomkowiakN ]
T[{omk}]|omk|owiak
269
ÖLA 3/W 359 – BS 47 aa [2], Bl. 1
Fassung (Verrat am Vaterland – Exposé)
WP6/TS4 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Ve r r a t a m Va t e r l a n d oder: H a s s
ÖLA 3/W 360 – BS 47 ab, Bl. 1
Roman von Ödön von Horvath. 5
10
15
Expose: Michael, 25 Jahre alt, Journalist, der älteste und stärkste der drei Brüder Babuschke, verliess fünfzehnjährig die Mutter, die Witwe eines kleinen Beamten, die mit Affenliebe für sein leibliches Wohlergehen sorgte, dagegen seinen unreifen Idealen, Kraftmeiereien und dem Triebe nach romantischen Abenteuern feindlich begegnete. Begeisterungsfähig für alles Gewaltige wollte er heute Prophet, morgen Pferdedieb werden. Leidenschaftliche Liebe verband ihn mit seinem Vaterlande, unter dem er sich allerdings nur einen historischen Begriff realisierte, keinen lebendigen. Denn die Liebe zu seinem Volke, zum lebenden Vaterland, erstand erst durch seine Erkenntnis, dass er zum Führer ausersehen sei, erst durch das Wachsen des Intellekts reifte seine Liebe, eine egozentrische Nächstenliebe, die sich bald auf die ganze Menschheit ausdehnte. In allen Sätteln wenn auch nicht gerecht, so doch gesessen, war er aus Romantik jedem Kompromisse zwischen Idee und Realität abgeneigt; und so sah er seine sektiererischen Heilslehren immer wieder an dem „Spiessbürger“ zerschellen. Und bald bestand für ihn sein ganzes Volk nurmehr aus „Spiessbürgern “, und seine ursprünglich allein auf ihn konzentrierte Liebe wandelte sich in Hass, in aktiven Hass, in Zerstörung. Alle Kosmopolitik wich dem fanatischen Hassen der Sippe, dem Hasse auf das einst geliebte als historischen Begriff realisierte Vaterland. Könnte er, würde er es vernichten. Zur Zerstörung ist ihm jede Hilfe willkommen. Er wird Spion, tritt in den Dienst einer ausländischen 얍 Macht. Mit seinem Bruder Joachim, den er für seine Pläne gewann, geht er an die Organisation. Joachim, 23 Jahre alt, Versicherungsagent, willigte sogleich ein. Über seine Feigheit, die ihn an der Mitarbeit hätte hindern können, triumphierte sein skrupelloser Leichtsinn. Als Schwächling brach jede Gefühlsargumentation sein Gewissen. Intelligent genug, um zu sehen, wie die Mächtigen die schwersten Verbrechen ungestraft begehen , war er zu zynisch aus Pessimismus, um gegen sie zu kämpfen, wie Michael, sondern er schloss sich ihnen an. Er bediente sich mit Arroganz derselben rücksichtslosen Mittel. Michael und Joachim überreden nun den jüngsten Bruder, Friedrich, der als Soldat im Fort dient, für sie militärische Dokumente zu stehlen. Friedrich ist 20 Jahre alt und der „tumbe“ Ritter seines Regiments. Haben seine Brüder keine bejahende Einstellung zur Gemeinschaft, hatte Michael jedes Zusammengehörigkeitsgefühl überwunden, und Joachim nie eines empfunden, so scheint Friedrich ganz aus Anhänglichkeit, wenn auch, infolge seines zurückgebliebenen Intellekts, nur zur Familie, B
20
25
N
B
N
B
30
B
N
B
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N
B
N
B
B
19 20 28 31 33 36 38 39 39
sektiererischenN ] aus „SpiessbürgernN ] BskrupelloserN ] BbegehenN ] BrücksichtslosenN ] BHabenN ] BscheintN ] Bauch, infolgeN ] BIntellekts, nurN ] B B
N
N
B
korrigiert aus: sektirerischen korrigiert aus: aus„Spiessbürgern korrigiert aus: skruppelloser
[g]|b|egehen [rück] |rücksichtslosen| [Hatten] |Haben| [schien] |scheint| korrigiert aus: auch,infolge korrigiert aus: Intellekts,nur
270
N
N
ÖLA 3/W 360 – BS 47 ab, Bl. 2
Fassung (Verrat am Vaterland – Exposé)
WP6/TS4 (Grundschicht)
aus Treue ohne Kritik zu bestehen. Besonders liebt er Michael. Nie hatte er es ihm vergessen, dass er ihn als Junge immer vor seinen Kameraden beschützt hatte. Er empfindet zu ihm gehorsames Vertrauen. Ist bei Michael das Gerechtigkeitsgefühl, bei Joachim ein rattenhafter Selbsterhaltungstrieb, so bei Friedrich das Dankbarkeitsgefühl Hauptmerkmal. Eine Dankbarkeit ohne Unterscheidungsvermögen für die Grösse der ihm erwiesenen Wohltat. Und dies ist auch der Grund, weshalb er sogleich einwilligt, die Dokumente zu stehlen. „Er stiehlt sie, weil er den Feldwebel hasst“, meint Joachim. Die Unterredung der drei Brüder findet in der Wohnung Dianas statt. Dies ist eine ehemalige Schauspielerin, Diana ist ihr Künstlername, ohne jemals irgendwo engagiert gewesen zu sein. Mit nervöser Begierde nach Luxus markiert sie die teuer geborene Hure und ist doch nur eine untalentierte Schauspielerin, die, wenn sie nicht gut gewachsen wäre, 얍 im besten Falle Stenotypistin geworden wäre. Sie wird von zwei Männern, die geschäftlich miteinander zusammenarbeiten, ausgehalten, nämlich von einem alten hypochondrischen Börsianer und einem dicken, feisten Warenhausinhaber, der sich aus Armut emporarbeitete, und stolz auf Diana ist. Für Joachim empfindet Diana keine Liebe, trotzdem bevorzugt sie ihn vor allen Anderen, denn sie empfindet ihn als derart minderwertig, dass sie sich durch seine Anwesenheit erhöht fühlt. Ist ihr ersteres bewusst, so ist letzteres ihr unbekannt. Joachim aber weiss, warum sie ihn bevorzugt, und seines Wissens wegen fühlt er sich ihr überlegen, doch ist diese seine Befriedigung nur Ausrede vor seiner Eitelkeit. Vor Michael hat Diana Angst. Und da sie ihm ihre Furcht zeigt, macht sie ihn erst aufmerksam auf sich, weil er ihre Scheu als Aufforderung erfasst. Aber er weist sie zurück, verbittet sich die Störung, und nun fängt sie ihn an zu hassen. Zweimal stiehlt Friedrich Dokumente. Das erstemal gelingt es ihm, Michael bekommt Geld und die Sache endet mit einer wüsten Sauferei bei Diana, die nichts von der Spionage weiss. Aber das zweitemal wird Friedrich ertappt und eingekerkert. Er wird verhört und verhört. Man forscht nach Komplizen. Er schweigt. Er wird von den Detektiven verprügelt. Er schweigt. Alle Qualen erträgt er geduldig. Die Liebe des, wie seine Kameraden ihn spotteten: „im Rausch gezeugten“ Soldaten mit dem stolzen Namen Friedrich ist stärker als jeder Schmerz. Er ist die Kreatur, die das Schicksal aus Witz zum Helden erhob. Als Joachim von der Verhaftung erfährt, bricht seine Feigheit grell hervor, sein am Lebenkleben. Fast verrückt traut er sein Geheimnis Diana an, „wie einer Mutter“. Doch diese benachrichtigt aus Ärger über die plötzliche Entlarvung ihrer eigenen Hohlheit, aus Sadismus und vor allem aus Hass auf Michael die Polizei. Lockt Joachim in eine Falle: sperrt ihn nach einer Nacht ins Closett und ruft die Polizei. Als 얍 die erscheint, findet sie Joachim als Wahnsinnigen vor. Aber, bevor sie noch erscheint, pocht Friedrich, dem es gelungen war aus dem Gefängnisse zu entfliehen, bei Diana an. Nicht um Hilfe zu erflehen, sondern um sie wiederzusehen. Er liebt sie seit jenem Saufgelage, seit jener Nacht. Damals spielte B
B
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Lesetext
N
N
B
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B
B
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ÖLA 3/W 360 – BS 47 ab, Bl. 3
N
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B N
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N
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1 3 6 15 18 30 37 41
liebtN ] IstN ] BweshalbN ] BfeistenN ] BdassN ] B N] BruftN ] BSaufgelage,N ] B B
N
liebt[e] [War] |Ist| korrigiert aus: wesshalb [feis] |feisten| [das] |dass| [öö,] r[i]|u|ft [Saufgela] |Saufgelage,|
271
N
ÖLA 3/W 360 – BS 47 ab, Bl. 4
Fassung (Verrat am Vaterland – Exposé)
10
Lesetext
nämlich Diana aus Scherz, die in den grossen „Feldherrn“ Verliebte und drängte sich schamlos in seine Seele. Nun kommt aber die Polizei und Friedrich flieht durch ein Fenster, von der verzweifelten Diana unterstützt, wird aber auf der Strasse „auf der Flucht“ erschossen. Michael aber glückt die Flucht, trotz Polizeihunden, Detektiven und Militärstreifen. Drei Nächte und zwei Tage über hält er sich im Walde verborgen, flieht durch Dörfer, geht in die Berge. Jeder Lebensbeweis stärkt seinen Hass, raubt ihm aber durch tausend stumme Fragen den Mut. Den Mut zur letzten Konsequenz, zur Selbstzerstörung, obwohl er sich ja erschiessen w i l l . Das Gesetz des Lebenmüssens, die Erkenntnis der eigenen Schwäche, die aus Feigheit Mitleid zeugt, besiegt seinen Hass. Er geht über die Grenze, leer und gebrochen, aber mit den Möglichkeiten ein neuer Mensch werden zu können. B
5
WP6/TS4 (Grundschicht)
N
15
Ende.
1
B
inN ]
korrigiert aus: ihn
272
Werkprojekt 7: „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“
273
Fragmentarische Fassung („Also gut …“)
5
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35
WP7/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Also gut, ich will Dir das alles erzählen, aber Du musst mich ausreden lassen. Ich kenn Dich nämlich, Du unterbrichst einen immer, wenn man nur ein bisschen was ausschmückt, aber das muss man doch, sonst wird ja am Schluss alles dasselbe. Es ist dann zuguter BLetztN doch ganz gleichgültig, ob ich nun verheiratet bin oder schon gestorben, oder ob sie mich begraben haben oder ob ich mich von der Brücke herabgeschmissen hab. Da fällt mir ein, dass sich die Clementine den Gashahn aufgedreht hat, man hat sie dann abtransportiert, aber sie ist verstorben ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Sie hat sich vor lauter Liebeskummer umgebracht. Ihr Mann nämlich hat sich mit anderen Weibern herumgetrieben, das hätt ja noch nichts gemacht, aber er hat sie angesteckt und da haben es halt ihre Nerven nichtmehr ausgehalten, sie hat den Hahn offen lassen, sie war allein in der Wohnung, weil sie ihn verhaftet haben, wegen Hehlerei, er ist aber BdannN verurteilt worden, weil er bei einem grossen Diebstahl Schmiere BgestandenN ist. Ich hab ihn nicht gekannt, ich war nur beim Begräbnis, es war fast niemand da, das war vor vier Jahren. Wie die Zeit vergeht! Jetzt bin ich schon dreiundzwanzig und wir haben uns schon drei Jahr nicht gesehen! Ich kann mich noch gut erinnern, wo wir uns das letztemal gesehen haben, Du warst damals geärgert, weil ich mich verspätet hab, aber ich kann wirklich nichts dafür, ich wohnte ja damals noch bei meiner Tante, mit der bin ich jetzt zerkracht. Sie hat sich sehr gemein benommen, ich glaub sie hätt gar nichts BdagegenN BgehabtN, wenn ich verludert wär, nur, dass sie mich los hat. Weisst du, damals so Bgleich nach der Inflation,N da hab ich mal ein halbes Jahr nichts zu tun gehabt und da wohnte ich bei ihr. Seit der BZeitN haben wir uns ja nicht gesehen, ich bin seit der Zeit verheiratet und hab einen Sohn, der ist jetzt zwei Jahr alt, er lernt erst gehen und sprechen. Mein Mann ist nett, er hat viel zu tun, er säuft auch nicht, Bdas istN ja auch verboten, denn er ist bei der Bahn. Er ist nicht auf Lokomotive, wir haben ein Haus im Wald als Bahnwärter. Ja, es ist einsam, aber der Wald ist schön und dann am abend -- jetzt bin ich erst seit gestern hier in der Stadt und ich möcht schon wieder nachhaus. Ist das nicht ein Zufall, dass wir uns da treffen? Glaubst Du an ein BSchicksalN oder an den lieben Gott? Ich nicht, da bei uns der BPfarrerN, 얍 das sind alles ganz furchtbare Halunken. Es ist ein reines Geschäft, der ganze liebe Gott. Da draussen am Dorf da haben sie noch eine grosse Macht. Da ist ein altes Mütterlein, das sitzt in der Kirche auf der Hurenbank, weil ihr Sohn ein uneheliches Kind war. Der Sohn aber ist jetzt schon Grossvater und so sitzt die Urgrossmutter in der Hurenbank. Mein Mann geht nie in die Kirch, der BPfarrerN hat ihn mal gefragt und da hat BerN ihn hinausgeschmissen. Der B PfarrerN ist gegangen die Beichtzettel einsammeln und da hat er überall Wein und B SchnapsN gekriegt und wie er zu uns gekommen ist, da war er schon ganz besoffen, 4 12 13 19 19 20–21 22 24 28 29 34 34 35 36
LetztN ] dannN ] BgestandenN ] BdagegenN ] BgehabtN ] Bgleich f Inflation,N ] BZeitN ] Bdas istN ] BSchicksalN ] BPfarrerN ] BPfarrerN ] BerN ] BPfarrerN ] BSchnapsN ] B B
korrigiert aus: etzt korrigiert aus: n[n] d ann korrigiert aus: gestan den korrigiert aus: dageg[a] e en
||
||
[h]|g|ehabt [in der Inflation,] |gleich f Inflation,| [T]|Z|eit korrigiert aus: dasist korrigiert aus: Schicksak korrigiert aus: Pfarer korrigiert aus: Pfarer eingefügt korrigiert aus: Pfarer korrigiert aus: Schnapps
274
ÖLA 3/W 330 – BS 60 b, Bl. 1
ÖLA 3/W 330 – BS 60 b, Bl. 2
Fragmentarische Fassung („Also gut …“)
WP7/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
Mein Mann hat gesagt, was er wünscht? Wein, Sekt, Schnapps? Da hat der Pfaff gesagt, ich möcht die Beichtzettel und da hat mein Mann gesagt, er hat keine. B
N
B
N
\Abbruch der Bearbeitung\
1 1
B B
was f wünscht?N ] Schnapps?N ]
| ||
korrigiert aus: gl[aubst Du] was f wünscht? korrigiert aus: Schnapp[s] ?
275
|
276
Werkprojekt 8: Die Fürst Alm
277
Fragmentarische Fassung (Die Fürst Alm)
WP8/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 B Die Fürst AlmN
5
ÖLA 3/W 196 – BS 47 f, Bl. 1
Infolge der durch den Sommer hereinbrechenden Reise- und Ferienzeit möchte ich alle jene, die mit irgendeinem Kraftfahrzeug die südliche Grenze des deutschen Reiches in Richtung München - Garmisch Partenkirchen einschlagen nach Tyrol oder nach Oberammergau auf eine neu entstandene Station aufmerksam machen, auf die Fürst Alm auf dem Dünaberg bei Murnau am Staffelsee in Oberbayern. Das ist ein langer Titel und ich will es gleich näher erklären. 75 km von Münch, 25 von Garmisch-Parten, liegt es 5 Minuten abseits der Strasse von Murnau nach Oberammergau . Es ist der schönste Punkt am nördlichen Rande der bayerischen Alpen, den man mit Kraftfahrzeugen erreichen kann per Motor. „Schönste“ ist ja allerdings immer eine relative Bezeichnung und ich will nun sagen die umfassendste. Der Dünaberg bei Murnau gehört zu jenem Ausläufer westlich des Höhenzuges, bis zu dem sich um das Jahr 1800 die bayerischen Truppen vor den Tyrolern zurückgezogen haben und hier rettete sie die französische Verstärkung aus München. Hier wird auch noch jährlich eine Erinnerung an diesen Tag ein Graf Arco Preisschiessen von einer Kgl. priv. Schützengesellschaft veranstaltet, als Erinnerung an die Errettung Murnaus von der Plünderung durch die Tyroler. Und nun zurück ins zwanzigste Jahrhundert! Der Vater Fürst war in seiner Jugend einer der Einführer der Lederhosen gegen das Geschrei der Klerikalen wegen der unsittlichen Tracht. Der Kampf um die Lederhose. Heute ist er ein alter Herr mit einem Bart, der natürlich wirkt und er ist auch tatsächlich mit Andreas Hofer verwandt. Von der Fürst Alm sieht man die Berge von Allgäu bis Tölz, Zugspitze und Wetterstein, Teufelsgrat, Wank und Krottenkopf Heimgarten Herzogstand Benediktenwand und das Ettaler Mandl und alles was sich um diese Berge herumgruppiert Thäler und Dörfer und den See nordwärts mit der oberbayerischen Hochebene. Nirgends in ganz Oberbayern hat man solch einen instruktiven Überblick in eine typisch oberbayerische Landschaft. B
B
N
N
B
N
B
10
B
B
15
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N
B
B
B
N
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B N B
25
B
NNN N
N
B
N
B
N B
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\Abbruch der Bearbeitung\
1 5 6 6 9–11 10–11 10 10–11
B
Die f AlmN ] KraftfahrzeugN ] BMünchen -N ] BTyrolN ] BDas f OberammergauN ] Bliegt f OberammergauN ] B5 MinutenN ] Bder f OberammergauN ]
11 15 20
B
24 24 24–25 30–31
B N
31
B
B
Oberammergau.N ] westlichN ] Bvon derN ] B
] ein f HerrN ] Bauch tatsächlichN ] Bin f oberbayerischeN ] B
Landschaft.N ]
\Die f Alm/ [{k}]|K|raftfahrzeug korrigiert aus: München[{t}]|T|yr\o/l \Das f Oberammergau/ [vom Krottenko] |liegt f Oberammergau| \5 Minuten/ (1) der {Seerosenstrassen} (2) der f Oberammergau korrigiert aus: Oberammergau korrigiert aus: westliche (1) durch (2) von der gestrichen: ein [grosser Mann] |ein f Herr| korrigiert aus: auchtatsächlich (1) über die (2) \in f oberbayerische/ Landschaft\./ [eines der grössten Teile.]
278
Werkprojekt 9: „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus
279
Fragm. Fassung („Ich will in meiner Heimat…“)
5
10
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35
WP9/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 „Ich will in meiner Heimat begraben sein“, sagte mir der Herr Generaldirektor. „Ich liebe meine Heimat“, fuhr er fort, „meine Mutter ist vor zwanzig Jahren gestorben, ich liess ihr bereits vor sechs Jahren ein grosses Familiengrab errichten. Dort will ich liegen. Die Heimat gibt uns Kraft zum Wirken für das Vaterland. Ich hab auch das Kriegerdenkmal gestiftet.“ So plauderten wir noch weiter. Der Herr Generaldirektor war ein grosser starker B angenehmer,N Berfolgreicher moralisch verkommenerN Mann, der gebildet war. Er habe sich auch mit Kulturgeschichte beschäftigt, so sei, zum Beispiel, er ein Renaissancemensch. Er sei ein Selfmademan. Ich sollte Bihn imN Auftrag meiner Zeitung befragen, da wir einen kleinen Artikel zu seinem sechzigsten Geburtstage bringen wollten, weil er die Hälfte des Aktienkapitals unserer Zeitung hatte. Unsere Zeitung war in einem Trust. Wir hatten vor allem Provinzblätter und logen fürchterlich. Ich kannte des Herrn Generaldirektors Heimat Altenau, denn es wurden mir dort mal zehn Mark gestohlen. „Ich bleib meiner Heimat treu“, sagte der Generaldirektor und verabschiedete sich. Schwere Sorgen umwölkten seine Stirne, enttäuschender Abschluss von nur fünf Prozent Dividende. Er sagte, er habe sich selbst emporgearbeitet, das sei eben der BgesundeN Schlag des Mittelstandes. Jeder kann sich emporarbeiten, schrieben wir in den Zeitungen und Bwussten, dassN es nicht stimmt. Wir logen. Wir sagten, die Regierung verbiete die Arbeit, wenn es die Arbeitszeit regeln wollte. Der Marktflecken Altenau liegt in Mitteleuropa, unweit der nördlichen Kalkalpen, 480 meter hoch über fernem Meere. Man ist sich nicht klar darüber, wann er gegründet worden war, es steht B N nur fest, dass sich ein rachsüchtiger Kaiser des heiligen römischen Reiches deutscher Nation mit einem hinterlistigen päpstlichen Hausprälaten um das Eigentumsrecht 얍 an den Wäldern und Wiesen und Häusern, nicht zu vergessen der Einwohner, einige Jahrzehnte lang gestritten haben. Infolgedessen wurden acht Altenauer verbrannt, drei gerädert, sieben sind verkommen im Gefängnis und einmal wurde sogar der halbe Markt eingeäschert. Aber dann kamen ruhigere Zeiten und der dreissigjährige Krieg war nur ein Kinderspiel, aber der Westfälische Frieden das war schon sehr schlimm. Da wurden nämlich in Altenau vier Ketzer verbrannt, weil sie Protestanten wurden, weil der BPfarrerN ihren Frauen nachstellte. Die Frauen blieben katholisch und die Männer wurden gefesselt in den Teich geworfen und Gott wurde gefragt, ob er ihre Fesseln lösen wollte, aber Gott sagte: Nein, Bfällt mir nicht ein!N Noch heute lebt in Altenau BeineN alteingesessene Familie, die BihrN Geschlecht auf einen der vier Ketzer zurückführt. Sie sind aber katholisch, der eine ist sogar ein
7 7 10 19 21 25 33 36 37 37
angenehmer,N ] erfolgreicher f verkommenerN ] Bihn imN ] BgesundeN ] Bwussten, dassN ] B N] BPfarrerN ] Bfällt f ein!N ] BeineN ] BihrN ] B B
angenehmer\,/ \erfolgreicher f verkommener/ korrigiert aus: ihm am korrigiert aus: gewunde korrigiert aus: wussten,dass gestrichen: n korrigiert aus: Pfarer [ich löse sie nicht.] |fällt f ein!| korrigiert aus: ein korrigiert aus: ihre
280
ÖLA 3/W 200 – BS 47 p, Bl. 1
ÖLA 3/W 200 – BS 47 p, Bl. 2
Fragm. Fassung („Ich will in meiner Heimat…“)
N
B
B
10
15
Lesetext
Pfarrer und protestiert gegen die Verschmutzung der Öffentlichkeit durch das Anschauen nackter jugendlicher Personen im Alter von drei Jahren. Er ist ein grosser Nationalist, Monarchist und verleumdete schon des öfteren die Linke. Er hält fest an der Tradition. Der Stolz Altenaus ist der Herr Generaldirektor. Die Einwohner sind kleine Handwerker und grosse Bauern. Der Sohn Altenaus der Generaldirektor wurde in einem kleinen einstöckigen Hause geboren. Sein Vater war Schuhmachermeister und als er geboren wurde, hatte er gerade Prozess, er war nämlich sehr feig, gewalttätig. Er hatte seinem Lehrling immer die Finger zusammengebunden und dann drauf geschlagen, die Folge war, dass sich der Lehrling den Finger gebrochen hatte und dann später mit steifem Finger für das Vaterland fiel. Die Mutter war eine boshafte, religiöse, romantische Frau, die Tochter des Metzgermeisters Sauer. Sie war hässlicher als ihre Schwester und infolgedessen zurückgedrängt. Alles was sie in sich hatte, trieb sie in den Jungen, die ganze Energie explodierte in 얍 dem Jungen. Beim Spiel musste er immer siegen, sonst weinte er oder verprügelte den anderen rücksichtslos. Er war ein sympathischer Junge. B
5
WP9/TS1 (Korrekturschicht)
N
N
B
N
B
N
\Abbruch der Bearbeitung\
1 3 7 10 16
PfarrerN ] verleumdeteN ] BeinstöckigenN ] BzusammengebundenN ] BJungen.N ] B B
korrigiert aus: Pfarer korrigiert aus: ver eumdete korrigiert aus: einstöckogen korrigiert aus: zusammengegunden korrigiert aus: Jungen .
281
ÖLA 3/W 200 – BS 47 p, Bl. 3
282
Werkprojekt 10: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert
283
Fragm. Fassung (Wer den Pfennig nicht ehrt …)
WP10/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 BWer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.N
5
ÖLA 3/W 221 – BS 47 ag, Bl. 1
An der Ecke drüben standen zwei volle Jahre über drei Nutten. Die eine hiess Annie und hatte sehr schlechte Zähne, die zweite war eine gewisse Frau Müller aus der Rosengasse und die Dritte hiess Frieda und das war die schönste. Sie hatte einen direkt stolzen Gang und einen harmonischen Hintern -- sie hatte etwas Königliches an sich und dies konnte sie sich ruhig leisten, denn sie hatte ein Fluidum. Sie war die Anspruchsvollste unter den Dreien; sie schwärmte für Kino und führte überhaupt ein selbstständiges Leben, ohne Freund. Sie brauchte keinen Menschen. Es musste einer schon ganz pleite sein, um ihr widerstehen zu können. Sie wusste das auch und tat darnach. Einmal fragte sie die kleine Erna, warum sie keinen Freund habe, und das fiele doch schon regelrecht auf, und dabei lächelte die kleine Erna gewollt unschuldig. Aber die Frieda sagte ihr, wenn sie sich auf jemanden konzentrieren täte, käme sie nie zu sich selbst. So muss sie ja nurmal einen kleinen Spaziergang machen oder sich mal zuhause still auf das Sofa setzen und schon ist sie bei sich. Sie bemitleidet sich dann selbst, lächelt sich selbst an, sagt sich selbst „Guten Tag, guten morgen und gute Nacht“ usw. So ungefähr hatte sie das der kleinen Erna erklärt. Die Frieda hatte immer Glück mit ihren Kavalieren, das heisst natürlich nur in geldlicher Beziehung. Sie hatte wie gesagt ein Fluidum und sie machte aus ihrem Fluidum ein Geschäft. Aber einmal kam sie an den unrichtigen, der hatte sie dann entsetzlich verhaut und sie musste sich direkt legen, bekam eine Narbe und mit der Zeit dann hörte auch das Fluidum auf. Sie versuchte zwar die Narbe zu überschminken, aber das sah dann noch grässlicher aus, die Leut meinten, weiss Gott was. Sie war eben gezeichnet. Die Geschichte geht so weiter: Es kam mal ein Reisender, ein gewisser Neuhu얍 ber. Der Neuhuber war ein Familienvater, ein tüchtiger Verkäufer, aber leider in sexueller Hinsicht ziemlich hemmungslos. Auch konnte er sich in dieser Beziehung nicht beherrschen und hatte eine Schwäche für jede Prostituierte. „Ich lieb halt diese Atmosphär“, pflegte er sich zu entschuldigen. So kam es, dass er fast in jeder Stadt mit einer Prostituierten verschwand, hernach aber sich damisch ärgerte, wieviel Geld dass er wieder ausgegeben hat, sich irgendwo hinsetzte, an seine Frau eine liebe Karte schrieb und die Kinder grüssen liess und sich besoff. Eines Tages nun traf er Frieda und schon war es um ihn geschehen. Droben auf ihrem Zimmer bekam er aber plötzlich Gewissensbisse, es fiel ihm ein, dass seine Frau ihm geschrieben hätte, dass sie dringend zum Zahnarzt muss, sie hat so SchmerB
10
15
20
25
B
N
B
N
B N
B
30
N
B
35
B
1 6 10 26
B
28 29–30 32 35 35 35 35
B N
N
B
Wer f wert.N ] an sichN ] BwiderstehenN ] Bkam malN ] B
] „Ich f entschuldigen.N ] BwievielN ] BTages N ] BtrafN ] BFriedaN ] BesN ] B
N
N
B
N
N
B
[Wer f wert.]|Wer f wert.| korrigiert aus: ansich korrigiert aus: wiederstehen (1) gab dort in der Nähe (2) kam mal gestrichen: er \„Ich f entschuldigen./ korrigiert aus: vieviel korrigiert aus: tages tr\a/f Frieda[,] korrigiert aus: er
284
N
ÖLA 3/W 221 – BS 47 ag, Bl. 2
Fragm. Fassung (Wer den Pfennig nicht ehrt …)
WP10/TS1 (Korrekturschicht)
zen und der Zahnarzt verlangt eine Vorauszahlung von zwanzig Mark. Er besass nurmehr zehn Mark und die sollte er nun hier los werden? Nein, nie. Er bot der Frieda drei Mark -- die Frieda stand vor ihm, sah ihn langsam an mit einem ungeheuer verachtenden Blick und sagte: Gehen Sie. Er ging aber nicht, sondern bekam plötzlich eine heillose Wut über seine Frau. „Warum tun der auch grad jetzt die Hauer weh!“ dachte er wütend und schrie die Frieda an: „ Weisst Du, wie lang ich arbeiten muss, um drei Mark zu verdienen?! Ich verdien mein Geld auf ehrliche Weise!“ „Drei Mark ist Mist“, sagte sie. „Um drei Mark tu ich das nicht.“ Der Neuhuber suchte sie zu überreden: „Auch vor drei Mark müsse man eine Achtung haben.“ „Verlassen Sie augenblicklich mein Zimmer, Herr“, sagte die Frieda auf hochdeutsch und sah ihn masslos gehässig an. Da konnte er sich nichtmehr halten und gab ihr mit seinem Schlüsselbund einen Schlag ins Gesicht. Die Frieda fing furchtbar an zu schreien, aber er entkam. B
N
B
B
N
5
Lesetext
B
N
N
B
N
B
N
B
B
10
NN
B
B
N B
N
\Abbruch der Bearbeitung\
1 1 3 3–4
B
ZahnarztN ] besassN ] BihnN ] BverachtendenN ]
4
B
Gehen Sie.N ]
5–6 6–10
B
weh!“ dachteN ] Weisst f haben.“N ]
8–10 12 13 13
B
[„Drei Mark] |„Drei f haben.“|
B
korrigiert aus: Frie da korrigiert aus: finf korrigiert aus: fuchtebar
B
B
„Drei f haben.“N ] FriedaN ] BfingN ] BfurchtbarN ]
korrigiert aus: zahnarzt korrigiert aus: besas korrigiert aus: ihm (1) vernichttenden (2) korrigiert aus: verachtentenden (1) Ich gehe. (2) Gehen Sie. korrigiert aus: weh!“cdachte (1) Drei Mark ist viel Geld, Du Schlampen!“ (2) \Weisst f haben.“/
285
N
286
Werkprojekt 11: Die Colombine
287
Fragmentarische Fassung (Die Colombine)
WP11/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Die Colombine B
ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 33v
Der Fasching ist eine schöne Einrichtung. Er ist lustig, heiter, lieb, leichtsinnig – vorausgesetzt, dass man Geld hat. Wenn man Geld hat ist einem alles erlaubt. So auch im Fasching. Es genügen oft nur 10 Mark, dass einem alles erlaubt ist. Ich hatte aber leider nur noch 8 Mark 70. Und so war mir nicht alles selbstverständlich erlaubt, sondern ich musste mir das alles erkämpfen. Zum Teil wenigstens. Die 1 Mark 30 musste ich mir erkämpfen. – Ich liess mich mit Colombine ein, das war eine gewisse Frau Anna Hoferer. N
5
B
N
N
B
10
B
N
\Textverlust\
3–4 5 6 10
Der f hat.N ] erlaubt f Fasching.N ] BEs f ist.N ] BIch f Hoferer.N ] B B
[Also [nun] |jetzt gehst Du|] [|„Also jetzt|] |Der f hat.| erlaubt\./ [– au] |So f Fasching.| [Aber es gibt manchmal Leute, die trotzdem] |Es f ist.| [{Colom}] |Ich f Hoferer.|
288
Werkprojekt 12: Mein Selbstmord
289
Fragmentarische Fassung (Mein Selbstmord)
WP12/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Mein Selbstmord.
5
ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 41v
Das Motiv, warum ich mich einstmals umbringen wollte, ist natürlich komisch – wenigstens ist es jetzt komisch, wie alle missglückten Verbindungen mit der Ewigkeit – aber {doch} dumm und dann {immer} schon tragisch. So tragisch, dass ich mich nicht gern daran erinnere . Also umbringen wollte sich sicher mal jeder Mensch, aber wahrscheinlich nur wenige aus so einem blöden Grunde wie ich. Ich war damals 15 Jahre alt und wollte mich umbringen, weil ich noch nicht 18 Jahre alt war – mit anderen Worten: aus Liebeskummer, aus Eitelkeit und vor allem: aus dem Produkt der idiotischen Erziehungsarten jener Zeit. Man hatte mir gesagt, wenn Du verliebt bist, so bist Du verdorben. Also war ich verdorben und ich wollt mich vor den Zug schmeissen. (zuerst wusst ich nicht wie) B
N
B
N
B
B
10
B
15
N
N
\Abbruch der Bearbeitung\
6
B
6 7 9 11
B
nicht gernN ]
erinnereN ] wahrscheinlichN ] B15N ] BausN ] B
(1) gern (2) nicht gern
eri[{nnre}]|nnere| [sicherl] |wahrscheinlich| 1[4]|5| [{vor}] |aus|
290
N
Werkprojekt 13: Der Mittelstand
291
292
Fassung (Der Mittelstand)
WP13/TS1 (Korrekturschicht)
얍
B
Der Mittelstand Roman.
1.) Die Entstehung der Familie Qu. B
Lesetext
N
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 3
N
5
Man streitet sich darüber, ob der Mensch ein Produkt seiner Umgebung ist, ob die Menschen, materialistisch bedingt oder idealistisch bedingt sind. Die Wahrheit werden wohl meist die Unzufriedenen ertragen und suchen, die Zufriedenen nicht. Die sich in ihrer Zufriedenheit bedroht fühlenden, die Unsicher gewordenen, werden eher dazu neigen, phantastische Theorien aufzustellen. So werden sie behaupten, sie hätten einen Odem Gottes in sich, usw. So behauptete Ferdinand Qu., dass es einen göttlichen Atem gibt, während Karl Qu. dies etwa leugnete. Er las Nietzsche. – Tatsache bleibt, dass Ferdinand Qu. ein Gemüsegeschäft hatte.
10
B
B
N
N
15 B
Als Urgrossvater Qu durch Europa zog, gab es noch keine Eisenbahnen. Die Familie Qu., deren Genealogie hier beschrieben werden soll, kann nur bis in das vierte Glied verfolgt werden – bis dahin, wo sie als dritter Stand auftaucht. Der Urgrossvater kam aus Mitteldeutschland, mehr weiss man nicht. Aus Hannover, aber niemand der Familie kennt Hannover. N
B
N
20
B
N
Es scheint ein bestimmtes Gesetz zu geben, dass die Energie der Enkel = der Energie der Grosseltern, also immer eine Generation überspringt. B
N
B
N
B
N
25
Durch Fleiss, Sparsamkeit und Stetigkeit empor mit der Familie Qu! Die Schattenseite: die Ausbeutung!! Seine Nachkommen: für die ist die Ausbeutung eine Gewohnheit. Wer diese Zusammenhänge klarlegte, die neuen Ideen flössten ihnen einen Schrecken ein , genau wie seinerzeit die christlichen Ideen den römischen Soldaten, das sich in Lachen und Spott offenbarte. Wohl gab es einige Idealisten, aber ihr Sozialismus blieb in ihrer Jugend beschränkt und war Theorie. Ein theoretischer Idealismus. B
N
B
B N B B
30
N
N B
N
N
1 4 12–14 12 16 17–18 18 22 22 22–23 25 27–31 28 28 29 29
Der MittelstandN ] Qu.N ] BSo f hatte.N ] Bes einenN ] BAls f Eisenbahnen.N ] Bkann f werden –N ] BdritterN ] BscheintN ] BEnkelN ] BEnergieN ] BStetigkeitN ] BSeine f Idealismus.N ] B N] Beinen f einN ] BSoldaten,N ] BdasN ] B B
[Der Mitt] |Der Mittelstand| [{V}] [|Koller.|] |Qu.| \So f hatte./ [{ein}] |es einen| \Als f Eisenbahnen./ [wird sich genau] [|{gehö}|] |kann f werden –| [vierter]|dritter| [{g}]|s|cheint [{Ju}] |Enkel| [G]|E|nergie korrigiert aus: Stätigkeit \Seine f Idealismus./ gestrichen: ein [Lachen ein] |einen f ein| korrigiert aus: Soldaten\,/. [D]|d|as
293
Fassung (Der Mittelstand)
WP13/TS2 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Der Mittelstand.
5
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 3
Der Mittelstand ist eine Klasse, eine eigene zwischen 2 anderen, heute. Seine Grenzen verwischen sich, aber es ist doch eine Klasse, kein Übergang, eine Klasse mit eigener Ideologie. Mit einer Ideologie, die nur scheinbar schwer ramponiert worden ist. (Ibsen) Die Durchgangsstation für wenige Einzelne aus dem Proletariat ins Kapital.
10
Der Mittelstand ist fast gleich mit der Familienkultur. Er hat sich von der Horde losgelöst, aber er ist noch nicht fähig zur wirklichen Gemeinschaftsidee.
15
Wir erleben eine Renaissance des Mittelstandes. Mächtig ist er im Vordringen im alten Europa – er trägt aber natürlich die Keime des Zerfalls in sich. Die Entstehung der Familie liegt unter dem grauen Himmel der Prähistorie.
294
Fragmentarische Fassung (Der Mittelstand)
WP13/TS3 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Der Mittelstand Roman
5
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 2
1.) Die Geschichte der Familie Qu. Es gibt wohl keine Klasse, die derart auf der Idee der Familie gründet, wie der Mittelstand. Der Mittelstand ist der treueste Hort der Familie, der christlichen sowohl als auch der jüddischen. B
N
\Abbruch der Bearbeitung\
6
B
DerN ]
[{Der}] |Der|
295
Strukturplan in fünf Teilen
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 4 (Auschnitt 1)
296
Strukturplan in fünf Teilen
WP13/E1
297
Lesetext
Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 4 (Auschnitt 2)
298
Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)
WP13/E1
299
Lesetext
Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 5 (Auschnitt 1)
300
Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)
WP13/E1
301
Lesetext
Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 5 (Auschnitt 2)
302
Strukturplan in fünf Teilen (Fortsetzung)
WP13/E1
303
Lesetext
Notizen
ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 1
304
Notizen
WP13/E2
305
Lesetext
306
Werkprojekt 14: Hannes, das Arbeiterkind
307
Strukturplan in 27 Teilen
ÖLA 3/W 335 – BS 12 b [3], Bl. 1
308
Strukturplan in 27 Teilen
WP14/E3
309
Lesetext
Fragmentarische Fassung (Hannes, das Arbeiterkind)
5
10
15
Lesetext
얍 Es war einmal ein Mensch, der hiess Hannes. Hannes war in einer Stadt geboren, in einer grossen Stadt. Die Stadt war so gross, dass viele Leute in ihr wohnten, die nicht wussten, wo sie aufhörte. Ja, es gab viele Menschen, die nicht wussten, wie das Land aussieht, der Wald, die Wiese, wie die Welt aussieht ohne BHäuser.N Aber sie wussten deshalb wie die Stadt aussah, die Untergrundbahn und die Trambahn und sie wussten, dass das alles alt sein wird, wenn sie mal Bgross sein werden.N So sehr waren sie von allem Büberzeugt und sie hatten recht dabei.N
Der Hannes, das war ein Kind seiner Eltern. Die Eltern waren Arbeiter. Der Vater ging in die Fabrik, die Mutter ging Waschen zu den feinen Leuten. Der Hannes wuchs fast allein auf, das heisst ohne Eltern. Er ging dann in die Schule und war ein intelligenter Junge. Er wusste gleich, wieviel 2x2 war und auch 4+5, und er konnte multiplizieren und dividieren, dass es eine wahre Freud war. Keiner in der Schule konnte es so und so wurde er grössenwahnsinnig. Aber es gab welche in der Schule, die konnten wieder anderes: die Tafel abwischen, träumen, Zeitungaustragen, zuhause helfen, Schuhe sohlen auf die Geschwister aufpassen. – Aber in der Schule zählte nur der Hannes. Er wusste, dass er etwas Besonderes war, etwas ganz Grosses. Und er handelte danach. Er sagte sich: „was kümmere ich mich um die anderen{!!“} B
N
B
N
B
20
WP14/TS1 (Grundschicht)
N
\Abbruch der Bearbeitung\
4 6–7 7 10 10 17
Häuser.N ] gross f werden.N ] Büberzeugt f dabei.N ] B B
Hannes f warN ] KindN ] BSchuhe sohlenN ] B B
[{ }] |Häuser.| [{ } s] |gross f werden.| überzeugt[. Nur]|und f dabei.| Hannes\,/ [w]|das war| [{E}] |Kind| \Schuhe sohlen/
310
ÖLA 3/W 335 – BS 12 b [3], Bl. 1
Werkprojekt 15: Im Himmel der Erinnerung
311
Notizen
ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 2
312
Notizen
WP15/E1–E2
313
Lesetext
Fragm. Fassung (Im Himmel der Erinnerung)
얍B
WP15/TS1 (Korrekturschicht)
N B N
Als der Rittmeister nachhause kam, war er allein, nicht nur in seinem möblierten Zimmer, sondern auch in der ganzen Wohnung und überhaupt. Er hatte wiedermal nichts in der Lotterie gewonnen und setzte sich vor den Spiegel. Er sah sich an und dies inspirierte ihn. Sein Hühnerauge tat ihm weh und es fiel ihm ein Herbstmanöwer ein und apropos die Operett. In der Operett war damals eine Primadonna, 얍 die war sehr frech und hat zwei steinreiche Leut ruiniert. Der Eine war ein seelenguter Mensch, ein Industrieller; der andere war ein kleiner Mann, der sich nie was zugetraut hatte. B
5
Lesetext
B
N
N
B
N
B
10
N
\Abbruch der Bearbeitung\
1 1
B N
2 5 5–6 9
B
B N
] ]
nicht f inN ] BSein f wehN ] BHerbstmanöwerN ] Bhatte.N ]
[Der] [|Der Himmel ist hoch droben und wölbt sich über uns.|] gestrichen: Eintragung von fremder Hand (Berliner Bearbeitung): Der Himmel ist
hoch droben und wölbt sich über uns. [in] |nicht f in| [Er dachte] |Sein f weh| gemeint ist: Herbstmanöver hatte[,]|.| [und { }]
314
ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 3
ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 4
Werkprojekt 16: Der römische Hauptmann
315
Fassung (Der römische Hauptmann)
얍
5
WP16/TS1 (Korrekturschicht)
Der römische Hauptmann
ÖLA 3/W 21 – BS 39 c [5], Bl. 1
An einem Vorfrühlingstag Nachmittags war die Exekution beendet. 33 Jahre nach Christi Geburt. Die drei Kreuze standen gegen den Himmel vor der Stadt. Das Volk, das der Exekution beigewohnt hatte, kehrte nachhause zurück und unterhielt sich angeregt. Der Friseur Brentl sagte, er sei gegen die Todesstrafe. Es waren kleine Kinder dabei, die wussten noch nichts von der bösen Welt. Und ein Liebespaar. Die drei Leichen hingen an den Kreuzen. Es war ein politischer und zwei kriminelle Delinquenten . Auch die Henker gingen nachhause. Und die Soldaten auch, die die Ordnung aufrechterhalten haben. An der Spitze der Herr Hauptmann in einer feschen Uniform die Leutnants. Mit Musik. Der Hauptmann war mit Leib und Seele Soldat. Er kümmerte sich sein Leben lang über nichts, als soldatische Bücher. Er hatte die Kadettenschule besucht. Ansonsten war er unverheiratet. Er sprach wenig und war beliebt wegen seiner Gerechtigkeit. Im letzten Krieg tötete er 14 Feinde in einer Schlacht, konnte aber keiner Fliege etwas zu leide tun. Die Exekution war ihm peinlich. Er liebte derartige Schaustellungen nicht. Er 얍 war natürlich absolut für die Staatsautorität. Hätte er Christus, den Nazarener, nicht hingerichtet, sondern wäre bereits Christentum gewesen, wäre er sicher ein Heiliger geworden. – Der römische Hauptmann hat es erkannt: nicht Zweifel über die Berechtigung der Hinrichtung, sondern Zweifel daran, ob der Gekreuzigte nicht Recht gehabt hatte. Das Herandämmern einer neuen Zeit, der Untergang einer anderen. Nie waren ihm solche Gedanken gekommen, aber jetzt standen sie plötzlich vor ihm. – Zuhause angelangt zog er sich um. Dann ging er ins Kasino. Dort traf er Kameraden. Dann Schlaf. Soll er die Konsequenzen ziehen? Soll er Christ werden? Verachtet? Soll er den bunten Rock ausziehen? Dann schreibt er einen Brief. Dann geht er sich rasieren. Dann Dienst. Dann zum Tee zur Gräfin. „Man sollte was unterschlagen“, sagte der Hauptmann, „nur weg! Weg!“ B
N B
N
B
10
15
20
N
B
25
30
Lesetext
N
B
N
B
35
40
N
An dem Busen seiner Geliebten vergisst er die ganze Geschichte mit der Kreuzigung.
5–6
B
angeregt.N ]
6 9 24 30–31 32
B
\Der f Todesstrafe./
B
korrigiert aus: Deliquenten
Der f Todesstrafe.N ] DelinquentenN ] BGekreuzigteN ] BSoll f ausziehen?N ] Beinen Brief.N ]
(1) \(/anregend.\)/ (2) \angeregt./
[Hin] |Gekreuzigte| \Soll f ausziehen?/ [{an}] |einen Brief.|
316
ÖLA 3/W 21 – BS 39 c [5], Bl. 2
Werkprojekt 17: Himmelwärts
317
Strukturplan in 15 Teilen
ÖLA 3/W 336 – BS 61 [1], Bl. 1
318
Strukturplan in 15 Teilen
WP17/E1
319
Lesetext
Strukturplan in 13 Teilen
ÖLA 3/W 336 – BS 61 [1], Bl. 2
320
Strukturplan in 13 Teilen
WP17/E2
321
Lesetext
Strukturplan in 13 Teilen (Fortsetzung)
ÖLA 3/W 336 – BS 61 [1], Bl. 3
322
Strukturplan in 13 Teilen (Fortsetzung)
WP17/E2
323
Lesetext
Notizen
ÖLA 3/W 337 – BS 61 [2], Bl. 2
324
Notizen
WP17/E3–E4
325
Lesetext
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
얍
I. N
B
B
10
ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 1
Drachen liegt in der Mitte meiner Heimat. Es ist zwei Stock Das Gasthaus zum hoch und hinten hat es einen Stall, doch stehen dort keine Pferde mehr drinnen, denn die Eisenbahn wurde schon längst erfunden und die Kraftfahrzeuge auch. Aber noch vor hundert Jahren ist das alles ganz anders gewesen – Rappen, Füchse, Schimmel, Hengste, Stuten, Wallache, Fohlen und Missgeburten. Edle und unedle, treue und böse. Damals hat sogar mal ein richtiger König im wilden Löwen übernachten müssen, weil es die Deichsel seiner Staatskarosse durch irgendeine Hexerei zerrissen hat. Der König hat sehr geflucht, hat sich bekreuzigt und hat sich betrunken, ist auf sein Zimmer hinauf und um ein Haar hätt er seinem Verbündeten den Krieg erklärt, wenn er noch hätte unterschreiben können vor lauter Rausch. Aber er hat vor lauter Rausch nichtmehr gewusst, wie er mit dem Vornamen heisst. Und als ihm der eingefallen ist, hat er nicht gewusst, der Wievielte er ist. Und so wechselte sich das immer ab . Er war schon ganz verzweifelt der König , und hat abdanken wollen, aber knapp vorher ist er umgefallen und hat geschnarcht , dass sich meine Urgrossmutter bekreuzigt hat im Bett, weil sie gemeint hat, dass die Erde bebt. Ja das waren noch Zeiten -- aber heute? Heute wird die Welt immer enger , die Pferde immer weniger und die Leut immer mehr. Bald werden sie keinen Platz mehr haben und werden verhungern, obwohl, wie es sich die Kapazitäten haarscharf ausgerechnet haben, auf dieser kleinen Erde soviel wächst, dass ein jeder Mensch so viel fressen könnt, und so lange, bis es ihm garnichtmehr schmeckt. Aber leider haben es sich halt die Kapazitäten noch nicht ausgerechnet, wie man diesen Ueberfluss verteilt, so dass sich ein jeder überfressen kann, bis er krank wird. „Wir 얍 sind halt alle B N B
5
B
B
N
N
B
B
N B N
N B
B
N
N
N
N
B
N
B
B
15
Lesetext
N
N
B
N
B
B
N N
B
B
N
B
N
N
B N
20
25
3 3 4 4 4 4 6
] DrachenN ] BeinenN ] BdochN ] B N] BdortN ] BAber f gewesen –N ] B N B
6 6 6 10 10 11 13
B
13 15–16 16 16–18 16 17 19 19
B
nochN ] hundert JahrenN ] BistN ] BesN ] Bdurch f HexereiN ] Bhat f undN ] BunterschreibenN ] B
Rausch. AberN ] Und f abN ] Bab.N ] BEr f bebt.N ] Bder KönigN ] BgeschnarchtN ] B N] BengerN ] B
B
N
[wilden] [Löwen] |Drachen| ein[e]|en| [aber] |doch| [in diesem Stall] [|dort|] \dort/ (1) Ja früher, als das alles noch nicht erfunden worden war, da standen im Stall ständig Pferde -- \(/grosse und kleine, dünne und dicke, alte und junge, dumme und kluge, feurige und traurige, schöne und hässliche, störrische und folgsame,[\)/] Araber, Lipizaner, Belgier, Tiroler,\)/ (2) \Aber f gewesen –/ [noch] |noch| [fünfzig Jahren] [|vierzig Jahren|] |hundert Jahren| [war] [|{ }|] |ist| [es]|es| [|der bös|] [|eine Hexe durch irgendeine Hexerei|] \durch f Hexerei/ \[und] hat f und/ (1) schreiben (2) unterschreiben korrigiert aus: Rausch. Aber \Und f ab/ korrigiert aus: ab \Er f bebt./ \der König/ korrigiert aus: geschnarrcht [andere] (1) kleiner (2) enger
326
ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 2
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
Lesetext
miteinander viel zu dumm“, pflegte der Löwenwirt zu sagen, „und gescheiter werden wir auch nicht.“ Der Löwenwirt war ein Pessimist, denn infolge der schlechten Zeiten kam keiner ausser 3 Herren. Und die kamen pünktlich, aber sie wären auch nicht gekommen, wenn sie nicht das grosse Los im Werte von 10000 Mark gezogen hätten. Und selbst dann wären sie nicht gekommen, wenn es nicht liederliche Menschen gewesen wären, die sich nichts kauften, und nur der Illusion lebten. Der eine liederliche Mensch hiess Ludwig. Dieser Ludwig war ein Herr in den besten Jahren und hatte einst Grundstücke geerbt von seinen Eltern, aber jetzt hatte er keine Seele auf der weiten Welt -- die Grundstücke hat er verspielt und verloren , durch Pech im Spiel und die Inflation. Alles, was er noch besass, das war ein Motorboot, das ihm keiner abkaufen wollte. Dieses Motorboot hatte er sich, knapp nach der Ziehung des Loses, in seinem Saurausch gekauft von einer Konkursmasse einer Schiffahrtsgesellschaft. Es war das ein sehr ein schönes Motorboot, aber viel zu gross. Der Heinrich Kowarek hatte den Weltkrieg als sehr junger Mensch kennen gelernt, vorher war er Dentist, aber seit den Aufregungen des Krieges hat er eine unsichere Hand bekommen und hat mit seinen Patienten direkt lebensgefährliche Sachen angestellt. Folgerichtig hat er die Praxis verlo-얍ren und war (als Politiker) dann halt auch nichts. Und der Jüngste, das war ein gewisser Christian Schlamperl, der hat die Schule verlassen und war noch nie etwas. Aber er war immer ein tadelloser Fussballspieler und so hatte er Fussball gespielt im Fussballklub meiner Heimat und war B
B
N
B
N BB
N
N
B
5
N
B
N
B
N
B
N
N
B
N
B
10
B
15
N
B
B
20
N
B
B
N
N
N
2 3 3 3–7
B
korrigiert aus: infloge
B
3 4–5 5 5 7 8
B
\keiner/ [uns.] |3 [{Er}] |Herren.|| (1) Wir machten zwar jeden abend eine hübsche Zeche, und oft fing so ein abend abends an und dauerte bis zum nächsten abend. Ja ich bekkenne es reumütig, wir haben wirklich über das erlaubte Maas hinaus getrunken und haben uns wenig gekümmert um unsere Mitmenschen, eigentlich nur dann, wenn sie uns im Trinken gestört hatten. Wir haben nichts gearbeitet, wir hätten ja auch keine Arbeit bekommen -- woher hatten wir aber das Geld? Das Geld war ein Wunder. Das alles war ein Wunder, und Ihr werdet es mir nicht glauben, wir haben das Geld gewonnen. In einer Lotterie für Mutterschutz. Wir haben uns zusammen ein Los gekauft um eine Mark und haben dann drei Wochen später zehntausend Mark bekommen. Und die haben wir in vier Teile geteilt -- und dann haben wir uns hingesetzt und haben das Geld versoffen. Meistens beim Löwenwirt. Wir wollten nichtsmehr wissen von der Zeit, wir hatten alle kein Geld gehabt, wir haben im grössten Rausch Schach gespielt und haben im Wirtshaus übernachtet. Zuerst haben wir auch noch tüchtig gegessen, aber dann haben wir nur gegessen, damit wir besser trinken können. Besonders der Ludwig hat das so getrieben. (2) \Und f Ludwig./ [Und die ware] |Und f kamen| [bekom] |gezogen hätten.| [Ja selbst dieser g{ }] |Und f gekommen| korrigiert aus: liderliche korrigiert aus: liderliche (1) gehabt (2) geerbt korrigiert aus: verloreb korrigiert aus: von einer \(als Politiker)/ korrigiert aus: Und der korrigiert aus: Christiann korrigiert aus: Fusballklub
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infolgeN ] keinerN ] B3 Herren.N ] BUnd f Ludwig.N ]
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Und f kamenN ] gezogen hätten.N ] BUnd f gekommen,N ] BliederlicheN ] BliederlicheN ] BgeerbtN ] B
verlorenN ] von einerN ] B(als Politiker)N ] BUnd derN ] BChristianN ] BFussballklubN ] B B
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 3
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
Lesetext
eine Fussballhoffnung. Und die Fussballmäzene haben ihn unterstützt, weil sie in seine Kopfbälle verliebt waren. Aber wie er gewonnen hat, hat er den Fussball vernachlässigt, das Training vernachlässigt, seine Fussballzukunft war ihm immer wurschter, er hat sich mit Weibern herumgetrieben und ist unfair geworden. Betrunken trat er an in wichtigen Punktespielen, hat nur gegen den Mann gespielt, nie gegen den Ball -- auf sein Konto gehen, er hat einem anderen Fussballer das Wadenbein gebrochen, zweien das Schlüsselbein, einem den Knöchel und vieren den Arm. Zuerst wurde er verwarnt, dann ausgestellt, dann gesperrt für drei Spiele, dann disqualifiziert für ein Jahr und dann am Ende für sein ganzes Leben. Nie mehr durfte er spielen, aber das war ihm wurscht, denn er hatte ja gewonnen und hat nun alles nur versoffen. O wie schlecht sind die Folgen des Geldhabens ! Geld ruiniert den Charakter, zerstört die moralischen Grundsätze, und hemmt die sozialen Triebe! Und wenn das Geld dann zur Neige geht, und man hat nichtsmehr zum Saufen, dann erwacht so ein eigenartiges Wesen, das Gewissen, steht auf, setzt sich an Dein Bett und rechnet es Dir vor, was Du alles verspielt hast, was Du alles falsch gemacht hast -- und dann liegst Du da schlaflos in der Nacht und schwitzt vor lauter Angst, und schaust heimlich zum Fenster hinaus, ob nicht ein schwarzer Mann über die Strasse geht und untensteht. So ein schwarzer Mann, wie er auf alten Bildern abgemalt ist, der auf einem schwarzen Ross reitet. Und dann fällt Dir ein, dass Du als Kind gespielt hast „Fürchtest Du den schwarzen Mann?“ „Nein!“ hast Du gerufen. „Wenn er aber kommt?“ „Dann laufen wir davon!“ Aber Du kannst nicht weglaufen und der schwarze Mann steht unten auf der Strasse und wartet. Und dann kommt er zu Dir ins Zimmer und fragt 얍 Dich: Fürchtest Du den schwarzen Mann? Und Du sagst „Ja“. Dann ist er zufrieden und geht wieder fort. Wenn Du „Nein“ sagen würdest würd er Dich holen, und das ist Dein Trost. Aber dann geht die Sonne wieder auf und schon schaust Du nach dem Wirtshaus. Und im Wirtshaus erwarten Dich die Kameraden -- Du begrüsst sie scheu, aber nach kurzer Zeit wirst Du geschwätzig und wagemutig. „Meine Herren!“ schrie eines abends der Kowarek, „es ist uns bekannt, dass wir insgesamt nichtmehr sehr viel Geld haben, und es ist uns ferner mathematisch bekannt, dass die Göttin des Glükkes uns kein zweites mal auf unsere Stirnen küssen wird. Ich werde jetzt eine Rede halten, meine Herren -- ich bin zwar ansonsten ein schweigsamer Mensch, denn ich habe in meiner Jugend, so gleich nach dem Weltkrieg viel geredet, ob Ihr mir das jetzt glaubt oder nicht -- ich habe die Welt verbessern wollen, aber es ist mir nicht gelungen, die Welt zu verbessern und ich habe dazu geschwiegen. Besonders seit wir da B
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sie f waren.N ]
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herumgetriebenN ] trat f anN ]
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KontoN ] warN ] Bdes GeldhabensN ] B
und hemmtN ] sichN ] BinsgesamtN ] BmathematischN ] BHerrenN ] B
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(1) er so i (2) sie f waren. korrigiert aus: herungetrieben (1) stand er am Platz (2) trat f an korrigiert aus: Konte eingefügt (1) des Geldes (2) des Geldhabens
\und hemmt/ [D]|s|ich korrigiert aus: insgesammt korrigiert aus: matematisch korrigiert aus: Heren
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 4
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
Lesetext
gesoffen haben, aber ich kann nicht wieder ohne Sauferei sein, was soll ich denn machen, ich kann noch nicht wieder die Welt verbessern wollen, dazu gehört Energie, obwohl es nichts nützt, aber diese Energie hab ich jetzt nichtmehr, weil ich zuviel gesoffen hab, und ich schlage nun vor, dass wir etwas Kühnes unternehmen! Noch haben wir das Geld, um von hier fortzukommen, vielleicht finden wir irgendwo das Schlaraffenland! Meine Herren, ich hab heut die ganze Nacht darüber nachgedacht, da haben wir doch unten unser Motorboot vom Freund Ludwig, setzen wir uns hinein, nehmen wir uns um den Rest unseres Vermögens Wein, wieder Wein, Bier, Schnaps und etwas Lebensmittel und fahren wir los!“
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Logischerweise kann es niemand verwundern, dass dieser kühne Vorschlag Heinrich Kowareks begeisterten Beifall gefunden hat. Ludwig sprang auf und beglückwünschte ihn und der Christian Schlamperl zog sich schon seinen Rock an, setzte sich seinen Hut auf -- dann verabschiedeten Sie sich von dem Drachenwirt, kauften ihm den Keller leer und eilten hinunter zum See. Zum Motorboot. Die Nacht war schwarz und die Wolken hingen tief und es war unheimlich still. Es war eine Herbstnacht , die Erde roch -- und die Drei bestiegen das Motorboot, verliessen die Erde und trauten sich dem Wasser an. Das Motorboot war, wie gesagt, zu gross. Aber schön und gediegen. Es konnten tatsächlich zwei Personen schlafen, eine essen, eine steuern. Trinken konnten alle zu dritt. Es war auch eine kleine Bibliothek da, lauter Bücher über das Motorboot. Da stand drinnen, was man machen muss, wenn das Motorboot kaputt geht. Auch viele Fahnen waren da -- von allen Ländern, Handels- und Kriegsflaggen, und Seeräuberflaggen und die Pest- und Choleraflaggen. Lautlos glitt das Motorboot vom Steg fort -- und stach in den kleinen See. Jetzt wurde die Nacht heller, die Tannen standen schwarz an den Uferhügeln und der Mond lag im Wasser. -Den See verliessen sie durch einen kleinen Kanal und da warfen sie noch einen letzten Blick auf ihre Heimat und mitten drinn auf das Gasthaus zum wilden Drachen. Eine stille Wehmut zog in ihre Herzen, aber bald sollten sie auf andere Gedanken kommen. Die Wehmut hatte nicht viel Sinn, denn eigentlich verliessen sie ihre Heimat nicht tragisch -- Wehmut, und sie dachten an die schönen seligen Wirtshausstunden und grüssten ihren lieben Drachen. B
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SchnapsN ] ] BHerbstnachtN ] BkaputtN ] BPest- f Choleraflaggen.N ]
korrigiert aus: Schnap
ihren liebenN ] B N]
[den wilden] |ihren lieben| \ /
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[II.] korrigiert aus: Hernstnacht korrigiert aus: kaput (1) Quarantäneflagge. (2) \Pest- f Choleraflaggen.
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 5
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
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Lesetext
II.
ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 7
So fuhren sie immer weiter weg vom Land und das Wasser drehte sich unter ihnen, weil es halt auch zur Erde gehört und sie fuhren in entgegengesetzter Richtung -- und als die Sonne kam, sahen sie nurmehr Wasser um sich, kein Fleckchen Erde, nichteinmal einen Hauch Erde am ganzen Horizont. Himmel und Wasser und beides fast gleich blau -- und das Meer lag still und gemütlich da, ein grosser braver Bruder der stillen Weiher der Kindheit inmitten schwarzer Wälder. Ludwig schlief noch und Kowarek trank gerade etwas Schnaps , weil er einen schlechten Magen hatte, eine Magenverstimmung, weil er den abend vorher zuviel Schnaps getrunken hat, da rief plötzlich Schlamperl, der am Steuer sass: „Kreuzkruzifix, jetzt merk ichs erst, dass wir keinen Kompass haben! Na das ist ja eine feine Bescherung! Ohne Kompass kann man doch nichts erreichen, suchts Ihr auch, Kowarek! He Ludwig, wach auf, und such den Kompass! Ohne Kompass kann es uns leicht passieren, dass wir immer nur im Kreis rumfahren und dazu hab ich keine Lust!“ Aber sie fanden keinen Kompass, obwohl sie alles durchwühlten -- nur in der Bibliothek fanden sie ein Buch. Aus diesem Buch bestand die ganze Bibliothek. Das Buch hiess „Der Kompass. Eine historische Untersuchung“ und Ludwig schlug die Seiten auf und las auf gut Glück: „Die Chinesen sollen den Kompass schon 121 v. Chr. benutzt haben. Die früheste Kunde von der Nordweisung treffen wir bei Alexander Neckam, dem Milchbruder von Richard Löwenherz, und etwas später bei Guiot von Provins, und es ist nicht sicher, ob die Nadel aus China unmittelbar oder durch die Hände der Araber nach Europa gelangt ist.“ „Was nützt uns das, diese historischen Reminiszenzen?“ sagte Kowarek und machte einen resignierten Eindruck auch Schlamperl hatte das Steuer resigniert verlassen. „Irrtum“, sagte Ludwig, „wir müssen durch die Geschichte 얍 lernen. Und was lernen wir durch diesen Bericht? Etwas für uns ungeheuerlich Nützliches, mit praktischen Folgen für unsere Lage -- die Geschichte ist die beste Lehrmeisterin! Wir lernen daraus, dass der Kompass im besten Falle 121 v. Chr. erfunden worden ist, und zwar in China -- und was haben die Leut bis dahin gemacht, he? Sind sie nicht gefahren? Denkt nur an die Wikinger , Römer, Griechen, Phönizier? Sind die vielleicht nicht gefahren? Die Wikinger sind ja sogar nach Amerika! Und was haben die Chinesen gemacht vor 121 v. Chr.? Sind die vielleicht nur gelaufen und gegangen -- o nein! Die hatten auch schon eine Flotte! Kriege haben sie sogar geführt ohne Kompass! Ich erinnere nur an die römischen Enterbrücken und an deren Erfinder! Ganz abgesehen davon, dass wir hier in Europa im besten Falle erst durch Alexander NekB
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das f gehörtN ]
SchnapsN ] SchnapsN ] Bhaben!N ] BbestandN ] BhiessN ] B
lernen f Bericht?N ] WikingerN ] BWikingerN ] BEnterbrückenN ] B
ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 8
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(1) die Erde drehte sich (2) \das f gehört/ korrigiert aus: Schnapps korrigiert aus: Schnapps korrigiert aus: haben!“x
b\e/stand (1) bestand (2) hiess
|| [lernen. Und was lernen wir da aus diesem Bericht?] |lernen f Bericht?| korrigiert aus: Wickinger korrigiert aus: Wickinger korrigiert aus: Entenbrücken
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 7
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
Lesetext
kam, dem Milchbruder von Richard Löwenherz erfahren haben, was ein Kompass ist! Da lest es mal selber! Das ist ein sehr kluges, aufschlussreiches Werk! Da könnt Ihr viel lernen! So, und jetzt übernehme ich das Steuer! Weg da! Hoppla, jetzt komm ich! Prost!“ Während Ludwig das erzählte, bewölkte sich der Himmel etwas und überall her kamen kleine Wellen auf das Boot zu. „Hoffentlich kommt kein Orkan“, meinte Schlamperl besorgt, „das fängt immer so klein an“ -- aber kaum hatte er ausgesprochen, zogen die Wolken schnell weg und die kleinen Wellen beruhigten sich, hörten auf, und es gab wieder nur Sonne und Meer. „Wir haben Glück“, konstatierte Ludwig. So fuhren sie ohne Kompass dahin. Jetzt stand der Ludwig am Steuer, der Schlamperl schlief und träumte von einem alten Jahrgang -- und der Kowarek lag am Bauch und stierte in das Meer hinab. Das war ungewöhnlich durchsichtig und wurde es noch immer mehr. Er konnte bis zum Boden hinabsehen, und was es da alles gab! Seltsame grosse Wälder, Tintenfische und Medusen, fleischfressende Pflanzen, Wracke, Kriegsschiffe, aller Zeiten, eine Galeere mit angeketteten Skeletten -- Korallen, Tiefseefische, die haben sich selber geleuchtet. Und der Sägefisch hat gesägt, und die Muscheln und die Perlen -- und alle möglichen Formen, kurze und dünne, er konnte sich garnicht von dem Anblick trennen, bis es Nacht wurde. – War das ein Leben!
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III. Drei Tage und drei Nächte fuhren sie nun so ohne Kompass über das Meer. Es war ihnen direkt schon etwas langweilig und besonders steuern wollte keiner mehr, jeder drückte sich vor dieser Arbeit. Sie war auch eigentlich sinnlos, so liessen sie also nur den Motor laufen und spielten Karten. Tarock, Skat, Siebzehnundvier. Sechsundsechzig. Poker . Back . Und sie merkten es garnicht, dass sie sich einer Insel näherten, so vertieft waren sie. Erst im letzten Augenblick -- als sie schon fast mit dem steilabfallenden weissen Felsen aus Kalk zusammenstiessen, merkten sie was, denn der Felsen warf einen Schatten auf sie. Entsetzt sprangen sie auf und rissen alle drei das Steuer herum, und nur Ludwig liess seine Karten nicht fallen, denn er hatte ein gutes Blatt. Aber die beiden anderen wollten nichtmehr weiterspielen, denn die Insel hatte sie zu sehr aufgeregt. Und alle drei fassten den festen Entschluss, hier mal ans Land zu gehen, denn sie wollten mal wieder Erde unter sich fühlen. B
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zu. „HoffentlichN ] Steuer,N ] BkonnteN ] BKorallen,N ] B– War f Leben!N ] B N] BPokerN ] BBackN ] BanderenN ] B B
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korrigiert aus: zu.„Hoffentlich korrigiert aus: Steue korrigiert aus: kommte
\Korallen,/ \– War f Leben!/ \ / korrigiert aus: Pocker gemeint ist: Bakkarat korrigiert aus: anderen,
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 9
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
5
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
Die Insel war eine sehr kleine Insel und machte, trotz der steilen Felsen einen lieblichen Eindruck, besonders von der anderen Seite. Sie fuhren zuerst dreimal um die Insel herum, und das dauerte eine halbe Stunde. Dann einigten sie sich endlich, wo sie landen werden. Es ging glatt. Schlamperl war der erste, der die Insel betrat. Diese Insel war ein kleines Paradies, gegen die rauhen Winde schützten es Felsen -- drinnen wuchsen Bananen und Aepfel, Obst und Trauben, Gemüse -- man sah nur nirgends ein animalisches Wesen. Kein Vogel sang. Da -- plötzlich bellte ein Hund, dann noch einer und noch einer, eine ganze Meute. Und schon stürmte die Meute aus den Büschen, bellte fürchterlich und als sie die Fremden erblickte, wedelten sie mit dem Schwanz und machten Männchen. Es waren reinrassige Hunde, sagte Kowarek, der etwas davon 얍 verstand. Möpse, eine unmoderne Rasse, die es eigentlich nichtmehr gibt? Wie kommen denn da die Möpse auf die Insel? Und immer mehr Möpse kamen, überallher -- „Das ist ja die reinste Mopsinsel“, sagte Ludwig, grosse Möpse, kleine, dicke, feurige, alte, junge, und alle wedelten mit dem Schweife und machten Männchen, küssten ihnen die Hand. „Artige Tiere“, meinte Ludwig. „Und gut gepflegt, die müssen jeden Tag gebürstet werden. Wer bürstet denn da die Möpse?“ wollte er gerade fragen, da erblickte er einen Mann, ein sonderbares Wesen, er hatte ein Blattgewand an, lange Haare und einen langen Bart -- „Bieber“, sagte Schlamperl, „vierundfünfzig Punkte“. Der Bieber stand regungslos da und starrte die Leute an, die ihn grüssten -- aber er starrte noch immer, als hätte er noch nie einen Menschen gesehen. Aber dann kam er langsam näher und fragte „Wer seid Ihr?“ B
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„Wir? Wir sind hier mit einem Motorboot.“ „Motorboot?“ „ Ja. Warum ?“ „ Ich bitte schön, was ist das: Motorboot? Ist das ein Segelschiff oder ein Dampfer?“ „ Dort.“ „Aha!“ „Wer bist denn Du?“ „Ich bin ein Mensch! O wie bin ich froh wieder Menschen zu sehen! Nein, das ist ja kaum glaublich! Seit vierzig Jahren sitz ich hier auf dieser Insel, ich bin nämlich ein Schiffbrüchiger -- der einzige Ueberlebende, an einer Planke hab ich mich gehalten und bin hierher gespült worden, vierzig Jahre lang hab ich gehofft, und jetzt ist B
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wuchsenN ] FremdenN ] BreinrassigeN ]
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grosseN ] gepflegt, dieN ] B N] BMotorboot.“N ] BJa. WarumN ] BIch f schön,N ] BwasN ] BMotorboot f Dampfer?“N ] BDort.“N ] B
korrigiert aus: wuchs en korrigiert aus: fremden (1) kei (2) reinrassige korrigiert aus: „grosse korrigiert aus: gepflegt“, „die
[Es stellte sich nun heraus, dass der Bieber] korrigiert aus: Motorboot “ korrigiert aus: Ja.„Warum
\Ich f schön,/ korrigiert aus: Was Motorboot?[“]|Ist f Dampfer?“| korrigiert aus: Dort“.
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 10
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
endlich wer da, der mich mitnimmt! Nein, ist das wunderbar! Wunderbar! O Du mein Gott, wie danke ich Dir für diese wunderbare Errettung!“ Und er kniete nieder und betete laut. Und so war es auch. Der Bieber hat sich auf die Insel gerettet, das Schiff war gesunken vor vierzig Jahren, er wollte auswandern, aber er 얍 kam nicht dazu. Nun baute er sich hier eine Hütte -- als er sich an der Planke festhielt, sah er einen Mops im Wasser schwimmen, er setzte den Mops auf die Planke, der Mops war aber eine Möpsin und noch dazu trächtig, kaum auf der Insel angelangt, warf die Möpsin, und das waren ihre Nachkommen -- rund tausend, sagte der Bieber, und jeder hat seinen Namen, Mandi, Azorl, usw. Der Bieber kannte die Möpse genau und ihre ganze Genealogie, die Geschichte dieser ganzen Mopsgeschlechter. Und der Bieber erzählte, was er für Sehnsucht hat nach der Erde, nach den Menschen und nach einem richtigen Schweinskotelett mit Gurkensalat. Denn auf der Insel gab es nur Gemüse, nur Pflanzen -- und einen Mops essen, nein, das bringt er nicht übers Herz. Die Hütte des Biebers war komfortabel. Auf einem Lager weichen Grases schlief er. Und der Mond war grösser wie in der Heimat und lächelte freundlicher. Es war herrlich -B
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„Da haben wir es“, meinte Kowarek leise, „Jetzt müssen wir ihn mitnehmen, da hilft uns nichts das ist menschliche Ehrenpflicht“, wandte sich Ludwig an seine Gefährten , „hoffentlich sauft er uns nicht alles weg.“ „Ich war eigentlich gleich dagegen, da auszusteigen“, sagte Schlamperl und betrachtete eisig die freundlichen Möpse. Das waren freundliche Tiere und die hätten mit dem Schweif gewedelt, wenn sie einen gehabt hätten. Unter einer Bedingung, wenn er nicht zuviel trinkt -- und er wandte sich an den betenden Bieber: „Trinken Sie?“ B
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werN ] Wunderbar f Errettung!“N ] BUnd f laut.N ] Bkniete niederN ] Bbetete laut.N ] Beine HütteN ] B B
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SchweinskotelettN ] PflanzenN ] B N] B
„Da f JetztN ] meinte f leise,N ] BwirN ] Bda f nichtsN ] Bwandte sichN ] Ban f GefährtenN ] Bweg.“N ] B„Ich f hätten.N ] BbetrachteteN ] Bhätten.N ] BbetendenN ] B„TrinkenN ] B
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korrigiert aus: werd Wunderbar![“]|O f Errettung!“| \Und f laut./ [sank n] |kniete nieder| [{ }] |betete laut.| (1) ein Haus (2) eine Hütte korrigiert aus: Schweinskottelett korrigiert aus: flanzen [Der Bieber servierte einen wunderbaren Palmenwein und dafür erhielt er vom Kowarek ein Stück Schinken. Er geriet in Verzückung, verschluckte sich und wäre fast erstickt, so gierig hat er es hinuntergefressen.] [„Wir] |„Da f Jetzt| [{sa}] |meinte f leise,| \wir/ \da f nichts/ [sagte] |wandte sich| [\an/] |an f Gefährten| korrigiert aus: weg“. \„Ich f hätten./ [{ }] |betrachtete| [{hä}] |hätten.| \betenden/ korrigiert aus: Trinken
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 11
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
Lesetext
Der Bieber grinste. „Natürlich“, sagte er. „Und was trinken Sie?“ fragte Kowarek. „Alles“, sagte der Bieber, „was kommt.“ Bier? Dunkel und hell. Schnaps , süss und herb. Wein? Rot und weiss. „Champagner.“ Ist doch klar. „Und was noch vielleicht?“ Bowle, Cocktail, Kobler , Glühwein, Grog, Flips, Gin Likör, Apfelmost, Apfelwein.“ „Genug“, sagte Ludwig. „Den können wir doch nicht mitnehmen“, meinte Schlamperl, „das geht zu weit! Wir werden uns doch nicht opfern wegen dem! Der sauft uns garantiert alles zusammen! Wenn der vierzig Jahr da gesessen ist, dann kann er auch noch weiter sitzen!“ „Lieber Schlamperl“, meinte Ludwig ernst, „so darf man nicht 얍 denken, wir nehmen ihm natürlich mit, keine Frage! Aber trinken darf er nichts, sowie er etwas trinkt, haun wir ihm die Schaufel nauf und werfen ihm über Bord! Basta!“ Der Schlamperl knurrte noch etwas von unnötigen Komplikationen, aber dann schwieg er -- von Komplikationen, die sich die Menschen selbst bereiten, und man könnt sich sein Leben viel einfacher einrichten. B
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ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 12
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IV.
ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 13
Hauptzweck ist das Narrentum. Lest Bücher darüber! Und wer sie nicht lesen will, der will auch nicht, dass es anders wird. Dieses Buch behandelt eine sonderbare Reise dreier Zeitgenossen, die wo das grosse Los gezogen haben -- und sich nun um ihr ganzes Geld ein schönes grosses komplettes Motorboot mit Proviant gekauft haben, anstatt mit dem Gelde sich eine Existenz zu gründen, oder anderen zu helfen, aber massen sie sehr liederlich und leichtsinnig waren. Eigentlich, das muss der Verfasser gestehen, hat er diese drei Zeitgenossen noch niemals ganz nüchtern gesehen. Entweder traf er sie im Wirtshaus oder sie kamen geN
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grinste.N ] Bier?N ] BDunkel f hell.N ] BSchnapsN ] Bsüss f herb.N ] BsüssN ] BWein?N ] BRot f weiss.N ] B„Champagner.“N ] BIst f klar.N ] B„Und f Ludwig.N ] BKoblerN ] BGlühwein, Grog,N ] BApfelmost,N ] BihmN ] BihmN ] BihmN ] Büber Bord!N ]
korrigiert aus: grinste Bier[,]|?| \Dunkel f hell./ korrigiert aus: Schnapps \süss f herb./ korrigiert aus: süs Wein[,]|?| korrigiert aus: \rot und weiss./ \„/Champagner[“] [\Amen!“/] |.“| \Ist f klar./ \„Und f Ludwig./ gemeint ist: Cobbler \Glühwein, Grog,/ \Apfelmost,/
selbstN ] Hauptzweck f wird.N ] BDieses f waren.N ]
\selbst/ \Hauptzweck f wird./ (1) Dieses Buch behandelt die sonderbare Reise dreier Zeitgenossen. Die Reise ist sonderbar und die Zeitgenossen liderlich. (2) Dieses f waren. korrigiert aus: liderlich korrigiert aus: dass
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liederlichN ] dasN ]
vermutlich bewusst gesetzte Dialektalform korrigiert aus: im vermutlich bewusst gesetzte Dialektalform (1) ins Wasser! (2) \über Bord!/
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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Lesetext
rade aus dem Wirtshaus. Oder gingen ins Wirtshaus, dann waren sie vom Tag vorher noch voll. Am nüchternsten waren sie noch drinnen im Wirtshaus, und das sagt ja genug. Der Verfasser will dieses Buch schreiben für Leute, denen es schlecht geht -- die sollen es lesen, und falls sie aber überhaupt nichtsmehr lesen wollen, was verständlich ist, dann sollen sie es sich vorlesen lassen. Falls sie aber auch nichtsmehr hören wollen, dann werden sie aber auch nicht lachen über dieses Buch, und dann sollen sie es garnicht lesen. Nach wie vor gilt aber dem Verfasser als höchster Spruch: gegen Lüge und Dummheit. Werdet aufrichtig, erkennt Euch selbst! Nehmt Euch nicht zu ernst, es steht Euch weder an noch gut. BB
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WP17/TS1/A6 (Korrekturschicht)
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B
OderN ]
OderN ] giltN ] BhöchsterN ] BDummheit. WerdetN ] B
(1) Nur sehr selten (2) oder korrigiert aus: oder korrigiert aus: glit korrigiert aus: höchste korrigiert aus: Dummheit. Werdet
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Strukturplan
ÖLA 3/W 14 – BS 39 b [1], Bl. 1
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Strukturplan
WP17/E5
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Lesetext
Strukturplan in zwei Teilen
ÖLA 3/W 366 – BS 25 [3], Bl. 4
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Strukturplan in zwei Teilen
WP17/E6
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Lesetext
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS2 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Die Reise um die Welt.
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ÖLA 3/W 337 – BS 61 [2], Bl. 1
1.) Abfahrt. Im Hafen war es still. Der Verkehr ruhte – weil es keinen Handel gab. Da gab es Länder, die hatten soviel Weizen, dass sie damit die Lokomotiven heizten, aber sie hatten nirgends zu wohnen. Wieder andere hatten zu wohnen, aber nichts zu essen. Die dritten hatten wieder nur Öfen, aber keine Zimmer. Sie sassen um die Öfen herum, hatten aber kein Holz und keine Kohle. Die anderen hatten wieder keine Öfen, und wenn sie sich wärmen wollten, hatten sie den Rauch in der Stube oder es brannte gleich das ganze Haus ab. Im Hafen die Schiffe lagen still. Es gab auch keine Auswanderer mehr, denn es hätte keinen Sinn gehabt, von einem Lande ohne Öfen in ein Land ohne Holz zu fahren. Man muss eine Sensation haben. \Abbruch der Bearbeitung\
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Strukturplan
ÖLA 3/W 342 – BS 61 b [3], Bl. 1
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Strukturplan
WP17/E7
343
Lesetext
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
I. Es war einmal B
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 1
Es war einmal ein junger Mensch, der hiess Ludwig Schlamperl und war, wie alle anderen jungen Menschen, die eben die Schule verlassen. Er beherrschte das kleine und das grosse Einmaleins und konnte lesen und schreiben, zwar nicht immer fehlerfrei, jedoch fliessend. „Was willst Du werden?“ fragte ihn sein Vormund, denn er hatte keine Eltern mehr. Sein Vater war nämlich gefallen {draussen} im Kriege und seine Mutter hat nichtmehr schlafen können vor lauter Herzweh . Ihre Nächte sind immer endloser geworden, aber eines Nachts hat es an das Fenster geklopft, und da ist draussen der Vater gestanden. Aber der kleine Ludwig schlief in seiner Wiege und die Mutter hat den Vater nicht gleich erkannt. „Ich bin es“, hat der Vater gesagt. B
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Es f einmalN ] LudwigN ] BanderenN ] B N] B N] BbeherrschteN ] BundN ] Bkonnte f fliessend.N ] BzwarN ] BjedochN ] Bmehr f erkannt.N ] B B
8 8 9 9 9 9 9 9 9 10 10
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undN ] ] BhatN ] B N] BnichtmehrN ] Bvor f HerzwehN ] B N] BIhreN ] BsindN ] Bendloser geworden,N ] BaberN ] B N
hat esN ] daN ] BistN ] Bder f gestanden.N ] B N] BhatN ] Bgesagt.N ] B
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Lesetext
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\Es f einmal/ [Christian] |Ludwig| [anderen] |anderen| [konnte f fliessend.]f x [Auch wusste er, wo Afrika liegt,] [kannte] |beherrschte| [und wusste, wer Nero gewesen ist.] |und| x konnte f fliessend. \zwar/ [aber immerhin] |jedoch| (1) mehr. Sein Vater [war] [|ist eines Tages|] |hatte| \ein/ Soldat [\gewesen/] |werden müssen| und [e[s]|r|] [hat] [|ist nichtmehr zurück|] |als die Truppen zurückgekehrt sind, da ist er nicht dabei gewesen.| ihn eine Granate zerrissen, [\jenseits der Grenze. Da hatte seine/] und seine Mutter hat sich sehr gegrämt, so dass sie eines Tages der Vater geholt hat. Der Christian ist im Bett gelegen und hat ruhig geschlafen, und hat es nicht gehört, dass die Mutter weint -- da hat der Vater ganz leise an das Fenster geklopft. Die Mutter sah hinaus. Draussen stand der Vater als Soldat, aber die Mutter hat ihn nicht gleich erkannt, weil er [einen Bart getragen hat] \[und] grün im Gesicht [war]|gewesen ist|./ (2) mehr[.]|,| \da sein Vater im Krieg gefallen [ist] |war| als [ein] tapferer Soldat. [{Und}]/ (3) mehr[,]|.| \Sein f erkannt./ [und] |[als { } Soldat] und | [\ist/ darüber gestorben\./ [war.] Sie] ha[tte]|t| [sich so sehr darüber gegrämt, dass sie nicht mehr hat] \nichtmehr/ [\vor lauter Gramgefühl/] |vor lauter [\Kummer und/] Herzweh| [{ }] [Und die] |Ihre| [wurden \ihr/] |sind| endloser[.]|geworden,| [[aber der kleine Ludwig schlief friedlich in seiner Wiege.] |Und| [D]|d|a [ist eines Tages] |hat es|] |aber| \hat es/ [da stand] |da| \ist/ \der Vater [gewesen] |gestanden|./ [friedlich] [sagte] |hat| \gesagt/[,]|.|
344
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
Lesetext
Und „Du sollst nichtmehr weinen, Mutter .“ Und am nächsten Tag hat die Mutder Vater geter glücklich gelacht und hat ihrer Nachbarin erzählt wie herrlich wesen ist hat sie gesagt und die Nachbarin hat es gleich weitererzählt und dann haben alle die Mutter scheu angeschaut und sind ihr ausgewichen. Und dann wurde die Mutter in ein grosses gelbes Haus gebracht, das lag hinter einer hohen Mauer und hatte keine Klinke. Dort ist sie auch gestorben. Aber der Vater hat sie auch dort besucht und einmal hat er sie mitgenommen mit sich, denn er öffnete die Türen ohne „Sie ist wahnsinnig geworden und jetzt ist sie erlöst “, sagten die Klinke. Leute. „Ich möchte das werden, was mein Vater gewesen ist nämlich Oberkellner“, sagte 얍 Christian seinem Vormund jetzt. „Gut so “, sagte der Vormund und steckte Christian in eine Kellnerschule, dort lernte er servieren, einschenken, bedienen, tranchieren, Salatanmachen -- kurz alles, was ein kompletter Kellner wissen muss. Und bald verliess er die Kellnerschule als fertiger Kellner und konnte es schon kaum mehr erwarten, jemand zu bedienen. Nun war aber gerade eine grosse Notzeit auf der Welt -- eine Notzeit, gegen die die sieben mageren Jahre noch reinste Schlaraffenzeiten waren. Und keiner hatte BB
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
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UndN ] Und f MutterN ] Bweinen, MutterN ] BMutter.“N ] B N] Bam f herrlichN ] B
glücklich gelachtN ] herrlichN ] B N] Bder f istN ] B
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istN ] hat f alleN ]
habenN ] angeschaut undN ] Bsind f wurdeN ] Bgrosses gelbesN ] Bdas f Klinke.N ] B
und f Klinke.N ] denn f Klinke.N ] B N] B„Sie f Leute.N ] B
ist f jetztN ] geworden f jetztN ] BsieN ] BerlöstN ] BsoN ] BkompletterN ] BjemandN ] BwarN ] BreinsteN ] B B
17–346,2 BUnd f servieren?N ]
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\Und/ [Und f Mutter] weinen[,][|.|]|,| [hörst Du.“] [|liebe Mathilde.“|] [|Frau.“|] [|Mama|] |Mutter| korrigiert aus: Mutter [\Und die Mutter hat/] [der Vater ist jede Nacht gekommen zur Mutter, „aber Du darfst es niemand sagen“, sagte er. Aber eines Tages in der Früh (die Mutter wurde immer glücklicher) da zeigte sie der Nachbarin] |am f herrlich| [gelacht] |glücklich gelacht| [{sie}] |herrlich| gestrichen: ein [Stückchen] |Büschel| Heidekraut \gezeigt/ (1) -- „das hat er mir gebracht von seinem Grab,\“/ (2) \der f ist/ ist[. \{heut N }/] [er liegt unter der Erden in Frankreich und besucht mich jede Nacht“. Und die Nachbarin erzählte es gleich weiter und alle sahen] |hat f alle| [{hat}] |haben| an[.]|geschaut und| [Und eines Tages wurde] |sind f wurde| \grosses gelbes/ (1) in ein Haus mit vergitterten Fenster und Türen ohne Klinke, dass sie nie wieder verlassen hat. (2) \das f Klinke./ \und f Klinke./ [trotz der] |denn f Klinke.| gestrichen: . (1) „Sie ist verrückt geworden“, sagten die Leute. (2) \„Sie f Leute./ \ist f jetzt/ [geworden] |geworden f jetzt| \sie/ [gestorben] |erlöst| \so/ \kompletter/ \jemand/ korrigiert aus: ware (1) das (2) reinste \Und f servieren?/
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 2
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
was zu essen. Wer lässt sich da beim Essen noch bedienen? Was gäb es da noch zu servieren? Die Leut wussten sich schon garnichtmehr zu helfen und viele sagten, der liebe Gott strafe die Menschheit, weil die Menschen soviele Sünden begangen hätten. Aber das war eine zweischneidige Feststellung, weil was die einen unter Sünde verstanden, war für die anderen eine Tugend und umgekehrt. Und viele wieder sagten, das könne unmöglich der liebe Gott sein, der die Menschheit straft, denn es gäbe doch keinen lieben Gott. Das müssten die reichen Leute sein, und die Reichen sagten, daran wären nur die Armen schuld, weil es zuviel von ihnen geben würde. Und die Reichen bezichtigten sich gegenseitig und richteten sich gegenseitig zu Grund. Und gar viele meinten auch, dass es den Leuten besser gehen würde, wenn sie nicht soviel lügen täten, sich selber besser kennen lernen würden und aufrichtig wären, aber denen glaubte natürlich niemand. Und einzelne behaupteten, die Leut wären halt zu dumm, und die wurden fast erschlagen. Kurz: es waren furchtbare Jahre, die Schulen wurden geschlossen und die Krankenhäuser und die Gefängnisse waren überfüllt die Fabriken standen still, die Hochöfen waren ausgeblasen, die Bergwerke waren still, im Hafen verrosteten die schönsten Schiffe, die Geschäfte wurden geschlossen. Die Wohnungen standen leer, weil sie keiner mehr bezahlen konnte und die Leute verhungerten und erfroren auf der Strasse. Nur die Polizisten wurde immer dicker . Traurig ging Christian mit seinem guten Zeugnis in der Tasche durch die Strassen, denn was soll ein Kellner machen in einer Zeit, wo die Leut verhungern müssen. So kam er bis an den Hafen. Dort standen die schönsten Schiffe und verrosteten, und die Matrosen standen am Kai und kei-얍ner gab einen Laut von sich. Sie redeten auch nichts miteinander und es war unheimlich still. Was dachten die Matrosen? Und als Christian da drunten stand, da ging es ihm plötzlich durch den Kopf: Du bist ja auch nur ein Matrose und stehst da im Hafen und musst zusehen, wie Dein Kessel verrostet, der Mast verfault das Segel zerbröckelt -- Du müsstest um die Welt segeln, derweil stehst Du da und schweigst. Warum schreist Du nicht? Und Christian schrie -- aber schon stürzten zwei dicke Polizisten auf ihn zu und schlugen ihm auf das Maul aber die Matrosen sahen nur schweigend zu und halfen ihm nicht, denn sie hatten es bereits erfahren, dass schreien keinen Sinn hat. Etwas ganz anderes hätte einen Sinn, dachten die Matrosen, aber darüber darf man N
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warenN ] die f überfülltN ] BNur f dickerN ] Bdicker.N ] BKesselN ] Bder f verfaultN ] BzerbröckeltN ] Bzu undN ] Bauf dasN ] B N]
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korrigiert aus: war eine \die f überfüllt/ [\Nur f dicker/] korrigiert aus: dicker [Schiff] |Kessel| \der f verfault/ [verfault] |zerbröckelt| zu[,] |und| auf[s]|f| \das/ [und führten ihn ab ins Gefängnis. „Warum helft Ihr mir denn nicht?“ brüllte Christian zu den Matrosen] [sie] |die Matrosen| [weg] |zu| [sie] [wussten,] |hatten f erfahren,| [„Was hat denn einen Sinn?“ grübelte Christian in seiner Zelle. Es war dunkel und die Frage ging ihm nicht aus dem Kopf, immer wieder dachte er „Was hat denn einen Sinn?“ Schlaflos wälzte er sich auf seinem Lager, endlich hatte er aber Schlaf, er schlief nur eine Minute -- aber diese Minute genügte] |Etwas f Einfalt!|
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 3
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
nicht reden, also schwiegen sie. Ihr Schweigen war ihre Sprache, aber Christian verstand sie nicht, weil er halt eben noch zu jung war, gerade erst die Schule verlassen hatte und meinte ein gutes Zeugnis gibt ein Recht. O armer Christian! Welche Einfalt! Und da der Christian die Matrosensprache der Matrosen nicht verstand, begriff er sie nicht und war böse auf sie . Und er wollte weg, es war ihm gleichgültig wohin, nur irgendwohin, nur weg von diesen Menschen, die zusehen , wenn man eins auf das Maul bekommt! Kaum hatte er so gedacht da trat ein Herr auf ihn zu und sagte: „ Ich bin Gedankenleser, jedoch kann ich leider nicht prophezeien. Es gibt keine Gedanken mehr zu lesen. Zuwenig. {Sela}! Verzeihen Sie , aber ich sehe es Ihnen an, dass Sie fortwollen – und ich will nämlich auch fort, weil ich nicht allein sein kann! Ich heisse Schröder.“ Im entlegensten Winkel des Hafens lag ein winziges Segelboot, dessen Inhaber bereits verhungert war. Es war herrenlos und niemand kümmerte sich darum, es hätte keinen Sinn gehabt, es sich anzueignen, weil es sich 얍 doch niemand abgekauft hätte und essen kann man ein Segelboot bekanntlich nicht. Also setzte sich Christian hinein und segelte ab. Es war ihm gleichgültig, wohin. Aber vorher schrieb er noch an den Landesvater einen Brief, in welchem er ihm auseinandersetzte, dass er nun abfährt, er allein, auf einem kleinen Boot. „Schau schau!“ sagte der Landesvater, als er am nächsten morgen den Brief erhielt, „das lob ich mir! Allein gegen Wind und Wetter und Elemente! Es ist also die Privatinitiative dieses Volkes, die Kraft noch nicht erloschen !“ Und seinen Zeremonienmeister rief er herein und wollte ihm sagen, dass er das durch Rundfunk bekanntgibt all den schweigenden Matrosen, aber er konnte es nichtmehr sagen, denn gerade wie er sprechen wollte, flog eine Bombe in das Zimmer, die einer der Matrosen geworfen hat, explodierte, hüllte alles in Rauch und Schutt und der Landesvater hatte das Maul voll Staub. Traun, es war eine unruhige Zeit! B
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ihreN ] MatrosenspracheN ] Bbegriff f sieN ] BUnd f bekommt!N ] B N] Ber f bekommt!N ] wegN ] zusehenN ] BKaum f Schröder.“N ] Bso gedachtN ] BIch f {Sela}!N ] B{Sela}!N ] BSieN ] B N] BSchröder.“N ] BihmN ] Bgegen f Elemente!N ] B
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PrivatinitiativeN ] erloschenN ]
seinenN ] ZeremonienmeisterN ] BerN ] B
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[war] |war|6 [er] böse7 auf8 sie9 und5 begriff1 \er/2 sie3 nicht4 [Er ging in] |Und f bekommt!| [er fasste den kühnen Entschluss, fortzufahren.] [Er]|er|1 wollte2 weg,3 \nur/9 irgendwohin,10 es4 war5 ihm6 gleichgültig7 wohin[.]|,|8 \nur f bekommt!/ korrigiert aus: wegen [{sch}] |zusehen| \Kaum f Schröder.“/ [diesen Entschluss gefasst,] |so gedacht| x Ich f {Sela}! gemeint ist: C’est la vie! [sie]|Sie| [Ich f {Sela}!]f x korrigiert aus: Schröder. [{ }] korrigiert aus: ihm, (1) auf einem Segelboot! (2) \gegen f Elemente!/ \Privat/[I]|i|nitiative (1) ausgestorben (2) \erloschen/ korrigiert aus: zu seinem [Staatssekretär] |Zeremonienmeister| korrigiert aus: es
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 4
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
II. Ein misslungener Rekord. B
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 5
Christian Schlamperl hatte günstigen Wind. Rasch und lautlos glitt das Boot über das stille Meer, das Land verschwand und bald war auch kein Leuchtturm zu sehen. Die Erde drehte sich und er fuhr in entgegengesetzter Richtung. Auch das Meer drehte sich, denn auch das Wasser gehört zur Erde. Er freute sich, dass er das Land verlassen hatte, und da war etwas Grimm dabei. Und er freute sich doppelt, denn das Meer machte einen durchaus gemütlichen Eindruck und der Himmel auch. Aber plötzlich bewölkte er sich etwas und von überall her kamen kleine Wellen auf das Boot zu. „Hoffentlich kommt kein Orkan“, dachte er besorgt, „das fängt nämlich immer so klein an, weil ich das auf der Kellnerschule so gelernt hab“ -- aber kaum hatte er dies zu Ende gedacht, zogen die Wolken schnell wieder fort und Wellen hörten auf. „Mir scheint, ich hab Glück“, konstatierte er und liess sich treiben und die Luft wurde immer blauer . Er sah in das Wasser hinab und das war da riesig durchsichtig und wurde es immer noch mehr -- bis er bis zum Boden hinabsehen konnte! Und was es da alles gab! Gesunkene Schiffe aller Länder und Zeiten, fleischfressende Rosen , Tintenfische und Korallen und Tiefseefische, die sich selbst leuchteten und die Sägefische sägten und im verborgenen blühten fleischfressende Veilchen, und seltsame Fische, die sich selbst leuchteten, Muscheln, die keine Ahnung davon hatten, dass sie eigentlich Perlen sind -- und alles mögliche hat da gelebt, und zwar ganz durcheinander, kurze und dünne -- da gab es Fische, die bestanden nur aus Kopf, andere hatten wieder keinen Kopf, welche waren kugelrund, andere platt, wie Seidenpapier, wieder andere bestanden nur aus einer Flosse -- War das ein Leben! Gegen abend begegnete er einem sonderbaren Gefährt. Es sah aus, wie eine höl얍 zerne Badewanne, eine altmodische und drinnen sass ein Herr in Frack und Zylinderhut, der ruderte mit einem eleganten Spazierstock. An einer hohen Stange hatte er eine Flagge gehisst, wahrscheinlich die Nationalflagge. Christian hatte noch nie etwas dergleichen gesehen und er wunderte sich sehr. Der elegante Herr, ein richtiger Kavalier, kam ganz nah zu ihm herbeigefahren , lüftete den Zylinder und grüsste ihn höflich. „Guten abend“, sagte Christian. B
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[\Die Wunder der Tiefsee und der Kavalier in der Wanne/] |Ein f Rekord.|
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Ein f Rekord.N ] ichN ] Bund f blauerN ] B N] BGesunkene f Zeiten,N ] BRosenN ] B N] BTintenfische undN ] BleuchtetenN ] Bund dieN ] BSägefischeN ] BsägtenN ] Bim f Veilchen,N ] Bund f leuchteten,N ] BWarN ] Babend begegneteN ] BihmN ] BherbeigefahrenN ]
\und f blauer/ [Seltsame grosse Wälder, Tintenfische und Medusen] x [g] G esunkene f Zeiten, | | [Pflanzen] [|Rosen|] |Rosen| [g]|G|esunkene f Zeiten,f x \Tintenfische und/ leuchteten[[.]|,|] [Und] [|und|] |und die| Sägefische[, die] sägten[,] \im f Veilchen,/ \und f leuchteten,/ Wa[{ }]|r| korrigiert aus: abend begegnete korrigiert aus: ihn korrigiert aus: herbeigfahren
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 6
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
„Sie werden sich wundern“, sagte der Kavalier, „aber Sie müssen wissen, dass ich einen Rekord aufstellen wollte, ich bin sehr traurig, ich wollte nämlich einen Rekord aufstellen, und in einer Badewanne die Welt umreisen -- nun bin ich knapp vor dem Ziel, vierzehn Jahre bin ich unterwegs, aber die Badewanne ist porös geworden. Ich halt es noch höchstens eine Stunde aus. Leider kann ich nicht schwimmen. Bitte nehmen Sie mich auf, darf ich zu Ihnen übersteigen, es ist mir zwar gleich wohin Sie fahren, was hab ich schon verloren? Nichts. Ich würde auch untergehen, aber wie Sie sich überzeugen können, ist die Wanne voll Schnaps , die mir der Präsident von Trapezunt anlässlich meiner Durchfahrt geschenkt hat -- ich kann nämlich ohne Alkohol nicht leben. Man würde mich mit Konfetti empfangen, leider ist das aber Essig. Mein Lebenswerk ist zerstört. Es geht mir schlecht und man kann nur etwas erreichen, wenn man auffällt. Perdu! Da nehmen sie die Flaschen hinüber, verstauen Sie sie gut! Es ist auch ein kleines Fass dabei. Prima! So!“ Und er stieg zu Christian über, küsste vorher noch seine Nationalflagge und sah seiner Wanne noch lange nach. Plötzlich ging die Wanne unter, als würde sie wer heruntergezogen haben, kaum dass er sie verlassen hatte. „Glück im Unglück“ sagte der Kavalier und weinte. Der Kavalier wischte sich eine Träne aus dem Auge und wandte sich an Christian: „Können Sie Kartenspielen?“ fragte er ihn. B
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III. Ein Bieber. B
ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 7
Der Kavalier war ein angenehmer Gesellschafter. Er hatte es auch bald überwunden, seine Wanne, zunächst besoff er sich, um die Wanne zu überwinden. Auch Christian trank die erste Hälfte der Nacht mit und dann spielten sie beide die andere Hälfte der Nacht Karten. Tarock. Skat. Siebzehnundvier. Sechsundsechzig. Poker . Back . Als es wieder Tag wurde schliefen sie, und in der Nacht soffen sie und spielten Karten. So ging das eine Zeit. Bald wurde aber der Alkohol immer weniger und das Kartenspielen übte auch keinen Reiz mehr aus. Am dritten Tage, gegen abend, sie wachten gerade auf und wollten einen kippen, da tauchte vor ihnen eine kleine Insel auf. Diese Insel war sehr klein und machte einen lieblichen Eindruck. Gegen die rauhen Winde schützten sie hohe gute Felsen und soweit man von aussen her das Innere erblicken konnte , wuchs im Uebermass Obst und Gemüse. Die beiden beschlossen auszusteigen und sich einige Aepfel zu holen. Kaum betraten sie aber die Insel, die in jeder Weise unbevölkert schien hörten sie einen Hund bellen, und dann noch einen. Und noch einen und noch einen, und dann stürmte eine ganze Meute auf sie zu -- aber sie bellten nur, kaum dass sie nämlich die beiden erB
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wundern“,N ] sehrN ] BSchnapsN ] BschlechtN ] Bhaben f weinte.N ] BEin Bieber.N ] BdieN ] BPokerN ] BBackN ] BimmerN ] Bkleine InselN ] BkonnteN ] BObstN ] B B
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korrigiert aus: wundern,“ korrigiert aus: ssehr korrigiert aus: Schnapps korrigiert aus: schlech
haben[.]|,| \kaum f weinte./ [[Ein] |Die Insel des| Bieber\s/.] [|Der Bie|] |Ein Bieber.| eingefügt korrigiert aus: Pocker gemeint ist: Bakkarat korrigiert aus: imme korrigiert aus: Insel kleine korrigiert aus: konnten korrigiert aus: Obstn
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
blickten, wedelten sie mit dem Schwanze und küssten dem Kavalier die Hand. Es waren lauter Möpse. „ Artige Tiere “, meinte der Kavalier, „ Komisch, dass so eine unmoderne Rasse noch lebt und in solchem Ausmass -- na das werden doch sicher mindestens sechshundert Stück sein.“ Es waren aber noch mehr. Genau 987. „Und gut gepflegt“, konstatierte Christian und dachte darüber nach, wer die Möpse so gut pflegen mag, ob sich die Möpse selber pflegen -- da entdeckte er ein sonderbares Wesen. Das war ein Mensch, und zwar ein alter Mann, der hinter einem niederen Gebüsch stand und ihn entgeistert anstarrte . Er hatte ein Gewand aus Blättern an, lange ungepflegte Haare und 얍 einen langen ungepflegten Bart -- „Bieber“, sagte Christian rasch, „vierundfünfzig Punkte.“ Und das ärgerte den Kavalier. Der Bieber stand noch eine ganze Weile regungslos erstarrt da, als hätte er noch nie einen Menschen gesehen, aber plötzlich sprang er vor, schrie sehr aus Leibeskräften und vollführte einen Freudentanz. Dabei schrie er immer, dann rannte er zu den Beiden hin und umarmte sie und küsste sie. Er war ganz toll vor Freude. In einem fort schrie er: „O wie bin ich froh, wieder Menschen zu sehen! Menschen! Menschen! Rettung! Rettung! O Du mein Gott, seit vierzig Jahren sitz ich hier auf dieser Insel, o ich armer Schiffbrüchiger -- o ich armer einziger Ueberlebender! An einer Planke bin ich hier an das Land gespült worden! Vierzig Jahre habe ich gehofft und gehofft! Und jetzt ist die Rettung da! Ihr nehmt mich mit, nichtwahr? Ja ja ja! Ihr nehmt mich mit! Nein, das ist ja wunderbar ! Wunderbar! O Du mein Gott wie danke ich Dir für diese wunderbare Errettung nach vierzig Jahren!“ Und er warf sich auf die Knie und betete, zuerst laut, dann leise. Dann wieder leise und dann wieder laut. „Da haben wir es“, meinte der Kavalier leise, „jetzt müssen wir ihn mitnehmen, da hilft uns kein Gott. Ich war innerlich eigentlich gleich dagegen, hier auszusteigen, wegen der paar Aepfel“ -- und er betrachtete hasserfüllt die freundlichen Möpse, die ihm alle aufmerksam zuhörten. Aber sie verstanden nicht, was er sagte. „Das ist menschliche Ehrenpflicht aller Seefahrer, Schiffbrüchige zu retten“, fuhr der Kavalier grimmig fort „hoffentlich sauft er uns nicht alles weg, wir haben eh nichtmehr viel.“ Und er wandte sich an den betenden Bieber: „Trinken Sie gern?“ Der Bieber grinste über das ganze Maul. „Natürlich“, sagte er treuherzig. „Und was trinken Sie, wenn man fragen darf?“ B
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küssten f Hand.N ]
Artige TiereN ] Komisch,N ] BChristian undN ] Bentgeistert anstarrteN ] BPunkte.“N ] Bschrie sehrN ] BJaN ] BwunderbarN ] BWunderbar!N ] BdannN ] B„jetztN ] BihmN ] Bviel.“N ] BerN ] B
(1) machten Männchen. (2) \küssten f Hand./
[Komisch] |Artige Tiere| [\[Aber] [k]|K|omisch,/] |Komisch,| korrigiert aus: Christian und korrigiert aus: anstarrte entgeistert korrigiert aus: Punkte“. korrigiert aus: sehr schrie korrigiert aus: JA korrigiert aus: winderbar korrigiert aus: Wunderbar_ korrigiert aus: dannn korrigiert aus: jetzt korrigiert aus: ihn korrigiert aus: viel“. korrigiert aus: er.
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„Was kommt.“ „ Bier?“ Dunkel und hell. Wein? Rot und weiss. 얍 Schnaps ? Süss und herb. Sekt? Ist doch klar, meinte der Bieber und gähnte gelangweilt. Und was noch vielleicht? meinte der Kavalier und es lag etwas drohendes in seiner Stimme. Der Bieber winkte nur ab. „Bowle, Cocktail, Cobler, Glühwein, Grog, Likör, Apfelmost, Apfelwein --“ „Genug!“ sagte der Kavalier und wurde schwach. B
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IV. „Ist ihm schlecht?“ fragte der Bieber besorgt, „a das würde mir aber leid tun, kommens setzen wir uns etwas“ -- und er führte die beiden Herren vor seine Hütte, die er sich aus Holz und Blättern und Schlingpflanzen gebaut hatte. Es war alles da, auch eine Hängematte aus Schlingpflanzen . „Meine Hunde schlafen im Freien“, sagte der Bieber, „Sie werden sich sicher wundern, wieso diese vielen vielen Hunde hier sind, und zwar alles Möpse. Ja das ist eine längere Geschichte, die lässt sich eigentlich nicht so von heut auf morgen erzählen. Also ich bin, wie gesagt, ein Schiffbrüchiger. So vor zirka vierzig Jahren, wie gesagt, wollte ich auswandern -- aus meiner Heimat, wie gesagt, weil ich strebsam war und dachte Gold zu finden jenseits der Meere, wie gesagt -- aber wie gesagt, ich fand kein Gold, sondern das Schiff mit dem ich fuhr, ging unter, wie gesagt, und alles ertrank, wie gesagt, und ich bin der einzige Ueberlebende, wie gesagt -- (hier dachte der Kavalier: wenn der Bieber jetzt noch einmal „wie gesagt“ sagt, dann haut er ihm eine herunter; aber der Bieber sagte nun kein einzigesmal mehr „wie gesagt“, und das ärgerte den Kavalier ) … Also fuhr der Bieber fort, „das Schiff war gross, wahrscheinlich gibt es aber jetzt noch viel grössere, und ich bewohnte eine Kabine. In der Nebenkabine wohnte ein junges Ehepaar, sie war eine Amerikanerin und hatte ihn geheiratet, er war Europäer, und da B
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SchlingpflanzenN ] SchlingpflanzenN ] BFreien“, sagteN ] Beinzigesmal mehrN ] Bund f KavalierN ] B„dasN ] B
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korrigiert aus: kommt“. korrigiert aus: Bier? korrigiert aus: Schnapps
herb[?] |.| [denn] korrigiert aus: ers (1) war fest entschlossen, den Bieber scharf zu beobachten -- und knurrte et-
was von unnötigen Komplikationen, die sich die Menschheit und das Leben selbst bereitet. (2) \[es] wurde [ihm ganz] schwach./ korrigiert aus: Schlingplanzen korrigiert aus: Schlinplanzen korrigiert aus: Freien, „sagte korrigiert aus: einzigesmalümehr [weil er Instinkt hatte] |und f Kavalier| korrigiert aus: das
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
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ging es jede Nacht hoch her, sogar schon Vormittags und Nachmittags. Manchmal hat das geklungen, wie eine Sirene, hehehe. “ denn so etwas hört man immer gerne. Aber der „Hehehe“, lachte Christian, Kavalier lachte noch nicht, denn er ärgerte sich noch immer über das „Wie gesagt“ . „Manchmal hat es geklungen, als krachte das Bett zusammen, dann wieder -mein Gott, was waren das alles für Geräusche, zuerst hab ich gedacht, dass da neben mir ein Alchimist fährt, der sich ein Laboratorium ein-얍gerichtet hat, und ich hab es schon dem Kapitän melden wollen, weil ich gedacht hab, da könnt was explodieren -aber da hab ich gehört, wie sie gehaucht hat „Ah Heinrich! Enrico!“ Und dieser Hauch war so stark, dass das Schiff leise gezittert hat und die Gläser im Speisesaal gewackelt haben. Und dann hauchte er „Ah Maud! Maud!“ Und dieser Hauch war so stark, dass die Gläser vom Tisch gefallen sind, so hat das Schiff gezittert, und der Steuermann ist umgefallen -- man hat überhaupt nicht gewusst, wovon das Schiff so gezittert hat, aber ich habe den Mund gehalten, denn ich bin ein guter Mensch und wollte keine junge Liebe stören. Die hört eh bald genug auf, dann könnens Jahre lang auf einem Kajak fahren mit so einem Paar, und können ruhig schreiben, da rührt sich nichteinmal ein Seismograph -- -- -- kurz und gut: ich hab das Geräusch sehr gern hehehe!“ „Hehehe“, lachte jetzt selbst der Kavalier und auch Christian lachte wieder: „Hehehe!“ „Aber der Kapitän hat sich nicht beruhigt und hat die Dampfkessel nachschauen lassen, aber es war alles in Ordnung. Und ich hab mir heimlich ein Loch in die Wand gebohrt und hab in der Nebenkabine zugesehen. Und das war auch in Ordnung. Könnt Euch vorstellen, was ich da alles gesehen habe, was für gewagte Angelegenheiten, hehehe!“ „Hehehe“, lachte der Kavalier und auch …….. „Ich hab schon zirka vier Nächte lang zugesehen, da hab ich plötzlich bemerkt, dass die Frau einen verkrüppelten kleinen Zehen gehabt hat, also das hätt mich schon sehr gestört, und ich konnt nicht zuschauen, so empfindsam bin ich in solchen Dingen -- wenn da nicht alles klappt, dann rühr ich kein Weib an! Aber der Mann schien den Zehen nicht bemerkt zu haben, oder zu übersehen, ich verstehe solche Leute nicht!“ „Zur Sache!“ meinte der Kavalier. B
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Aber f gesagt“N ] nicht f gesagt“N ] Bgesagt“.N ] BdannN ] BAlchimistN ] Bhehehe!“N ] Bjetzt selbstN ] Bwieder:N ] Bhehehe!“N ] BeinenN ]
\Aber f gesagt“/ nicht[.]|,| \denn f gesagt“/ korrigiert aus: gesagt“ korrigiert aus: dan gemeint ist: Alchemist korrigiert aus: hehehe! [wieder] |jetzt selbst| \wieder:/ korrigiert aus: hehehe! korrigiert aus: eine
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[der Kavalier] |Christian,|
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(1) und auch [Christian] der Kavalier lachte \etwas gepresst/ „Hehehe“, (2) [\aber der Kavalier {la}/]
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„Ja und dann eines Tages ging das Schiff unter, weil die beiden zuviel gerammelt haben, zuerst ist das Bett entzwei, dann der untere Raum , dann der Kesselraum, dann der Kiel, es hat ein riesiges Loch gerissen, und das Wasser ist von unten emporgeschossen, und das Schiff ist unterge-얍gangen mit Mann und Maus, hehehe! Nur ich hab mich gerettet, weil ich gerade schon zum Fenster hab hinausspringen wollen, weil ich seit dem verkrüppelten Zehen das Geräusch nichtmehr hören konnte, ich bin schon ganz nervös gewesen und ausser mir -- und das war meine Rettung! An einer Planke hielt ich mich fest und die Nacht war schwarz, da hörte ich neben mir etwas winseln. Es war ein Mops. Ich legte ihn auf das Brett und nach zwei Tagen wurden wir hier auf diese Insel verschlagen -- -- ich war gerettet, aber abgeschlossen von der Welt. Der Mops war eine Hündin, und zwar war sie trächtig, nach vierzehn Tagen hat sie geworfen und das ging dann immer so weiter, kreuz und quer, drunter und drüber -- die vielen Möpse sind alles Abstämmlinge einer Stammmutter. Ganze Generationen sind an mir vorbeigewandert, ich war gewissermassen ihr lieber Gott, jeder hat seinen Namen, oft haben sie miteinander gerauft, aber jetzt nehme ich jeden neugeborenen Mops sofort in Zucht, zuerst hat das natürlich nichts genutzt, wie sie gross waren sinds aufeinander los, aber jetzt -- mit der Zeit hat sich das anscheinend gelegt, wie bei den Menschen, sie haben sich zusammengerauft und jetzt sinds artig. Die letzten, die geboren worden sind, haben schon Männchen machen können und waren noch blind. Stellens Ihnen das vor, aber heutzutag ist das bei den Menschen, wenn das auch so leicht ging! So jetzt wissen Sie alles von mir, aber was hat sich denn auf der Welt ereignet?“ „Das lässt sich nicht so einfach schildern“, sagte der Kavalier. „Auf alle Fälle hat sich sehr vieles ereignet, zum Beispiel haben wir einen Weltkrieg gehabt --“ und er erzählte von Kriegen, Erdbeben, Verwüstungen, stürzenden Thronen, monarchistischen Republiken und republikanischen Monarchien, ermordeten Ministern, Grippe und Pest und von all den Dingen, die sich auf der Welt in vierzig Jahren halt so ereignen. Der Bieber hörte aufmerksam zu und sagte dann nur: „Ich habs mir ja gleich gedacht. Die Leut sind halt blöd und gescheiter werdens auch nicht. Aber einerlei! Kommens, nehmens mich mit! Ich möcht doch lieber wieder im Bett liegen, ein Bier trinken und so Sachen! Los! Auf!“ Und er stiess einen Pfiff aus und da kamen alles Möpse von überallher und 얍 scharten sich um ihn. „Allons!“ sagte der Bieber und setzte sich mit seinen Möpsen in Bewegung, Richtung Segelschiff. „Was machen Sie B
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korrigiert aus: Raun korrigiert aus: ihm (1) die Planke, (2) das Brett korrigiert aus: Tagge korrigiert aus: gewprfen korrigiert aus: generationen korrigiert aus: si korrigiert aus: Neugeborenen korrigiert aus: lä st korrigiert aus: gehabt -- u“ korrigiert aus: Republiken monarchistischen korrigiert aus: sie (1) ereignen (2) in f ereignen.
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
denn mit den Hunden?“ fragte der Kavalier. „ Die Hunde nehm ich mit“, sagte er. „Unmöglich! So schauns doch das Segelschiff, da haben doch höchstens wir Platz, aber die Hunde? Habens denn kein Augenmass? Das ist doch kein Lastdampfer, sondern ein Segelschiff!“ „Also gut!“ sagte der Bieber, „dann fahren wir ohne Hunde.“ Er stieg ein und das Schiff stach in die See. Und da standen sie nun alle am Ufer, alle Möpse und sahen dem Bieber nach. Und das brach dem Bieber das Herz. „Nein! Das halt ich nicht aus! Fahrts zu und glückliche Reise!“ Er sprang ins Wasser und schwamm zurück, und viele Möpse schwammen ihm entgegen und holten ihn im Triumphzug ab. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt der brave Bieber noch heute, inmitten seiner Möpse. B
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Zwei Tage später trafen sie ein seltsames grosses Schiff, das stand plötzlich vor ihnen, versperrte ihren Weg. Es war seltsam anzusehen. „Mir scheint, das ist ein Segelboot“, sagte Christian, „O nein , das ist ein Dampfboot. Ich hab mich geirrt, ein Motorboot.“ „Wenn mich nicht alles täuscht, dann hat es Schraubendampfer aber es hat auch hinten einen Propeller.“ Sie waren in einen fürchterlichen Orkan gekommen. Zuerst achteten sie nicht weiter auf den Orkan, spielten Karten -- aber dann wurde es ihnen schwummerlich, und Christian meinte, ob es nicht doch vielleicht etwas närrisches sei, da so zu fahren, aber der Kavalier lehnte entrüstet ab, und sagte, ohne Närrischkeit möcht er nicht leben, da tät er jetzt dort noch herumstehen bei den schweigsamen Matrosen. Und da gab ihm Christian wieder recht. Und kaum hatte er ihm recht gegeben, ebbte der Orkan ab, die Sonne drang durch die schwarzen Wolken und die See glättete sich und da sahen sie erst, dass ein grosses Schiff vor ihnen stand und ihren Weg versperrte. Es war ein tolles Leben auf dem Bord, und Christian schien, dass es ein grosses Gemisch sei. Und schon löste sich ein Boot von der Seite des Schiffes und fuhr auf sie zu. Es war ein Ruderboot, Motorboot, Dampfboot , Segelboot. Manche segelten, manche ruderten, manche heizten die Kessel und einer war da, der pfiff immer. Es fiel nur auf, dass keiner steuerte. Trotzdem erreichten sie das Segelboot und nun B
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korrigiert aus: Kavalier, korrigiert aus: die korrigiert aus: ei korrigiert aus: Hunde“. korrigiert aus: die Möpse viele korrigiert aus: nein“ korrigiert aus: Danpfboot“, (1) O nein, das ist ein Motorboot“. (2) Ich f Motorboot.“ korrigiert aus: Motorbott“ korrigiert aus: Propeller“. korrigiert aus: s ielten korrigiert aus: Sonn korrigiert aus: warvein korrigiert aus: dampfboot (1) manche Motor (2) manche f Kessel
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gings erst los: einer wollte ihm etwas berichten, aber alle redeten durcheinander in den verschiedensten Sprachen -- sie prügelten sich, endlich rammten sie das Segelboot, retteten dann die Beiden aus dem Wasser, indem alle hineinsprangen und brachten sie auf das grosse Schiff. Das Schiff hatte jetzt eine Flaggengala angelegt, und zwar alle Flaggen, ein얍 schliesslich der Pest und Choleraflagge. Als sie das Schiff betraten, wurden sie feierlich empfangen. Ein würdiger Greis trat auf sie zu und sagte nur „Majestät lässt bitten!“ Er ging voran und sie folgten ihm. Sie wurden in einen pompösen Saal geführt, aus allen Stilarten ein Mischmasch. Am Ende des Saales sass der König. „Willkommen!“ sagte er. „Willkommen in meinem Reiche! Wir haben Euch beobachtet schon seit Euerer Abfahrt und es hat uns besonders gefallen, anstatt nachzuforschen, warum die Matrosen schwiegen, und was die Matrosen denken, dass ihr dem Landesvater einen Brief geschrieben habt -- das war eine richtige Narretei, und das ist ganz in unserem Sinne! Ihr seid mir zwei prächtige Narren! Willkommen nochmals in meinem Reiche! Im Reiche der Narren! Ich bin Rohköstler, schon wegen der Erdstrahlen, aber saufen tu ich gerne!“ Und er überreichte ihnen eine Plakette, da stand droben: {Nit meint wir Narren sein allein.} Es war der Narrenkönig selber , der so sprach. Zur Zeit befand er sich auf einer Rundreise, besichtigte verschiedene befreundete Regierungen und besuchte Länder , eine offizielle Staatsvisite. Und das Schiff war natürlich ein Narrenschiff. Und das war es auch! Die Segel wurden nur gehisst, wenn es vor Anker lag oder wenn es windstill war, die Kessel wurden geheizt, bis sie fast platzten, aber die Maschine wurde nur angestellt, wenn der Kessel leer war. Der Motor lief auch nur, wenn sie kein Benzin hatten -- -- und rudern taten sie nur prinzipiell, wenn sie vor Anker lagen. Auch hatte das Schiff keinen Kompass. Es war in der Bibliothek nur ein Buch. Der Narrenkönig war an sich ein sehr vernünftiger Mann, aber er musste den Narren spielen, weil die Dynastie erblich war. Der Dulder auf dem Throne. Er hatte sich allmählich eine Philosophie zurechtgelegt, zuerst hasste er die Narren, aber jetzt liebte er sie. Das ging aber nicht von heut auf morgen. Wir können es uns schenken alle weiteren Narreteien hier zu berichten. Schaut doch nur aufmerksam zum Fenster hinaus oder Euch in den Spiegel, dann wisst Ihr was da los war. Der König liebte die Narren. Aber seine Philosophen sagten: „Es sind Narren!“ Und der König freute sich über die vielen Narrheiten. 얍 B
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\anstatt f denken,/ wa[s]|r|um Narren![“] \Ich f {allein.}/ Erdstrahlen[.]|,| \aber f gerne!“/ korrigiert aus: gerne! korrigiert aus: selbser korrigiert aus: Länder besuchte korrigiert aus: fas korrigiert aus: Das korrigiert aus: Buch korrigiert aus: wüsst \Aber f Narren!“/ korrigiert aus: viele
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Zwei Tage lang fuhren sie nun mit dem Narrenschiff und der Kavalier war in seinem Element. Er war beliebt, während Christian etwas scheu danebenstand. Aber auch auf dem Meer begegneten ihnen neue Gäste. So trafen sie Rekordschwimmer, Bauch, Brust, Seite, Unterseeboot (mit Nordpolbohrung) , Flieger ohne Motor, Wasserflugzeuge mit ganzen Narrenfamilien , Badewannen, und was es alles gibt. Viele der Narren wurden nach dem Empfang von König wieder gnädig entlassen, die bleiben wollten, konnten aber bleiben. Der Kavalier wollte bleiben. Es gefiel ihm. Aber Christian war etwas scheu, und er dachte, dass er eigentlich ein Kellner ist und ging zu dem Steuermann, der steuerte und fragte ihn, wohin er fahre, nach dem Kompass. Das ist gleich sagte der Steuermann, wir treffen überall Leute, die wir besuchen können. Und Christian erfuhr, dass das Schiff auch keinen Kompass hat, dafür hat es aber auch eine Bibliothek über die historische Bedeutung des Kompasses , sagte der Steuermann und zeigte ihm das Buch. Und er las daraus vor, während er steuerte -B
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Flaggengala. Am nächsten Tag liefen sie eine Stadt an, da stand das ganze Volk im Hafen, Kanonenschüsse wurden gewechselt und die Soldaten rückten aus und der kommandierende General hatte einen Orden vom Narrenkönig bekommen. Fein war das! Der Narrenkönig kam in Uniform und die sah aus, wie die anderen Uniformen auch. Und der General hielt eine kriegerische Rede und sagte, er und sein Land und der Narrenkönig seien auf ewig verbunden und in unzertrennlicher Freundschaft. Und dann zogen die Veteranen vorbei, und dann hielt der Zweite Vorsitzende eine Rede, denn das war der grössere Narr. Und abends gingen alle Narren in eine Festvorstellung. Aber noch in derselben Nacht zog der König wieder fort -- fort in ein anderes 얍 Land. Und wieder wiederholte sich alles, undsoweiter, es war eine reine Huldigungsfahrt. Und diesmal war es ein Präsident der Republik, der liess sich „Hoheit“ anreden, weil er Monarchist war. Und in einer anderen Stadt hatte er wichtige Konferenzen, über Handelsbeziehungen und Wirtschaft. Alles hörte auf sein Wort, er sprach sachlich und hatte eine enorme Fachkenntnis. B
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korrigiert aus: Nordpolbohrung) korrigiert aus: Narrenfakilien eingefügt korrigiert aus: ihn , korrigiert aus: Kompass, korrigiert aus: Kompases
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Unterseeboot f Nordpolbohrung)N ] Nordpolbohrung),N ] BNarrenfamilienN ] BwarN ] Bihn,N ] BKompass.N ] BKompassesN ] BFlaggengala.N ] BTagN ] Bder f GeneralN ] NarrenkönigN ] wie dieN ] BabendsN ] BfortN ] BeinN ] B
\Flaggengala./ korrigiert aus: Tagen (1) die Generäle (2) der f General korrigiert aus: Narrrenkönig korrigiert aus: wievdie korrigiert aus: abens
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Universitätsbesuch. (Die Arbeiter waren nicht dabei, auch wenn sie talentiert waren – war das eine Narretei!) Schule. Dombesuch. Predigt. Grundstein zu einem Siegesdenkmal. Autarkie Inseln. Die sperrten sich alle ab, die einen hatten nur Butter, auch am Kopf, die anderen die Oefen, die dritten die Kohlen. Und den Narrenkönig freute das alles sehr. Und weiter gings in neue Reiche. B
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Fabrikbesuch. (laufendes Band) Liebe. (Hochzeit der Prinzessin: und die Bauernhochzeit und die Kleinbürgerhochzeit) Stammtisch-Narren. B
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Die Pazifisten König: „Das sind gefährliche Narren, denn nur ihr Tun ist närrisch, aber sie haben in der Sache recht.“ Und er sah die Friedensfreunde an und sagte nur: „Va! Inbicille ! Cretin!“ Er sprach plötzlich französisch.
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Die Geburt eines Narren (eine Närrin: Soubrette) der Narrenkönig: (stiftet das Geld)
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Der Kavalier hatte sich schon ganz eingewöhnt. Er war in der Sammelzentrale des Königs beschäftigt -- Er sammelte Briefmarken, züchtete Goldfische und wollte Kinderspielzeuge erfinden, das war seine höchste Sehnsucht. Und so kamen sie eines Tages auch auf eine Insel und das war eine wunderschöne Insel. Hier schien die Sonne. Hier wurde in gesunder Luft nur Sport getrieben. Es war ein toller Betrieb. Leichtathletik , Fussball, Faustball, Boxen, Ringen, Radrennen -und einmal im Jahre stieg die Stafette, immerwährend ging eine Stafette durch das ganze Reich. Einer gab dem anderen den Stab, ohne Gegner, nur auf Verbesserung der Zeit. Aber keiner durfte aussetzen und alle waren glücklich und friedlich. -Der König wurde mit grossem Feiern empfangen, und die, die gerade nicht Stafette liefen, veranstalteten ein grosses Schauturnen. Und wie Schlamperl das sah, und wie das alles in Weiss war und vor Gesundheit strotzte, und Kollektiv, da hatte er plötzlich das Schiff dick -- er wollte an Land bleiben! Wollte sich einreihen, fort von B
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(Die f Narretei!)N ] Schule.N ] BGrundstein f Siegesdenkmal.N ] BFabrikbesuch f Geld)N ] BLiebe.N ] B„DasN ] Bdenn f recht.“N ] BInbicilleN ] Bfranzösisch.N ] BLeichtathletikN ] Bohne f Zeit.N ]
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\(Die f Narretei!)/ \Schule./ \Grundstein f Siegesdenkmal./ \Fabrikbesuch f Geld)/ [{ }] |Liebe.| \„/Das [sagte {der}] |denn f recht.“| gemeint ist: imbécile französisch [{ }] |.| korrigiert aus: Leichtatletik (1) jeder lief, und das Ziel war dort, wo der Start war. (2) \ohne f Zeit./ eingefügt
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den Narren, man muss irgendwo hingehören -- wie schön war hier alles, und wie nett die Mädchen! Besonders beim Turnen und bei ihren Tänzen. Der König stiftete einen Pokal und den bekam derjenige, der so lange lief, bis er ohnmächtig zusammenbrach. Ein Wanderpokal. Wenn dann der nächste ohnmächtig zusammenbrach, bekam ihn der. Es war ein Wanderpokal. Bei den grossen Feierlichkeiten schlich Schlamperl mal fort und traf etwas abseits ein Mädchen, das still und ernst für sich trainierte. Sie verrenkte sich ganz und das war lieblich anzuschauen. Plötzlich bemerkte ihn das Mädchen und lächelte freundlich. „Schau“, sagte sie, „was ich kann. Das hab ich heut gelernt -- und der Tag 얍 ist mir wieder ausgefüllt. Man muss innerlich wachsen, an seinem inneren Menschen arbeiten. Endlich kann ich mich jetzt so nachhinterbeugen, dass ich Dich mit dem Kopf zwischen meinen Beinen sehen kann .“ Und sie tat es. „Also das ist wunderbar“, sagte Schlamperl. „O das ist noch lange nichts“, sagte das Mädchen und war ehrgeizig. „Da gibt es noch ganz andere Sachen.“ Und machte ihm noch Sachen vor und Schlamperl wurde immer trauriger. „Und ich kann garnichts“, dachte er, „ich bin ein Narr, der zu nichts nutze ist, ausgeschaltet undsoweiter -- was bleibt mir noch zu tun übrig.“ „Was kannst denn Du?“ fragte ihn das Mädchen. „Boxen? Ringen? Stabhoch?“ „Ich kann nichts, höchstens schwimmen“, meinte Schlamperl, „ich bin ein Nichts, ich bin da mit dem König gekommen, wie gerne möchte ich das können, was Du kannst, wirklich, ich bin sehr traurig.“ „Dann fang halt an!“ „Nein, ich bin glaub ich schon zu alt dazu“, sagte er, und das sagen alle jungen Leute, die plötzlich merken, dass sie Zeit verloren haben. „Komm“, sagte das Mädchen, „wir werden sehen, ob Du zu alt bist, spring mal über mich, ich knie mich hin“, und er sprang über sie. „Gut“, sagte sie, „das ist die leichteste Uebung“, und dann druckte sie ihm das Genick zurück, „will mal sehen, ob Du gelenkig bist“, und das tat ihm weh, aber er gab keinen Ton von sich, biss sich auf die Lippen, denn er wollte sich nicht blamieren und ihre Hand, wie sie ihn so anfasste, tat ihm wohl. „O Du bist aber sehr talentiert“, sagte sie, „Wenn Du noch keine Uebung gemacht hast, na das werden wir schon kriegen.“ „Wirklich?“ fragte er und sah ihr tief in die Augen. „ Ja“, sagte sie und gab ihm einen Kuss. „Du gefällst mir“, sagte sie, und das war die Liebe auf den ersten Blick. – (Seine frühere Liebe in der Heimat) B
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korrigiert aus: dass (1) anschauen kann, (2) sehen kann korrigiert aus: Sachen“. (1) sagte er, (2) dachte er, korrigiert aus: übrig“. korrigiert aus: Mädchen korrigiert aus: Stabhoch?“ „Ich korrigiert aus: traurig“. korrigiert aus: Uebung“ korrigiert aus: bist“ korrigiert aus: kriegen“. korrigiert aus: Ja“
\– (Seine f Heimat)/
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Am abend, bevor der König das Schiff betrat, trat Schlamperl vor ihn hin und sagte: „König! Ich habe mich genau geprüft, ich bin kein Narr!“ N
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„Wie das?“ fragte der König. „Bist Du nicht in einem Segelboot über das Meer, hast Du nicht Deinem Landesvater geschrieben?“ „Ich bin mit dem Boot, weil ich kein Kellner werden wollte, das war eher Verzweiflung, wie Narrheit -- und dem Landesvater hab ich geschrieben, aber das war, mir scheint nur aus Ironie, aber dafür hat man kein Verständnis.“ „Richtig! Ich auch nicht! Man muss ein Herz haben! Ich hasse die Ironie! Ich halte Dich nicht! Keinen Menschen! Geh nur zu! Und denke aber freundlich an mich zurück und das alles hier, schimpf nicht darauf! Du wirst Dich vielleicht mal zurücksehnen, aber ob ich dann gerade in der Nähe bin? Und die anderen werden Dich vielleicht nicht verstehen -- einerlei, geh zu, habe die Ehre, Servus, Mein Kompliment, Grüss Gott, Lebe wohl, Küssdiehand, Gelobt sei Jesus Christus, Adieu, Gehorsamster Diener Guten Morgen Guten Tag Guten abend !“ Das war die grosse Narren-Begrüssung und das pflegte der König nur beim Abschied zu sagen . B
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Und Schlamperl sah dem Schiff nach, aber nur kurze Zeit, dann zog er sich um. Und bekam die erste Anweisung im Stafettenlauf. Jetzt hätt ich aber fast vergessen, kurz nur folgendes zu berichten: natürlich drehte es sich bei diesen Sporttreibenden nur um eine Oberschicht, die Unterschicht, das waren Sklaven -- nicht nur aktive, sondern auch passive Mitglieder, und das waren diejenigen, die Geld hatten. Das waren die fördernden Mitglieder, denen die Arena, die Stäbe, die Zielbänder und Stoppuhren gehörten. Diese Mitglieder betätigten sich nicht am Sport. Aber sie waren doch die Ersten. Es dauerte nicht lange, da war Schlamperl der gute Stafettenläufer , zuverlässig und trainiert -- und es dauerte nicht lange, da verlobte er sich mit dem Mädel. Sie hiess Lottchen und war die Tochter eines 얍 Funktionärs, der sich mal etwas zugezogen hat beim Sport, ein Beinbruch, jetzt hatte er eine Prothese. Er war sehr streng und sagte immer: „Ich hab mir eine Prothese zugezogen, mein Bein geopfert, nehmt Euch ein Beispiel an mir.“ B
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2 6 7–8 9 13 14 15 15 16 16 16 17 17 19 22 25 26 27 32
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sagte: „König!N ] dasN ] Baber f nurN ] BMan f haben!N ] B N] BGelobt f Adieu,N ] BGuten f abendN ] BabendN ] BwarN ] BdieN ] BNarren-BegrüssungN ] BAbschiedN ] BsagenN ] BUndN ] BSporttreibendenN ] BZielbänderN ] BSport. AberN ] BStafettenläuferN ] BEuchN ] B B
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korrigiert aus: sagte„König! korrigiert aus: dass
\aber f nur/ \Man f haben!/ [\Guten Morgen/ f [g]|G|uten abend[n]|,|]f x \Gelobt f Adieu,/ x Guten f abend korrigiert aus: abend, korrigiert aus: ware [das]|die| Narren-[Guten-Tag] |Begrüssung| A[{bs}]|bs|chie[{d}]|d| sag\e/n korrigiert aus: und korrigiert aus: Sportreibenden korrigiert aus: Ziel, bänder korrigiert aus: Sport.Aber korrigiert aus: Stafetenläufer korrigiert aus: Eich
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 21
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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Lesetext
Er hatte nichts gegen die Verlobung, nur wünschte er, dass Schlamperl höher als 3 meter 60 stabhochspringt . Er brachte es nur auf 3 meter 40. Zu seiner Tochter sagte er: „Bedenke, Du kannst doch keinen Mann nehmen, der so niedrig springt! Dein Grossvater sprang vier meter, ich selbst fünf und Dein Urgrossvater 18 meter -- und der Begründer unseres Geschlechtes 19 meter.“ Der Begründer war nämlich ein Aff und der konnte es sich leisten. Lottchen sah dies auch ein. „Obwohl ich Dich sehr liebe“, sagte sie zu Schlamperl, „ Du ich kann Dich nicht heiraten, wenn Du nicht so hoch springst, wir stammen von einem ab, der sprang 18 meter aus dem Stand.“ „Das wird halt ein Bock gewesen sein“, sagte Schlamperl und war verärgert. „Wie lang soll ich denn noch warten?“ „Ich kann mich Dir nicht geben, ohne vier meter“, sagte sie. Schlamperl fing sich nun an zu langweilen über die ganze Moral. Man kann es auch niemand zumuten, so Stafette zu laufen, ohne Erotik. Das ist klar und muss nicht weiter begründet werden. Es ist ferner klar, dass Schlamperl abschüssige Gedanken bekam. Er verwünschte den ganzen Stafettensport, aber er konnte nicht raus -das ganze hätte aufgehört, wenn einer rausspringt, und er hatte Verantwortungsgefühl, das wurde ihm ja zur Genüge eingebläut. Am nächsten Tage träumte er nun etwas ganz Wildes. Und dann stand er tags darauf im Walde, und wartete auf den Stafettenstab. Es war ein Frühlingstag, alle Käfer und Vögel liebten, es ging drunter und drüber, Summen und Brummen -- endlich kam die Ablösung, vorschriftsmässig übernahm er den Stab, aber seine Gedanken waren schon angefault und angestachelt, er 얍 achtete nichtmehr auf den Weg und plötzlich hatte er sich verirrt -- er bemerkte es aber erst, als er vor einem Schloss stand. Mitten in einem herrlichen Park. Da waren Springbrunnen und Schwäne glitten darüber. Auf einer Bank sass eine alte Frau in einem schönen Kleid. Es war dies ein förderndes Mitglied. Sie las aus einem Gebetbuch und das hatte einen unanständigen Umschlag. „Ach“, sagte sie zu Schlamperl, „ich hab Dich erwartet.“ Und die Brunnenfiguren waren herrlich und schön. Nymphen und es war eine Pracht. Und mitten im Garten stand ein Mädchen und das sagte zu ihm: „A der Herr Schlamperl! Schon wieder einer! Mit der Stafette! Der Letzte der sich zu uns verirrt hat, war vor drei Jahren! Na das wird ja jetzt wieder eine schöne Aufregung geben, bei denen!“ Und sie lachte, und Schlamperl stand vor ihr da, und sie nahm ihm den Stab ab. „Gib ihn mir“, sagte sie, „ich sammele dergleichen.“ B
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
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stabhochspringtN ] aufN ] BGeschlechtesN ] Bmeter.“N ] BDu ichN ] Bab,N ] BStand.“N ] BStafetteN ] B N] Bund f Stafettenstab.N ]
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VögelN ] kamN ] Berwartet.“N ] Bdergleichen.“N ] B
korrigiert aus: Stabhochspringt eingefügt korrigiert aus: Gesc hlechtes korrigiert aus: meter. “ korrigiert aus: Du ich korrigiert aus: ab , korrigiert aus: Stand“. korrigiert aus: Stafete gestrichen: sich (1) mit (2) und f Stafettenstab. korrigiert aus: Vögle korrigiert aus: kan korrigiert aus: erwartet“. korrigiert aus: dergleichen“.
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 32
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
„Der Bräutigam ist da!“ rief sie, und nun gings los. Ueberall her kamen Mädchen und winkten ihm zu und eine jede sah ihn an, und jede konnte etwas anderes, aber jede konnte auch alles, und alle miteinander konnten sie alles. Und er wurde in den Palast geleitet und da stand die Braut. Und das war etwas unbeschreiblich herrliches. Eine Mischung von Feinheit und Gemeinheit, von bodenloser Ordinärheit und Zartheit. „Komm“, sagte die Braut, „ ich hab Dich erwartet, Teuerster, ich wusste es, dass die Macht der Liebe stärker ist als der ihre Stafetten! Jetzt hab ich schon viele Millionen Stafettenstäbe, komm, aber vorher wollen wir noch etwas essen, und richtig saufen!“ Das Mahl begann. Es wurde Nacht und von nun ab war es ständig Nacht. „Wo bin ich?“ fragte er. Er hatte schon vergessen, woher er kam. „Bei mir“, sagte sie, „der Sage nach bist Du im Venusberg, aber das stimmt nicht, das ist eine Sage, ich bin die Venus, aber das stimmt auch nicht, und wenn Du einmal Venus zu mir sagts, dann kriegst eine aufs Maul, Du Hund! Du Liebster, ich liebe Dich und werde Dich küssen -- und wenn Du ganz bei mir bist, dann sag mir: Du Hur Du dreckige!“ B
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\Textverlust\
얍
so fragende Augen hatte, derweil war er nur unbefriedigt und das tat ihnen wohl. Und er versuchte sich das Bild zu rekonstruieren, und da bemerkte er, dass das doch in keiner Weise das Lottchen war, sondern ein ganz anderes Gesicht. Ein Gesicht , fein und zart und verlogen und voll hemmungsloser Ordinärheit. Und Zerstörung und Aufbau. Und er entschloss sich, vor lauter Liebe zu sterben. Er war sich nicht klar darüber, auf welche Art. Endlich sagte er sich, er werde sich erhängen. Er knüpfte einen Knoten und legte sich ihn um den Hals. Aber da erschien ihm die Frau, nach der er sich sehnte -- und sie kam auf ihn zu, und es schien ihm, als sei das die Göttin der Liebe selbst. „Ich bin der Tod“, sagte sie und wollte ihn umarmen und küssen, aber da stiess er sie von sich -- und da war er draussen. Und das war eine arge Sache. Wer nämlich da heraussen ist, dem geht es schlecht. War zuerst noch Sommer, so war es jetzt Winter, war er zuerst in Gesellschaft, so war er jetzt allein. So grenzenlos allein. Und es gab keinen Weg zurück in das Land der Stafettenläufer. Es wehte ein kalter Wind, als er den Venusberg verliess. Eis und Sturm und die Wege waren tief verschneit und die Nacht rabenschwarz, so dass man über jede Wurzel stolperte. Eine grenzenlose Leere war in ihm, und seine Seele knurrte, als wäre sie sein Magen. Etwas hatte er verloren, etwas war fort aus ihm, der Glaube an die Allmacht der Liebe. Leere in ihm, aber trotzdem ein nicht unangenehmes Gefühl, nur B
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ihnN ] ichN ] Bküssen --N ] BGesicht.N ] BGesichtN ] B N]
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sieN ] war f draussen.N ] war f jetztN ] LeereN ]
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korrigiert aus: ihm korrigiert aus: Ich korrigiert aus: küssen-korrigiert aus: Gesicht korrigiert aus: Geicht
[Und er fand sie nirgends und fing nun an vor lauter Verzweiflung zu saufen. Um zu vergessen, und er soff und soff, aber es war halt alles nur Betäubung. Eines abends sass er wieder im Wirtshaus, betrunken, aber traurig.] korrigiert aus: si (1) wurde er aus dem Venusberg (2) war f draussen. korrigiert aus: jetzt war er korrigiert aus: leere
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 23
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
sonderbar zerrissen . Er fühlte es, wie seine Persönlichkeit auseinanderstrebt. Er ging nach verschiedenen Seiten, und blieb immer er, an jedem Kreuzweg teilte er sich, ging ein Schlamperl von ihm fort, meist ohne Adieu zu sagen, oft hat er sogar nur geschimpft. Endlich leuchtete vor ihm ein Licht auf, ein Wirtshaus, und er trat ein. Es war zu얍 erst eine schlechte ungelüftete Luft, aber es war warm und es waren Leute drinnen. Er trank mit. Betrank sich. Vergass, und er kümmerte sich nur um die Leute, wenn sie ihn im Trinken störten. Und allmählich traten die Schlamperls wieder ein, die ihn verlassen hatten, setzten sich zu ihm hin und tranken mit -- und als alle Schlamperl wieder da waren, hei war das schön! Und prächtig! Und der Wirt war freundlich und brachte immer neuen Wein und Bier und Schnaps . Aber dann ging es an das Zahlen und das war eine faule Angelegenheit. Woher sollte er das Geld haben? Er sah sich um: in der Ecke spielten Leute Karten. Er spielte mit, und bemerkte, dass man falsch spielen kann -- wie leicht kann man das Glück korrigieren! Und er soff weiter! Aber jetzt nur mehr Wein! Schweren Burgunder und alten Frankenwein, Steinwein! Aber bald hatten seine Partner nichtsmehr, wollten nichtmehr spielen, aber zur Zeche langte es nicht, und da hat er sie bestohlen. Und jetzt gabs nur Sekt! Und Bowlen aus den besten Gläsern und die Gläser zerbrach er! B
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Lesetext
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 24
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Und je mehr er soff und je feineres, so verwandelte sich auch der Raum; war es zuerst eine Wirtsstube, so war es jetzt ein prächtiger Saal mit schönen Damen -- und da erwachte in ihm wieder die Sehnsucht und er wurde sehr traurig und wollte sterben. 25
Als der Morgen graute, sah er vor sich Männer, die fällten Bäume. „Wir fällen hier die Bäume hier“, sagten sie, „um eine Strasse zu bauen und das Holz bringen wir dann im Frühjahr in die Stadt und verkaufen es. “ „Wir arbeiten“, sagten sie, „und wenn Du willst kannst Du mitarbeiten, Du siehst aber sehr schwach und herabgekommen aus.“ Er arbeitete mit. Anfangs konnte er die Axt kaum heben und wurde sehr bald müde -- aber dann kamen wieder all die Schlamperls und die ar-얍beiteten mit, begeistert, und bald schaffte er mehr wie die anderen. Alle Schlamperls waren wieder da, ja sogar fremde, die er bisher noch garnicht kannte. Und im Frühjahr ging er hinab in die Stadt. Da verkaufte er das Holz in einer Wirtschaft. Die Wirtstochter war schön und reinlich gewaschen und duftetet aber sie hatte X-Beine und eine unreine Haut. Sie kaufte ihm das Holz ab, denn sie hatte einen grossen Herd und ein gutes Geschäft, mit vielen Gästen, weil sie gut kochen B
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1 1 2 9 12 20 27 28 36–37
B B
zerrissenN ] seine PersönlichkeitN ]
KreuzwegN ] setztenN ] BSchnapsN ] B N] B„umN ] Bes.N ] Bsie f Haut.N ] B B
korrigiert aus: zerissen (1) er , (2) seine Persönlichkeit korrigiert aus: K reuzweg korrigiert aus: setz ten korrigiert aus: Schnapps
[Aber da langte es wieder nicht zum Zahlen] korrigiert aus: um korrigiert aus: es (1) ganz anders, wie seine Bisherigen. (2) \sie f Haut./
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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Lesetext
konnte. Aber sie hatte schwarze Kleider an, denn ihr Vater war erst vor kurzem gestorben. Er hatte sich hinter der Ofenbank den Winter über zu Tode gesoffen. Als Schlamperl den sauberen Raum sah, sagte er: „Eigentlich bin ich Kellner“, und es entfuhr ihm das unwillkürlich. Er bekam plötzlich Sehnsucht, wie seinerzeit in seiner Knabenzeit. Das wäre das Glück, dachte er, das zu arbeiten, was einem Freude macht! Und sie sagte: „Das trifft sich gut, denn ich hatte einen Trauerfall in der Familie und der Tod hat eine Bresche geschlagen, und jetzt fehlt mir eine Kraft“, und er wurde Kellner, sie engagierte ihn, denn er gefiel ihr. Und bald vertauschte sie die Trauerkleider mit dem Brautkleid , das heisst bald stand er mit seinem Kellnerfrack vor dem Altar und dem Standesbeamten. Weder er, noch sie lebten nach den Gesetzen der Religion, aber es schadet nichts, vor den Herrgott hinzutreten und zu sagen: „Lieber Gott, wir beide haben uns lieb. Ich bin verliebt.“ Er wurde ein braver Bürger und das Glück der Zufriedenheit strahlte zum Fenster hinein. Er beugte sich vor der Autorität, denn es ging ihm gut, und die Autorität kam jeden Tag zu ihm zu Gast. Sie nickte ihm freundlich und herablassend zu, klopfte ihm auf die Schultern und gab ihm gute Ratschläge. Bald kam der Storch. Und seine Frau liebte er. Er liebte sie bürgerlich, aber richtig. Und sie gebar ihm einen Sohn, den nannte er Ludwig. Und er 얍 liess ihn taufen, und ging mit seiner Frau auf das Grab ihrer Eltern. Die Autorität war Taufpate. Und er war in verschiedenen Vereinen massgebend und mitbestimmend. Der alte „junge“ Schlamperl war tot, die Wunden vernarbt -- bei jeder Station, Kellner, Hochzeit, Geburt, Kind, Taufe, erster Vorsitzender, usw. starb etwas vom alten Schlamperl und der neue war da. Er hatte sich gehäutet. Es war eine brave Haut, etwas monoton, aber glücklich. Aber die „jungen“ Schlamperls waren noch nicht tot. Sie sassen nur in der Ecke und waren schlechter Stimmung, aber nicht hoffnungslos. Und sahen zu, wie sich die neuen Schlamperl breitmachten. Manchmal wagte sich einer nach vorne -- das war: wenn ein richtiger Saufbold kam oder ein loses Mädchen, aber husch! Schon hatte er von dem guten Schlamperl einen Stoss erhalten, so dass er in seine Ecke flog. So sehr beherrschten ihn die Guten. Es war nicht zu beschreiben. Trotzdem gaben die bösen Schlamperls das Rennen nicht auf. Und vielleicht hätten sie doch mal wieder die Oberhand erringen können, aber da geschah etwas, was ganz ausserhalb ihrer Einflusssphäre lag, und dazu muss ich jetzt noch eine Randbemerkung machen. In der Stadt, in der Schlamperl servierte, sass ein König, und daher war die Stadt natürlich Haupt- und Residenzstadt. Der König war sehr für die Musen eingenommen, hatte eine herrliche Oper, zahlte aus seiner Privatschatulle drauf und war überB
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
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ihmN ] der TodN ] Bsie f BrautkleidN ] B B
denN ] Bald f Storch.N ] BdenN ] BRandbemerkungN ] BeinN ] B B
korrigiert aus: im korrigiert aus: der Tod (1) er den Kellnerfrack (2) \sie f Brautkleid/ korrigiert aus: dem
\Bald f Storch./ korrigiert aus: denn korrigiert aus: Randbemerkungen ein[{\e/}]
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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Lesetext
haupt ein gemütlicher Mensch. Alles, was er ungemütliches hätte machen sollen, überliess er seinen Ministern, so gemütlich war er. Diese Minister waren rechtschaffene Leute, klug und intelligent, aber leider fehlte ihnen etwas: es waren eigentlich hemmungslose Egoisten, aber sie wussten es nicht, Schurken und Verbrecher, und sie wussten es nicht, deshalb kann man ihnen schwer einen Vorwurf machen -- es wäre 얍 allerdings besser gewesen, wenn sie keine Dummköpfe gewesen wären, wenn sie es gewusst hätten. Sie hätten zwar trotzdem ihre Schurkereien weiter vollführt, aber wenigstens hätten sie nicht soviel Dummheiten gemacht. Nun konnte man schon seit einiger Zeit, seit Jahren und besonders im letzten Jahr in den Zeitungen immer wieder und wieder Nachrichten lesen, über die Wilden -- das waren richtige Wilde, Menschenfresser, die wohnten jenseits der Grenze, hinter den Bergen, und es war schauerlich, was man da von den Wilden las an Greueln! Blutschande und so stand auf der Tagesordnung! Man entrüstete sich überall, im Bett, an den Stammtischen, in den Fabriken und die Bauern haben sich bekreuzigt, wenn man von den Wilden sprach. In grauer Vorzeit sollen die Wilden mal eingebrochen sein, und alles verwüstet -aber es gab darüber nur mündliche Ueberlieferungen. Früher hat mal ein Professor es herausbekommen, dass damals der König das Land verwüstet hat, weil er verrückt gewesen ist, aber der ist gleich verbrannt worden -- auf alle Fälle: man wusste nichts Konkretes über die Wilden, es waren alles nur Sagen und Legenden. Manchmal kam zwar einer und der sagte: „Die Wilden sind garnicht so. Es sind anständige Menschen. Allerdings tragen sie Federn am Hintern.“ Aber das war Landesverrat . Und wieder einzelne Verwegene sagten: „Die Wilden haben einen wunderbaren Schmuck! Und die Minister möchten nur den Schmuck!“ aber die wurden von den Leuten mit Verachtung bestraft und erschlagen, weil jeder der Leute heimlich hoffte, so einen Schmuck bei einem Krieg mal selber zu erhalten. Auch Schlamperl las die Sachen über die Wilden und glaubte sie. Besonders seine Frau entrüstete sich, und malte sich aus, wie das wär, wenn ein Wilder sie vergewaltigen würde, und dann sagte sie: „Ich denke an unser Kind. Ich habe Angst um unser Kind.“ Und er sagte: „Die Wilden kommen nicht, solang ich da bin“, gab ihr einen Kuss und bestieg sie. Und dabei kamen ihr wieder so Gedanken an die Wilden. Und eines Tages klebten Plakate an den Wänden: „Krieg! Die Wilden wollen uns 얍 unseren Gott nehmen und das lassen wir uns nicht bieten! Krieg!“ Und die Minister hielten Reden , aus jedem Fenster eine und sagten der Krieg erhebe, und der Kriegsminister sagte: „Sagen Sie dem lieben Gott: wir werden ihn beschützen!“ Und der König zeigte sich auf seinem Balkon und alles schrie „Hurrah“! und geriet in einen Taumel der Begeisterung. Und alles wurde Soldat. Auch Schlamperl. Aber zuerst mussten sie die Sachen noch vorbereiten und die Waffen wurden geschmiedet. Die Waffenfabriken zögerten noch etwas, denn sie lieferten auch den Wilden die Waffen. Sie konnten also nicht verlieren. Gewannen die Wilden, wars recht, gewannen die Eigenen, wars noch B
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
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1 23–24 31 35 42–365,1
gemütlicherN ] war LandesverratN ] Bsagte:N ] BRedenN ] Bnoch rechterN ] B B
korrigiert aus: gemütöicher korrigiert aus: warbLandesverrat korrigiert aus: sagte korrigiert aus: reden (1) auch recht (2) noch rechter
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 28
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
rechter , denn sie bekamen dann noch den Schmuck. Der Schmuck war natürlich Staatseigentum und kam allen zu gute. Aus dem Schmuck wurden wieder Kanonen. Nur der Unterrichtsminister wusste, dass es gegen die Wilden um den Schmuck ging, der Kriegsminister glaubte selber an den gefährdeten lieben Gott, so blöd war er. Und die Offiziere freuten sich, und die Unteroffiziere auch. Sie wurden alle befördert. Und die leeren Stellen durch besonders taugliche Leute besetzt , die übrigen mussten exerzieren. Jeder tat das aber gerne, nur einzelne nicht, aber das waren eben faule Querköpfe, und die wurden eingesperrt. Und die anderen sahen voll Entrüstung auf sie, aber nur anfangs, dann bemitleideten sie sie und dann sagten sie, die haben eigentlich recht. Aber sie dachten es nur, und trauten es sich noch nicht zu sagen. Sie dachten es sich als sie in die Berge zogen. Eines abends stand Schlamperl als Soldat Posten vor dem Hause des Königs. Und da hörte er auf dem Balkon, hinter dem ein Kronrat tagte, wie der Kriegsminister herauskam und zum Waffenfabrikanten sagte: „Sie liefern ja auch den Wilden Waffen, Sie gemeiner Schuft , und wenn Sie mich bei dem Geschäft nicht mitnehmen, dann sag ichs dem König. Der ist ein Tepp und glaubt eh alles!“ Zuerst dachte Schlamperl, er hätte sich verhört, aber dann sagte es der Unter얍 richtsminister nocheinmal, und nun wusste er es. Und es tauchten Jugenderinnerungen auf, sein Vater, den er nicht erinnerte und er sagte, das ist ja furchtbar. Und verliess seinen Posten und ging nachhaus. Seine Frau lag schon im Bette und schlief. Sie wachte auf und sah ihn überrascht an: „ Wo kommst Du her?“ „Ich tu nicht mit, grad hab ichs gehört, und die Wilden essen Menschen, aber was geht das uns an.“ Und der Schmuck, den Du mir mitbringen wolltest? Wir können auch ohne dem leben. Und unseren Gott wollen sie uns nehmen! Du irrst. Ich irre nicht. Und denk an unser Kind! Schlamperl trat ans Bett und betrachtete sein Kind. Das lag da und schlief. Er streichelte es und dann sagte er wieder „Ich bleibe. Ich geh nicht mit.“ Aber da kamen Soldaten, man hatte es bemerkt, dass er nicht Posten stand, bei der Ablösung -- und verhafteten ihn. Sie sperrten ihn ein, zuerst schlugen sie ihn, dann stellten sie ihn vors Kriegsgericht. Und verurteilten ihn zum Tode. Und seine Frau liess sich scheiden, denn sie wollte mit einem Feigling nichts zu tun haben. Und das Kind wurde ihr zugesprochen. Aber der König wollte das Todesurteil nicht unterschreiben, denn er war ein belletristischer Mensch, und verwandelte die Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus, dunkel und Brot und Wasser. N
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demN ] befördert. UndN ] BbesetztN ] Bgemeiner SchuftN ] BKönig.N ] BDer f alles!“N ]
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WoN ] an.“N ] BmirN ] BTodesurteilN ] B
korrigiert aus: Dem korrigiert aus: befördert. Und eingefügt korrigiert aus: Schuft gemeiner korrigiert aus: König, (1) der glaubt, ah alles!“ (2) Der f alles!“ korrigiert aus: wo korrigiert aus: an“. korrigiert aus: mit korrigiert aus: Todesrteil
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Und die Frau heiratete einen Unteroffizier und der adoptierte Schlamperls Kind. Aber das Kind starb an Unterernährung. Und der Unteroffizier dachte, es ist besser, dass es hin ist, was kann von so einem Schlamperl schon werden? Und er machte der Frau ein neues Kind. Und während er im Dunkeln sass, schien draussen die Sonne. Sie schien auf Schlachtfelder, und auf den Sieg der Wilden -- und da gab es Revolution. Die Minister verjagt und den König, aber man erschoss nur einzelne kleine Beamte. Der Kriegsminister floh mit General und Pack. Als Schlamperl zum Tode verurteilt wurde, da hörte er ein feines Stimmchen, da 얍 stand ein Männchen neben ihm, ein altes Weiblein, und die legte die Finger auf die Lippen, und er steckte sie in die Tasche. Und der Schlamperl erzählte ihr, dass er es weiss mit dem Krieg und dass er deshalb sterben müsse. Und da ging das Weiblein durch das Schlüsselloch hinaus und ging überall hin, zu den Soldaten, zu den Weibern, zu den alten Müttern und den Arbeitern, und sagte, was ihr der Schlamperl erzählte. Und während sie so erzählte, wurde das Weiblein immer grösser und jünger und schöner -- es war die Revolution. „Nur weiter Kinder! Weiter!“ Und sie sagte allen: „Holt mir den Schlamperl heraus! Befreit ihn!“ -- -- Und da zogen alle hin und befreiten den Schlamperl. B
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Aber die Wilden kamen nun ins Land und wollten Tribute haben. Und da sagten nun die Minister: Seht Ihr, da kommen nun die Wilden! Und Das Weiblein sagte: Erschlagt sie, die Minister! Denn sie sind schuld, dass die Wilden kommen! Aber das Weiblein wurde zwar nicht erschlagen -- sie wurde wieder klein, und sie geht durch das Land. Manche haben sie schon wieder gehört. Kurz, es war Revolution -- aber eigentlich sah das nur so aus, eigentlich war das 얍 ja nur ein Zusammenbruch der herrschenden Gewalten, denn die Wilden hatten gewonnen. Sie hatten viele gefangen genommen, und aufgefressen. Sieben Jahre hat der Krieg gedauert. Und im ersten Jahre war die Begeisterung noch riesengross. Im zweiten schon weniger. Und da waren schon viele da, die hatten keine Beine. Und es waren auch viele da, die haben den Wilden die Beine abgeschnitten. Und im dritten Jahr, da sagten alle Herrschenden und Wohlgesinnten: es ist ein heiliger Krieg. Und im vierten Jahre haben sie gesiegt, und im fünften Jahre stellte es sich heraus, dass sie nicht gesiegt haben. Im sechsten nichts zum fressen und im siebenten, da war es aus. Da gab es Generäle, die wollten akkurat am Namenstage der Königin eine Festung erobern, aber die Wilden dachten anders, und es ging kaputt . Ordensjäger. Paralytiker als Generäle. Und die es ernst meinten, die sind gefallen, unter den Militärs, und nun blieb das Pack zurück. Ein feiges Pack, das davon lief. B
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heraus!N ] Wilden! UndN ] BMinister! DennN ] BkaputtN ] B B
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korrigiert aus: heraus!“ korrigiert aus: Wilden! Und korrigiert aus: Minister! Denn korrigiert aus: kaput
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS3/A5 (Korrekturschicht)
Und unter den Soldaten, da war einer, man kannte seinen Namen nicht, der sagte plötzlich gegen den Krieg, er wurde Kriegsminister und sagte: „Ich möchte keine Soldaten mehr sehen!“ Ewiger Friede! Und da war einer, der sagte: ja. Aber zuerst müssen die Minister daran glauben und alle, die den Krieg machten. Nun hat aber der Krieg lange gedauert, und der Munitionsfabrikant war schon im dritten Jahr gestorben, und sein Sohn sagte: Meine Herren! Ich kann nichts dafür. Und sie appellierten an die Menschlichkeit. Aber anfangs nützte das nicht viel. Und einer sagte: Wenn wir die leben lassen, haben wir bald wieder einen Krieg. Nun war Schlamperl sieben Jahre gesessen und wurde von der Revolution befreit. 얍 In den sieben Jahren war es dunkel und es wurde ihm vieles klar. So zum Beispiel, dass man sich rächen muss, helfen muss, dass man sich um alle kümmern muss. Und dann aber: Ihr habt mich sieben Jahre sitzen lassen, wo wart Ihr? Und sie konnten ihm nichts darauf erwidern . Und jetzt zog Schlamperl an der Spitze der Revolutionäre in das Schloss -- und da wurden die Minister und der König so klein, dass sie sie zuerst garnicht fanden. Endlich stiess einer einen Stuhl um und rief: „Da sind sie ja alle! Da stecken sie ja! Soll ich Euch zertreten?“ Aber die winselten nur erbärmlich, fielen in die Knie und schworen bei Stein und Bein, dass sie von nun ab selbst Revolutionäre sein wollten! „Seht wie klein wir sind, was können wir Euch denn schon gefährlich werden? Ein Tritt von Euch und wir sind hin!“ Aber Schlamperl sagte: „Schlagt sie tot!“ Aber die anderen sagten, sie seien wirklich zu klein, und das besonders neben ihnen, und es wäre unter ihrer Würde -- und sagten Schlamperl das, aber der sagte: „Das ist mir gleich! Weg müssen sie !“ Aber sie hielten Schlamperl zurück und da trat ein kleiner Mann hervor und sagte: „Wenn Ihr sie nicht zertretet, dann werden sie wieder gross!“ Aber er wurde ausgelacht, und als er sagte, sie seien Idioten, wurde er verprügelt. Er war nicht viel grösser wie der Unterrichtsminister und der ganze Hofstaat, aber sie verprügelten ihn doch. Und als sie genauer hinsahen war er tot. Aber Schlamperl sagte: Ich bin sieben Jahre gesessen -- und sie brauchten ihn, denn er war beliebt und berühmt. Und sie sagten ihm, sei unser Minister. Und als Schlamperl sich unschlüssig umsah, wusste er nicht, was er darauf erwidern sollte, und da sah er , dass ihm der Kriegsminister zublinzelt. Er wollte schon fragen, was er wolle, aber der Kriegsminister legte den Finger auf die Lippen, es sein ein grosses Geheimnis. Und da packte ihn Schlamperl und steckte ihn rasch in seine Tasche, damit ihn die anderen nicht sehen, dass er mit dem Kriegsminister redet. B
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müssenN ] appelliertenN ] BerwidernN ] BSchloss --N ] BsieN ] BundN ] BerwidernN ] Bda f erN ] B B
korrigiert aus: muss korrigiert aus: appelierten korrigiert aus: erwiedern korrigiert aus: Schloss,-korrigiert aus: Sie korrigiert aus: un korrigiert aus: erwiedern (1) sagt (2) da f er
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ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 31
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS4 (Korrekturschicht)
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얍 Im Venusberg ging es natürlich ziemlich eindeutig und hemmungslos zu, jeder machte was er wollte und all dieses Wollen war in einer ständigen Entwicklung begriffen. So war da zum Beispiel ein Postsparkassenbeamter, der hatte es immer schon mit den jungen Schulmädchen -- zuerst mit den vierzehnjährigen, dann mit den dreizehnjährigen und dann Bentwickelte sich das so weiterN bis Bzehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vierN -- im nächsten Jahr wird er bei den vierjährigen gelandet sein, wenn ihn inzwischen nicht der Teufel geholt hat. Denn niemand lebt ungestraft seinen Trieben, und im Venusberg erst recht nicht, weil wir halt alle mal sterben müssen.
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Seine Stufen (Sexuelle Verlotterung) B
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gings weiter, entwickelte f weiter sechs zehn f vier \Seine f Verlotterung)/ (1) (2) (1) (2)
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ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 33
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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WP17/TS5/A1 (Korrekturschicht)
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얍 Es war einmal ein junger Mensch, der hiess Ludwig Schlamperl und war wie alle anderen jungen Menschen, die eben die Schule verlassen. Er beherrschte das kleine und das grosse Einmaleins, konnte lesen und schreiben, zwar nicht B N immer fehlerfrei, jedoch fliessend. „Was willst Du werden?“ fragte ihn sein Vormund denn er hatte keine Eltern mehr. Sein Vater war nämlich gefallen, draussen im BKriege,N und Bda hatN die Mutter B N nichtmehr BschlafenN können vor lauter Herzweh. B N BAberN eines Nachts hat es an das Fenster geklopft und B N B N der BVaterN BistN Bin der TüreN Bgestanden,N aber die Mutter hat ihn nicht gleich erkannt, weil er ganz grün im Gesicht gewesen ist. „Ich bin es“, hat der Vater gesagt, „BundN Du sollst nichtmehr weinen, liebe BFrau.“N Und am BnächstenN Morgen B N hat es die Mutter gleich B N der Nachbarin erzählt, wie herrlich der Vater heut Nacht gewesen Bist.N Und die Nachbarin hat es gleich BbrühwarmN Bweitererzählt,N BaberN Bdie Mutter hat nur glücklich gelächeltN BundN alle BLeut haben sieN scheu angeschaut B N B N. „Sie ist verrückt“, haben die Leute gesagt und dann ist die Mutter in ein Haus gebracht worden, hinter einer hohen Mauer. Aber auch dort hat sie der Vater besucht, immer öfter ist er gekommen, BbisN er sie BendlichN mit Bgenommen B hatN zu sich.N \Abbruch der Bearbeitung\
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gestrichen: i
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] Kriege,N ] Bda hatN ] B N] BschlafenN ] B N] BAberN ] B N] B N] BVaterN ] BistN ] Bin f TüreN ] Bgestanden,N ] BundN ] BFrau.“N ] BnächstenN ] B N] B N] Bist.N ] BbrühwarmN ] Bweitererzählt,N ] BaberN ] Bdie f gelächeltN ] BundN ] BLeut f sieN ] B N] B N] BbisN ] BendlichN ] Bgenommen f sichN ] BhatN ]
Kriege\,/ \da hat/ [hat] korrigiert aus: sch lafen
[Die Nacht ist ihr immer endloser geworden.] [Aber] [|Und|] |Aber| [das ist der Vater gewesen, und] [da ist] Vate[{ }]|r| \ist/ korrigiert aus: [draussen] [|in f Türe|] gestanden\,/ \und/ korrigiert aus: Frau“. korrigiert aus: nächten [da] [brühwarm] ist[,]|.| [und dass er es ihr versprochen hätte, je de Nacht wiederzukommen.] \brühwarm/ korrigiert aus: we\i/tererählt\,/ [und] |aber| x die f gelächelt [dann haben sie] |und| \Leut f sie/ gestrichen: aber d [die f gelächelt]f x [und zuletzt hat] |bis| \endlich/ \genommen f sich/ \hat/
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ÖLA 3/W 344 – BS 61 c [2], Bl. 38
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
얍
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WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
I. Es war einmal ein junger Mensch, der hiess Ludwig Schlamperl und war wie alle anderen jungen Menschen, die eben die Schule verlassen. Er beherrschte das kleine und das grosse Einmaleins, konnte lesen und schreiben, zwar nicht immer fehlerfrei, jedoch fliessend. „Was willst Du werden?“ fragte ihn sein Vormund, denn er hatte keine Eltern mehr. Sein Vater war nämlich gefallen, draussen im Kriege, und da hat die Mutter nichtmehr schlafen können vor lauter Herzweh. Aber eines Nachts hat es an das Fenster geklopft und der Vater ist in der Türe gestanden, doch die Mutter hat ihn nicht gleich erkannt, weil er ganz grün im Gesicht gewesen ist. „Ich bin es“, hat der Vater gesagt, „und Du sollst nichtmehr weinen, liebe Frau.“ Und am nächsten Morgen hat es die Mutter gleich der Nachbarin erzählt, wie herrlich der Vater heut Nacht gewesen ist. Und die Nachbarin hat es gleich brühwarm weitererzählt und alle Leute haben die Mutter scheu angeschaut. „Sie ist verrückt“, haben die Leute gesagt und dann ist die Mutter in ein Haus gebracht worden, hinter einer hohen Mauer. Aber auch dort hat sie der Vater besucht, immer öfter ist er gekommen und die Mutter hat immer nur glücklich gelächelt und eines Tages war sie tot. „Ich möchte das werden, was mein Vater gewesen ist“, sagte jetzt Ludwig Schlamperl zu seinem Vormund. 얍 „Gut so“, nickte der Vormund und steckte ihn in eine Kellnerschule (denn sein Vater ist ja ein Oberkellner gewesen) und dort lernte er nun das aufmerksame Servieren und bald verliess er die Kellnerschule als kompletter Kellner und konnte es kaum mehr erwarten, jemand zu bedienen. Nun war aber zu jener Zeit niemand da, den er hätte bedienen können -- es herrschten nämlich wiedermal die sieben mageren Jahre. Viele Leute wollten nichtmehr beten, denn sie behaupteten, an der grossen Not sei der liebe Gott schuld, aber der liebe Gott behauptete das Gegenteil und murmelte etwas über Sünden, die Leut konnten sich über ihre Sünden nicht einigen, jeder zweite jedoch B
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I.N ] dochN ] BnickteN ] BKellnerschuleN ] B(dennN ] Bgewesen)N ] Bund dortN ] Baufmerksame ServierenN ] BalsN ] B N] BwiedermalN ] BsiebenN ] BJahre.N ] BVieleN ] BaberN ] Bbehauptete f GegenteilN ] B N] Bund f jedochN ] BSünden, jedochN ] B N] Büber f SündenN ] BihreN ] B N] Bjeder f behauptetenN ] B B
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\I./ [aber] |doch| [sagte] |nickte| Kellnerschule[,] \(/denn gewesen[,]|)| [und [{ }]|da|] |und dort| [feine Bedienen] |aufmerksame Servieren| [{aus}]|als| [wiedermal]f x x wiedermal korrigiert aus: sieberen Jahre\./ [und die Not war gross.] [Und] [v]|V|iele [und] |aber| [sagte] |behauptete f Gegenteil| gestrichen: , [die Leute seien selbst schuld, weil sie soviel gesündigt hätten.] |und f jedoch| [Sünden { }] [ |{ga}|] |[unverzeihbare] Sünden\,/ [und dergleichen,] jedoch| [Und] \über f Sünden/ [den Begriff] |ihre| [was Sünde ist,] \[und] jeder f behaupteten/
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 39
ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 40
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
hatte eine andere Anschauung. So z.B. behaupteten viele Arme , die Reichen seien Bösewichter, und die Reichen bezichtigten sich gegenseitig und richteten sich gegenseitig zu grund. Kurz: es war eine verworren entsetzliche Zeit, keidie Maschinen verlotterten . Auf den Feldern ner konnte mehr arbeiten, stand das Unkraut , die Schulen wurden geschlossen und die Gefängnisse waren überfüllt. Die Hochöfen waren vereist und die Häuser standen leer, weil niemand mehr die Miete bezahlen konnte und viele verhungerten auf der Strasse. Nur die Polizisten wurden immer dicker. Einsam und niedergeschlagen ging unser Ludwig mit seinem Kellnerdiplom durch die Stadt, denn was soll ein Kellner in einer Zeit, in welcher die Leut verhungern? Immer trauriger wurde er, weil da kann man nichts machen, was sollte er auch, und kein Ende war abzusehen. Wie gerne hätte er sein Kellnerdiplom verbrannt , aber das hätte ja auch keinen Sinn gehabt und so liess er sich treiben – quer durch die 얍 grosse Stadt und bald stand er dort, wo sie aufhört. Dort beginnt das Meer, aber niemand kam über das Meer gefahren. Im Hafen lagen die schönsten N B N B
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] vieleN ] BArmeN ] B N] B N] B N] BReichenN ] Bbezichtigten f undN ] BwarN ] BverworrenN ] BentsetzlicheN ] BkeinerN ] B N] Bdie f leer,N ]
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verlottertenN ] verlotterten.N ] BAuf f UnkrautN ] BFeldernN ] B N] B
standN ] Unkraut,N ] BDieN ] BvereistN ] BniemandN ] BmehrN ] B N] BKellnerdiplomN ] Bdie f verhungern?N ] BweilN ] B
da f machen,N ] was f auch,N ] BWie f erN ] BKellnerdiplomN ] BverbranntN ] BgehabtN ] B N] Btreiben – querN ] B
[und] [die]|viele| Arme[n] [behaupteten] [die] [\und das waren sie auch,/] [Re]|Re|ichen [bezichtigten f und] [|sie richteten sich nämlich sogar|] wa\r/ \verworren/ korrigiert aus: entsetzlich[e][\-verworrene/] [{k}]|k|einer [alle Räder standen still,] Die19 Hochöfen20 waren21 vereist,22 die1 Maschinen2 verlotterten,3 die10 Schulen11 wurden12 geschlossen13 und14 die15 Gefängnisse16 waren17 überfüllt.18 Auf4 den5 Feldern6 stand7 das8 Unkraut9 und23 die24 Häuser25 standen26 leer,27 [verrosteten] |verlotterten| korrigiert aus: verlotterten, [Im Hafen verfaulten die schönsten Schiffe,] |Auf f Unkraut| [Weizenfeld] |Feldern| [\Weizen Unkraut/] [blühte] [|gedieh|] |stand| korrigiert aus: Unkraut [d]|D|ie [ausgeblasen] [|eingefroren|] |vereist| [keiner] |niemand| \mehr/ [mehr] [Zeugnis] |Kellnerdiplom| [der Hunger herrscht?] |die f verhungern?| (1) denn (2) \weil/ [es war nichts zu machen,] |da f machen,| \was f auch,/ [Er hatte Hunger und wollte] [|Am liebsten|] |Wie f er| [Zeugnis] |Kellnerdiplom| [zerreissen] |verbrannt| gehabt[,] [es sein und] treiben[,] |–| \quer/
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 41
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
Schiffe und die Matrosen standen vor ihnen und gaben keinen Laut von sich. Was denken die Matrosen, dachte Ludwig, und plötzlich ging es ihm durch den Kopf: eigentlich bist Du ja auch nur ein Matrose und musst zuschaun, wie Dein Schiff verfault, Dein Kessel verrostet, Dein Segel zerbröckelt -- warum schreist Du nicht? Und Ludwig schrie, aber schon stürzten zwei dicke Polizisten herzu und schlugen ihm auf das Maul. Schweigend sahen die Matrosen zu und halfen ihm nicht, denn sie hatten es bereits erfahren, dass Schreien keinen Sinn hat. Etwas ganz anderes hätte einen Sinn, dachten die Matrosen, aber darüber darf man nicht reden. Und drum schwiegen die Matrosen und das war ihre Sprache. Aber Ludwig ver(er hatte ja doch eben erst sein Kellnerdiplom erstand ihre Sprache nicht halten, hoffnungsfroh und unbekümmert) – er begriff also die Matrosen nicht, war böse auf sie und wollte weg, gleichgültig wohin, irgendwohin, nur weg von diesen Menschen, die sich nicht rühren, wenn man vor lauter Kummer eins auf das Maul bekommt! – Im entlegensten Winkel des Hafens lag ein winziges Segelboot, dessen Besitzer bereits verhungert war -- es war also ein herrenloses Segelboot und keiner kümmerte sich darum, denn ein Segelboot war nichts essbares. Und so hinderte niemand Ludwig, als er es nun bestieg, um abzusegeln. B
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MatrosenN ] warumN ] Bschrie,N ] B N] BPolizistenN ] BherzuN ] BihmN ] Bnicht reden.N ] BdrumN ] B N] B(erN ] BebenN ] B N] BKellnerdiplomN ] Berhalten,N ] Bhoffnungsfroh f erN ] Bsie undN ] B N] Bbekommt! –N ] BSegelbootN ] B
ein SegelbootN ] ] BUndN ] Ber f bestiegN ] B N
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korrigiert aus: Matr osen [Warum]|warum| korrigiert aus: schrie , [sich] korrigiert aus: Polzisten [auf ihn] |herzu| ih[n]|m| [nur schweigend reden.] |nicht reden.| [so] |drum| [--] \(/er \eben/ [vor kurzem voll Hoffnung] [Zeugnis] |Kellnerdiplom| erhalten\,/ [und --] |hoffnungsfroh f er| sie[\,/] [und] |und| [und Sorgen] bekommt! \–/ (1) Segelboot (2) [\Gut/] [es] |ein Segelboot| [Auch war nirgends ein Polizist zu sehen] [u]|U|nd (1) er f bestieg (2) \[er] in/ \es/ nu\n/ [das Boot]
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 42
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Es war ein zarter abend mit einem günstigen Wind. Lautlos glitt das Boot aus dem Hafen fort vom Lande und bald war auch kein Leuchtturm mehr zu sehen. Die Erde drehte sich in die Nacht hinein und Ludwig Schlamperl fuhr in entgegengesetzter Richtung. II. „Schau schau“, sagte am nächsten morgen der Landesvater, als ihm der Zeremonienmeister berichtet hatte, dass ein junger Untertan allein in einer Nussschale über den Ozean fährt, um einen Rekord zu brechen (denn der Zeremonienmeister hatte seine Augen überall, und sah infolgedessen alles, nur hatte er eben den Fehler, alles mit seinen Augen zu sehen ) -- „Schau schau“ , wiederholte sich der Landesvater „das lob ich mir! Allein gegen Wind und Wetter und Elemente!“ Und dann wollte der Landesvater noch hinzufügen: „ Also ist die Kraft meines Volkes noch nicht erloschen, noch lebt die Kühnheit der Ahnen“ -- aber das konnte er nichtmehr sagen, denn gerade in diesem Augenblick flog eine Bombe in den Audienzsaal, explodierte, hüllte alles in Rauch und Staub und der Landesvater hatte das Maul voll Schutt. Es war halt eine unruhige Zeit. III. An diesem Morgen war Ludwig bereits ziemlich weit und er beglückwünschte sich dazu, denn das Meer machte einen durchaus gemütlichen Eindruck. Aber plötzlich bewölkte sich der Himmel und von überallher kamen kleine Wellen auf das Boot zu. „Hoffentlich kommt kein Orkan “, dachte er besorgt, „das fängt nämlich immer so klein an, weil ich das in der Kellnerschule so gelernt habe“ -- aber kaum hatte er dies zu Ende gedacht, wurden die Wolken wieder blau und die Wellen glatt. „Mir scheint, ich hab Glück“, konstatierte er und liess sich weitertreiben. B
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Es f günstigenN ] aus f HafenN ] Bfort f LandeN ] B N] BII.N ] B N] BihmN ] BundN ] BebenN ] Bmit f sehenN ] Bschau“N ] Bwiederholte f LandesvaterN ] B„dasN ] BAlso istN ] B N] B N] BEsN ] BhaltN ] BZeit.N ] BIII.N ] B N] BOrkanN ] BdieN ] Bweitertreiben.N ] B B
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|| [Es war ein zarter abend mit einem günstigen] |Es f günstigen| [über das stille Meer, das] [|vom|] [|aus f Hafen|] [Land\e weg/] [|vom La|] |fort f Lande| [verschwand in der Nacht] \II./ Absatz eingefügt korrigiert aus: ihn
\und/ \eben/ [auf seine Art auszudeuten] |mit f sehen| schau\“/ \wiederholte f Landesvater/ \„/das [Mir scheint] |Also ist| gestrichen: , gestrichen: ist [Traun,] [es]|Es| [\eben/] |halt| Zeit[!]|.| [--] \III./ Absatz eingefügt korrigiert aus: Organ
\die/ [treiben.] |weitertreiben.|
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
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Immer klarer wurde die Luft und das Wasser immer durchsichtiger -- und was sich da drunten alles tat, wenn man hinuntersah ! Gesunkene Schiffe aller Länder Tiefseefische , die sich selbst beleuchteten und Zeiten, Polypen und Korallen, – jetzt schwamm ein Hai vorbei, alles machte Platz, und im Verborgenen blühten die fleischfressenden Veilchen. Auch gab es da eigenartige Fische, die bestanden nur aus Kopf, wieder andere hatten überhaupt keinen Kopf, manche waren kugelrund oder platt wie Seidenpapier und einige bestanden nur aus einer einzigen Flosse -- war das ein Leben! Er bemerkte es garnicht, dass ein grosses Schiff vor ihm auftauchte, so vertieft hatte er sich in das, was drunten geschah. Erst im allerletzten Augenblick erblickte zu spät schon war es geschehen, nämlich er es und riss das Steuer herum -- aber der Zusammenstoss, und zwar mit einer derartigen Wucht , dass sein herrenloses Segelboot zersplitterte, während er selbst kopfüber ins Meer fiel. Als er wieder zu sich kam, lag er droben auf dem grossen Schiff -- um ihn herum standen seine Retter und gratulierten sich gegenseitig . „Das hat so kommen müssen“, sagten sie und schienen sich darüber zu freuen. N
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[Und] die4 Luft5 wurde3 [i]|I|mmer1 klarer2 und6 das7 Wasser8 immer9 durchsichtiger --10 und11 \drunten/ [hineinsah] |hinuntersah| Schiffe[r] [Tintenfische\,/] |Polypen| [und\,/] [|und|] |und| [\seltene/] [\allerhand/] Tiefsee[fische] [|{ }|]|fische| \– [und] jetzt f im/ (1) und (2) ein f im gestrichen: im [Da] |Auch| \da/ [\seltsame/] |[\sehr/] eigenartige| [ei]|ei|n [\\seinen/ Weg kreuzte/] [unter dem Meere] [|{a }|] |[da] drunten| [als das Schiff seinen Weg versperrte,] |im f Augenblick| [es] [|nun|] [war \es natürlich/] spät[,] [|und|] [|,|] [|und|] Zusammenstoss[.]|,| [U]|u|nd [Gewalt] |Wucht| \herrenloses/ [Boot]|Segelboot| zersplitterte\,/ [und] |während| \selbst/ (1) fiel. (2) [\{ge}/] [ |geschleudert wurde.|] Retter[, sie beglückwünschten ihn und lachten] |und f gegenseitig|
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„Erlauben Sie“, wandte sich plötzlich der eine an ihn , „dass ich mich vorstelle. einer grandiosen Erfindung, es Mein Name ist Schröder und ich arbeite an dreht sich um einen gigantischen Plan. Wie Sie sich zuvor selbst überzeugt haben werden, ist am Grunde des Meeres Erde . Saftige , fruchtbare Erde. Die Frage lautet: müsste man nicht Mittel und Wege finden, um die Erde auf dem Grunde des Meeres bebauen, besiedeln – mit einem Wort urbar machen zu können?“ „Richtig!“ meinte ein Anderer. „Aber viel einfacher wäre doch folgendes: 얍 im Innern der Erde brennt bekanntlich Feuer. Man könnte doch nun dieses Feuer sich nutzbar machen, und zwar als Energie – .“ „ Zur Sache “ mischte sich ein Dritter in das Gespräch, „Sie vergessen, dass die Erde allmählich erkaltet, dass also das Feuer erlöschen wird, und zwar in absehbarer Zeit, man kann sich das ja sogar ausrechnen -- und was ist dann meine Herren? O nein, so kurzsichtig dürfen wir nicht verfahren! Das wäre gefrevelt ! Wenn wir B
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[sagte der eine] |wandte f ihn| [der Verwertung] [einer] [|meiner|] \grandiosen/ Erfindung\,/ [--] [ist] |dreht f um| ein\en/ gigantische[r]|n| korrigiert aus: sie [Land] |Erde| (1) Man [könnte] |müsste| doch nun \eigentlich/ ziemlich leicht das Meer durch irgendwelche Kanäle \auf die [bestehende] |heutige| Erde/ ablassen, und das Land auf dem Grundes des Meeres bebauen, urbar machen, besiedeln und so.“ (2) \Saftige f können?“/ BSaftigeN ] [Gute,] [s]|S|aftige 4 BMittel f finden,N ] 5 [das Meer [{ }] |verdunsten| lassen,] |Mittel f finden,| BdieN ] 5 [{das}]|die| Bbesiedeln –N ] 6 [zu]|besiedeln[,]|–|| Bkönnen?“N ] 6 korrigiert aus: können? B N] 6 [Meine Erfindung weist ihnen die Mittel und Wege –] B„Richtig!“N ] 7 korrigiert aus: [„Also das ist schon] [r]|„R|ichtig“[,]|!| BmeinteN ] 7 [sagte] |meinte| BAnderer.N ] 7 [a]|A|nderer[,]|.| B„AberN ] 7 [„a]|„A|ber B N] 8 [natürlich] BnunN ] 8 \nun/ Bzwar f Energie –N ] [eine Fernheizung bauen oder alle Kessel damit heizen, am Ende wäre das das 9 Paradies] |zwar f Energie –| BEnergie – .“N ] 9 korrigiert aus: Energie – “. BZur SacheN ] 10 [Irrtum!] |Zur Sache| BGespräch,N ] 10 Gespräch[.]|,| B N] 11 [und] BalsoN ] 11 \also/ Bwird,N ] 11 wird\,/ Bman f ausrechnenN ] 12 das4 kann2 man1 sich3 ja5 [direkt]|sogar|6 ausrechnen7 B N] 13 [Dann haben wir die Maschinen und die ganze Apparatur und haben nichts davin!] BgefreveltN ] 13 korrigiert aus: gefrewelt 13–376,2 BWenn f machen!! –“N ] \Wenn f machen!! –“/ 1 2 2 2 2 3 3 3 4 4–6
wandte f ihnN ] ] BeinerN ] BgrandiosenN ] BErfindung,N ] Bdreht f umN ] Beinen gigantischenN ] BSieN ] BErdeN ] BSaftige f können?“N ] B
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 44
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
Lesetext
nur einen Funken Gefühl für die Zukunft haben, müssen wir uns auf das Eis legen, d.h. uns das Eis irgendwie nutzbar machen!! –“ Wo bin ich? dachte Schlamperl und was sind das für seltsame Gespräche – zuguterletzt haben sie alle recht, nämlich nach den Gesetzen der Logik, und doch stimmt es nicht aber keiner redet von mir, den sie doch gerade erst aus dem Meer gezogen haben –? -- und laut sagte er: „Wo ist mein Boot? Wer seid Ihr? Wohin fahren wir ?“ Aber er bekam keine Antwort, denn alle debattierten nun erregt über die Eiszeit. Über Wasser , Feuer und Eis. IV. Es war das ein wirklich seltsames Schiff. Mal schien es ein Dampfer zu sein, mal ein alter Segler, mal wieder eine antike Galeere. Aber die Segel wurden nur gehisst, bei totaler Windstille, und die Maschine wurde nur eingesetzt, wenn die Kessel kalt waren, und gerudert wurde prinzipiell nur dann, wenn sie vor Anker lagen. Auch war nirgends ein Kompass zu sehen, -- „Macht ja nix“, sagte der Steuermann, „wir treffen überall Leut, die wir besuchen können!“ So bekam er nirgends eine eigentliche Antwort, alle redeten immer nur an얍 einander vorbei und stellten persönliche Theorien auf. Dabei hatte naturnotwendig Jeder recht, und das war recht eigenartig. Nur einzelne schwiegen, und die schwiegen dann immer so konstant, dass sie ihn garnicht beachteten. Wieder anB
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[uns die] [|ich denk|] [|uns das|] |uns f machen!! –“|
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legen,N ] d.h. f machen!! –“N ]
uns f machen!! –“N ] ] BGespräche –N ] BzuguterletztN ] BsieN ] BnämlichN ] B N] Baber f haben –?N ] BgeradeN ] B N] B N] Bfahren wirN ] Bwir?“N ] Bdebattierten f Eiszeit.N ]
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erregtN ] Über f Eis.N ]
WasserN ] IV.N ] B N] BeineN ] Blagen. AuchN ] BSo f nurN ] B
] vorbeiN ] Bund f eigenartig.N ] BpersönlicheN ] BnaturnotwendigN ] B
korrigiert aus: legen. (1) [Die] Kräfte des Eis\es/ ausbeuten! (2) \[Ich meine] die Energie des Eises [ausbeuten]/ (3) \d.h. f machen!! –“/
[Leute,] |Gespräche –| [die] |zuguterletzt| \sie/ \nämlich/ gestrichen: \warum/ \[jetzt lieg ich da,] aber f haben –?/ [gerade] |gerade| [denn] [Was ist denn passiert?] fahr[t]|en| [Ihr] |wir| korrigiert aus: wir? “ [waren nun in eine grosse Debatte verwickelt.] [|sprachen|] |debattierten f Eiszeit.| \erregt/ (1) \Über f Eis./ (2) [\Über das {Feuer}, {das}/] (3) \über den Nordpol und den Südpol./ (4) \über die Eiszeit./ [Wasser] |Wasser] \IV./ Absatz eingefügt korrigiert aus: ein korrigiert aus: lagen. Auch
[Es dämmerte bereits und noch immer wusste er es nicht, wo er sich befand -- er bekam keine Antwort, obwohl alle redeten, aber sie redeten immer] |So f nur| [\naturnotwendig/]f x korrigiert aus: vorbei. \und f eigenartig./ [{gewagte}] |persönliche| [nun] |x naturnotwendig|
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 45
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
dere sammelten Briefmarken, züchteten Goldfische, spielten Mensch ärgere Dich nicht, oder erfanden Kinderspielzeuge, einer stellte Horoskop, und zwar seinem Schäferhund einer dressierte seine weissen Mäuse. Wieder andere zitierten Geister herbei. Und das eigenartige war, dass jeder von seinem Standpunkt aus Recht hatte. Aber sie kümmerten sich nicht umeinander, redeten aneinander vorbei -- es waren nur wenige da, die sich um die anderen kümmerten, und die kümmerten sich dann so, dass sich die anderen belästigt fühlten. Und wenn man schärfer hinsah, kümmerten sie sich doch nur um sich. Auch waren da welche, die erfanden immer neue Wörter, wie zum Beispiel Raum, Wehrfreiheit , kosmisch bedingt und dergleichen. Am Nachmittag fuhren sie durch einen herrlichen Regenbogen und am Horizont sahen sie Windhosen, Wasserhosen und Zyklone, gelbe und schwarze . Dann kam die Nacht, schwarz und still, Eisberge schwammen vorbei und Ludwig Schlamperl wurde es allmählich unheimlich. Nur soviel entnahm Ludwig aus den Gesprächsbrocken, dass er sich auf einem majestätischen Schiffe befindet. Aber wer diese Majestät war, aus welchem Lande, das bekam er nicht heraus. Auch nicht aus den Flaggen, denn das Schiff hatte die 얍 Flaggen aller Nationen -- in den Flaggen jeder Nation geflaggt, alle Fahnen, ob grosse oder kleine Länder, Kriegs- und Handelsflagge. Selbst die Pest- und Choleraflaggen fehlten nicht. B
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AberN ] allerN ] BgrosseN ] B
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MenschN ] herbei.N ] B N] BWehrfreiheitN ] B N] B N] B N] BAmN ] BdurchN ] BeinenN ] B N] BschwarzeN ] BDann f still,N ] BDann f dieN ] BNacht,N ] B N] BEisberge f unheimlich.N ] B N] BLudwigN ] BGesprächsbrocken,N ] BmajestätischenN ] BSchiffeN ] B N] B
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korrigiert aus: Mensc korrigiert aus: herbei
[und stellten Theorien auf.] korrigiert aus: wehrfreiheit gestrichen: \ein Kapitel./
[Jetzt wurde es Nacht\./] [und Schlamperl wurde es allmählich unheimlich.] [Am]|Am| [an] |durch| eine[m]|n| [durch] korrigiert aus: schwa rze [Auch] |Dann f still,| [Jetzt [wurde] |war|] |Dann kam| [es]|die| Nacht\,/ [und] [einige] Eisberge[.]|schwammen f unheimlich.| [drohend] [|lautlos|] \Ludwig/ Gesprä[chen,] |chsbrocken,| [königlichen] |majestätischen| Schiff\e/ [Irgendeine\r/ Majestät muss\te/ dieses Schiff gehören\,/ und sie muss sogar mitfahren,] [und das wird eine Rundreise, um bei verschiedenen befreundeten Monarchen, Republiken und Regierungen Besuch zu machen, offizielle Staatsvisite.] [A]|A|ber [jeder] |aller| korrigiert aus: gross
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 46
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
Lesetext
V. Und wenn ich es Euch jetzt sage, was das für ein Schiff war, so werdet Ihr mir das nicht glauben, denn Ihr habt nichts übrig für (naiven) unzweideutigen Symbolismus. Ihr armen Narren! Aber ich hab keine Angst vor Euerer blöden Angst und sag es grad heraus: es war das Narrenschiff und die Majestät war der Narrenkönig in persona. Als nun Schlamperl vor dem Narrenkönig erschien, musste er einen Saal betreten, der in allerhand Stilarten gehalten war, wodurch alle Stile, wenn auch nicht überflüssig, so doch närrisch erschienen, durch die Nebeneinanderstellung . „Willkommen!“ begrüsste ihn der Narrenkönig , „Willkommen in meinem Reiche! Wir haben Dich beobachtet, schon seit Deiner Abfahrt, schon seit der Zeit, da Du von den beiden Polizisten eins auf das Maul bekommen hast, und Dein Entschluss, mit dem kleinen Segelboot abzufahren, hat uns gefallen -- aber ganz besonders gut hat es uns gefallen, dass Du anstatt nachzuforschen, warum die Matrosen schweigen und Dir nicht geholfen haben und was die Matrosen denken, halsüberkopf gleich weg bist, weg von den Leuten, irgendwohin -- das ist eine prächtige richtige Narretei! Ganz in unserem Sinne! Du bist mir ein prächtiger Narr Ludwig Schlamperl! Willkommen nochmals in meinem Reiche! Willkommen!“ Es war also der Narrenkönig selber, der so sprach -- Kinder! Wie sah der aus! Wenn er was Trauriges erzählte, dann lachte er, und wenn es was Komisches war, B
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V.N ] \V./ B N] Absatz eingefügt BUnd f Nebeneinanderstellung.N ] (1) „Majestät [lässt] lassen bitten!“ hörte er plötzlich eine Stimme | | hinter sich, und diese Stimme gehörte einem Gardisten in einer prächtigen Uniform mit vielen Waffen, die aber alle verrostet waren, aber es war halt Tradition. Und der Gardist ging voran und führte ihn, ging hinterher, hinein in das Schiff -- an verschiedenen Gardisten vorbei, in einen Audienzsaal, der in allen Stilarten erbaut war.Jeder für sich Stil wäre schön gewesen, aber alles aufeinmal, das war entschieden zu viel. Am Ende des Saales sass der König und erhob sich, als Schlamperl den Saal betrat. (2) [\Und gewiss war das eine Majestät! Und was für eine! Einer aus der ältesten Dynastie der Welt, [der] |einer| Dynastie {von} 100 000 Wappen mit vielen Siegeln und kaum einer Niederlage – kurz: es war der Narrenkönig selbst! – [ ] Vielleicht habt Ihr den Narrenkönig in Euerer Kindheit gesehen, ein Schiff mit lauter Narrenkappen – \höherer Blödsinn/ o nein! So dürft Ihr Euch das nicht vorstellen! Der Narrenkönig war durchaus seriös. Nur wenige hätten ihn erkannt./] |Und f Nebeneinanderstellung.| BmirN ] 2 korrigiert aus: mich BIhrN ] 3 [{ }]|Ihr| B(naiven) unzweideutigenN ] 3 (1) (meinen) (2) \(naiven) unzweideutigen/ BIhr f Narren!N ] 4 \Ihr f Narren!/ BNebeneinanderstellungN ] 9 Nebenein[{ }]|a|nderstellung Bbegrüsste f NarrenkönigN ] 10 [sagte er] |begrüsste f Narrenkönig| BEs f sprach --N ] 19 (1) Es f sprach -(2) \Kaum hatte er ausgesprochen, {o da}tauchte am Horizont eine Stadt [am]|auf| [Horizont auf]/ 19–379,1 BKinder f er.N ] \Kinder f er./ Ber,N ] 20 er[.]|,| B
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
dann weinte er. Und nun wusste es Ludwig, dass er sich auf dem Narrenschiff befand -- wo er sich befand. Das Schiff war ein 얍 richtiges Narrenschiff, und war nun unterwegs Staatsvisiten zu machen. Gleich am nächsten morgen liefen sie zum Beispiel eine grosse wunderschöne Stadt an, die begann hoch droben auf den Bergen und endete unten auf dem Meere. Das war die Residenzstadt eines grossen glücklichen Reiches, mit viel Macht. Rechts und links vom Hafen lagen Festungen und die schossen nun Salut. Auch die Hochseeflotte lag draussen zu Ehren des Narrenkönigs und vollführte ein grosses Schauspiel und Manöver . Alle hatten Flaggengala angelegt und die Bevölkerung der Stadt stand im Hafen im Sonntagsanzug und jubelte und schwenkte Tücher. Ein kleines Mädchen übergab dem Narrenkönig einen Busch Rosen und sagte ein Willkommensgedicht auf, und der Narrenkönig küsste es, und alle sagten „Gott wie leutselig!“ Und die Strassen waren auch alle beflaggt, und rechts und links standen erwachsene Männer nebeneinander, alle gleich angezogen, mit gezogenen Säbeln. Und die Trommeln wirbelten und die Posaunen dröhnten, es war wirklich erhebend. Der Narrenkönig hatte sich auch eine Uniform angezogen (obwohl er sonst gern in Zivil ging, ebenso liebte), denn er war Inhaber eines Regiments. Und dann traf er den König, sie umarmten sich und begrüssten sich überaus herzlich. Es gab ein grosses Mahl, Parade und Begrüssungsansprachen, wobei ein Minister sagte, das Land des Königs und der Narrenkönig seien auf immer verbunden in unverbrüchlicher Treue. Und der Narrenkönig sagte, auch seinerseits und er wisse das zu schätzen, es sei doch jetzt schon riesig lange her, so zirka tausend Jahr, dass sich die 얍 beiden Staaten verbündet hätten, und gemeinsame historische Erlebnisse in Krieg und Frieden -- und da sagte ein General: „Majestät! Sagen Sie Ihren Narren, dass wir uns eines mit ihnen fühlen, bis zum letzten Bluttropfen, Treue in unverbrüchlicher Treue!“ Und alles brüllte -die ganze Stadt war ein einziges „Hoch!“, sogar die Kranken in den Krankenhäusern liessen sich an die Fenster tragen und winkten hinab, um den Narrenkönig zu sehen. Und abends gab es eine grosse Festvorstellung in der Oper. Alles erschien im Frack und grossem Abendkleid und starrte auf die königliche Loge. Und als der Narrenkönig erschien, applaudierte alles und das Orchester intonierte die Narrenhymne und die hatte einen alten Text, den sangen die erste Strophe alle stehend mit und der lautete: Nit meint wir Narren sein allein Wir haben Brüder gross und klein In allen Ländern unzählbar Ist unserer Narren Zahl! N B
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UndN ] einN ] BManöverN ] BTrommelnN ] BsonstN ] Bliebte),N ] B N] BdieN ] Bin unverbrüchlicherN ] B
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korrigiert aus: und korrigiert aus: ei korrigiert aus: Manöwer korrigiert aus: Trommel korrigiert aus: sondt korrigiert aus: liebte) , gestrichen: und korrigiert aus: di (1) um (2) \in unverbrüchlicher/
\und f Abendkleid/
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WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
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Und dann hob sich der Vorhang und die Oper begann mit einem Ballett . Und während der Vorstellung sagte der König plötzlich zum Narrenkönig: „Freund, ich leide und Du bist der Einzige, der mich versteht. Ich hasse die Masse, ich liebe die Kunst – – wenn es nach mir ginge, würd ich kein Ballett schreiben, sondern ein meinen Untertanen etwas Gescheites wird, etwas Stück mit Ausblick, damit aus Schönes, Wahres, Gutes aber sie wollen es halt selber nicht und ich leide unter meinem Purpur.“ Und der Narrenkönig war ganz ergriffen und sagte: „ Glaub mir, Du stehst mir ganz Nahe.“ „Ich 얍 danke Dir“, sagte der junge König gerührt und drückte ihm die Hand. Und gleich nach der Opernvorstellung zog das Schiff wieder weiter -- fort von Land zu Land, von Stadt zu Stadt -- überall wurden sie begeistert empfangen, sei es bei der Grundsteinlegung zu einem Siegesdankmal oder bei der Grundsteinlegung eines Friedensdenkmals. Sie besuchten auch den Dom und er wurde von zahlreichen Universitäten zum Ehrendoktor ernannt. Und zwar von allen Fakultäten. Auch besuchte er Fabriken, Schulen, Schützenvereine -- und überall fühlten sie sich zuhaus. Zum Beispiel erreichten sie eine Inselgruppe, das waren zirka dreissig kleine Inseln und die lagen dicht nebeneinander. Aber aus Gründen des Patriotismus sperrten sie sich gegeneinander ab, sie wollten nichts voneinander wissen. Dabei ging es B
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– wenn f ausN ] ] Bmeinen UntertanenN ] BGescheitesN ] BSchönes,N ] BWahres,N ] B N] B N] BhaltN ] Bund ichN ] B N] Bganz Nahe.“N ] B„Ich f Hand.N ] B N
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Und f OpernvorstellungN ] OpernvorstellungN ] B N] B
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leide[“,] [„Wieso?“ „Ich habe das Gefühl,] |und| [richtig] [Ich hasse diese Masse, diese Kriege, ich liebe die Kunst --] |Ich f Kunst –| x– wenn f aus [[[i]|I|ch] |und| möcht\e/, dass aus] [diesen Menschen] |meinen Untertanen| \Gescheites/ Schönes\,/ Wahres\,/ [\– wenn f aus/]f x [es geht nicht,] \halt/ [und spielen mir Theater vor. Ich] |und ich| [Ich verstehe Dich ganz \und gar/.] [am Nächsten\./ von all denen hier im Theater“.] |ganz Nahe.“| (1) „Ich f Hand. (2) [\Ich schreibe ein Stück mit Ausblick/] [Aber noch in derselben Nacht] |Und f Opernvorstellung | [Vorstellung] |Opernvorstellung| [in ein anderes Land, in eine andere [Hauptstadt] |Residenz|. Und wieder wiederholte sich auch dort natürlich wieder alles, nur dass es diesmal [kein König] |nur eine [ehemal Residenz] |ehemalige Residenz|| war, den sie [\und/] |mit einem Präsidenten der Republik| besuchten, sondern ein Präsident der Republik aber das konnte man kaum merken. Aber abends gabs genau so ein Festvorstellung, nur dass der Präsident den Narrenkönig wie es in der Loge dunkel wurde, heimlich zu sich hinausbat. Sie setzten sich in den Logenvorraum und improvisierten rasch eine wichtige Konferenz über Handelsbeziehungen und Wirtschaftsfragen. Und alles hörte auf das Wort des Narrenkönigs, denn er hatte solide Fachkenntnisse. Und so ging es] korrigiert aus: ernannt.Und [\VI./] [Eines Tages] |Zum Beispiel|
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ihnen nicht gut, man kann sagen einseitig, eine jede Insel produzierte nämlich nur einen Artikel oder es wuchs nur eine Frucht auf ihnen . So hatten die einen nur Orangen, die anderen Feigen, die dritten Spargeln, usw. und die ernährten sich nur davon, natürlich auf vielerlei Weise, aber es war doch eintönig. Schlim-얍mer war es schon auf jenen Inseln , die zum Beispiel nur Zahnstocher produzierten, die einen den Ofen, die anderen die Kohlen. Die den Ofen hatten, die froren, und die die die Kohlen hatten, hatten leider wieder keine Streichhölzer , und die die Streichhölzer hatten, hatten wieder keine Kohlen, usw. Auch war da eine Insel, die hatte nur Butter, alles war aus Butter, die Anzüge, Schuhe, Hüte, präparierte Butter und man trug auch Butter am Kopf. Besonders schwierig war das im Sommer, das Land hatte viel zu leiden, es schmolz dahin, und im Winter war es so kalt, dass man sich nur mit der Hacke ausziehen konnte. -- Aber all diese Länder wollten sich nicht vertragen, denn sie konnten sich nicht einigen, welcher der Wertvollste war. Jeder wollte nämlich der Erste sein, und das war eine richtige prächtige Obernarreterei. Aber nicht nur auf der festen Erde, auch draussen auf dem Meere begegneten ihnen immer wieder Gleichgesinnte -- immer wieder schwammen Leute vorbei, Männer und Frauen, zum Beispiel, die über das Weltmeer schwimmen wollten, um einen Rekord aufzustellen -- und zwar gab es da Brustschwimmer, Rückenschwimmer und im freien Stil. Und Flugzeuge ohne Motore glitten über ihnen hinweg, oft mit ganzen Familien besetzt. Sie winkten sich zu und liessen sich weiter nicht stören. -- Und der König stiftete einen Pokal für den, der zuerst ersoff. Dann der Nächste. Es war das ein Wanderpokal. VIII. So verging eine ganze Zeit, keine grosse, aber auch keine kleine. 얍 Immer deutlicher fühlte Ludwig: „da fehlt etwas.“ Es fehlte ihm etwas, und manchmal dachte er schon, dass er nicht auf das Schiff passt. Und er musste immer wieder über die Begrüssungsansprache des Narrenkönigs nachdenken, wo der das mit den Matrosen erwähnt hatte mit grosser Zufriedenheit -- jaja, richtig! Er hätte die Matrosen fragen müssen, warum sie schweigen und was sie sich denken. Nein! Das ist ja wirklich B
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(1) nur etwas (2) nur f ihnen korrigiert aus: usw korrigiert aus: Inselm
\Zahnstocher/ korrigiert aus: Strechhözer korrigiert aus: azu korrigiert aus: ma korrigiert aus: Kopf.Besonders korrigiert aus: un gestrichen: nic [\VII./] \Und f Wanderpokal./ \VIII./ Absatz eingefügt
[Auf dem Schiff herrschte immer dergleiche Betrieb und auch die Empfänge waren immer dieselben.] [In den ersten Zeit gefiel es Ludwig der Betrieb] gestrichen: und es interessierte ihn sehr, aber er konnte sich [doch nicht so recht mit seinen Mitreisenden verständigen. Die unter sich ja auch nicht, aber denen ging das nicht ab, || während] Ludwig4 [i]|I|mmer1 deutlicher2 [\{ }/]fühlte[,] |:|3 \„/da5 fehlt6 etwas.\“/7
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kindisch, da einfach abzusegeln, allein, wegen einer aufs Maul, schon alle anderen verleugnen, vergessen, nichtsmehr damit zu tun haben wollen! B N
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Nun fuhren sie an einer glücklichen Insel vorbei. Hier schien die Sonne. Am Strande badeten viele gesunde Menschen, spielten Faustball und Fussball, rangen miteinander griechisch-römisch und frei, trieben Leichtathletik und turnten herum, dass es eine wahre Freud war. Und als Ludwig Schlamperl all dies sah, und wie sie alle miteinander redeten und sich zu verstehen schienen in einer gewissen menschlichen Gemeinschaft , da kam eine unendliche Sehnsucht in ihm, auch da mitzuspielen, mitzuturnen und baden. Nur fort von diesen einsamen Narren! Raus aus der Einsamkeit! Nie wieder Narr! Und er trat vor den Narrenkönig und sagte: „König! Ich habe mich genau geprüft, ich bin kein Narr!“ „Wie das?“ fragte der König. „Bist Du nicht in einem Segelbötchen über das Meer? Und hast Du denn etwa gefragt, was die Matrosen denken wenn man fragen darf ?“ „Also das mit meinem Segelboot, das war nur Verzweiflung, weil ich halt trotz 얍 Kellnerdiplom kein Kellner werden konnte -- und dass ich die Matrosen nicht gefragt habe, das war allerdings eine riesige Narretei! Wie gerne würde ich sie heute fragen!“ „Bitte, nur zu!“ sagte der König und sah ihn ironisch an. „Ich halte Dich nicht, geh nur zu! Du wirst Dich vielleicht mal zurücksehnen , wenn Du alt geworden bist, aber ob ich dann gerade in der Nähe sein werde? -- also schau jetzt nur, dass Du verschwindest! Habe die Ehre und Grüss Dich Gott!“ --IX. Und kaum hatte sich der König von ihm verabschiedet, ihn entlassen, schon stand er drüben in der Badeanstalt, mitten unter vielen, vielen Menschen. Aber es war schwer für ihn, in ein Gespräch zu kommen, denn bei den Narren war das alles ganz anders. Und langsam musste er sich erst wieder eingewöhnen. Er hatte ein unsicheres Gefühl, wenn er bei Menschen vorbeiging, dachte er immer, dass sie sich zuzwinB N
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] LeichtathletikN ] BturntenN ] Bwie sieN ] Bzu f schienenN ] Bin f GemeinschaftN ] BRaus f derN ] BetwaN ] Bwenn f darfN ] Btrotz KellnerdiplomN ] Ban.N ] BzurücksehnenN ] Baber f werde?N ] B
Gott!“N ] IX.N ] B N] BUnd langsamN ] B
[Aber jetzt war es zu spät! Jetzt kann er die Matrosen nichtmehr fragen, die haben inzwischen schon weitergedacht, und sie würden ihm heute vielleicht garnicht antworten, weil sie ihn für einen Narren halten und da haben ja die Matrosen recht.] gestrichen: geunde korrigiert aus: Leichtatletik korrigiert aus: turntem korrigiert aus: sie wie [verstanden] |zu f schienen| [im Sport und im Mennschaftsgeist] |in f Gemeinschaft| [Fort von der] |Raus f der| \etwa/ \wenn f darf/ \trotz Kellnerdiplom/ korrigiert aus: an, korrigiert aus: zurücksehenen (1) aber dann denk bitte freundlich an mich und schimpf nicht auf mich (2) aber f werde? Gott!\“/ \IX./ Absatz eingefügt
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WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
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kerten, und sagten: „Schau, ein Narr.“ Und dass sie ihn auslachten und verspotteten und dergleichen mehr, was niemanden zu verwundern braucht, denn es ist doch keine alltägliche Kleinigkeit plötzlich von einem Narrenschiff herab in einem Familienbad zu landen. X. Er legte sich in die Sonne, etwas abseits. Dort spielten einige kleine Kinder im Sand, bauten Burgen und dergleichen -- und plötzlich spielte er mit, und da war ein Kind, das ärgerte ihn, und da zerstörte er die Sandburg des Kindes. Das Kind schrie, und da kam seine grosse Schwester herbeigelaufen und fragte, was denn passiert sei. „Nichts“, sagte Ludwig mit schlechtem Gewissen und sah, dass sie schöne Augen hatte und überhaupt auch ansonsten ein schönes Mädchen war. Aber der Kleine weinte: „ Böser Mann hat Burg zerstört.“ „So ein Narr“, sagte das 얍 Mädchen, und das ging ihm durch Mark und Bein. „Warum haben Sie denn die Burg meines kleinen Bruders zerstört?“ „Weil Ihr kleiner Bruder meine Burg zerstört hat“, antwortete Ludwig und bestand auf seinem Recht. „Sie Narr“, sagte das Mädchen abermals. „Ich bin kein Narr!“ sagte er und plötzlich war der Bann gebrochen. „Das sieht nur so aus, als wär ich ein Narr, und ich gebe es zu, dass Sie mich für einen halten können, aber dann täuschen Sie sich eben!“ Und er setzte ihr auseinander, dass es doch ganz selbstverständlich sei, dass er die Burg des kleinen Bruders zerstört habe, denn der hätte seine zerstört, und man müsste die Menschen schon so erziehen, dass B
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verspottetenN ] dochN ] Bvon einemN ] BNarrenschiffN ] BherabN ] BX.N ] B N] BEr f abseits.N ]
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korrigiert aus: verspotetteten
B
[\{sogar} {gar}/] |doch| [aus dem] |von einem| korrigiert aus: Narrenschif her[aus]|ab| \X./
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13 13–14 14 14 14 14–15 18
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Dort spieltenN ] im f dergleichenN ] BundN ] BundN ] Bschöne AugenN ] B
hatteN ] undN ] Büberhaupt f ansonstenN ] BBöserN ] Bzerstört.“N ] BMädchen f gebrochenN ] B
] meines f BrudersN ] BIhr f BruderN ] BmeineN ] BBurgN ] Bantwortete f Recht.N ] Beben!“ UndN ] B
Absatz eingefügt (1) [Er] Etwas abseits legte \er/ sich in [den Sand] die Sonne \./ (2) [Er] Er legte sich in [den Sand] die f abseits \./
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[und sah zu, wie] |Dort spielten| [im Sand spielten und Burgen bauten] |im f dergleichen| un\d/ korrigiert aus: un (1) schöne Augen (2) [\schön/] hatte[,] un\d/ [überhaupt] |auch ansonsten| korrigiert aus: böser korrigiert aus: zerstört“. ||(1) \Mädchen[.]|,| \und das ging ihm durch Mark und Bein./ „Warum haben Sie dem Kinde die Burg zerstört?“ „Weil es meine zerstört hat.“ „Sie Kind \[Ich bin] |(Narr)|/“, sagte das Mädchen abermals. „Ich bin kein Narr!“ sagte er und plötzlich war der Bann gebrochen./ (2) Mädchen f gebrochen. [dem Kinde] \meines f Bruders [{ze}]/ [das Kind] [|{er}|] |Ihr f Bruder| mein[e]|e| \Burg/ \antwortete f Recht./ korrigiert aus: eben!“ Und
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 52
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
Lesetext
sie gleich wüssten, wie das täte, wenn man jemand etwas zufügte, und das z.B. niemand eins ungesühnt auf das Maul bekommen dürfte, am eigenen Leibe müssten sie es spüren. „Sehen Sie“, sagte er, „dort drüben läuft eine Stafette , und wenn da einer aussetzt kommt keiner ans Ziel. Oder dort drüben spielt eine Fussballmannschaft, wenn die nicht alle zusammenspielen haben sie schon verspielt . Man kann nicht früh genug die Kinder dazu erziehen, dass sie Rücksicht aufeinander nehmen.“ Und während er so sprach, dachte er, das Mädchen ist lieblich gebaut und appetitlich und es hat ein einladendes Zentrum, und das Mädchen fühlte seine Gedanken und folgte also garnicht richtig seinen Ausführungen, aber es dachte sich dennoch: „ Er scheint recht zu haben .“ Und laut sagte sie: „Können Sie eigentlich Fussballspielen?“ „Ich kann alles“, sagte er, und das war nun wirklich übertrie-얍ben, aber er hatte nun eine solche Sicherheit, je mehr sie ihm gefiel, und sie fühlte das, und das fühlte wieder er, und all das zusammen leistete einen gewaltigen Vorschub seinem sicheren Auftreten. XI. Und das Mädchen hatte rote Badeschuhe an mit etwas höheren Absätzen und hier muss ich einige Stossseufzer über die Undankbarkeit der Menschheit loslassen, denn wer kennt noch den Erfinder der hohen Absätze? Dieses Genie? – Sie tragen alle die Absätze, sie wissen, dass das die Gestalt hebt, indem es den Hintern herausstreckt und den Busen. Und sie wusste es auch, und das war das feine! Und sie B N
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] und f dürfte,N ] Bz.B.N ] BStafetteN ] Bhaben f verspieltN ]
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kannN ]
appetitlichN ] ein einladendesN ] BrichtigN ] B
Er f habenN ]
haben.“N ] sagteN ] Bund f Auftreten.N ] B
undN ] leisteteN ] BXI.N ] B N] Bund f Busen.N ] B
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gestrichen: ma \und f dürfte,/ \z.B./ korrigiert aus: Staffette (1) verlieren sie, verspielen sie (2) haben f verspielt (1) muss (2) kann korrigiert aus: appatitlich korrigiert aus: einen einladenden (1) rech (2) richtig (1) Das ist ein gescheiter Mensch (2) \Er f haben/ korrigiert aus: haben“. korrigiert aus: sagt (1) und das war natürlich gelogen. Denn eigentlich hatte er noch niemals so richtig Sport getrieben -- wohl hat er überall etwas hineingeschmeckt, aber sein Fussball ist ein Tennisball ein alter ausrangierter gewesen, und sein Fussballplatz ein Hinterhof und in der Kellnerschule hat er nur Kaliberkleingeschossen. (2) und f Auftreten. korrigiert aus: ….. und korrigiert aus: leisteten \XI./ Absatz eingefügt (1) und das erhöhte ihre Gestalt in einer für das männliche Auge angenehmen
Prop[ot]|ort|ion -(2) \und f Busen./
16–18 18 20 20
und f dennN ] werN ] BUndN ] Bfeine! UndN ] B B
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[O wie ist doch die Welt undankbar!] |und f denn| [W]|w|er korrigiert aus: und korrigiert aus: feine! Und
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ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 54
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
Lesetext
konnte wunderbar Kopfspringen, sogar von ganz droben, vorwärts und rückwärts. Wie schön war doch das, wenn sie sich so in die Lüfte erhob, abbog und dann hinabschwebte, und im Wasser verschwand, und das Wasser stieg hoch und hatte sich noch lange nicht wieder beruhigt, dann kam ihr Kopf heraus und hatte um den Mund herum Speichel und auch aus der Nase hing etwas heraus . „Das wär das Glück“, dachte Ludwig. „Können Sie auch springen?“ rief sie ihm aus dem Wasser zu und wartete keine Antwort ab, denn sie war überzeugt , dass er springen konnte, vielleicht sogar besser wie sie selbst , so sehr war sie beeindruckt . „Springen Sie mir nach!“ rief sie ihm zu. „Das Wasser ist herrlich!“ Und sie wartete erwartungsvoll im Wasser und Ludwig sah, dass sie sich trotz der Tiefe kaum bewegen musste, eine solche Technik hatte sie. Das ist jetzt aber eine unangenehme Geschichte, dachte Ludwig, aber nun er war ja noch nicht alt genug, um sich blamieren zu musste er springen, denn können. Hoffentlich hab ich Glück , murrte er und sprang mit einem gewaltigen Anlauf los und hinein. B
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hatte f herausN ]
„Können f springen?“N ] sieN ] Baus f WasserN ] BzuN ] BkeineN ] B N] Bdenn f überzeugtN ] B
springenN ] sogarN ] B N] BselbstN ] B N] BbeeindrucktN ] BriefN ] B
wartete f WasserN ] trotz f TiefeN ] B N] BsolcheN ] BDasN ] BGeschichte,N ] BdachteN ] B N] B N] BaltN ] BHoffentlichN ] BGlückN ] BmurrteN ] BerN ] BgewaltigenN ] B
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(1) prustete (2) \hatte f heraus/
[„Können f springen?“] [\{ }/] |sie| [das Mädchen] |aus f Wasser| zu[,] [seine] |keine| [garnicht] [denn sie setzte es als klar voraus] [|so sehr war sie davon überzeugt|] |denn f überzeugt| [es] |springen| \sogar/ [sogar] se[ b]|lb|st [von ihm] [bee]|bee|indruckt (1) rief (2) [\{l }/] wartete1 im3 Wasser4 erwartungsvoll[,]2 \trotz f Tiefe/ [so] \solche/ [„]Das [Sache“,] |Geschichte,| [dachte] [|{murmelte}|] |dachte| [so[ nst]|nst|] [hätt er sich [vielleicht] |noch mehr| blamiert --] [sicher] |alt| [„]Hoffentlich Glück[“] [dachte] |murrte| er[,] korrigiert aus: gewalt igen
385
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
얍
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
Aber er hatte kein Glück – platsch fiel er auf den Bauch, dass es nur so unartige Bombe . Na sowas! dachte das Mädchen und klatschte, wie eine zuerst wollte sie es garnicht glauben, dass er auf den Bauch gefallen ist, statt auf den Kopf -- aber dann liefen alle am Ufer zusammen, lachten und schrien: „Bauch! Bauch! Bauch!“ Und da lachte das Mädchen mit und ärgerte sich über sich selbst, wegen einem solchen missglückten Kavalier, während dieser dachte: Jetzt ist es schon geschehen, warum hab ich auch nicht Kopfspringen gelernt, wär vielleicht noch gescheiter gewesen, als wie die Matrosen zu fragen was Er kroch aus dem Wasser. Mit rotem Bauch und der tat weh. sie denken – – „Tuts weh?“ fragte ihn das Mädchen, denn sie wollte ihn ärgern. „Es ist halt wieder nichts“, dachte er und wurde traurig. Und es wird wohl das Beste sein – so resignierte er – ich sag es ihr gleich, dass ich nichts kann. Und er sagte es ihr und erwartete, dass sie ihn stehen lässt. Aber sie liess ihn nicht stehen, denn nun fühlte sie sich ihm überlegen, weil er ihr leid tat. „Dann musst Du es halt lernen“, meinte sie und nun waren sie per Du. „Dazu bin ich schon zu alt“, sagte er traurig, und das sagen alle jungen Leute, wenn sie plötzlich merken, dass sie Zeit verloren haben. B
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Glück –N ] platschN ] BeineN ] B N] BunartigeN ] B
BombeN ] ] BNa sowas!N ] BMädchenN ] BgarnichtN ] Bzusammen,N ] Bschrien:N ] BmissglücktenN ] BKavalier f dachte:N ] BJetztN ] Bgeschehen,N ] B N] BwarumN ] Bwär f wieN ] Bdenken – –N ] B N] BEr krochN ] BMit rotemN ] B N] BderN ] B N] BdachteN ] B N
wurdeN ] sein f er –N ] Bkann.N ] BUndN ] BihrN ] Bmusst DuN ] Blernen“,N ] Bsie f Du.N ] B
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Lesetext
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Glück[,] |–| platsch[!] ein\e/ [\gewaltiger/] (1) missglückter (2) \unartige[r]/ [Schuss] [|Explosion|] |Bombe| [\Es tat ihm weh und die Kinder klatschten freudig die Hände./] [„]Na sowas![“] Mädchen[, „das ist Pech!“] [nicht] |garnicht| zusammen\,/ [und] schrien\:/ \missglückten/ Kavalier[.]|,| \während f dachte:/ [„]Jetzt gescheh[e “,]|en,| [dachte er,] [„]warum korrigiert aus: wär1 gescheiter4 gew[s]|es|en5 vielleicht2 [noch] |noch|,3 als6 wie7 denken[“ --] |– –| [und dann] [|Jetzt|] [kroch er] |Er kroch| [Sein] |Mit rotem| [war rot] \der/ [de] (1) [dachte] (2) \sagte/ (3) \antwortete/ wurd\e/ sein[,] |– so f er –| kann\./ [oder nur so halb --] [u]|U|nd ihr[,] m[üssen]|usst| [Sie]|Du| korrigiert aus: lernen,“ sie[.][|,|] \und f Du./
386
ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 55
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS5/A4 (Korrekturschicht)
Lesetext
„Werden sehen“, meinte das Mädchen, „das erste ist, dass man gelenkig wird, und Sie sind mir anscheinend zu steif“, fügte sie hinzu, und bei dem Worte steif musste sie wieder lachen, eigentlich ohne Grund. B
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\Abbruch der Bearbeitung\
1 3
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meinteN ] wieder f Grund.N ]
[sagte] |meinte| [lächeln, denn es fiel ihr etwas anderes ein. Und er lächelte, weil sie lächelte, aber ihm fiel eigentlich nichts dabei ein, nur, dass sie ein wirklich feines gutgewachsenes Mädchen sei.] |wieder f Grund.|
387
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS6 (Grundschicht)
Lesetext
\Textverlust\
5
얍 Er zitterte. „Ist Ihnen schlecht?“ fragte der alte Portier des Hotels, „Sie dürfen sich nicht gleich so übernehmen, morgen ist auch eine BNacht.“N „Es ist alles BekelhaftN“, sagte Ludwig, „und das was ich suche, find ich nicht, meist passen wir seelisch nicht zusammen, mir scheint, ich bin verflucht, wenn ich nur wüsst, wie ich da wieder herauskomme!“ „Draussen ist es doch auch nicht schön“, sagte der Portier, „es ist eben alles unvollkommen auf der Welt, und das Ideal erreicht man nie. \Abbruch der Bearbeitung\
4 4
B B
Nacht.“N ] ekelhaftN ]
korrigiert aus: Nacht“. korrigiert aus: eckelhaft
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ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 34
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS7 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
얍 Und dem Ludwig stand die Uniform nicht gut, denn er war doch ein Kellner und kein Militär. 5
Es hiess, er sei vermisst. Aber er war nur verwundet und die Wilden pflegten ihn. Vorher Schlacht mit Feldpredigt. Und die Wilden waren gut zu ihm und er kam zurück. Die Frau verheiratet mit dem Unteroffizier.
10
Er stand mit Hans Posten. Da kam ein altes Weiblein und wollte den König sprechen, aber der war nicht zu sprechen. Er war im Theater und sah sich ein Armeleutstück an. Und das Weiblein sagte zum Posten: ich habe viele Söhne und die kämpfen gegen die Wilden. Aber die Wilden sind nicht so wild, es ist eine Lüge. Und die Kanonen der Wilden hat der Minister hergestellt, denn er ist ganz dumm und blöd vor Gewinnsucht. Und der andere Posten wird revolutionär und eingesperrt. B
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Und der andere Posten sagte und das war ein guter Mensch : „ Meine Mutter hat mich gelernt, Du sollst nicht töten“, und er liess sich einsperren. „Du sollst nicht töten“ sagten andere und erschossen ihre Offiziere von hinten. Und wurde im Gefängnis vom Pazifisten zum Revolutionär. B
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W EIBLEIN Denk darüber nach!
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ArmeleutstückN ] AberN ] BUnd f nach!N ] Bund f MenschN ] BMeineN ] B„Du f hinten.N ] BRevolutionär.N ] B B
korrigiert aus: armeleut Stück korrigiert aus: aber
\Und f nach!/ \und f Mensch/ korrigiert aus: meine \„Du f hinten./ korrigiert aus: Revolutionär
389
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ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 35
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS8 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
5
10
얍 ich will, sagte das Weiblein und dann fuhr sie fort: „Ich BhabeN drei Söhne und die kämpfen gegen die Wilden. Ich möchte gerne wissen, was Du gesagt hast, dass man Dich hier eingesperrt hat.“ „Du sollst nicht Btöten.“N „Richtig“, BlächelteN das Weiblein, und nun will ich Dir drei Geschichten erzählen -- --
Nach jeder Geschichte: Denk darüber nach! Und Egginger dachte darüber nach. Am Schlusse: So und jetzt geh ich hinaus und erzähle es den Soldaten, was Du gesagt hast. Und Egginger sagte: Und wenn die Soldaten kommen, werde ich Ihnen sagen, dass sie die Minister aufhängen sollen. „Richtig“, sagte das Weiblein und verschwand. Und ging hinaus ins Feld. B
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Und die Soldaten fragen das Weiblein, brachen ab – setzten den Kriegsminister ab. In der Stadt. D AS W EIBLEIN (eine schrille Stimme) „Holt mir den Egginger heraus!“ Und da wurde das Weiblein jung und gross – es war die Revolution. N
\Abbruch der Bearbeitung\
2 4 4 13–17
habeN ] töten.“N ] BlächelteN ] BUnd f Revolution.N ] B B
korrigiert aus: ha be korrigiert aus: töten“. korrigiert aus: lächel te
\Und f Revolution./
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ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 37
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
5
10
WP17/TS9 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Es war einmal ein junger Mensch, der hiess Ludwig Schlamperl und war wie alle anderen jungen Menschen, die eben die Schule verlassen. Er beherrschte das kleine und das grosse Einmaleins, konnte lesen und schreiben, zwar nicht immer fehlerfrei, jedoch fliessend. „Was willst Du werden?“ fragte ihn sein Vormund, denn er hatte keine Eltern mehr. Sein Vater war nämlich gefallen, draussen auf dem Felde der Ehre, und da hat die Mutter nichtmehr schlafen können vor lauter Herzweh. Aber eines Nachts hat es an das Fenster geklopft und der Vater ist in der Türe gestanden, doch die Mutter hat ihn nicht gleich erkannt, weil er ganz grün im Gesicht gewesen ist Bvor lauter GasN. „Ich bin es“, hat der Vater gesagt, „und Du sollst nichtmehr weinen, liebe Frau.“ Und am nächsten Morgen hat es die Mutter gleich der Nachbarin erzählt, wie herrlich B dass der VaterN \Abbruch der Bearbeitung\
9 12
B B
vor f GasN ] dass f VaterN ]
\vor f Gas/ \dass f Vater/
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 56
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS10 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
5
10
얍 aufhört. Dort beginnt das Meer, aber niemand kam über das Meer gefahren. Im Hafen lagen die schönsten Schiffe und die Matrosen standen vor ihnen und gaben keinen Laut von sich. Was denken die Matrosen, dachte Ludwig, und plötzlich ging es ihm durch den Kopf: eigentlich bist Du ja auch nur ein Matrose und musst zuschaun, wie Dein Schiff verfault, Dein Kessel verrostet, Dein Segel zerbröckelt -- warum schreist Du nicht? Und Ludwig schrie, aber schon standen da zwei dicke Polizisten und schlugen ihm auf das BMaul, dass ihm das Blut aus der Nase {rann}.N Und keine Seele trat für ihn Bein,N Bund die Matrosen sahen schon garnichtN Bhin,N B N denn sie hatten es bereits erfahren, dass Schreien keinen Sinn hat. Etwas ganz anderes hätte einen Sinn, dachten die Matrosen, aber darüber darf man nicht reden. \Abbruch der Bearbeitung\
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Maul f {rann}.N ] ein,N ] Bund f garnichtN ]
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hin,N ] ]
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Maul[.]|,| \dass f {rann}./ ein\,/ [--] (1) schweigend sahen die Matrosen zu, (2) \und f garnicht/ [wie ihm das Blut aus der Nase rann] |hin,| gestrichen: ,
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 57
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS11/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
얍
An diesem Morgen war Ludwig Schlamperl bereits ziemlich weit und er beglückwünschte sich dazu, denn das Meer machte einen durchaus gemütlichen Eindruck. Jedoch plötzlich bewölkte sich der Himmel und von überallher kamen kleine Wellen auf das Boot zu. „Hoffentlich kommt kein Orkan“, dachte er besorgt, „das fängt nämlich immer so klein an, weil ich das in der Kellnerschule so gelernt habe“ -- aber kaum hatte er dies zu Ende gedacht, wurden die Wolken wieder blau und die Wellen glatt. „Mir scheint, ich hab Glück“, konstatierte er und liess sich weitertreiben. Immer klarer wurde die Luft, immer durchsichtiger das Wasser -- und was sich drunten alles tat, wenn man hinuntersah! Gesunkene Schiffe aller Länder und Zeiten, Polypen, Korallen und Tiefseefische, die sich selbst beleuchteten, während die fleischfressenden Veilchen im Verborgenem blühten . Auch gab es da drunten Fische, die bestanden nur aus Kopf, wieder andere hatten überhaupt keinen Kopf, manche waren kugelrund oder platt wie Seidenpapier und einige bestanden nur aus einer einzigen Flosse -- war das ein Leben! Er bemerkte es garnicht, dass ein grosses Schiff seinen Weg kreuzte, so vertieft hatte er sich in das, was unter ihm geschah. Erst im allerletzten Augenblick erblickte er die Gefahr und riss das Steuer herum -- aber natürlich zu spät, schon war es geschehen, nämlich der Zusammenstoss, und zwar mit einer derartigen Wucht, dass sein herrenloses Segelboot direkt zersplitterte, während er 얍 selbst kopfüber im Meer versank. – Als er wieder zu sich kam, lag er droben auf dem grossen Schiff, das ihn überfahren hatte. -- Um ihn herum standen seine Lebensretter und gratulierten sich gegenseitig. „Das hat so kommen müssen“, sagten sie und schienen sich darüber zu freuen. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle, wandte sich plötzlich der eine Lebensretter an ihn. Mein Name ist Schröder und ich arbeite an einer grandiosen Erfindung, es dreht sich um einen gigantischen Plan. Wie Sie sich zuvor selbst überzeugt haben werden, ist am Grunde des Meeres Erde, saftige fruchtbare Erde. Die Frage lautet nun: müsste man nicht Mittel und Wege finden, um diese Erde auf dem B
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JedochN ] Luft f durchsichtigerN ] B N] BPolypen,N ] BKorallen undN ] Bbeleuchteten, währendN ] B N] Bim f blühtenN ] BdruntenN ] Bunter ihmN ] Bdie GefahrN ] BimN ] Bversank. –N ] BSchiff f hatte.N ] BUmN ] Bdass f vorstelle,N ] Bvorstelle,N ] BLebensretterN ] Bihn.N ] B N] BsichN ] BMittelN ] B B
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 58
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[Aber] |Jedoch| Luft\,/ [und] |immer durchsichtiger| [immer durchsichtiger] Polypen\,/ [und] Korallen[,] |und| beleuchteten\,/ [und] |während| [im f blühten]f x x im f blühten \drunten/ [drunten] |unter ihm| [es] |die Gefahr| [ins]|im| [fiel. --] |versank. –| Schiff\, das f hatte./ [u]|U|m x dass f vorstelle, korrigiert aus: vorstelle. \Lebensretter/ korrigiert aus: ihn, [dass f vorstelle,]f x korrigiert aus: sic korrigiert aus: Mit tel
393
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 59
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS11/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
Grunde des Meeres bebauen, besiedeln -- mit einem Wort: urbar machen zu können? Richtig , meinte der 2. Lebensretter , aber wieviel einfacher wäre doch folgendes: im Inneren der Erde brennt bekanntlich Feuer. Man könnte dieses Feuer sich doch irgendwie nutzbar machen -Zur Sache! unterbrach ihn der 3. Lebensretter , Sie vergessen dass die Erde allmählich erkaltet, dass also das Feuer in absehbarerer Zeit erlöschen wird, man kann sich das ja sogar ausrechen -- und was ist dann, meine Herren ? O nein, so kurzsichtig dürfen wir nicht verfahren! Das wäre gefrevelt! Wenn wir nur einen Funken Gefühl für die Zukunft haben, müssen wir uns auf Eis legen! Wo bin ich, dachte Ludwig und was sind das für seltsame Gespräche -- zuguterletzt hat ja ein Jeder recht, aber warum redet denn keiner von 얍 mir, den sie doch schliesslich soeben erst aus dem Wasser gezogen haben? Und laut sagte er: „ Wo bin ich ? Wohin fahren wir, Herr Schröder?“ Aber er bekam keine Antwort, denn alle debattierten nun erregt über Wasser, Feuer und Eis, in dem sie hartnäckig aneinander vorbeiredeten , manchmal nur haarscharf, aber dennoch. Denn ein jeder hörte zuguterletzt nur sich selbst, weil er sich eben gerne reden hörte. Nur soviel entnahm Ludwig aus den Gesprächsbrocken, dass er sich auf einem majestätischen Boot befindet -- aber wer diese Majestät war, das konnte er nicht herausbekommen, denn das Boot führte die Flaggen sämtlicher Herrschaftshäuser und Nationen , ob gross oder klein. Es war das ein wirklich seltsames Fahrzeug. Mal schien es ein Dampfer zu sein, dann ein Segelschiff, mal wieder eine antike Galeere. Aber die Segel wurden nur bei totaler Windstille gehisst, und die Maschinen wurden nur in Gang gesetzt , wenn B
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1–2 2 5 6 7 9 11–14
11 11 12–13 13–14 14 14 15 16 18 18 18 18 19 19 19–20 22 22 22 23
können? RichtigN ] der 2. LebensretterN ] Bder 3. LebensretterN ] BFeuer f manN ] BHerrenN ] B N] Bmir f Eis,N ]
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korrigiert aus: können? Richtig [ein Anderer] |der 2. Lebensretter| [ein Dritter] |der 3. Lebensretter| Feuer1 erlöschen5 wird6[, und zwar] in2 absehbarer3 Zeit4, man7 korrigiert aus: Heren [das] || (1) mir, den sie doch gerade erst aus dem Wasser gezogen haben? Und laut sagte er: [Wo ist mein Boot?] [\1.)/ Wo bin ich?] \[3]|2|.)/ Wohin fahren wir \Herr Schröder?/? \[2]|1|.)/ Wer seid Ihr? Aber er bekam keine Antwort, denn alle debatierten nun erregt über die Eiszeit, über Wasser, Feuer und Eis. (2) mir f Eis, BdenN ] korrigiert aus: denn BsieN ] [{d}]|s|ie BWo f ichN ] [Wer seid Ihr] |Wo f ich| BdebattiertenN ] korrigiert aus: debatierten Bin demN ] [[wob] \wo/bei] |in dem| BhartnäckigN ] [immer] [|ständig|] [|jedoch|] |hartnäckig| BvorbeiredetenN ] vorbei[sprachen]|redeten| BzuguterletztN ] [\{eigent}/] |zuguterletzt| BmajestätischenN ] [königlichen] |majestätischen| BBootN ] [Schiffe] |Boot| B N] [irgendeine Majestät musste da mitfahren,] BaberN ] ab[e]|er| BBootN ] [Schiff] |Boot| BdieN ] [alle]|die| BHerrschaftshäuser f NationenN ] Nationen3 und2 Herrschaftshäuser1 BdannN ] [und] |dann| B N] [\wieder/] BwiederN ] [wieder] |wieder| Bin f gesetztN ] [eingesetzt] |in f gesetzt| B B
394
ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 59
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS11/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
die Kessel kalt waren, und gerudert wurde prinzipiell nur dann, wenn sie vor Anker lagen. Auch war nirgends ein Kompass zu sehen -- „Macht ja nix“, sagte der SteuerUnd mann, „wir treffen überall Leut, die sich über unseren Besuch freuen!!“ da hatte der Steuermann schon sehr recht, denn das Fahrzeug war unser liebes, gutes, altes Narrenschiff und die Majestät war der Narrenkönig in persona. Kinder, wie sah der aus! Ich fürchte, Ihr werdet es mir nicht glauben! Also hört genau her: Wenn der Narrenkönig traurig war, lachte er, und wenn er lustig war, weinte er -aber er liess es sich nicht anmerken. So sah er aus. „Willkommen!“ begrüsste er nun unseren Ludwig Schlamperl. „Willkommen in 얍 meinem Reiche! Wir haben Dich beobachtet schon seit jener Zeit, da Du von den beiden Polizisten eins auf das Maul bekommen hast, und Dein Entschluss, in einer Nussschale abzusegeln , hat uns bei Gott sehr gefallen -- aber ganz besonders hat es uns gefallen, dass Du damals, statt nachzuforschen, warum die Matrosen Dir nicht geholfen haben und was also die Matrosen denken, gleich halsüberkopf weg bist, gleichgültig wohin, irgendwohin, nur fort von den Menschen das ist bei Gott eine richtige Narretei gewesen, ganz in unserem Sinne! Du bist mir ein prächtiger Narr, lieber Ludwig! Willkommen nochmals in meinem Reiche! Willkommen!“ Kaum hatte er ausgesprochen, schon tauchte am Horizont eine illuminierte Stadt empor -- und das war ein farbenprächtiges Bild. Vor dem Hafen lag die Hochseeflotte in Gala und als der Oberadmiral das Narrenschiff erblickte , schoss er Salut. Am Ufer stand die gesamte Bevölkerung der Stadt, mit wenigen verschwindenden Ausnahmen, in Sonntagskleidern und jubelte und schwenkte Taschentücher. Und erst B
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] liebes,N ] Bgutes,N ] BKinder,N ] BwieN ] Baus!N ] BIch f her:N ] B
der NarrenkönigN ] lustigN ] BSo f aus.N ] B„Willkommen f Reiche!N ] B
jenerN ] einerN ] BNussschaleN ] BabzusegelnN ] B N] Bden MenschenN ] BilluminierteN ] Bder OberadmiralN ] BerblickteN ] Bschoss erN ] BgesamteN ] B N] BundN ] B
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nu\r/ [wir besuchen können!“] |sich f freuen!!“| Absatz vom Autor getilgt
[Und wenn ich es Euch jetzt sage, was das für ein Fahrzeug war, so werdet Ihr mir das nicht glauben, fürchte ich --] Absatz vom Autor getilgt
liebes\,/ gutes\,/ Kinder[!] |,| [W]|w|ie aus[!][|,|]|!| [\Ihr werdet es mir nicht glauben, für/] [|ich hab direkt Angst, dass Ihr es mir nicht glauben werdet!|] |Ich f her:| [er]|der Narrenkönig| korrigiert aus: lu stig \So f aus./ || (1) „Willkommen!“ begrüsste er nun unseren Ludwig „Willkommen in meinem (2) „Willkommen f Reiche! [der] |jener| [jener] |einer| korrigiert aus: Nusschaale abzu[fahren]|segeln| [fort,] [ihnen --] |den Menschen| \illuminierte/ [sie] |der Oberadmiral| erblickte[n] schoss[en sie] |er| korrigiert aus: gesammte gestrichen: anzug korrigiert aus: un
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 60
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS11/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
als der Narrenkönig das Land betrat, war das ein Jubel! Rechts und links die Strassen entlang standen erwachsene Männer, immer gleich angezogen jeder hatte einen Säbel in der Hand. Das war Militär, und auch der Narrenkönig hatte sich eine Uniform angezogen mit prächtigen Goldschnüren, denn er war der Inhaber eines Regiments. Vor dem Dome erwartete ihn der Regent , ein junger degenerierter Mann mit träumenden Augen. Sie begrüssten sich überaus herzlich und die ganze Stadt war ein einziges „ Hoch!“ -- aber das war noch alles nichts! Abends gabs 얍 eine Festvorin grossen Abendkleistellung in der Oper mit einem auserlesenen Publikum dern, Damen wie Herren hatten sich schon seit Wochen gewissenhaft gesäubert , geputzt und parfümiert. Dann hob sich der Vorhang und man sah ein Ballett, es war entzückend und plötzlich neigte sich der Regent langsam dem Narrenkönig zu und sagte leise: „Freund, ich liebe die Kunst und wenn es nach mir ging, würd ich ein Ballett mit einem Ausblick in die Zukunft verfassen, damit aus meinen Untertanen was Gescheites wird, etwas Schönes, Wahres Gutes -- aber leider fällt mir halt nichts Gescheites ein und ich leide unter meinem Purpur. Du bist der Einzige, der mich versteht.“ Und der Narrenkönig war ganz ergriffen und sagte: „ Freund, Du stehst mir ganz nahe .“ „Ich danke Dir“, sagte der Regent gerührt, drückte ihm die Hand, und schon war es aus mit dem Ballett und weiter ging es fort aus der festlichen Stadt in andere Städte, andere Länder – – zum Beispiel kamen sie auch B
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korrigiert aus: Unifor
8 8 8 8 9 9 9 10 12 12 14 14–15 15 16 17 17 17 17 18 18 18 18 19 19
jeder f Hand.N ]
auchN ] UniformN ] BRegentN ] BHoch!“ --N ] BAbends gabsN ] Beine f parfümiert.N ]
Oper f PublikumN ] mit f auserlesenenN ] BeinemN ] B N] Bseit WochenN ] B N] BgesäubertN ] Bparfümiert.N ] BKunst undN ] BwürdN ] B N] Bmir f nichtsN ] BGescheitesN ] BFreund,N ] BnaheN ] Bnahe.“N ] BRegentN ] Bgerührt,N ] BHand, undN ] Bes f mitN ] BdemN ] B N] BStadtN ] BLänder – –N ] B B
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 62
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(1) mit (2) jeder f Hand.
[König] |Regent|
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korrigiert aus: Hoch!“.-korrigiert aus: Abends gabs (1) ein Festvorstellung in der Oper und alles erschien in grossen Abendklei-
dern, Damen wie Herren hatten sich schon stunden vorher gewissenhaft gewaschen und geputzt. und parfümiert. (2) eine f parfümiert. Oper[, alles] |mit f Publikum| [das] |mit f auserlesenen| ein\em/ [erschien] [stundenlang] |seit Wochen| [vorher] [gewaschen] |gesäubert| parfümiert[.] [|denn das [hatten sie auch notwendig] |ist auch|] [|und auch|] |.| Kunst[\,/] [--] |und| würd[e] [hab ich kein Talent und mir] [nich ts] |mir f nichts| [\Gescheites/] |Gescheites| [Glaub es mir,] |Freund,| [Nahe]|nahe| korrigiert aus: nahe“. [r]|R|egent gerührt\,/ [und] Hand[.]|,| [Aber] |und| \es f mit/ [das]|dem| [aus] Stadt[,] Länder[,] [und] |–| [--]|–|
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 61
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS11/A5 (Korrekturschicht)
mal auf eine Inselgruppe, die bestand aus 722 Inseln, sie lagen dicht beinander, und jede wollte die grösste sein, weil sie halt alle gleichklein waren. Logischerweise dieser Wettstreit verursachte viel böses Blut und darum wollten die Inseln nichtsmehr voneinander wissen und schlossen sich jede für sich hermetisch ab. Daher kam es, dass man beispielsweise auf einer Insel nur Blutorangen zu essen bekam, denn auf ihr wuchsen eben nur Blutorangen und sonst nichts , auf einer zweiten gab es hinwiederum nur Feigen, auf einer dritten nur Spargeln, oder Rüben, Kohl, Spinat, Sellerie, usw. oder Paprika, Pfeffer, Salz {oder} -- Natürlich ass man überall seinen Kohl, Spinat, usw. auf verschiedene Arten zubereitet, aber es war halt doch immer dasselbe und demgemäss wirkte natürlich auch die Literatur dieser Inseln auf den unbefangenen Leser. Aber ganz krass waren B
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2 2 2 2 2–3 3 3 3 3–4 3 3–4 4 4 5 5 5 5 6 6 6 7 7 7 7–8 8 8 8–9 9 9 9 9 10 10 11 11 11 11
722N ] Inseln,N ] BsieN ] BlagenN ] B N] BundN ] Bjede f sein,N ] B
weilN ] sie f alleN ] B N] Bgleichklein waren.N ] BLogischerweiseN ] Bverursachte f BlutN ] BvielN ] Bböses BlutN ] Bund f undN ] BdarumN ] Bdie InselnN ] BnichtsmehrN ] Bjede f sichN ] BDaherN ] Bman beispielsweiseN ] B N] BBlutorangenN ] Bauf ihrN ] BwuchsenN ] Bnur f nichtsN ] Bgab f wiederumN ] BhinwiederumN ] Bauf f drittenN ] Boder f usw.N ] Boder f {oder}N ] B N] BNatürlichN ] BassN ] Büberall f usw.N ] BaufN ] BArtenN ] B N] Bimmer dasselbeN ] BInseln f Leser.N ] BAber ganzN ] BkrassN ] BwarenN ] B B
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Lesetext
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[zweiundsiebzig] |722| Inseln[,]|,| [die waren alle gleichgross und] \sie/ [{oa}]|la|gen [aber sie wollten nichts voneinander wissen,] [denn] |und| [sie konnten sich nicht [jede behauptete, sie sei die grösste] |darüber einigen|] |jede f sein,| [und] |weil| [sie waren doch] |sie f alle| [alle] gleichklein[.] |waren.| [Und] |Logischerweise| [verfeindete si[e,]|e|] |verursachte f Blut| [natürlich manch] |viel| \[{machte}] böses Blut/ [jed ärgerte sich über die andere und sie] |und f und| [die Inseln] |darum| \die Inseln/ nichts\mehr/ [gegenseitig] |jede f sich| [So] |Daher| \man beispielsweise/ [man] [O]|Bluto|rangen [auf der Insel] |auf ihr| wuchs\en/ [nichts anderes] |nur f nichts| [\wie/] |gab f wiederum| [wiede] |hinwiederum| [dann wieder] |auf f dritten| [Dotschen[,] |oder| Kohl,] [|{usw.}|] |oder f usw.| \oder f {oder}/ [\Brunnenkresse/] [n]|N|atürlich [asss]|ass| [das au] |überall f usw.| \auf/ [Weise] |Arten| [\(das nannte man {nationale} Küche)/] [eintönig] |immer dasselbe| Inseln[.] |auf f Leser.| \Aber/ [G]|g|anz [schlimm] |krass| war\en/
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS11/A5 (Korrekturschicht)
die Lebensverhältnisse auf jenen Inseln, auf denen nichts wuchs. 얍 Da produzierte die eine die Schrauben, die andere die Muttern, die dritte die Messer, andere die Gabeln, Löffeln , eine Zahnstocher, die andere Teller, -- und die die Oefen hatten, froren, die die Kohlen hatten, hatten keine Streichhölzer , und die die Streichhölzer hatten, hatten wieder keine Kohlen! Infolgedessen gab es natürlich Inseln, wo jeder Bewohner erfrorene Füss hatte, ja sogar die Kinder wurden schon mit erfrorenen Füssen geboren , wieder andere hatten hohle Zähne oder verdorbene Magen, Skorbut, Krebs, Tuberkulose -- aber sie waren stolz auf ihre Eigenschaften – Auch war da eine Insel, die beund in ihren Wappen führten sie ihre Bazillen sass nur Butter und sonst nichts, alles war aus Butter, die Häuser, die Strassenbahn, die Betten und die Anzüge, Schuhe, und man trug natürlich auch Butter auf dem Kopf. Es war kein einfaches Leben, besonders im Hochsommer hatte das Land viel zu leiden, es schmolz dahin und wurde ranzig, und im Winter wieder musste man sich oft mit der Hacke ausziehen, besonders zur Weihnachtszeit . – Aber nicht nur auf dem Lande, nein auch draussen auf dem Meere begegneten dem Narrenschiff ständig Gleichgesinnte. So schwammen Leute vorbei, Männlein und Weiblein, um irgendeinen neuen Rekord aufzustellen, und zwar gab es B
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 63
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die LebensverhältnisseN ] [es natürlich] |die Lebensverhältnisse| auf denenN ] [wo] |auf denen| Bwuchs.N ] wuchs[,]|.| B N] || [die also nur produzierten] [|industrielle Artikel produzierten,|] BDaN ] [so war] [d]|D|a Bproduzierte dieN ] \produzierte die/ BdieN ] [Insel, die machte nur] |die| BSchrauben,N ] Schrauben\,/ [und] B N] [Insel] Bdie f LöffelnN ] (1) [eine\r/ Räder, die anderen die] [Deichsel] |Löffel, die Gabeln| (2) \die f Löffeln/ B N] [usw] B N] [und die Auswirkungen] BundN ] (1) [könnt] [Ihr] |es Euch| [Euch] [ja \selbst/ lebhaft] [denken!] |vorstellen, wie sie| (2) \und/ BdieN ] [D]|d|ie BdieN ] [die] [|welche|] |die| Bkeine StreichhölzerN ] korrigiert aus: keine 0 Streichhölzer BInfolgedessenN ] korrigiert aus: Infol gedessen Bmit f geborenN ] [so] |mit f Füssen|[n]ge[boren] BZähne f Magen,N ] Zähne[,] [dritte] |oder f Magen,| BSkorbut,N ] Skorbut\,/ [und] [|oder|] BKrebs,N ] \Krebs,/ BTuberkulose --N ] korrigiert aus: Tuberkulose-Baber f ihrenN ] [und] |aber f ihren| BWappen f BazillenN ] [die]|ihre|4 Bazillen5 führten2 sie3 [im] Wappen1 B N] [so stolz waren sie auf ihre Eigenschaften.] B– AuchN ] [--]|–| Auch BStrassenbahn, dieN ] korrigiert aus: Strassenbahn,die BSchuhe, undN ] korrigiert aus: Schuhe, und BWeihnachtszeit. –N ] Weihnachtszeit. \–/ B N] [(wie leicht konnte einem da was passieren)] B N] [natürlich] B N] [immer wieder] BMännleinN ] Männ[er]|lein| B N] [die über das Weltmeer schwimmen wollten,] Birgendeinen neuenN ] [einen] |irgendeinen neuen| Baufzustellen,N ] aufzustellen\,/ [--] B B
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ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 62
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS11/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
da Brustschwimmer, Rückenschwimmer und Freistilschwimmer . Manchmal schwammen auch ganze Familien vorbei und der Narrenkönig stiftete einen Pokal für denjenigen, welcher zuerst ersoff. Wenn dann der nächste ersoff, bekam der den Pokal, usw. – immer der Zuletztersoffene . Es war das ein Wanderpokal. B
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FreistilschwimmerN ] ManchmalN ] B N] BderN ] BnächsteN ] BderN ] BPokal f ZuletztersoffeneN ] BdasN ] B B
[F]|F|reistilschwimmer Manc\h/mal [--] [ein]|der| n[a]|ä|chste[r] [\der/] |der| Pokal\,/ [wie[der]|der| der] |usw. f Zuletztersoffene| \das/
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS12 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Narrenkönig.
ÖLA 3/W 347 – BS 61 d [3], Bl. 72
Und als das Schiff am Horizont verschwand, da war es ihm, als wär das nur ein Traum gewesen, oder hätte das ganze nur einen Tag gedauert, und vielleicht hat es nur einen halben Tag gedauert. Wer weiss, so rasch vergeht die Zeit, besonders unter Narren, aber vielleicht hat er es sich auch nur eingebildet, dass es so kurze Zeit gedauert hat oder dass die Zeit so rasch vergeht. Kurz: gross sind die Gefahren für die jungen unglücklichen arbeitslosen Leut auf das Narrenschiff zu kommen! – Wie er jetzt im Bade herumging, war es ihm, als wäre er nie mit dem Schiff gefahren, sondern wäre aus dem Hafen der Matrosen gleich hierher – trotzdem hatte er das Gefühl, dass ihn alle anschauen. B N
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] ZeitN ] Btrotzdem f anschauen.N ] BihnN ] B N B
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
얍
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ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 64
Nun fuhren sie an glücklichen Gestaden vorbei. Hier war der Himmel blau und am Strande sonnten sich viele gesunde Menschen, ab und zu sprang einer ins Wasser, kroch hernach wieder heraus auf den Sand und liess sich von der Sonne abtrocknen, respektive rösten. Es war eine wahre Freud! Und als Ludwig sah, wie all diese Leut dort drüben miteinander redeten und sich zu verstehen schienen, da stieg eine traurige Sehnsucht in ihm hoch, und er wollte mitreden, auch mitbaden dort drüben , und sich verstehen mit irgendwem, gleichgültig mit wem – – und seine Sehnsucht war von trauriger Natur. Und es fiel ihm die Begrüssungsansprache des Narrenkönigs ein -- jaja und richtig! Er hätte die Matrosen fragen müssen, was sie sich denken, aber er hatte doch das Kellnerdiplom und keine Arbeit! Nein das war ja direkt kindisch, da einfach abzusegeln, so total allein , nur wegen einem einzigen Schlag aufs Maul, und schon alles verleugB
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Hier f blauN ] Menschen,N ] BWasser,N ] BhernachN ] BherausN ] Babtrocknen f rösten.N ] B
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] wie f miteinanderN ] B N] Bschienen,N ] Bstieg eineN ] BtraurigeN ] B N] Bwollte mitreden,N ] B N] Bdort drübenN ] Bund f wem –N ] B– und f Natur.N ] B
jaja undN ] richtig! ErN ] Baber f Arbeit!N ] B
NeinN ] einfachN ] Btotal alleinN ] BeinzigenN ] B
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[\R. Hitler I. Frick Au. Neurath F. Schwerin-Krosigk Wirt. Hugenberg A. Seldte/] [Hier schien die Sonne] |Hier f blau| Menschen\,/ [und] Wasser[,] [|und|] |,| [dann] |hernach| [hinaus] |heraus| [trocknen braun trocknen. Und das wiederholte sich immer wieder,] [|{ }|] |abtrocknen f rösten.| [es]|Es| (1) [Als] [|Und als|] [|Traurig lehnte|] Ludwig[dies] (a) sah, wie die Leute alle [miteinander] (b) \auf dem Geländer des Narrenschiffes/ (2) [\Traurig lehnte Ludwig auf dem Geländer des Narrenschiffes/] (3) \Und f miteinander/ [all diese Freud dort drüben] [lehnte er sich] |wie f miteinander| [badenden] schienen\,/ [in einer gewissen menschlichen Gemeinschaft,] [kam eine] [|wurde er sehr|] |stieg eine| traurig[e]|e| gestrichen: [auch da mitzubaden,] [|{ } {wie}|] |wie| [sagte sich, ich möcht] |wollte [{ }] |mitreden,|| [da][|dort|] \dort drüben/ \und f wem –/ (1) \(/auch so einem Schwimmverein angehören, nur fort von diesen einsamen Narren!\)/ (2) \– und f Natur./ jaja[,] |und| korrigiert aus: richtig! Er [\Immer wieder fiel ihm/] [|Wie recht hatte doch der Narrenkönig!|] |aber f Arbeit!| korrigiert aus: nein einfac\h/ korrigiert aus: totallein \einzigen/
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A2 (Korrekturschicht)
Lesetext
nen, alle Band abreissen, nichtsmehr damit zu tun haben wollen! Nur raus aus dieser Einsamkeit! Nie wieder Narr! Aber was macht man nicht alles für Narrheiten aus purer Verzweiflung! Und kaum hatte er so gedacht, so seine Gedanken geordnet und sich selbst geprüft, schon stand er drüben auf dem Strande und das Schiff lag ganz weit und klein in der Ferne. Und als es nichtmehr zu sehen war , da war es ihm als wäre das mit dem Narrenschiff nur ein Traum gewesen, oder als hätte das ganze nur einen Tag gedauert, als hätt er gerade am vorigen abend erst im Hafen bei den Matrosen gestanden -- und wäre jetzt hierhergekommen. Und vielleicht hat das ganze Narretei nur 얍 einen halben Tag gedauert. Wer weiss, so rasch vergeht die Zeit, besonders unter Narren, aber vielleicht hat er es sich auch nur eingebildet, dass es so kurze Zeit gedauert hat oder dass die Zeit so rasch vergeht. Auf alle Fälle war es ihm jetzt, wie er da am Strande herumging, als wäre er nie mit dem Schiff gefahren, sondern wäre aus dem Hafen mit den schweigenden Matrosen gleich hierhergekommen -- aber trotzdem hatte er das Gefühl, dass ihn alle anschaun. B
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ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 65
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얍 Er legte sich in die Sonne, etwas abseits. Dort spielten einige kleine Kinder im Sand, bauten Burgen und dergleichen -- und plötzlich spielte er mit. Auch er baute sich eine unwahrscheinliche Burg B N mit vielen B N Basteien, aber kaum hatte er sie fertig, Büberrannte sieN BeinesN der Kinder Bund zwar mutwillig.N B N Dieses mutwillige Kind war ein B Knabe,N hiess BTheoN Bund war Bboshaft.N N B N Natürlich geriet BdaN unser Ludwig in Wut und zerstörte Bnun auchN die Burg BTheos, worauf dieser anfingN Bso ungeheuerlich zu heulen,N BdassN seine grosse Schwester herbeigelaufen B BkamN.N BDieN hiess BLottchen 1–2
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Nur f Einsamkeit!N ]
(1) Nur f Einsamkeit! (2) \O wie kindisch, o wie/
Aber f Verzweiflung!N ] \Aber f Verzweiflung!/ nichtmehr f warN ] (1) verschwand (2) nichtmehr f war Bam StrandeN ] 13 [im Bade] |am Strande| Bmit f schweigendenN ] 14 [der] |mit f schweigenden| BaberN ] 15 \aber/ Banschaun.N ] 16 korrigiert aus: anschaun B N] 20 [{ }] B N] 20 [Türmen und] Büberrannte sieN ] 20–21 [s\p/rang] |überrannte sie| BeinesN ] 21 eine[r]|s| Bund f mutwillig.N ] 21 [[mit allen vieren] |mutw| auf seine Burg und da war sie] |und f mutwillig.| B N] 21 [[n]|N|atürlich \war seine/ zerstört.] BKnabe,N ] 22 [Bub und] |Knabe,| BTheoN ] 22 korrigiert aus: Theo. Bund f boshaft.N ] 22 \und f boshaft./ Bboshaft.N ] 22 [sehr {bosh}] |boshaft.| B N] 22 [Theo hatte ansonsten ganz anständige Manieren, aber e er war sehr boshaft.] BdaN ] 22 [nun] |da| Bnun auchN ] 23 \nun auch/ BTheos f anfingN ] 23 Theos\,/ [und zwar radikal. Und Theo] |worauf f anfing| Bso f heulen,N ] 23–24 heul[te]|en|[3]|4| \zu[2]|3|/ \so1/ ungeheuerlich[1]|2|\,/ BdassN ] 24 [und da kam] |dass| BkamN ] 24 \kam/ Bkam.N ] 24 korrigiert aus: kam, BDieN ] 24 [d]|D|ie 24–403,1 BLottchen undN ] Lottchen[.] [U]|u|nd B
402
ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 66
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A2 (Korrekturschicht)
und erkundigte sich besorgt, was denn um Gotteswillen passiert wäre – und als sie sich darüber klar wurde, wandte sie sich an Ludwig. Sie sah ihn von unten nach oben an (denn er war ziemlich grösser wie sie) und sagte nur: „Sie Narr“ -- und das ging ihm durch Mark und Bein, jedoch abgesehen hievon entging es ihm nicht, dass sie schöne Augen hatte und überhaupt auch ansonsten ein appetitliches Mädchen war. „So ein Narr“, sagte sie nun abermals und tröstete ihren kleinen Bruder \Abbruch der Bearbeitung\ N B N
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5
Lesetext
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1 1 1 1–2 2 2 3 6 6 6
] ] Bwäre –N ] Bals f darüberN ] BLudwig.N ] B N] BSie sahN ] BsagteN ] BsieN ] B N] B N B N
N B
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[die] [si] [sei] |wäre –| [als sie den Sachverhalt erfuhr übersah] |als f darüber| Ludwig[,]|.| Absatz vom Autor eingefügt
[sah]|Sie| \sah/ [wiederholte sie] |sagte| \sie/ [sie]
403
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Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A3 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
얍
5
Nun fuhren sie an glücklichen Gestaden vorüber . Hier war der Himmel blau und am Strande sonnten sich viele gesunde Menschen, ab und zu sprang einer ins Wasser, kroch hernach wieder heraus auf den Sand und liess sich von der Sonne abtrocknen, respektive rösten. Es war eine wahre Freud! Und als Ludwig sah, wie all diese Leute dort drüben miteinander redeten und sich zu verstehen schienen, da wollte er auch mitbaden dort drüben und seine Sehnsucht war von trauriger Natur. O jaja und richtig! Nein das war ja damals direkt kindisch, so einfach abzusegeln, gleichgültig wohin und mutterseelenallein und alle Bande zum lieben Nächsten zu zerreissen und nichtsmehr mit nichts zu tun haben wollen -nur wegen eines einzigen Schlages auf das Maul, aber was macht man nicht alles für Narreteien aus purer Verzweiflung! O jaja, er hätte die Matrosen fragen müssen, was sie sich denken -- O könnte man nur Unüberlegtheiten ungeschehen machen, nur fort von diesen einsamen Narren! Nie wieder Narr! Und kaum hatte er sich so geprüft und seine Gedanken derart geordnet, schon stand er drüben auf dem Strande, als wäre das mit dem Narrenkönig nur ein Traum gewesen oder als hätte das ganze nur einen Tag gedauert -- und vielleicht hat es auch nur einen halben Tag gedauert. Wer weiss, so rasch vergeht die Zeit, besonders unter Narren, aber vielleicht hat er es sic \Textverlust\ B
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2 8 9 9 9 10 11 11 13 13 15 16
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vorüberN ] damalsN ] Bgleichgültig wohinN ] BmutterseelenalleinN ] BundN ] Bzum f zuN ] BeinesN ] BSchlagesN ] BUnüberlegtheitenN ] BungeschehenN ] BderartN ] BStrande,N ]
16 17
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NarrenkönigN ] esN ]
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vor[bei]|über| \damals/ [irgendwohin] |gleichgültig wohin| [ganz allein,] |mutterseelenallein| [alles verleugnen,] |und| \zum f zu/ eine[r]|s| Schla[g]|ges| [Dinge] |Unüberlegtheiten| [rückgängig] |ungeschehen| \derart/ Strande\,/ [und das Narrenschiff lag ganz klein in der Ferne. Und als es nichtmehr zu sehen war,] Narren[schiff] |könig| [das ganze] |es|
404
ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 67
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A4 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
얍
5
Nun fuhren sie an glücklichen Gestaden vorüber. Hier war der Himmel blau und am Strande sonnten sich viele gesunde Menschen, ab und zu sprang einer ins Wasser, kroch hernach wieder heraus auf den Sand und liess sich von der Sonne abtrocknen, respektive rösten. Es war eine wahre Freud! Und als Ludwig sah, wie all diese Leute dort drüben miteinander redeten und sich dabei zu verstehen schienen, da wollte er auch mitbaden dort drüben und seine Sehnsucht war von trauriger Natur. Er hätte die Matrosen fragen sollen, was sie sich denken, – nein das war ja damals direkt kindisch, so einfach abzusegeln, gleichgültig wohin und alle Bande zum lieben Nächsten zu zerreissen und nichtsmehr damit zu tun haben wollen -- nur wegen eines einzigen Schlages auf das Maul, aber was macht man nicht alles für Narreteien aus purer Verzweiflung! B
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Er f denken,N ] sollen,N ] Bdenken, –N ] B N] BneinN ] Bwohin undN ] B B
[O jaja und richtig!] |Er f denken,| [müssen,] |sollen,| denken, \–/ [fiel es ihm plötzlich ein.] [N]|n|ein wohin[\,/] [und mutterseelenallein,] |und|
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ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 71
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A5 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
5
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얍 dass es so kurze Zeit gedauert hat oder dass die Zeit so rasch vergeht. Auf alle Fälle schien es ihm jetzt, wie er so am Strande BherumgingN, als wäre er niemals mit dem Narrenschiff gefahren, sondern wäre aus dem Hafen mit den schweigenden Matrosen gleich hierhergekommen -- aber trotzdem hatte er das Gefühl, dass er seltsam angeschaut wird, als würden sich alle Bzuzwinkern:N „Schau, ein Narr“ -- so musste er sich also langsam erst wieder eingewöhnen, was niemanden zu verwundern braucht, denn es ist doch keine Kleinigkeit von einem Narrenschiff herab plötzlich in einem Familienbad zu landen. \Abbruch der Bearbeitung\
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B B
herumgingN ] zuzwinkern:N ]
heru[n]|m|ging zuzwinkern\:/ [und flüstern:]
406
ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 68
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A6 (Korrekturschicht)
Lesetext
\Textverlust\
5
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15
20
얍 dann von oben herab: „Sie Narr“ -- und Bdieses Wort lähmte ihn momentan, aberN B N B dannN B Bhörte er sich plötzlich sagen: „Ich bin kein Narr!“ und er freute sich übers eine Entschlossenheit. „Das siehtN nur so aus, als ob ich ein Narr wär, und ich gebe es gern zu, dass Sie mich für einen halten können, aber dann täuschen Sie sich eben, Fräulein!“ Und er setzte ihr auseinander, dass er ja die Burg BihresN kleinen Bruders zerstören musste, denn man müsste es doch einem Menschen schon im zartesten Kindheitsalter beibringen, dass Bniemand ungesühnt zum Beispiel auf das MaulN geschlagen werden dürfte. „Sehen Sie“, sagte er, „dort drüben steigt eine Stafette und wenn da nur einer nicht mittut, kommt keiner ans Ziel. Und da drüben spielt eine Fussballmannschaft und wenn die nicht alle zusammenspielen, haben sie schon verspielt“ -- und während er so sprach, dachte Ber,N dassN Bdieses Mädchen vor ihmN schöne Augen BundN Bblonde HaareN BhatN und überhaupt auch ansonsten ein appetitliches Mädchen BistN. B N Und das Mädchen fühlte seine Gedanken und BfolgteN also garnicht richtig seinen Ausführungen, aber es dachte sich dennoch: er scheint recht zu haben. Und laut B N fügte BesN hinzu: „Können Sie eigentlich Fussballspielen?“ „Ich kann alles“, sagte er, und das war nun wirklich übertrieben, aber er wurde halt immer selbstsicherer, je mehr sie ihm Bgefiel.N Jetzt lachte das Mädchen, eigentlich ohne Grund. Sie hatte rote Badeschuhe an mit hohen Absätzen -- BUndN hier muss ich nun als treuer Chronist unbedingt einen Stossseufzer über die Undankbarkeit BdesN Menschengeschlechtes loslassen, denn: wer kennt denn noch den Erfinder der hohen BAbsätze? DiesesN einzigartige BGenie, dasN es herausgebracht hatte, dass ein hoher Absatz die BweiblicheN Gestalt in einer 얍 B demN BmännlichenN Auge BwohltuendenN Bund daher BdenN männlichen Sinn bezau2 3 3 3 3–4 6 8 12 12 13 13 13 14 14 14 16 16 18 20 21 22 22–23 23 24 24 24 24–408,1 24
B
[das ging ihm durch Mark und Bein] |dieses f aber|
B N
gestrichen: jedoch abgesehen hievon entging es ihm keineswegs,
dieses f aberN ] ] BdannN ] Bhörte f er,N ] Bhörte f siehtN ] ihresN ] niemand f MaulN ] Ber, dassN ] Bdieses f ihmN ] BundN ] Bblonde HaareN ] BhatN ] BistN ] B N] BfolgteN ] B N] BesN ] Bgefiel.N ] BUndN ] BdesN ] BAbsätze? DiesesN ] BGenie, dasN ] BweiblicheN ] BdemN ] BmännlichenN ] BwohltuendenN ] Bund f bezauberndenN ] BdenN ] B B
\dann/ hörte f er, „Ich2 bin3 kein4 Narr[“,]|!“|5 hörte f plötzlich sagen\:/1 und6 \er7/ freute8 sich9 über10 seine11 Entschlossenheit.12 „Das[1{ }] |13| sieht14 korrigiert aus: Ihres [man1] zum[4]|3| Beispiel[5]|4| niemand[2]|1| ungesühnt[3]|2| auf[6]|5| das[7]|6| Maul7 er,15 dass16 [sie] |dieses f ihm| x
eingefügt
\blonde Haare/ ha[tte]|t| [war]|ist| [hörte f er,]f x korrigiert aus: fol gte [fü] [sie]|es| gefiel\./ [und je deutlicher er es fühlte, dass] [(u]|U|nd de[r]|s| Absätze[,]|?| [d]|D|ieses Genie[?]|,| [D]|d| korrigiert aus: webliche [d[em]|as|] |dem| männliche[n]|n| [angenehmen] [|bezaubernde|] |wohltuenden| \und f bezaubernden/ de[m]|n|
407
ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 69
ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 70
Fragmentarische Fassung (Himmelwärts)
WP17/TS13/A6 (Korrekturschicht)
Lesetext
bernden Proportion erhöht? Wer kennt dieses Genie, weiss seinen Namen, sein Vaterland? Er ist vergessen, verschollen, als hätt er niemals unter uns gelebt, und derweil ziehen alle Frauen Nutzen von seiner Erfindung der hohen Absätze, indem diese nämlich ihren Busen und Hintern heraustreten lassen. So natürlich auch jetzt Lottchen. Aber kann man ihr einen Vorwurf machen, dass sie es nicht weiss , während sie sich jetzt anschickte, in das Wasser zu springen? Himmel, war das ein vollendeter Kopfsprung ! Ja, dieses Mädchen konnte springen, sogar von ganz droben, vorwärts und rückwärts! Wie schön war das doch, wenn sie sich in die Lüfte erhob, abbog, hinabschwebte und immer schneller im Wasser verschwand, dass es nur so emporspritzte und schon kam ihr Kopf wieder heraus und um ihren Mund herum war alles voll Speichel. „Das wär das Glück“, dachte Ludwig. „Können Sie auch springen?“ N
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2 5 6 7 8 8 9 9–10 10 10
] weissN ] Bspringen?N ] BKopfsprungN ] Bwar f wennN ] Babbog,N ] Bund f schnellerN ] Bdass f emporspritzteN ] Bkam ihrN ] BihrenN ] B N B
[ve] weiss[? Nein, das wäre ungerecht, trotzdem es undankbar ist) -- es nicht weiss] springen[.]|?| Kopfsprung[/] war1 doch3 das2, wenn4 abbog\,/ [und dann] \und f schneller/ da[s]|ss| [stieg hoch] |es f emporspritzte| korrigiert aus: kamnihr [den] |ihren|
408
Werkprojekt 18: Reise ins Paradies
409
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Wien, 7. August 35 B
5
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 3
Lieber Bruder, wie geht es Dir? Mir geht es gut, das heisst, eigentlich geht es mir nicht gut, sondern schlecht. Denn ich habe kein Geld und es fällt mir nichts ein. Beides ist für einen Menschen, der davon lebt, dass er Novellen schreibt , sehr ungünstig, denn so hat er keine Gelegenheit , dass er sich welche ausklügelt. Die Zeit drängt, der Magen knurrt, und die Geduld, die Mutter der Phantasie, wird ungeduldig. Es ist kein angenehmer Zustand \Abbruch der Bearbeitung\ B N
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Lieber f ZustandN ]
[Lieber Bruder, [wo steckst Du? Ich hab ja schon ewig nichts von] [|hoffentlich erreicht Dich dieser Brief! Ich sende ihn an Deine alte Adresse, obwohl ich mir bewusst bin, dass Du nichtmehr da wohnst.|] |wie geht es Dir? Mir geht es gut, das heisst, eigentlich geht es mir nicht gut, sondern schlecht. Ich hab kein Geld und es fällt mir nichts ein. Beides ist sehr [schlecht] |nachteilig|, wenn man heutzutag davon leben soll, was man schreibt.|] [|Lieber Bruder, wie geht es Dir? Mir geht es gut, das heisst, eigentlich geht es mir nicht gut, sondern zufriedenstellend.|] [|Lieber Bruder, hoffentlich erreicht Dich dieser Brief, denn er ist {sehr} {d} |] [|Lieber Bruder, wie geht es Dir? Mir geht es gut, das heisst, eigentlich geht es mir nicht gut, sondern [schlecht] [|zufriedenstellend.|] |schlecht|. Denn ich habe kein Geld und es fällt mir nichts ein. Beides ist für einen Menschen, der [{Zei}] |davon| lebt, dass er [Zeitungsartikel schreibt, nicht vorteilhaft. Trotzdem] |Novellen verfasst, sehr ungünstig.||] |Lieber f Zustand|
3–9
B
3 6 6 6–7 6 7 7 7 8
B N
Absatz eingefügt
B N
[\sich/] [verfass] [|ausklügelt|] |schreibt| ungünstig[.]|,| [[E]|e|r hat] |denn f hat| [er] |so| \er/ [Zeit] |Gelegenheit| drängt[,] [|und|] |,| [ist leer,] |knurrt,|
] ] BschreibtN ] Bungünstig, f hatN ] BsoN ] BerN ] BGelegenheitN ] Bdrängt,N ] Bknurrt,N ]
410
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Wien, 7. August 1935
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 4
1.) Lieber Bruder, wie geht es Dir? Mir geht es gut, das heisst, eigentlich geht es mir nicht gut, sondern schlecht: ich habe kein Geld und es fällt mir nichts ein. Beides ist für einen Menschen, der davon lebt, dass er Novellen verfasst, sehr ungünstig, denn unter solchen Umständen, hat er keine Gelegenheit, sich welche auszuklügeln. Wenn der Magen knurrt wird die Geduld, diese Mutter der Phantasie, ungeduldig. Alles andere ist Schwindel. Lass mal was von Dir hören und sei gegrüsst von Deinem Bruder. B N
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2.) Antwerpen, 9. Dezember 35 15 B
Lieber Bruder, Dank für Deinen ausführlichen Brief, den ich leider erst vorgestern, vier Monate später erhielt, denn ich bin inzwischen zirka 20x umgezogen, weil alle Hausfrauen Bestien sind. Sie haben sich alle darüber beschwert, dass ich die Miete schuldig geblieben bin und dass ich manchmal mitten in der Nacht noch gesungen hab, obwohl ich Kunstmaler bin. Ich hab ja leider auch keine Stimme, sondern nur einen Farbensinn und ein Formgefühl . Aber von diesen beiden letzteren kann man heutzutag nicht leben. Herzlichst Dein Bruder. NB: Beiliegend übersende ich Dir einige Hausfrauen B N
B
B
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3 5 5 8 8 10 16–24
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Absatz eingefügt
B N
] ] BmirN ] B N] BAllesN ] Bhören f gegrüsstN ] BLieber f Bruder.N ]
[Denn] [mir] |mir| [\weise/] [A] |Alles| hören[, {bitte} {bal}] |und f gegrüsst| [Lieber Bruder, [danke Dir für Deinen freundlichen Brief, mir geht es auch miserabel, denn] |Deinen lieben Brief erhielt ich erst heute, vier Monate später, denn ich bin inzwischen zirca 20x umgezogen, weil alle Hausfrauen Bestien sind! [Keine hat es mir erlaubt, dass ich in der Nacht musizier oder laut sing, gleich habens alle geschrien. Meine [{ }] |männlichen und weiblichen| Bekannten titulierten sie mit Worten aus niederer Sphäre – [Du weisst, dass ich nicht schreiben kann und deshalb zeichne] |Du weisst, dass ich nicht schreiben kann, drum zeichne ich Dir lieber einige her, dann|]|] |Lieber f Bruder.|
16 17 18 19 21 21 22 22 22 22 24
B N
] vorgestern,N ] BzirkaN ] BgebliebenN ] BKunstmalerN ] BFarbensinnN ] BeinN ] BFormgefühlN ] Bvon f letzterenN ] BheutzutagN ] BNB f HausfrauenN ]
Absatz eingefügt
B
[heute,] |vorgestern,| \zirka/ ge[{b }] |blieben| [Zeichner] |Kunstmaler| Farben[-]|sinn| \ein/ Form[ensinn]|gefühl| [davon] |von f letzteren| \heutzutag/ \NB f Hausfrauen/
411
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 3.) Wien, 15. Dezember 35
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 5
Lieber Bruder, ich freue mich, dass Dich mein Brief doch noch erreicht hat und es tut mir leid, dass es Dir auch schlecht geht. Mir geht es inzwischen noch schlechter. Es sind mir zwar einige Novellen eingefallen, aber trotzdem war es nichts Neues. Man sollte alle Einfälle der Welt kennen, nicht, um von ihnen zu lernen, sondern um sich darnach einzurichten. In diesem Zusammenhang möcht ich an Dich die Frage richten, ob Du nicht bereit wärst, mit mir zusammen etwas zu arbeiten. Ich hätte eine Idee für ein Buch, das Du illustrieren könntest. Die Idee wäre folgende: ein kühner Erfinder konstruiert ein Automobil, das die Möglichkeit hat, in der Zeit zurückzufahren, durch Ausnutzung verschiedener Strahlen, etc. Das Auto kann also zurückfahren, zur Gotik, bis zum Paradies. Mir gefällt diese Idee sehr. Eigentlich ist sie nicht von mir, sondern von dem armen Sobottka. Dein Bruder. B N
5
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B
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4.) Antwerpen, den 20. Dezemb. 35 20
Lieber Bruder, Und: (Zeichnung: (glückliche Weihnachten!) die Idee gefällt mir sehr gut. Wer ist Sobottka? Dein Bruder. B
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5.) Wien, den 24. Dez. 35 25
Lieber Bruder, ebenfalls alles frohe zum Fest! Sobottka, der Arme, ist ein Beschränkter, dessen Steckenpferd es ist, immer in andere Zeiten zu fahren. Ich glaube, wir sollten ihm die Dankbarkeit erweisen, und den Mann unseres Buches Sobottka nennen. Oder: wie denkst Du? Dein Bruder. B N
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B
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얍 6.) Luci an mich. Schanghai.
4 11 13–14 15 20 21 21 22 26 27 28 29 30
] Buch f könntest.N ] Bzurückfahren f Paradies.N ] BSobottka.N ] BBruder,N ] BUnd f Weihnachten!)N ] B N] Bdie f gut.N ] B N] Bebenfalls f Fest!N ] Bdie DankbarkeitN ] Bden f nennen.N ] BdenkstN ]
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 6
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Absatz eingefügt
B
Buch [.]|,| [– Du] |das f könntest.| [bis] |zurückfahren f Paradies.| Sobottka[?] |.| Bruder[!]|,| \Und f Weihnachten!)/ Absatz eingefügt
die f gut. Absatz eingefügt
[vor allem glückliche Weihnachten!] |ebenfalls f Fest!| [diesen] |die Dankbarkeit| [die Idee] |den f nennen.| [D]|d|enkst
412
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
7.) Ich an Luci. „Ich hab schon gedacht, dass Du nicht willst! Ich freue mich, nun würde ich mich dranmachen! Aber so von der Entfernung geht es nicht!“ B N
B
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NN
8.) Luci an mich. „Natürlich geht es von der Entfernung! Es macht ja nichts aus, wenn es lange dauert! Wir haben Zeit. “ B
5
B
B
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9.) Ich an Luci.
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10.) Luci an mich. „Ich bin in die Hände von Piraten gefallen – es war sehr unangenehm.“ \Abbruch der Bearbeitung\
1 2 2 2 4 5 5
] würdeN ] Bdranmachen f nicht!“N ] Bnicht!“N ] BnichtsN ] Bdauert f Zeit.“N ] BZeit.N ] B N B
[{es}] [werde] |würde| dranmachen![“] |Aber f nicht!“| korrigiert aus: nicht! nich[{t}]|ts| dauert![“] |Wir f Zeit.“| korrigiert aus: Zeit
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Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS3 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 B Lieber Bruder, B N Du weisst, dass unsere liebe Tante Bim nächsten JahrN Bam B17N. August GeburtstagN B hatN. Sie ist unsere Wohltäterin und unsere Erbtante, ich verdanke ihr, dass sie mich ausgebildet hat, und Du auch. BDa wir beide einen künstlerischen Sinn haben,N Du 5 gerne zeichnest und ich gerne schreibe, hab ich mir gedacht, ob wir ihr nicht zusammen ein Buch verfassen könnten. Sie würd sich riesig freuen, sicherlich. Dass wir nicht im selben Ort sind, das macht ja nichts.N \Abbruch der Bearbeitung\
1–7
B
Lieber f nichts.N ]
1 2 2–3 2 3 4
B N
Absatz eingefügt
B
[{im} nächsten] |im f Jahr| [Geburts] |am f Geburtstag| 1[1]|7| \hat/ [Ich] |Da f haben,|
] im f JahrN ] Bam f GeburtstagN ] B17N ] BhatN ] BDa f haben,N ]
[1.) In unserem Hause wohnte der alte Sobottka, ein geistesschwacher Mann.] [|1.) Lieber Bruder, wie geht es Dir? Mir geht es schlecht. Ich hab kein Geld und es fällt mir nichts ein. Beides ist für einen Menschen, der davon lebt, dass er Novellen verfasst, sehr ungünstig|] [\Lieber Bruder, Du weisst, dass unsere liebe Tante im nächsten Jahr am [11]|17|. August Geburtstag hat. Sie ist unsere Wohltäterin/] |Lieber f nichts.|
414
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 3v
Fassung des I. Kapitels (Reise ins Paradies)
얍
WP18/TS4 (Korrekturschicht)
B
I.
N
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 1
„Die Reise ins Paradies“ haben wir verfasst vor langer Zeit. Damals lebte unsere liebe Tante noch, der wir es zu Weihnachten schenkten, denn sie war gewissermassen unsere Wohltäterin. Sie war etwas beschränkt und sagte immer, sie möchte aus der Zeit heraus, in anderen Zeiten leben. So entstand diese „Reise“. Inzwischen ist sie entschlafen und hat uns ihr ganzes Vermögen vermacht, es ist zwar nicht gross, aber immerhin reichte es dazu, dass ich mir eine kleine Gastwirtschaft und mein Bruder sich eine kleine Landwirtschaft kaufen konnte. Seit der Zeit schreiben und zeichnen wir natürlich nichtmehr, sondern wir phantasieren nur vor uns hin. Durch einen Zufall entdeckte ein Gast in meinem Gasthof diese „Reise“. Sie gefiel ihm sehr gut und er wollte sie veröffentlichen. Er ist ein Verleger, der bei mir übernachtete, weil er eine Panne hatte. Auch mein Bruder hat nichts dagegen einzuwenden. Und so wünschen wir dem braven Mann alles Gute, es möge recht vielen Lesern gefallen und sie sollen ihre Freude daran haben. B
B
5
Lesetext
N B N
N
B
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10
B
15
N B
1 3 3 4 5–6 11
B
I.N ] haben f verfasstN ] B N] BliebeN ] BSie f Reise“.N ] BDurch f Reise“.N ]
11
B
B
SieN ]
N
[Das] |I.| [ist] |haben f verfasst| [und gezeichnet] \liebe/ \Sie f Reise“./ [Wir lieben aber diese unsere „Reise ins Paradies“ und veröffentlichen sie hiermit, so wie] |Durch f Reise“.| [{E}] |Sie|
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Notizen zum II. Kapitel
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 1
416
Notizen zum II. Kapitel
WP18/E1
417
Lesetext
418
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS5 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 B BWienN 7. August. 35N
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 7
B N
5
10
15
20
Lieber Bruder, wo steckst Du? Ich hab ja schon ewig lang nichtsmehr von Dir gehört, aber ich habe kein Recht, Dir Vorwürfe zu machen, denn ich bin auch schreibfaul. Ich hab immer Angst, dass ich nichts mitzuteilen habe. Alles, was mir passiert, wird im Moment, da es hinter mir liegt, nichtmehr mitteilungswert. Mein Leben läuft einförmig dahin, ich hab kein Geld und ich schreibe, was sich trifft. Ich möchte gern einen Film schreiben, aber da reden soviel mit und die Leut verstehen meinen Stil nicht. Worüber ich lache, da werden sie ernst, was ich für blöd find, finden sie geistvoll, was ich tragisch, finden sie sinnlos. Ich weiss nicht woher das kommt, wahrscheinlich von mir. Also, ich schreib nichts für den Film. Auch für das Theater kaum mehr. Mein letztes Stück war ein Durchfall, ich habe viele Szenen gestrichen, aber wenn die drin geblieben wären, wärs ein Erfolg gewesen. Ich glaube aber überhaupt, dass das Theater keine Zukunft hat, es fehlt die Jugend, und es macht sich jeder sein eigenes Theater, da jeder eine Rolle spielt. Für das Schicksal anderer ist wenig Interesse vorhanden, nur für die Situationen anderer, in die sie geraten können. Aber das wird Dich langweilen und mich langweilts auch. Wenn ich nur Geld hätte! Dann wär ja alles in Ordnung, ich weiss zwar, dass Geld allein nicht glücklich macht, aber „alles“ ist auch ein relativer Begriff. -- Nun hab ich mich entschlossen, ein Buch zu schreiben, und zwar mit Dir. Du bist doch Maler und Du könntest es gleich illustrieren, aber es dürfte kein illustrierter Roman werden, sondern es müsste mehr ein Bilderbuch sein. Schreib mir doch, bitte, ob Du Lust hättest, mit mir sowas zu machen. Ich schicke den Brief noch an Deine alte Adresse, ich bin zwar überzeugt, dass Du verzogen bist, aber hoffentlich tut die Post Ihre Pflicht und sendet es Dir nach. Dein Bruder. B
B
25
N N
얍 B BAntwerpenN 9. Dezember 35N B N 30 Lieber Bruder, die Post tat ihre Pflicht, ich erhielt Dein ausführliches Schreiben, wenn auch ein halbes Jahr später, denn ich bin inzwischen zwanzigmal umgezogen, weil alle Hausfrauen Bestien sind! Keine hat es mir erlaubt, dass ich in der Nacht musizier, und sing! Meine Freunde titulierte sie „Bürscherl“ und meine BFreundinnenN -- belegte B 35 sieN mit niederen Worten. Deinen Brief versteh ich nicht ganz, Du weisst, dass ich nicht sehr gerne denke, selbst ja, aber nicht mit anderen zusammen. Ich hab bloss verstanden, dass Dein letztes Stück kein Erfolg war, was mir leid tut, und dass Du mit mir zusammen einen Ro1 1
B
2
B N
23 24 29 29 29 34 35
B
Wien f 35N ] WienN ] ]
sein.N ] schickeN ] BAntwerpen f 35N ] BAntwerpenN ] B N] BFreundinnenN ] BsieN ] B B
[Budapest] |Wien f 35| (1) Wien (2) [\Budapest/] [Lieber Bruder, hoffentlich erreicht Dich dieser Brief, ich sende ihn noch an Deine alte Adresse] korrigiert aus: sein,. korrigiert aus: schic e [\22. Dezem/] |Antwerpen f 35| \Antwerpen/ [{ }] korrigiert aus: Freundinnen“ korrigiert aus: si
419
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 8
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS5 (Korrekturschicht)
Lesetext
man schreiben willst den ich illustrieren soll, was mich freut. Aber ich finde es einen Mist. Ein illustrierter Roman ist nichts, man phantasiert für den Leser, und da wird der Leser meistens bös. Denn was ihm schon einmal vorphantasiert worden ist, das möcht er allein nachphantasieren und da hat er recht. Aber schreib doch mal, was Du für eine Idee hast, wenn wir jetzt auch weit getrennt sind, vielleicht können wir was zusammen machen. Ich fahr morgen nach China, als Matros. Was soll ich hier noch als Zeichner? Ich hab zuviel Schulden. Schreib mir Schanghai postlagernd. Vielleicht könnens wir auf die Entfernung hin machen. Hier gefällts mir nichtmehr. B
B
5
N
N
B N
10
Dein Bruder. B
15
Damit Du eine Ahnung hast, zeichne ich Dir her eine Galerie der Hausfrauen, unter denen ich litt. Die mit dem Stern (X) bezeichnete, hat meinen Grammophon zurückbehalten. La furie = die Furie. B
20
25
N
N
얍 am 18. April Lieber Bruder, also hat Dich mein BBriefN doch erreicht, ich dachte wirklich nichtmehr daran! Der Deine hat sich auch verspätet, da ich inzwischen auch umgezogen bin, zu Freunden, denn ich hab garkein Geld. Schreib bald wieder und glückliche Weihnachten! Meine Idee wäre die Geschichte eines Mannes, eine Reisegeschichte, der in der Zeit zurückfährt. Ich hab mal einen geistig Beschränkten gekannt, der arme Sobottka, der hat immer gesagt, er möcht in andere Zeiten fahren. Eigentlich ist es also nicht meine Idee. Aber vielleicht interessiert Sie BDichN und die Anderen. BDennN man kann aus allem heraus, nur nicht aus seiner Zeit. Dein Bruder!
30 B
35
Lieber Bruder, dass Du nach Schanghai fährst, erstaunt mich sehr. Aber vielleicht hast Du recht und man soll die Welt kennen lernen. Dass Du trotzdem mitarbeiten willst, freut mich sehr. Wir haben beide Zeit zu verlieren – also es macht nichts, wenn wir lange brauchen. Dein Bruder. B N
Lieber Bruder, (ein Bild von Schanghai)
1 2 10 14–16 16 20 26 26 31–421,8 31
denN ] Ein illustrierterN ] B N] BDamit f Furie.N ] BLaN ] BBriefN ] BDichN ] BDennN ] BLieber f Lösegeld:N ] B N] B B
korrigiert aus: denn korrigiert aus: Einen illustrierten
[Ich schreib nicht gern, und ich zeichne es Dir lieber rasch her:] \Damit f Furie./ [{E}] |La| korrigiert aus: Brief, korrigiert aus: Dich. korrigiert aus: Den \Lieber f Lösegeld:/ Absatz eingefügt
420
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 9
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS5 (Korrekturschicht)
Lesetext
Lieber Bruder, (das erste Kapitel.) Lieber Bruder, ich beeile mich zu antworten, es dauerte so lange, weil ich in die Hände von Piraten gefallen bin. Da war ein Führer, der sah so aus: und die Unterführer: und ich: (gefesselt) Fast wärs so gekommen: (aufgehängt) aber dann kam das Lösegeld: B
5
B
NN
\Abbruch der Bearbeitung\
3 5–8
B B
inN ] und f Lösegeld:N ]
[{i}] |in| \und f Lösegeld:/
421
N
Strukturplan
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 2
422
Strukturplan
WP18/E2
423
Lesetext
Strukturplan (Fortsetzung)
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 3
424
Strukturplan (Fortsetzung)
WP18/E2
425
Lesetext
Notizen, Strukturpläne
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 1
426
Notizen, Strukturpläne
WP18/E3–E8
427
Lesetext
Strukturplan in sieben Kapiteln
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 2
428
Strukturplan in sieben Kapiteln
WP18/E9
429
Lesetext
Notizen und Dialogskizzen
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 4
430
Notizen und Dialogskizzen
WP18/E10
431
Lesetext
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS6 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Napoleon. B (Ein Greis als Napoleon = Onkel Ferdinand) N B
5
ÖLA 3/W 350 – BS 15 b [2], Bl. 5
Über dem Bett des Onkel Ferdinand hängt ein Napoleon, und auch über dem Tisch, über dem Sofa, im Vorzimmer, gleich rechts bei der Eingangstür hängt ein Napoleon. Und er hat Stiche von der Schlacht bei Jena, Napoleon in Ägypten, in Italien, die Kaiserkrönung, und immer wieder Napoleon. Auf dem Kaminsims (Sockel) steht eine Büste Napoleons. Ja, er hat sogar eine Originalunterschrift und seine Bücher bestehen zur Hälfte aus Napoleon. Es ist selbstredend, dass Onkel Ferdinand seine grosse Reise bei Napoleon begann. Den wollte er persönlich sehen – ihn sprechen. Er fuhr also hin, an die Schlacht von Jena, an den Abend vor der Schlacht. Er kam zu spät. Die Schlacht war bereits im Gange. Die Preussen wurden geschlagen und ihre Königin Luise hatte einen schwarzen Tag. N
B
10
B
B
N
B
N
15
(Er war bei der Zusammenkunft dabei: Luise – Napoleon) \Abbruch der Bearbeitung\
2 4 6 10 11 12
(Ein f Ferdinand)N ] Über f FerdinandN ] BinN ] Bgrosse f beiN ] Bpersönlich sehenN ] Bvor derN ] B B
\(Ein f Ferdinand)/ [Der Onkel Fer] |Über f Ferdinand| [{bei}] |in| [Reise bei] |grosse f bei| korrigiert aus: sehen \persönlich/ [der] |vor der|
432
N
N
Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS7 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Probefahrt in Bdie Kinderzeit.N
Es war ein grauer Herbstmorgen voll Nebel , als unser Onkel Ferdinand zu seiner ersten Fahrt startete. Er wollte nicht weit fahren, gewissermassen nur um die Ecke, in die eigene Kinderzeit. Auf dem Schaltbrett flammte es auf, rot, gelb, grün und blau – es surrte die eingebaute Zeitzündspule, der Vergaser, die Zeitzylinder. Er kuppelte den ersten Gang ein. Der Onkel gab Gas, das Auto schien sich zu erheben, mit wahnsinniger Geschwindigkeit, der Nebel wurde noch dicker, wie gelber Lehm – oder Watte – aber nur einen Augenblick lang, dann stand der Motor. Und die Sonne schien. – Das Auto stand am selben Fleck. Nur der Fleck sah anders aus. Als er wegfuhr, sah der Platz so aus: B
B
5
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 10
N
B
N
N
B
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B
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B
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B
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N
(Bild) 15
und nun so: (Bild) 20
Er stieg aus dem Auto, und langsam erkannte er wieder alles, auch Dinge, die er bereits vergessen hatte. Richtig, da drüben stand ja das Haus, wo jetzt die Garage steht, der Hofnerbräu stand noch rechts, 얍 und dort gabs keine Strasse, und dort hinten überhaupt keine Häuser! Dort war eine freie Wiese und dort spielten sie, wo jetzt die Filiale der Commerzbank steht. Und da war es ja auch, dieses Firmenschild, die jetzt alle ausgestorben sind. (Bild?) B
25
N
Und rechts um die Ecke war ein Park, da schwammen Schwäne, jetzt ist es der Nordbahnhof. B
N
N
30
(Bild.) (Durchsichtig: Schwäne, kleines Schloss.) B N
35
1 3 3 4 4 6 7–8 9 22 28 28–29 33
die Kinderzeit.N ] grauerN ] Bvoll NebelN ] BFahrtN ] BweitN ] Bes surrteN ] BEr f ein.N ] BoderN ] BHofnerbräuN ] BschwammenN ] Bder Nordbahnhof.N ] B N] B B
[die Kinderzeit.] |die Kinderzeit.| [nebeliger] |grauer| \voll Nebel/ [Probe] |Fahrt| [weit] |weit| [es surrte] [|der|] |es surrte| \Er f ein./ [{ }]|o|der Hofnerbr[a{u}]|äu| [{st}] |schwammen| [ein \Trambahn/ Magazin.] [|ein Bahn|] |der Nordbahnhof.| [Trambahn-Magazin.]
433
B
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 8
Fassung (Reise ins Paradies)
BB B
WP18/TS7 (Korrekturschicht)
Lesetext
Er ging die Strassen entlang: die Schule, das Haus, wo seine Eltern wohnten, (jetzt Wolkenkratzer). N
N
N
(Bild) Durchsichtig!! 5
Er trat an das Haus und sah hinein. Ja, da stand der gelbe Tisch. Im Laden arbeitete der Vater, er war Schuster (dort, wo jetzt ein Café steht). B
10
B
N
N
얍 Er ging auf die Wiese – und seltsam! er wurde mit lautem Halloh! empfangen! Die Buben spielten mit Kugeln. Er war nicht Bverändert,N er sah sich in den Spiegel. Richtig: so! (Bild)
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 6
Aber die Buben sahen ihn so: (Bild)
15
20
(Das Mädel in der Wiege, das ihn später betrog) Und da stand ja auch der dicke Karl, der ihn um die Kugeln betrogen hat. Er ging hin und haute ihm eine herunter! „Bäh!“ schrie der dicke Karl. „Du hast mich betrogen!“ rief Ferdinand. Der dicke Karl brüllte „Nein!“ „Aber dann wirst Du mich morgen betrügen!“ „Ferdinand!“ rief eine Stimme, und er sah sich um, da stand eine Frau und winkte ihm zu.
25
(Bild)
B
N
B
N
B
dicker Karl (Bild) N
30
Es war seine Mutter. Ein eigenartiges, beklemmendes Gefühl überkam ihn. „So lass doch den Karl in Ruh!“ sagte sie. „Sei nicht ungerecht, Ferdinand!“ „Ich hab ihn nicht betrogen!“ meinte der dicke Karl. Und die Mutter zog ihn mit sich. Der Vater bestraft ihn. B
(Bild: er kniet in der Ecke, während die Eltern essen)
N
35
Er musste in der Ecke knien. Und während er so kniete, dachte er darüber nach, was das für 얍 eine seltsame Sache ist mit der Gerechtigkeit. Man darf nicht vorverurteiB
N
1 1
B
2 7
B
7 10 17 18–19 27–28 34 36–37
B
B
Er f entlang:N ] Er gingN ] Wolkenkratzer).N ] Schuster f steht).N ]
CaféN ] verändert,N ] B(Das f betrog)N ] Bging hinN ] Bdicker f Bild)N ] B(Bild f essen)N ] Bwas f fürN ] B B
[Und drüben] [|Das ei|] |Er f entlang:| (1) [Er ging] (2) \Um die Ecke(?)/ korrigiert aus: Wolkenkratzer) Schuster \(dort f steht)./ [und in der Küche hörte er die Mutter schimpfen. „Zu meiner Zeit“, sagte die Mutter, „war ein Dienstbot nicht frech!“] korrigiert aus: Cafè [veränd] |verändert,| \(Das f betrog)/ [ging hi] |ging hin| \dicker f Bild)/ [(Er {kn}] |(Bild f essen)| [wie es mit der] |was f für|
434
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 7
Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS7 (Korrekturschicht)
len, sonst wird man bestraft. Vielleicht muss alles so kommen. Die Knie taten ihm weh, er erhob sich plötzlich und stürzte hinaus. „Karl!“ schrie die Mutter, „Karl!“ schrie der Vater! Weg war er! Drüben stand sein Auto. Er sprang hinein und fuhr zurück, d.h. vorwärts. Als er ankam stellte er fest, dass eine ganze Zeit vergangen ist. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Bäume blühten, es war Frühling. Überrascht sah er sich um. Damit hatte er nicht gerechnet. – Aber es war ihm einerlei. Die Probefahrt gelang vortrefflich und morgen sollte die Reise angetreten werden, die Reise in seine Lieblingszeit, in die Zeit des grossen Napoleon, den er abgöttisch verehrte. B
N
5
B
N
B
B
N
N
B
10
Lesetext
N
B
N
1–2 2 6 7 9 10–11
Die f weh,N ] stürzteN ] Beine f ZeitN ] BBäumeN ] BDieN ] Bin f Napoleon,N ] B B
[Und plötz] |Die f weh,| [stürzt] |stürzte| [ein Monat] |eine f Zeit| [Blumen] |Bäume| [M] |Die| [als es noch] |in f Napoleon,|
435
Notizen
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 10
436
Notizen
WP18/E11–E12
437
Lesetext
Notiz
ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 8
438
Notiz
WP18/E13
439
Lesetext
Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS8 (Korrekturschicht)
얍
5
Lesetext
I.
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 11
Es dreht sich die Erde um die Sonne und der Mond dreht sich um uns. O wie schön ist der Mond, die Sonne, die Erde! Wie hell ist der Tag, wie finster die Nacht, wie trokken der Staub, wie nass der Regen, wie hitzig der Sommer, wie eisig der Winter, wie weiss der Schnee und wie grün das Gras! O wie oft haben wir uns wegen all dieser Probleme gezankt, gestritten, gerauft, geprügelt und wieder versöhnt, mein Bruder und ich! Mein Bruder B
N
B
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B N
der zeichnet
10
15
und ich, der ich schreibe. Warum zeichnet Oberer und warum schreib ich Unterer? Weil es uns freut! Jawohl, wir freuen uns über das Eis und die Hitze, das Laster, die Tugend, das Unkraut und das Kraut, das Gute und das Böse -- kurz und gut und böse: ärgert Euch nicht über uns! Denn wir können doch nichts dafür, dass unser kurzes Leben uns mal gegeben worden ist, um dereinst genommen zu werden. Aergert Euch nicht, liebe Leut! Seht, wir widmen ja Euch dieses Buch, Euch allen jenen, die wohl lesen, aber nicht zeichnen können! Und auch denen unter Euch, die 얍 nicht lesen können. Die sollen es sich nämlich vorlesen lassen, von jenen, die zeichnen können. In diesem Sinne! Euer Ödön von Horváth . B
B
20
B
N
N
N
B
B
6 6 7 16 19 20 20 23 23
wegenN ] dieserN ] B N] BdochN ] BwidmenN ] BzeichnenN ] Bkönnen. DieN ] BÖdönN ] BHorváthN ] B B
N
[über] |wegen| diese\r/ [unterhalten,] [halt] |doch| Korrektur von fremder Hand: wi[e]dmen
[schreiben] |zeichnen| korrigiert aus: können. Die
[O]|Ö|dön Horv[a]|á|th
440
B
N
N
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 12
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS9 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 EIN BRIEFWECHSEL
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 13
얍 am 7. März 1935 5
10
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 14
Lieber Bruder, wo steckst Du? Hoffentlich erreicht Dich dieser Brief, denn ich hätte einen wichtigen Vorschlag: Du wirst Dich doch erinnern, dass unser lieber Onkel Ferdinand am 2. Oktober Geburtstag hat. Er wird hundert Jahre alt und da hab ich mir gedacht, dass wir ihm etwas schenken sollten, weil er doch unser Wohltäter ist. Da wir jedoch kein Geld haben, um ihm etwas zu kaufen, bin ich dafür, dass wir zwei ihm ein Buch schreiben, ich die Worte und Du die Bilder. Er wird sicher eine Riesenfreud daran haben. Antworte bald Deinem Bruder.
15
am 11. August 1935
20
Lieber Bruder, ich antworte bald, denn ich tu sehr gerne mit, aber hast Du schon eine Idee für das Buch? Antworte bald Deinem Bruder.
am 12. August 1935 25
30
35
Lieber Bruder, natürlich hätt ich schon eine Idee, und zwar: der liebe Onkel Ferdinand sagt doch immer, dass er in einer anderen Zeit leben möcht. Schreiben wir ihm also ein Buch, in dem er ein Auto hat, mit dem er nicht nur in beliebige Länder, sondern auch in beliebige Zeiten fahren kann. Seit wir ihn kennen, seufzt er doch in einer Tur: „Früher 얍 war es besser!“ Lassen wir ihn also zurückfahren, wohin er nur möcht, ins Mittelalter, zur Maria Theresia und zu seinem geliebten Napoleon, zum Schubert Franzl oder zum trojanischen Pferd! Er wird sicher eine Riesenfreud daran haben! Antworte bald Deinem Bruder.
am 13. August 1935 40
Lieber Bruder, diese Idee mit der Reise retour ist mein Fall! Du weisst, ich bin schreibfaul, drum leg ich Dir lieber gleich ein Aquarell bei: „Onkel Ferdinand vor seinem Zeitwagen“.
45
Sieht aus, wie ein normales Auto, nur hat es drinnen eine Vorrichtung, mit der man in
441
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 15
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS9 (Korrekturschicht)
Lesetext
der Zeit zurückfahren kann, aber diese Vorrichtung kann man auf dem Bilde nicht sehen, denn das wär mir zu kompliziert zum zeichnen. Auf Wiedersehen! Dein Bruder. NB: Ich bin dafür, dass er zuerst eine Probefahrt macht, aber nicht zu weit. 5
얍 PROBEFAHRT IN DIE KINDERZEIT
10
15
20
25
30
35
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 16
얍 „Wieviel Liter?“ fragte der Tankwart. „Dreihundertzwanzig“, sagte der Onkel kurz. Der Tankwart starrte ihn entsetzt an: „Wieviel?!“ „Oder“, meinte der Onkel und setzte sich die Brille auf, „gebens mir dreihundertfünfundzwanzig. Und zweiundsechzig Liter Oel.“ „Grosser Gott!“ schrie der Tankwart, „sind Sie verrückt geworden, Herr Ferdinand?!“ „Wieso?“ erkundigte sich der Onkel herablassend. „Ja, wo wollens denn hinfahren?! Um die Welt oder gar auf den Mond?!“ „Noch weiter!“ sagte der Onkel und lächelte mysteriös. „Aber davon verstehen Sie nichts. Also gebens schon her das Benzin, das Oel. Und gebens mir auch noch sieben Hektoliter Wasser!“ Der Tankwart zuckte ängstlich zusammen und bediente ihn benommen. Es dauerte dreieinhalb Stunden und der Onkel gab ihm zehn Groschen Trinkgeld. Dann gings dahin. Er wollte nicht weit, gewissermassen nur um die Ecke der Zeit, in die Tage der Kindheit, denn dort schien es ihm schön gewesen. Ja, der Garten der Kindheit hängt voller goldener Aepfel, aber das Gold ist nichts wert, denn man kann sie essen. Und die Bäume sind höher, die Plätze weiter, die Strassen länger, die Blumen grösser, der Schnee weicher -- und das alles wird noch viel schöner in der Erinnerung. BDer Schnee fällt sanfter und die Pferde können sprechen, die Hunde denken und die Blumenbeete werden zerstört.N Die Lehrer werden harmlos, die bösen Parkaufseher BpersonifizierteN Engel, alle Gefahren B N verschwinden, lösen sich auf in wehmutvoller Erinnerung. B Es war ein BgrauerN Herbstmorgen, nass und voll Nebel, als der Onkel zu seiner 얍 ersten Probefahrt startete.N Und als er nun Gas gab, da schien der Nebel noch dichter zu werden, er sah garnichts mehr, nur eine dicke gelbe Wand vor sich, wie Lehm. Das Auto schien sich in die Luft zu erheben, als rollte die Erde unter ihm hinweg, so ein Gefühl hatte er. Er fuhr wie durch Watte. Der Zeitgeschwindigkeitszähler stand auf siebzig Lichtkilometer, auf dem Schaltbrett flammte es auf, rot, grün, und Bgelb,N blau -- dann rot. Da hielt das Auto mit einem Ruck, die Sonne brach durch, als wärs aus den Wolken gefallen. Und es stand am selben Fleck. Nur sah der Fleck anders aus. Es war der Platz, als er wegfuhr so:
und nun so: 40
23–25 25 26 27–28
B
\Der f zerstört./
B
Der f zerstört.N ] personifizierteN ] B N] BEs f startete.N ]
27 32
B
korrigiert aus: personofizierte gestrichen: ve (1) Als der Onkel Gas gab, war es ein Herbatmorgen, grau, nass und voll Nebel (2) Es f startete. korrigiert aus: gruaer korrigiert aus: gelb ,
B
grauerN ] gelb,N ]
442
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 17
ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 18
Fragmentarische Fassung (Reise ins Paradies)
WP18/TS9 (Korrekturschicht)
Lesetext
Er stieg aus dem Auto und langsam erkannte er wieder alles, auch Dinge, die er bereits vergessen hatte, wie zum Beispiel, dass dort, wo jetzt die Bank steht, früher nichts war. \Abbruch der Bearbeitung\
443
444
Werkprojekt 19: Ein Teufel hat Ferien
445
Notizen
ÖLA 3/W 334 – BS 31 b [2], Bl. 1
446
Notizen
WP19/E1–E2
447
Lesetext
448
Werkprojekt 20: Waisenkinder / Hinter dem Mond
449
Fragm. Fassung (Waisenkinder)
얍B
N
B N
B N
B N
B
WP20/TS1 (Korrekturschicht)
ÖLA 3/W 361 – BS 11 a [4], Bl. 1
Als Peter das Licht der Welt erblickte, hatte er bereits sechs Brüder, denn er war der siebente und daher logischerweise der jüngste und kleinste. Man hatte ihn eigentlich nur so halb erwartet, denn seine Mutter hoffte im Geheimen, er würde ein Mädel werden, aber der Vater war sehr stolz: „7 Buben“, sagte er, „ das soll mir mal der Prohaska nachmachen!“ Der Prohaska war sein Nachbar und hatte sechs Mädel – und das siebente, das war noch nicht da, aber ich will es Euch gleich verraten: es wurde auch ein Mädel. Also kurz und gut: es waren einmal 7 Brüder, und zwar von links nach rechts: N
B N
B
5
B
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B
B
N
N
B
10
Lesetext
N
B N
B N
Ferdinand, {Viktor}, Wladimir, Klaus, Josef, Paul und Peter. B
N
Und die sieben Prohaska Mädel: B
N
15
Zwischen den beiden Familien herrschte Todfeindschaft. Streit: Warum? Wegen einer Kleinigkeit. Nämlich eines Tages hatte der Hund des Prohaska die Katze des Watzlaw getötet. Die Katz hat grad Singvögel gefangen, Mäus, hat sich nützlich gemacht. Daraus ein riesiger Prozess. N
B
B
N
B
N
B
20
N
\Abbruch der Bearbeitung\
1
B N
]
[Waisenkinder 1.) Im Waisenhaus. (Sieben Waisenkinder rücken aus)]
1
2 2 3 3 4 5 6 7 8 10 10 12 14 16 16 17–18 19
B N
]
] ] BAls f dasN ] B N] Bjüngste f kleinste.N ] Bnur f halbN ] BdasN ] Bnachmachen!“N ] Bdas f da,N ] B N] B N] BPaul undN ] Bdie f Mädel:N ] BZwischenN ] BTodfeindschaft.N ] Bder f ProhaskaN ] BhatN ] B N B N
gestrichen: Eintragung von fremder Hand (Berliner Bearbeitung): Waisenkinder
1.) Im Waisenhaus (Sieben Waisenkinder rücken aus) [Hinter dem Mond.] gestrichen: Eintragung von fremder Hand (Berliner Bearbeitung): Hinter dem Mond
[Als] [|Als das|] |Als f das| gestrichen: Eintragung von fremder Hand (Berliner Bearbeitung): Als Als das
[{kleinste}] |jüngste f kleinste.| [garnicht] |nur f halb| korrigiert aus: dass nachmachen[,]|!“| [der mit] [– – {nun wir}] |das f da,| [sicher] [wie die Orgelpfeifen] Paul[,] |und| [der Proha] |die f Mädel:| [Zw] |Zwischen| korrigiert aus: Totfeindschaft [die Katze des] |der f Prohaska| ha[{tt}]|t|
450
Werkprojekt 21: Das Märchen in unserer Zeit
451
Fassung (Das Märchen in unserer Zeit)
WP21/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Das Märchen in unserer Zeit
In unserer Zeit lebte mal ein kleines Mädchen, das zog aus, um das Märchen zu suchen. Denn es hörte überall, dass das Märchen verloren gegangen sei. Ja, einzelne sagten sogar, das Märchen wär schon längst tot. Wahrscheinlich liege es irgendwo verscharrt, vielleicht in irgendeinem Massengrab. Aber das kleine Mädchen liess sich nicht beirren. Sie konnte es nicht glauben, dass es kein Märchen mehr gibt. Sie ging also in den Wald und fragte die Bäume, aber die Bäume murrten nur. Die Elfen der Wiesen sind längst fortgegangen, die Zwerge aus den Höhlen, die Hexe aus der Schlucht. Und sie fragte die Vögel, aber die sagten: „Die Menschen fliegen schneller, wie wir, höher wie wir – kiwitt, kiwitt, es gibt kein Märchen mehr!“ Und die Rehe sagten, lächerlich, die Hasen lachten und der Hirsch gab überhaupt keine Antwort. Es war ihm einfach zu dumm. Und die Kühe sagten, es wäre ihnen zu blöd, und sagten, man dürfe sowas vor den Kälbern garnicht sagen. Sie sollten so dumme, zwecklose Fragen garnicht hören, sie sollten darauf vorbereitet werden, dass sie geschlachtet würden, kastriert oder Milchspender würden. Ja, selbst wenn einer als Stier durchkomme, so sei das auch kein Märchen. Man müsse die Kälber aufklären. Auf der Strasse stand ein altes Pferd, das sollte zum Schlachter geführt werden. Es hatte ausgedient. Der Metzger sass im Wirtshaus und trank. „Es wirds auch nicht wissen“, dachte das Mädchen, „aber ich will es fragen, denn es ist ein altes Pferd und weiss sicher viel.“ Und sie fragte das Pferd. Das Pferd sah das Mädchen an, verzog etwas seine Nüstern und stampfte dann mit den Hufen. „Du suchst das Märchen?“ fragte es. „Ja.“ 얍 „ Dann verstehe ich es nicht“, sagte das Pferd, „warum Du es noch suchst? Denn das allein ist doch schon ein Märchen!“ Und es blinzelte das Mädchen an. „Hm. Mir scheint gar, Du bist es selber, das Märchen. Du suchst Dich selber. Jaja, je näher ich Dich betrachte, desto mehr merke ich es: Du bist das Märchen. Komm, erzähl mir was!“ „Was denn?“ „Irgendwas von mir!“ B
5
ÖLA 3/W 206 – BS 31 a, Bl. 1
B
B
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N
B
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B
N
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B
15
N
B
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B N
B
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B
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N
B
B
25
B
30
N
N
In f Mädchen,N ] malN ] BvielleichtN ] BWald undN ] BElfen f WiesenN ] Bsie f Vögel,N ] B„DieN ] B N] Bdumme,N ] BJa f Märchen.N ] BDer f trank.N ] BauchN ] BdachteN ] BDannN ] BesN ] B„Was f mir!“N ] B„Irgendwas f mir!“N ] B N] B B
B
B
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3 3 6 9 10 12 12 16 17 19–20 22 23 23 28 28 33 33 33
N
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N
B
NN B N
[Es war einmal] |In f Mädchen,| \mal/ \vielleicht/ Wald[,] [und]|und| [Zwerge] |Elfen f Wiesen| [die] |sie f Vögel,| [„{Di}] |„Die| [die] [{gra}] |dumme,| \Ja f Märchen./ \Der f trank./ \auch/ [sagte] |dachte| Da[s]|nn| \es/ \„Was f mir!“/ „Irgendwas f mir!“ [\{Ein}/]
452
ÖLA 3/W 206 – BS 31 a, Bl. 2
Fassung (Das Märchen in unserer Zeit)
5
WP21/TS1 (Korrekturschicht)
Das kleine Mädchen geriet in grosse Verlegenheit. Aber dann fing es an zu erzählen. Es erzählte von einem jungen Pferde, das so schön war und alle Preise beim Rennen gewann. Und von einem Pferde auf dem Grabe seines Herrn. Und von den wilden Pferden, die frei leben. Und da weinte das alte Pferd und sagte: „Hab Dank! Jaja, Du bist das Märchen, ich wusste es ja schon!“ Der Metzger kam und es wurde geschlachtet. Am Sonntag gab es bei den Eltern Pferdefleisch, denn sie waren sehr arm. Aber das kleine Mädchen rührte nichts an. Es dachte an das alte Pferd, wie es weinte. „Sie isst kein Pferdefleisch“, sagte die Mutter, „dann iss garnichts.“ „Sie ist eine Prinzessin“, sagten die Geschwister. Und das kleine Mädchen ass garnichts. Aber es blieb nicht hungrig. Es dachte an das alte Pferd und wie es weinte, und wurde satt. Ja, es war ein Märchen! B
N
B
N
B
10
15
Lesetext
N
XXXXXXX
7 8 9–10
esN ] Pferdefleisch, dennN ] BEs f weinte.N ] B B
[{nu}] |es| Pferdefleisch[.]|,| [Ab] |denn| [„Ich { }] |Es f weinte.|
453
454
Werkprojekt 22: Der Gedanke
455
Fragmentarische Fassung (Der Gedanke)
WP22/TS1 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Der Gedanke
5
ÖLA 3/W 325 – BS 14 a, Bl. 1
Ich ging spazieren und begegnete einem Gedanken Er war so schön. Ich habe ihn vergessen. B N
\Abbruch der Bearbeitung\
5
B N
]
gestrichen: Eintragung von fremder Hand (Berliner Bearbeitung): Ich habe ihn ver-
gessen
456
Fragmentarische Fassung (Der Gedanke)
WP22/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 DER GEDANKE B Ein Märchen.N
5
10
15
20
25
30
ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 1
Gestern begegnete ich einem Gedanken. Ich war gerade spazieren und wollte wieder zurück, weil ich anfing, hungrig zu werden und ausserdem dachte ich, jetzt wirds bald regnen, denn der Himmel hatte sich bezogen. Da traf ich, wie gesagt, einen Gedanken. Ich weiss noch genau die Stelle, wo es war. Dort, wo der Wald beginnt aufzuhören . Ich bemerkte den Gedanken nicht sogleich, erst als er an mir vorbeiging und mich ansah -- da hielt ich unwillkürlich, ich hatte so etwas schönes noch nie gesehen! Ich konnt mich erst garnicht rühren vor Ueberraschung. Und dann war der Gedanke an mir vorbei. Ich lief ihm nach und fand ihn nirgends -- er war weg. Zu dumm! Ich ärgerte mich, wie kann man nur so blöd sein und so einen schönen Gedanken vergessen! Und ich strengte mich an, dass er mir einfallen möge wieder, aber er blieb aus. Er kam nicht wieder. Ich lief ihm nach an vielen platten Gedanken vorbei, hübschen und nicht hübschen, hässlichen, es kamen mir inzwischen auch neue Gedanken, ich traf auch neue, fremde wurden mir vorgestellt. Aber der Gedanke, den ich suchte, blieb mir fern. Und ich wusste, ich brauche ihn, auf diesen Gedanken habe ich immer schon gewartet. Aber es sollte nicht sein! Ich gab die Hoffnung schon auf und unterhielt mich mit anderen Gedanken. Gedanken, die aus dem Schnaps kommen, aus Wein und Bier, aus einem guten Braten, aus einer hohen Kirche, vom Markt -- kurz allerhand Kraut und Rüben. Aber ganz heimlich in mir blieb die Sehnsucht wach nach dem einem grossem Gedanken -Ob ich ihn jemals wiedersehen werde? Manchmal dachte ich schon, ich hätte ihn wieder, aber das war alles Täuschung. 얍 Vielleicht war eine gewisse Aehnlichkeit vorhanden, aber er war es nicht. Und ich wurde immer trauriger über den schönen Gedanken. Ich wusste, wenn ich ihn wiederhabe, dann darf mich die ganze Welt gern haben. Dann pfeif ich auf alles. Und dann kam ein Gedanke, es war ein sehr gescheiter belesener Gedanke, der sagte: Hör mal, ich glaub, das war gar kein Gedanke, mir scheint, das war eher ein Gefühl -Ein Gefühl? Dass ich nicht lache! Lacht nicht! Man kann das oft nicht so genau unterscheiden -- es gibt Grenzen, man meint man hat ein Gefühl und derweil denkt man nur, und einen Gedanken und derweil ist das alles nur Gefühl! B
N
B
35
40
B
2 10
B
32 41 41
B
B
Ein Märchen.N ] beginnt aufzuhörenN ]
vorhanden,N ] einN ] BderweilN ] B
N
B
N
N
\Ein Märchen./ (1) aufhört (2) beginnt aufzuhören korrigiert aus: vorhanden , korrigiert aus: einen korrigiert aus: der weil
457
ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 2
Fragmentarische Fassung (Der Gedanke)
WP22/TS2 (Korrekturschicht)
Lesetext
Ich verbitte mir das! Ich werde wohl noch einen Gedanken von einem Gefühl unterscheiden können! Abwarten! Was bin zum Beispiel ich? Es gibt keinen ganz reinen Gedanken, immer ist auch irgendwo versteckt ein paar Prozent Gefühl und umgekehrt! Aber den Gedanken, den ich traf und vergessen habe, das war der reinste Gedanken! Und drum sehn ich mich auch so mit ganzem Herzen nach ihm. Er starb. Und als der Engel des Todes kam sagte er: Ach, Du bist ja mein Gedanke -Ja, sagte er, ich bin mal an Dir vorbei und hab mir gedacht, soll Dich jetzt der Schlag treffen oder nicht? Dann hab ichs mir überlegt. Ich bin weder ein Gedanke, noch ein Gefühl, ich bin der Friede! Friede auf Erden den Menschen, die unter der Erde liegen! Komm, ich bin das nichts. Drum hast Du mich auch vergessen. Denn ein Nichts kann man nicht behalten. B
5
10
B
N
B
N
\Abbruch der Bearbeitung\
15
1 11 12
GefühlN ] nicht?N ] BFriede! FriedeN ] B B
korrigiert aus: Gefühlen korrigiert aus: nicht ? korrigiert aus: Friede!Friede
458
N
Werkprojekt 23: Der brave Bürger / Der letzte Mensch
459
Fragmentarische Fassung (Der brave Bürger)
WP23/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 Der brave Bürger
ÖLA 3/W 325 – BS 14 a, Bl. 1
1.) Die Begegnung mit der Ameise. Gespräch über die „Ameisigkeit“ und „ Menschlichkeit“. Wir nennen „ Ameisigkeit“, wenn eine Ameise sich besauft, und eine andere sie beschützt. B
N
B
N
5
B
N
얍
B
N
2.)
ÖLA 3/W 325 – BS 14 a, Bl. 2
Die Grossen werden klein durch die Erfindung. Der eine, der sich versteckt hat, der sich nicht klein machen lassen will – dann sprengt er die Fesseln und zertritt tausende Kleine: „Ich will ein Mensch sein“, sagt er, „ein wahrer Mensch!“
10
B
15
얍
N
3.) Die Feinde sind einige Hunde geworden. Die hat man vergessen klein zu machen. Ein Dackel, ein Schnauzer, ein Pintscher. B
N
20
3 4–5 5 5 12 17
B
\1.)/
B
1.)N ] Menschlichkeit“.N ] BAmeisigkeit“,N ] BeineN ] Bsein“,N ] BeinigeN ]
korrigiert aus: Menschlichkeit.“ korrigiert aus: Ameisigkeit,“
eine[r] korrigiert aus: sein,“
[die] |einige|
460
ÖLA 3/W 325 – BS 14 a, Bl. 1v
Fassung (Der letzte Mensch)
5
10
WP23/TS2 (Grundschicht)
Lesetext
얍 Der letzte Mensch. Und weil der liebe Gott Bein guter Gott ist,N so sagte er: „Schön, ich versuchs noch mal!“ Und das hat er schon oft gesagt. Und der Mensch fiel in einen Schlaf. Die Rippe. Die Eva. Das Erwachen. Aber er war nichtmehr auf der Erde. Es war ein anderer Stern. Aber das wusste er nicht. Und wenn sie den Apfel nicht gegessen haben, dann leben sie heute noch.
2
B
ein f ist,N ]
[{zu }] |ein f ist,|
461
ÖLA 3/W 325 – BS 14 a, Bl. 2v
462
Werkprojekt 24: Adieu, Europa!
463
Strukturplan, Notizen
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 3
464
Strukturplan, Notizen
WP24/E1–E3
465
Lesetext
Notizen (Fortsetzung)
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 3v
466
Notizen (Fortsetzung)
WP24/E3
467
Lesetext
Strukturplan in vier Teilen
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 2
468
Strukturplan in vier Teilen
WP24/E4
469
Lesetext
Strukturplan in drei Teilen, Dialogskizze, Notiz
470
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 7
Strukturplan in drei Teilen, Dialogskizze, Notiz
471
WP24/E5–E7
Lesetext
Strukturplan in zwei Teilen
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 4
472
Strukturplan in zwei Teilen
WP24/E8
473
Lesetext
474
Fragmentarische Fassung (Adieu, Europa!)
5
WP24/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 BI. Teil.N Neue Wellen. Während ich schreibe, Bhöre ich draussen das Meer.N B Denn mein Haus BstehtN am BUfer.N N B Und das Meer Bwill über das Ufer, esN brandet und Bbraust Bund saust und pfeiftN wie im Märchen.N BMit neuen und neuen Wellen.N Immer wieder, immer wieder –N B N B N
Es ist zwar nicht mein Haus, das da im Sturme steht, es gehört einem altem Fischer, aber man sagt halt so, dass es einem gehört, wenn man drinn wohnt. Nichteinmal das Zimmer gehört mir, ich hab es nur gemietet und es ist noch ein Problem, wo ich das Geld am ersten hernehmen werde. Mir gehört nur, was ich anhabe und der Koffer und eine alte Reiseschreibmaschine. Die ist die wichtigste, denn die gehört zu meinem Beruf. Ich bin Schriftsteller. Aber wo ich am ersten das Geld hernehmen werde, macht mir keine Sorge. Solange mir was einfällt, so lange gibts auch immer noch Wunder. Und wenn kein Wunder kommt, bleib ich die Miete schuldig. Mein Hausherr ist ein braver Mann und ist nicht versessen auf Wunder. Er mag mich leiden, denn ich stelle keinerlei Ansprüche, bin höflich und artig und frage ihn jeden Tag: „Wie gehts mit dem Rücken?“ Er hat nämlich die Gicht und es freut ihn, wenn man sich erkundigt. Wer wird sich mal nach mir erkundigen? Wenn ich die Gicht haben werde – Ich glaube niemand, denn ich habe kein Haus. Es kann mir also niemand die Miete schuldig bleiben. B
N
B
10
B
15
N
N
B
N B
B
20
N B
N
N
B
25
B
B
1 3 4 4 4 5–6
B
5 5 5 6
B
6 7 8 9 12 15–16 16 16 18 24 25 25
I. Teil.N ] höre f Meer.N ] BDenn f Ufer.N ] BstehtN ] BUfer.N ] BUnd f wieder –N ] B
will f esN ] braust f Märchen.N ] Bund f pfeiftN ] BMit f Wellen.N ] B
] ] Bdas f steht,N ] Bso f wohnt.N ] BalteN ] BSolange f langeN ] BgibtsN ] BauchN ] BMeinN ] Bkein Haus.N ] BEs f bleiben.N ] Bdie MieteN ] B N B N
N
N
N
\I. Teil./ [{ }] [ |rauscht draussen das Meer.|] |höre f Meer.| x Denn f Ufer. [liegt] |steht| [[Meer.]] [|grossen Wass|] |Ufer.| (1) \Es rauscht und braust und brandet immer wieder eine Welle. Sie kommen aus der Ferne, wo [es am] |der| Horizont eine Linie ist. \Gestern war ein Sturm./ Ich hab oft hingesehen, aber ich hab kein Ende entdeckt./ (2) \Und f wieder –/ [\kommen an das/] |will f es| braust[,]|wie f Märchen.| \und f pfeift/ [mit Wellen und wieder mit] [|immer wieder [mit] neuen Wellen.|] |Mit f Wellen.| [\Gestern f Gespenster!/]f x [Denn f Ufer.]f x \das f steht,/ so[.]|,| \dass f wohnt./ \alte/ [Es wird schon was kommen, es] |Solange f lange| gibt\s/ \auch/ [{D}] |Mein| [niemand.] |kein Haus.| \Es f bleiben./ [etwas] |die Miete|
475
ÖLA 3/W 320 – BS 16 c [1], Bl. 1
Fragmentarische Fassung (Adieu, Europa!)
WP24/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Doch was nicht ist, das kann noch werden, und man weiss nicht, wen man morgen kennen lernen wird. Vielleicht wohnt man in einem Palast, wo die Palmen drum rum herumstehen, vielleicht wird man noch soviel gefragt werden, dass einem die Gall herausgehen möcht. Nur keine Angst, es ist alles relativ! Ich schreibe und draussen geht das Meer. Es geht, hoch und tief und immer hin und her. Immer wieder, immer wieder – Gestern war der Sturm noch stärker, die Netze sind zerissen und ein Boot kam nichtmehr zurück. Vielleicht tauchts auf übers Jahr , mit schwarzen Segeln und ohne einer Seele – Oh, kommt herbei, Ihr braven bösen Gespenster! Ein Schifflein fährt auf hohen Wogen, es ist aus Papier, gib acht, gib acht, Dich baute eine Kinderhand! Eine weiche, kleine Kinderhand – sie wollte mit Dir spielen. Aber dann kamen 얍 die Wellen und trieben Dich weg. Hinaus, hinaus – Gib acht, Du bist nur aus Papier! Ich schreib ein Feuilleton. Ich bekomme pro Zeile einen lächerlichen Betrag, aber auch der lächerlichste Betrag summiert sich und man kann ohne ihn nicht leben. Und ausserdem ist das Feuilleton auch nichts wert. Es ist alles gelogen. Es gehört einer Frauenzeitschrift. Es muss eine sentimentale Geschichte werden. Mit Frauentypen für den Mittelstand. (Der neue Frauentyp = Marie Claire) Die Frauenzeitschrift. Werdegang. 2. Kapitel. Und dann wird es übersetzt. Ich schreibe es für den Feuilletonredakteur. Ich kann die Sprache nicht. Ich bin nämlich nichtmehr zuhaus. Ich musste weg von daheim. Es ist nun schon eine geraume Zeit her. Ich war mal eine angehende Hoffnung, ich bin ja noch nicht alt. Aber inzwischen hat sich vieles geändert. B
N
B
N B
5
B N
N
B
N
N B
B
B
B
10
N
B N
B
N
B
N
N B N B N B N
B
N
N
B
15
20
N
B
N
B
N
25
30
1 2–3 3 7 7 8 8–11 8 8 8 8 9 9 9–10 10 10 14 21
B
wenN ] Vielleicht f herumstehen,N ] BvielleichtN ] B N] Btief f her.N ] BImmer f wieder –N ] BGestern f Gespenster!N ] BderN ] Bnoch stärker,N ] B N] B N] Bzurück.N ] B N] Bübers JahrN ] B N] Beiner Seele –N ] BwollteN ] BMit f Claire)N ]
22–24
B
B
Die f Kapitel.N ]
korrigiert aus: wenn
\Vielleicht f herumstehen,/ korrigiert aus: Vielleicht
[es geht –] tief[.] |und f her.| \Immer f wieder[{:}] |–|/ xGestern f Gespenster! [ein grosser] |der| \noch stärker,/ gestrichen: , [er liegt noch in der Luft und] [heim.] |zurück.| [noch einmal] \übers Jahr/ [vielleicht als Gespensterschiff] [{Se}] |einer Seele –| [wollte] [|will|] [\Mit Frauentypen, die es nichtmehr gibt. Alle Frauen, die ich sah, denken anders./] |Mit f Claire)| \Die f Kapitel./
476
ÖLA 3/W 320 – BS 16 c [1], Bl. 2
Fragmentarische Fassung (Adieu, Europa!)
5
WP24/TS1 (Korrekturschicht)
Lesetext
Wenn ich heute zurückdenke, so weiss ich oft garnicht, wo ich beginnen soll. Soviele Gestalten tauchen auf, und nicht, dass sie auftauchen – sie sind verschwunden. Freunde und Feinde, es ist alles vorbei. Wir leben in einer schnellen Zeit. Oft denke ich, wie war mein Erfolg. Ich schrieb ein Stück, grosser literarischer Erfolg, das zweite kam nichtmehr, es war aus, die Revolte. Warum musst ich eigentlich weg von zuhaus? Wofür bin ich denn eingetreten? Ich hab nie politisiert. Ich trat ein für das Recht der Kreatur. Aber vielleicht wars meine Sünde, dass ich keinen Ausweg fand? Ich schreibe mein Feuilleton und weiss es nicht. Ich weiss es noch nicht. Das Meer rauscht. Es kommen neue und neue Wellen. Immer wieder, immer wieder. B
N
B
10
N B
\Abbruch der Bearbeitung\
5 9–10 10
literarischerN ] Ich f nicht.N ] BIch f nicht.N ] B B
\literarischer/ [Ich weiss es] |Ich f nicht.| [Noch nicht.] |Ich f nicht.|
477
N
Fassung (Adieu, Europa!)
얍B
5
WP24/TS2 (Korrekturschicht)
N
ÖLA 3/W 321 – BS 16 c [2], Bl. 1
Während ich schreibe, höre ich draussen das Meer. Denn mein Haus steht am Ufer. Und das Meer will über das Ufer, es brandet und braust und der Sturm springt über das Dach, als wär die Welt ein Märchen. Es ist zwar nicht mein Dach , unter dem ich da sitze und schreibe, es gehört einem alten Fischer und ich hab nur ein Zimmer gemietet, aber man sagt halt so, dass einem das Haus gehört, wenn man drinnen wohnt. Mir gehört eigentlich nichts. Nur der Koffer und eine alte Schreibmaschin – und ohne dieser könnt ich kaum leben, denn die gehört zu meinem Beruf. Ich bin nämlich Schriftsteller, aber trotzdem gehts mir nicht schlecht 얍 ich meine: in materieller Hinsicht. Ja, ich bin sogar in einer direkt sehr glücklichen Lage, denn einer der grössten Verleger hat einen Vertrag mit mir auf ein halbes Jahr abgeschlossen – ich bekomme monatlich zwar an und für sich nur eine kleinere Summe und ich muss mich nach der Decke strecken, aber immerhin! Jetzt hab ich endlich Gelegenheit, in Ruhe arbeiten zu können. Ich schreibe ein Theaterstück. Obs ein Trauerspiel werden soll oder ein Lustspiel – das weiss ich noch nicht. Viele Pläne gehen durch meinen Kopf und ich weiss es noch nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Ich hab ja, als ich auf der Universität 얍 studierte, ein Stück geschrieben – es wurde von einer Dilettanten-Truppe aufgeführt und hatte einen Riesenerfolg. Eigentlich wars eine Dummheit, ich halte nichts davon. Aber dann bekam ich den Brief von dem Verleger, ich sollte ihn besuchen. Das Resultat war der Vertrag. Es gibt nämlich keine Schriftsteller, besonders am Nachwuchs happert es (lässt zu wünschen übrig). Der Nachwuchs interessiert sich nur für Sport und drgl. Es gibt wenige, die schreiben. Es beginnt zwar wieder, dass die Leut lesen, – aber die Bücher sind so uninteressant. Sie sind richtig fad. (Vielleicht kommts daher, weil alles verboten ist.) B
N B
B
N
N
15
N
N
N
B
25
N
B
N
N
N
N
B
N
B N
30
Ich hab also das Universitätsstudium aufgegeben, es hat mich auch nicht besonders interessiert, es ist so fad – und hab mich hierher herausgesetzt. Hier in der Einsamkeit werde ich arbeiten können. 1 5–6 5 6 6 7 7 7 7 8 8 10 10 16 19 21 24 24 28
] und f WeltN ] BspringtN ] BeinN ] B N] BDachN ] Bunter f daN ] BunterN ] BesN ] Bnur einN ] B N] BSchreibmaschinN ] BkönntN ] BJetztN ] BKopfN ] BDilettanten-TruppeN ] BEsN ] BhappertN ] B N] B N B
ÖLA 3/W 321 – BS 16 c [2], Bl. 2
N
B
B
N
B N
B
20
B
N
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B
B N
BB
B
10
Lesetext
[{ }] [ |{ }|] [|Neue Wellen|] [\und der Sturm heult/] |und f Welt| [geht] [|fährt|] |springt| [wie im] |ein| [Mit neuen und neuen Wellen. Immer wieder, immer wieder –] [Haus] |Dach| [unter f da] [in] |unter| [es] |es| [mein] |nur ein| [nur] [Reise] |Schreibmaschin| [{ }] |könnt| [Je] |Jetzt| Kopf[,] korrigiert aus: Dilltanten-Truppe [{J}] |Es| gemeint ist: hapert gestrichen: \– später!!!/
478
ÖLA 3/W 321 – BS 16 c [2], Bl. 3
Fassung (Adieu, Europa!)
얍
WP24/TS2 (Korrekturschicht)
Ich liebe das Meer. Es kommt mit neuen und neuen Wellen. Immer wieder, immer wieder – Ich weiss es noch nicht, ob es ein Lustspiel wird oder ein Trauerspiel. Gestern war der Sturm noch stärker. In der Nacht sind die Netze zerrissen und ein Boot kam nichtmehr zurück. Vielleicht tauchts auf über das Jahr mit schwarund fährt als Gespenst über die Wasser, ohne einer Seele – zen Segeln Ich weiss es noch nicht. B
5
Lesetext
N B
B N B N
N
B
XXX
4 4 4 4 6 6 6
stärker.N ] In f dieN ] B N] BzerrissenN ] B N] B N] Bohne f SeeleN ] B B
stärker\./ [(als heute). Die] |In f Nacht [(die)] |sind die|| [sind] korrigiert aus: zerissen [und] [ohne f Seele]f x [bös oder harmlos] | x ohne f Seele|
479
B N B
N
N
ÖLA 3/W 321 – BS 16 c [2], Bl. 4
Strukturplan in drei Kapiteln
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 1
480
Strukturplan in drei Kapiteln
WP24/E9
481
Lesetext
482
Fragmentarische Fassung (Adieu, Europa!)
WP24/TS3 (Korrekturschicht)
Lesetext
얍 II. Der Brief einer Wahnsinnigen
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 5
Ich erinnere mich noch, als wär es gestern gewesen – doch halt, was ist das für ein dummes Wort : „als wär es gestern gewesen?“ Was ist das „gestern“? Gibt es ein gestern, ein heute, ein morgen? Ach, ich versinke im Feuilleton ! Doch weiter! Lassen wir uns nicht verzweifeln durch eine unüberlegte Definition. Kurz und gut: ich erinnere mich an etwas, das gewesen ist. Das nichtmehr wiederkommt. Einst bekam ich einen Brief. (Ingeborg) Ich lachte, wir lachten – ich zeigte es meinen Freunden. Wir sprachen über die Irrsinnigen. B
5
N
B
10
N
B
N
15
B
III. Der Besuch in der Irrenanstalt. N
\Abbruch der Bearbeitung\
5 7 13 17
WortN ] im FeuilletonN ] Bich f Freunden.N ] BIII.N ] B B
korrigiert aus: Wortes korrigiert aus: in Feuiletten
[wir sassen] |ich f Freunden.| \III./
483
Strukturplan in drei Teilen
ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 6
484
Strukturplan in drei Teilen
WP24/E10
485
Lesetext
Fassung (Adieu, Europa!)
얍
5
10
15
20
25
30
35
WP24/TS5
Lesetext
NEUE WELLEN Von Ödön von Horvath Die folgende Seite, das Vorwort eines geplanten Romanes, wurde im Portefeuille Horvaths nach seinem tödlichen Unglücksfall gefunden. Dadurch, daß die deutsche Theatergeschichte 1933 abbrach, ist es schwer, genau die Stellung zu fixieren, die Horvath innerhalb der ungestörten Weiterentwicklung eingenommen hätte. Er war ein Fortsetzer Wedekinds. Doch führte er nicht seine scharfgeistigen, großzügigen, kühn-waghalsigen und zugleich hochideologischen Tendenzen weiter, durch die Wedekind schnell auf dem Berliner Theater heimisch wurde, sondern eher seine süddeutsch-fragmentarisch-spielerische und poetisch-graziöse Seite. Er knüpfte an das kleinbürgerliche Milieu von „Frühlings Erwachen“ an, ohne jede Satire Sternheimscher Art. Auch kommt bei ihm nicht, wie bei Georg Kaiser, eine Ueberbelichtung des Helden noch ein Amoklauf einer einzigen angstvollen Leidenschaft noch eine Ballung der Szene oder des Worts noch gar Mathematik vor. Der einzige Held bei Horvath ist der Zufall: das dramatische Gebilde zittert wie im Wind; die Begegnungen wie die Gespräche sprießen und vergehen wie von selbst, zart-planlos. In einer frühern Komödie, seiner besten neben den „Geschichten aus dem Wiener Wald“, wird ein Vorstadtwirtschaft (Vorstadt war überhaupt eines seiner Lieblingsmilieus) halb von den Nazi, halb von der Gegenpartei zur Feier einer italienischen Nacht gemietet, und beide Gegner wehten in komisch-holder Verwirrung durcheinander. Bei ihm war alles, sei es Streit zwischen Verwandten und Liebenden, sei es eine Keilerei auf der Oktoberwiese, höchst gefahrlos. – Einmal klopfte er auch an die Tore der ganz großen Komödie: in seinem „Figaro läßt sich scheiden“ begegnen wir dem Grafen Almaviva nach der Revolution als Emigranten – schönste Gelegenheit, die heutige Emigration vergleichsweise zu zeichnen. Aber Horvath hatte nicht genug bewußten Esprit, um den Beaumarchais-Ton aufzunehmen; seine Grazie war eher vegetativ. Er durfte nicht zuviel wollen. Unter seinen spätern Werken würden wir daher dem absichtsvollen politischen Roman „Jugend ohne Gott“ eines seiner letzten Stücke „Der Jüngste Tag“ vorziehen, wo ein Mädchen aus Mutwillen den Bahnbeamten mit Liebeleien zurückhält, bis das größte Eisenbahnunglück geschehen ist. Selbst solche Katastrophen waren bei Horvath von einem resigniert-heitern Laisserfaire umgeben. Nur einmal war der Zufall wirklich böse: als er den während eines Gewitters Heimfahrenden auf den Pariser Champs-Elysées durch einen Baum erschlug. F.L. B
Maß und Wert, 2. Jg., Heft 2, November/ Dezember 1938, S. 240
N
––––– 40
45
얍 Während ich schreibe, höre ich draußen das Meer. Denn mein Haus steht am Ufer. Und das Meer will über das Ufer, es brandet und braust und der Sturm springt über das Dach, als wär‘ die Welt ein Märchen. Es ist zwar nicht mein Dach, unter dem ich da sitze und schreibe, es gehört einem alten Fischer und ich hab‘ nur ein Zimmer gemietet, aber man sagt halt so, daß einem das Haus gehört, wenn man drinnen wohnt. Mir gehört eigentlich nichts. Nur der 36
B
F.L.N ]
gemeint ist: Ferdinand Lion, Redakteur
486
Maß und Wert 2/1938, S. 241
Fassung (Adieu, Europa!)
5
10
15
20
25
WP24/TS5
Lesetext
Koffer und eine alte Schreibmaschine – – und ohne diese könnte ich kaum leben, denn die gehört zu meinem Beruf. Ich bin nämlich Schriftsteller, aber trotzdem geht’s mir nicht schlecht – – ich meine: in materieller Hinsicht. Ja, ich bin sogar in einer ausgesprochen glücklichen Lage, denn einer der angesehensten Verleger hat einen Vertrag mit mir geschlossen. Jetzt hab‘ ich endlich Gelegenheit, richtig arbeiten zu können, da ich der brennenden Sorge um das tägliche Brot enthoben bin. Ich hab‘ mein Bettchen und mein Süppchen. Vorerst zwar nur für ein halbes Jahr, aber heut‘ will ich nicht weiterdenken. Ich lasse die Zukunft verschleiert und konzentriere mich mit Haut und Haar auf meine Arbeit. Ich habe die Stadt verlassen, hier in der Einsamkeit wird mir schon was einfallen. Hier bin ich mit mir allein und es stört mich nur mein eigener Schatten. Ich schreibe ein Theaterstück. Ob es ein Trauerspiel werden wird oder ein Lustspiel – – ich weiß es noch nicht. Ich hab‘ einen guten Einfall, eine alltägliche Liebesgeschichte in höchstens vier Akten. Aber ich seh‘ noch keinen richtigen Schluß. Soll die Frau sich vergiften oder nicht? Und was mach‘ ich mit dem Mann? Vielleicht wär’s doch besser, wenn sie am Leben bliebe, obwohl ich ein Realist bin. Viele Pläne gehen durch meinen Kopf und das leere Papier ist so schrecklich weiß. Aber hier in der Einsamkeit wird sich schon alles herauskristallisieren. Ich liebe das Meer. Es kommt mit neuen und neuen Wellen, immer wieder, immer wieder – und ich weiß es noch nicht, ob es ein Lustspiel wird oder ein Trauerspiel. Gestern war der Sturm noch stärker. In der Nacht sind die Netze zerrissen und ein Kahn kam nicht mehr zurück. Vielleicht taucht er auf über das Jahr mit schwarzen Segeln und fährt als Gespenst über die Wasser ohne eine Seele – – Ich weiß es noch nicht.
487
488
Sportmärchen (Endfassungen, emendiert) Sportmärchen Bergsteiger-Märchen Das Sprungbrett Der Fallschirm Der Herr von Bindunghausen „Nur auf die Bindung kommt es an!“ Sommer und Winter
489
Sportmärchen
Endfassung, emendiert
Lesetext
S P O RT M Ä R C H E N von Ödön von Horváth. 5
Was es alles gibt:
10
15
20
25
30
35
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Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes Start und Ziel Die Regel Legende vom Fußballplatz Regatta Vom artigen Ringkämpfer Vom unartigen Ringkämpfer Fünf alpine Märchen: Begegnung in der Wand / Die Beratung / Der sichere Stand / Die Eispickelhexe / Die Mauerhakenzwerge Was ist das? Stafetten Rechts und links Aus einem Rennradfahrerfamilienleben Wintersportlegendchen Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen Über das Meer Was das romantische Rückenschwimmen erzählt Aus Leichtathletikland (Historie mit Randbemerkung)
Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes ! K. o. !! k. o. !!! heulten grelle Plakate in die Stadt; und der eines überhörte, dem sprangen drei ins Gesicht: ! k. o. !! k. o. !!! Und nur ein einziges Zeitschriftlein wagte zu widersprechen; aus eines schwindsüchtigen Buchladens schmalbrüstiger Auslage wisperte sein fadenscheiniges Stimmlein: Harfenkonzert – Harfenkonzert – Tausende gingen vorbei, bis einer es hörte; und das war ein grauer grober Mann, der sogleich stehen blieb; auf seine niedere Stirne zogen finstere Falten, und aus seiner Tasche quoll ein großer gelber Zettel, den er knurrend auf das Fenster der Auslage klebte; und der Zettel brüllte bereits, kaum die Scheibe berührend, derart durchdringend, daß Männlein und Weiblein von weitumher zusammenliefen: ! k. o. !! k. o. !!! Da verstummte das Zeitschriftlein, denn nun schwand auch seine letzte Hoffnung; und in dem Schatten, den das tobende Plakat auf sein kleines Titelblatt warf,
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ward es sich klar, daß seine Sache im Sterben sei. Und es schlich aus der Auslage, riß sich in Stücke und erhängte sich an einem gewissen Orte. Später, als man das dem lieben Gott mitteilte, da zuckte er die Achsel und meinte: „Tja, mein Gott – – “ 5
Start und Ziel
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Manchmal plaudern Start und Ziel miteinander. Da sagt das Ziel: „Stände ich nicht hier – wärest du ziellos!“ Und der Start sagt: „Das ist schon richtig; doch denke: Wäre ich ziellos – was dann?“ „Das wäre mein Tod.“ Da lächelt der Start: „Jaja – so ist das Leben, Herr Vetter!“
Die Regel 20
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Der Hochsprung und der Weitsprung waren Todfeinde. Das kam so: Der Hochsprung behauptete, Höhe sei im Leben das Erstrebenswerteste und benahm sich daher gegenüber dem Weitsprung wie ein arroganter Aristokrat. Der Weitsprung hingegen betonte, wohl sei Höhe ein schöner Faktor, jedoch man müsse auch vom Flecke kommen, wenn man die Dinge von der praktischen Seite aus betrachte, und das sei Pflicht des Staatsbürgers und – „Bitte!“ unterbrach ihn der Hochsprung und führte ihn an einen Zaun, den er fast ohne Anlauf nur so überschwebte. Doch der Weitsprung versuchte gar nicht zu springen, sondern führte den Hochsprung an einen breiten Fluß – und sein „Bitte!“ tönte bereits vom anderen Ufer herüber. Der Hochsprung hätte ja nun auch stehen bleiben können, aber eben weil er Hochsprung hieß biß er die Zähne zusammen und schnellte sich in die Wolken empor – das war ein Sprung! Doch da es nur Höhe war, stürzte er kopfüber in die Wogen; Stromschnellen sprangen über ihn und der Grund ergriff ihn mit schlammigen Fingern. Erbärmlich ersoff der Stolze. Jedoch ein regelbegeisterter Jurist, der zu selbiger Stund an besagtem Flußufer unter einem Farnkraute saß und Wasserflöhe fischte, hat mir erklärt, daß der Weitsprung ebenfalls ersoffen ist: logischerweise – denn nach den Regeln aller Verbände gilt ein Weitsprung nur dann als vollbracht, wenn der ihn Ausführende beim Aufsprung im Stande geblieben ist. Und das war unser Weitsprung nicht. Also.
Legende vom Fußballplatz 45
Es war einmal ein armer kleiner Bub, der war kaum sieben Jahre alt, aber schon loderte in ihm eine Leidenschaft: Er liebte den Fußball über alles.
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Bei jedem Wettspiel mußte er dabeigewesen sein: ob Liberia gegen Haidhausen, ob Belutschistan gegen Neukölln – immer lag er hinter einem der Tore im Grase (meistens bereits lange vor Beginn) und verfolgte mit aufgerissenen runden Kinderaugen den mehr oder minder spannenden Kampf. Und wenn ein Spieler grob rempelte, ballten sich seine Händchen erregt zu Fäusten, und mit gerunzelter Stirne fixierte er finster den Übeltäter. Doch wenn dann vielleicht gar gleich darauf des Schicksals Laune (quasi als Racheakt) ein Goal schoß, so tanzte er begeistert und suchte strahlend all den anderen, die um ihn herum applaudierten, ins Antlitz zu schauen. Die Anderen, die neben ihm lagen, waren ja meistens schon um ein oder zwei Jahre älter, und andächtig horchte er, wenn sie sich in den ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken, die sie weiß Gott wo zusammengehört hatten, über die einzelnen Spieler und Klubs ergingen; ergriffen lauschte er trüben Weissagungen, bis ihn wieder ein wunderbar vollendet geköpfter Ball mitriß, daß sein Herz noch höher flog wie der Ball. So saß er oft im nassen Grase. Stundenlang. Der Novemberwind schmiegte sich an seinen schmalen Rücken, als wollte er sich wärmen, und hoch über dem Spielplatz zog die Fieberhexe ihre Raubvogelkreise. Und als der Schlußpfiff verklungen war, da dämmerte es bereits; der kleine Bub lief noch einmal quer über das Feld und ging dann allein nach Hause. In den leeren Sonntagsstraßen war es ihm einige Male, als hörte er Schritte hinter sich: als schliche ihm jemand nach, der spionieren wolle, wo er wohne. Doch er wagte nicht umzuschauen und beneidete den Schutzmann, der solch große Schritte machen konnte. Erst zu Hause, vor dem hohen grauen Gebäude, in dem seine Eltern den Gemüseladen hatten, sah er sich endlich um: ob es vielleicht der dicke Karl ist, mit dem er die Schulbank teilt und der ihn nie in Ruhe läßt – aber es war nur ein dürres Blatt, das sich mühsam die Straße dahinschleppte und sich einen Winkel suchte zum Sterben. Und am Abend in seinem Bette fror er trotz tiefroter Backen; und dann hustete er auch und es hob ihn vornüber, als haute ihm der dicke Karl mit der Faust in den Rücken. Nur wie durch einen Schleier sah er seiner Mutter Antlitz, die am Bettrande saß und ihn besorgt betrachtete; und er hörte auch Schritte im Zimmer, langsame, hin und her: Das war Vater. Der Nordwind hockte im Ofenrohr, und zu seinem Gesumm fingen Regenbogen an einen Reigen um ihn zu tanzen. Er schloß die Augen. Da wurde es dunkel. Und still. Doch nach Mitternacht wich plötzlich der Schlaf, und feine Fingerknöchelchen klopften von außen an die Fensterscheibe – und er hörte seinen Namen rufen – „Hans!“ rief eine sanfte Stimme – „Hans!“ Da erhob er sich aus seinem Bette, trug einen Stuhl vor das Fenster, erkletterte ihn und öffnete –: draußen war tiefe stille Nacht; keine Trambahn läutete mehr, und auch die Gaslaterne an der Ecke war schlafen gegangen, und – vor seinem Fenster im vierten Stock schwebte ein heller Engel; der ähnelte jenem, welcher Großvaters Gebetbuch als Spange umschloß, nur, daß er farbige Flügel hatte: der linke blau und gelb: Das waren die Farben des Fußballvereins von Oberhaching; der rechte rosa und grün: Das waren die Farben dessen von Unterhaching; seine schmalen Füße staken in purpurnen Fußballschuhen; an silberner Sternenschnur hing um seinen Schwanenhals eine goldene Schiedsrichterpfeife, und in den durchsichtigen Händen wiegte sich ein mattweißer Fußball.
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„Schau“, sprach der Engel, „schau!“ und köpfte den Ball kerzengerade in die Höhe; der flog, flog – bis er weit hinter der Milchstraße verschwand. Dann reichte der Himmlische dem staunenden Hans die Hand und lächelte: „Komm mit – zum Fußballwettspiel –“ Und Hans ging mit. Wortlos war er auf das Fensterbrett gestiegen, und da er des Engels Hand ergriffen, war es ihm, als hätte es nie einen dicken Karl gegeben. Alles war vergessen, versank unter ihm in ewigen Tiefen – und als die beiden an der Milchstraße vorbeischwebten, fragte der kleine Bub: „Ist es noch weit?“ „Nein“, lächelte wieder der Engel, „bald sind wir dort.“ Und weil Engel nie lügen, leuchtete bald durch die Finsternis eine weiße rechteckige Fläche, auf die sie zuflogen. Anfangs glaubte Hans, es wäre nur ein Blatt unliniertes Papier, doch kaum, daß er dies gedacht hatte, erfaßte sein Führer auch schon den Rand; nur noch ein Klimmzug – und es war erreicht! Doch wie erstaunte da der kleine Bub! Aus dem Blatt unliniertem Papier war eine große Wolke geworden, deren Oberfläche ein einziger herrlich angelegter Fußballplatz war; auf buntbewimpelten Tribünen saßen Zuschauer, wie sie in solcher Zahl unser Kleiner noch bei keinem Wettspiel erlebt hatte. Und das ganze Publikum erhob sich zum Gruß, und aller Augen waren voll Güte auf ihn gerichtet; ja selbst der Aufseher, der ihn doch sonst immer sofort hinter das Tor in das nasse Gras trieb, führte ihn unter fortwährenden Bücklingen auf seinen Platz: Tribüne (!) Erste Reihe (!!) Mitte (!!!) „Wie still nur all die Leute sind!“ meinte der kleine Bub. „Sehr recht, mein Herr“, lispelte der Aufseher untertänig, „dies sind ja auch all die seligen Fußballwettspielzuschauer.“ Unten am Rasen losten die Parteien nun um die Sonne-im-Rücken-Seite und – „das sind die Besten der seligen Fußballspieler“ hörte Hans seinen Nachbar sagen; und als er ihn ansah, nickte ihm dieser freundlich zu: Da erkannte er in ihm jenen guten alten Herrn, der ihn einst (als Borneo II gegen Alaska verlor) vor dem dicken Karl verteidigte; noch hielt er den Rohrstock in der Hand, mit dem er dem Raufbold damals drohte. Wie der dann lief! Unermeßliche Seligkeit erfüllte des armen kleinen Buben Herz. Das Spiel hatte begonnen, um nimmermehr beendet zu werden, und die Zweiundzwanzig spielten, wie er noch nie spielen sah. Manchmal kam es zwar vor, daß der eine oder andere dem Balle einfach nachflog (es waren ja auch lauter Engel), doch da pfiff der Schiedsrichter (ein Erzengel) sogleich ab: wegen unfairer Kampfesweise. Das Wetter war herrlich. Etwas Sonne und kein Wind. Ein richtiges Fußballwetter. Seit dieser Zeit hat niemand mehr den armen kleinen Buben auf einem irdischen Fußballplatze gesehen.
Regatta 45
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Tausend Fähnlein flattern im Wind: regettete regattata In hundert Segel speit der Wind:
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Huuu – Einer wird Erster, Einer wird Letzter: Regatta! 5
Einer ist munter: regattattatararaaa!!!
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Einer geht unter: r.
Vom artigen Ringkämpfer 15
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Manche Menschen besitzen das Pech, zu spät geboren worden zu sein. Hätte zum Beispiel der Ringkämpfer, den dies Märlein des öfteren ringen sah, Sonne und Sterne nur tausend Jahre früher von der Erde aus erblickt, so wäre er wahrscheinlich Begründer einer Dynastie geworden – so aber wurde er nur Weltmeister. Nichtsdestotrotz war er artig gegen jedermann. Selbst gegen unartige Gegner, selbst gegen ungerechte Richter. Nie hörte man ihn murren – er verbeugte sich höflich und rang bescheiden weiter; und legte alles auf beide Schultern. So ward er Beispiel und Ehrenmitglied aller zu Vereinen zusammengeschlossenen staatserhaltenden Ringkämpfer. Eines Nachts nun, es war nach seinem berühmten Siege über den robusten, kannibalensischen Herkules, setzte sich Satan in persona an sein Bett und sprach wie eine Mutter zu ihrem Kinde: „Ach, du mein artiges, zuckersüßes Würmchen, wenn du mir folgst und den bösen Erzengel besiegst, so schenke ich dir auch etwas Wunderwunderschönes!“ „Was denn?“ frug unser braver Ringkämpfer. „Die Welt!“ flüsterte Satan und stach mit dem Zeigefinger in die Luft. Doch da gähnte der artige Knabe: „Danke dafür – bin ja bereits Weltmeister.“
Vom unartigen Ringkämpfer War das ein unartiger Ringkämpfer! Wie der kratzte, pfauchte, biß und schlug! Haare ausriß, Bein stellte und Finger brach (selbst wenn der Gegner nur seine Hälfte wog!) – bei Gott! es war platterdings das unsportlichste Ungeheuer, das jemals die Matte entweihte! Und wie eitel er war! Sah über alles hinweg (wohl weil sein kurzes Köpfchen kraft seines Korpus alles überragte) und sprach nur mit dem Spiegel, vor dem er gar gerne, manchmal sogar schäkernd, seine Muskeln spielen ließ. Und als er sieben Jahre unbesiegt blieb, schwor er schier jeden Eid, daß es vor ihm noch nie einen Weltmeister gegeben habe. Eines Abends nun kam er an einem alten Kloster vorbei, dessen Kirchlein sich einst einen Turm gebaut, wohl um des lieben Gottes Stimme besser erhören zu können. Und rings um das Zifferblatt auf seiner Stirne mahnten die Worte aus Stein:
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„Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“ Kaum las dies der unartige Weltmeister, fuhr ihm auch schon die Schlange Übermut ganz in den Bauch und juckte ihn dortselbst derart, daß er mit seinen Riesenhänden das Türmlein um den Hals packte; und feist grinsend preßte er dessen Kehle zu – bis die Turmspitze entseelt herabhing, wie eines Erhängten Kopf in Zipfelmütze. Nach dieser Untat verschwand nun der starke Mann überaus befriedigt in dem Gasthof um die Ecke. Dort trank er roten und weißen Burgunderwein und ließ die Päpstin der Amazonen hochleben – denn dies war die einzige Frau, die er schätzte. Und als er sie das siebenundsiebzigste Mal hochleben ließ, da ward er plötzlich von dem Verlangen nach jener Einsiedelei geplagt, von der die Sage geht, daß man sie meistens nur durch einen hinteren Ausgang erreichen kann. Dort schrieb er, während er sich entleerte, mit Kreide an die Wand: „Unser Herr Tod Kennt kein Gebot“ Da traf ihn der Schlag. Ein unsichtbarer Weltmeister war eingetreten und legte den unartigen Ringkämpfer auf beide Schultern, obwohl er körperlich weit leichter war, denn er bestand ja nur aus Knochen – Aber er besaß eine brillante Technik!
Fünf alpine Märchen. 25
Begegnung in der Wand.
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Als einst der geübte Bergsteiger von einer stolzen Alpenzinne herabkletterte, begegnete er in der sich nach unten zu einem äußerst schwierigen Kamin verengenden plattigen Rinne dem ungeübten Bergsteiger. Der lag schon seit einigen Jahren an dieser Stelle. Kopfabwärts. Sein Rückgrat war gebrochen und lugte nun aus seiner Kehle wie eine schlechtsitzende Krawatte; dadurch hing sein Schädel hinten herunter, als hätt er den Hals vergessen. Statt Kleider flatterten im kühlen Bergwind nur Fetzen der Wickelgamaschen um seine Knochen, auf denen sich am relativ besten die Fleischteile über der Brust behaupteten. Und er besaß nur mehr einen Arm, denn der andere hatte bereits zu letztem Frühjahr seinen Rumpf verlassen und war nach unten in die finstere Randkluft geflogen. Das Fliegen hatte jener wahrscheinlich den Jochgeiern abgeguckt, denen die Augen seines Herrn seinerzeit als Leckerbissen mundeten. Da nun der geübte Bergsteiger neben diesem Wesen an der Wand klebte, sprach er nach kurzem Gruße: „Wenn ein Ungeübter mit solch Schuhzeug (geschweige denn Kletterschuhe) hier herunterklettert, obendrein allein, so hab ich kein Mitleid!“ „Verzeihen Sie –“ erwiderte der ungeübte Bergsteiger „verzeihen Sie, daß, als ich noch klein war, über meinem Bette ein Gebirgsbild hing; denn seit jenen Jahren hört ich sie singen in mir: die Sehnsucht nach den blauen Bergen – ohne jemals auch nur einen Hügel erblickt zu haben. Und dies war meine erste –“ „Man merkts“, unterbrach ihn der Geübte und hielt sich die Nase zu.
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„Jaja“, nickte die Leiche und lächelte leise. „Sichere Kletterer behalten immer Recht: Es duftet nicht nach Hyazinthen – jedoch ich hoffe, Sie werden mir trotzdem einen Gefallen tun, wenn Sie auch kein Mitleid mit mir haben; aber ich sehe, Sie sind geübt und gelangen daher wieder heil hinab ins Tal, und ich bitte: Wären Sie nicht so liebenswürdig diese Postkarte, die ich bereits vor zwei Sommern an meine Mutter in Tilsit schrieb, mitzunehmen und in einen Briefkasten zu befördern?“ „Warum nicht?“ „Warum ja? – haben Sie Angst?“ „Geben Sie die Karte her!!“ schrie da der Sichere – und kaum fühlte er sie in der Hand, kletterte er fluchtartig, als drohten ihm Gewitterfinger, fort ohne Gruß von dem redseligen Leichnam. Doch dieser hat ihm noch freundlich nachgewunken mit seinem einen Arm, als er unten über den Ferner lief – bis er verschwand: Dort hinter dem Buckel, wo die Hütte liegt im Tal, das schon ganz in Schatten versank. Und bald umrangen auch Nachtnebel grau die verlassenen Gipfel, und die Dunkelheit hielt Hochzeit im stillen Kar. Und irgendwo sang ein Salamander Ständchen. Da grub der ungeübte Bergsteiger aus einer Felsenspalte einen Führer hervor und las nach welch Wand oder Grat seiner blauen Berge er noch nicht erklettert hat. Denn die Nächte gehören den Abgestürzten.
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Die Beratung.
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Es war einmal ein Bergsteiger, der vernachlässigte in gar arger Weise seine Ausrüstung. Das ließ sich diese aber nicht länger mehr gefallen und trat zusammen zur Beratung. Die Nagelschuhe fletschten grimmig die Zähne und forderten, da er sie ständig fettlos ernähre, seinen sofortigen Tod. Darin wurden sie vom Seil unterstützt. Die Kletterschuhe zeigten ihre offenen Wunden dem Rucksack, der noch etwas ungläubig tat, da er erst gestern aus dem Laden gekommen war, und erzählten ihm erbebend den jeglicher Zivilisation hohnsprechenden Martertod seines Vorgängers. Der Eispickel bohrte sich gehaltvoll bedächtig in den Boden und sprach: „Es muß anders werden!“ Und die Windjacke kreischte empört: „Er zieht mich sogar in der Stadt an!“ Endlich ward man sich einig über seinen Tod bei der nächsten Tour: Die Windjacke sollte sich zuhause verstecken, um überhaupt nicht dabei zu sein. Zuerst müßten dann die Nagelschuhe, vornehmlich mit ihren besonders spitzen Absatzzähnen, seine Fersen und Sohlen blutig beißen. Später, in der Wand, wird ihn der Rucksack aus dem Gleichgewicht bringen, wobei sich die Kletterschuhe aalglatt zu benehmen haben – und sogleich wird der Pickel in seine Gedärme dringen und das Seil ihn mit einer Schlinge erwürgen. Jedoch zu selbiger Zeit glitt der Bergsteiger auf der Straße über eine Apfelsinenschale und brach sich das Bein. Und – er würde sicher nicht mehr fluchen, daß er nun nimmer in die Berge kann, wüßte er von der Beratung.
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Der sichere Stand.
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Einst kletterte ein Kletterer über einen berüchtigten ungemein brüchigen Grat empor – und fürwahr! er war ein kühner Bursche: denn selbst von Zacken mit Zipperlein (die nur noch den erlösenden Rülps ersehnten, um die Fahrt nach dem Friedhof tief unten im Kar antreten zu können) rief er denen, die hinter ihm her kletterten, zu: „Kommt immer nur nach! Habe sicheren Stand!“ Und einmal hielt er sich gar nur mit zwei Fingerspitzen der linken Hand an einem kaum sichtbaren Griff, doch schon rollte er rasch mit der Rechten das Seil ein und schrie: „Sicherer Stand!“ – da seufzte sein Griff und brach ab: Kopfüber flog er aus der Mutterwand und mit ihm unser Kletterer, während ein scharfer Stein grinsend das Seil durchbiß – und erst nach gut fünfhundert Metern klatschte er wie eine reife Pflaume auf eine breite Geröllterrasse. Aber sterbend schrie er noch seinen Gefährten zu: „Nachkommen! Sicherer Stand!“
Die Eispickelhexe. 20
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Hoch droben in dem Lande, in dem es weder Wälder noch Wiesen, nur zerklüftete Eisäcker gibt, dort haust die Eispickelhexe. Statt der Zehen wuchsen ihr Pickelspitzen, und ihre Zähne sind klein und aus blauem Stahl. Ihre Brüste sind mächtige Hängegletscher und – trinkt sie Café mit Gemsenblut, darf niemand sie stören. Nicht einmal die Mauerhakenzwerge. Sie ist aller Eispickel Schutzpatronin. Drum in den Nächten auf den Hütten, wenn jene sich unbeobachtet meinen, schleichen sie aus den Schlafräumen ihrer Herrn: von den Haken herab, aus den Ekken heraus, unter den Bänken hervor – unhörbar zur Türe hinaus. Dort knien sie nieder, falten ihre Pickelschlingen und beten zum Schutzpatron um guten Schnee –
Die Mauerhakenzwerge. 35
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Unzählbare Mauerhaken stecken in Spalten und Falten der Felsen. Auf diesen turnt in Neumondnächten ein gar lustiges Völklein: die Mauerhakenzwerge. Da machen sie Handstand und Purzelbaum und nie kugelt einer herunter, denn sie sind derart winzig leicht, daß sie in der Luft klettern, wie wir, beispielsweise, in einem Kamin. Aber am Tage bleiben sie unsichtbar und treiben mit den Bergsteigern harmlosen Ulk. So unter anderem, wenn Einer klettert, kneifen sie ihn in die Ohren oder krabbeln an seiner Nase, damit er sich kratzen muß; und kichern, wenn er flucht. Gerät aber ein Gerechter in Lebensgefahr und finden seine zitternden Glieder weder Griff noch Tritt – so schweben die Mauerhakenzwerge heran und schmiegen sich dort an die Wand, wo er gerade einen Griff oder Tritt erfleht: wie ein Bienenschwarm mit weißen wallenden Bärten unter Tarnkäppchen und lassen sich als Stufe benützen – und der solch Stelle überwand, wundert sich hernach selber, wie dies nur möglich gewesen sei!
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Freilich: An die braven Mauerhakenzwerge denkt Keiner. „Und es sind doch so sehr sympathische Leute! Nicht wahr, Herr Müller?“ „Jaja, die schöne Literatur, mein Herr!“ 5
Was ist das?
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Zwei Schwergewichte werden als Zwillinge geboren und hassen sich schon in der ersten Runde ihres Daseins. Aber nie reicht die Kraft, um den anderen im freien Stil zu erwürgen, nie wirken die heimlich im Ring verabreichten Gifte genügend gefährlich, und alle Schüsse aus dem Hinterhalt prallen von den zu Stein trainierten Muskelteilen (vom Gürtel aufwärts) ab. Und so leben die beiden neunzig Lenze lang. Aber eines Nachts schläft der eine beim offen gelassenen Fenster, hustet dann morgens und stirbt noch am selben Abend. Was ist das? Ein Punktsieg.
Stafetten Nur an der Schaltjahre Schalttagen treffen sich die Schwestern Stafetten zu einem gemütlichen Plausch. Die Stafette von und zu Ski erzählt von korrekt verschneiten Tannenwäldern, drolligen Lawinenkindern, neckisch vereisten Stellen und störig verharschten Sprunghügeln. Die Stafette aus dem Stadion ergeht sich in Prophezeiungen über die Aussichten der guten und schlechten Starte anläßlich einer Nachricht über Möglichkeit der Abhaltung des jüngsten Gerichts und liest zwecks seelischer Gesundung mahnende Stellen aus dem Werke „Das ewige Übergeben“ vor. Die Schlittschuhstafette propagiert mit einem Temperament, das der Laie ihren eisgrünen Augen niemals zutraute, die Erbauung künstlicher Eisbahnen – wegen der immer mehr zunehmenden Impotenz der Stadtwinter. Und die Schwimmstafette gibt Ergötzlichkeiten aus Wiesenbächen und Weltmeeren zum Besten; unter anderem von einer neuentdeckten Sardinenart, für die der freie Stil ein Buch mit sieben Siegeln sei, und von menschenfressenden träumerischen Tiefseelilien. Zu all dem trinkt man köstlichen Café und raucht seinen Lieblingstabak. Kurzum: unvergeßliche Stunden!
Rechts und links 45
Es war einmal ein uralter Ringrichter, der hatte in seinem Leben bereits so Viele ausgezählt, daß, wenn man heute Alles zusammenzählte, dies sicherlich die Summe von über einer Million ergeben würde.
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Zu diesem berühmten Salomo stürzte nun eines Tages der einarmige Magenschwinger-rechts, fuchtelte erregt mit seinem Vierunzenhandschuh und jammerte voll ehrlicher Verzweiflung: „Ach, Himmel! Was soll man nur tun?! mein Vetter, der Magenschwinger-links wurd meineidig! beschwört, er hätte den härteren Schlag!“ „So ist das ein Fehler im System“, unterbrach ihn der Richter, „rechts und links sollen gleich –“ „Wir sind gleich!“ „Kaum!“ lächelte der Greis. „Leider hat dein Vetter recht: Denn wäre er nicht der Stärkere, kämst du auch nicht zu mir; doch, wie ich euch kenne“, und da verbeugte er sich leicht, „hast sicher du den besseren Charakter.“ Tiefgerührt verließ Magenschwinger-rechts den höflichen Richter und strafte von nun ab seinen Vetter mit Verachtung. Aber wer verachtet, gibt sich eine Blöße. Und Magenschwinger-links wäre nicht er selbst gewesen, hätte er eine Blöße nicht blitzschnell in einen eindrucksvollen k. o. verwandelt. Als jedoch Magenschwinger-rechts wieder erwachte, war er nun nicht nur mehr davon überzeugt, daß er selbst der weitaus bessere, sondern auch, daß sein Vetter ein richtiger Verbrecher ist.
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Aus einem Rennradfahrerfamilienleben
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Er überrundet bereits die sechste Nacht im Sportpalast – und sein Endspurt zwingt den Zeitrichter, die Lichtsekundenstoppuhr zu zücken! Inzwischen streitet zu Hause seine Frau mit der Nachbarin: „Was? ich habe ein Rad zuviel? Ja – gibt es denn ein Rad mit weniger als zwei Rädern?!“ Und was schreibt wohl dem Weihnachtsmann dieser beider Kindlein, das fast auf einem Damenrade geboren wurde, wäre seine geistesgegenwärtige Mutter nicht noch im allerletzten Augenblicke abgesprungen? Es schreibt: „Du guter Weihnachtsmann gib, daß ich bald kann radfahren um häuslichen Herd rascher als Mond um Erd“ Dann schläft es ein und träumt, während Vater siegt und Mutter Reifen flickt, von Motorradelfen und dem Prinzesslein im Beiwagen; und von Kühlerkobolden auf Märchenkraftwägen und den sieben radfahrenden Geißlein, Bremshexen und Übersetzungsschlänglein –
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Wintersportlegendchen
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Wenn Schneeflocken fallen, binden sich selbst die heiligen Herren Skier unter die bloßen Sohlen. Also tat auch der heilige Franz. Und kein Hang war zu steil, kein Hügel zu hoch, kein Holz zu dicht, kein Hindernis zu hinterlistig – er lief und sprang und bremste derart meisterhaft, daß er nie seinen Heiligenschein verbog.
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So glitt er durch winterliche Wälder. Still wars ringsum, und die verirrten Skispuren hielten den Atem an; und sahen ihm noch lange nach, und dachten: Wann kommt endlich der Schneesturm, der uns verweht – 5
Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen
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I. Wächtengleich droht des Herrn von Bindunghausen Burg dort droben auf jenem Sprunghügel, der trutzig verharscht in lawinenloser Landschaft wurzelt. Seht ihr? – rings gleiten die eisblauen Berge als das ideale Skigelände in den glattgefrorenen See, an dessen Gestaden Seehundfelle röhren; und nirgends findet der Wanderer Straßen, nur Bobbahnen und statt der Pfade Rodelbahnen – und an so mancher stimmungsvollen Kurve mahnt zum inneren Bremsen ein Kreuz aus ungleichem Schneeschuhpaar. Sanft überwölbt der silbergraue Himmel Bilder emsiger Arbeit: Um dereinst magere Jahre zu mästen, verspeichert sich heute die Pulverschnee-Ernte, dort drinnen, wo das Skifett sich konserviert, des Burgherrn pikanteste Delikatesse. Und der Gemächer Wände verkünden aus großer Zeit der Vorfahren Ruhm: Da hängen Schneereifenschilde, Skistocklanzen und krumme Säbel aus Schlittschuhstahl. Und der Wappen derer von Bindunghausen spricht: „Nur auf die Bindung kommt es an!“ – (was aber angezweifelt werden kann) Wahrlich: ein bezaubernder Besitz! II. Des Nachts, wenn am Hochgericht Sturm, Strick und Rad musizieren, besucht ihn die wilde Jagd – und jedesmal wieder führt er die Gäste gerührt in jenen einfachen Anschnallraum, in welchem König Winter MLXXVII. das letztemal nächtigte, als er gen Süden zum Frühling nach Canossa zog.
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III. Leitartikel las er nur schlittschuhlaufend: Bogen links, Bogen rechts, Dreier, Dreiersprung, sprungpung – pung! da saß er am Hintern, und tief im Teiche rief der Wassermann: „Herein!“ Denn man darf nicht aufhören zu hoffen. So denken auch die Nixlein unterm durchsichtigen Eis und zwinkern ihm, wenns dämmert, aus Schlingpflanzen zu: „Kleiner, komm runter –“ Sie waren zwar recht kitschig, doch nichts Menschliches blieb ihm fremd. IV. Obwohl er durchaus kein Wüstling war, dürfte wohl seinem Geschlechtsleben auch der gebildete Laie Interesse entgegenbringen. Wahrscheinlich weil er wintersportlich empfand, reizten ihn nur weibliche Schneemänner. Wie peinlich für ihn, falls es mal zu sehr fror, doch um wieviel peinlicher für die Frauen, wenn er mal zu sehr transpirierte! Seine angetraute Gemahlin war jene zweieinhalb Meter hohe nibelungenhaft herbe Erscheinung, die ihm bereits sieben rassereine Albinos gebar, bei roten Äuglein weiß an Haut und Haar. Mutter und Kinder stellten fürwahr malerische Familienbilder.
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Und gar oft führte geile Intuition seine Finger, und er formte am nahen Übungshügel Dicke, Dünne, Große, Kleine, Reife – so frönte er seiner Gefrierfleischeslust.
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V. Weltberüchtigt war die große Kurve, die noch von niemandem befriedigend bezwungen worden war. Dieselbe richtig zu nehmen, war des Herrn von Bindunghausen Lebensziel – „dann erst“, so sprach er zu seinen Söhnen, „kann ich ruhig sterben. Denn Leben heißt Kurven nehmen.“
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Über das Meer
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Sowohl noch nie als auch schon oft habt ihr folgende Geschichte gehört: Ein nüchternes Brustschwimmen wollte nach Amerika. Es sprang zu Le Havre ins Meer und schwamm – Tagelang. Jahrelang. Jedoch mitten im Meere wurde es müd. Schlief ein und träumte – Tagelang. Jahrelang. Und erwachte als romantisches Rückenschwimmen.
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Was das romantische Rückenschwimmen erzählt:
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Ein Fesselballon lag in der Luft, nicht allzu hoch, und fühlte, wie fest er mit der Erde verbunden und wußte auch, daß, wenn diese Verbindung reißen sollte (was Gott verhüten wolle), er verloren wäre. Trotzdem betrachtete er mit stiller Zufriedenheit immerzu dasselbe Stückchen Land; und da es eben nur ein Stückchen war, sah er auch oft und lange in den Himmel. Aber bald flog ein weißer Walfisch stolz an ihm vorbei: Es war das lenkbare Luftschiff, das, weil es kein Tau mit Mutter Erde verband, in solch kurzer Zeit über solch verschiedene Länder flog, daß seine Augen vom vielen Nach-unten-Schauen dem Himmel eben abgelenkt waren. Ganz oben aber produzierte ein Flugzeug immerzu nur Sturzflüge, und sah weder Himmel noch Erde – denn es mußte ja so sehr auf seinen Motor aufpassen. Das Arme.
Aus Leichtathletikland (Historie mit Randbemerkung) 40
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Als jener geniale Mensch, der als erster seines Geschlechtes aus der Baumwipfelheimat zu Boden sprang – da wurde die Leichtathletik geboren. Zu jenen Zeiten wuchs in allen Ländern nur Urwald – und schüchtern schritt das Gehen durch Dickicht und Dschungel. Doch eines Abends grunzte im Moor das Riesenschwein und wieder verdämmerte ein Zeitalter; ein Neues pochte an die Pforten unseres Planeten: Denn nun l i e f das Gehen! Jedoch erst vieltausend Jahre später teilte der Häuptling die Menschheit in Kurz-
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strecken- und Langstreckenläufer. (Denn naturgemäß mußte lange Zeit verfließen, ehe selbst ein Häuptling zwischen Schenkel und Schenkel unterscheiden konnte). Und nun lief das Langstreckenlaufen unzählbare Male um die Erde und wurd weder müde noch alt – aber der Wald ward gar bald zum Greis; die vielen Jahre hatten Höhlen in seine Knochen gegraben und saßen nun drinnen und sägten und sägten; und fällten die stolzen Stämme, deren Leichen das Langstreckenlaufen oft zu meilenlangen Umwegen zwangen. Da flog eines Morgens an dem Langstreckenlaufen ein Schmetterling vorbei, der derart lila war, daß das „Lang“ ihm sogleich nachhaschte wie ein einfältiges Mädchen. Über die Lichtung, und dann immer tiefer und tiefer hinein in den Wald. Bis die Sonne versank, der Falter verschwand und die Nacht hob die dunkle Hand. Nun erst griff sich das „Lang“ an die Knie (seinen Kopf) und machte kehrt – doch wohin es sich auch wand, überall lagen Leichen der Riesenbäume. Sechs Tage und sechs Nächte saß nun das „Lang“ gefangen auf Moos und spreizte verzweifelt die Zehen. Es war still, nur ab und zu stöhnte ein sterbender Stamm. Und die Luft murmelte lau. In der siebenten Mitternacht (es war vor Angst bereits halbtot) rief eine helle Stimme: „Siehe! dort liegt eine tote Tanne! Gehe hin und befolge das Gebot, Auserkorener!“ Da senkte das Langstreckenlaufen gläubig die Zehen und rannte blind und bleich auf die dunkle Masse zu – zwei Urhasen im Unterholz schrieen gellend auf, denn sie sahen es bereits mit gespaltenen Kniescheiben vermodern – jedoch im allerletzten Augenblick hob ein beflügeltes Wesen das „Lang“ über den toten Riesen und ließ es drüben unversehrt zu Boden gleiten. Da falteten die beiden ungläubigen Urhasen die Ohren und lobpreisten laut die Allmacht; es war ja ein Wunder geschehen: Hochsprung ist erstanden! Wie unendliche Heuschreckenschwärme flog das Gerücht vom heiligen Hochsprung über die Welt und allüberall sang man Dankchoräle. Als aber kurze Zeit darauf auch das Kurzstreckenlaufen einen Hochsprung vollführte, glaubte niemand mehr an das Wunder. Und die folgende Generation glaubte überhaupt nichts mehr – denn nun konnte ja Jeder schon vom dritten Lebensjahre ab hochspringen. Sogar aus dem Stand. Da erzürnte der liebe Gott gar sehr ob der allgemeinen Gottlosigkeit und sprach zum Eis: „Eis! Tust du meinen Willen nicht, so geb ich dir die Sonne zur Gemahlin!“ Sogleich warf sich der Vater aller Winter auf den Bauch vor Gott; und gerade dort, wo er den Nabel trug, drehte sich die Erde. (– und grimmige Kälte und grüner Frost erwählten die Erde zu ihrem Brautbett, und finstere Stürme triumphierten. Alles erstarb, ohne verwesen zu dürfen. Es waren Bilder, wie sie grausiger kaum an Verfolgungswahn leidende Insassen der Hölle hätten malen können. Die Wenigen, deren Blut nicht stillstand, hausten in Höhlen und weinten bittere Eiszapfen.) Und das Eis sprach zu Gott: „Ich werde dein Willen, Herr!“ Und der Allgütige antwortete: „So stehe auf! Denn allein wenn du so sagst, sind sie genügend gestraft!“ Kaum war das Wort verklungen, schien die Sonne wieder auf die Erde und all die
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Sportmärchen
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Eiszapfentränen schmolzen und bildeten mächtige Ströme – überall; einmal sogar zwischen einem Liebespaar. So entstand der Weitsprung. Und selbst die reuigsten Sünder konnten nicht umhin fest zu fühlen, daß dies kein Wunder sei, sondern nur natürlich. Daher beantragten sie (eben weil es kein Wunder war) ein Weitsprungverbot. Aber eben weil es natürlich war, blieb es immer nur beim Antrag. Erst bedeutend später verfertigte ein Geistvoller, der weder Gott noch Weib verehrte, einen Stab, mit dem der Hochsprung einen hochaufgeschossenen Sohn zeugte: den Stabhochsprung der heutzutage besonders bei Sportphotographen beliebt ist. Randbemerkung zu Satz eins: Nur um der Wahrheit willen soll korrigieret werden was aus Bequemlichkeit der Ausdruckweise Überlieferung geworden war – daß nämlich jener geniale Mensch von jenem Baume nicht heruntersprang, sondern bloß herunterfiel. Und selbst kopfunten warf er noch heulend Gebetbrocken an den Horizont: denn damals herrschte in unserem Geschlechte der Glaube, daß am Boden nicht zu leben sei. Als er aber ebendortselbst dank seines vortrefflichen Genickerbauers heil landete, staunte er zunächst stumm ob des nichteintretenden Todes. Doch bald verkündete er mit lauter Lunge seinen Brüdern und Schwestern, daß er heruntergesprungen sei. D i e s war seine geniale Tat. Und begeistert sprangen ihm die Geschwister nach ins neue Land; in der alten Heimat gab es nämlich schon viel zu viel Menschen und viel zu wenig Äste. Freilich mit der neuen Heimat entdeckten sie auch nicht das Paradies: Denn damals wimmelte es vor Drachen. Aber es waren ja bei dem Sprunge aus dem Vaterlande nicht gerade alle auf den Kopf gefallen: Einige wußten Rat. Mit Steinen und spitzen Stämmen (den Ahnen von Diskos und Speer) rotteten sie die Ungeheuer mit Schweiß und Plag nach und nach aus. Aber nur so, durch Leid geläutert, konnte sich die Leichtathletik entfalten. Und das ist doch Fortschritt – und uns allen liegt auch nichts ferner als dies: jenem Mitmenschen die kleine Formlüge nicht verzeihen zu können. Juppiter Fürchtegott Weltmeister h. c.
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Bergsteiger-Märchen
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Bergsteiger-Märchen Von Ödön von Horváth
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Der große und der kleine Berg Als einst der große Berg, der vor lauter Erhabenheit schon schneeweiß geworden war, dem kleinen Berge gebot: „Staune ob meiner Größe!“ antwortete jener Felsenzwerg schnippisch nur dies: „Wieso?“ Da reckte sich der Riese und sein Scheitel berührte die Wolken, als stünde Goliath in einer niederen Bauernstube – und durch seine drohende Stimme lief das Grollen der Lawinen: „Ich bin der Größere!“ Doch der kleine Berg ließ sich nicht einschüchtern: „Aber ich bin der Stärkere!“ Wie lachte da der große Berg! Doch der Kleine wiederholte stolz: „Ich bin der Stärkere, denn ich bin der Schwierigere! Du wirst bei unseren Feinden, den Bergsteigerkreisen, nur als leicht belächelt, ich hingegen werde als sehr schwierig geachtet und gefürchtet. Mich ersteigen jährlich höchstens sieben! Und dich – ? Blättere nur mal nach in deinem Gipfelbuch, dort steht der Unterschied unverfälschbar!“ Auf das sichere Auftreten des bisher (über die Achsel) angesehenen hin wurde der Große doch etwas stutzig und blätterte stirnrunzelnd in seinem Gipfelbuche und – oh, Graus! – Namen, Namen, zehntausende! Und was für Namen!! Fünfjährige Kinder und achtzigjährige Lehrerinnen!! Er zitterte. Da bröckelten Steine aus seiner Krone und wurden als Steinschlag eines Bergsteigers Tod, der, wenn er seinen Namen in ein Gipfelbuch schrieb, immer nur dies dachte: „Berge! staunet ob meiner Größe!“ Und als dies der große Berg erfuhr, sagte er nur: „Wehe mir!“
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Die Beratung
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Es war einmal ein Bergsteiger, der vernachlässigte in gar arger Weise seine Ausrüstung. Das ließ sich diese aber nicht länger mehr gefallen und trat zusammen zur Beratung. Die Nagelschuhe fletschten grimmig die Zähne und forderten, da er sie ständig fettlos ernähre, seinen sofortigen Tod. Darin wurden sie vom Seil unterstützt. Die Kletterschuhe zeigten ihre offenen Wunden dem Rucksack, der noch etwas ungläubig tat, da er erst gestern aus dem Laden gekommen war, und erzählten ihm erhebend den jeglicher Zivilisation hohnsprechenden Martertod seines Vorgängers. Der Eispickel bohrte sich gehaltvoll bedächtig in den Boden und sprach: „Es muß anders werden!“ Und die Windjacke kreischte empört: „Er zieht mich sogar in der Stadt an!“
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Bergsteiger-Märchen
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Endlich ward man sich einig über seinen Tod bei der nächsten Tour: Die Windjacke sollte sich zu Hause verstecken um überhaupt nicht dabei zu sein. Zuerst müßten dann die Nagelschuhe, vornehmlich mit ihren besonders spitzen Absatzzähnen, seine Fersen und Sohlen blutig beißen. Später in der Wand wird ihn der Rucksack aus dem Gleichgewicht bringen, wobei sich die Kletterschuhe aalglatt zu benehmen haben – und sogleich wird der Pickel in seine Gedärme dringen und das Seil ihn mit einer Schlinge erwürgen. Jedoch zu selbiger Zeit glitt der Bergsteiger auf der Straße über eine Apfelsinenschale und brach sich das Bein. Und – er würde sicher nicht mehr fluchen, daß er nun nie mehr in die Berge kann, wüßte er von der Beratung.
Die Eispickelhexe 15
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Hoch droben in dem Lande, in dem es weder Wälder noch Wiesen, nur zerklüftete Eisäcker gibt, dort haust die Eispickelhexe. Statt den Zehen wuchsen ihr Pickelspitzen, und ihre Zähne sind klein und aus blauem Stahl. Ihre Brüste sind mächtige Hängegletscher und – trinkt sie Kaffee mit Gemsenblut, darf niemand sie stören. Nicht einmal die Mauerhakenzwerge. Sie ist aller Eispickel Schutzpatronin. Drum in den Nächten auf den Hütten, wenn jene sich unbeobachtet meinen, schleichen sie aus den Schlafräumen ihrer Herrn: von den Haken herab, aus den Ekken heraus, unter den Bänken hervor – unhörbar zur Türe hinaus. Dort knien sie nieder und falten ihre Pickelschlingen und beten zum Schutzpatron um guten Schnee –
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Das Sprungbrett
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Das Sprungbrett von Ödön von Horváth.
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Ein Sprungbrett ärgerte sich grün und gelb, da es ständig nur solch Gedanken spann: „Bei Poseidon! Es ist doch empörend, daß sich diese Springer nur dann in die Höhe schnellen können, wenn sie mich niederdrücken!“ Und an einem heißen Sommersonntagnachmittag riß ihm endlich die Geduld: Als nun Einer, der es durch seine zahllosen Kopfsprünge am häufigsten gedemütigt hatte, zum Salto ansetzend es zum ixstenmal brutal hinabdrückte, brach es sich einfach selber ab. Dadurch fiel der Springer aber weder auf Hirn noch Hintern, sondern platschte auf seinen Bauch, der platzte. Da war er tot. Sehr stolz ob dieser gewonnenen Schlacht wiegte sich nun das Sprungbrett auf den Wellen. Doch bald und unerbittlich kam die Erkenntnis, daß der Sieg wohl an der Form, nicht aber am Wesen seiner Lage eine Änderung brachte: Denn nun wurd es eben von ermüdeten Schwimmern als Balken mißbraucht, die sich auf ihm ausruhten, indem sie es niederdrückten. Moral: Solange ein Sprungbrett das Schwimmen nicht verbieten kann, solange entgeht Keiner seinem Schicksal! (Was nur ein romantisches Rückenschwimmen bestritt)
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Der Herr von Bindunghausen
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Der Herr von Bindunghausen
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Wächtengleich droht des Herrn von Bindunghausen Burg dort droben auf jenem Sprunghügel, der trutzig verharscht in lawinenloser Landschaft wurzelt. Seht ihr? – rings gleiten die eisblauen Berge als das ideale Skigelände in den glattgefrorenen See, an dessen Gestaden Seehundfelle röhren; und nirgends findet der Wanderer Straßen, nur Bobbahnen und statt der Pfade Rodelbahnen – und an so mancher stimmungsvollen Kurve mahnt zum inneren Bremsen ein Kreuz aus ungleichem Schneeschuhpaar. Sanft überwölbt der silbergraue Himmel Bilder emsiger Arbeit: Um dereinst magere Jahre zu mästen, verspeichert sich heute die Pulverschnee-Ernte, dort drinnen, wo das Skifett sich konserviert, des Burgherrn pikanteste Delikatesse. Und der Gemächer Wände verkünden aus großer Zeit der Vorfahren Ruhm: Da hängen Schneereifenschilde, Skistocklanzen und krumme Säbel aus Schlittschuhstahl. Und der Wappen derer von Bindunghausen spricht: „Nur auf die Bindung kommt es an!“ – (Was aber angezweifelt werden kann). Wahrlich: ein bezaubernder Besitz!
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Und immer noch staunt jenseits der Grate ein uralter Rabe, denn einst entschnellte sich dem Sprunghügel der Herr von Bindunghausen mit solchem Schwung, daß er fast die Höchstleistung im Segelfluge überbot; und, weil er unüberlegter Weise obendrein noch westwärts absprang, so kam es (da sich doch die Erde ostwärts dreht), daß er plötzlich überaus perplex auf den Philippinen landete, inmitten hungriger Menschenfresser. Diese hätten ihn gar hurtig verschlungen, wäre unser Herr nicht schon lange ganz Ski geworden. Da man jedoch selbst als Kannibale nicht gerade Zahnstocher zu speisen pflegt, so ließen sie ihn wieder laufen. Es wäre ja auch zu schade gewesen!
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Des Nachts, wenn am Hochgericht Sturm, Strick und Rad musizieren, besucht ihn die wilde Jagd – und jedesmal wieder führt er die Gäste gerührt in jenen einfachen Anschnallraum, in welchem König Winter MLXXVII. das letztemal nächtigte, als er gen Süden zum Frühling nach Canossa zog.
Leitartikel las er nur schlittschuhlaufend: Bogen links, Bogen rechts, Dreier, Dreiersprung, sprungpung – pung! da saß er am Hintern und rülpste, während tief im Teiche der Wassermann „Herein!“ rief. Denn man darf nicht aufhören zu hoffen. Und wenns dämmerte, zwinkerten unterm durchsichtigen Eise Nixlein aus den Schlingpflanzen: „Kleiner, komm runter –“. Selbe waren zwar recht kitschig, doch nichts Menschliches blieb ihm fremd. Obzwar er durchaus kein Wüstling war, dürfte wohl seinem Geschlechtsleben auch der gebildete Laie Interesse entgegenbringen. Wahrscheinlich weil er wintersportlich empfand, reizten ihn nur weibliche
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Der Herr von Bindunghausen
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Schneemänner. Wie peinlich für ihn, falls es mal zu sehr fror, doch um wieviel peinlicher für die Frauen, wenn er mal zu sehr transpirierte! Seine angetraute Gemahlin war jene zweieinhalb Meter hohe, nibelungenhaft herbe Erscheinung, die ihm bereits sieben rassereine Albinos gebar: bei roten Äuglein weiß an Haut und Haar. Mutter und Kinder stellten fürwahr malerische Familienbilder. So, frönend seiner Gefrierfleischeslust, führte gar oft geile Intuition seine Finger, und er formte am nahen Übungshügel Dicke, Dünne, Große, Kleine, Reife – und selbst wenn niemand hineinhauchte, ließ er das Haupt nicht sinken, obwohl er die Heiligen liebte. Aber nur jene heiligen Herren, die, wenn Schneeflocken fallen, sich Skier unter die bloßen Sohlen binden.
Drum las er mit Liebe die Legende vom heiligen Franz. Dem war kein Hang zu steil, kein Hügel zu hoch, kein Holz zu dicht, kein Hindernis zu hinterlistig – er lief und sprang und bremste derart meisterhaft, daß er nie seinen Heiligenschein verbog. So glitt er durch winterliche Wälder. Es war still ringsum und – eigentlich ist er noch keinem Menschen begegnet und auch keinem Reh. Nur eine verirrte Skispur erzählte einmal, sie habe ihn auf einer Lichtung stehen sehen, woselbst er einer Gruppe Skihaserln predigte. Die saßen um ihn herum im tiefen Schnee, rot, grün, gelb, blau – und spitzten andächtig die Ohren, wie er so sprach von unbefleckten Trockenkursen im Kloster „zur guten Bindung“, von den alleinseligmachenden Stemmbögen, Umsprung-Ablässen und lauwarmen Telemarkeln. Und wie erschauerten die Skihaserln, da er losdonnerte wider gewisse ††† undogmatische Unterrichtsmethoden!
Weltberüchtigt war die große Kurve, die noch von niemand befriedigend bezwungen worden war. Dieselbe richtig zu nehmen war des Herrn von Bindunghausen Lebensziel – „Dann erst“, so sprach er zu seinen Söhnen, „kann ich ruhig sterben. Denn Leben heißt Kurven nehmen.“ Ödön von Horváth
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Der Fallschirm
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Der Fallschirm
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Ein Fallschirm sprach zum Flieger, seinem Herrn: „Zahlst du mir heut abend wieder kein Glas Bier, so verschließe ich mich, springst du morgen aus dem Flugzeug, wie eine hartherzige Geliebte!“ Doch der Flieger lachte nur: „Du mußt Dich öffnen mein Lieber, kenne dich ja zu genau!“ Aber der Fallschirm fuhr fort: „Ich weiß, daß du mich erfunden und erbaut, jedoch: hüte dich! Denn folgst du etwa Dessen Geboten, der dich ersann? Beichtest du, fastest du – ?“ Da erbleichte der Flieger, sein Mut erstarrte zu Angst und er lief zum Priester beichten und tat im Dom das feierliche Gelöbnis, daß er von nun ab jeden Freitag fasten werde. Aber trotz all dem tötete ihn tags darauf sein Fallschirm: Der hat seine Drohung verwirklicht – weil er sich selber das Bier zahlen mußte.
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„Nur auf die Bindung kommt es an!“
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„Nur auf die Bindung kommt es an!“ von Ödön von Horváth
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Es waren einmal zwei Skiläufer. Der eine konnte hervorragend laufen, besaß aber, da er sehr arm war, nur billigste Bindung auf schlechten Brettern. Der andere konnte überhaupt nicht laufen, höchstens stehen, besaß aber, da er sehr reich war, vorteilhafteste Bindung auf wundervollgeschwungenen Brettern. Nun sprang der Arme über den Hügel so an die vierzig Meter, brach sich aber der vermaledeiten Bindung wegen den Knöchel. Der Reiche sah ihm dabei zu und dachte nicht daran zu springen; war vielmehr froh, daß er stand. Und der Sachverständige sprach: „Nur auf die Bindung kommt es an!“
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Sommer und Winter
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Sommer und Winter von Ödön von Horváth
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Sowohl noch nie, als auch schon oft habt ihr folgende Geschichte gehört: Ein Skisprunghügel aus Holz erbaut lebte auf einem regelrecht geneigten Hange; es war Winter und er hörte tagtäglich entzückt: „Ist das ein prächtiger Sprunghügel!“ Und weil er dies eben tagtäglich hörte, wurd er größenwahnsinnig und leugnete selbst entfernteste verwandtschaftliche Bande zu den rings um ihn kauernden Bäumchen, die traurig unter der Schneelast in sich gegangen waren. – Später aber schmolz der Schnee und die Bäumchen reckten und streckten sich wie ebenerwachte Katzenkinder und zogen ein gar wunderbar grünes Kleidchen an; nun wurde der Sprunghügel von niemandem mehr beachtet, sondern mußte vielmehr tagtäglich hören: „Sind das liebliche Bäumchen!“ Und als gar einer sagte: „Sieh nur, Tante Agathe, welch häßliche kahle Bretter! Wie die Alles verhunzen!“ Da dachte er an Selbstmord. Doch neues Leben zog in sein verzagendes hölzernes Herz, da Tante Agathe antwortete: „Wart nur auf den Winter!“
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Kurzprosa (Endfassungen, emendiert) Zwei Briefe aus Paris Geschichte einer kleinen Liebe Vom kleinen Beamten Emil Theodors Tod Lachkrampf Die Versuchung Großmütterleins Tod Der Tod aus Tradition Aus den weißblauen Kalkalpen Abseits der Alpenstraßen Begegnung mit Kriminellen Das Bitterwasser-Plakat Ein sonderbares Schützenfest Pepis Album Das Fräulein wird bekehrt Nachruf Hinterhornbach Die gerettete Familie Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand Aus der Stille in die Stadt Das Märchen vom Fräulein Pollinger Der mildernde Umstand Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat Der Fliegenfänger
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Zwei Briefe aus Paris
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Friedrich Antoine Piesecke (Zwickau) Zwei Briefe aus Paris. Eingesandt von Ödön von Horváth. 5
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I. Göttlich zu atmen Luft fremder Rasse! Denn irgendwie ist alles Fremde, jedwede Rasse und Luft geheimnisvoll und irgendwie peitscht dies auf. Ich spreche vollbewußt von „peitschen“, selbst wenn einige gefühlslogisch Eingestellte mich noch für so ehrbar halten, dem köstlichen Marquis de Sade zu huldigen – nein! fern aller kindlichen Einfalt wie auch bürgerlicher Beschwerden bewegen sich meine Gedanken: Seht ihr den Platz mit seinen plattgedrückten Barockkaminen über Gebäuden mit Brüsten zu raschgewachsener Vierzehnjähriger, die aber bereits, gleich wissend alternden Frauen, rokokohaft ihre blassen Mundwinkel schürzen? Nach solchen Plätzen dürste ich. Hier enthaupteten zartbeknöchelte Königinnen wirrbehaarte Mönche, nur (!) weil sie die Art ihrer Liebesbeweise enttäuschte. Und heute ist es als hätte sich ein gewisser Teil jenes Herrscherinnenetwas irgendwie in den Frauen reinkarniert, die die Boulevards zu bewohnen scheinen. Denn nie wird man durch ihre ab und zu prickelnden Gebärden Herkunft aus den Quartiers der Lumpensammler fühlen, nur manchmal die Tradition rechtsstehender Kreise, was einer gewissen Pikanterie nicht entbehrt. Gestern nachts rief eine zu mir aus Seitenstraßen; die sah meiner längst entschlafenen Mutter überaus ähnlich – doch „halte!“ Fort mit aller Sentimentalität! Selbst wenn unsere Seele zerfetzt im Schmerzsturm flattert, lasset uns lächeln, lächeln wie die Keuschheitsgürtel im Musée Cluny! II. Ein alter deutscher Meister, der das Unglück genießt, manchmal mit Oskar Wilde verwechselt zu werden (doch ich will nicht boshaft sein), sagte einst: Eine Pariser Kokotte mit einem Holzbein besitzt immer noch bedeutend mehr Charme als eine Berliner mit sämtlichen Gliedmaßen. Und er hatte das unbestreitbare Recht dies zu offenbaren, denn gebunden durch keinerlei unästhetisch geartete Beziehungen zu drallen weiblichen Vorsprüngen, ist er ein überaus feinnerviger Erotiker – und nun erst verstehe ich voll seinen Satz, gesprochen aus Dämmerungen sexueller Urerregtheit: „Wie harmonisch in ihrer Atonalität sind doch das Klappern eines niedlichen Holzfußes über das blutgeschwängerte Pariser Pflaster und die lockend girrenden Töne, die in den gallischen Lauten ihre ganze Eindeutigkeit verneinen um zweideutig zu werden.“ – Fürwahr!
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Geschichte einer kleinen Liebe
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Geschichte einer kleinen Liebe von Ödön von Horváth.
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Still wirds im Herbst, unheimlich still. Es ist alles beim alten geblieben, nichts scheint sich verändert zu haben. Weder das Moor noch das Ackerland, weder die Tannen dort auf den Hügeln noch der See. Nichts. Nur, daß der Sommer vorbei. Ende Oktober. Und bereits spät am Nachmittag. In der Ferne heult ein Hund, und die Erde duftet nach aufgeweichtem Laub. Es hat lange geregnet während der letzten Wochen, nun wird es bald schneien. Fort ist die Sonne, und die Dämmerung schlürft über den harten Boden, es raschelt in den Stoppeln, als schliche wer umher. Und mit den Nebeln kommt die Vergangenheit. Ich sehe euch wieder, ihr Berge, Bäume, Straßen – wir sehen uns alle wieder! Auch wir zwei, du und ich. Dein helles Sommerkleidchen strahlt in der Sonne fröhlich und übermütig, als hättest du nichts darunter an. Die Saat wogt, die Erde atmet. Und schwül wars, erinnerst du dich? Die Luft summte, wie ein Heer unsichtbarer Insekten. Im Westen drohte ein Wetter, und wir weit vom Dorfe auf schmalem Steig, quer durch das Korn, du vor mir – – Doch, was geht das euch an?! Jawohl, euch, liebe Leser! Warum soll ich das erzählen? Tut doch nicht so! Wie könnte es euch denn interessieren, ob zwei Menschen im Kornfeld verschwanden! Und dann gehts euch auch gar nichts an! Ihr habt andere Sorgen, als euch um fremde Liebe – und dann war es ja überhaupt keine Liebe! Der Tatbestand war einfach der, daß ich jene junge Frau begehrte, besitzen wollte. Irgendwelche „seelische“ Bande habe ich dabei weiß Gott nicht verspürt! Und sie? Nun, sie scheint so etwas, wie Vertrauen zu mir gefaßt zu haben. Sie erzählte mir viele Geschichten, bunte und graue, aus Büro, Kino und Kindheit, und was es eben dergleichen in jedem Leben noch gibt. Aber all das langweilte mich und ich habe des öfteren gewünscht, sie wäre taubstumm. Ich war ein verrohter Bursche, eitel auf schurkische Leere. Einmal blieb sie ruckartig stehen. „Du“, und ihre Stimme klang scheu und verwundet, „Warum läßt du mich denn nicht in Ruh? Du liebst mich doch nicht, und es gibt ja so viele schönere Frauen.“ „Du gefällst mir eben“ antwortete ich, und meine Gemeinheit gefiel mir über alle Maßen. Wie gerne hätte ich diese Worte noch einige Male wiederholt! Sie senkte das Haupt. Ich tat gelangweilt, kniff ein Auge etwas zu und betrachtete die Form ihres Kopfes. Ihre Haare waren braun, ein ganz gewöhnliches Braun. Sie trug es in die Stirne gekämmt, so wie sie es den berühmten Weibern abgeguckt hatte, die für Friseure Reklame trommeln. Ja, freilich gibt es Frauen, die bedeutend schöneres Haar haben und auch sonst – Aber ach was! Es ist doch immer dasselbe! Ob das Haar dünkler oder heller, Stirn frei oder nicht – „Du bist ein armer Teufel“, sagte sie plötzlich wie zu sich selbst. Sah mich groß an und gab mir einen leisen Kuß. Und ging. Die Schultern etwas hochgezogen, das Kleid verknüllt – Ich lief ihr nach, so zehn Schritte, und hielt. Machte kehrt und sah mich nicht mehr um. Zehn Schritte lang lebte unsere Liebe, flammte auf, um sogleich wieder zu verlöschen. Es war keine Liebe bis über das Grab, wie etwa Romeo und Julia. Nur zehn
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Geschichte einer kleinen Liebe
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Lesetext
Schritte. Aber in jenem Augenblick leuchtete die kleine Liebe, innig und geläutert, in märchenhafter Pracht.
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Vom kleinen Beamten
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Lesetext
Vom kleinen Beamten von Ödön von Horváth.
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Es war einmal ein möbliertes Zimmer. Das war nicht groß, das war nicht klein, das war auch nicht gerade schön – ja: eigentlich war es häßlich; aber es war billig; doch fast immer noch zu teuer für den kleinen Beamten.
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Denn die monatliche Miete forderte ein Drittel seines Gehalts, das er jeden Ersten seiner Wirtin, der Witwe eines anderen kleinen Beamten, auf den Tisch zählte. Und er zählte sehr genau und ebenso genau zählte es wieder die gute Frau. Dann zählten es Beide noch genauer so ungefähr zehn-, zwanzigmal, obwohl es noch niemals geschah, daß auch nur ein lumpiger Pfennig gefehlt hätte; denn der kleine Beamte war von Grund auf ein genauer Mann, jedoch die Witwe ward noch genauer, da sie sparen mußte, mehr noch, wie er: Denn dies Geld war nur die Hälfte ihres Einkommens; die andere Hälfte bestritt ihre Pension, und die war gerade um zwei Drittel geringer, wie der ehemalige Gehalt ihres verstorbenen Mannes. Aber sie rauchte ja keine Pfeife und schnupfte auch nicht und trank nie Bier, nur Wasser: Das war ihr Trost. Wenn auch nur ein schwacher. Aber irgendeinen Trost muß man doch haben! – Dies spürte auch der kleine Beamte und da er keinen hatte, so suchte er einen und saß nun alle Abend in der Küche bei ihr am selben Tisch.
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Sie stopfte seine Strümpfe, und er sah zu. Und sprach nur selten, denn sie sprach fast immer: von der Milch und dem Wetter, der Regierung und dem Herd und ihrem seligen Manne. Der war ein braver Mann, es war eine glückliche Ehe, aber sie würde trotzdem nie mehr heiraten, nie mehr –
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Und der kleine Beamte dachte: „Jaja, es ist schon so –“ – obwohl er eigentlich anderer Meinung war.
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Emil
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Emil von Ödön von Horváth.
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Er war Stammgast in jenem Café, in das ich mich eines Abends verirrt hatte und das ich dann nie wieder betrat, denn es stank nach Literatur und sauerem Schweiß. Seinen Namen habe ich vergessen, aber ihn selbst würde ich sofort wiedererkennen, obwohl nun schon einige Jahre seit jenem Abend, an dem wir uns getroffen hatten, vergangen sind. Damals sprachen wir über Kunstprobleme, das heißt: Er öffnete alle Schleusen seiner Dialektik, und ich hörte zu. Er sprach über Lyrik, obwohl er doch merken mußte, daß ich nichts davon verstand, und schielte dabei fortgesetzt auf mein Käsebutterbrot, daß mir der Brocken im Rachen steckenblieb. War dies Schielen eine Bosheit, für die man noch Verständnis haben konnte, eine Bosheit aus Verärgerung: sich trotz seiner geistigen Überlegenheit kein Käsebutterbrot leisten zu können – so war das Gerede über Lyrik eine glatte Gemeinheit. Denn dadurch, daß ich ihn nicht verstand, setzte er mir ja ständig auseinander, in vorwurfsvollem Tone, daß er mehr sei, als Jemand, der sich ein Käsebutterbrot leisten könne, obwohl er selbst sich keines leisten konnte. Eine Gemeinheit diese Selbstbeweihräucherung, indem man einem Menschen den Appetit verdirbt, nur weil er nichts von Lyrik versteht, und man selbst kein Käsebutterbrot fressen kann! Doch heute will ich nicht schimpfen, heute nicht! Man soll nichts Böses über Tote sagen. Soeben erhielt ich nämlich die Nachricht, daß er gestorben sei. Ich habe seinen Namen vergessen – aber nun will ich seiner gedenken, und so werde ich ihm der Deutlichkeit und Bequemlichkeit halber einen Namen geben, einen Namen, den meines Ermessens dieser traurige Kunde hätte tragen müssen, wenn er ihn nicht getragen hatte, nämlich den Namen Emil. Es gibt viele Emils. Und jene unter ihnen, die meiner Menschenkenntnis trauen, sollen sich damit trösten, daß ihr Name nur tückischer Zufall ist, daß sie von Rechts wegen Alexander, Herrmann der Cheruskerfürst, Sardanapal oder Moriz heißen müßten. Mein Emil war von knabenhaftem Wuchse, und wenn man den Kopf nicht berücksichtigte, schien er ein altgriechischer Jüngling in den Flegeljahren zu sein, aber mit Kopf war er eine Kaulquappe. Ohne ein Wasserkopf zu sein, war er doch viel zu schwer. Ansonsten hatte Emil Sommersprossen, Pickel auf Stirn, Nase und Kinn, finstere Fingernägel, altmodische Halbschuhe und eine einzige Krawatte. Diese Krawatte war so unwahrscheinlich dünn, so ausgedörrt und abgemagert, als irrte sie ständig durch Wüsten ohne Wasser und hätte bereits als Säugling gefastet. Und zerfranst war sie und schlecht gebunden auch. Eine richtig traurige Krawatte, verschlampt und verkommen, einsam und sentimental. Sie hätte Emils schwache Schwester sein können, gewisse unableugbare Familienähnlichkeiten waren vorhanden, nur daß Emil nicht zur Zierde geboren worden war, sondern zu Höherem ausersehen sich dünkte. Kraft hiezu fühlte er in sich. Eine Kraft, die ihn aufhorchen ließ. Sonst horchte niemand. Keiner, nur er, sah den Unterschied zwischen Krawatte und Emil. Ja, man verwechselte sogar die beiden miteinander, und dies nicht nur aus Unfähigkeit zu formulieren. Und die Frauen, die sahen überhaupt nur die Krawatte. Kein Wunder also, wenn das Kapitel „Emil und das Weib“ zerfahren, zergrübelt,
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Emil
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gestammelt, asketisch und arrogant, schwülstig und verzweifelt wirkte. Denn zu guter Letzt war doch der arme Teufel Emil genau wie all die anderen seiner Art: Wenn der Nachbar fehlte, der das Käsebutterbrot verzehrte, so konnte er also auch keine Gespräche über Lyrik führen. Dann stierte er in die Ferne, seinen Horizont entlang, und zumeist blieb sein Auge an dem ihm räumlich zunächst befindlichen weiblichen Wesen kleben. Denn kurzsichtig war er auch. Aber sie sah nur die Krawatte. Gestern, heute, morgen. Und entschwebte dem Café, wie ein sogenannter Traum. Armer Emil! Jetzt, wo du unter dem Rasen verwest und die Krawatte im Mülleimer liegt, jetzt wird man euch unterscheiden können, und jetzt werden die Frauen nur dich sehen. Und werden sagen: Emil war ein großer Mann. Schon aus Pietät. Vielleicht, nur weil du solch eine fadenscheinige Krawatte trugst. Wahrscheinlich sogar.
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Theodors Tod
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Theodors Tod von Ödön von Horváth
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Der „Fall Theodor“ ist ein Schulbeispiel für den tragischen Kampf des Fleisches wider den Geist, ist die Geschichte des durch politischen Fanatismus gehemmten Geschlechtslebens. Theodors Fleisch war willig, aber der Geist war schwach. Wesen und Ziel seiner Politik, für die er sich des öfteren tollkühn und rücksichtslos einsetzte, konnte allerdings noch niemand enträtseln, da er immer eine eigene Meinung hatte, nicht aus Überschätzung seiner Persönlichkeit, sondern aus Demut vor ihr. Er war Führer und Trommler, Masse und Sturmtrupp, alles in einer Brust, und hielt jedes Jahr mit sich selbst Parteitag, leider unter Ausschluß der Öffentlichkeit. So steht also nur fest, daß er alle Parteien, Fahnen, Vereinsabzeichen, sowie Thron und Altar, Republik und Mussolini, Locarno und Komintern mit einem Hasse verfolgte, der selbst einen Großinquisitor sicher ans Reichsgericht befördert hätte. Dieser sein infernalischer Haß raubte ihm aber die Manneskraft, bereits in den besten Jahren. Er brach seinen Trieb, wie der Tod Augen bricht. So saß er eines Abends mit Klara im Kino, und je oberflächlicher er den Film beäugte, um so hurtiger schien sich eine innere Harmonie zwischen ihr und ihm herauszukristallisieren. Zu guter Letzt war ja der arme Teufel Theodor, wie jeder andere seiner Art: Seine Liebe war Sehnsucht nach Romantik und Wille zur Sachlichkeit. Seine Romantik war Sehnsucht nach Sachlichkeit und seine Sachlichkeit war Wille zur Romantik. – Nun gehörte aber Klara zu jenen Mädchen, die, selbst bei völliger Auflösung ihres Ichs, es nicht vergessen können, daß ihr Bruder im Weltkrieg Leutnant gewesen war. Plötzlich, mitten im Kristallisationsprozeß, hub sie an begeistert zu applaudieren. Theodor fuhr empor: da! dort! über die Leinwand schritt er, ER und nochmals ER! Fridericus, die Briefmarke! – Da war es aus. Restlos aus. Das Verlangen verkroch sich in bittere Gleichgültigkeit, ja Abscheu und Ekel, wie die erschreckte Schnecke ins Haus. Die Felle schwammen zu Tal. Und drei Tage später, diesmal mit Anna: wieder Applaus! wieder brutale Vernichtung zartester Triebe, nur diesmal statt durch „Panzerkreuzer Stingl“ durch den „Reichspostminister Potemkin“! Aber fünf Tage später: endlich, endlich! Theodor in Weißglut durch das Lächeln der lenden- und schenkelschönen Frau Bloch: „Madame! Ich möchte mit Euch in einem melancholischen Parke spazieren, aber wir müßten uns in einem Urwald verirren und mitten im Zwielicht des Dickichts müßte ein breites weiches Bett uns entgegenkommen, und kaltes warmes fließendes Wasser, Löwen und Papageien, und ein Zimmerkellner, gütig wie Großpapa, eine lieblich schizophrene Landschaft, fern von Külz!“ „Pardon, Theodore! Kein Wort contre Külz! Ich liebe Külz!“ So geschehen im Jahre des Schmutz und Schundes. Es liegt auf der Hand, daß diese ständigen Pyrrhussiege des Geistes über das Fleisch zur Vernichtung beider führen mußten. Ich will hier aus Raummangel meiner Gestaltungskraft kurz nur die Schlußszene darbieten. Die ersten Akte pflegen ja meistens auch ihren besonderen Reiz zu haben, aber die der Tragödie „Theodors letzte Liebe“ sind uninteressant. Zwar könnte sie ein einfallsreicher Regisseur mit allerlei Kniffen schmackhaft würzen, da ich aber ein schlechter Regisseur bin, nicht weil ich keine Einfälle habe, sondern aus mangelnder Ehrfurcht vor dem Dichter, lasse ich sie aus Liebe zum Publikum weg.
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Theodors Tod
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Also:
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T HEODOR (führt Gretchen auf sein Zimmer) Still, Liebste, still! Die Götter sind so neidisch – nein, ich bin nicht verrückt, ich fürchte mich nur – still! Nenne mir nicht mal deinen Namen, er könnte mich an Entsetzliches erinnern! Ich will in dir das Prinzip – Zieh dich aus! Nur rede nichts, rede nichts, du kriegst deine fünf Mark! Hier – Ha, das Weib! Weißt du, wer so viel Enttäuschungen erlitt, der sehnt sich nach taubstummer Liebe – Hernach, Weib, hernach! Dann kannst du reden was du willst, wie du willst und solange du willst – (Er setzt sich und sieht ihr zitternd zu, wie sie sich entkleidet; aber plötzlich verfärbt er sich, schnellt ruckartig empor und lallt idiotisch: Ihr Hemdchen ist schwarzweißrot eingesäumt, auf dem Büstenhalter funkeln zwei Sowjetsterne, die Kokarde am Strumpfband leuchtet schwarzrotgold, und die, etwas altmodischen, Spitzen des Höschens sind nach Hakenkreuzmanier gehäkelt; er wankt, faßt sich an Kopf und Herz und bricht zusammen. Kombinierter Gehirn- und Herzschlag. Vorhang. Schlußmarsch)
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Lachkrampf
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Lachkrampf Skizze von Ödön von Horváth.
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Die Geschichte, die ich hiemit mir erlaube Ihnen zu erzählen, ereignete sich in einem Tanzlokal. Nicht in einem jener Tanzpaläste, deren Straßenfassaden mit der lässigen Grausamkeit wohlhabender Ästheten über Nacht, Nässe und Schmutz lächeln. Es war auf einem jener Tanzböden, die sich nur „Palast“ nennen, mehr aus Größenwahn, als aus Höflichkeit gegen ihre Gäste. Diese Säle haben keine Sektnischen wie Seitenaltäre. Man trinkt Bier, und jeder, der eintritt und den klebrigen Samtvorhang zur Seite schiebt, überblickt sogleich den ganzen Raum; links, dort hinter der Säule am dritten Tische saß die Charlotte Mager mit Ulrich Stein. Woher ich die beiden kenne? Na, hören Sie! Das Mädchen saß doch zwo Jahre als Stenotypistin bei Buck et Co. Der rote Buck ging bekanntlich pleite und turnt heute als Agent durch die Treppenhäuser, wie der Orang im Zoo. Die Mager saß dann bei ihrer verheirateten Schwester, einem knochigen langen Elend, mit Augen, als bekäme sie den Stockschnupfen nimmer los. Ob sie noch heute da wohnt? Ich glaube es kaum, da das schwägerliche Paar samt Bubi bloß ein möbliertes Zimmer mit Küchenbenützung – und der Ulrich Stein, den lernte ich vor Jahren auf dem Landsitz seiner verwitweten Mutter kennen. Einer herzensfeinen hochgebildeten alten Dame, die nach dem Tode ihres geliebten Gatten die Rolle der gefeierten Gesellschaftserscheinung ablegte und sich nur mehr der Ergänzung ihrer anerkannt herrlichen ostasiatischen Sammlung, die drei Zimmer füllt, widmete. So lebt sie nun still und bescheiden. Ulrich studiert Musik. Ob er sich einst Lorbeeren erdirigieren wird, fiel mir nicht auf. Sein Äußeres wirkt beruhigend wie ein vornehmes Treppenhaus, und als wohlerzogener junger Mann ist er nicht bar des sozialen Verständnisses. Ja, er beschwört sogar, alle Abendkleider zu hassen und nur einfache Mädchen, gewissermaßen aus dem Volke, zu lieben. Er vertritt nämlich die Auslegung, daß Liebe Mitleid sei. Aber zum zweiten Stelldichein kommt er nicht mehr, denn er lechzt nach immer neuen Erschütterungen. Eine echte Künstlernatur, hat er statt Gewissen nur formvollendete Ausreden. Das dem Schicksal nie entrinnen können und so. Er hatte mit der Mager soeben zum dritten Male getanzt. Musikpause. Die zwei Lichtenberger Broadway-Boys samt „Stimmungskanone“ Walterchen setzten sich an den Tisch neben den Toiletten, und der Ober mit dem Chaplingang brachte ihnen den kontraktlich vereinbarten Tee und Kuchen. Eine Blumenfrau hinkte von Gast zu Gast, der Ventilator surrte, drei Männer kamen gewichtig herein, wässerigen Schnee am Absatz. „Es schneit“, sagte Charlotte. Er kaufte ihr zwei Rosen. Sie lächelte: „Rosen im Winter! Man sollte in Betten voller Rosen liegen! Wenns nur wieder Sommer wär!“ Das ist Kitsch, durchzuckte es unsern Ulrich, übelster Kitsch! Pfui, Dreiteufel! Und infolge seines unstreitbar vorhandenen ästhetischen Feingefühls, packte ihn die Wut über solch sentimentalen Dreck. Es war eine Wut aus Literatur, sozusagen. (Lachen Sie nicht! Sowas gibts!) Eine schamlose Wut, die mit apokalyptischem Hasse danach lechzt, jede arme Seele, die ihre Sehnsucht nicht stilvoll auszudrücken vermag, zu rädern. „Was für ein Bett?“ höhnte er und bildete sich ein, hypnotisieren zu können. Im Augenblicke haßte Ulrich Stein die Stenotypistin Charlotte Mager. „Hören Sie! Von was für einem Bette reden Sie da?“ „Ein Bett, irgendein Bett –“
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„Aha!“ triumphierte er. „Wollen wir nicht tanzen?“ Sie tat aus Unsicherheit über die ihr unerklärliche plötzliche Veränderung seines Benehmens gelangweilt, und dies steigerte seine Wut. Jetzt hätte er sie niedermetzeln wollen, doch stoppte er seinen Blutdurst noch im letzten Augenblicke ab, nicht aus Feigheit, sondern infolge der Erkenntnis, daß der Tod ja auch Erlösung bedeuten könnte. Als lyrisches Temperament war er nämlich zutiefst im Innern zweifelsohne metaphysisch orientiert und huldigte lediglich aus Schamgefühl und Eitelkeit der Psychoanalyse. „Das Bett“, stellte er fest und betonte feierlich jedes Wort „das Bett ist ein Symbol. Ein Symbol für das Bett. Verstehen Sie das?“ „Nein.“ „Nein?“ fuhr er zischend empor und schien zu frohlocken. „Nein?“ wiederholte er gedehnt und beugte sich langsam vor, daß sein Kinn fast das Tischtuch berührte: „Aufgepaßt!“ „Ach was! Die paar poetischen Worte!“ „Poetisch? Poetisch ist gut!“ Und erklärte ihr klipp und klar, daß ihre Äußerung in puncto Rosenbett und Jahreszeiten nicht nur nicht poetisch, sondern reiner Mist und von jedweder geschmacklichen Warte aus abzulehnen sei. Er bellte ihr die Begründung ins Antlitz und sprach, neben Bewußtsein und Unterbewußtsein, auch über Libido und Primitivität, nebst Doppelsinn aller Worte, als hätte er den ganzen Freud in den Fingerspitzen. Die Traumdeutung begriff sie nicht; sie verstand nur, daß sie sich wegen der Worte, auf die sie eigentlich stolz gewesen war, schämen sollte. Und es tat ihr plötzlich fast wohl, es einzusehen und sie dachte, ich kann doch nicht anders, ich empfinde eben so, und tat sich leid wegen ihrer paar poetischen Worte. Und die Worte selbst taten ihr leid, jedes einzelne, groß und klein – es waren doch ihre Worte, und was will er denn überhaupt! Man weiß doch, daß man nichts kann, nichts ist, und, daß man auch niemals was werden kann. Also, was will denn nur dieser dumme Kerl mit dem Geschwätz!? Es ist ja zu lachen! Und nun geschah das, wovon alle Anwesenden noch tagelang sprachen. Die Mager zuckte zusammen und fing an ganz leise zu lachen. Zuerst stotternd wie ein Idiot. Doch plötzlich schnellte sie empor und lachte schrill, riß das Tuch vom Tische, zertrampelte kreischend Tassen, Gläser, Teller – besessen wie nur eine Schwester Sankt Veits. Warf sich zu Boden und wieherte, daß man das Zahnfleisch sah. Eine halbe Stunde später sah man Ulrich Stein einsam und erlebnisschwanger durch Seitenstraßen streichen. Das Herz voll Leid, das Hirn voll kühner literarischer Pläne.
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Die Versuchung
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D i e Ve r s u c h u n g von Ödön von Horváth. 5
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Am Abend jenes Tages, dessen Vormittag die Firmung zahlreicher weißgekleideter Jungfrauen durch überaus blauen Himmel nur noch erhebender überwölbte, nahte sich der Einen aus jener unschuldigen Schar, namens Seraphine Hinterteil, zum ersten Mal Satan – in Gestalt eines geilen Greises, der auf eine Krücke gestützt hinter ihr herhüstelte und lüstern also lispelte: „Ach, hast du einen süßen Familiennamen –“ Seit diesem Tage waren nun Jahre vergangen – und erst in ihrem achtzehnten Lenze wuchs Seraphinens Neugierde zu jenem Mut, der ihr Zagen derart überwand, daß sie ohne Beben den Beichtvater frug, wie jener Spruch wohl zu deuten sei. Es dämmerte im Dome und der Pfaffe hinterm Gitter hob die Augen himmelwärts vom Hosenlatz und flüsterte errötend: „Höre, du reine Magd: Wohl kann Keiner um seinen Familiennamen, wir erben den Samen der Sünde und tragen ihre erblühende, blühende, verblühende Frucht lebenlang, doch hüte dich! der Duft, der uns umschmeichelt, wird höllischer Gestank, riechen wir außerehelich. Drum hebe die Nase hinweg von dem Nabel, aus dem diese böse Blume sprießt und lebe so engelsrein, wie dein Vorname klingt; und bete darum – Amen.“ Da betete Seraphine und wie sie so betete, wurde jener geile Greis immer schwächer und kränker. Und am siebenten Tage war er tot. Und wieder waren viele Sommer und Winter vergangen. Aus der kleinen Seraphine wurde ein Fräulein Hinterteil und der Komet, der das vorige Mal anläßlich ihrer Geburt durch die Erdnebel guckte, nahm nun, als er so einige Jahrzehnte später wiederkam, mit Erstaunen wahr, wie sehr sie gewachsen – denn dies war auch das Einzige, was selbst einem solch geschlechtslosen Gestirn (und daher besonders scharfschauenden) auffallen konnte. Sie hatte sich zwar von den Knöcheln bis herauf zum Haar genau so entwickelt, wie all ihre Altersgenossinnen, jedoch die fremden Männer auf der Straße sahen es nicht, denn ihr Alles war zu ausdruckslos, wohl weil ihr Leben nie einen tieferen Eindruck empfing. Wie sollte sie auch? – Hatte weder einen Bruder, der Freunde besaß, noch Geld, da ihr allzubald entschlafener Vater nur ein wenig besuchter, aber um so frömmerer Zahnarzt gewesen – so wurde sie Lehrerin in dem gleichen christlichen Stift, das sie auf Freiplatz erzog; brachte vieltausend Kindern den Sinn bei von Punkt, Komma, – und unterdessen schrieb sich ihr Leben ohne jegliches Komma. Geschweige denn Punkt. So kam die Nacht nach dem Tage ihres dreiundvierzigsten Geburtstages. Da nahte sich ihr die Versuchung. Sie hatte sich eben zu Bette begeben – da traten die galanten Geister der Hölle in ihr billig möbliertes Gemach. Noch schnarchte nur die Finsternis, doch bald tropften an ihr Trommelfell sonderbare Töne: wie Brautnacht in einem uraltem Bette, das krächzt, als wären die Daunen dürres Laub – und es liefen zwei Knaben in ihre Augen, im herbstlichen Walde die Notdurft verrichtend – wie es ihr einst beim Schulausfluge des Zufalls feiner Finger offenbarte. Die Beiden dürften ja jetzt schon fast Männer sein, und der Eine war dunkel und
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der Andere blond – das Brautbett hielt den Atem an –: So fühlte Seraphine zweier Stiftenköpfe Spitzen ihre schlaffen Brüste berühren – sie fühlte, was dunkel und was blond, und mit aufgerissenen Augen dachte sie nach, wie sich Alles verändert – An der Wand hing ein Bild: ein norddeutscher General, der nun plötzlich stramm die Hacken zusammenschlug und (wie auf höheren Befehl) sich zu entkleiden begann – scheu flog ein Lächeln um ihre Lippen – da zog er den Degen und schrie roh: „Was willst du Hinterteil?!“ Sie stöhnte und schloß die Augen –: Langsam gebar die Dunkelheit ewige Fernen, aus denen bedächtig purpurne Kugeln hervorrollten, immer mehr und mehr – bis ein stummer Sturm sie durcheinander wirbelte und aufhob in eine Fläche – als stände die Sonne dicht hinter ihren Lidern, wie eine Woge Blut – die zu einem Vorhang erstarrt sich alsbald auseinanderfaltete und einen Jüngling hervortreten hieß, der nur mit einer goldenen Schärpe geschmückt sich verbeugte und frug, was Königin Seraphine wünsche – Ihre Knie zuckten und schlugen fiebernd aneinander: Noch zweimal zerbrach fast der zarte Junge seinen Rumpf vor ihr, doch diesmal nach rückwärts – bis, sich wiedererhebend, Staub auf seiner Stirne stand. Sie warf sich auf den Bauch und preßte ihr Antlitz in das kaltfeuchte Kissen, droben am Dache sang ein Kater und tief vom höllischen Meere umbraust erzeugte sich selbst ein Ungeheuer –: halb Mann, halb Stier – und das stürzte auf den höflichen Jüngling, biß ihm die Seele aus der bescheidenen Brust und schleuderte ihn ins – All! Denn da erst sah sie, daß Beide auf einer Kugel gestanden, die sich schier unfaßbar schnell drehte, und sie erkannte auf ihr die verschlungenen Linien der Weltteile. China, Paris, Amazonas – doch der Stiermann zwang den Globus zum Stehen. Mit geschwollenen Adern stierte er brünstig sie an – und plötzlich waren es zwei Globusse, als er nun schäumend nach ihrem Schoße sprang – sie wehrte sich, wand sich – aber des Ungeheuers stämmige Hörner schlitzten gar unbarmherzig ihre Innenschenkel auf: Heiß rieselte ihr Blut und wurde zur Wolke gesotten vom Schweiß auf seinem breiten, behaarten Rücken – ihr Gesicht, wie aus Flammen geballt, drang durch den Dunst an das Fußende: Dort röhrte ein rosa Elefant und reckte den Rüssel und alle Ecken öffneten sich und spieen ganze Klassen magerer Mädchen aus, die mit Zuckerfeigen um seine Gunst buhlten. Rings aus den Schubladen sahen blauäugige Knaben traurig zu – da stampfte ein Pferdehuf in ihr Kreuz, da hob sich ihr Hintern, sie spreizte die Zehen und knirschte keuchend mit den Zähnen und winselte dann – Da schritt Herr Satan über ihren Leib – – Und vom nächsten Tage ab, hatte sie bei den Kindern in der Schule den Spitznamen: die Hexe.
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Großmütterleins Tod
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GROSSMÜTTERLEINS TOD
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Marie, die Frau des Buchhalters Hannes Moser, hatte ihren Mann verlassen. Die Frau des Hannes Moser war ihrem Mann davongelaufen. Sie hatte den Tag über nichts gesprochen und war am Abend verschwunden. Man sah sie noch am Bahnhof stehen und auf den Zug warten, der in die Stadt fuhr. Das war das einzige, was Hannes erfahren konnte. Sie war ihm davongelaufen, nicht weil er sich in eine andere verguckt hatte, und auch nicht weil sie sich in einen anderen verguckt hatte. Er war auch kein Spieler, ein solider Mann – wie man so sagt. Sie hatte ihr kleines Kind zurückgelassen und war davon. Halb besinnungslos. Sie war eine Frau, bleich und abgemagert, mit fettigem Haar und säuerlichem Geruch. Aber sie hatte schöne große dunkle Augen, voll Scheu. Und dann blickte sie immer drein, als fühlte sie sich zurückgesetzt, als dächte sie immer, Gott, mein lieber Gott, ich lebe ja doch auf der Schattenseite des Lebens. Aber sie hatte nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen – ihr mangelte der Mut, weil sie ihre Erkenntnis nicht klar formulieren konnte. Daß sie nun weg war, den Grund hierzu, gab Großmütterlein. Großmütterlein genannt, seit das Kind noch nicht da, aber unterwegs war, war die Mutter ihres Mannes. Die Alte wohnte bei den beiden Jungen und hatte die stärkste Vitalität. Trotz ihrer 70 Jahre gab sie den Ton an; sie herrschte; nicht schreiend, nicht befehlend, aber ewig Rücksicht fordernd und aus Wut, daß man ihr die Rücksicht erweise, voll Bosheit und verärgert. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man ihr etwas schenkte. Sie sog das Blut der jungen Leute, sog ihre ganze Kraft in sich. Dabei lief sie in die Kirche am Sonntag, schimpfte aber auf den Pfarrer. Konnte sich mit niemandem vertragen. Oh, Großmütterlein konnte aber auch so friedlich aussehen! Alle, die nicht näher hinsahen, lobten sie. Wenn sie so an einem Tage, an einem warmen Spätherbsttage in dem Garten des Häuschens saß, auf einer Bank und strickte – ab und zu nachsann, in die Ferne blickte – in einem Buche las. Und, wenn sie zwischen den Seiten eine Rose fand, wie die Großmutter in Andersens Märchen, so dachte sie auch darüber nach – aber sie bekam eine Wut, einen Haß auf das Leben, weil es verging. Sie haßte das Leben, die Jugend, sie sah in ihnen ihren Tod, und ihr Lächeln voll Nachsicht und Güte, war aus Schwäche. Ihre Güte war verlogen, ihr Haß echt! In der Frau ihres Sohnes sah sie die Rivalin, das Weib. Sie ekelte sich vor ihrer Fraulichkeit, vor ihren Brüsten, vor ihrer Jugend! Sie hatte einen Haß auf die beiden Betten. Einmal waren die Zwei abends fortgegangen, da saß sie allein im Zimmer. Sie humpelte umher und trat auch in das Schlafzimmer ein. Sie stand in der Türe und ihr Gesichtsausdruck war so entsetzlich verzerrt, so entstellt, daß sie einer Furie glich. Sie ging drinnen auf und ab, und hegte die finstersten Gedanken. Dort stand das Bett, ihr Bett – in diesem Bette ist sie einst gelegen, sie kennt ja noch das ganze Zimmer, die Bilder und alles – aber jetzt muß sie in der Kammer hinten wohnen und dort an ihrem Bette liegt das Nachthemd der jungen Frau. Dort wäscht sie sich, dort liegt ihre Zahnbürste, im Schranke ist ihre Wäsche. Ihr Duft liegt im Zimmer – und wo blieb sie. In der Kammer!
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Großmütterleins Tod
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Es war Alles vergangen, Alles verflossen – und die Alte schnaubte Rache gegen die Jungen.
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Als die Beiden nach Hause kamen, fühlten sie, daß Jemand in ihrem Zimmer war, sie fühlten die feindselige Luft, die dunklen Gedanken, aber keiner wagte ein Wort zu sagen, weil sie wußten, wer hier war. Ihre gute Laune war vorbei – schweigend zogen sie sich aus. Plötzlich setzte sich die Frau an den Bettrand und fing an leise zu weinen. Er horchte auf, er wußte genau Bescheid. Unschlüssig, unsicher, zog er sich aus. Er sah den gekrümmten Rücken seiner Frau. „Warum weinst du denn? Was hast du denn schon wieder?“ frug er. „Ich halte das nicht mehr länger aus –“ „Was nicht mehr länger?“ herrschte er sie an. Und er machte seiner Wut auf die Mutter Luft, indem er sie auf seiner Frau ausließ. Und es tat ihm wohl, das tun zu können. – „Halte doch endlich dein Maul! Ich weiß, was dahintersteckt, es ist nur der Haß auf meine Mutter! Hetze nicht mehr gegen sie! Es verfängt bei mir nicht! Wer meine Mutter angreift, greift mich an!“ Die Großmutter saß aufrecht in ihrem Bette und freute sich satanisch über den Krach. Sie horchte die Wände durch. – Lange war es schon still geworden, noch saß sie aufrecht und horchte. Und freute sich. Die Frau lag still weinend, und der Mann dachte nach, wie er das Geld herschaffen muß für die zwei Weiber! Plötzlich fiel ihm das auf und er sah klar einen Zusammenhang. Er haßte nun die Alte und wollte sich seiner Frau nähern. Diese wehrte ab, worauf er sie kniff, daß sie einen blauen Fleck bekam. Er biß sich dabei so auf die Lippen, daß das Blut kam. Die Frau stöhnte leise auf und weinte weiter. -----
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Am nächsten Tage ging die junge Frau fort und kam nicht wieder. Man wartete mit dem Essen auf sie und die Alte meinte, wo sie sich nur wieder herumtriebe, und, daß man zu ihrer Zeit bedeutend pünktlicher gewesen sei, und überhaupt, was streune sie in der Nacht umher – doch er gab keine Antwort. Und das war ihr unheimlich. Sie fühlte sich unsicher und ärgerte sich, ihn nicht ärgern zu können. Bin ich ihm so gleichgültig geworden? – dachte sie eifersüchtig. Die Frau kam nicht wieder und Hannes erfuhr, daß sie in die Stadt gefahren war, wahrscheinlich zu ihrer Schwester. Er ging an die Bahn – die Alte sagte: „Ich fahre mit.“ „Gut!“ sagte er. Der Alten wurde es unheimlich zu Mut, sie dachte ja gar nicht daran zu fahren, es war nur eine kindische Bosheit. Aber er erriet ihren Gedanken, daß sie am liebsten zu Hause bleiben möchte und er erklärte nun sicher und unwiderstehlich, ohne Widerspruch duldend: „Du fährst mit! Der nächste Zug geht in einer Stunde!“
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Eine Stunde später saß Hannes und Großmütterlein auf dem Bahnhof. So im Freien sah die Alte viel älter aus, kleiner, verhutzelter wie ein Zwerg. Sie saßen auf einer Bank neben dem Bahnhof. Es war eine laue Sommernacht, und in der Ferne ging der
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Wind. Man konnte die Sterne sehen, aber der halbe Himmel war tiefschwarz. Dort waren Wolken. Und ab und zu strich ein kleiner Wind über den Bahnsteig. Die Alte in ihrem Kapotthütchen, saß da wie ein maskiertes Kind. Sie betrachtete voll Neugier eine Gruppe Kinder, die mit einem Hunde spielten und es sah aus, als wollte sie fast mitspielen. Sie blickte voll Ehrfurcht auf die Uniform des Bahnbeamten, auf die vielen Ziffern und Signale, die sie nicht enträtseln konnte. Sie ging wenig aus in der letzten Zeit. Der Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung. Hannes saß mit gesenktem Kopf da und stierte auf die Risse in dem Boden. „Es zieht“, sagte plötzlich die Alte. Er gab keine Antwort. „Es zieht“, wiederholte sie, „es fröstelt mich. Setzen wir uns doch anderswohin.“ „Überall ziehts“, antwortete er. „Aber hier ist es mir zu windig“, keifte sie, „willst du denn, daß ich eine Lungenentzündung bekomme, daß ich mir den Tod hole?! Den Tod!!“ Er blickte auf, und ihre Augen trafen sich. Den Tod, dachte er. Ja, den Tod! Mir solls recht sein! Das Beste wäre es! Du hast kein Recht mehr! Du hast deine Rolle ausgespielt und mußtest schon längst abtreten! Sie erschrak vor seinem Blicke. „Es zieht“, wiederholte sie und es lag etwas unendlich Wehmütiges in ihrer Stimme. Diesen Blick hatte sie bei Hannes noch nicht gesehen, so hatte er sie noch nie angesehen. – In ihrer Stimme lag ein Bitten. Es sprach die Frau aus ihr, die zurückgesetzte Frau. Er blieb sitzen. Sie aber stand plötzlich auf, doch er faßte sie am Handgelenk und drückte sie nieder. „Bleib. Es zieht ja nicht!“ Ein Windstoß strich an ihr vorüber, ein Fenster klirrte in der Nähe. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er hat sich nicht viel verändert so im Profil. Sie nahm Abschied. Plötzlich wurde es ihr klar, wie einem Sterbenden. Was steht sie auch noch da herum und hemmt die Lebenden? Sie sah ihren Sohn, wie er noch ganz klein war. Ein Signal läutete. „Jetzt muß er bald kommen, der Zug“, sagte er plötzlich leise. „Ja, jetzt muß er bald kommen –“ „Es zieht hier wirklich“, sagte er, „komm, Mutter! Setzen wir uns anderswohin!“ „Nein. Ich bleibe hier. Es zieht gar nicht, mein Sohn. Es zieht nicht mehr. – Und dann will ich auch nicht in die Stadt fahren. Hol du dir deine Frau allein. Ich will da nicht dabei sein. Laß mich hier noch etwas sitzen, bevor ich umkehre –“ Der Zug fuhr ein. „Leb wohl, Mutter!“ sagte er. „Leb wohl!“ Sie blieb auf dem Bänkchen sitzen. Der Wind wehte scharf. Der Zug fuhr ab. Sie sah den beiden roten Lichtern noch nach. Dann saß sie still allein. Sie hatte ihm noch nachgewinkt. Die Lichter am Bahnhof gingen aus. -----
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Die Großmutter ist tot. Sie war nur kurze Zeit krank gewesen, hatte sich erkältet und eine Lungenentzündung war hinzu getreten. Der Hannes hatte sein Weib aus der Stadt zurückgebracht, und nun lebten sie zusammen.
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Großmütterleins Tod
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Allmählich wich auch der Schatten der Großmutter aus dem Hause, und als das Kind geboren war, da war von der Großmutter nichts mehr übrig, als das Holzkreuz und die Erinnerung. Eine gleichgültige Trauer. Man hat ihren Tod nicht betrauert, weil sie alt war.
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Der Tod aus Tradition
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D e r To d a u s T r a d i t i o n Eine Legende aus den nördlichen Kalkalpen von Ödön von Horváth. 5
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In der Haupt- und Residenzstadt einer mitteleuropäischen Republik, die südwärts an harmlose Schlawiner, dagegen im Norden leider an um so gewalttätigere Piraten grenzt, lebte noch 1925 ein biederer aufrechter Mann, voll Gottesfurcht und Ahnenkult, namens Franz Xaver Loibl. Hausbesitzer, Familienvater und Ehrenmitglied des Männergesangvereins „Athen-Ost“, war er von Mutter Natur mit jener oft gerühmten behäbigen derben Heiterkeit begnadet und bis zum Abschluß der allzu großen Zeit zu allen barocken Späßen immer bereit gewesen, aber seit die Juden samt ihren Knechten vor einigen Jahren den Landesvater vertrieben und die Republik proklamiert hatten, hatte ihn niemand mehr lachen gesehen, höchstens lächeln, hämisch und sardonisch. Das Herz voll Bitternis und Bier, suchte er die Einsamkeit und fand sie an einem verödeten Stammtisch. Er kegelte nicht mehr, noch sang er oder spielte Tarock. Witterte überall Republikaner und hatte schwarzrotgoldene Angstträume. So träumte er einst, er fahre von Salzburg gen Berchtesgaden. Ostern wars, noch roch es nach Schnee trotz der hellgrünen Matten. Und da er an den Königssee kam, stand er plötzlich unter tausend und abertausend Menschen, lauter Landsleuten in sonntäglichem Gewand. Aber wie er sich so umsah, schienen sie ihm seltsam verändert, und wie er nochmals hinsah, bemerkte er bestürzt eine entsetzliche Wandlung: die Lederhosen reichten ihnen bis an die Knöchel, so waren sie zusammengeschrumpft, und alle hatten schwarzes geschneckeltes Haar, Locken an den Schläfen und Plattfüß. Und die Sennerinnen hießen Sara und Rebekka, Lea, Ruth und Sabinnerl! Und dann hielt ein engbrüstiger Intellektueller eine Rede in peinlich nordischer Mundart (alles schrie begeistert „hoch!“) und er sagte, er sei schnurstracks von Tarnopol („hoch!“) hierhergeeilt um den weihevollen Akt der Umtaufe des Königssees in „See der Republik“ zu vollziehen. Und wieder widerhallte brausend vieltausendstimmiges Hoch! von den Felsen ringsum, und wie unser Loibl auf den Kalender sah, da wars der erste Mai. Und die Ziffer war rot. Und Schabbes obendrein. Da schlug er mit dem Mute der Verzweiflung blindlings um sich und – erwachte. Aufatmend konstatierte er, daß man doch noch nicht so weit sei und, daß er schwitze wie eine mannbare Sau. Besorgt saß Maria, die andere Hälfte seiner fünfundzwanzigjährigen Ehe und Mutter seiner Tochter Therese, in ihrem Bette und frug, was er denn nur schon wieder für Ungereimtheiten geträumt hätte, und ob er denke, jede Nacht so zu winseln und zu schnauben wie ein krankes Roß. Und legte ihm nahe, in Zukunft vor dem Einschlafen immer etwas zu lesen, irgend etwas, das einen entrückt oder entzückt, dann träume man auch davon. Sie, zum Beispiel, lese die Romane in den Neuesten Nachrichten, dann träume sie überhaupt nichts. Ja, er solle, nein! er müsse nun fortab lesen – man schwitze dann auch nicht gleich einer Tobsau, und seufze nicht wie ein Hirsch und belästige sein Weib, indem daß die Bettstatt kracht, wie ein Maschinengewehr, und man als gläubige Christin schon gleich zum Pfarrer rasen möchte, von wegen der letzten Ölung, indem daß man nie nichts wissen könne. Unter der Wucht ihrer Rhetorik brach er zusammen. Erschlafft und zermürbt von seinen apokalyptischen Visionen hatte er keine Kraft, ihre Beweisführung zu widerlegen. Seine rehhafte Scheu vor dem gedruckten Worte schwand, und noch am gleichen Vormittage betrat er tapfer eine Buchhandlung. Der Entschluß, die Schwelle ei-
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nes solchen „Ausschanks“ zu überschreiten, fiel ihm wahrlich nicht leicht. Drinnen, zwischen Goethe und Kant, dünkte ihm alles fremd, so irgendwie nicht bodenständig, fast ausländisch. Nur nicht lange diese Luft atmen, durchzuckte es ihn, und er äußerte hastig seinen Wunsch, ein Buch oder dergleichen über die gute alte Zeit kaufen zu wollen. Mit einem „Sittenbrevier aus ehernen Zeitaltern ungebeugten Germanentums“, gesammelt von einem, der es wissen muß, verließ er den Laden, um drei Mark ärmer – sechs Maß, rechnete er. Die Nacht kam und mit mürrischem Mißtrauen blätterte Loibl in seiner Bibliothek. Löschte dann das Licht aus, rülpste und schlief ein. Und sieh da! Er träumte von lauter Zinnsoldaten und Dekolletés à la Luise. Was er von den Zinnsoldaten träumte, kann nicht mitgeteilt werden, um nicht mit dem Gesetze gegen Verrat militärischer Geheimnisse in Konflikt zu geraten, und auch nicht was er von den Dekolletés träumte, um nicht gegen Schmutz und Schund zu sündigen – kurzum: Als er am Morgen erwachte, lächelte er wie ein gestillter Säugling, und fühlte sich durch frische Hoffnung gebläht. – Nach vierzehn Tagen hielt er auf Seite elf und kam zu Kapitel vier mit der seltsamen Überschrift: lus primae noctis. Infolge seiner radikalen Ablehnung aller Fremdwörter wollte er es kurzerhand überblättern, doch da sprang ihm der Untertitel in die Augen, der lautete: Das Recht auf die erste Nacht. Was wäre denn jetzo nur dieses? dachte er und las. Las und las. Zuerst, wie üblich, verstand er nicht, was er las, dann, als er es begriffen hatte, glaubte er, es seien lauter Druckfehler und fing wieder von vorne an, buchstabierte jedes Wort, bis er Absatz für Absatz auswendig hersagen konnte wie ein Suppenschüler seine Hausaufgabe. Längst schon schnarchte seine Zeltgenossin, doch ihn mied jede Müdigkeit. Ungewöhnlich rege sprangen durch sein Hirn Gedanken, Bilder, Akkorde wie tolle Zirkuspferde. Und plötzlich schoß aus dem Chaos seiner Phantasien ein ungeheuerer Plan, fuhr blitzartig durch sein ganzes Sein, daß er schier erzitterte: Er bringt seinem Herrscher sein Kind dar, sein Fleisch sein Blut, die Theres! Der Landesvater, und nur er, trotz Republik und Erfüllungspolitik, hat das Recht auf die erste Nacht! Erst durch die Weihe des Gottbegnadeten wird der Mensch zum Mensch! Oh, der Herr soll es fühlen, daß es noch Männer gibt in seinem Lande, Männer, die treu an der Tradition hängen, er soll es spüren, daß die Verehrung der Sitten der Vorfahren noch lange nicht zur hohlen Phrase geworden ist – er, Franz Xaver Loibl, wird es beweisen! Und hoch klang das Lied vom treuen Mann, wie Trommelfeuer bei Maßkrugklang! – Doch am folgenden Morgen meinte seine Frau, was denn nicht noch. Und fernerhin meinte sie auch, es scheine ihr fast, daß er spinne, und außerdem sei dieser Plan eine Unkeuschheit und sicher nur bei den Norddeutschen so gewesen und niemals nicht bei uns. Und er sagte, er spinne gar nie nicht und sie sei auch schon solch eine verdorbene Neuerin, verweichlicht und ohne Schmalz, und sie solle doch sogleich nach einem bestimmten ehemaligen Künstlerviertel ziehen und Rhythmus tanzen. Und sie sagte, unter keinen Umständen tanzt sie nicht Rhythmus, und er aber sagte, sie werde schon sehen, wie sie Rhythmus tanzen werde und rief: „Therese!“ Aber da schrie die Frau, sie rufe den Arzt, und er sagte: Nur zu! Es sei ihm bereits bekannt, daß der verrückt sei, der treu an der großen Vergangenheit hänge. Und wieder rief er nach seinem Kinde. Es kam. Und der es da erzeugte sprach: „Ich weiß, daß du ein braves Mädchen
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Der Tod aus Tradition
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bist, und obwohl du an Starkbierfesten gar mannigfach in den Hintern gezwickt worden warst, bist du dennoch unberührt, eine Jungfrau, auf und nieder. So ziehe denn hin zum Landesvater und reiche ihm all dein Unerwecktes, auf daß er es wecken möge. So will es das Gesetz.“ Und er wollte sein Kind segnen. Doch es wehrte ab: „Du irrst, oh Vater! Oh, du irrst!“ „Wieso nachher?“ „Indem, daß ich mein Herz in Heidelberg verloren hab.“ „Ha?!“ „In einer lauen Sommernacht.“ „Verloren?“ zischte er wie der Held einer Pubertätstragödie. „Verloren?! Oh, über dich Fetzen! Kein anständiges Bürgermädchen verliert so etwas nicht!“ „Vater spintisieret wohl?“ frug die Tochter ihre Mutter; jene nickte nur: Und ob! Hierauf wandte sie sich wieder ihrem Vater zu und bat um Beantwortung folgender Fragen: ob er wohl ihre Entwicklungsjahre über geschlafen hätte, da er ihr solch unhygienischen Lebenswandel zutraue, und ob er außerdem nicht denke, daß der Landesvater denn doch schon etwas gebrechlich wäre, und ob er denn überhaupt nicht wüßte, daß es ja gar keinen Landesvater nicht mehr gäbe, und ob er also vielleicht den Landtagspräsidenten gemeint hätte – – Aber Loibl würdigte sie keiner Antwort. Er lachte nur ab und zu grimmig wie ein dem Grabe entstiegener Hoftheaterschauspieler. – Seit dieser Szene traute er keiner Seele mehr. Und er hub an den Tag und die Sonne zu hassen. Er verfluchte das Licht als den Zerstörer seiner Sehnsucht. Der Schlaf, immer schon eine seiner liebsten Beschäftigungen, wurde ihm zur Leidenschaft. Nach vierzehn Tagen schlief er bereits ab nachmittags. Und so träumte er nun täglich sechzehn bis achtzehn Stunden lang von Hörigkeit und Gottesgericht, Ketzern am Scheiterhaufen, Hexenprozessen und Judenblut, und wenigstens die Finsternis gehörte der Vergangenheit. Nach weiteren vierzehn Tagen schlief er bereits Tag und Nacht, und erwachte nur zur Brotzeit. Aber nach abermals zwei Wochen wachte er überhaupt nicht mehr auf. Mit den Flügeln des Schlafes war er in eine Monarchie geflogen, in der alles so geblieben war wie am ersten Tag. Nun frohlockt er in jenen Gefilden, allwo alles Tradition ist. Die Tradition der Ewigkeit.
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Aus den weißblauen Kalkalpen
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Aus den weißblauen Kalkalpen.
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I. 15. Juli. Die Schulen sind aus, die Ferien beginnen, die Städter strömen in die Natur um sich auszuschwitzen. Heuer gibt es wiedermal besonders viele unbefriedigte Damen. Pflichtgetreu absolvieren die Bauernburschen ihre galanten Abenteuer, diese Meister der praktischen Psychologie. Ich sitze in einem Aussichtscafé. Mißtrauisch erkundigt sich die Kellnerin, warum ich so ohne irgendeiner Frau dasitze. Ich sage, ich sitze auch gern mal so allein, worauf sie meint: „Freilich, man muß auch mal ausschnaufen, jetzt ist wieder Saison, jetzt haben die Herren wieder streng zu tun.“ II. Ein Fremder frägt zwei eingeborene Brüder: „Verzeihen Sie, bitte, könnten Sie mir sagen, welche Kuppe der Krottenkopf ist?“ „Ha?“ „Der Krottenkopf, bitte.“ „Der Krottenkopf“, befleißigte sich der eine schriftdeutsch zu antworten „des is dort der dicke, der dritte rechts hinter dem vierten links ganz hint, aber jetzt sehngs den net, von hier aus kann man nämli den Krottenkopf nicht sehen.“ „????“ „Geh, laß do den Socka!“ meinte der ältere Bruder freundlich. „Leck mi am Arsch“, belehrte ihn der Jüngere. „Wannst a Fremdnort sein wuillst, mußt scho freundli sein zu de Leut, da hilft si nix.“ III. Erst sieben Wochen nach dem 20. Mai wurde das Wahlmysterium zu Mittelsöchering enträtselt. Dort wurden 68 Stimmzettel abgegeben, davon 67 für die Bayerische Volkspartei und einer für die Kommunisten. Natürlich wurde unter Leitung des Pfarrers nach dem roten Hund geforscht. Aber wie gesagt erst nach sieben Wochen kam man durch Zufall dahinter, daß die kommunistische Stimme nicht vom Anderlbauern stammt (der im Weltkrieg verschüttet worden war und seither nichts von all dem wissen wollte) und der als vermeintlicher Roter schon des öfteren gefotzt worden war, sondern von der achtzigjährigen Schwester des Pfarrers, die bei der Wahl ihre Brille daheim vergessen hat und also das Kreuz statt bei der sieben bei der fünf gemacht hat. – Die Wahrheit hat selten Pointen.
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Abseits der Alpenstraßen
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Abseits der Alpenstraßen. Von Ödön Horváth. 5
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Auf einer Probe meines Volksstückes „Die Bergbahn“ entspann sich eine längere Debatte über Aberglauben. Wir waren einer Meinung, daß abergläubisch fast jeder Mensch sein dürfte, auch wenn er es bestreiten sollte. So hat wohl jeder sein „Unberufen!“ in sich – seine atavistische Angst vor dem bösen Blick. Was man mir aber nur mit einem leisen Mißtrauen glauben wollte, war dies: daß heute in Mitteleuropa noch Deutsche leben, die ehrlich an Hexen glauben, das heißt: an die Möglichkeit, daß sich Satanas persönlich für ein menschliches Weiblein interessiert. Der erotisizierte Satan – hier ist das Mittelalter am finstersten. „Drüben im Obermarkt, dort wohnt die rote Hand. Die rote Hand heißt eigentlich Therese, hat einen Kramladen, einen zwanzigjährigen Sohn und mit dem Teufel ein Gschpusi. Der besucht sie jede Nacht. Ich weiß das von ihrem Zimmerherrn, der ist dem Gottseibeiuns auf der Treppe begegnet. Der Teufel hat einen Cutaway angehabt, einen sogenannten ,Gehsthintere‘, und den Schwanz hat er die Treppen nachgeschleift wie eine Schlepp.“ Diese tolldreiste Angelegenheit erzählte mir im vorigen Herbst eine Kellnerin im Gasthaus, Mutter dreier Kinder; ihr Mann liegt in Galizien. Dies Hotelchen steht in einem Orte mit dreitausend Einwohnern auf der oberbayerischen Hochebene zwischen Füssen und Tölz – Sommer und Winter regster Fremdenverkehr, Bar, Jazz und acht Autoreparaturwerkstätten, eine Stunde Schnellzug weit von München, 700 Meter hoch über dem fernen Meere. Wie ist es möglich, daß in einem korrekten Kurort, mitten in der Fremdenindustrie, noch derart wahnwitziger Blödsinn als Glaube erzählt wird? Sehr einfach: Entfernt man sich ungefähr fünf Kilometer von einem dieser Kurorte, so befindet man sich oft um Jahrhunderte zurückversetzt. Es liegt nicht an der Unberührtheit der Landschaft, der Siedlungen, – es liegt an der Unberührtheit der Atmosphäre. Es ist Luft des Mittelalters, ohne gotische Dome – es ist bäuerliches Mittelalter. In solchen Gegenden fühlt man sich ungeheuer weit entfernt von unserer Zeit. So ungefähr in Australien, vor Erfindung des Dampfschiffes. Wer also auf diese Weise Australien erreichen will, den will ich auf einen Flecken Erde aufmerksam machen, der fast völlig unbekannt, relativ unschwer zu erreichen ist und der landschaftlich mit zu dem Großartigsten gehört, was Nordtirol zu bieten hat: das Hornbachtal. Allerdings: Die Unterkunftsverhältnisse sind natürlich sehr primitiv. Aber ich denke nicht daran, für Hotels Reklame zu machen. Kaufen Sie sich einen Reiseführer! Das Hornbachtal ist ein noch einsameres Tal des einsamen Lechtales. Es liegt nördlich der Hornbachkette, südlich des Hochvogel und des großen Wilden, östlich von Oberstdorf im bayerischen Allgäu. Die nächsten Bahnstationen sind im Norden Reutte, im Süden Stuben an der Arlbergbahn. Von Reutte nach Stuben fährt das Postauto über Stanzach, Lech, Zürs, einen mit amerikanischer Hast sich entwickelnden Wintersportplatz, und den 1900 Meter hohen Flexenpaß, der berühmt-berüchtigten Autostraße. Ausgangspunkt für das Hornbachtal ist Stanzach im Lechtal. Jenseits des Lechs liegt das Dorf Vorderhornbach, der große und reiche Bruder des armen Dörfchens Hinterhornbach zwei Stunden weiter im Tal.
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Abseits der Alpenstraßen
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„Sanft“ ansteigend, wie das schöne Baedeker-Wort lautet, führt die Straße taleinwärts. An einer Klamm vorbei, durch Hochwald und Felsen – von Telegraphenstangen keine Spur. Während der Wintermonate ist das Tal wegen der Lawinengefahr im wahrsten Sinne des Wortes von der Außenwelt abgeschnitten. Im Sommer gibt es nur dreimal wöchentlich Post, die Hebamme ist gleichzeitig Postbotin – aber im letzten Jahre lief eine Beschwerde beim Bezirksamt ein, den alten Zustand wieder einzuführen. Nämlich, daß die Post nur einmal wöchentlich kommt. So etwas gibt es noch! Anderthalb Tagereisen von Berlin. Wer bergsteigen kann, der soll nicht in Hinterhornbach umkehren, sondern über das Hornbachjoch nach Oberstdorf pilgern. Er wird den großartigsten Wald Tirols sehen, einen Urwald, gesetzlich geschützt. Seit über dreißig Jahren darf dort kein Baum gefällt und kein Wild geschossen werden. Hirsche, Gemsen, Murmeltiere – und die letzten Adler Tirols. Und wer gar hochalpine Sehnsüchte verspürt, der beschäftige sich mit der Hornbachkette – Urbeleskar und Bretterspitze –; ich kenne kein Gebiet in den Alpen mit solch legendärer Einsamkeit.
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Begegnung mit Kriminellen
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Begegnung mit Kriminellen. Von Ödön Horváth.
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Von Ödön Horváth, dem Verfasser des erfolgreichen Volksstückes „Die Bergbahn“, erscheint demnächst ein Roman „Herr Reithofer wird selbstlos“. Wir veröffentlichen aus den Vorstudien den nachstehenden Beitrag. Die Redaktion. Vor Weihnachten lernte ich durch den Kellner eines gemütlichen Cafés, in dem ich fast jeden Abend saß, einen freundlichen jungen Mann kennen. Er hatte den Kellner gefragt, ob er niemanden wüßte, der mit ihm Schach spielen würde, und der Kellner wußte, daß ich gerne spiele, obwohl ich fast immer verliere, und außerdem wollte der Kellner dem freundlichen jungen Mann auch einen Gefallen tun, weil der ihm statt 10 immer 20 Prozent gab. Ich willigte ein, und so spielten wir drei Wochen hindurch jeden Abend Schach. Der freundliche junge Mann war ein leidenschaftlicher Spieler, und wenn er mal verlor, so weinte er, denn er liebte das Schach mehr als seine Braut, die fast immer neben ihm saß, und die er ständig beschenkte, obwohl sie nichts davon wissen wollte, da sie sehr bescheiden war. Er aß oft tagelang nur Brot, nur um ihr irgend etwas schenken zu können. So überraschte er sie eines Abends mit einer goldenen Armbanduhr. Trotzdem war sie auf das Schach eifersüchtig, denn sie fühlte ja, daß er die goldene Armbanduhr dem Schachbrett geschenkt hätte, wenn das Schachbrett einen Arm haben würde. „Heben Sie sich doch das Geld lieber auf“, meinte ich. „Ihr Fräulein Braut ärgert sich doch, wenn Sie ihr was mitbringen.“ „Das ist mir sehr egal“, antwortete er. „Wenn ich nicht schenken darf, macht mir selbst das Schach keine Freud’.“ Eines Abends kam er etwas später und begrüßte mich folgendermaßen: „Heute gebe ich Ihnen die Dame vor.“ „In wieviel Zügen wollen Sie Matt sein?“ fragte ich. „Sie sind es in zwanzig“, prophezeite er und hielt sein Wort. Er spielte fast genial, unerhört sicher, präzis und überlegt, und als er mich das dritte Mal schlug, fragte ich ihn: „Woher haben Sie so zerkratzte Hände?“ „Die hab’ ich von meiner Braut“, sagte er. „Ist ja gar nicht wahr“, sagte die Braut. „Er hat mir ja erst gestern die Nägel geschnitten, nämlich das tut er am liebsten.“ „Dann hab’ ichs von der Katz’“, sagte er und bestellte sich ein Wiener Schnitzel. Es war das erste Mal seit drei Jahren, daß er sich ein Pfannengericht vergönnte, so versicherte mir seine Braut. Vier Wochen später wurde er verhaftet, und es wurde bekannt, daß alles, was er seiner Braut schenkte, um geraubtes Geld erstanden war. Er gestand, daß er bereits seit drei Jahren vierundzwanzigmal alte Frauen und Kassenboten auf dem Postscheckamt beobachtet und hernach in einer günstig gelegenen Straße überfallen und beraubt hat. Ferner, daß er an jenem Abend, da er mir die Dame vorgab und sich das Pfannengericht vergönnte, die Witwe eines Oberstleutnants, die er auf der Bank beobachtete, wie sie ihre Pension abhob, ermordete und beraubte. Er schlich ihr in das Treppenhaus nach und warf sie die Treppe hinab, bis sie sich das Genick brach. Diese Greisin war jene Katze, die ihm die Hände zerkratzte. Seinen Namen will ich verschweigen, denn als er gestanden hatte, setzte sein Vater, ein allseits geachteter Gerbermeister, folgende Notiz in die Zeitung:
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Begegnung mit Kriminellen
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„Ich teile hiermit mit, daß dieser Raubmörder nicht mein leiblicher Sohn ist, sondern das uneheliche Kind meiner Frau, das sie in die Ehe mitgebracht, und das ich nur adoptiert hatte.“ 5
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Im Sommer 1928 arbeitete ich in der Nähe von Partenkirchen. Dort lag ein Gasthof an einem fast idyllischen See und lebte vom Fremdenverkehr. Im Juni erschienen drei Herren und mieteten sich drei Zimmer. Sie waren achtzehn, zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt, hatten neue Lederhosen an und waren überhaupt ganz frisch auf oberbayerisch hergerichtet. „Sie sprechen wirklich nicht berlinerisch“, belehrte mich der Gasthofbesitzer. „Sie sprechen niederrheinisch und sind Industriellensöhne.“ Die Industriellensöhne waren seine besten Gäste. Noch niemals sah ich derartige Mengen Alkohol vertilgen und vertragen, und noch niemals sah ich Menschen mit solcher zähen Verbissenheit raufen. Es grenzte an Verzweiflung. Sie rauften jeden zweiten Tag und wurden also die prominentesten Erscheinungen der ganzen Gegend. Besonders seit jener Zeit, da die beiden Bräute der beiden älteren Industriellensöhne aus Saarbrücken kamen. Die eine war blond und erzählte mal einen ganzen Abend über Märchen von Grimm und Andersen. Die andere lächelte jeden Mann an und wartete, bis einer zurücklächelte. Dann beschwerte sie sich bei ihrem Bräutigam, und dann gab es jedesmal eine gigantische Keilerei. So stach mal dieser Bräutigam einen meiner guten Bekannten nieder. Es war ein lebensgefährlicher Rückenstich in die linke Lunge, worauf er mit einem eisernen Gartenstuhl niedergeschlagen wurde. Ich dachte, er sei tot, er stand aber nach fünf Minuten wieder auf und raufte mit seinen beiden Kameraden gegen ungefähr zwanzig Personen, bis die Gendarmen kamen. „Es war ja nur Notwehr!“ fuhr er den Kommissar an. „Quatsch!“ sagte ich. „Das war doch ein Rückenstich!“ „Ist ja auch nur Notwehr!“ brüllte er mich an. „Das verstehst du nicht!“ Und nun geschah etwas Sonderbares: Der Älteste, der an der Rauferei mit Abstand am geringsten beteiligt war, kam plötzlich auf mich zu, verbeugte sich etwas vor mir und sagte: „Meine Mutter, Mensch! Meine Mutter!“ „Dir passiert doch nichts“, sagte ich. „Meine Mutter“, wiederholte er leise und sah mich so entsetzt an, daß ich erschrak. Damals begriff ich es nicht, warum jener so entsetzt war, da die Gendarmen kamen. Erst im Herbst verstand ich es, als ich seine Photographie in den Zeitungen sah. Er war der ältere der Brüder Heidger, die seinerzeit in Köln nach tagelangem Kampfe von der Polizei mit Handgranaten getötet wurden. Der jüngste der Industriellensöhne war sein Bruder und der Messerstecher ihr Complice Lindemann, der sich in Köln sofort ergab. Damals, da sie von den Gendarmen verhört wurden, waren bereits wegen zweier Raubmorde über zwanzigtausend Mark auf ihre Ergreifung ausgesetzt. Aber die Gendarmen ließen sie damals wieder laufen, obwohl sie vierzigtausend Mark bei sich hatten und keine Ausweise. Um sich welche zu beschaffen, erbrachen die Heidgers und Lindemann drei Wochen später die Paßabteilung der Münchener Polizeidirektion und stellten sich selbst die Pässe aus.
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DAS BITTERWASSER-PLAKAT. Von Ödön Horváth. 5
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Tief in den Tiroler Bergen, dort, wo sich alles „Gute Nacht!“ sagt, liegt unter anderem auch ein Dorf namens Vorderaltenau. Von seinen achtundneunzig Einwohnern sind innerhalb der letzten zwanzig Jahre lediglich sieben bis in die nächste Stadt gekommen, und zweiundneunzig hatten noch nie eine Straßenbahn gesehen. Im März 1927 erschien nun in Vorderaltenau plötzlich ein aufgeweckter junger Mann auf einem Motorrad, dem einzigen Kraftfahrzeugtyp, mit dem Vorderaltenau erreicht werden kann. Dieser aufgeweckte Herr klebte an jedes Haus, jede zweite Scheune, jeden dritten Bretterzaun je ein Plakat und gab dafür dem jeweiligen Besitzer je vier Zigaretten. Die Besitzer waren wie vor den Kopf geschlagen ob des unerwarteten Verdienstes und verlangten mehr Plakate. Ganz Vorderaltenau wurde ein Plakat. Auf diesem sah man einen nervösen geplagten abgerackerten Großstadtmenschen, der sich außerordentlich schlecht zu fühlen schien. Hinter ihm stand der Tod mit Sense und Stundenuhr und man konnte lesen, was der sprach: „In den besten Jahren hol’ ich Dich, Nur Bitterwasser rettet Dich!“ „Das Anheften der vielen Plakate in unserem weltabgeschiedenen idyllischen Dorfe dürfte wohl kaum von einem großen Erfolg gekrönt werden“, sagte der Pfarrer zu dem aufgeweckten Motorradfahrer. Von den achtundneunzig Einwohnern des idyllischen Dorfes litten nämlich nur vier an Verdauungsstörungen: dem Bürgermeister sein Vater, der Lehrer, der Pfarrer und dessen Köchin. „Die Wirkungen einer großzügigen Reklame grenzen häufig, mit Verlaub zu sagen, an Wunder“, erwiderte der großzügige Plakateur dem kleingläubigen Priester, verabschiedete sich und ging. Er ließ rund zweihundert Plakate in Vorderaltenau. Zweihundertmal hing da der an entsetzlichen Qualen einer ungeregelten Verdauung langsam dahinsiechende Herr. Arbeiteten die Vorderaltenauer auf dem Felde, im Stall oder in der Werkstatt, saßen sie im Wirtshaus oder gingen sie in die Kirche, überall stand der drohende Tod und krümmte sich sein verzweifeltes Opfer. Ja, sie mußten gar nicht vor das Haus treten, sie mußten nur durch irgendein Fenster schauen, so sahen sie ihr unabänderliches Schicksal, falls es bei ihnen mal aussetzen sollte. Zuerst hatten sie über die vier Zigaretten geschmunzelt, doch dann fingen sie an, einer nach dem anderen, von der Sense in den besten Jahren zu träumen, und dann wurde es ihnen plötzlich bange. Manche von ihnen standen ja gerade in den besten Jahren, andere standen dicht davor, und wieder andere waren sogar schon darüber hinaus. Und so dauerte es nicht lange, da litten statt vier acht Vorderaltenauer an Verdauungsstörungen, und dann elf, und im März 1928 litt bereits das halbe Dorf. Und noch heute leiden ungefähr vierzig Vorderaltenauer, falls sie sich kein Bitterwasser beschafft haben, oder, wenn sie nicht gestorben sind. Das klingt wie im Märchen, und es ist doch lediglich ein Tatsachenbericht, den ich mir hiermit erlaube, dem lächelnden Apotheker von Nancy zu widmen, dem seligen Coué.
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Ein sonderbares Schützenfest von Ödön Horvath.
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Anfang August fuhr ich durch das bayerische Oberland, und in der Nähe von Partenkirchen, dort wo die Berge beginnen, durchfuhren wir auch einen sogenannten schmucken Markt. Die Sonne schien und Sonntag wars. Aber auch abgesehen vom Tage des Herrn herrschte eine überaus feiertägliche Stimmung. Fahnen, Musik, jubelnde Bevölkerung, sowohl Eingeborene als auch Fremde, biedere Landmänner und erholungsbedürftige Bürgersleut. Und warum jubilierten all die Braven? Darum: Durch die Hauptstraße zogen Schützen, viele Schützen, lauter Schützen. Ein Schützenzug. Im gleichen Schritt und Tritt. Fürbaß. Mit wallenden Bärten und Gamsbärten, Gewehren und Bowiemessern, Standarten und heroischen Wunschträumen. Meist waren es bereits in Lederhosen Geborene, aber es waren auch welche dabei aus Ingolstadt, Köln, Jena und Berlin. Ja sogar aus Sachsen marschierten welche mit, wortkarg und unnahbar. Trotzdem hätte ich den ganzen großen Schützenzug ziemlich bald vergessen, hätte ich nicht zufällig ein Plakat erblickt. Auf diesem Plakate stand: „Graf Arco Erinnerungsschießen.“ Ich dachte zuerst an jenen Herrn, der Kurt Eisner ermordet hatte, aber jener konnte es nicht sein, denn da stand ja ausdrücklich: „Historisches 120. Arco Schießen am 28. Juli, 3. und 4. August 1929.“ Also etwas ganz historisches, dachte ich mir und las weiter: „In dankbarer Erinnerung an die Befreiung des vor 120 Jahren am 18. Juli 1809 von den Tirolern belagert und schwer bedrängten Marktes M. durch den kgl. Bayer. Obersten Grafen Maximilian von Arco, der den Markt vor schwerer Brandschatzung bewahrte, begeht die unterfertigte Schützengesellschaft alljährlich ein „Arco-Schießen“. Jeder Gast wird sicherlich eine stete Erinnerung an unseren anmutigen Sommerort, den schönen See und das herrliche Gebirge behalten. Möge es uns daher vergönnt sein, eine recht große Zahl froher Schützenbrüder beim 120. Arcoschießen willkommen zu heißen. Kgl. priv. Feuerschützengesellschaft.“ Was bedeutet das? Ich forschte weiter: ein um die sogenannte Heimatbewegung überaus verdienter Priester schreibt in der Zeitschrift „Bayerland“ folgende Sätze: „ – Noch schlimmer (als die Schweden. Anmerkung meiner Wenigkeit) spielte der spanische Erbfolgekrieg den M.-ern mit, als die erbitterten Tiroler bis M. und H. vordrangen und die wehrlosen Orte plünderten und einäscherten. Als im Jahre 1809 dreitausend Tiroler den Markt aufs neue brandschatzen wollten, wurden sie allerdings mit blutigen Köpfen heimgeschickt; Oberst Arco, der zum Entsatz aus Benediktbeuern herbeigeeilt war, wird noch heute durch das sogenannte Arco-Schießen als Befreier des Marktes (mit Hilfe der verbündeten Franzosen. Anmerkung meiner Wenigkeit) gefeiert.“ Was bedeutet das? Das bedeutet, daß sich noch heute Deutsche dazu hergeben, einen Tag, an dem Deutsche auf Deutsche geschossen haben, durch ein Schützenfest zu feiern. Daß es im dritten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts noch Deutsche gibt, die sich nicht schämen, einen Trauertag des deutschen Volkes als Freudentag zu begehen. Daß es Deutsche gibt, die mit markigen Ansprachen die Bedeutung des Tages würdigen (mit nachfolgendem Tanz) – die jenen Tag rühmen, da Deutsche Deutsche „mit blutigen
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Köpfen heimschickten“, weil sie „brandschatzen und plündern“ wollten – die sich frischfrommfröhlich an jenen Tag zurückerinnern, voll Pietät und „Jubilarscheibe“, statt die Borniertheit und das Unglück ihrer Urväter zu verfluchen und ihr Volk zu beweinen ob seiner tragischen Geschicke im Kampfe um seine Einigung. Es gibt also noch Deutsche, denen die Errettung ihrer Marktgemeinde vor 120 Jahren wichtiger zu sein scheint, als Großdeutschland. Anders läßt sich das nicht formulieren. Denn sonst müßte ja diese „Kgl. priv. Feuerschützengesellschaft“ jenen Tag von ihrem Festprogramm streichen und statt des „Historischen Arco Schießens“ einen Trauergottesdienst abhalten. Denn religiös sind sie wahrscheinlich. Doch die Gerechtigkeit gebiete es zu sagen, daß dieser Kgl. priv. Gesellschaft mildernde Umstände zugebilligt werden müssen: Nämlich sie überlegt es sich ja gar nicht und wird sich also gar nicht darüber klar, was sie da eigentlich feiert. Und das ist das Traurigste. Ich sprach mit vielen Bürgern des Marktes M. Jeder, aber auch jeder, Lehrer, Bauer, Arzt, Briefträger, Wirt, Arbeiter, Student bestätigte mir, es sei ein grober Unfug. Trotzdem war alles beflaggt, alles jubilierte, die Beteiligung am Schießen war „überaus zahlreich“, die Preisverteilung im „prächtig festlichen Rahmen bei begeisterter Stimmung“, der Tanzsaal überfüllt. Es i s t ein grober Unfug. Dieses sonderbare Schützenfest ist wahrlich kein Zeichen partikularistischer Tendenzen, es ist lediglich ein Produkt sträflich leichtsinniger Gedankenlosigkeit, politischer Wurschtigkeit und Unwissenheit – das typisch politische Merkmal breiter Schichten des Mittelstandes. „Das deutsche Volk einig in seinen Stämmen –“ – Mir, als sogenanntem Auslandsdeutschen, als von den garantiert echten Vaterländischen unter der Rubrik „Internationalist“ Geführtem, mir wurd es übel, Zeuge dieser entarteten Heimatliebe zu sein. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß es im Deutschen Reiche hoffentlich nur ein einziges „Arco-Schießen“ gibt. Vielleicht! Man könnte es sich ja gar nicht ausdenken, wieviel Feste gefeiert werden müßten, wenn jeder Sieg, den Deutsche über Deutsche im höchstpersönlichen Interesse vaterlandsloser Dynastien errungen haben, gefeiert werden würde! Jeder Tag wäre ein Doppelfeiertag. Wie heißt es doch in dem Einladungsschreiben zur Kgl. priv. Arcoschießerei? „Möge es uns daher vergönnt sein, eine recht große Zahl froher Schützenbrüder beim 120. Arco-Schießen willkommen zu heißen –“ Nein! Sagen wir so: Möge es uns daher vergönnt sein, daß wir es möglichst bald erleben, daß kein Deutscher mehr nationale Verbrechen seiner Ahnen als „Tradition“ pflegt, nur um eine „Jubilarscheibe“ gewinnen und Bier saufen zu können!
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Pepis Album. Von Ödön Horváth.
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Ich hab es jahrelang nicht in der Hand gehabt, Onkel Pepis Photographiealbum. Aber neulich nahm ich es mal wieder in die Hand, draußen regnete es sehr stark, ich hatte gerade nichts zu tun und war trotzdem so müde, daß ich mir wieder ganz klein vorgekommen bin. Onkel Pepis Album ist purpurrot gebunden mit einer silbernen Spange à la Jugend. Genau mittendrin, zwischen dem Kinderbildnis der verarmten Tante Mariann und der letzten Aufnahme Großpapas, befinden sich zwei Seiten, die der Onkel Pepi sich selbst gewidmet hatte. Sie sind seines Albums Herz, in jedem Sinne des Wortes. Links sieht man den Onkel Pepi als feschen altösterreichischen Leutnant um die Jahrhundertwende, wohnhaft im achten Bezirk, Piaristengasse, Mezzanin. Herrlich ist seine Wespentaille, korrekt seine Haltung, überhaupt: „wie aus an Schachterl“ – aufregend für die Damenwelt, von der grande Zozott Natalie bis zum süßen Mädl aus Purkersdorf. Kein Wunder also, daß dies Bild von vier Photographien pikanter Damen umgeben ist („Ich bin eine anständige Frau, Herr Leutnant!“) – und auf der Seite nebenan kleben auch vier um eine fünfte, größere, auserwähltere, eine Blondine mit traurigen Augen – und wenn man das Album zuklappt, so liegt diese Auserwählte und der fesche Leutnant aufeinander. Das hat er sich direkt so ausgerechnet, der Onkel Pepi. Und neben jeder dieser neun „Kisstihandknädigste“ ist je ein Bildchen eingeklebt, eine Stadtansicht: die jeweilige Garnison. Przemysl, Budapest, Lemberg, Agram, Wien und Újvidék – und jede Frau vertritt eine Nation der ehemaligen Doppelmonarchie, als da sind: Polen, Ungarn, Rumänien, Böhmen, Kroaten, Italiener oder Wiener – der Onkel Pepi ist nämlich noch niemals nationalistisch gewesen, sondern immer äußerst objektiv. Er schätzte an jeder ihre besondere nationale Note. Und wie sieht Onkel Pepis Damenflor aus? Heiliges fin de siècle von ÖsterreichUngarn! Dieser Damenflor sieht so aus, jede einzelne: Mein Mann ist der Graf von Monbijou, Sie können mir alle nichts beweisen; Nur in der Phantasie war ich mit ihm auf „Du“ – Der Onkel Pepi sieht mich an, stolz, elegant und liebenswürdig. Auch lächeln tut er, der Onkel Pepi. Ein ganz klein wenig. Er lächelt über seinen eigenen Stolz und ist stolz auf sein Lächeln über seinen Stolz. Er ist ein echter Altösterreicher und konstatiert mit wehmütiger Ironie, daß er in der feschen Uniform eines verfaulten Reiches steckt. Als ich mich das letztemal vom Onkel Pepi verabschiedete, sagte er: „Also, wenn du mal recht blöd bist, so denk an mich!“
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Das Fräulein wird bekehrt
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Ödön Horváth Das Fräulein wird bekehrt
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Als sich das Fräulein und der Herr Reithofer kennenlernten, fielen sie sich zuerst gar nicht besonders auf. Jeder dachte nämlich gerade an etwas Wichtigeres. So dachte der Herr Reithofer, daß sich der nächste Weltkrieg wahrscheinlich in Thüringen abspielen wird, weil er gerade in der Zeitung gelesen hatte, daß die rechten Kuomintang wieder mal einhundertdreiundvierzig Kommunisten erschlagen haben. Und das Fräulein dachte, es sei doch schon sehr schade, daß sie monatlich nur hundertzehn Mark verdient, denn sie hätte ja jetzt bald Urlaub, und wenn sie zwohundertzehn Mark verdienen würde, könnte sie in die Berge fahren. Bis dorthin, wo sie am höchsten sind. Gesetzlich gebührten nämlich dem Fräulein jährlich sechs bezahlte Arbeitstage – jawohl, das Fräulein hatte ein richtiggehendes Recht auf Urlaub und es ist doch noch gar nicht so lange her, da hatte solch Fräulein überhaupt nichts zu fordern, sondern artig zu kuschen und gegebenenfalls zu kündigen, sich zu verkaufen oder dgl., was zwar auch heute noch vorkommen soll. Aber heute beschützen uns ja immerhin einige Paragraphen, während noch vor zwanzig Jahren die Gnade höchst unkonstitutionell herrschte, und infolgedessen konnte man es sich gar nicht vorstellen, daß auch Lohnempfänger Urlaub haben dürfen. Es oblag allein in des Brotherrn Ermessen, ob solch Fräulein zu Weihnachten oder an einem anderen christlichen Doppelfeiertage auch noch den zweiten Tag feiern durfte. Aber damals war ja unser Fräulein noch kaum geboren – eigentlich beginnt ihr Leben mit der sozialen Gesetzgebung der Weimarer Republik. Wie schön war doch die patriarchalische Zeit! Wie ungefährdet konnte Großmama ihre Mägde kränken, quälen und davonjagen, wie war es doch selbstverständlich, daß Großpapa seine Lehrlinge um den Lohn prellte und durch Prügel zu fleißigen Charakteren erzog. Noch lebten Treu und Glauben zwischen Maas und Memel, und Großpapa war ein freisinniger Mensch. Großzügig gab er seinen Angestellten Arbeit, von morgens vier bis Mitternacht. Kein Wunder, daß das Vaterland immer mächtiger wurde! Und erst als sich der weitblickende Großpapa auf maschinellen Betrieb umstellte, da erst ging es empor zu höchsten Zielen, denn er ließ ja die Maschinen nur durch Kinder bedienen, die waren nämlich billiger als ihre Väter, maßen das Volk gesund und ungebrochen war. Also kam es nicht darauf an, daß mannigfache Kinder an der Schwindsucht krepierten, kein Nationalvermögen wächst ohne Opfersinn. Und während Bismarck, der eiserne Kanzler, erbittert das Gesetz zum Schutze der Kinderarbeit bekämpfte, wuchs Großpapas einfache Werkstatt zur Fabrik. Schlot stand an Schlot, als ihn der Schlag traf. Er hatte sich überarbeitet. Künstler, Gelehrte, Richter und hohe Beamte, ja sogar ein Oberstleutnant a.D. gaben ihm das letzte Geleite. Trotzdem blieb aber Großmama immer die bescheidene tiefreligiöse Frau. Nämlich als Großmama geboren wurde, war es natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Spätherbst. Alles stand blau am Horizont, und der Mond hing über schwarzen Teichen und dem Wald. Natürlich hatte Großmama auch ein Gebetbuch mit einer gepreßten Rose mittendrin. Wenn sie in ihrem gemütlichen Sorgenstuhl saß, betrachtete sie die Rose und dann trat ihr je eine Träne in das rechte und das linke Auge, denn die Rose hatte ihr einst der nunmehr längst verstorbene Großpapa gepflückt, und dieser tote Mann tat
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ihr nun leid, denn als er noch lebendig gewesen ist, hatte sie ihn oft heimlich gehaßt, weil sie sich nie von einem anderen Großpapa hatte berühren lassen. Und Großmama erzählte Märchen, und knapp vor dem Weltkrieg zog sie sich in ein besseres Jenseits zurück. Auch unseres Fräuleins Großmama hatte solche Rose in ihrem Gebetbuch, aber ihre Kinder gingen in der Inflation zugrunde, und sieben Jahre später treffen wir das Fräulein im Kontor einer Alteisenwarenhandlung in der Schellingstraße mit einem monatlichen Verdienst von hundertundzehn Mark. Aber das Fräulein zählte sich nicht zum Proletariat, weil ihre Eltern mal zugrunde gegangen sind. Sie war überzeugt, daß die Masse nach Schweiß riecht, sie leugnete jede Solidarität und beteiligte sich an keiner Betriebsratswahl. Sie tat sehr stolz, weil sie sich nach einem Sechszylinder sehnte. Sie war wirklich nicht glücklich und das hat mal ein Herr, der sie in der Schellingstraße angesprochen hatte, folgendermaßen formuliert: „In der Stadt wird man so zur Null“, meinte der Herr und fuhr fort: „Ich bin lieber draußen auf dem Lande auf meinem Gute. Mein Vetter ist Diplomlandwirt. Wenn zum Beispiel, mit Verlaub zu sagen, die Vögel zwitschern – –“ und er fügte rasch hinzu: „Wolln ma mal ne Tasse Kaffee?“ Das Fräulein wollte, und er führte sie auf einen Dachgarten. Es war dort sehr vornehm, und plötzlich schämte sich der Herr, weil der Kellner über das Täschchen des Fräuleins lächelte, und dann wurde der Herr unhöflich, zahlte und ließ das Fräulein allein auf dem Dachgarten sitzen. Da dachte das Fräulein, sie sei halt auch nur eine Proletarierin, aber dann fiel es ihr wieder ein, daß ihre Eltern zugrunde gegangen sind, und sie klammerte sich daran. Das war am vierten Juli, und zwei Tage später begegnete das Fräulein zufällig dem Herrn Reithofer in der Schellingstraße. „Guten Abend“, sagte der Herr Reithofer. „Haben Sie schon gehört, daß England in Indien gegen Rußland ist? Und, daß der Reichskanzler operiert werden muß.“ „Ich kümmere mich nicht um Politik“, sagte das Fräulein. „Das ist aber Staatsbürgerpflicht“, sagte der Herr Reithofer. „Ich kann’s doch nich ändern“, meinte das Fräulein. „Oho!“ meinte der Herr Reithofer. „Es kommt auf jeden einzelnen an, zum Beispiel bei den Wahlen. Mit Ihrer Ansicht, Fräulein, werden Sie nie in die Berge fahren, obwohl diese ganzen Wahlen eigentlich nur kapitalistische Machenschaften sind.“ Der Herr Reithofer war durchaus Marxist, gehörte aber keiner Partei an, teils wegen Noske, teils aus Pazifismus. „Vielleicht ist das letztere nur Gefühlsduselei“, dachte er und wurde traurig. Er sehnte sich nach Moskau und war mit einem sozialdemokratischen Parteifunktionär befreundet. Er spielte in der Arbeiterwohlfahrtslotterie und hoffte mal sehr viel zu gewinnen, und das war das einzig Bürgerliche an ihm. „Geben Sie acht, Fräulein“, fuhr er fort, „wenn ich nicht vor drei Jahren zweihundert Mark gewonnen hätt, hätt ich noch nie einen Berg gesehen. Vom Urlaub allein hat man noch nichts, da gehört noch was dazu, ein anderes Gesetz, ein ganz anderes Gesetzbuch. Es ist schön in den Bergen und still.“ Und dann sagte er dem Fräulein, daß er für die Befreiung der Arbeit kämpft. Und dann klärte er sie auf, und das Fräulein dachte: Er hat ein angenehmes Organ. Sie hörte ihm gerne zu, und er bemerkte es, daß sie ihm zuhört. „Langweilt Sie das?“ fragte er. „Oh nein!“ sagte sie.
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Da fiel es ihm auf, daß sie so rund war rundherum, und er mußte direkt achtgeben, daß er nicht an sie ankommt. „Herr Reithofer“, sagte plötzlich das Fräulein, „Sie wissen aber schon sehr viel und Sie können es einem so gut sagen“ – aber der Herr Reithofer ließ sich nicht stören, weil er gerade über den Apostel Paulus sprach, und darüber ist es sehr schwer zu sprechen. „Man muß sich schon sehr konzentrieren“, dachte der Herr Reithofer und ging über zur französischen Revolution. Er erzählte ihr, wie Marat ermordet wurde, und das Fräulein überraschte sich dabei, wie sehr sie sich anstrengen mußte, wenn sie an einen Sechszylinder denken wollte. Es war ihr plötzlich, als wären nicht ihre Eltern, sondern bereits ihre Urureltern zugrunde gegangen. Sie sah so plötzlich alles anders, daß sie einen Augenblick stehen bleiben mußte. Der Herr Reithofer ging aber weiter, und sie betrachtete ihn von hinten. Es war ihr, als habe der Herr Reithofer in einem dunklen Zimmer das Licht angeknipst und nun könne sie den Reichswehrminister, den Prinz von Wales und den Poincaré, den Mussolini und zahlreiche Aufsichtsräte sehen. Auf dem Bette saß ihr Chef, auf dem Tische stand ein Schupo, vor dem Spiegel ein General und am Fenster ein Staatsanwalt – als hätten sie immer schon in ihrem Zimmer gewohnt. Aber dann öffnete sich die Türe und herein trat ein mittelgroßer stämmiger Herr, der dem Herrn Reithofer sehr ähnlich sah. Er ging feierlich auf den Herrn Reithofer zu, drückte ihm die Hand und sprach: „Genosse Reithofer, du hast ein bürgerliches Fräulein bekehrt. Das ist sehr schön von dir.“ Und das Fräulein dachte: „Ich glaub gar, dieser Herr Reithofer ist ein anständiger Mensch.“ „Die Luft ist warm heut abend“, sagte der anständige Mensch. „Wollen Sie schon nach Haus oder gehen wir noch etwas weiter?“ „Ja“, meinte sie. „Dort drüben ist nämlich die Luft noch besser, das ist immer so in den Anlagen“, sagte er, und dann fügte er noch hinzu, der Imperialismus sei die jüngste Etappe des Kapitalismus, und dann sprach er kein Wort. Warum er denn kein Wort mehr sage, fragte das Fräulein. Weil es so schwer sei, die Menschen auf den rechten Weg zu bringen, sagte der Herr Reithofer. Hierauf konnte man beide nicht mehr sehen, denn es war sehr dunkel in den Anlagen. Wollen wir ihnen folgen? Nein. Es ist doch häßlich, zwei Menschen zu belauschen, von denen man doch schon weiß, was sie voneinander wollen. Kaufen wir uns lieber eine Zeitung, die Sportnachrichten sind immer interessant. Ich liebe den Fußball – und Sie? Wie? Sie wollen, daß ich weitererzähle? Sie finden, daß das kein Schluß ist? Sie wollen wissen, ob sich das Fräulein wirklich bekehrt hat? Sie behaupten, es sei unfaßbar, daß solch ein individualistisches Fräulein so rasch eine andere Weltanschauung bekommt? Sie sagen, das Fräulein wäre katholisch? Hm. Also wenn Sie es unbedingt hören wollen, was sich das Fräulein dachte, nachdem sich der Herr Reithofer von ihr verabschiedet hatte, so muß ich es Ihnen wohl sagen. Entschuldigen Sie, daß ich weitererzähle. Es war ungefähr dreiundzwanzig Uhr, als das Fräulein ihr Zimmer betrat. Sie setzte sich und zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund. Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: Ein großer weißer Engel schwebte in einem Zimmer und verkündete der knienden Madonna: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ Und das Fräulein dachte, der Herr Reithofer hätte wirklich
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schön acht gegeben und sei überhaupt ein anständiger Mensch, aber leider kein solch weißer Engel, daß man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonderes geleistet, daß sie so fürstlich belohnt wurde? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen, und das hätten ja alle mal gehabt. Auch sie selbst hätte das mal gehabt. Die Mutter Gottes hätte eben Protektion gehabt genau wie die Henny Porten, Lya de Putty, Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. „Wenn man keine Protektion hat, indem daß man keinen Regisseur kennt, so wird man halt nicht auserwählt“, konstatierte das Fräulein. „Auserwählt“, wiederholte sie, und es tat ihr alles weh. „Bei Gott ist kein Regisseur unmöglich“, lächelte der große weiße Engel, und das Fräulein meinte: „Sei doch nicht so ungerecht!“ Und bevor sie einschlief, fiel es ihr noch ein, eigentlich sei alles ungerecht, jeder Mensch, jedes Ding. Sicher sei auch der Stuhl ungerecht, der Schrank, der Tisch, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe. Vielleicht sei auch der Herr Reithofer trotzdem ungerecht, obwohl er wahrscheinlich gar nichts dafür kann.
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In der Nacht vom Sonntag zum Montag verschied Herr Alfred Kastner aus der Schellingstraße nach kurzem schweren Leiden. Ich genüge lediglich einer primitiven menschlichen Pflicht, wenn ich mit diesen Zeilen Alfred Kastners gedenke, weil ich ihm viel zu verdanken habe. Er war mir Freund und Führer. Er war eine elegante Erscheinung und ein moralisch scheinbar verkommenes Subjekt. Bereits achtzehnjährig führte er einen erbitterten Kampf gegen den Paragraphen 181a (Zuhälter). Man sah es ihm gar nicht an, wenn man nicht psychologisch und physiologisch geschult war. So hielt ihn mal eine Syndikusgattin für einen Assessor, und da diese Syndikusgattin sehr leidenschaftlich war, spielte er den Assessor, und wenn er nicht gedroht hätte, daß er ihre Leidenschaft dem Herrn Syndikus mitteilt, hätte sie ihn sogar angezeigt, als sie entdeckte, daß er ihr anläßlich einer Soiree einen Brillanten aus dem Ohrring gebissen hatte. Als ich Alfred kennenlernte, ging es mir gerade sehr schlecht. Ich hatte mir nämlich eingebildet, daß ich schriftstellerisch was leisten könnte, aber ich hatte keine Beziehungen zu den schönen Künsten. Das war eine arge Zeit, und ich erinnere mich wirklich nicht gerne daran. Damals sagte mir Alfred: „Ich glaub, die Kunst hört allmählich auf. Man muß sich ja nur mal vorstellen, was die Menschheit heut für Interessen hat, heut lebt doch jeder nach seinem Instinkt. Wenn ich du wär, würd ich in eine Druckerei einheiraten und lauter Gebetbücher drucken noch und noch, und die würd ich jenem christlichen chinesischen General offerieren, der übrigens ein ungarischer Jud sein soll.“ Und zwei Wochen später meinte er: „Du mußt natürlich etwas tun. Weißt du, was ich nicht versteh? Daß du dich nicht aushalten läßt! Ich hätt für dich eine adlige Pensionsinhaberin.“ Ich erwiderte aber Alfred auf das bestimmteste, daß ich mich unter keinen Umständen aushalten lasse, denn das würde mir meine Ehre verbieten. „Wenn schon!“ sagte er und fügte hinzu: „Nebbich!“ Und dann fuhr er fort, ob ich mir etwa einbilde, eine besondere Ehre zu besitzen? „Nein“, sagte ich, „ich habe eine normale Ehre.“ „Na also!“ meinte er. Aber ich blieb fest und ließ mich nicht aushalten, weil man so was nicht machen soll. Man könnt sich ja selbst nimmermehr ins Antlitz schauen oder gar vor sich selbst hintreten! In dieser Zeit nahm eine freisinnige Zeitung eine Marienlegende von mir an, betitelt: „Maria geht durch den Hochwald“. Und der Feuilletonredakteur schrieb mir, ich soll noch zwei längere und drei kürzere Marienlegenden für „unter dem Strich“ schreiben, nämlich meine religiöse Inbrunst ist jenem direkt aufgefallen. Aber davon konnt ich nur sehr kärglich leben, und als ich mir eine Goldkrone machen lassen mußte, bat ich Alfred, er sollte mir fünf Mark leihen, denn wenn ich keine Zahnschmerzen mehr hätte, könnte ich leicht auch zwanzig Marienlegenden schreiben und außerdem hätte ich auch Aussicht, Reklameartikel für eine andere Firma verfassen zu können. Aber Alfred gab mir nichts. „Es hat keinen Zweck, dich zu unterstützen“, sagte er. „Für mich bist du ein Idealist, du Idiot!“ Er konnt es mir niemals verziehen, daß ich mich nicht aushalten ließ. Er ruhe in Frieden! Ödön Horváth. 546
Hinterhornbach
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Hinterhornbach. Von Ödön Horváth. 5
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Wir waren nun drei Wochen lang in Hinterhornbach, in einem der finstersten Winkel des heiligen Landes Tirol, 1200 Meter hoch über dem fernen Meer. Nun sind sie aber leider zu Ende, und so kehren wir halt mit einer gewissen Wehmut, erfrischt und beruhigt, in unsere Stadt zurück. Und diese Rückkehr ist ziemlich kompliziert. Zuerst mußten wir ein Stück laufen, jetzt sitzen wir in einem hohen Wägelchen, drunten in Stanzach kommt dann die Motorpost und erst in Reutte die Eisenbahn. Es ist Nacht, die Straße ist herrlich und halsbrecherisch – immer am oberen Rande einer Klamm entlang, tief unter uns tobt der Hornbach, aus dem schwarzen Walde wächst das silberne Grau der Felsen in den Mondhimmel, und das alles zusammen ist direkt wildromantisch. Und während wir so ins Lechtal hinunterfahren, fällt es mir immer wieder ein: Hinterhornbach, zwölf Häuser und dreiundachtzig Seelen. Und ich muß immer wieder an diese Seelen denken, und zwar hintereinander. Jede einzelne Seele tritt vor mich hin und fragt mich: „Erinnerst du dich noch an mich?“ „Natürlich, du bist doch der Pfarrer, der den anderen Seelen das Tanzen verbietet, und der erst vorgestern eine weibliche Seele von der Kanzel herab verdonnerte, weil sie mit bloßem Hals auf dem Felde gearbeitet hat“ – und nun winkt mir eine alte Seele zu, eine richtige Urgroßmutter, die in der Kirche auf der Hurenbank sitzen muß, weil sie vor fünfundsechzig Jahren ein außereheliches Kind neben ihren vierzehn ehelichen bekommen hatte – ihre Enkelkinder haben schon längst kirchlich geheiratet, aber die Ahnfrau muß auf der Schandbank beten. Der einzige, der nicht beten will, das ist der verzweifelte pensionierte Lehrer, der sich völlig versoffen hat, und dessen Frau Ibsen liest, um den Pfarrer zu ärgern – und jetzt fällt mir ein abgestürzter Tourist aus Geislingen ein, dessen Leichnam in einer Scheune verweste, weil die Hinterhornbacher für die Bestattungskosten nicht aufkommen wollten, und auch an den kleinen Gemeindestier Sebastian muß ich nun denken, dem man heimlich Nähnadeln ins Heu gestreut hatte, um den Bürgermeister zu ärgern. Man weiß es noch heute nicht, wer dies tat, ein jeder meint, der andere sei es gewesen – sie kennen sich nämlich genau, weil sie leidenschaftlich gern spionieren. So hat jedes Haus ein Fernrohr, durch das sie sich schadenfroh gegenseitig in die Häuser zu schauen trachten. Und weil die Hinterhornbacher so boshaft sind, drum haben sie auch ein boshaftes Gespenst, namens Buhz. Der Buhz schleicht sich an die Höfe heran, reißt den Leuten den Hut vom Kopf, zerbricht Brücken, ruiniert das Vieh, verdirbt das Heu, versperrt durch Steine und Stämme die Wege und glaubt auch nicht an den lieben Gott. „Den wievielten haben wir denn heut?“ fragte plötzlich jemand im Wagen. „Den 15. März 1930“, sagte ich.
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Am 7. August 1922 war ich sehr verliebt, und zwar in eine gewisse Frau Elisabeth Tomaschek aus dem VIII. Bezirk. Der Herr Tomaschek war damals gerade verreist, und so stand meinen Gefühlen fast nichts mehr im Wege. Ich geb’s heut gerne zu, daß das moralisch nicht schön von mir war, aber von einem natürlichen Standpunkt aus betrachtet, war’s doch auch wieder nicht unschön. Die Natur ist halt mal ungerecht, und obendrein war ich damals noch ziemlich hemmungslos, der Krieg war ja auch noch kaum vorbei. Am 12. November 1928 kam nun der Herr Tomaschek, den ich inzwischen schätzen gelernt hatte, unerwartet zu mir. Er war seltsam erregt und sagte: „Ich hab’ grad eine Karambolage hinter mir!“ Und dann setzte er mir auseinander, daß diese Karambolage mit einem scharfen Wortwechsel zwischen ihm und seiner Gemahlin begann, und zwar über das Thema, ob der Bubi humanistisch gebildet werden müßte oder ob er in die Oberrealschule gehen sollte. Die Frau war absolut für die Oberrealschule, weil diese ganz in der Nähe lag, aber er hatte eine Schwäche für das Unpraktische. Energisch verteidigte er den Wert des humanistischen Bildungsideals, und dabei entschlüpfte ihm leider Gottes ein ordinäres Schimpfwort. Die Frau schimpfte natürlich zurück, das ging so her und hin, bis die Frau (und für sie dürfte diese ganze Debatte wahrscheinlich nur ein Anlaß gewesen sein, um einem seit 1920 aufgestapelten Groll das Ventil zu öffnen) – „und jetzt kommt die Karambolage!“ schrie mich der Tomaschek an, „sagt das Luder nicht, daß sie am 7. August 1922 etwas mit dir gehabt hätte!“ „So“, sagte ich, „also das find ich unerhört!“ „Ich möcht halt jetzt nur klar sehen“, fuhr der Tomaschek fort, „ob das nämlich stimmt, denn wenn das nämlich stimmt, laß ich mich nämlich scheiden, das kann mir niemand zumuten, daß ich mit einer zusammenleb’, die sich mit dir eingelassen hat! Sag’s mir nur ruhig, das wird unsere Freundschaft nicht stören! Ich bin dir nicht bös, denn du kannst ja nichts dafür. Meiner Seel, das Weib ist halt mal so ein Grundübel, die personifizierte Sünd, das Laster in persona!“ Während er so sprach, überlegte ich krampfhaft, wie ich vorgehen sollte. Also eine Familie wollte ich nicht zerstören, denn das wäre gegen meine Prinzipien gewesen. Aber eigentlich wollt’ ich auch den braven Tomaschek nicht täuschen, ich hatte ein direkt miserables Gefühl bei dem Gedanken, daß ich sein verständnisvolles Vertrauen mißbrauchen sollte – schließlich siegte mein Altruismus: Zwei Menschen, die das Schicksal gesetzlich zusammengetrieben hat, sagte ich mir, dürften nicht voneinandergejagt werden, und solches erst recht nicht, weil dann der herzige Bubi auseinandergerissene Eltern hätt’ –, und so antwortete ich dem Tomaschek: „Also ich find das von deiner lieben Gemahlin schon ziemlich legere, daß sie mich da in ein Drama hineinziehen möcht, bloß um dich aufzuregen. Natürlich ist das alles erlogen!“ Mein Tonfall beruhigte ihn, und er gab mir seine klebrige Hand. „Ich muß jetzt noch ins Continental“, sagte er. „Also du glaubst mir?“ fragte ich. „Ich glaub’ alles“, sagte er, und es lag eine gewisse Resignation in seiner Stimme. Kaum war er weg, rannte ich zu seiner Frau. „Elisabeth!“ fuhr ich sie an. „Der Viktor war grad bei mir und hat sich erkundigt –“ – „Ich weiß schon!“ unterbrach sie mich. „Einen Schmarrn weißt du!“ brüllte ich, und das war alles programmgemäß. „Ich hab’ ihm natürlich gebeichtet, daß ich was mit dir gehabt hab’, weil er mich an
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meiner Ehre gepackt hat! Und jetzt will er sich partout scheiden lassen!“ – „Also endlich!“ sagte sie und setzte sich. Das hatte ich nicht erwartet, denn ich wollte ja gerade das Gegenteil. Ich dachte sie durch mein erfundenes Geständnis einzuschüchtern, aber jetzt mußte ich mitansehen, daß sie direkt erleichtert tat. Momentan wußte ich gar nicht, was ich sagen sollte. „Du kannst es ja gar nicht wissen“, unterbrach sie plötzlich die Stille und sah mich lang an. „Was denn?“ erkundigte ich mich kleinlaut. „Wie gut daß er und ich zusammenpassen“, sagte sie und betrachtete spöttisch meine modernen Schuhe. „Ich hätt’ mich ja mit dir nie eingelassen“, fuhr sie fort, „wenn ich nicht gewußt hätt’, daß er sich bereits mit allerhand Menschern abgibt.“ Nun stand sie am Fenster, und das sah aus, als wollte sie überall hinaus. Auch aus sich hinaus. „Und der Bubi?“ fragte ich plötzlich scheinbar nebenbei, denn nun kam mein letzter Trumpf. „Wenn sich der Viktor jetzt scheiden läßt, bist natürlich du der schuldige Teil, und den Bubi kriegt natürlich der Viktor.“ Das riß sie aber sehr zusammen! „Was sind das für unnatürliche Gesetze!“ schrie sie und war fürchterlich verzweifelt. Eine Mutter muß man eben bei ihrem Bubi packen, wenn man was bei ihr erreichen will. In diesem Augenblick trat abermals unerwartet der Tomaschek ein. „Was machst denn du da?“ fragte er mich mißtrauisch, aber sie ließ mich nicht antworten, sondern stürzte sich weinend auf ihn, umklammerte ihn und jammerte grauenhaft. Immer wieder bat sie ihn unartikuliert um Verzeihung und küßte ihm sogar die Hand. Er sah mich fragend an. „Ich hab ihr nur grad vorgehalten“, sagte ich, „wie sie nur so was behaupten kann, daß ich was mit ihr gehabt hätt’, wo das doch gar nicht wahr ist.“ Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch kaum gehabt. Sie taumelte direkt vom Tomaschek zurück und zitterte wie ein verprügeltes Tier. Und dann blickte sie mich an, und das war derart unheimlich gehässig, daß es mir eiskalt hinunterlief. Aber der Tomaschek machte bloß eine wegwerfende Geste. „Sie ist halt blöd, das arme Hascherl!“ sagte er. So rettete ich eine Familie vor dem Verfall.
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Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand
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Am 7. August 1922 war ich sehr verliebt, und zwar in eine gewisse Frau Elisabeth Tomaschek aus dem VIII. Bezirk. Der Herr Tomaschek war damals gerade verreist, und so stand meinen Gefühlen fast nichts mehr im Wege. Ich gebs heut gerne zu, daß das moralisch nicht einwandfrei von mir war, aber von einem unvoreingenommenen Standpunkt aus betrachtet, war das doch nur natürlich. Die Natur ist halt bekanntlich etwas Ungerechtes, und obendrein war ich damals noch ziemlich hemmungslos, der Krieg war ja noch kaum vorbei. Am 12. November 1928 kam nun der Herr Tomaschek, den ich inzwischen schätzen gelernt hatte, unerwartet zu mir. Er war seltsam erregt und sagte: „Ich hab grad eine Karambolage hinter mir!“ Und dann setzte er es mir auseinander, daß diese Karambolage mit einem scharfen Wortwechsel zwischen ihm und seiner Gemahlin begonnen hätt, und zwar über das Thema, ob der Bubi humanistisch gebildet werden müßt oder ob er in die Oberrealschul gehen sollt. Die Frau war absolut für die Oberrealschul, weil diese ganz in der Nähe lag, aber er hatte eine Schwäche für das Unpraktische. Energisch verteidigte er den Wert des humanistischen Bildungsideals, und dabei entschlüpfte ihm leider Gottes ein ordinäres Schimpfwort. Die Frau schimpfte natürlich zurück, das ging so her und hin, bis die Frau (und für sie dürfte diese ganze Debatte wahrscheinlich nur ein Anlaß gewesen sein, um einer seit längeren Jahren aufgestapelten Antipathie das Ventil zu öffnen) – „und jetzt kommt die Karambolage!“ schrie mich der Tomaschek an, „sagt das Luder nicht, daß sie am 7. August 1922 etwas mit dir gehabt hätt!“ „So“, sagte ich, „also das find ich unerhört!“ „Ich möcht halt jetzt nur klar sehen“, fuhr der Tomaschek fort, „ob das nämlich stimmt, denn wenn das nämlich stimmt, laß ich mich nämlich scheiden, das kann mir niemand zumuten, daß ich mit einer zusammenleb, die sich mit dir eingelassen hat! Sags mir nur ruhig in das Gesicht, das wird unsere Freundschaft nicht stören! Ich bin dir nicht bös, denn du kannst ja nichts dafür. Meiner Seel, das Weib ist halt mal so ein Grundübel, die personifizierte Sünd, das Laster in persona!“ Während er so sprach, überlegte ich krampfhaft, wie ich vorgehen sollte. Also ein Familienleben wollte ich nicht zerstören, denn das wäre gegen meine Prinzipien gewesen, aber eigentlich wollt ich auch den braven Tomaschek nicht täuschen, ich hatte ein direkt miserables Gefühl bei dem Gedanken, daß ich sein verständnisvolles Vertrauen mißbrauchen könnt – doch schließlich siegte halt mein Altruismus: zwei Menschen, die das Schicksal gesetzlich zusammengefügt hat, sagte ich mir, dürften nicht voneinander gejagt werden, und solches erst recht nicht, weil dann der herzige Bubi auseinandergerissene Eltern hätt – und so antwortete ich dem Tomaschek: „Also das find ich von deiner lieben Gemahlin schon ziemlich legère, daß sie mich da in ein Drama hineinziehen möcht, bloß um dich zu echauffieren. Natürlich ist das alles erlogen!“ Mein Tonfall beruhigte ihn, und er reichte mir seine Hand. „Ich muß jetzt noch ins Continental“, sagte er. „Also du glaubst mir?“ fragte ich. „Ich glaub alles“, sagte er, und es lag eine gewisse Resignation in seiner Stimme. Kaum war er weg, rannte ich zu seiner Frau. „Elisabeth!“ fuhr ich sie an. „Der Viktor war grad bei mir und hat sich erkundigt –“ – „Ich weiß schon!“ unterbrach sie
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mich. „Einen Schmarrn weißt du!“ brüllte ich, und das war alles programmgemäß. „Ich hab ihm natürlich gebeichtet, daß ich was mit dir gehabt hab, weil er mich an meiner Ehre gepackt hat! Und jetzt möcht er sich partout scheiden lassen!“ – „Also endlich!“ sagte sie und setzte sich. Das hatte ich nicht erwartet, denn ich wollte ja gerade das Gegenteil. Ich dachte sie durch mein erfundenes Geständnis einzuschüchtern, aber jetzt mußte ich mit ansehen, daß sie direkt erleichtert tat. Momentan wußte ich gar nicht, was ich sagen sollte. „Du kannst es ja gar nicht wissen“, unterbrach sie plötzlich die Stille und sah mich lang an. „Was denn?“ erkundigte ich mich kleinlaut. „Wie gut, daß er und ich zusammenpassen“, sagte sie und betrachtete spöttisch meine modernen Schuhe. „Ich hätt mich ja mit dir nie eingelassen“, fuhr sie fort, „wenn ich nicht gewußt hätt, daß er sich mit allerhand Menschern abgibt.“ Nun stand sie am Fenster, und das sah aus, als wollte sie überall hinaus. Auch aus sich hinaus. „Und der Bubi?“ fragte ich plötzlich scheinbar en passant, denn nun kam mein letzter Trumpf. „Wenn sich der liebe Viktor jetzt scheiden läßt, bist natürlich du der schuldige Teil, und den Bubi kriegt natürlich der liebe Viktor.“ Das riß sie aber sehr zusammen! „Was sind das für unnatürliche Gesetze?!“ schrie sie und war fürchterlich verzweifelt. Es war dies wirklich keine Mache von ihr, sondern Muttergefühl. In diesem Augenblick trat abermals unerwartet der Tomaschek ein. „Was machst denn du da?“ fragte er mich mißtrauisch, aber sie ließ mich nicht antworten, sondern stürzte sich weinend auf ihn, umklammerte ihn und jammerte zum Herzerbrechen. Immer wieder bat sie ihn unartikuliert um Verzeihung und küßte ihm sogar die Hand. Er sah mich fragend an. „Ich hab ihr nur grad vorgehalten“, sagte ich, „wie sie nur sowas behaupten kann, daß ich was mit ihr gehabt hätt, wo das doch gar nicht wahr ist.“ Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch kaum jemals gehabt. Sie taumelte direkt von Tomaschek zurück und zitterte direkt verprügelt. Und dann schaute sie mich an, und das war derart unheimlich gehässig, daß es mir eiskalt hinunterlief. Aber der Tomaschek machte bloß eine wegwerfende Geste. „Sie ist halt blöd, das arme Hascherl!“ sagte er. So rettete ich eine Familie vor dem Verfall.
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Ödön von Horváth, der Verfasser des erfolgreichen Volksstücks „Die Bergbahn“, hat einen Roman „Der ewige Spießer“ vollendet, der demnächst erscheint. Unlängst traf ich einen Bekannten in der Charlottenstraße. Er schien sich sehr zu wundern, mich in Berlin zu sehen, und erkundigte sich neugierig, warum ich denn dem herrlich idyllischen Dorfleben den Rücken gekehrt hätte, wo ich doch draußen auf dem Lande schon ganz entschieden mehr Ruhe zum Dichten haben würde, abgesehen von der würzigen Luft. „Also was die Luft betrifft“, sagte ich, „da haben Sie relativ recht, aber bekanntlich kann man von der Luft nicht leben, selbst wenn sie würzig sein sollte. Ich als junger Schriftsteller muß doch unbedingt nach Berlin. Vergessen Sie doch bitte nicht, daß man nicht nur zum Denken, sondern auch zum Dichten unbedingt einen Stuhl und dergleichen benötigt, vom Essen, Schlafen und dergleichen will ich jetzt gar nicht reden!“ „Ja“, beruhigte er mich und ließ mich höflich stehen. Lang sah ich ihm nach und hatte dabei ein triumphierendes Gefühl. Als ich ihn aber nicht mehr sehen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als über meinen Umzug nach Berlin etwas intensiver nachzudenken. Ob ich nicht wahrscheinlich besser getan hätte, fragte ich mich, nur dann nach Berlin zu kommen, wenn ich mir mal keinen Stuhl und dergleichen würde leisten können – um mich hernach, bis ich mir diese Utensilien beschafft hätte, sofort wieder von Berlin zu empfehlen, hinaus in den ländlichen Frieden, um dort meine Belletristik zu schreiben. Es ist doch vielleicht klar, so dachte ich plötzlich verzweifelt, daß man sich als junger Schriftsteller draußen in der Natur bedeutend konsequenter konzentrieren kann, als im Trubel der Weltstadt. In der Weltstadt wird man doch nur zu leicht von seiner Intuition abgelenkt. So dachte ich damals, aber heute weiß ich, daß diese Zweifel keine Berechtigung besitzen. Ich kann ja, wenn ich nur will, hier in Berlin genauso zurückgezogen leben, wie an dem Busen der Natur, in jedem möblierten Zimmer läßt es sich als Eremit fein hausen. Allerdings braucht man in Berlin zu einem solchen lediglich seiner Intuition gewidmeten Leben mehr freien Willen, als draußen im Dorfe, denn hier gibt es natürlich mehr Versuchungen, jedoch meist nur nach sieben Uhr abends. Auch wird man hier natürlich oft abgelenkt, ohne daß man es im Augenblick merken würde. Zwar passiert dies einem auch draußen in Gottes freier Natur, zum Beispiel durch eine Baumgruppe, genauso wie in der Stadt zum Beispiel durch eine Arbeitslosenkundgebung – der Unterschied besteht dann lediglich im folgenden: Als Folge der Ablenkungskünste des Landes würde ich etwa ein Kapitel schreiben mit der Überschrift: „Abendsonnenschein im Hochwald“, während als Folge der städtischen Ablenkungskünste die Überschrift lauten würde: „Protest gegen die Kürzung der Arbeitslosenversicherung“. Wenn ich mich nicht irre, hat es sich allmählich herumgesprochen, daß sich unser gesellschaftliches Sein allmählich zu einem gesellschaftlichen Bewußtsein umbildet, und daß dieses Werden vorerst nur in der Stadt spürbar ist, da doch das Land längst nur mehr die Rolle des immer etwas verspäteten Nachahmers spielt. Und jetzt höre
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Aus der Stille in die Nacht
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ich folgendes: Sie könnten ja Ihr Wissen um das Werden mit Ihrem „Abendsonnenschein im Hochwald“ zu etwas literarisch ganz Auffallendem verbinden – dieser Vorschlag hat sicher seine Berechtigung, aber leider übersieht er etwas. Und zwar dies: Es spielt natürlich keine Rolle, ob ich es infolge der geographischen Entfernung von Stadt und Dorf etwa drei Stunden später erfahre, daß sich wiedermal einige Personen infolge wirtschaftlicher Not das Leben genommen haben. Das ist doch klar, das hat mit dem Schaffen ewiger Werte nichts zu tun. Aber beim Dichten kommt es doch bekanntlich nicht darauf an, daß ich eine Tatsache durch Zeitung oder Radio erfahre, sondern, daß ich sie selbst miterlebe, indem ich in der jeweiligen Atmosphäre lebe.
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Das Märchen vom Fräulein Pollinger
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Das Märchen vom Fräulein Pollinger VON ÖDÖN HORVÁTH
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Es war einmal ein Fräulein, das hieß Anna Pollinger und fiel bei den besseren Herren nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur hundertundzehn R.M. und hatte nur eine Durchschnittsfigur und ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett. Sie arbeitete im Kontor einer Autoreparaturwerkstätte, doch konnte sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie ab und zu auf einem Motorrad hinten mitfahren, aber dafür erwartete man auch meistens was von ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und verschloß sich den Herren nicht. Oft liebte sie zwar gerade ihren einen nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte, im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen, und wenn sie dies trotzdem tat, wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade mal mußten. Oft wurde sie dann in den Anfangssätzen boshaft und tückisch, aber bald ließ sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in ihrem Leben einerlei, denn das mußte es ja sein. Nur wenn sie unpäßlich war, dachte sie intensiver an sich. Einmal ging sie mit einem Herrn beinahe über das Jahr, der hieß Fritz. Ende Oktober sagte sie: „Wenn ich ein Kind bekommen tät, das wär das größte Unglück.“ Dann erschrak sie über ihre Worte. „Warum weinst du?“ fragte Fritz. „Ich hab es nicht gern, wenn du weinst! Heuer fällt Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag, und wir machen eine Bergtour.“ Und er setzte ihr auseinander, daß bekanntlich die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, daß sie kein Kind kriegt. Sie stieg dann mit Fritz auf die Westliche Wasserkarspitze, 2037 Meter hoch über dem fernen Meer. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon ganz Nacht, aber droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt, und Anna sagte: „Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen Seelen herumfliegen.“ Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein. Seit dieser Bergtour hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch nie wieder ganz gesund, und ab und zu tat ihrs im Unterleib schon sehr verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch.
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Der mildernde Umstand
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D e r m i l d e r n d e U m s t a n d / Von Ö d ö n H o r v á t h
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Der Drogist Lallinger ist ein begeisterter Nazi, und zwar schon seit längerer Zeit. Er ist ein direkt prominentes Mitglied in seiner Ortsgruppe, aber in den Landtag ist er halt noch nicht hineingewählt worden, sondern der Herr Major. Dieser Major ist ein Norddeutscher – „überhaupts wächst sich unser Herr Major zu einem Schädling in unserer Bewegung aus, der Saupreiß, der windige!“ versicherte mir der Lallinger, als ich ihn unlängst in der Schellingstraße traf. „Dir darf ich’s sagen“, fuhr er fort, „denn du bist ja ein Internationalist! Aber meiner Seel’, mir ist schon manchmal a so a roter Hund lieber als wia so a Preiß! Du wirst schon sehen, wie sehr daß der völkische Gedanke bei uns in Bayern zusammenschrumpfen wird, seitdem daß der Hitler in Norddeutschland droben einen derartigen Sukzeß hat!“ So unterhielten wir uns, natürlich ausschließlich über Politik, denn der Lallinger war ein durchaus politisierter Mensch. Er erzählte mir auch, daß er gerade vom Gericht komme, aus einem hochpolitischen Prozeß ersten Ranges; dort hätte er nämlich einen Entlastungszeugen markieren müssen, aber man habe ihm kein Sterbenswörtchen geglaubt. Es drehte sich um die gerichtliche Sühne einer schweren Körperverletzung anläßlich einer Wahlversammlung in Oberlochhausen, und an dem ganzen Schlamassel waren natürlich nur einige Zwischenrufer schuld, die um einen runden Tisch herumgehockt seien und ihre Schandmäuler nicht hätten halten können. „Was waren denn das für Zwischenrufe?“ erkundigte ich mich schüchtern. „Lauter zustimmende natürlich!“ versicherte mir stolz der Lallinger. Ich sah ihn überrascht an, worauf er mir auseinandersetzte, daß die Sache natürlich einen Haken gehabt hätte, denn die Zwischenrufer seien total besoffen gewesen, und durch diese Tatsache wären nun ihre begeistert zustimmenden Rufe in einer eigentümlichen Weise in das Gegenteil verwandelt worden. „Und plötzlich“, fuhr er fort, „war eine ganz lächerliche Atmosphäre im Saal. So hab’ ich mich halt erheben müssen, weil ich den Vorsitz geführt hab’, und hab’ gesagt: ‚Meine Herren Zwischenrufer‘, hab’ ich gesagt, ‚ich werde jetzt wohl bald gezwungen werden, von meinem Hausherrnrechte Gebrauch zu machen, falls die Herren Zwischenrufer nicht das Maul halten wollen, das ganz abscheuliche! Hier dreht es sich um unsere Erneuerung‘, hab’ ich gesagt, ‚und nicht um den Bierrausch der Herren Zwischenrufer!‘ Aber kaum hab’ ich geendet, da hab’ ich schon den Kopf zur Seite tun müssen, denn da ist auch schon ein Maßkrug durch die Luft geflogen. Und dann ist’s halt aufgangen. Es werden wohl hundertzwanzig Personen gewesen sein, die wo da gerauft haben. Hernach waren halt zwanzig Stühl’ zerbrochen, dreißig bis vierzig Maßkrüg’ – auf nähere Details erinnere ich mich aber nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß die B’soffenen meinen Bruder unter ihren Tisch nunterzogen haben und mit ihren Genagelten in seinem Antlitz herumgetrampelt haben, direkt fanatisch, die Hammeln, die hundsheiternen! Aber zum Glück hat das Ganze nicht lange gedauert, durch einen glücklichen Irrtum. Nämlich als die Rauferei grad angegangen ist, ist ein B’soffener hereingekommen, der wo von nichts eine Ahnung gehabt hat – und dem hat dann mein Bruder, der wo sonst ein sehr friedliebender Charakter ist, den Maßkrug von hinten auf den Schädel naufg’setzt, daß er zersplittert ist in tausend Teile – und der B’soffene ist umg’fallen, ohne einen Ton von sich zu geben, wie eine Leich‘. Jetzt sind halt natürlich alle furchtbar erschrocken und haben gemeint: ‚Schau, jetzt ist der gar tot!‘ – und so habens halt gleich aufg’hört zu raufen vor lauter Entsetzen. Wir haben dann den Toten in das Nebenzimmer geschafft, und ich hab’ die Versammlung wegen dieses traurigen Ereignisses schließen
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wollen. Aber kaum hab’ ich mit meinem Schlußwort angefangen, es war eine feierliche Stille, weil halt jeder gemeint hat, nebenan liegt ein Toter – also kaum hab’ ich die ersten Worte gesagt, geht die Tür auf, und der Tote kommt rein; er hat einen ganz blutigen Schädel gehabt und war noch immer nicht ganz nüchtern. ‚Ja Blutsakrament!‘ brüllte der Tote. ‚Wo is er denn, der Hund, der Schlawak, der Häuter, der wo mi da niedagschlagn hat?! Sakrament, Sakrament, den spring i jetzt aba aufn Nabel nauf!‘ – Natürlich hat man aber den Toten sofort beruhigt durch gütliches Zureden. Aber angezeigt hat er meinen Bruder halt doch, und heut war die Verhandlung. Mein Bruder hat gesagt, es tät ihm sehr leid, und er empfände Reue darüber, daß er den Toten niedergschlagen hat, aber es wäre halt ein Irrtum gewesen, und er bitte um mildernde Umständ, weil der Tote ja einen derartigen Rausch gehabt hätte, daß er eh umgfallen wär. Er hat dann auch nur die Mindeststrafe bekommen, und zwar mit Bewährungsfrist.“
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Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat
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W i e d e r Ta f e l h u b e r To n i s e i n e n H i t l e r v e r l e u g n e t h a t / Von Ö d ö n H o r v á t h
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Gegen den Satan der Fleischeslust ist noch kein Kraut gewachsen, besonders im Fasching nicht. Auch wenn man eingeschriebenes Mitglied der NSDAP ist, erliegt man halt leicht der Versuchung, wie uns dies der Fall Tafelhuber zeigt. Der Tafelhuber Toni war nämlich ein überaus eifriger Hakenkreuzler, aber trotzdem verleugnete er bei der letzten Redoute seinen Hitler, und daran war nur so ein raffiniertes Frauenzimmer, Gott verzeih ihr die Sünd, schuld. Die hat den Tafelhuber Toni direkt um ihre Finger gewickelt, akkurat wie die Dalila ihren Simson. Dabei war der Tafelhuber gar kein Simson nicht. Begonnen hat es so: Wie es nämlich angefangen hat, da ist der Toni noch bei seinen speziellen Parteifreunden gesessen, in der Nähe der illuminierten Tanzfläche. Eine illustre Korona war das. Noch hat er sich nicht mal nach dem Schatten eines Weibes umgeschaut, sondern hat bloß sarkastische Bemerkungen fallenlassen über dem Kardinal Faulhaber seine letzte Predigt. Aber dann wollte es plötzlich das hinterlistige Schicksal, daß er seine Circe findet. Das war eine üppige Erscheinung, direkt rassig. Sie ging als Andalusierin und hatte was für ihn. Sie ist an ihm vorbeigerauscht, und er fühlte sich magisch hingezogen. Und sie hat halt nicht locker gelassen mit ihren verheißungsvollen Augen und den halbgeöffneten sinnlichen Lippen. So wurde er verzaubert. Fünfmal hat er dann getanzt damit, und zwar gleich hintereinander. Sie preßte sich an ihn, und ihm tat das wohl, denn sie war halt kein Krischperl. Hernach wurde er plötzlich romantisch und gebrauchte ein dichterisches Bild, worauf sie sich an seinen Arm hängte und meinte, sie müsse nun etwas trinken vor lauter Linksrum. Er stieg mit ihr auf die Galerie in ein schattiges Eck. Dort setzten sie sich, und wie auf ein Kommando intonierte die Musik eine getragene Weise. Aber das war alles nur Schicksal. Sie trank einen süßen roten Likör, und er sah ihr dabei zu. Dann kamen sie sich immer näher und gaben keinen Ton von sich. Mittendrin ging aber plötzlich ein Herr vorbei, und dieser Herr war ein Jud. Er lächelte rabulistisch und warf der Andalusierin einen provozierenden Blick zu, den diese automatisch erwiderte, denn sie war halt eine kokette Person. Der Tafelhuber jedoch wollte seiner Beobachtungsgabe schier nicht trauen. Vor seinem geistigen Auge wiederholte er sich diese Szene, und immer mehr wurde für ihn diese Episode abermals zum Beweis. Er wollte es sich nicht gefallen lassen, daß ein Semit die Seinige so orientalisch-lüstern anschaut, aber der Orientale war schon verschwunden, und nun entstand zwischen dem Paar ein Meinungsaustausch über diese ganze Judenfrage. Der Tafelhuber wurde immer stolzer und setzte seiner Andalusierin allerhand auseinander, aber diese blieb verstockt. Ja sie meinte sogar, daß ihr das schon sauwurscht wäre, ob Jud, ob Christ, ob Heid, für sie wäre die Hauptsache, daß einer ein Menschenantlitz trägt. Und plötzlich fuhr sie ihn an: „Oder bist du gar a so a Hakenkreizler? Die mag i nämli scho gar net!“ Sie sah ihn direkt durchbohrend an. „Mei Vater is Sozialdemokrat, mei Mutter is Sozialdemokrat, und i bin’s a“, sagte sie und zog sich zurück von ihm, so daß es ihm an der ihr bisher zugewandten Seite ganz eisig entlang wehte. Weil er halt auch schon ziemlich durchschwitzt war. Er wollte sich an ihr wärmen wie an einem Feuer – aber da fiel ihm schon wieder der Kardinal ein und der Herr Owen Young, besonders letzterer grinste sehr höhnisch – „Nur nichts mehr denken“, dachte der Tafelhuber verzweifelt und konnte
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nicht mehr anders. Sein aufgestacheltes Verlangen nach den einladenden Formen seiner marxistischen Andalusierin blieb weiterbestehen und wuchs sich aus, trotz der diametral anderen Weltanschauung. Auch ein SA-Mann ist halt zu guter Letzt nur ein Mensch. Auch er ist doch nur ein Mann mit demselben Gestell wie ein Exot. Was helfen da alle guten Vorsätze, das Leben legt seine Netze aus und fragt weder nach Rasse noch nach Religion. Manchmal ist halt auch bei einem Hitlermann der Geist willig und das Fleisch schwach. Und er sagte: „Nein, ich bin kein Hitler nicht.“ – So hatte er seinen Hitler verleugnet, ehe die dritte Française getanzt war. Aber hernach hat er es mit den Gewissensbissen bekommen und nicht zu wenig. Er ist ganz dasig an den Tisch seiner Parteigenossen zurückgekehrt und hat sich einen furchtbaren angetrunken vor lauter Zerknirschung. Düster hat er vor sich hingestarrt und gegrübelt, eine lange Zeit. Dann ist er plötzlich aufgesprungen und hat losgebrüllt: „Ja Herrgottsakrament, sind wir denn noch in Deutschland oder nicht?!“ Man beruhigte ihn und setzte ihm auseinander, daß er sich noch in Deutschland befände, und zwar mitten in München, aber er wollte es nicht glauben. Er lallte nur Abwegiges vor sich hin und wankte benommen. Man führte ihn hinaus in die frische Luft. Ein feiner Nebel lag über dem Asphalt, und wenn er sich nicht hätt’ übergeben müssen, dann hätt’ er die Sterne der Heimat gesehen.
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Der Fliegenfänger
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Vor zirka zwei Jahren lernte ich einen tatsächlich merkwürdigen Menschen kennen, und zwar in der Nähe von Füssen im Allgäu. Es ist dies ein uraltes Kulturland, und jener merkwürdige Mensch hatte bereits häufiger mit den Gerichten als Angeklagter zu tun gehabt, und zwar ist dann hernach in der Zeitung immer unter derartigen Überschriften darüber berichtet worden, wie zum Beispiel: „Ein Rohling“, „Ein Unhold“, „Vertierter Bursche“ oder dergleichen. Als ich ihn kennenlernte, war es schon spät am Nachmittag, so Ende September gegen sechs. Es dämmerte draußen auf der Landstraße, und drinnen im Wirtshaus saßen sechs betrunkene Herren. Nämlich um neun Uhr früh wurde im nahen Städtchen dem einen Herrn seine Frau begraben – es ist das ein gelungenes Begräbnis gewesen, und der Herr war nun ein Witwer. Und der Bruder dieses Witwers war besagter merkwürdiger Mensch. Auch er hatte bereits sein Quantum Bier in sich und versicherte nun in einer Tour, daß ihm schon rein gar nichts den Appetit verderben könne, und zwar besonders heute nicht. Man beruhigte ihn und versicherte ihm, daß man es ihm natürlich auf der Stelle glaube, daß ihm nichts den Appetit verderben könne, aber der merkwürdige Mensch tat sehr ungläubig, und plötzlich wurde er rabiat. „Das möcht ich aber doch gerne sehen“, brüllte er, „schon sehr gerne möchte ich das sehen, ob da einer da ist, der es vielleicht gar meint, daß ich mich vor irgend etwas grause! So etwas hat die Technik noch nicht erfunden, meine Herren, vor dem ich mich grausen tät! O du angenagelter Himmelherrgott, wer hat denn jetzt eine Schneid und wettet jetzt mit mir, daß ich den Fliegenfänger dort zusammenfriß?!“ Der Fliegenfänger hing in der Herrgottsecke, knapp vor dem Kruzifix. An dem gelben Zeug klebten zirka hundert Fliegen. Einige bewegten sich noch und verendeten langsam. Andere waren schon seit Tagen tot. „Also wer hat jetzt hernach eine Schneid und wettet mit mir um zehn Maß Bier?“ ließ sich der merkwürdige Mensch abermals vernehmen und fixierte seinen Bruder, den Witwer, suggestiv und hinterlistig. Aber dieser kannte sich schon aus und sah den Herausforderer melancholisch an. „Ich“, meinte er, „ich wette schon mit dir, denn das wirst du heute nicht fertigbringen, daß ich mich heute aufrege, lieber Albert.“ – „Es bleibt in der Familie!“ rief einer der Herren und leerte sein Glas auf das Wohl der beiden Brüder, während Albert sich daran machte, den Fliegenfänger zu verzehren. Inzwischen hatte es draußen angefangen zu regnen, kalt und zart. Der erste stille Herbstregen fiel auf das Grab der toten Frau und Schwägerin, an die momentan keiner der Herren dachte. – Ihr Schwager Albert hatte nun bereits drei Viertel des Fliegenfängers verschlungen, jedoch plötzlich ging es nicht mehr voran, das letzte Endchen wollte partout nicht verschwinden. Es hing aus dem Munde heraus und er wurde rot im Gesicht, dann weiß und dann grau. Er hatte die Wette verloren und die zehn Maß Bier empfahlen sich artig am Horizont. „Das ist halt die Tücke des Objektes“, konstatierte sein Bruder so von oben herab und bestellte sich einmal Schweinsschlegel mit gemischtem Salat. Auch wir ließen uns das gleiche kommen. Nur der merkwürdige Mensch bestellte sich einen Fisch mit Salzkartoffeln und zerlassener Butter.
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Sportmärchen Die Sportmärchen gehören zu Horváths frühesten Arbeiten und sind um 1923/24 entstanden. Überliefert ist ein äußerst umfangreiches Konvolut, das insgesamt 239 Blatt an Typoskripten und Durchschlägen umfasst. Typoskriptblätter machen davon den geringeren Anteil von 19 Blatt aus, mit insgesamt 210 Blatt liegen vor allem Durchschläge vor, in einigen wenigen Fällen sind Typoskripte allein in Form von Fotokopien überliefert. Die Durchschläge stammen zum einen von den erhaltenen Typoskriptblättern und wurden teils mehrfach ausgefertigt. Zum anderen liegen ebenfalls teils mehrfach ausgefertigte Durchschläge ohne erkennbares Original vor (vgl. dazu den Kommentar zu TS1). Darüber hinaus hat Horváth vierzehn seiner Märchen in ein Poesiealbum seiner Jugendfreundin Felizia Seyd eingetragen, wobei es sich um den einzigen präzise datierbaren Textzeugen handelt. In einer Widmung vermerkt Horváth hier: „Geschrieben zu Murnau im Jahre des Heils 1924 im Monate September“ (vgl. TS15/BS 62 e, S. 60). Datierungshinweise bieten auch in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte Sportmärchen. Als erster Text ist am 22. September 1924 im Münchener Satiremagazin Simplicissimus Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes (D1/TS28) erschienen, weitere Märchen folgten kurz darauf (vgl. D2/TS29–D4/TS31). Insgesamt vierzehn Sportmärchen erschienen teilweise mehrfach in den Jahren 1924–1931 im Simplicissimus, in der Münchener Literaturzeitschrift Jugend, der Berliner B.Z. am Mittag, der Berliner Volks-Zeitung und in Alpinismus-Illustrierten (vgl. dazu den Abschnitt Sportmärchen – Drucke). Da einige der frühesten Veröffentlichungen von Ende 1924 eindeutig auf dem Text von TS20 beruhen, kann diese Textstufe als zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen gelten. Auffällig, für die Datierung jedoch nur bedingt von Nutzen, ist die für große Teile der Sportmärchen verwendete Schreibmaschine, die Horváth auch für andere frühe Texte bis etwa 1927 verwendet hat. In TS17 findet sich zuletzt mit dem für das Titelblatt verwendeten Papier ein weiteres Indiz zur Entstehungszeit. Horváth hat hier Papier mit dem Wasserzeichen „Manila Schreibmaschinen“ benutzt, das im Nachlass sonst nur für Arbeiten zum frühen, um 1924 entstandenen Dramenprojekt Dósa nachzuweisen ist. Aus all diesen Indizien lässt sich auf einen relativ dichten Entstehungs- bzw. Kompilierungsprozess der Sportmärchen schließen, wenngleich Horváth die letzte Kompilation TS20 wesentlich später nochmals für eine vollständige Publikation in Erwägung gezogen haben dürfte (vgl. den Kommentar dort). Zu den einzelnen Märchentexten ist kein genetisches Material im engeren Sinne überliefert, sieht man von einer frühen gemeinsamen Fassung der Märchen Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen und Wintersportlegendchen (TS3) ab. Eventuell hat Horváth dieses Material selbst vernichtet, wie er es nachgewiesenermaßen auch bei anderen frühen Werken getan hat (vgl. dazu das Vorwort). Allerdings dürften im Lauf der Zeit weitere Materialien verloren gegangen sein. So führt Traugott Krischke im Anhang seiner Edition in der Kommentierten Werkausgabe ein „hs Konzept“ (KW 11, S. 265) Horváths an, das sich nicht mehr im Nachlass findet (vgl. KW 11, S. 265f.). Es handelt sich dabei um einen Strukturplan zur Anordnung der Sportmär-
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chen, der vermutlich mit der fragmentarischen Kompilation in TS16 in Zusammenhang steht (vgl. den Kommentar dort). Darüber hinaus sind Abschriften einzelner Märchen verloren gegangen. Darauf deutet der Abdruck von Die beiden Magenschwinger in den von Krischke edierten Ausgaben hin (vgl. erstmals GW III (2. Aufl.), S. 520), dessen Text von den beiden in TS1/A2 wie TS20 überlieferten Fassungen abweicht. Einige Blätter liegen im Nachlass überdies nur noch als Fotokopie vor (vgl. TS1/A2/BS 62 d, Bl. 44 und TS27/BS 62 d, Bl. 63–66). Soweit sich die Genese rekonstruieren lässt, deutet einiges darauf hin, dass Horváth schon bald die diversen Einzeltexte als zusammengehörige Textsammlung betrachtet und entsprechend gruppiert hat. Die Anordnung der einzelnen Märchen war dabei durchaus variabel, wie der Vergleich der Anordnung in der frühesten Kompilation TS1 mit der im Poesiealbum Seyds (TS15) und den danach entstandenen Kompilationen TS17 und TS20 zeigt (vgl. dazu die Informationsgrafik Tab2 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 698f.). Für Horváths frühe Prosa im Allgemeinen ist die Schreibmaschine, mit der er einen Großteil der Sportmärchen getippt hat (TS1–TS10, TS17, TS20–TS26), besonders hervorzuheben. Diese hat bei mehreren Typen regelmäßig markante Ober- und Unterlinien mit angeschlagen. Auf Typoskriptblättern, wie sie vor allem in TS1 und TS17 vorliegen, sind davon meist nur unterschiedlich starke Einprägungen ohne Farbauftrag zu erkennen. Deutlicher zeichnen sie sich auf Durchschlagsblättern ab, da das Durchschlagpapier an den entsprechenden Stellen Farbe mit übertragen hat. Diese Schreibmaschine hat Horváth auch für mehrere frühe Einzeltexte und Werkprojekte benutzt (vgl. ET1–ET7, ET9 und WP2). Mehrere dieser Einzeltexte sind als Beiträge für einen um 1926/27 konzipierten Novellenband vorgesehen, der auch Legende vom Fußballplatz enthalten sollte (vgl. WP1). Ebenfalls auf dieser Schreibmaschine getippte Kurzprosatexte wie Theodors Tod (ET5) wiederum lassen sich durch inhaltliche Anspielungen und äußere Angaben wie Adressvermerke auf 1926/27 datieren, was diese Schreibmaschine zu einem verlässlichen Indikator für frühe Arbeiten Horváths macht. Klar erkennbar andere Schreibmaschinen liegen im Konvolut der Sportmärchen für TS11–TS14 und TS16 sowie für TS27 vor (vgl. den Kommentar dort). Anhand der Übernahme von Detailkorrekturen in neue Abschriften, der teils mehrfachen Korrektur von Paginierungen, unterschiedlich gefärbter Durchschlagspapiere (violett, blau und schwarz) und anderer materieller Indizien wie Lochungen im Papier bzw. der Unterscheidung von Typoskript und Durchschlag lässt sich eine tragfähige relative Chronologie der Textgenese sowohl der Kompilationen als auch einzelner Abschriften herstellen (vgl. dazu auch die Informationsgrafik Tab1 im Anhang dieses Bandes, S. 697). Die Zusammenhänge des genetischen Materials mit der Druckgeschichte der Sportmärchen sind demgegenüber aber teilweise widersprüchlich. In einigen Fällen können die abgedruckten Texte den vorliegenden Typoskripten nicht mit Sicherheit zugewiesen werden, da Horváth scheinbar unterschiedslos auf verschiedene Fassungen als Textgrundlage zurückgegriffen hat (vgl. die Kommentare zu D1/TS28–D19/TS45). Aus diesem Grund sind alle bekannten Drucke in diesem Verzeichnis erst im Anschluss an die Chronologie der von Horváth erstellten Textträger gelistet. Wo die direkte Entsprechung eines konkreten Typoskripts mit einem Abdruck belegbar ist, ist dies im Kommentar vermerkt (vgl. den Kommentar zu den Drucken und auch die Informationsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 697).
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Sportmärchen
T1 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 33, 34, 36, 37, 39–43, 46, 47, ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 3–11, 13, 15–18, 24–33, ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 1, 2, 7, 38, 44, 48, 51, 52 Insgesamt 43 Blatt, davon 16 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), 9 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), 8 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), 4 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (blau), 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (violett), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (blau), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (185 × 222 mm), Durchschlag (blau), geschnitten, 1 Blatt unliniertes Papier (295 × 208 mm), Fotokopie, 1 Blatt unliniertes Papier (286 × 222 mm), Blätter teilweise gelocht, hs. Eintragungen in grüner und schwarzer Tinte, Bleistift sowie rotem Buntstift, hs. Paginierung 7–9 auf BS 62 a, Bl. 33, 34, 36, 13 auf BS 62 a, Bl. 37, 18 auf BS 62 a, Bl. 42, 14 auf BS 62 a, Bl. 43, hs. Paginierung 16, 17 und gestrichene hs. Paginierung 11, 12 und 15, 16 auf BS 62 a, Bl. 44, 45, hs. Paginierung 5 und gestrichene hs. Paginierung 43 auf BS 62 a, Bl. 47, hs. Paginierung 3–11 und gestrichene hs. Paginierung 5, 8a, 6, 29–33, 27 auf BS 62 c, Bl. 3–11, hs. Paginierung 13 und gestrichene hs. Paginierung 36 auf BS 62 c, Bl. 13, hs. Paginierung 15–18 und gestrichene hs. Paginierung 11–12a, 19 auf BS 62 c, Bl. 15–18, hs. Paginierung 24–30 und gestrichene hs. Paginierung 20–26 auf BS 62 c, Bl. 24–30, hs. Paginierung 32, 33 und gestrichene hs. Paginierung 40, 41 auf BS 62 c, Bl. 33, 34, hs. Paginierung 2, 3 auf BS 62 d, Bl. 1, 2, hs. Paginierung 1 auf BS 62 d, Bl. 7, hs. Paginierung 10 auf BS 62 d, Bl. 38, gestrichene hs. Paginierung 17 auf BS 62 d, Bl. 44, hs. Paginierung 12 und gestrichene hs. Paginierung 35 und 11 auf BS 62 d, Bl. 51, hs. Paginierung 37 auf BS 62 d, Bl. 52 TS1/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 62 d, Bl. 1, 2, BS 62 c, Bl. 3, 5, BS 62 a, Bl. 33, 34, 36, BS 62 d, Bl. 38, BS 62 c, Bl. 15, 16, BS 62 a, Bl. 37, 43, 39, 40, BS 62 d, Bl. 44, BS 62 a, Bl. 42, BS 62 c, Bl. 18, 24–30, 11, 6–10, BS 62 d, Bl. 7, 51, BS 62 c, Bl. 13, BS 62 d, Bl. 52, BS c, Bl. 31–33, BS 62 a, Bl. 46, 47 (nicht gedruckt) TS1/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 62 d, Bl. 1, 2, BS 62 c, Bl. 3, 5, BS 62 a, Bl. 33, 34, BS 62 c, Bl. 4, BS 62 a, Bl. 36, BS 62 d, Bl. 38, BS 62 c, Bl. 15–17, BS 62 a, Bl. 37, 43, 39, 40, BS 62 d, Bl. 44, BS 62 a, Bl. 42, BS 62 c, Bl. 18, 24–30, 11, 6–10, BS 62 d, Bl. 7, 8, BS 62 c, Bl. 13, BS 62 d, Bl. 52, BS c, Bl. 31–33, BS 62 a, Bl. 46, 47 Druck von BS 62 a, Bl. 36 (Die drei Gesellen) in: GW III (2. Aufl.), S. 526. Druck von BS 62 a, Bl. 42 (Sommer und Winter) in: GW III (2. Aufl.), S. 522. Druck von BS 62 c, Bl. 3–11, 13, 15–18 und 24–33 in: GW III (2. Aufl.), S. 25–55 (vgl. TS17). Druck von BS 62 d, Bl. 38 (Das Sprungbrett) in: GW III (2. Aufl.), S. 524. Druck von BS 62 a, Bl. 37 („Nur auf die Bindung kommt es an!“) in: GW III (2. Aufl.), S. 521. Druck von BS 62 d, Bl. 44 (Persönlichkeiten) in: KW 11, S. 81.
Unter den umfänglichen Materialien, die zu den Sportmärchen überliefert sind, bilden die Ansätze von TS1 die früheste Kompilation. Genetisches Material vor dieser, etwa zur Genese einzelner Märchen oder Entwürfe zur Anordung der Texte, liegt nicht vor, was vermutlich auf Überlieferungsverluste zurückzuführen ist. Einige hs. Entwürfe dürften zumindest zum Zeitpunkt der Editionen Traugott Krischkes noch existiert haben, wie der Abdruck eines Strukturplans in der Kommentierten Werkausgabe belegt (vgl. KW 11, S. 265f.; vgl. dazu den Kommentar zu TS16). „Sportmärchen“ ist in TS1/A2 mit einiger Wahrscheinlichkeit noch nicht der Titel des gesamten Werkprojekts, wie aus der Gliederung des Inhaltsverzeichnisses hervorgeht, wo „Sportmärchen“, neben „Sportlegenden“ und „Aus Leichtathletikland“, nur einer von drei gleichwertigen Teiltiteln ist (vgl. BS 62 d, Bl. 1f. und die Anmerkungen im Folgenden). Möglicherweise hat TS1/A2 den Titel „Sportmärchen und Verwandtes“ getragen. Diese Bezeichnung verwendet Horváth in dem für die Eintragung von Sportmärchen im Poesiealbum von Felizia Seyd adaptierten Titel (vgl. TS15/BS 62 e, S. 2). Die Konstitution von TS1 ist komplex. Da Horváth TS1/A2 später vollständig aufgelöst und dessen Blätter für die veränderte Zusammenstellung von TS17 benutzt hat,
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Chronologisches Verzeichnis
muss die Textstufe aus den dahin weitergewanderten Blättern erschlossen werden (vgl. auch den Kommentar zu TS17 sowie die Informationsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 697). Einige der in TS1/A2 enthaltenen Sportmärchen sind dabei nicht übernommen worden und die entsprechenden Blätter verloren gegangen. Aus der Rekonstruktion wird deutlich, dass es sich hier um die Märchen Die Regel, Die drei Gesellen, Das Sprungbrett, „Nur auf die Bindung kommt es an!“, Der Fallschirm, Die beiden Magenschwinger, Persönlichkeiten sowie Sommer und Winter gehandelt haben muss. Diese Märchen können wiederum eindeutig aus Durchschlägen erschlossen werden, die separat in TS2 bearbeitet worden sind und von den in TS1 verwendeten Blättern abstammen. In einigen Fällen muss auf andere Durchschläge zurückgegriffen werden, die Horváth als Einzeltexte aus der Kompilation gelöst hat. Sie weisen zwar keine eindeutigen Spuren aus der Bearbeitung von TS1/A2 bzw. TS2 auf, sind aber materiell eindeutig auf diese zu beziehen. Von den TS17 konstituierenden 34 Blatt der Mappe BS 62 c weisen insgesamt 24 eine gestrichene Paginierung in grüner Tinte, die aus ihrer ursprünglichen Verwendung in TS1/A2 stammt (BS 62 c, Bl. 3–11, 13, 15–18 und 24–33), und eine daraus zu erschließende andere Anordnung der Einzeltexte auf. Diese Paginierung stimmt exakt mit den auf einem Inhaltsverzeichnis ebenfalls mit grüner Tinte vermerkten Seitenzahlen überein, das materiell (Durchschlag, Lochung am linken Blattrand) zu TS2 zu rechnen ist (TS2/BS 62 d, Bl. 1f.). Von den in TS17 beigefügten Blättern unterscheiden sich die aus TS1/A2 stammenden darüber hinaus durch eine wesentlich sattere Färbung der Typen. Möglicherweise hat Horváth die in TS17 neu hinzugefügten Blätter mit einem bereits stark beanspruchten Farbband getippt. Bei TS2 handelt es sich um einen Durchschlag der Blätter von TS1/A2, der vermutlich einmal vollständig vorgelegen hat und Horváth als Zweit- bzw. Arbeitsexemplar gedient hat (zu den Details der materiellen Beschaffenheit und der Konstitution von TS2 vgl. den Kommentar dort). Mehrere der überlieferten Blätter tragen in einer ersten Eintragungsschicht in grüner Tinte eine Paginierung, die mit dem Inhaltsverzeichnis auf BS 62 d, Bl. 1f. korrespondiert. Besonders anschaulich ist die Kongruenz der Blätter beim Märchen Legende vom Fußballplatz, das sowohl in TS1/A2 und TS17 (BS 62 c, Bl. 6–10) als auch in TS2 (BS 62 a, Bl. 1–5) separat vorliegt. Die Blätter in TS2 lassen sich dabei eindeutig als Durchschläge der in TS1/A2 bzw. TS17 enthaltenen ausmachen; ein ähnlicher Fall liegt auch bei Der große und der kleine Berg vor (TS1/A2 und TS17/BS 62 c, Bl. 15f. sowie TS2/BS 62 a, Bl. 44f.). Aus all dem lässt sich schließen, dass die in TS17 nicht mehr enthaltenen, in TS2 aber noch vorhandenen Märchen Teil von TS1/A2 waren und TS1/A2 und TS2 zumindest in der typografischen Grundschicht identisch sind. Zum Märchen Vom artigen Ringkämpfer, das in TS17 in einer neu erstellten Fassung vorliegt (vgl. TS17/BS 62 c, Bl. 12), verfügt TS2 nur über eines von ursprünglich zwei Blättern, das über seine Paginierung eindeutig auf TS1 rückbezogen werden kann (BS 62 d, Bl. 51). Dieses Märchen hat Horváth mit TS4 als Einzeltext verfertigt. Er hat dafür wiederum einen Durchschlag von TS1 benutzt, wie der Vergleich des in TS2 vorliegenden Blattes mit dem entsprechenden Blatt TS4/BS 62 d, Bl. 8 zeigt, womit sich ein glatter Textanschluss von TS4/BS 62 d, Bl. 7 zu TS2/BS 62 d, Bl. 51 herstellen lässt. Damit liegt in TS4 der fehlende Text von TS2 bzw. TS1/A2 vor und kann für die Rekonstruktion von TS1/A2 herangezogen werden. Das Märchen Die beiden Magenschwinger wiederum liegt nur in einem Durchschlag vor, der eine Einrichtung als Einzeltext aufweist (vgl. TS7). Eintragungen bzw. wie im Falle von Vom artigen Ring-
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Sportmärchen
kämpfer Textübergänge, die diesen explizit an TS1/A2 zurückbinden würden, liegen hier nicht vor. Der Durchschlag entspricht indes materiell den anderen von TS1/A2 abstammenden und als Einzeltext verfertigten Durchschlägen (violettes Farbband, vgl. TS4–TS6). Da das Märchen unter diesem Titel im Konvolut sonst nicht mehr vorkommt (vgl. demgegenüber unter dem Titel „Rechts und links“ den Text in TS20/BS 62 a, Bl. 17), kann TS7 mit einiger Sicherheit zur Rekonstruktion von TS1/A2 herangezogen werden. Ein gesonderter Fall liegt bei dem Märchen Persönlichkeiten vor, das in TS1/A2 allein als Fotokopie überliefert ist, die vermutlich während der Bearbeitung des Nachlasses im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, angefertigt wurde. Der Verbleib des Originals ist unbekannt. Diesen Text hat Horváth auch mit seinem Namen versehen, was ihn zunächst als unabhängigen Einzeltext auszeichnen würde. Eine gestrichene Paginierung „17“ in der rechten oberen Ecke lässt aber erkennen, dass das Blatt ursprünglich Teil von TS1 war. Von diesem Blatt existiert schließlich auch ein Durchschlag ohne hs. Eintragungen (BS 62 a, Bl. 41), der aber die materielle Zugehörigkeit der Fotokopie zum Konvolut über die anderen Merkmale hinaus belegt. Beide Ansätze von TS1 können damit nahezu vollständig aus TS17 konstituiert und unter Zuhilfenahme von TS2, TS4 und TS7 weiter rekonstruiert werden. Die Reichweite der Korrekturschicht lässt sich zum Teil anhand eines Vergleichs der in TS2 wie TS1/A2 bzw. TS17 vorliegenden Durchschläge erschließen. Da etwa in beiden Abschriften von Legende vom Fußballplatz wie von Der große und der kleine Berg identische hs. Korrekturen in grüner Tinte vorliegen, kann im Falle von aus TS2 erschlossenen Märchen in TS1 eine Übereinstimmung plausibel angenommen werden. Kleinere Abweichungen der Korrekturschicht, wie sie etwa bei Legende vom Fußballplatz auf den in TS2 wie TS17 erhaltenen Blättern vorliegen, machen hierbei die erst in TS17 vorgenommenen Eintragungen kenntlich, die jedoch nur von sehr geringem Umfang sind. Weiteren Aufschluss hierzu geben auch die Eintragungen Horváths in das Poesiealbum von Felizia Seyd (TS15): So ist etwa im Märchen Der sichere Stand auf TS1/A2 bzw. TS17/BS 62 c, Bl. 5 „grinsend“ zu „schmunzelnd“ korrigiert. Da Horváth in TS15 aber noch entsprechend der Grundschicht „grinsend“ schreibt, kann die Korrektur mit hoher Wahrscheinlichkeit erst in der Kompilationsphase von TS17 angesetzt werden (vgl. zu den Korrekturschichten auch die Ausführungen zu Start und Ziel im Folgenden). Trotz der Möglichkeit, die Ansätze von TS1 unter Zuhilfenahme von TS2, TS4, TS7 und TS17 zu rekonstruieren, können jeweils nur fragmentarische Fassungen hergestellt werden. Zum einen fehlen die im Inhaltsverzeichnis BS 62 d, Bl. 1f. vermerkten Zwischenblätter, mit denen Horváth die Kompilation in „Sportmärchen“ (Pag. 4), „Drei Sportlegenden“ (Pag. 28) und „Aus Leichtathletikland“ (Pag. 38) unterteilt hat. Zum anderen ist das Märchen Aus Leichtathletikland nur fragmentarisch überliefert. In TS17 stammen hier allein die Blätter BS 62 c, Bl. 32 und 33 eindeutig aus TS1/A2, wie an der korrigierten Paginierung in grüner Tinte zu ersehen ist. Das erste und letzte Blatt des Märchens in TS17 (BS 62 c, Bl. 31 und 34) sind völlig neu erstellt worden. Sein Schluss in TS1/A2 kann zumindest teilweise aus TS2 rekonstruiert werden, wo sich hierzu zwei Durchschlagsblätter finden. Eines davon, BS 62 a, Bl. 46, wurde in der Blattmitte beschnitten, es schließt aber textlich glatt an BS 62 a, Bl. 47 an, das eine zum Inhaltsverzeichnis von BS 62 d, Bl. 1f. passende Paginierung aufweist. Bl. 46 setzt mit der „Randbemerkung“ ein, da aber der abgetrennte obere Teil nicht erhalten ist, fehlt in TS1/A2 die letzte Passage des vorangehenden Textes anschließend an „Hochsprung einen hoch-“ (TS1/A2 und TS17/BS 62 c, Bl. 33). Zum ers-
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ten Blatt des Märchens liegt keinerlei auf TS1/A2 bzw. TS2 beziehbarer Durchschlag vor. Zuletzt muss für die vollständige Kompilation auch ein Titelblatt vorgelegen haben, was aus der Paginierung des Inhaltsverzeichnisses BS 61 d, Bl. 1f. folgt, die mit Pag. 2 einsetzt. Da das Inhaltsverzeichnis „Sportmärchen“ nur als einen von mehreren Teiltiteln anführt, ist davon auszugehen, dass die Kompilation in TS1 einen anderen Gesamttitel getragen haben muss, der vermutlich „Sportmärchen und Verwandtes“ gelautet hat (vgl. die Ausführungen oben sowie TS15/BS 62 e, S. 2). Der Zusammenhang der die beiden Ansätze von TS1 konstituierenden Blätter ist, wie ausgeführt, durch eine fortlaufende Paginierung in grüner Tinte gegeben, die mit den auf dem Inhaltsverzeichnis von BS 62 d, Bl. 1f. eingetragenen Seitenzahlen eindeutig übereinstimmt. TS1/A2 unterscheidet sich von A1 allein durch die Hinzufügung von zwei Märchen, Start und Ziel (BS 62 c, Bl. 4) sowie Was ist das? (BS 62 c, Bl. 17). Das lässt sich an ihrer jeweiligen Paginierung (8a auf BS 62 c, Bl. 4 und 12a auf BS 62 c, Bl. 17) erkennen. In das Inhaltsverzeichnis auf BS 62 d, Bl. 1 hat Horváth schließlich beide Märchen hs. nachgetragen. Horváth hat in TS1, anders als in TS17 und TS20, seine Texte in drei mit römischen Ziffern nummerierte Gruppen unterteilt: „I. Sportmärchen“ (BS 62 d, Bl. 1), „II. Drei Sportlegenden“ und „III. Aus Leichtathletikland“ (ebd., Bl. 2). Unter den „Sportmärchen“ sind, in der Fassung von A2, folgende Titel aufgelistet: „Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes“, „Der sichere Stand“, „Die Regel“, „Start und Ziel“, „Die drei Gesellen“, „Das Sprungbrett“, „Der grosse und der kleine Berg“, „Was ist das?“, „‚Nur auf die Bindung kommt es an!‘“, „Der Fallschirm“, „Die beiden Magenschwinger“, „Persönlichkeiten“, „Sommer und Winter“, „Stafetten“, „Aus einem Rennradfahrerfamilienleben“, „Begegnung in der Wand“, „Die Mauerhakenzwerge“, „Die Eispickelhexe“, „Die Beratung“ und „Regatta“. Unter dem zweiten Teiltitel „Drei Sportlegenden“ stehen die Titel „Legende vom Fussballplatz“, „Vom artigen Ringkämpfer“ und „Vom unartigen Ringkämpfer“. Der letzte Teiltitel „Aus Leichtathletikland“ bezeichnet allein den in TS17 wie TS20 aufgenommenen Text mit selbigem Titel. Einen Großteil der hier versammelten Texte übernimmt Horváth in wechselnder Anordnung in die später entstandenen Kompilationen, einige scheiden in TS17 aus, werden aber zuletzt in TS20 wiederaufgenommen (vgl. die Kommentare dort). Nur in TS1/A2 Teil einer Kompilation sind die Märchen Die drei Gesellen, Das Sprungbrett, „Nur auf die Bindung kommt es an!“, Der Fallschirm und Sommer und Winter. Von diesen Märchen ist auch keines im Poesiealbum von Felizia Seyd eingetragen. Die meisten liegen aber als separate Einzeltextabschriften vor (vgl. TS6, TS10, TS12 und TS19), mit Ausnahme von Der Fallschirm, das im gesamten Konvolut nur in TS1/A2 bzw. TS2 belegt ist. Von vielen der später in anderen Konvoluten verwendeten Märchen liegen weitere Durchschläge bzw. neue Abschriften vor, die entweder zu stark fragmentarischen Neukompilationen gehören (vgl. TS16) oder als eigenständige Texte (vgl. TS4, TS5, TS7–TS9, TS11, TS13, TS14, TS18 und TS21–TS27) gedacht waren. Mehrere Blätter des Konvoluts weisen kleinere Korrekturen in grüner Tinte auf. Anhand dieser Korrekturen und der Identifizierung der von TS1/A2 abstammenden Durchschläge lässt sich die genetische Abfolge der folgenden Textstufen absichern. So korrigiert Horváth beispielsweise in Start und Ziel auf BS 62 c, Bl. 4 „sprechen“ zu „plaudern“. Diese Korrektur übernimmt er auch in die hs. Abschrift im Poesiealbum von Felizia Seyd (TS15), das die genetisch folgende Fassung enthält, und in die stark fragmentarische Kompilation TS16. In TS17 ist materiell dasselbe Blatt wie in TS1/A2 enthalten, die Korrektur zu „plaudern“ entstammt somit der Bearbeitung von TS1/A2
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(vgl. die Ausführungen zur Feststellung der Korrekturschicht anhand von Der sichere Stand oben). Auskunft über die genetischen Beziehungen der Textstufen gibt auch die Informationsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes (vgl. S. 697). Zu mehreren Märchen hat Horváth im Inhaltsverzeichnis BS 62 d, Bl. 1f. Angaben zu ihrer Publikation eingefügt. Diese Anmerkungen sind vermutlich mit einigem zeitlichen Abstand zur Entstehung der Texte eingetragen worden. Entsprechend gekennzeichnet sind die Texte Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes, Der sichere Stand, Start und Ziel, Der große und der kleine Berg, Was ist das?, Aus einem Rennradfahrerfamilienleben, Begegnung in der Wand, Die Mauerhakenzwerge, Die Eispickelhexe, Die Beratung, Legende vom Fußballplatz, Vom artigen Ringkämpfer und Vom unartigen Ringkämpfer. An Zeitschriften und Zeitungen sind „Simpl.“ (Simplicissimus), „B.Z.a.M.“ (Berliner Zeitung am Mittag) und „Berg“ (gemeint ist vermutlich die Illustrierte Der Berg) angeführt. Während sich die im Simplicissimus und der B.Z. am Mittag erschienenen Drucke eindeutig nachweisen lassen (vgl. D1/TS28–D5/TS32), ist der Abdruck bei den laut Horváths Eintragungen in Der Berg erschienenen Texten schwieriger nachzuvollziehen. Hier kann nur das Märchen Die Mauerhakenzwerge in einer Ausgabe von Der Berg aus dem Dezember 1927 (vgl. D11/TS37) belegt werden. Der Berg stammt aus dem Alpenfreund-Verlag, der auch die Zeitschrift Der Alpenfreund verlegt hat, in der das Märchen satzidentisch bereits im November 1927 erschienen ist (vgl. D10/TS37). Dort sind im Jahre 1928 schließlich auch Der große und der kleine Berg, Die Beratung und Die Eispickelhexe unter dem Titel „Bergsteiger-Märchen“ (vgl. D12/TS38) erschienen. Weder in Der Berg noch in Der Alpenfreund sind indes Belege für einen Abdruck von Der sichere Stand und Begegnung in der Wand zu finden. Da sich Der Berg und Der Alpenfreund als Publikationen des Alpenfreund-Verlags anscheinend teilweise ihren Inhalt teilten, ist die Vermutung naheliegend, dass die beiden anderen von Horváth mit „Berg“ markierten Texte in anderen Zeitschriften oder Anthologien dieses Verlags erschienen sind. Belege hierfür konnten aber bisher keine gefunden werden. Sämtliche nachweisbaren Publikationen, die diesen Eintragungen Horváths entsprechen, sind in der vorliegenden Transkription mittels Drucksigle im Apparat ausgewiesen. An den verschiedenen Druckvermerken irritiert auch der anscheinend hohe zeitliche Abstand zwischen den im Simplicissimus und der B.Z. am Mittag publizierten Märchen, wo zuletzt Legende vom Fußballplatz am 20. April 1925 erschienen ist (vgl. D5/TS32), und den frühestens Ende 1927 zu belegenden Märchen in Der Alpenfreund bzw. Der Berg. Einige der in D1–D5 vorliegenden Märchen wurden wiederum 1926 auch in der Berliner Volks-Zeitung veröffentlicht (vgl. D6/TS33–D8/TS35), was der Autor aber nicht vermerkt hat. Dass Horváth das Inhaltsverzeichnis auf BS 62 d, Bl. 1 außerdem bis ins Jahr 1928 verwendet hat, scheint wenig wahrscheinlich. Möglicherweise hat er aber auf BS 62 d, Bl. 1f. auch nur vermerkt, welche Zeitung bzw. Zeitschrift prinzipiell seine Märchen zum Druck angenommen hat, ungeachtet eines tatsächlichen Abdrucks. Das würde gegebenenfalls auch die Diskrepanz zwischen dem Vermerk zum Abdruck von Die Mauerhakenzwerge in Der Berg (D11) und ihrem tatsächlichen Erstdruck in Der Alpenfreund (D10) erklären. Verunklart wird die Situation schließlich aber auch durch einen Durchschlag des Inhaltsverzeichnisses der genetisch letzten Kompilation TS20/BS 62 b [2], Bl. 2. Dort hat Horváth wiederum nur die 1924 publizierten Märchentexte mit Bleistift markiert (vgl. den Kommentar zu TS20).
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T2 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 1–5, 33, 34, 36, 37, 42–47, ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 1, 2, 38, 39, 51, 52 Insgesamt 21 Blatt, davon 9 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), 9 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (blau), 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (blau), 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (185 × 222 mm), Durchschlag (blau), geschnitten, Blätter gelocht, hs. Eintragungen mit grüner und schwarzer Tinte, Bleistift sowie rotem Buntstift, hs. Paginierung 6–10 und jeweils gestrichene hs. Paginierung 29–33, 5–9 auf BS 62 a, Bl. 1–5 sowie gestrichene hs. Paginierung 6–9 auf BS 62 a, Bl. 1–4, hs. Paginierung 7, 8 auf BS 62 a, Bl. 33, 34, hs. Paginierung 9, 13 auf BS 62 a, Bl. 36, 37, hs. Paginierung 18, 14 auf BS 62 a, Bl. 42, 43, hs. Paginierung 16, 17 und gestrichene hs. Paginierung 11, 12 sowie 15, 16 auf BS 62 a, Bl. 44, 45, hs. Paginierung 5 und gestrichene hs. Paginierung 43 auf BS 62 a, Bl. 47, hs. Paginierung 2, 3 auf BS 62 d, Bl. 1, 2, hs. Paginierung 10 auf BS 62 d, Bl. 38, gestrichene hs. Paginierung 17 auf BS 62 d, Bl. 44, hs. Paginierung 13 und gestrichene hs. Paginierung 35, 12 auf BS 62 d, Bl. 51, hs. Paginierung 37 auf BS 62 d, Bl. 52 TS2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 62 a, Bl. 33, 34, 36, BS 62 d, Bl. 38, BS 62 a, Bl. 44, 45, 37, 43, 42, 1–5, BS 62 d, Bl. 51, 52, BS 62 a, Bl. 46, 47 (nicht gedruckt)
Mit TS2 liegen mehrere Durchschläge vor, die von den in TS1 verwendeten Blättern angefertigt worden sind, sowie eine Menge an Durchschlägen nicht überlieferter Blätter aus TS1, die in der Umarbeitung von TS1/A2 zu TS17 verloren gegangen sind. Diese in TS2 vorliegenden Blätter können zur Rekonstruktion von TS1 herangezogen werden (vgl. den Kommentar zu TS1). Die Übereinstimmung dieser Blätter mit jenen von TS1 lässt sich anhand der Märchen Der große und der kleine Berg (TS2/BS 61 a, Bl. 44f. mit TS1/A2/BS 62 c, Bl. 15f.) und Legende vom Fußballplatz (TS2/BS 62 a, Bl. 1–5 mit TS1/A2/BS 62 c, Bl. 6–10) erschließen, wo sowohl Typoskript wie Durchschlag vorliegen. Die in TS2 verwendeten Blätter weisen eine charakteristische Lochung am linken Blattrand auf, wodurch sich mehrere andere Blätter im Konvolut der Sportmärchen dieser Bearbeitung zuordnen lassen und als Durchschläge von in TS1 nicht mehr erhaltenen Blättern identifiziert werden können. Vermutlich aufgrund weiterer Überlieferungsverluste liegt mit TS2 letztlich eine stark fragmentarische Fassung vor. Erhalten sind die Märchen Die Regel, Die drei Gesellen, Das Sprungbrett, Der große und der kleine Berg, „Nur auf die Bindung kommt es an!“, Der Fallschirm, Sommer und Winter, Legende vom Fußballplatz, sowie je ein Fragment von Vom artigen Ringkämpfer und Vom unartigen Ringkämpfer und von Aus Leichtathletikland. Der wichtigste Bestandteil indes ist das auf den Blättern BS 62 d, Bl. 1f. erhaltene Inhaltsverzeichnis. Hier hat Horváth sämtliche Märchen dieser Kompilation samt Seitenzahlen eingetragen. Diese Seitenzahlen stimmen mit der ursprünglichen Paginierung der Blätter aus der Mappe BS 62 c überein, die dort später für TS17 teilweise korrigiert wurde. Es handelt sich damit also um das Inhaltsverzeichnis, das auch der Anordnung von TS1/A2 zugrunde liegt. Nachträglich hs. eingefügt sind hier überdies die Märchen Start und Ziel und Was ist das?, womit sich die Ansätze von TS1 bestimmen lassen. Schließlich finden sich auf dem Blatt mehrere Vermerke zum Abdruck einzelner Sportmärchen (vgl. dazu den Kommentar zu TS1). Ursprünglich dürfte Horváth die Blätter von TS2 als eine Art Arbeitsfassung verwendet haben, in der er neue Anordnungen der Sportmärchen ausprobiert hat. Besonders deutlich lässt sich dies an der Paginierung von Legende vom Fußballplatz beobachten (BS 62 a, Bl. 1–5). Mit grüner Tinte sind auf diesen Blättern die Seitenzahlen 29–33 eingetragen, was dem Inhaltsverzeichnis BS 62 d, Bl. 1f. sowie einer ersten Paginierung auf TS1/A2/BS 62 c, Bl. 6–10 entspricht. Diese Paginierung wurde
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Sportmärchen
zuerst mit rotem Buntstift zu 5–9 und dann in zwei Anläufen mit Bleistift zu 6–10 korrigiert. Sie entspricht damit der Paginierung von TS17, wohin die entsprechenden Blätter aus TS1/A2 (BS 62 c, Bl. 6–10) weitergewandert sind. In TS17 hat Horváth die in TS1/A2 gesetzte Paginierung schließlich mit grüner Tinte adaptiert. Ähnliche Korrekturen liegen bei den Märchen Der große und der kleine Berg (TS2/BS 62 a, Bl. 44f.) und einem Blatt von Der unartige Ringkämpfer (TS2/BS 62 d, Bl. 51) vor. Ein Blatt zum Märchen Aus Leichtathletikland weist eine Korrektur der Seitenzahl in schwarzer Tinte auf, die jedoch nicht mit der von TS17 übereinstimmt (TS2/BS 62 a, Bl. 47). Diese Korrekturen ordnen TS2 konzeptionell zwischen den Kompilationen von TS1 und TS17 ein. Ihre genaue Position in der genetischen Reihe ist indes nicht mit Sicherheit festzulegen. Basierend auf den Durchschlägen von TS1 hat Horváth einige der Märchen als Einzeltexte abgefasst, die genetisch vor TS17 zu reihen sind und vermutlich als Vorlagen für Zeitschriften gedacht waren (vgl. TS3–TS14). Die Fassung der Märchen im Poesiealbum von Felizia Seyd (TS15) ist, wie ein Textvergleich zeigt, ebenfalls vor TS17 entstanden. Überdies hat Horváth mit TS16 eine weitere Kompilation versucht, die sich sowohl von TS1 wie von TS17 unterscheidet, textlich aber eindeutig auf TS1 basiert. Es ist anzunehmen, dass TS2 in einem unmittelbaren Zusammenhang mit TS1 entstanden ist und später für die Überarbeitung hin zu TS17 nochmals zur Hand genommen wurde, wobei die entsprechenden Korrekturen der Paginierung sowie kleinere Eingriffe in den Text selbst entstanden sind (zur Abgrenzung der Korrekturschichten vgl. den Kommentar zu TS1 und TS15). Die nicht zuordenbare Korrektur der Paginierung auf BS 62 a, Bl. 47 könnte auch auf eine weitere, von TS17 unabhängige Bearbeitung des Konvoluts hindeuten, die sich aber nicht belegen lässt. T3 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 20–23 4 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Kopierstift, hs. Eintragungen mit Kugelschreiber von fremder Hand TS3 = Fassung (Korrekturschicht)
TS3 ist auf einem Durchschlag überliefert, der auf derselben Schreibmaschine wie TS1 entstanden ist, wie die mit angeschlagenen markanten Ober- und Unterlinien zeigen (vgl. den einführenden Kommentar zu den Sportmärchen). Das erste Blatt weist in der Grundschicht keinen Titel auf, von fremder Hand wurde später mit Kugelschreiber „Vom wunderlichen Herrn v. Bindunghausen“ darauf notiert. Diese Eintragung stammt vermutlich von Lajos von Horváth. Dabei dürfte es sich aber nicht um den von Horváth gewählten Titel handeln, da der Text von TS3 ab TS17 auf die beiden Märchen Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen und Wintersportlegendchen aufgeteilt wird (vgl. TS17/BS 62 c, Bl. 19–22). Im Zuge der teilweise erratischen Publikation verschiedener Fassungen einzelner Sportmärchen greift Horváth später auch auf den Text von TS3 zurück, den er leicht verändert unter dem Titel „Der Herr von Bindunghausen“ Ende 1926 im Simplicissimus veröffentlicht (vgl. D9/TS36). In TS3 liegt genuin neuer Text vor, im Inhaltsverzeichnis TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 d, Bl. 1f. sowie dem diesen Textstufen zugrunde liegenden Konvolut scheint dieses Märchen nicht auf. Der Text ist hier noch weitaus umfangreicher als in den späteren Fassungen mit dem Titel „Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen“ von TS17 und TS20 und weist sieben, mit römischen Ziffern nummerierte Abschnitte auf. Zum einen verfügt TS3 über einen später nicht enthaltenen, hier mit „II.“ nummerierten
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Chronologisches Verzeichnis
Abschnitt über einen Skisprung des Herrn von Bindunghausen bis auf die Philippinen (BS 62 a, Bl. 20f.). Zum anderen ist das Märchen Wintersportlegendchen hier noch ein integraler Bestandteil von Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen. In TS17 wie TS20 liegt dieses Märchen als eigenständiger Text vor. Weitere Unterschiede zwischen der frühen Fassung in TS3 und den späteren betreffen kleinere textliche Details. Wann genau TS3 entstanden ist, lässt sich abgesehen von einer Abgrenzung von TS1/A2 bzw. TS2 auf der einen und TS17 sowie TS20 auf der anderen Seite nicht mit Sicherheit bestimmen. T4 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 7, 8 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Paginierung 1, 2 TS4 = Fassung mit Werktitel „Vom artigen Ringkämpfer / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T5 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 36, 37 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (blau), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Paginierung 1, 2 TS5 = Fassung mit Werktitel „Die Regel / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T6 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 40 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte TS6 = Fassung mit Werktitel „‚Nur auf die Bindung kommt es an!‘ / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T7 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 39, 40, ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 42, 43 4 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1, 2 auf BS 62 d, Bl. 42, 43 TS7 = Fassung mit Werktitel „Die beiden Magenschwinger / von Ödön von Horváth“ konstituiert durch BS 62 d, Bl. 42, 43 (nicht gedruckt)
T8 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 46 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Nummerierung 4. TS8 = Fassung mit Werktitel „Persönlichkeiten / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T9 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 18 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Nummerierung 5. TS9 = Fassung mit Werktitel „Stafetten“ (nicht gedruckt)
T10 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 47 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Nummerierung 11. TS10 = Fassung mit Werktitel „Sommer und Winter / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
Mit TS4–TS10 liegen Durchschläge mehrerer Märchen von TS1 bzw. TS2 vor, die Horváth mittels einer hs. Namenseintragung als eigenständige Texte gekennzeichnet hat. TS4, TS5 und TS7 weisen darüber hinaus eine je separate Paginierung auf. Vermutlich waren sie zur Vorlage bei Zeitschriften bzw. Zeitungen gedacht. In einzelnen Fällen
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Sportmärchen
weicht der Text dieser Einzelfassungen von TS1 bzw. TS2 ab, da Horváth nicht überall die hs. Korrekturen von TS1/A2 bzw. TS2 in die Durchschläge übertragen hat. In diesem Konvolut liegen folgende Märchen vor: Vom artigen Ringkämpfer (TS4), Die Regel (TS5), „Nur auf die Bindung kommt es an!“ (TS6), Die beiden Magenschwinger (TS7), Persönlichkeiten (TS8), Stafetten (TS9) und Sommer und Winter (TS10). TS4 ist eine der Quellen für die Rekonstruktion von TS1, sie enthält als einzige Abschrift das erste Blatt des Märchens Vom artigen Ringkämpfer in der in TS1/A2 bzw. TS2 gültigen Fassung, TS4/BS 62 d, Bl. 7 (vgl. den Kommentar zu TS1). Die in TS5 vorliegende Fassung von Die Regel weist die in TS2 vorgenommene hs. Streichung von „(selbst der Gegner am anderen Ufer riss das Maul auf vor Staunen)“ auf TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 a, Bl. 33 nicht auf, wohl aber die Korrektur von „dieser“ zu „unser“ auf TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 a, Bl. 34. Die Fassung von „Nur auf die Bindung kommt es an!“ von TS6 liegt allein in der Grundschicht vor, die Korrektur von „Skiläufer“ zu „Schneeschuhläufer“ aus TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 a, Bl. 37 wurde hier nicht übernommen. Dieses Märchen liegt mit TS6 zum letzten Mal in der Genese der Sportmärchen vor und wird in keine der späteren Kompilationen (TS17 und TS20) mehr übernommen. Der titelgebende Satz „Nur auf die Bindung kommt es an“ findet indes in Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen Verwendung (vgl. TS3/BS 62 a, Bl. 20, TS17/BS 62 c, Bl. 20 und TS20/BS 62 b [1], Bl. 24). Die beiden Magenschwinger liegt in TS7 in Form zweier Durchschläge vor, von denen einer mittels Namenseintragung als Einzeltext gekennzeichnet ist (TS7/BS 62 d, Bl. 42f.). Sie sind ihrerseits eine der Quellen für die Rekonstruktion von TS1/A2. Dieses Märchen soll gemäß dem Inhaltsverzeichnis BS 62 d, Bl. 1 dort enthalten sein, ist aber in der fragmentarischen Kompilation TS2 nicht überliefert. Aufgrund der ähnlichen Schreibmaschinentype und des Umstands, dass dieses Märchen später ausschließlich unter dem Titel „Rechts und links“ in einer textlich adaptierten Fassung in TS20 vorkommt (vgl. TS20/BS 62 a, Bl. 17), kann eine Abstammung der Blätter von TS1/A2 plausibel vermutet werden. Die in TS8–TS10 versammelten Märchen Persönlichkeiten, Stafetten und Sommer und Winter sind einerseits anhand einer hs. Namenseintragung Horváths als Einzeltexte zu identifizieren, weisen aber andererseits auch eine separate Nummerierung in grüner Tinte auf. Das Märchen Persönlichkeiten (TS8) trägt hierbei die hs. Nummer 4, Stafetten (TS9) die Nummer 5 und Sommer und Winter (TS10) die Nummer 11. Diese Anordnung entspricht keiner der bekannten, möglicherweise stammen diese Blätter ebenfalls aus einer versuchten Neukompilation der Sportmärchen. Es ist jedoch nicht klar, ob sie zuerst als Einzeltexte und dann für eine Kompilation vorgesehen waren oder umgekehrt. Aufgrund ihrer materiellen Nähe zu den übrigen Einzeltexten und angesichts anderer, klar als solche erkennbarer Neukompilationen (vgl. TS16), werden TS8–TS10 hier als Einzeltexte gewertet. Das Märchen Sommer und Winter ist mit TS10 zum letzten Mal in der Genese der Sportmärchen vertreten und wird in keine der späteren Kompilationen (TS17 und TS20) übernommen. T11 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 26–35 Insgesamt 10 Blatt, davon 8 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (violett), 2 Blatt unliniertes Papier, dünn, (286 × 222 mm), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Paginierung 1, 2 auf BS 62 d, Bl. 26, 27 TS11 = Fassung mit Werktitel „Die Regel von Ödön v. Horváth“ konstituiert durch BS 62 d, Bl. 26, 27 (nicht gedruckt)
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Chronologisches Verzeichnis
T12 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 59 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Paginierung 1 TS12 = Fassung mit Werktitel „Die drei Gesellen von Ödön v. Horváth“ (nicht gedruckt)
T13 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 45 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Paginierung 1 TS13 = Fassung mit Werktitel „Persönlichkeiten von Ödön v. Horváth“ (nicht gedruckt)
T14 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 5, 6, 9–14 8 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, Eintragungen von fremder Hand mit Bleistift, hs. Paginierung 1, 2 auf BS 62 d, Bl. 5, 6, hs. Paginierung jeweils 1, 2 von fremder Hand auf BS 62 d, Bl. 9–14 TS14 = Fassung mit Werktitel „Vom artigen Ringkämpfer von Ödön v. Horváth“ konstituiert durch BS 62 d, Bl. 5, 6 (nicht gedruckt)
Mit TS11–TS14 liegen vier Abschriften von Märchen aus TS1 bzw. TS2 vor. Im Unterschied zu TS4–TS10 handelt es sich dabei nicht um Durchschläge von in TS1 bzw. TS2 verwendeten Blättern, sondern um neu erstelltes Material. Alle Texte weisen eine Namenseintragung Horváths bereits in der masch. Grundschicht auf und tragen eine separate hs. Paginierung in grüner Tinte. Die Durchschläge BS 62 d, Bl. 9–14 von TS14/BS 62 d, Bl. 5f. tragen eine hs. Paginierung in Bleistift, die nicht von Horváths Hand stammt. Materiell wurde bei TS11–TS14 auch eine andere Schreibmaschine benutzt, bei der es sich vermutlich um ein ungarisches Fabrikat gehandelt hat, was an Doppelakuts anstelle von Punkten bei einigen „ö“-Typen zu erkennen ist. Außerdem hat diese Maschine über keine Type für runde Klammern verfügt, es wurden stattdessen konsequent Schrägstriche verwendet. In diesem Konvolut liegen folgende Märchen vor: Die Regel (TS11), Die drei Gesellen (TS12), Persönlichkeiten (TS13) und Vom artigen Ringkämpfer (TS14). Sowohl von TS11 als auch TS14 existieren mehrere Durchschläge, zu TS14 ist darüber hinaus kein erkennbares Originaltyposkript erhalten, hier sind alle überlieferten Blätter Durchschläge. Textlich entsprechen TS11–TS14 im Wesentlichen TS1 bzw. TS2, auch wenn einige der dort gesetzten hs. Korrekturen nicht übernommen worden sind. So fehlt in der Fassung von Die Regel (TS11) die Streichung von „(selbst der Gegner am anderen Ufer riss das Maul auf vor Staunen)“ (TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 a, Bl. 33), dafür ist die Änderung von „dieser“ zu „unser“ (TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 a, Bl. 34) hier in der Grundschicht umgesetzt. Diese von TS1/A2 divergierenden Eingriffe liegen auch in der Fassung des Märchens von TS5 vor, weshalb der Text von TS11 vermutlich auf TS5 basiert. In der Fassung von Die drei Gesellen (TS12) ist die Korrektur von „riesiger“ zu „pompöser“ aus TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 a, Bl. 36 umgesetzt. Dieses Märchen liegt mit TS12 zum letzten Mal in der Genese der Sportmärchen vor und wird in keine der späteren Kompilationen (TS17 und TS20) aufgenommen. Ebenfalls aus TS1/A2 umgesetzt ist die Vertauschung zweier Buchstaben am Schluss der Fassung von Persönlichkeiten (TS13), wo indes kleinere textliche Veränderungen („verhüten“ in TS13 statt „behüten“ in TS1/BS 62 d, Bl. 44, „eben“ in TS13 statt „oben“ in TS1) vorliegen. Diese Eingriffe sind in TS1/A2 sowie in der Einzeltextfassung des Märchens in TS8 nicht dokumentiert, wirken sich aber sowohl in der Abschrift für Felizia Seyd (vgl. TS15/BS 62 e, S. 56–58) als auch in der mit „Was das romantische Rückenschwimmen erzählt“ betitelten Fassung in
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TS20/BS 62 a, Bl. 25 aus. Anhand dieser Indizien lässt sich die hier vorgenommene Reihung der Textstufen absichern (vgl. den Kommentar zu TS15). Die Fassung von Vom artigen Ringkämpfer ist gegenüber der von TS1/A2 bzw. TS2 bzw. TS4 (vgl. die Anmerkungen zur Konstitution des Textes im Kommentar zu TS1) unverändert. H1 = ÖLA 3/W 188 – BS 62 e Poesiealbum von Felizia Seyd, 31 Blatt unliniertes Papier, in goldverziertem Leder gebunden, grüne Tinte, hs. Eintragungen in schwarzer Tinte von Felizia Seyd sowie von fremder Hand TS15 = Fassung mit Werktitel „Legende vom Fussballplatz und diejenigen meiner Sportmärchen die wie ich glaube meinem Lizulein am meisten zusagen werden die ich für sie schrieb unter dem Titel Sportmärchen und Verwandtes von ihrem Ödön“ (Korrekturschicht) Druck als Faksimile in: Horváth-Blätter 2/1984, S. 8–68.
Für seine Jugendfreudin Felizia Seyd hat Horváth mehrere seiner Sportmärchen in ein Poesiealbum eingetragen, das den einzigen erhaltenen hs. Textträger des Konvoluts ausmacht. TS15 führt dementsprechend auch einen adaptierten Titel: „Legende vom Fussballplatz und diejenigen meiner Sportmärchen die wie ich glaube meinem Lizulein am meisten zusagen werden die ich für sie schrieb unter dem Titel Sportmärchen und Verwandtes von ihrem Ödön“ (BS 62 e, S. 2). Möglicherweise hat es sich bei „Sportmärchen und Verwandtes“ um den nicht überlieferten Titel der Kompilation von TS1/A2 gehandelt (vgl. den Kommentar dort). Für die Datierung der Werkgenese besonders relevant ist eine ergänzende Widmung am Schluss des Poesiealbums, die den Monat September 1924 als Abfassungszeitraum nennt (vgl. ÖLA 3/W 188 – BS 62 e, S. 60). Damit liegt das einzige positive Datum abseits der Druckgeschichte vor, mit dem die Genese der Sportmärchen datiert werden kann. Folgende Märchen hat Horváth in das Poesiealbum eingetragen: Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes, Der sichere Stand, Start und Ziel, Was ist das?, Stafetten, Aus einem Rennradfahrerfamilienleben, Begegnung in der Wand, Die Mauerhakenzwerge, Die Eispickelhexe, Die Beratung, Legende vom Fußballplatz, Vom unartigen Ringkämpfer, Persönlichkeiten und Regatta. Der Text von TS15 beruht dabei vor allem auf TS1/A2 bzw. TS2 und den davon erstellten Abschriften TS11–TS14. Besonders deutlich ist dies anhand von Persönlichkeiten zu erkennen, das TS15 bereits konzeptionell von TS17 abgrenzt, da das Märchen in TS17 nicht enthalten ist und es in TS20 unter dem neuen Titel „Was das romantische Rückenschwimmen erzählt“ firmiert. In der mit TS13 vorliegenden Fassung des Märchens hat Horváth zwei kleine Veränderungen vorgenommen („verhüten“ in TS13 statt „behüten“ in TS1/A2/BS 62 d, Bl. 44, „eben“ in TS13 statt „oben“ in TS1/A2), die auch in TS15/BS 62 e, Bl. 56f. eingehen. Die Unterschiede zu TS17 lassen sich auch eindeutig über die in TS15 eingetragene Fassung von Vom unartigen Ringkämpfer ausmachen, hier realisiert Horváth noch den Text von TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 d, Bl. 52. Dieses Blatt wird in TS17 durch BS 62 c, Bl. 14 ersetzt, das textlich nahtlos an das bereits in TS1/A2 vorhandene Blatt BS 62 c, Bl. 13 anschließt und einen veränderten Text aufweist. So heißt der in TS1/A2 bzw. TS2 sowie TS15 unbenannte Gasthof in TS17 „zum Asketen Sport“ (vgl. dazu auch Die drei Gesellen, TS1/A2/BS 62 a, Bl. 36) und trinkt der Ringkämpfer statt „Burgunderwein“ (TS1/A2/BS 62 d, Bl. 52 und TS15/BS 62 e, S. 54) dort „Ungarwein“ (TS17/BS 62 c, Bl. 14). Die Eintragung der Texte im Poesiealbum ist deshalb nach TS1/A2 bzw. TS2 und vor TS17, im Umfeld von TS11–TS14 anzunehmen. Textliche Unterschiede zwischen TS1,
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Chronologisches Verzeichnis
TS15 und TS17 ermöglichen schließlich eine Differenzierung der Korrekturschichten auf den Blättern, die von TS1/A2 in TS17 übernommen worden sind. So hat Horváth beispielsweise das auf dem auch in TS17 eingehenden Blatt TS1/A2/BS 62 c, Bl. 5 eingefügte „nach“ in Der sichere Stand in TS15 realisiert. Die Korrektur von „sprechen“ zu „plaudern“ in Start und Ziel auf TS1/A2/BS 62 c, Bl. 4, das ebenfalls in TS17 weiterwandert, indes nicht. Daraus lässt sich schließen, dass die Einfügung in Der sichere Stand bereits in der Bearbeitung von TS1/A2, die Ersetzung in Start und Ziel wiederum erst in TS17 vorgenommen worden ist. An Korrekturen liegen in TS15 meist Sofortkorrekturen bei Schreibfehlern bzw. Einfügungen von beim Abschreiben übersehenen Wörtern vor. Auffällig ist indes eine Änderung in der Abschrift von Aus einem Rennradfahrerfamilienleben. Hier ersetzt Horváth auf TS15/BS 62 e, S. 16 „aus der Tasche zu ziehen“ mit „zu zücken“. Diese Adaption findet sich auch auf TS1/A2 bzw. TS17/BS 62 c, Bl. 24. Möglicherweise ist sie erst in TS15 entstanden und wurde von hier in den Text von TS17 übernommen. Zwei kleinere Abweichungen, die in den späteren Fassungen ohne Konsequenz bleiben, finden sich in Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes: In TS15 schreibt Horváth „grober grauer Mann“ (BS 62 e, S. 4) statt „grauer grober Mann“, außerdem erhängt sich das „Zeitschriftlein“ hier an einem „verschwiegenen“ (BS 62 e, S. 6) statt an einem „gewissen“ Orte wie in den übrigen Fassungen (vgl. etwa TS1/A2 bzw. TS17/BS 62 c, Bl. 3 und TS20/BS 62 a, Bl. 31).
T15 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 38, ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 3, 4, 22, 41, 67–101 Insgesamt 40 Blatt, davon 33 Blatt unliniertes Papier, dünn (292 × 228 mm), Durchschlag (violett), 6 Blatt unliniertes Papier, dünn (292 × 228), 1 Blatt unliniertes Papier (295 × 208 mm), Xerokopie, masch. Paginierung 4 auf BS 62 d, Bl. 22, masch. Paginierung 5 auf BS 62 a, Bl. 38 und BS 62 d, Bl. 41, masch. Paginierung 6 auf BS 62 d, Bl. 67, 72–77, masch. Paginierung 7 auf BS 62 d, Bl. 68, 78–83, masch. Paginierung 8 auf BS 62 d, Bl. 69, 84–89, masch. Paginierung 9 auf BS 62 d, Bl. 70, 90–95, masch. Paginierung 10 auf BS 62 d, Bl. 71, 96–101, masch. Paginierung 11, 12 auf BS 62 d, Bl. 3, 4 TS16 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 62 d, Bl. 22, BS 62 a, Bl. 38, BS 62 d, 67–71, 3, 4 (nicht gedruckt)
Bei TS16 handelt es sich um die Reste einer Kompilation der Sportmärchen, die Horváth vor der Umarbeitung von TS1/A2 zu TS17 separat erstellt hat. Folgende Märchen daraus sind überliefert: Start und Ziel (BS 62 d, Bl. 22), Der sichere Stand (BS 62 a, Bl. 38), Legende vom Fußballplatz (BS 62 d, Bl. 67–71), Regatta (BS 62 d, Bl. 3) und ein Fragment von Vom artigen Ringkämpfer (BS 62 d, Bl. 4). Die Zusammengehörigkeit der Blätter, die allein in der masch. Grundschicht vorliegen, lässt sich an der verwendeten Schreibmaschine ersehen. Sie unterscheidet sich aufgrund ihrer hohen, schmalen Type deutlich von den für die anderen Textstufen verwendeten Maschinen. Eine ähnliche Schreibmaschine ist im übrigen Nachlass auch für Arbeiten zum Roman Herr Reithofer wird selbstlos (vgl. etwa WA 14/K2/TS8) nachzuweisen, der wesentlich später, um 1928/29, entstanden ist. Konsequenzen für die Datierung von TS16 respektive für jene des Romans ergeben sich daraus aber nicht, da diese in beiden Fällen anderweitig gut abgesichert ist. Fast alle Märchen liegen in TS16 als Originaltyposkripte vor, Regatta indes nur als Fotokopie, die vermutlich während der Aufbewahrung des Nachlasses im Archiv der
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Sportmärchen
Akademie der Künste in Berlin angefertigt worden ist. Ein dazugehöriges Original ist im Nachlass nicht vorhanden. Zu Der sichere Stand liegt ein Durchschlag (BS 62 d, Bl. 41) vor, zu Legende vom Fußballplatz sind Durchschläge in sechsfacher Ausfertigung vorhanden (BS 62 d, Bl. 72–101). Warum Horváth eine derart große Menge an Durchschlägen für dieses Märchen angefertigt hat, ist unklar. Anhand der Übernahme von Korrekturen lässt sich TS1/A2 als Vorlage der Abschrift ausmachen. Alle Blätter weisen eine gleichgestaltete Paginierung in der masch. Grundschicht auf. Sie entspricht dabei aber schon der in TS17 gesetzten. Somit könnte es sich bei TS16 um eine Kompilation gehandelt haben, die Horváth basierend auf den in TS2 dokumentierten Umarbeitungen erstellt hat (vgl. den Kommentar dort), bevor er sich zu einer Wiederverwendung des Materials von TS1/A2 entschlossen hat (vgl. zur Veränderung der Abfolge der Märchen in den verschiedenen Kompilationen auch die Informationsgrafik Tab2 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 698f.). Möglicherweise war TS16 aber auch eine völlig eigenständige Entwicklung, die eine andere Anordnung und einen abweichenden Korpus von Märchen aufgewiesen hat. Ein Indiz dazu bietet ein in der Kurzprosa-Edition der Kommentierten Werkausgabe erwähntes und dort auch transkribiertes „hs Konzept“ (KW 11, S. 265), das im Nachlass nicht aufzufinden ist. Aus der Transkription dort lässt sich folgende geplante Reihung feststellen: Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes, Start und Ziel, Der sichere Stand, Legende vom Fußballplatz, Regatta, Vom artigen Ringkämpfer, Vom unartigen Ringkämpfer, Der große und der kleine Berg, Begegnung in der Wand, Die Mauerhakenzwerge, Die Eispickelhexe, Die Beratung, Wintersportlegendchen, Was ist das?, Stafetten, Aus einem Rennradfahrerfamilienleben, Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen und Aus Leichtathletikland (vgl. KW 11, S. 265f.). Aus den Angaben der Transkription in der Kommentierten Werkausgabe folgt, dass als drittes Märchen zunächst Das Sprungbrett (unter dem Titel „Das Wassersprungbrett“) vorgesehen war und die Positionen von Regatta und Der große und der kleine Berg vertauscht worden sind. Diese Anordnung ist bemerkenswert, da sie keiner der überlieferten Kompilationen entspricht. Während die Reihenfolge der Märchen bis Der große und der kleine Berg in diesem Konzept identisch mit der von TS17 ist, weicht sie danach merklich davon ab. Konzeptionell scheint das Konzept zwischen TS1/A2 und TS17 zu stehen, worauf vor allem die ursprünglich vorgesehenen Aufnahme von Das Sprungbrett, das mit TS17 ausscheidet, neben erst in TS17 enthaltenen Märchen wie Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen und Wintersportlegendchen zeigt. Gegenüber TS17 wie TS20 fehlt hier auch das Märchen Über das Meer. Von TS16 sind allein Märchen aus dem ersten Teil der Kompilation überliefert, die textlich vollständig mit TS17 übereinstimmt. Letztlich dürfte es sich bei TS16 aber um die Reste einer auf Grundlage dieses Konzepts erstellten vollständigen Kompilation der Sportmärchen gehandelt haben. T16 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 19, ÖLA 3/W 186 – BS 62 c, Bl. 1–34, ÖLA 3/ W 187 – BS 62 d, Bl. 49, 50, 53–55 Insgesamt 40 Blatt, davon 15 Blatt unliniertes Papier, dünn (283 × 218 mm), Durchschlag (violett), 14 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), Durchschlag (violett), 10 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), 1 Blatt unliniertes Papier (283 × 223 mm), Wasserzeichen „Manila Schreibmaschinen“, hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Paginierung 2–34 auf BS 62 c, Bl. 2–34, gestrichene hs. Paginierung 5, 8a, 6, 29–33, 27 auf BS 62 c, Bl. 3–11, gestrichene hs. Paginierung 36
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Chronologisches Verzeichnis
auf BS 62 c, Bl. 13, gestrichene hs. Paginierung 11, 12, 12a, 19 auf BS 62 c, Bl. 15–18, gestrichene hs. Paginierung 20–26 auf BS 62 c, Bl. 24–30, gestrichene hs. Paginierung 40, 41 auf BS 62 c, Bl. 32, 33 TS17 = Fassung mit Werktitel „Sportmärchen von Ödön von Horváth“ konstituiert durch BS 62 c, Bl. 1–34 (nicht gedruckt) Druck in: GW III, S. 25–55.
Mit TS17 liegt eine Neukompilation der Sportmärchen vor, wie sie sich bereits in der weiteren Bearbeitung der Blätter von TS2 abgezeichnet hat (vgl. den Kommentar dort). Horváth hat sein Vorhaben einer völlig neuen Abschrift in der Form von TS16 (vgl. den Kommentar dort) anscheinend wieder verworfen und für große Teile von TS17 auf das schon in TS1/A2 vorliegende Material zurückgegriffen. TS17 ließe sich deshalb auch als neuer Ansatz von TS1 deuten. Da aber eine große Zahl an Arbeiten dazwischen erfolgt ist und die vorgenommenen Änderungen teils gravierend sind, wird das Konvolut in dieser Form als separate Textstufe bewertet. Neue Abschriften liegen wieder in TS18–TS26 vor (vgl. v.a. die Kommentare zu TS18–TS20; zum genetischen Zusammenhang der Sportmärchen vgl. auch die Informationsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 697). Die genetische Reihenfolge der Textstufen bis TS17 lässt sich, abgesehen von der Korrektur der Paginierung auf den aus TS1/A2 weitergewanderten Blättern, auch über die Eintragung mehrerer Sportmärchen in das Poesiealbum von Felizia Seyd erschließen, das einige Korrekturen der in TS1 wie TS17 verwendeten Blätter umsetzt, andere aber nicht (vgl. den Kommentar zu TS15). TS17 ist noch im Laufe des Jahres 1924 entstanden. Wichtigstes Indiz dafür ist das Titelblatt (BS 62 c, Bl. 1), das mittels eines Blattes mit dem auffälligen Wasserzeichen „Manila Schreibmaschinen“ erstellt worden ist. Blätter mit diesem Wasserzeichen liegen im Nachlass ansonsten nur im Konvolut zu dem frühen Dramenprojekt Dósa vor, das ebenfalls auf 1924 zu datieren ist. Von den TS17 konstituierenden 34 Blatt der Mappe BS 62 c weisen insgesamt 24 Blatt eine gestrichene Paginierung in grüner Tinte auf, die aus ihrer ursprünglichen Verwendung in TS1/A2 stammt (BS 62 c, Bl. 3–11, 13, 15–18 und 24–33; vgl. auch den Kommentar dort). Mittels Änderungen an der Paginierung und der Hinzufügung weiterer Blätter erstellt Horváth in TS17 eine vollständig neue Kompilation. Das Inhaltsverzeichnis, das nun den Titel „Was es Alles gibt“ (TS17/BS 62 c, Bl. 2) trägt, spiegelt diese Veränderungen anschaulich wider. Horváth gibt die Unterteilung in „Sportmärchen“, „Drei Sportlegenden“ und „Aus Leichtathletikland“ aus TS1 auf (vgl. TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 d, Bl. 1f.). Unter dem nun gemeinsamen, auf einem separaten Titelblatt vermerkten Titel „Sportmärchen“ (TS17/BS 62 c, Bl. 1) sind folgende Märchen genannt: Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes, Start und Ziel, Der sichere Stand, Legende vom Fußballplatz, Regatta, Vom artigen Ringkämpfer, Vom unartigen Ringkämpfer, Der große und der kleine Berg, Was ist das?, Stafetten, Wintersportlegendchen, Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen, Über das Meer, Aus einem Rennradfahrerfamilienleben, Begegnung in der Wand, Die Mauerhakenzwerge, Die Eispickelhexe, Die Beratung und Aus Leichtathletikland (vgl. zur unterschiedlichen Anordnung der Sportmärchen in den Kompilationen die Informationsgrafik Tab2 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 698f.) Änderungen an der in TS1/A2 vorliegenden Paginierung kommen hier einerseits aufgrund der um zwei Blatt geringeren Titelei zustande. Auf dem in beiden Kompilationen ersten und auch materiell übernommenen Märchen Der Faustkampf, das
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Sportmärchen
Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes (TS1/A2 und TS17/BS 62 c, Bl. 3) etwa ist deshalb die Paginierung von 5 zu 3 korrigiert. Andererseits werden Märchentexte im Zuge ihrer materiellen Übernahme an andere Stellen verschoben. Am deutlichsten zeigt sich das an Legende vom Fußballplatz, das von den „Drei Sportlegenden“ aus TS1/A2/BS 62 d, Bl. 2 an die vierte Position vorrückt. Dementsprechend ist die Paginierung 29–33 der Blätter in TS1/A2 für TS17 zu 6–10 adaptiert. Wie der Vergleich mit TS1/A2 zeigt, wurden einige Märchen nicht übernommen: Die Regel, Die drei Gesellen, Das Sprungbrett, „Nur auf die Bindung kommt es an!“, Der Fallschirm, Die beiden Magenschwinger, Persönlichkeiten und Sommer und Winter. Einige dieser Texte wird Horváth in TS20 wieder in den Kreis der Sportmärchen aufnehmen, wo sie teilweise neue Titel tragen (vgl. „Rechts und links“ anstelle von „Die beiden Magenschwinger“ bzw. „Was das romantische Rückenschwimmen erzählt“ anstelle von „Persönlichkeiten“ in TS20/BS 62 a, Bl. 17 bzw. Bl. 25). Mit den Märchen Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen, Wintersportlegendchen und Über das Meer sind in TS17 neue Texte in die Sportmärchen integriert. Die Märchen Wintersportlegendchen und Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen gehen aus der mit TS3 vorliegenden unbetitelten Fassung hervor, in der beide noch einen gemeinsamen Text bildeten. Für Wintersportlegendchen übernimmt Horváth den mit römisch „VI.“ bezifferten Abschnitt aus TS3/BS 62 a, Bl. 22f., den er unter Heranziehung der „heiligen Herren, die, wenn Schneeflocken fallen, sich Skier unter die blossen Sohlen binden“ (TS3/BS 62 a, Bl. 22) aus dem vorangehenden Abschnitt zu einem eigenständigen Text amalgamiert. Für die in TS17 eingehende Fassung von Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen benutzt er den übrigen Text, aus dem er den dort zweiten Abschnitt entfernt, in dem der Herr von Bindunghausen einen Skisprung bis auf die Philippinen vollbringt (vgl. TS3/BS 62 a, Bl. 20f.). Einige weitere Passagen werden zugleich reformuliert (vgl. etwa die „Nixlein“ in TS3/BS 62 a, Bl. 21 mit TS20/BS 62 b [1], Bl. 25). Über das Meer liegt hier erstmalig in der Genese des Werkprojekts vor, hierzu sind keine früheren Fassungen bzw. Abschriften überliefert. In den aus TS1/A2 übernommenen Blättern hat Horváth im Rahmen von TS17 weitere Korrekturen vorgenommen, wie der Vergleich der jeweiligen Textzustände mit den in TS15, aber auch in TS11–TS14 bzw. TS16 festgehaltenen Fassungen zeigt. Diese betreffen meist Details: In Start und Ziel wird etwa „sprechen“ zu „plaudern“ (BS 62 c, Bl. 4) und in Der sichere Stand „grinsend“ zu „schmunzelnd“ (BS 62 c, Bl. 5) geändert. Bei den Blättern zu Legende vom Fußballplatz lassen sich die Korrekturen überdies durch den erhaltenen Durchschlag aus TS2 (BS 62 a, Bl. 1–5) differenzieren. Neuer Text bestehender Märchen liegt im Falle von Vom artigen Ringkämpfer und Vom unartigen Ringkämpfer vor. Das Blatt BS 62 c, Bl. 12, das Vom artigen Ringkämpfer enthält, ist vollständig neu getippt und trägt eine abweichende, gekürzte Fassung des zuvor in TS1/A2/BS 62 d, Bl. 7, 51 vorliegenden Textes, in der Horváth den gesamten Text von TS1/A2/BS 62 d, Bl. 51 weggelassen hat. Zum Märchen Vom unartigen Ringkämpfer liegt in TS17 ein neu erstelltes zweites Blatt BS 62 c, Bl. 14 vor, das textlich nahtlos an das bereits in TS1/A2 verwendete und hierher weitergewanderte Blatt BS 62 c, Bl. 13 anschließt. Der Gasthof, in den sich der Ringkämpfer begibt, trägt hier nun den Namen „zum ‚Asketen Sport‘“ (TS17/BS 62 c, Bl. 14, vgl. dazu auch Die drei Gesellen, TS1/A2/BS 62 a, Bl. 36), dort trinkt er „Ungarwein“ anstelle von „Burgunderwein“ (TS1/A2/BS 62 d, Bl. 52). Auch das letzte Blatt von Aus Leichtathletikland ist neu, dessen Text liegt in TS1/A2 auf einem beschnittenen sowie einem nur am Kopf beschriebenen Blatt (BS 62 a, Bl. 46f.) vor. Hier sind alle dort eingetra-
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genen Korrekturen sowie eine dort nicht vermerkte Änderung („wimmelte es vor Drachen“ auf TS1/A2/BS 62 a, Bl. 46 zu „herrschten noch Drachen“ auf TS17/BS 62 c, Bl. 34) umgesetzt und der Name „Juppiter Fürchtegott“ ergänzt. Alle Korrekturen und Änderungen auf den aus TS1/A2 übernommenen wie hier ausgetauschten Blättern sind in der vorliegenden Transkription in den Apparat von TS1/A2 integriert und mittels Sigle separat ausgewiesen. Die erst in TS17 eingefügten Märchen Wintersportlegendchen, Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen und Über das Meer finden sich textidentisch in TS20. Als einziges Märchen aus TS17 wird Der große und der kleine Berg nicht in TS20 aufgenommen. Von diesem Text liegen auch sonst keine weiteren Abschriften mehr vor, es scheidet aus der Genese der Sportmärchen aus. Auch zu TS17 liegen Durchschläge vor, allerdings bedeutend weniger als im Falle der übrigen Kompilationen, da die meisten Durchschläge der Blätter von TS17 schon aus der Arbeit an TS1/A2 stammen. Eindeutig zu TS17 gehören BS 62 d, Bl. 49f., ein Durchschlag der hier neu eingefügten Blätter von Aus Leichtathletikland, sowie mit BS 62 d, Bl. 53–55 ein Durchschlag von Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen. Die Blätter BS 62 d, Bl. 49f. zu Aus Leichtathletikland sind am jeweils linken Blattrand auffällig ausgefranst, was auf eine zerrissene Lochung hindeutet. Lochungen liegen im Konvolut sonst nur für die TS2 konstituierenden Durchschläge von TS1/A2 vor, wo aber auch eindeutig noch Blätter mit einer anderen Fassung von Aus Leichtathletikland vorgelegen haben (vgl. TS2/BS 62 a, Bl. 46f.). Möglicherweise hat Horváth auch schon vor der Kompilation von TS17 versucht, Aus Leichtathletikland zu überarbeiten, diese Blätter wären dann eventuell als Teil von TS2 zu sehen. Verlässliche textgenetische Indizien dafür fehlen aber. T17 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 24, 25 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1, 2 TS18 = Fassung mit Werktitel „Die Regel / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T18 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 35 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (286 × 222 mm), hs. Eintragungen mit grüner Tinte und Bleistift TS19 = Fassung mit Werktitel „Das Sprungbrett / von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht)
Mit TS18 und TS19 liegen Fassungen der Märchen Die Regel und Das Sprungbrett vor, die beide nicht in die Kompilation von TS17 aufgenommen worden sind. TS18 weist eine hs. Namenseintragung Horváths sowie eine separate Paginierung in Bleistift auf und TS19 eine Namenseintragung in Bleistift sowie hs. Eintragungen in grüner Tinte, was sie als eigenständige Texte ähnlich TS4–TS14 kennzeichnet. Beide sind auf einer ähnlichen Schreibmaschine wie TS1–TS10 bzw. TS17 entstanden, wurden aber neu getippt, wie der nicht mit den übrigen Abschriften übereinstimmende Zeilenlauf zeigt. In beiden Textstufen hat Horváth kleinere Korrekturen eingetragen. So ändert er in TS18/BS 62 d, Bl. 25 „Weitsprung“ zu „Sprung“, in TS19 ändert er die Wortstellung von „eben als Balken von ermüdeten Springern missbraucht“ zu „eben von ermüdeten Springern als Balken missbraucht“. Überdies verfügt TS19 bereits in der Grundschicht über einen neuen Schlusssatz, Horváth tippt hier abschließend „(Was nur ein romantisches Rückenschwimmen bestritt)“. Die genaue Position der beiden Märchen in der genetischen Reihe ist nicht klar. Da es sich bei beiden aber um als Einzeltexte neu getippte Varianten von Märchen handelt, die nicht in TS17 aufgenommen wur-
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Sportmärchen
den, sind sie vermutlich erst nach dieser Kompilation entstanden. Der Hinweis auf das „romantisch[e] Rückenschwimmen“ in TS19 könnte überdies ein Hinweis darauf sein, dass Horváth Das Sprungbrett auch in TS20 aufnehmen wollte, wo das anthropomorphisierte Rückenschwimmen ebenfalls in den dort enthaltenen Fassungen von Über das Meer und Was das romantische Rückenschwimmen erzählt (vgl. TS20/BS 62 a, Bl. 24f.) vorkommt. Das Märchen Das Sprungbrett scheint schließlich mit TS19 zum letzten Mal in der Genese der Sportmärchen auf. In der Kompilation von TS20 ist im Unterschied zu TS17 auch wieder eine Fassung von Die Regel enthalten, die allerdings nicht auf TS18 basiert und teilweise gänzlich neuen Text aufweist (vgl. TS20/BS 62 d, Bl. 23).
T19 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 6, 8–18, 24–32, ÖLA 3/W 184 – BS 62 b [1], Bl. 1–31, ÖLA 3/W 185 – BS 62 b [2], Bl. 1–26, ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 23, 56–58, 60–62 90 Blatt unliniertes Papier, dünn (288 × 225 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 2–4 auf BS 62 a, Bl. 30–32, hs. Paginierung 10 auf BS 62 a, Bl. 6, hs. Paginierung 12–22 auf BS 62 a, Bl. 8–18, hs. Paginierung 26–31 auf BS 62 a, Bl. 24–29, hs. Paginierung 5 auf BS 62 d, Bl. 23, hs. Paginierung 24, 25 auf BS 62 d, Bl. 56, 57, hs. Paginierung 6–8 auf BS 62 d, Bl. 60–62 TS20 = Endfassung mit Werktitel „Sportmärchen von Ödön von Horváth“ konstituiert durch BS 62 d, Bl. 58, BS 62 a, Bl. 30–32, BS 62 d, Bl. 23, 60–62, BS 62 b [1], Bl. 9, BS 62 a, Bl. 6, BS 62 b [1], Bl. 11, BS 62 a, Bl. 8–18, BS 62 b [1], Bl. 23–25, BS 62 a, Bl. 24–29 (Korrekturschicht) Druck in: Horváth 1969.
TS20 ist die letzte überlieferte vollständige Kompilation der Sportmärchen und in ihrer Korrekturschicht die Fassung letzter Hand fast aller Märchen. Davon auszunehmen ist allerdings Legende vom Fußballplatz, die in TS27 in einer vermutlich nicht von Horváth selbst erstellten, wohl aber autorisierten späteren Abschrift zuletzt vorliegt. Bei der Publikation mehrerer einzelner Märchen hat der Autor auch teilweise auf ältere Textstufen zurückgegriffen, diese Fassungen können gleichermaßen als autorisiert gelten (vgl. dazu den Abschnitt Sportmärchen – Drucke) TS20 liegt in einer vollständig neu angefertigten Abschrift vor, die auf derselben Schreibmaschine wie TS1–TS10 und TS17 entstanden ist, wie am Anschlag markanter Ober- und Unterlinien bei mehreren Typen zu erkennen ist (vgl. dazu den einführenden Kommentar zu den Sportmärchen oben). TS20 ist materiell in Form teils mehrfacher Durchschläge der einzelnen Märchen überliefert, die sich durch die Verwendung von Kohlepapier (schwarze Type) sowie eine auffällige Vergilbung des Papiers vom übrigen Konvolut abheben. Einige dieser Durchschläge hat Horváth durch hs. Eintragung seines Namens wieder, ähnlich wie TS4–TS14, TS18 und TS19, als separate Einzeltexte gekennzeichnet (vgl. TS21–TS26). Mehrere Blätter weisen eine von Horváth eingefügte Paginierung in Bleistift auf. Die daraus zu erschließende Reihenfolge der Märchen stimmt mit der im Inhaltsverzeichnis („Was es alles gibt“, TS20/BS 62 a, Bl. 30, vgl. TS17/BS 62 c, Bl. 2) vorliegenden überein. Die Paginierung ist nicht durchgängig, die hier fehlenden Blätter lassen sich aber, ähnlich TS1/A2, aus den vorliegenden Durchschlägen entlang des Inhaltsverzeichnisses erschließen. Möglicherweise steht die erhaltene Paginierung in Zusammenhang mit einem der insgesamt drei Durchschläge des Titelblattes (BS 62 d, Bl. 58), auf dem Horváth mit Bleistift „unvollständig“ eingetragen hat. Angesichts der unvollständigen Paginie-
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rung wurde für die vorliegende Konstitution des Textes auf dieses Blatt zurückgegriffen. Die Druckgeschichte der Sportmärchen belegt, dass TS20 bereits knapp nach TS17 entstanden sein muss. So entsprechen der Drucktext von Aus einem Rennradfahrerfamilienleben (D2/TS29), Vom unartigen Ringkämpfer (D3/TS30) sowie von Was ist das?, Start und Ziel und Vom artigen Ringkämpfer (D4/TS31), die Ende 1924 im Simplicissimus bzw. der B.Z. am Mittag erschienen sind (vgl. den Kommentar dort), eindeutig der Grundschicht von TS20. Auf einem der insgesamt vier Durchschläge des Inhaltsverzeichnisses von TS20 (vgl. BS 62 b [2], Bl. 2) hat Horváth genau diese Märchen hs. mit Bleistift markiert. Abweichend davon stammt der Drucktext von Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes (D1/TS28), das ebenfalls markiert wurde, nicht aus TS20. Irritierend ist überdies, dass die in das Inhaltsverzeichnis von TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 d, Bl. 1f. eingetragenen Drucknachweise weitaus ausführlicher sind und auch später publizierte Texte umfassen (vgl. den Kommentar zu TS1/A2). Eventuell bedeuten diese Markierungen, dass Horváth diese Märchen als Einzeltexte gekennzeichnet hat, da die mit seinem Namenszug überlieferten Durchschläge von TS20 (TS21–TS26) genau den hier markierten Texten entsprechen (vgl. auch den Kommentar zu TS21–TS26). Insgesamt liegen starke Indizien für eine Entstehung von TS20 bereits kurz nach TS17 vor (vgl. zum genetischen Zusammenhang der Sportmärchen auch die Informationsgrafik Tab1 im Kommentarteil dieses Bandes, S. 697). Horváth dürfte TS20 wesentlich später nochmals zur Hand genommen haben und eine vollständige Publikation der Sportmärchen in der mit dieser Textstufe vorliegenden Form angestrebt haben. Darauf deutet ein Adresseintrag auf einem der Durchschläge des Titelblatts hin, der vermutlich für die Vorlage eines der Durchschläge von TS20 bei einem Verlag angebracht worden ist. Unter der hier mit Bleistift notierten Adresse „Berlin W30 Luitpoldstr. 34. bei Bergmann.“ hat sich Horváth nachweislich 1927 aufgehalten, wie zwei an Herbert Ihering gerichtete Briefe vom 11. bzw. 19. Mai 1927 belegen (Archiv der Akademie der Künste, Ihering-Archiv M. 1593). Aufgrund fehlender Meldeunterlagen und der nur lückenhaften Überlieferung der Korrespondenz kann Horváths Aufenthalt unter dieser Adresse nicht genau abgeschätzt werden. Ebenfalls unter der Anschrift Luitpoldstraße 34 wohnte ab 1926 der Schriftsteller und Freund Horváths Ernst Weiß. Aufgrund seiner Bekanntschaft mit Weiß scheint diese Adresse daher kein Zufall gewesen zu sein und Horváth ebenfalls frühestens ab 1926 hier während seiner regelmäßigen Berlinaufenthalte gewohnt zu haben. Die nächste nachweisbare Adresse in Berlin hatte Horváth 1931 in der Pension Lüttich in der Motzstraße (vgl. auch das Vorwort sowie den Kommentar zum Kurzprosatext Theodors Tod, ET5). TS20 ist gegenüber TS17 merklich erweitert und weist eine neuerlich adaptierte Anordnung der Märchen auf. Die Reihenfolge ist hier: Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes, Start und Ziel, Die Regel, Legende vom Fußballplatz, Regatta, Vom artigen Ringkämpfer, Vom unartigen Ringkämpfer, Fünf alpine Märchen (Begegnung in der Wand, Die Beratung, Der sichere Stand, Die Eispickelhexe, Die Mauerhakenzwerge), Was ist das?, Stafetten, Rechts und links, Aus einem Rennradfahrerfamilienleben, Wintersportlegendchen, Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen, Über das Meer, Was das romantische Rückenschwimmen erzählt und Aus Leichtathletikland (Historie mit Randbemerkung) (vgl. zur unterschiedlichen Anordnung der Sportmärchen in den Kompilationen die Informationsgrafik Tab2 im Kom-
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Sportmärchen
mentarteil dieses Bandes, S. 698f.). Neben der geänderten Abfolge fallen gegenüber TS17 bzw. TS1/A2 einige weitere Änderungen auf. So bilden die Märchen mit Bezug zum Bergsteigen nun eine eigene Gruppe unter dem Titel „Fünf alpine Märchen“ (TS20/BS 62 a, Bl. 10–14). Das Märchen Die Regel (TS20/BS 62 d, Bl. 23) war in TS17 nicht enthalten und lag zuletzt mit einer neuen, vermutlich auf TS11 basierenden Abschrift in TS18 vor (vgl. auch TS1/A2 und TS5). Der hier vorliegende Text orientiert sich eher an der Fassung von TS1/A2, wurde aber weiter verändert. So greifen nun „schlammige Finger“ anstelle von „schlammigen Händen“ (TS1/A2/BS 62 a, Bl. 33) nach dem Hochsprung und es interveniert zuletzt ein „Jurist“ (ebd./Bl. 34) und kein „Zwerg“. Da diese Änderungen zuvor nicht vorbereitet sind, ist von Überlieferungsverlusten auszugehen. Mit Rechts und links (TS20/BS 62 a, Bl. 17) und Was das romantische Rückenschwimmen erzählt (TS20/BS 62 a, Bl. 25) liegen die zuletzt in TS1/A2 enthaltenen Märchen Die beiden Magenschwinger und Persönlichkeiten in neu betitelter und textlich abgeänderter Form vor. Mit seinem veränderten Titel schließt Was das romantische Rückenschwimmen erzählt vermutlich an den Schlusssatz „Und erwachte als romantisches Rückenschwimmen“ (TS20/BS 62 a, Bl. 24) des vorangehenden Märchens Über das Meer an. Das Märchen Aus Leichtathletikland erhält in TS20 wieder den ergänzenden Untertitel „Historie mit Randbemerkung“ (TS20/BS 62 a, Bl. 26), den der Text gemäß dem Inhaltsverzeichnis bereits in TS1/A2 getragen hat (vgl. TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 d, Bl. 2). Ansonsten entspricht der Text aber eindeutig der Fassung von TS17. Ein detaillierter Textvergleich zeigt schließlich, dass Horváth für Vom unartigen Ringkämpfer (TS20/BS 62 a, Bl. 8) nicht die Fassung von TS17 verwendet hat, sondern wieder auf die von TS1/A2 zurückgreift. Den dortigen Text ändert er jedoch an einer Stelle ab: Nachdem der unartige Ringkämpfer das Epitaph auf dem Kirchturm entdeckt, fährt der Text hier mit „Kaum las dies der unartige Weltmeister, fuhr ihm auch schon die Schlange Übermut ganz in den Bauch“ (TS20/BS 62 a, Bl. 8) fort. Zuvor hatte der Text sowohl in der Fassung von TS1/A2 wie TS17 hier „Als dies der unartige Weltmeister las, da fuhr ihm die Schlange Übermut ganz in den Bauch“ gelautet (vgl. TS1/A2 und TS17/BS 62 c, Bl. 13; vgl. auch die hs. Abschrift in TS15/BS 62 e, S. 53). Diese zuvor nicht angezeigte Änderung ist ein entscheidendes Indiz für die Datierung von TS20, da der Text dieses Märchens in dieser Form auch Ende 1924 im Simplicissimus publiziert wurde (vgl. D3/TS30 sowie die Ausführungen zur Datierung oben). Das Märchen Vom artigen Ringkämpfer (TS20/BS 62 b [1], Bl. 11) wiederum weist den gekürzten Text von TS17 auf, die Formulierung „zu Vereinen zusammengeschlossenen tugendsamen Ringkämpfer“ in der Grundschicht von TS20 geht aber auf TS1/A2/BS 62 d, Bl. 7 (zuletzt auch TS16/BS 62 d, Bl. 4) zurück. Eine auffällige Änderung findet sich schließlich im Märchen Die Mauerhakenzwerge, wo der Schluss als Dialog mit einem Herrn „Müller“ gestaltet ist und mit dessen Antwort „Jaja, die schöne Literatur, mein Herr!“ (TS20/BS 62 a, Bl. 14) endet. Dieser Schluss findet sich in keiner der vorangehenden Fassungen, aber auch in keiner der späteren Publikationen des Textes (vgl. D10 und D11/TS37). Die übrigen Märchen entsprechen textlich meist der Korrekturschicht von TS17, wenngleich sich auch hier einige Abweichungen im Detail ergeben. Beispielsweise äußert Gott am Ende von Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes nun „Tja“ (TS20/BS 62 a, Bl. 31) anstelle von „Hja“ (vgl. TS1/A2 und TS17/BS 62 c, Bl. 3; vgl. auch die Textquelle des Erstdrucks im Kommentar zu D1/TS28). Nicht anderswo vorbereitet ist auch die Änderung von „Es sagt das Ziel“ (TS17/BS 62 c, Bl. 4) zu „Da sagt das Ziel“ (TS20/BS 62 a, Bl. 32) in Start und
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Ziel (vgl. dazu auch die Abdrucke des Märchens in D4/TS31 und D8/TS35). Als einziges Märchen nicht aus TS17 in TS20 übernommen ist Der große und der kleine Berg, von dem auch sonst keine weiteren Abschriften mehr überliefert sind. T20 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 20 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (288 × 225 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift TS21 = Fassung mit Werktitel „Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T21 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 21 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (288 × 225 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift TS22 = Fassung mit Werktitel „Start und Ziel / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T22 = ÖLA 3/W 183 – BS 62 a, Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (288 × 225 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift TS23 = Fassung mit Werktitel „Vom artigen Ringkämpfer / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T23 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 15, 16 2 Blatt unliniertes Papier, dünn (288 × 225 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift TS24 = Fassung mit Werktitel „Vom unartigen Ringkämpfer / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T24 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 17 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (288 × 225 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift TS25 = Fassung mit Werktitel „Was ist das? / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T25 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 19 1 Blatt unliniertes Papier, dünn (288 × 225 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift TS26 = Fassung mit Werktitel „Aus einem Rennradfahrerfamilienleben / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
Ähnlich wie im Falle von TS1/A2 und TS4–TS10, liegen mit TS21–TS26 Durchschläge von TS20 vor, die von Horváth mittels eines hs. Namenseintrags als eigenständige Einzeltexte gekennzeichnet wurden. Es handelt sich hierbei um Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes (TS21), Start und Ziel (TS22), Vom artigen Ringkämpfer (TS23), Vom unartigen Ringkämpfer (TS24), Was ist das? (TS25) und Aus einem Rennradfahrerfamilienleben (TS26). In TS21, TS23 und TS25 hat Horváth die in TS20 vorgenommenen hs. Korrekturen ebenfalls eingetragen. Keine hs. Korrekturen entsprechend TS20 weist TS26 („Lichtsekundenuhr“ statt Lichtsekundenstoppuhr“, TS20/BS 62 a, Bl. 18) auf. TS22 und TS24 liegen wie auch die entsprechenden Blätter in TS20 allein in der masch. Grundschicht vor. Auffälligerweise handelt es sich bei TS21–TS26 um genau die Märchen, die Horváth noch Ende 1924 im Simplicissimus bzw. in der B.Z. am Mittag veröffentlichen konnte. Für die Publikation von Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lie-
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Sportmärchen – Drucke
ben Gottes wurde aber nicht TS20 bzw. TS21, sondern TS17 als Textgrundlage verwendet, was sich an der Verwendung von „Hja“ (TS1/A2 bzw. TS17/BS 62 c, Bl. 3) statt „Tja“ (TS20/BS 62 a, Bl. 31) ersehen lässt. T26 = ÖLA 3/W 187 – BS 62 d, Bl. 63–66 4 Blatt unliniertes Papier (295 × 208 mm), Xerokopie TS27 = Fassung mit Werktitel „Legende vom Fussballplatz von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
TS27 enthält eine von TS17 wie TS20 leicht abweichende Fassung des Märchens Legende vom Fußballplatz und ist allein in Form einer Fotokopie überliefert. Der Verbleib des Originals ist unbekannt. Die Abschrift ist auf einer anderen Schreibmaschine als die sonst verwendeten entstanden. Diese ähnelt der für die Montagearbeiten an Der ewige Spießer benutzten (vgl. etwa WA 14/K3 und K4), weicht aber leicht davon ab, was sich an einer veränderten Type bei Zahlen erkennen lässt. Auf der Kopie sind einige hs. Korrekturen zu erkennen, die nicht Horváths gewöhnlichem Korrekturduktus entsprechen und mit hoher Wahrscheinlichkeit von fremder Hand stammen. Das verwendete Schreibmaterial lässt sich aufgrund der Qualität der Kopie nicht mit Sicherheit erschließen, es wurde aber vermutlich Tinte benutzt. Der enthaltene Text basiert auf der Fassung von TS20, wie vor allem am Namen „Hans“ (statt „Hansl“ in TS1/A2 bzw. TS17/BS 62 c, Bl. 8) und der Formulierung „Da erhob er sich“ (statt „Da erhob sich der kleine Bub“, ebd.) kenntlich wird. Er weist aber einige kleinere, über TS20 hinausgehende Abweichungen auf, die von stilistischer Natur sind. So wird hier anstelle eines „hohen grauen“ (TS20/BS 62 d, Bl. 61) von einem „grossen grauen“ (TS27/BS 62 d, Bl. 63) Gebäude erzählt, wobei in der Grundschicht hier zunächst „grossen hohen“ gestanden hatte, und ist der kurze Satz „das war Vater“ (TS20/BS 62 d, Bl. 61) zu „das war der Vater“ (TS27/BS 62 d, Bl. 64) erweitert. Hs. ist in der Passage aus TS20 „aber es war nur ein dürres Blatt, das sich mühsam die Strasse dahinschleppte und sich einen Winkel suchte zum Sterben“ (TS20/BS 62 d, Bl. 61) das zweite „sich“ gestrichen. Weitere hs. Korrekturen betreffen vor allem die Korrektur von Tippfehlern wie fehlende Wortabstände und die Ergänzung eines in der Grundschicht fehlenden „er“ in „immer lag er hinter einem der Tore im Grase“ (TS27/BS 62 d, Bl. 63, vgl. TS20/BS 62 d, Bl. 60). Aufgrund der anderen Schreibmaschine, den Korrekturen fremder Hand und anderen Abweichungen zu Horváths üblicher Typoskriptgestaltung, etwa der Verwendung von Asterisken als Strukturmarken am Schluss des Textes auf Bl. 66, besteht begründeter Verdacht, dass es sich bei TS27 um eine nicht von Horváth selbst angefertigte Abschrift handelt. Allerdings dürfte der Text authentisch sein, da die nur hier zu findenden Abweichungen von den übrigen Fassungen auch in einem Abdruck von Legende vom Fußballplatz in der Münchener Zeitschrift Jugend vom Februar 1931 enthalten sind (vgl. D19). Wahrscheinlich liegt also mit TS27 eine sehr spät und nur für diesen Publikationszweck angefertigte Abschrift vor.
Sportmärchen – Drucke Im Laufe der Jahre 1924–1931 hat Horváth regelmäßig Sportmärchen in verschiedenen Druckmedien veröffentlicht, allen voran in den Münchener Zeitschriften Simplicissimus und Jugend. Anders als ein Großteil des werkgenetischen Materials lassen
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sich die Drucke sehr präzise datieren, weshalb sie hier gesondert aufgelistet werden. Insgesamt 14 verschiedene Sportmärchen sind zu Horváths Lebzeiten erschienen. Da teilweise mehrere Märchen gemeinsam bzw. einzelne Märchen mehrfach veröffentlicht wurden, liegen insgesamt 19 separate Publikationen vor. Am häufigsten, mit insgesamt je drei verschiedenen Publikationen, sind Legende vom Fußballplatz, Vom artigen Ringkämpfer und Vom unartigen Ringkämpfer erschienen. Für die Drucklegung hat Horváth scheinbar unterschiedslos auf verschiedene seiner Kompilationen zurückgegriffen: So folgen frühe Drucke wie D2–D4 eindeutig der letzten Kompilation TS20, während spätere deutlich im Gefolge von TS17 oder in einem Falle sogar von TS1/A2 stehen. Daraus ergibt sich ein etwas widersprüchlicher Befund zur Autorisation der einzelnen Märchen, da einerseits TS20 als zur Publikation gedachte Fassung letzter Hand zu identifizieren ist (vgl. den Kommentar dort), andererseits aber älterer Textbestand aufgrund der Veröffentlichung weiter Gültigkeit beanspruchen kann. Einige der hier abgedruckten Märchen weisen Änderungen bzw. Eingriffe auf, die im werkgenetischen Material keine Entsprechung haben. Zum einen liegen in den Drucktexten kleinere stilistische bzw. orthografische Änderungen vor, zum anderen wurden bei einigen Texten aber auch größere Veränderungen vorgenommen (vgl. etwa Aus Leichtathletikland D18). Als mögliche Erklärungen kommen bei größeren Änderungen Überlieferungsverluste von Einreichtyposkripten, die diese Änderungen enthalten haben, in Frage. Für kleinere Abweichungen ist möglicherweise auch das Lektorat der abdruckenden Zeitung bzw. Zeitschrift verantwortlich, da Horváth für gewöhnlich gegen orthografische, aber auch kleinere stilistische Eingriffe nichts einzuwenden hatte. Schließlich ist auch ungeklärt, ob die Titel abgedruckter Kompilationen wie etwa „Bergsteiger-Märchen“ (D12/TS38) von Horváth selbst stammen oder seitens der verantwortlichen Redaktion eingefügt wurden. D1 = Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes In: Simplicissimus, 29. Jg., H. 26, 22. September 1924, S. 359. TS28 = Fassung mit Werktitel „Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes / Von Ödön Horváth“ (nicht gedruckt)
D2 = Aus einem Rennradfahrerfamilienleben In: Simplicissimus, 29. Jg., H. 29, 13. Oktober 1924, S. 387. TS29 = Fassung mit Werktitel „Aus einem Rennradfahrerfamilienleben / Von Ödön v. Horváth“ (nicht gedruckt)
D3 = Vom unartigen Ringkämpfer In: Simplicissimus, 29. Jg., H. 34, 15. November 1924, S. 462. TS30 = Fassung mit Werktitel „Vom unartigen Ringkämpfer“ (nicht gedruckt)
D4 = Drei Sportmärchen: Was ist das? / Start und Ziel / Vom artigen Ringkämpfer In: B.Z. am Mittag, Nr. 320, 1. Beiblatt, 21. November 1924. TS31 = Fassung mit Werktitel „Drei Sportmärchen. Von Ödön v. Horváth.“ (nicht gedruckt)
D5 = Legende vom Fußballplatz In: Simplicissimus, 30. Jg., H. 3, 20. April 1925, S. 42. TS32 = Fassung mit Werktitel „Legende vom Fußballplatz / Von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
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Sportmärchen – Drucke
Das früheste im Druck erschienene Sportmärchen ist Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes (D1/TS28), das am 22. September 1924 im Simplicissimus erschienen ist. Der abgedruckte Text folgt vermutlich TS17, was sich an der Äußerung „Hja, mein Gott – –“ ersehen lässt, in TS20/BS 62 a, Bl. 31 steht hier „Tja“. Mit auf der Seite abgedruckt sind das Gedicht Kühe von Joachim Ringelnatz, die Erzählung Pfarrersfrauen von Christian Engelstost und eine Karikatur Der Pazifist zu Hause von Thomas Theodor Heine. Am 13. Oktober 1924 erschien im Simplicissimus Aus einem Rennradfahrerfamilienleben (D2/TS29) in der Fassung von TS20 neben einem Gedicht Weisheit gefällig? von Peter Scher, dem Kurztext Auf der Straßenbahn von Josef Karl Hesse, dem Bundeslied von Sagittarius, i.e. Friedrich Alfred Schmid Noerr, dem redaktionellen Lieber Simplicissimus! und der Karikatur Die alte Stute von Alfred Kubin. Einen knappen Monat später, am 15. November 1924, erschien, wieder im Simplicissimus, Vom unartigen Ringkämpfer (D3/TS30) ebenfalls in der Fassung von TS20. Außer dem Text Horváths befinden sich eine Karikatur Mit verteilten Rollen von Rudolf Grieß sowie mehrere großformatige Werbeeinschaltungen auf der Seite. Mit den unter dem Titel „Drei Sportmärchen“ gedruckten Märchen Was ist das?, Start und Ziel sowie Vom artigen Ringkämpfer (D4/TS31), die am 21. November 1924 in der B.Z. am Mittag erschienen sind, veröffentlichte Horváth erstmals Texte in Berlin. Die B.Z. am Mittag war eine der ersten Boulevardzeitungen des Deutschen Reiches und befand sich im Besitz der Ullstein-Verlagsgruppe, bei der Horváth ab 1929 unter Vertrag stehen sollte. Die Sportmärchen erschienen hier im ersten Beiblatt der Zeitung neben verschiedenen anderen Feuilleton-Miszellen. Ihr Text folgt der Grundschicht von TS20, wie sich an der Variante „in der ersten Stunde ihres Daseins“ im Märchen Was ist das? (vgl. TS20/BS 62 a, Bl. 15) sowie der Variante „Da sagt das Ziel“ im Märchen Start und Ziel (vgl. ebd./BS 62 a, Bl. 32) ersehen lässt. Wieder im Simplicissimus erschien am 20. April 1925 erstmals die Legende vom Fußballplatz (D5/TS32), die neben den Ringkämpfer-Texten zu den meistabgedruckten Sportmärchen zählt. Der Text steht allein auf einer Seite, deren untere Hälfte vollständig von verschiedenen Kleinanzeigen eingenommen wird. Die Beurteilung der genauen Textgrundlage gestaltet sich indes schwierig. TS20 ist hier definitiv nicht die Vorlage gewesen, wie an dem Namen „Hansl“ (statt „Hans“ in TS20/BS 62 d, Bl. 61) und der Formulierung „Da erhob sich der kleine Bub“ (statt „Da erhob er sich“, ebd.) zu erkennen ist. Schließlich deutet vor allem die Formulierung „Die anderen, die neben ihm lagen“ auf TS1/A2 als Grundlage von D5 hin. Die Fassung in TS17 basiert zwar prinzipiell auf denselben Blättern wie TS1/A2 und käme deshalb auch in Frage, weist aber die erst später geänderte Formulierung „Diese anderen“ (TS17/BS 62 c, Bl. 6) auf. Irritierend ist aber zuletzt die Erweiterung von „das war Vater“ (TS1/A2/BS 62 c, Bl. 7) zu „das war der Vater“. Diese Erweiterung ist im Konvolut der Sportmärchen nur in TS27 belegt, die aber an den anderen Stellen eindeutig TS20 folgt. D6 = Legende vom Fußballplatz In: Berliner Volks-Zeitung, 18. November 1926. TS33 = Fassung mit Werktitel „Legende vom Fußballplatz / Von Ödön v. Horváth“ (nicht gedruckt)
D7 = Vom artigen und unartigen Ringkämpfer In: Berliner Volks-Zeitung, 21. November 1926. TS34 = Fassung mit Werktitel „Vom artigen und unartigen Ringkämpfer / Von Ödön Horváth“ (nicht gedruckt)
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Chronologisches Verzeichnis
D8 = Start und Ziel In: Berliner Volks-Zeitung, 5. Dezember 1926. TS35 = Fassung mit Werktitel „Start und Ziel / Von Ödön v. Horváth“ (nicht gedruckt)
Erst über ein Jahr später veröffentlichte Horváth am 18. November 1926 mit einem neuerlichen Abdruck von Die Legende vom Fußballplatz (D6/TS33) in der zum Zeitungsverlag Rudolf Mosse gehörigen Berliner Volks-Zeitung wieder ein Sportmärchen. Der Text erschien als Feuilleton unterm Strich, auf der Zeitungsseite oben befinden sich vornehmlich politische Kurzmeldungen. Die Textgrundlage gibt hier allerdings, ähnlich wie beim Erstdruck im Simplicissimus (D5/TS32), Rätsel auf. Während Formulierungen wie „Da erhob er sich“ und der Name „Hans“ eindeutig auf TS20 als Quelle verweisen, finden sich in diesem Text kleinere Änderungen, die in keiner der überlieferten Fassungen dokumentiert sind. So ist der in den übrigen Fassungen identische Konsekutivsatz „dass sein Herz noch höher flog wie der Ball“ (TS20/BS 62 d, Bl. 60) hier geändert zu „dass sein Herz noch höher flog als der Ball“, überdies liegt an einigen Stellen eine veränderte Beistrichsetzung vor. Da Letztere in der vorliegenden Fassung eher den orthografischen Regeln entspricht, sind diese Änderungen vermutlich aufgrund eines Eingriffs des Lektorats entstanden. Bereits wenige Tage später, am 21. November, erschienen im zweiten Beiblatt der Berliner Volks-Zeitung die beiden Märchen Vom artigen Ringkämpfer und Vom unartigen Ringkämpfer als zusammengehörige, durch römische Ziffern unterteilte Texte unter dem Titel „Vom artigen und unartigen Ringkämpfer“ (D7/TS34). Der abgedruckte Text folgt dabei der Korrekturschicht von TS20, wie sich etwa an der Formulierung „aller zu Vereinen zusammengeschlossenen, staatserhaltenden Ringkämpfer“ (vgl. TS20/BS 62 b [1], Bl. 11) ersehen lässt. Der hier im Unterschied zu TS20 ergänzte Beistrich deutet wiederum auf Eingriffe des Lektorats hin. Horváths Text folgte hier auf die Erzählung Nacht der Heimsuchung von A. M. Hopp, auf derselben Seite befindet sich ein Feuilleton Heimweh nach Berlin von „R. J.“ sowie eine Hymne an das Faultier von Theodor Fanta. Am 5. Dezember 1926 erschien mit Start und Ziel (D8/TS35) ein weiteres Sportmärchen in der Berliner Volks-Zeitung. Auf derselben Zeitungsseite befinden sich der Text Afrikanisches Kino des Kunstkritikers Rom Landau über eine Filmvorführung in Tunis und ein redaktioneller Beitrag über Shaw als Bühnenfigur. Als Textgrundlage wurde TS20 verwendet, wie an der Variante „Da sagt das Ziel“ (TS20/BS 62 a, Bl. 32; vgl. „Es sagt“ in TS17/BS 62 c, Bl. 4) zu erkennen ist. Die Veröffentlichung von Sportmärchen in der Berliner Volks-Zeitung öffnete Horváth vermutlich später auch den Weg für die Veröffentlichung weiterer Kurzprosa im angesehenen Berliner Tageblatt, das ebenfalls aus dem Verlagshaus Rudolf Mosse stammt (vgl. ET11–ET13, ET15, ET18 und ET20). D9 = Der Herr von Bindunghausen In: Simplicissimus, 31. Jahrgang, Heft 36, 6. Dezember 1926, S. 473. TS36 = Fassung mit Werktitel „Der Herr von Bindunghausen“ (nicht gedruckt)
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Sportmärchen – Drucke
D10 = Die Mauerhakenzwerge In: Der Alpenfreund, Nr. 21, Erstes Novemberheft 1927.
D11 = Die Mauerhakenzwerge In: Der Berg. Illustrierte Monatsschrift für Hochtouristik, 5. Jahrgang, Heft 12, Dezember 1927, S. 368. TS37 = Fassung mit Werktitel „Die Mauerhakenzwerge / Von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
D12 = Bergsteiger-Märchen: Der große und der kleine Berg / Die Beratung / Die Eispickelhexe In: Der Alpenfreund. Illustrierte Halbmonatsschrift für Bergsteigen, Sport, Reise und Unterhaltung, 9. Jahrgang, Heft 5, März 1928, S. 180. TS38 = Fassung mit Werktitel „Bergsteiger-Märchen / Von Ödön v. Horváth“ (nicht gedruckt)
Am 6. Dezember 1926 erschien mit Der Herr von Bindunghausen (D9/TS36) wieder ein Sportmärchen im Simplicissimus, wobei es sich um die zuletzt in TS3 vorliegende lange Fassung von Vom wunderlichen Herrn von Bindunghausen handelt, die auch den Text von Wintersportlegendchen enthält. Abweichend von der Vorlage weist der abgedruckte Text keine Untergliederung mit römischen Ziffern auf und wurde orthografisch angepasst, ist aber davon sowie vom hier verwendeten kürzeren Titel abgesehen weitgehend textidentisch mit TS3. Auf derselben Seite abgedruckt ist das Gedicht Der Wintertag von Max Barthels sowie ein ungezeichneter Kurztext Der Rekrut, der sich satirisch mit dem Skisport auseinandersetzt. Ende 1927 veröffentlichte Horváth Die Mauerhakenzwerge (TS37) in der Novemberausgabe der Alpinismus-Illustrierten Der Alpenfreund (D10), einen Monat später erschien das Märchen satzidentisch in Der Berg (D11), ebenfalls einer Illustrierten für Alpinismus. Die Dialogisierung der Schlusspassage von TS20/BS 62 a, Bl. 14 ist hier nicht umgesetzt, der abgedruckte Text basiert eindeutig auf TS17. Beide Zeitschriften waren Horváth möglicherweise aufgrund seiner eigenen Leidenschaft fürs Bergsteigen bekannt. Sie stammen aus dem Alpenfreund-Verlag und teilten sich, wie der satzidentische Abdruck zeigt, verschiedene Inhalte. Anscheinend hatte Horváth mit seinem Märchen Anklang gefunden, denn in der März-Ausgabe von Der Alpenfreund erschienen mit Der große und der kleine Berg, Die Beratung und Die Eispickelhexe gleich drei Sportmärchen auf einer Seite. Die Märchen stehen unter dem Titel „Bergsteiger-Märchen“ (D12/TS38), den Horváth nur hier verwendet hat. Während sich bei Der große und der kleine Berg sowie bei Die Eispickelhexe eindeutig TS17 als Textgrundlage ausmachen lässt, weist Die Beratung zwei kleinere Abweichungen auf, die weder in TS17 noch in TS20 dokumentiert sind. So erzählen die Kletterschuhe dem noch ungläubigen Rucksack hier „erhebend“ statt „erbebend“ (TS17/BS 62 c, Bl. 30 bzw. TS20/BS 62 a, Bl. 12) vom Schicksal seines Vorgängers. Möglicherweise handelte es sich dabei um einen Satzfehler, der durch die typografische Ähnlichkeit der Buchstaben „h“ und „b“ im Fraktur-Satz begünstigt wurde. Allein orthografisch weicht hier die Schreibweise „Tur“ von der in den Typoskripten verwendeten Schreibweise „Tour“ ab (ebd.). Auch hier handelt es sich vermutlich um ein Druckversehen. Der Abdruck von Der große und der kleine Berg in diesem Zusammenhang überrascht, hat Horváth dieses Märchen doch als einziges nicht in die Gruppe der Fünf alpinen Märchen von TS20 aufgenommen. Im Inhaltsverzeichnis TS1/A2 bzw. TS2/BS 62 d, Bl. 1f. hat Horváth die Märchen Die Mauerhakenzwerge, Der große und der kleine Berg, Die Beratung und Die Eispickel-
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hexe mit der hs. Notiz „Berg“ versehen, womit er vermutlich auf ihre Publikation in Der Berg bzw. Der Alpenfreund Bezug nimmt (vgl. den Kommentar zu TS1/A2). Auch die Märchen Der sichere Stand und Begegnung in der Wand sind dort mit derselben Notiz markiert. Für beide Märchen konnte in diesen Zeitschriften jedoch keine Veröffentlichung nachgewiesen werden. D13 = Zwei Sportmärchen: Vom artigen Ringkämpfer / Vom unartigen Ringkämpfer In: Jugend, 33. Jg., Nr. 25, 16. Juni 1928, S. 393f. TS39 = Fassung mit Werktitel „Zwei Sportmärchen / Von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
D14 = Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes In: Jugend, 33. Jg., Nr. 28, 7. Juli 1928, S. 442. TS40 = Fassung mit Werktitel „Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes / Von O. von Horváth“ (nicht gedruckt)
D15 = Regatta In: Jugend, 33. Jg., Nr. 31, 28. Juli 1928, S. 493. TS41 = Fassung mit Werktitel „Regatta / Von O. von Horváth“ (nicht gedruckt)
D16 = Was ist das? In: Jugend, 33. Jg., Nr. 33, 11. August 1928, S. 528. TS42 = Fassung mit Werktitel „Was ist das?“ (nicht gedruckt)
D17 = Aus einem Rennradfahrer-Familienleben In: Jugend, 33. Jg., Nr. 50, 8. Dezember 1928, S. 796. TS43 = Fassung mit Werktitel „Aus einem Rennradfahrer-Familienleben / Von Ödön Horváth“ (nicht gedruckt)
D18 = Aus Leichtathletikland In: Jugend, 34. Jg., Nr. 43, 19. Oktober 1929, S. 690f. TS44 = Fassung mit Werktitel „Aus Leichtathletikland / Von Ödön Horváth“ (nicht gedruckt)
D19 = Legende vom Fußballplatz In: Jugend. 36. Jg., Nr. 8, 17. Februar 1931, S. 114f. TS45 = Fassung mit Werktitel „Legende vom Fußballplatz / Von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
Mit einem „Zwei Sportmärchen“ (D13/TS39) übertitelten Abdruck von Vom artigen Ringkämpfer und Vom unartigen Ringkämpfer beginnt am 16. Juni 1928 eine Reihe von Veröffentlichungen Horváths in der Münchener Literaturzeitschrift Jugend (vgl. auch ET21/TS2). In der Präsentation der beiden Ringkämpfer-Texte zeigt sich Horváths gewachsene Bedeutung als Autor: Nicht nur stehen die beiden Texte Horváths als zweiter Beitrag der Ausgabe nach dem Text Chinesenfilm von Hans Kafka relativ prominent im Vordergrund, ihnen wurde auch eine thematisch passende Karikatur beigegeben. Die Karikatur Ringkämpfer stammt von Karl Weinmair, einem Schüler Olaf Gulbranssons, der später den Schutzumschlag von Horváths Roman Der ewige Spießer (1930, vgl. WA 14, S. 912) gestaltet hat. Der abgedruckte Text indes verdeutlicht neuerlich Horváths erratischen Umgang mit seinen Texten: Während Vom artigen Ringkämpfer der Fassung des Textes in der Grundschicht von TS20 folgt, basiert
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Vom unartigen Ringkämpfer eindeutig auf der Fassung von TS17, was sich an der Erwähnung des Gasthofs „Asketen Sport“ und von „Ungarwein“ ersehen lässt (TS17/BS 62 c, Bl. 12, vgl. die Anmerkungen im Apparat zu TS1/A2). Am 7. Juli 1928 folgte mit einem Abdruck von Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes (D14/TS40) die nächste Veröffentlichung in der Jugend. Der Text folgt dort auf die Novelle Gönnt mir den Flug! von Hedwig Hassel neben einer Zeichnung Stillende Mutter von Heinrich Heuser und einer Rubrik Literarische Anekdoten, die mit dem Pseudonym „Teha“ gezeichnet sind. Als Vorlage hat vermutlich TS17 gedient, allerdings weicht die mit „Hmja“ wiedergegebene Antwort Gottes von allen überlieferten Fassungen ab. Am 28. Juli 1928 erschien Regatta (D15/TS41) in der Jugend, eingebettet in die Fortsetzung des Textes Ein Reisetagebuch von August Wisbeck. Die genaue Vorlage des Druckes kann nicht ermittelt werden, da Regatta in allen erhaltenen Textstufen textidentisch vorliegt. Was ist das? (D16/TS42) erschien am 11. August 1928, dessen Text sowohl aus TS17 als auch aus TS20 stammen kann, wo jeweils textidentische Fassungen vorliegen. Auf derselben Seite mit abgedruckt waren der mit dem Pseudonym „T“ gezeichnete Kurztext Bolzenschießen, das Gedicht Unseren Schönen von Beda Hafen und zwei Karikaturen von Margarethe Lipps und Carry Hauser. Unter dem Titel „Aus einem Rennradfahrer-Familienleben“ (D17/TS43) folgte am 8. Dezember 1928 mit Aus einem Rennradfahrerfamilienleben die fünfte und letzte Veröffentlichung von Sportmärchen in der Jugend in diesem Jahr. Der Text folgt vermutlich TS17, worauf die Großschreibung von „Beider“ hindeutet (TS1/A2 bzw. TS17/BS 62 c, Bl. 24). Neben dem Text Horváths sind auf der Seite das Gedicht Wunschzettelchen von Heinrich Rossbacher, ein Beitrag Weihnachtskonfekt, gezeichnet von einem Pseudonym „J.A.S.“, und zwei Karikaturen von Dugo, i.e. Andor Szenes, und Werner P. Schmidt abgedruckt. Ein knappes Jahr später erschien mit Aus Leichtathletikland (D18/TS44) am 19. Oktober 1929 wieder ein Sportmärchen Horváths in der Jugend. Der abgedruckte Text ist in mehrfacher Hinsicht auffällig. Zum einen mischt er Text aus den in TS17 wie TS20 vorliegenden Fassungen. So stammt die Formulierung „Da flog eines Morgens an dem Langstreckenlaufen“ eindeutig aus TS20 (vgl. TS20/BS 62 a, Bl. 26), die Beschreibung „beflügeltes weißes Wesen“ indes aber ebenso eindeutig aus TS17 (vgl. TS1/A2 bzw. TS17/BS 62 c, Bl. 32). Zum anderen enthält die hier abgedruckte Fassung einen veränderten Beginn: „In jenem Augenblick, da ein genialer Mensch als erster seines Geschlechtes aus der Baumwipfelheimat zu Boden sprang“ anstatt „Als jener geniale Mensch, der als erster seines Geschlechtes aus der Baumwipfelheimat zu Boden sprang“ (identisch in TS17/BS 32 c, Bl. 31 und TS20/BS 62 a, Bl. 26). Ob es sich dabei möglicherweise um den nicht überlieferten Beginn des Textes in der Fassung von TS1/A2 handelt, ist nicht zu klären. Die in den Typoskripten anschließende „Randbemerkung“ (TS17/BS 62 c, Bl. 34 und TS20/BS 62 a, Bl. 28f.) ist in dieser Fassung nicht enthalten. Aus Leichtathletikland erschien auf insgesamt zwei Seiten, wobei auf der ersten eine halbseitige Werbung und auf der zweiten mehrere Kleinanzeigen, der Text Mariniertes, gezeichnet mit dem Pseudonym „Törn“, sowie eine Karikatur Moderne Sporttechnik von Theo Scharf mit abgedruckt sind. Am 17. Februar 1931 erschien mit Legende vom Fußballplatz (D19/TS45) zum letzten Mal ein Sportmärchen in der Jugend. Zwischenzeitlich hatte Horváth in der Jugend auch Das Märchen vom Fräulein Pollinger, einen später in den Roman Der ewige Spießer (1930, vgl. WA 14) integrierten Einzeltext aus dem Textcluster der Spießer-Prosa veröffentlicht (vgl. ET21/TS2; zur Spießer-Prosa vgl. das Vorwort). Diese Veröffent-
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lichung war zugleich die letzte aus den Sportmärchen zu Lebzeiten des Autors. Der Text eröffnete die Ausgabe der Jugend, was neuerlich die gestiegene Bedeutung Horváths als Schriftsteller verdeutlicht. Zu diesem Zeitpunkt konnte er neben dem Roman Der ewige Spießer auch auf mehrere erfolgreich uraufgeführte Stücke (Revolte auf Côte 3018 1927, Die Bergbahn und Sladek, der schwarze Reichswehrmann 1929, vgl. WA 2) und weitere Kurzprosaveröffentlichungen in anderen Zeitungen und Anthologien (vgl. ET11–ET13, ET15, ET16, ET18–ET23) verweisen. Die Premiere von Italienische Nacht am 20. März 1931 im Theater am Schiffbauerdamm befand sich in unmittelbarer Vorbereitung (vgl. WA 2). Der abgedruckte Text folgt der Fassung von TS27 und nimmt die gesamte erste Textseite der Ausgabe sowie einen Großteil der Folgeseite ein und wird von einer vermutlich extra dazu angefertigten unbetitelten Zeichnung eines Buben von Franz Doll begleitet.
Kurzprosa Einzeltext 1: Zwei Briefe aus Paris T1 = ÖLA 3/W 222 – o. BS, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (272 × 210 mm), Wasserzeichen „Campeador Bond“, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift TS1 = Endfassung mit Werktitel „Friedrich Antoine Piesecke (Zwickau): / Zwei Briefe aus Paris. / Eingesandt von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: KW 11, S. 93f.
Zwei Briefe aus Paris ist als Durchschlag überliefert, dazugehörige Entwürfe oder Textstufen bzw. weitere Abschriften sind nicht erhalten. Zu Lebzeiten des Autors wurde der Text nicht publiziert. Der Ausformulierungsgrad der erhaltenen Blätter, das Fehlen von Entwürfen und weiteren Textstufen sowie die Verfasserangabe in der Grundschicht deuten aber darauf hin, dass Horváth ihn als abgeschlossen erachtet hat (vgl. dazu das Vorwort sowie die Editionsprinzipien). Krischke vermutete, dass Horváth Zwei Briefe aus Paris im Anschluss an seine Reise nach Paris 1923 verfasst hat (vgl. KW 11, S. 266). Konkrete Hinweise zur Datierung des Textes liegen nicht vor, einige Indizien deuten aber auf eine frühe Entstehung hin. So weist etwa die zur Erstellung des dem Durchschlag zugrunde liegenden Typoskripts verwendete Schreibmaschine bei mehreren Typen markante Über- bzw. Unterlinien auf, die wahrscheinlich auf eine fehlerhafte Einstellung der Maschine zurückzuführen sind. Ähnliche Spuren weisen mehrere andere Typoskripte von Prosaarbeiten Mitte der 1920er-Jahre auf (vgl. ET2–ET7, ET9, WP2 und SM/TS1–TS10, TS17–TS26). Das Wasserzeichen der verwendeten Blätter mit der Bezeichnung „Campeador Bond“ zeigt eine Reiterstatue des spanischen Nationalhelden El Cid. Blätter dieser Art sind im Nachlass sonst nicht überliefert. Möglicherweise hat Horváth dieses Papier während seiner Reisen Anfang der 1920er-Jahre erworben, wenngleich eine Reise Horváths nach Spanien nur 1929 zu belegen ist (vgl. dazu WA 14). Zuletzt weicht der Text auch stilistisch aufgrund seiner hohen Dichte an Epitheta und der gewählt umständlichen Syntax merklich von der bewussten Einfachheit großer Teile der übrigen Prosa ab. Stilistische Ähnlichkeiten lassen sich zu Texten wie Theodors Tod (ET5) und Die Versuchung (ET7) sowie dem ebenfalls sehr früh zu datie-
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Kurzprosa
renden Werkprojekt Amazonas (WP2) erkennen. Vor dem Hintergrund dieser Indizien scheint Krischkes Vermutung zur Entstehungszeit zumindest plausibel.
Einzeltext 2: Geschichte einer kleinen Liebe T1 = ÖLA 3/W 199 – BS 67, Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (278 × 219 mm), dünn, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift, masch. Paginierung 1–3 TS1 = Endfassung mit Werktitel „Geschichte einer kleinen Liebe / von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 96f.
Geschichte einer kleinen Liebe ist als Durchschlag überliefert, dazugehörige Entwürfe oder Textstufen bzw. weitere Abschriften sind nicht erhalten. Zu Lebzeiten des Autors wurde der Text nicht publiziert. Das Fehlen weiterer Arbeiten, die Verfasserangabe in der Grundschicht und die Anbringung einer hs. Strukturmarkierung am Ende deuten aber darauf hin, dass Horváth den Text als abgeschlossen erachtet hat (vgl. dazu das Vorwort sowie die Editionsprinzipien). Horváth plante später, den Text in einen (nicht realisierten) Novellenband aufzunehmen, zu dem ein Entwurf aus den Jahren 1926/27 vorliegt (vgl. WP1/E1). Der Text selbst ist vermutlich sehr früh entstanden. Am 24. März 1924 wurde am „III. Literarisch-musikalischen Abend“ der Kallenberg-Gesellschaft ein Text Horváths mit dem Titel „Geschichte einer kleinen Liebe“ von Max E. Sturny gelesen, wobei es sich wahrscheinlich um den vorliegenden handelte (vgl. KW 11, S. 267). Für Siegfried Kallenberg (1867–1944) hatte Horváth bereits 1921/22 das Buch der Tänze verfasst, später folgten „Lieder zum Schlagzeug“ und vermutlich weitere lyrische Arbeiten. Ein weiteres Indiz zur Datierung ergibt sich aus der verwendeten Schreibmaschine, die bei mehreren Typen Über- bzw. Unterlinien mit angeschlagen hat. Ähnliche Spuren weisen mehrere Typoskripte früher Prosaarbeiten bzw. Werkprojekte auf (vgl. den Kommentar zu ET1/TS1). Die vorliegenden Blätter können deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit auf 1923/24 datiert werden.
Einzeltext 3: Vom kleinen Beamten T1 = ÖLA 3/W 219 – BS 47 ad [1], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (283 × 220 mm), hs. Eintragungen mit grüner Tinte und Bleistift TS1 = Endfassung mit Werktitel „Vom kleinen Beamten“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 90
T2 = ÖLA 3/W 220 – BS 47 ad [2], Bl. 1–4 4 Blatt unliniertes Papier (283 × 220 mm), hs. Eintragungen mit grüner Tinte TS2 = Fassung mit Werktitel „Vom kleinen Beamten / von Ödön von Horváth“ konstituiert durch BS 47 ad [2], Bl. 1, 2 (nicht gedruckt)
Vom kleinen Beamten liegt in einem Originaltyposkript (T1) sowie zwei Durchschlägen (T2) vor, weitere Entwürfe und Textstufen bzw. Abschriften sind nicht überliefert. In das Typoskript wie die Durchschläge wurden identische Korrekturen in grü-
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ner Tinte eingetragen, wie sie Horváth Mitte der 1920er-Jahre häufig verwendet hat (vgl. etwa SM/TS1/A2). TS1/BS 47 ad [1], Bl. 2 weist zusätzlich eine einzelne Korrektur (Beistrich statt drei Bindestrichen) in Bleistift auf, die nicht in die Durchschläge übertragen wurde. Zu Lebzeiten des Autors wurde der Text nicht publiziert. Das Fehlen von Entwürfen bzw. von vorangehenden Textstufen, die Verfasserangabe in der Grundschicht sowie die Übertragung der hs. Korrekturen des Originals in grüner Tinte auf die Durchschläge deuten darauf hin, dass Horváth den Text als abgeschlossen erachtet hat (vgl. dazu das Vorwort sowie die Editionsprinzipien). Explizite Hinweise zu einer genauen Datierung liegen nicht vor. Die verwendete Schreibmaschine war dieselbe wie für Teile der Sportmärchen sowie andere frühe Prosaarbeiten, was sich an den markanten Über- bzw. Unterlinien einzelner Typen erkennen lässt, die im Falle des Originals T1 ohne Farbauftrag eingestanzt sind und auf T2 durchgeschlagen erscheinen (vgl. dazu den Kommentar zu ET1). Aufgrund der materiellen Beschaffenheit der Textträger und der Verwendung von grüner Tinte für die Korrekturen ist von einer Entstehung des Textes Mitte der 1920er-Jahre auszugehen.
Einzeltext 4: Emil T1 = ÖLA 3/W 193 – BS 47 k, Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (293 × 230 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, masch. Paginierung 1–3 TS1 = Endfassung mit Werktitel „Emil / von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht)
T2 = ÖLA 3/W 194 – BS 47 l, Bl. 1–6 6 Blatt unliniertes Papier (293 × 230 mm), dünn, Durchschlag (schwarz), masch. Paginierung jeweils 1–3 auf Bl. 1–3 und Bl. 4–6 TS2 = Fassung mit Werktitel „Emil / von Ödön von Horváth“ konstituiert durch BS 47 l, Bl. 1–3 (nicht gedruckt) Druck in: GW III, S. 107f.
Der Text Emil liegt in einem Original mit kleineren hs. Korrekturen in schwarzer Tinte (T1) sowie in zwei Durchschlägen dieses Typoskripts ohne hs. Eintragungen (T2) vor, weitere Entwürfe und Textstufen bzw. Abschriften sind nicht überliefert. Zu Lebzeiten des Autors wurde der Text nicht publiziert. Das Fehlen vorangehender Entwürfe bzw. Textstufen und die Verfasserangabe in der Grundschicht deuten aber darauf hin, dass Horváth den Text als abgeschlossen erachtet hat (vgl. dazu das Vorwort sowie die Editionsprinzipien). Aufgrund der hs. Korrekturen in TS1 ist die darin enthaltene Fassung diejenige letzter Hand. Es gibt keine Hinweise für eine eindeutige Datierung des Textes. Thematisch und stilistisch weist Emil einige Ähnlichkeit mit anderen Arbeiten Horváths aus der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre auf, die zum Textcluster der Spießer-Prosa zusammengefasst werden können und 1930 in den Roman Der ewige Spießer münden (vgl. dazu das Vorwort in diesem Band sowie WA 14). Die verwendete Schreibmaschine war vermutlich dieselbe, die Horváth für große Teile der Sportmärchen sowie andere frühe Prosaarbeiten benutzt hat, was sich an markanten Über- bzw. Unterlinien einzelner Typen erkennen lässt (vgl. den Kommentar zu ET1). Damit dürfte es sich bei Emil um einen frühen Text der Spießer-Prosa handeln, der vermutlich bereits um 1925/26 entstanden ist.
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Kurzprosa
Einzeltext 5: Theodors Tod T1 = ÖLA 3/W 214 – BS 47 w, Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (293 × 228 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte von fremder Hand, masch. Paginierung 1–3 TS1 = Fassung mit Werktitel „Theodors Tod / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
T2 = ÖLA 3/W 215 – BS 47 x, Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (293 × 228 mm), dünn, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte, hs. Eintragung mit Bleistift von fremder Hand, masch. Paginierung 1–3 TS2 = Endfassung mit Werktitel „Theodors Tod / von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 110–112.
Der Text Theodors Tod ist in einem Original (T1) sowie einem Durchschlag (T2) überliefert, weitere Entwürfe und Textstufen bzw. Abschriften sind nicht erhalten. Beide Typoskripte weisen kleinere hs. Korrekturen und Änderungen auf. Die Korrekturen in TS1 weichen merklich von Horváths üblichen Schreibgewohnheiten ab (fehlender u-Strich, Kurrent-d) und wurden vermutlich von fremder Hand eingetragen. Die Eintragungen von TS2 in grüner Tinte stammen demgegenüber klar von Horváths Hand, daneben befinden sich kleinere orthografische Korrekturen von vermutlich fremder Hand mit Bleistift. Mit Ausnahme der Korrektur eines überzähligen Beistrichs in einem wie-Vergleich nehmen Horváths Eintragungen in TS2 sämtliche Korrekturen von TS1 auf, wobei diese zum Teil leicht variiert (z.B. „ihr und ihm“ statt „ihm und ihr“ auf BS 47 x, Bl. 1) und erweitert werden. Zu Lebzeiten des Autors wurde der Text nicht publiziert. Das Fehlen vorangehender Entwürfe bzw. Textstufen und die Verfasserangabe in der Grundschicht deuten aber darauf hin, dass Horváth den Text als abgeschlossen erachtet hat (vgl. dazu das Vorwort sowie die Editionsprinzipien). Die Eintragungen fremder Hand könnten von einem Lektorat stammen, weitere Indizien deuten überdies darauf hin, dass Horváth den Text möglicherweise einer Zeitschrift zum Abdruck angeboten hat (vgl. die Ausführungen im Folgenden). Für die Erstellung des Typoskripts wurde dieselbe Schreibmaschine wie für Teile der Sportmärchen und andere frühe Prosaarbeiten verwendet, die bei einzelnen Typen markante Ober- und Unterlinien mit angeschlagen hat (vgl. dazu den Kommentar zu ET1). Hinweise zur genaueren Datierung gibt zum einen die Eintragung von Horváths Namen und seiner Berliner Adresse von fremder Hand auf TS2/BS 47 x, Bl. 3v („Ödön von Horváth W 30 Luitpoldstr. 34, c/o Bergmann“). Dieses Blatt stammt aus dem von Horváth selbst korrigierten Typoskript T2, Ähnlichkeiten der fremden Handschrift mit den ebenfalls von fremder Hand stammenden Eintragungen in T1 lassen sich nicht feststellen. Möglicherweise wurde Theodors Tod einer Zeitung oder Zeitschrift zum Abdruck angeboten, zeitgenössische Drucke des Textes sind jedoch nicht bekannt. Unter der Adresse Luitpoldstraße hatte Horváth im Jahr 1927 nachweislich gewohnt, wie zwei an Herbert Ihering gerichtete Briefe vom 11. bzw. 19. Mai 1927 belegen (vgl. Archiv der Akademie der Künste, Ihering-Archiv, M. 1593). Aufgrund fehlender Meldeunterlagen und der nur lückenhaften Überlieferung der Korrespondenz kann Horváths Aufenthalt unter dieser Adresse nicht genau abgeschätzt werden. Ebenfalls unter der Anschrift Luitpoldstraße 34 wohnte ab 1926 der Schriftsteller und Freund Horváths Ernst Weiß. Aufgrund seiner Bekanntschaft mit Weiß scheint diese Adresse daher kein Zufall gewesen sein, Horváth dürfte also ebenfalls
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frühestens ab 1926 während seiner regelmäßigen Berlinaufenthalte hier gewohnt haben. Die nächste nachweisbare Adresse in Berlin hatte Horváth 1931 in der Pension Lüttich in der Motzstraße (zum Adresseintrag vgl. auch das Vorwort und die letzte Kompilation der Sportmärchen, SM/TS20). Zum anderen erlauben verschiedene zeithistorische Anspielungen im Text selbst eine ungefähre Datierung. Angespielt wird unter anderem auf den 1926 vorgebrachten Vorschlag des Reichspostministers Karl Stingl (1864–1936), Friedrich den Großen auf Briefmarken abzubilden, was von den republiktreuen Parteien abgelehnt wurde und zur Demission Stingls Anfang 1927 führte. Damit verwoben ist eine Anspielung auf den Film Panzerkreuzer Potemkin (1925) von Sergei Eisenstein, der ebenfalls 1926 stark zensiert in deutschen Kinos gezeigt wurde. Die Nennung von Reichsinnenminister Wilhelm Külz (1875–1948) und dem „Jahre des Schmutz und Schundes“ (TS2/BS 47 x, Bl. 2) wiederum weist auf die öffentliche Debatte um die Einführung des „Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ hin, das gemeinhin als ‚Schmutz- und Schundgesetz‘ bezeichnet und am 18. Dezember 1926 unter Külz’ Ägide erlassen wurde (vgl. Reichsgesetzblatt 1926, Teil 1, S. 505). Aufgrund dieser Indizien kann Theodors Tod auf Ende 1926 bzw. Anfang 1927 datiert werden. Eventuell hat man hinter der Figur Theodor auch eine boshafte Anspielung auf den Journalisten und Abgeordneten der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) Theodor Heuss (1884–1963) zu sehen, der die Einführung des Gesetzes aktiv unterstützte. Theodors Tod gehört thematisch zum Textcluster der Spießer-Prosa aus der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre (vgl. dazu das Vorwort). Der Text weicht durch seinen exaltierten Stil allerdings merklich vom Gros der übrigen Arbeiten dieses Clusters ab. Ähnliche Stilmerkmale weisen demgegenüber die Texte Zwei Briefe aus Paris (ET1), Die Versuchung (ET7), die Sportmärchen (vgl. etwa SM/TS1/A2) sowie die Werkprojekte Amazonas (WP2) und Zwei Liebesbriefe (WP4) auf. Insbesondere zu Zwei Liebesbriefe steht Theodors Tod in einem besonderen Naheverhältnis, was vor allem an der am Fuß von TS2/BS 47 x, Bl. 1 notierten Wendung: „Seine Romantik war Sehnsucht nach Sachlichkeit und seine Sachlichkeit war Wille zur Romantik“ sowie dem folgenden Abschnitt über das Bett in einem „melancholischen Parke“ deutlich wird. Dieselben Passagen finden sich in beiden dem Werkprojekt zugehörigen Textstufen (vgl. WP4/TS1 und TS2), das überdies noch weitere thematische und stilistische Ähnlichkeiten zu Theodors Tod aufweist.
Einzeltext 6: Lachkrampf T1 = ÖLA 3/W 203 – BS 47 r, Bl. 1–4 4 Blatt unliniertes Papier (272 × 220 mm), dünn, Durchschlag (violett), gelocht und mit grüner Schleife gebunden, hs. Eintragungen mit Bleistift, masch. Paginierung 1–4 TS1 = Fassung mit Werktitel „Lachkrampf / von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht)
T2 = ÖLA 3/W 202 – BS 47 q, Bl. 1–4, ÖLA 3/W 204 – BS 47 s, Bl. 1–4 Insgesamt 8 Blatt, davon 4 Blatt unliniertes Papier (292 × 228 mm), dünn, und 4 Blatt unliniertes Papier (292 × 228 mm), dünn, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift und schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1–4 jeweils auf BS 47 q, Bl. 1–4 und BS 47 s, Bl. 1–4 TS2 = Endfassung mit Werktitel „Lachkrampf / Skizze von Ödön von Horváth“ konstituiert durch BS 47 s, Bl. 1–4 (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 115–118.
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Kurzprosa
Der Text Lachkrampf ist in zwei unterschiedlichen Textstufen überliefert. TS1 wird durch einen hs. mit Bleistift korrigierten Durchschlag (T1) konstituiert, der gelocht und mittels einer grünen Schleife gebunden wurde. Zu TS2 liegen zwei Durchschläge mit minimalen Korrekturen in Bleistift (T2) vor, wobei Horváth bei einem der Durchschläge noch mit schwarzblauer Tinte die Gattungsbezeichnung „Skizze“ (TS2/BS 47 s, Bl. 1) ergänzt hat. Trotz dieser Eintragung bzw. der Bindung von T1, die Horváth vermutlich zur Vorlage des Typoskripts bei einer Zeitung bzw. Zeitschrift angefertigt hat, enthält TS2 mit hoher Wahrscheinlichkeit die spätere Fassung. Darauf deuten sowohl die Umsetzung der in TS1 hs. eingetragenen Korrekturen in der masch. Grundschicht von TS2 als auch der dort merklich erweiterte Text hin. Wie aus einem um 1926/27 entstandenen Entwurf (WP1/E1) deutlich wird, hatte Horváth vor, den Text bzw. eine seiner Fassungen in einen geplanten Novellenband aufzunehmen, was die Entstehung von Lachkrampf um 1926 nahelegt. Zu Horváths Lebzeiten wurde keine der beiden Fassungen publiziert. Die Nennung des Titels für den (nie realisierten) Novellenband, die Einrichtung beider Typoskripte und das Fehlen vorangehender Entwürfe bzw. Textstufen weisen beide Fassungen als abgeschlossene Texte aus (vgl. dazu das Vorwort und die Editionsprinzipien). Die Typoskripte entstanden auf derselben Schreibmaschine, die Horváth auch für Teile der Sportmärchen und andere frühe Prosaarbeiten verwendet hat, was sich am Anschlag markanter Ober- und Unterlinien einzelner Typen ablesen lässt (vgl. den Kommentar zu ET1). Thematisch und stilistisch gehört Lachkrampf zum Textcluster der Spießer-Prosa aus der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre (vgl. dazu das Vorwort). Insbesondere einige inhaltliche Aspekte lassen eine Nähe zum Romanprojekt Herr Reithofer wird selbstlos von 1928/29 erkennen, beispielsweise die Formulierung „das Bett ist ein Symbol. Ein Symbol für das Bett“ (TS2/BS 47 s, Bl. 3), die ganz ähnlich vom Kunstmaler Arthur Maria Lachner geäußert wird (vgl. WA 14/K2/TS5/BS 5 a [5], Bl. 16, S. 113).
Einzeltext 7: Die Versuchung T1 = ÖLA 3/W 218 – BS 47 i, Bl. 1–6 6 Blatt unliniertes Papier (283 × 221 mm), hs. Eintragungen mit grüner Tinte TS1 = Endfassung mit Werktitel „Die Versuchung / von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 83–86.
Der Text Die Versuchung ist als Durchschlag mit kleineren Korrekturen in grüner Tinte überliefert, ein Originaltyposkript ist nicht überliefert. Der Durchschlag ist auf derselben Schreibmaschine entstanden, die Horváth auch für Teile der Sportmärchen und andere frühe Prosaarbeiten verwendet hat, was sich am Anschlag markanter Ober- und Unterlinien einzelner Typen ablesen lässt (vgl. den Kommentar zu ET1). Ungewöhnlich gegenüber der übrigen Kurzprosa ist ein separates Deckblatt (Bl. 1), auf dem der Titel sowie die Verfasserangabe getippt sind. Wie aus einem um 1926/27 entstandenen Entwurf (WP1/E1) hervorgeht, plante Horváth, den Text in einen Novellenband aufzunehmen; Die Versuchung dürfte deshalb um 1926 entstanden sein. Zu Horváths Lebzeiten wurde der Text nicht publiziert. Die Nennung des Textes für den (nie realisierten) Novellenband sowie die Einrichtung des Typoskripts weisen Die Versuchung als abgeschlossenen Text aus.
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Aufgrund der Vielzahl an fantastischen Elementen steht Die Versuchung vermutlich nur in losem thematischen Zusammenhang mit dem Cluster der zu dieser Zeit für Horváths Textproduktion typischen Spießer-Prosa. Der Text besitzt erkennbar expressionistische Stilmerkmale, wenngleich diese wie bei Horváths Prosa üblich bereits satirisch gebrochen erscheinen. Ähnliche Stilmerkmale weisen die ungefähr zur selben Zeit entstandenen Kurzprosatexte Zwei Briefe aus Paris (ET1), Theodors Tod (ET5) und Teile der Sportmärchen (vgl. etwa SM/TS1/A2) sowie die Werkprojekte Amazonas (WP2) und Zwei Liebesbriefe (WP4) auf.
Einzeltext 8: Großmütterleins Tod T1 = ÖLA 3/S 5 – BS 47 n [2], Bl. 1–5 5 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), geheftet, von Traugott Krischke angefertigte Abschrift eines nicht überlieferten Originals TS1 = Endfassung mit Werktitel „Grossmütterleins Tod“ (Grundschicht) Druck in: GW III, S. 98–102.
Der Text Großmütterleins Tod ist allein in einer im Nachlass den Sammlungen beigeschlossenen Abschrift überliefert, originale Arbeiten Horváths sind nicht erhalten. Obwohl die Abschrift nach einer masch. Anmerkung auf dem Blatt von Traugott Krischke selbst hergestellt worden ist, weichen die Veröffentlichungen in den verschiedenen, von Krischke herausgegebenen Ausgaben an einigen Stellen über zu erwartende Normalisierungen hinaus sowohl von der Abschrift als auch untereinander ab. So realisiert der Abdruck in der zuletzt von Krischke betreuten Edition der Kommentierten Werkausgabe (vgl. KW 11, S. 103–108) den ersten Satz des Textes nicht. In den Gesammelten Werken, wo der Text erstmalig publiziert wurde, ist dieser Satz aber enthalten (vgl. GW III, S. 98). Anscheinend wurde er in der Konstitution der Kommentierten Werkausgbe als Variante bewertet. In der Abschrift enthaltene Strukturmarkierungen in Form mehrerer masch. Bindestriche wurden in sämtlichen Abdrucken nicht berücksichtigt, außerdem stimmt die Einfügung von Leerzeilen sowie von Gedankenstrichen teilweise nicht überein. Näher an der Absatzgestaltung der Abschrift, wenngleich nicht identisch, ist hier der Abdruck in der Kommentierten Werkausgabe, dieser weist demgegenüber aber einige nicht in der Abschrift und auch nicht im Abdruck der Gesammelten Werke enthaltene Bindestriche auf. Besonders auffällig ist ein Anakoluth im dritten Absatz der Abschrift: „seit das Kind war noch nicht da, aber unterwegs“ (BS 47 n [2], Bl. 1). Während Krischke dieses in den Gesammelten Werken zu „seit das Kind zwar noch nicht da, aber unterwegs“ (GW III, S. 98) emendiert, ist in der Kommentierten Werkausgabe „seit das Kind zwar noch nicht da, aber unterwegs war“ (KW 11, S. 103) zu lesen. In der vorliegenden Transkription wird die Stelle als „seit das Kind noch nicht da, aber unterwegs war“ aufgelöst, da Horváth auch in anderen Texten gelegentlich dazu neigt, das Verb voranzustellen. Es ist letztlich nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob es sich bei diesem Anakoluth um ein Schreibversehen Horváths oder ein Versehen der Abschrift handelt. Überdies kann nicht ausgeschlossen werden, dass Krischke für alle Ausgaben noch auf das Original zurückgreifen konnte. Aufgrund der unsicheren Authentizität sowohl der Abschrift als auch der edierten Texte bei Krischke, werden in der vorliegenden Textkonstitution auch die abweichenden Lesarten in der ersten wie letzten von
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Kurzprosa
Krischke betreuten Edition des Textes (GW III, S. 98–103 und KW 11, S. 103–108) wiedergegeben. Bei Herausgebereingriffen in den Text der Abschrift, die allein typografische Fehler (z.B. überzählige Leerzeichen vor Satzzeichen) betreffen, wird der (redundante) Text Krischkes nicht wiedergegeben, da diese Eingriffe denen Krischkes in allen Abdrucken vollständig entsprechen. Zu Lebzeiten des Autors wurde Großmütterleins Tod nicht publiziert. Möglicherweise bezieht sich der im Plan zu einem Novellenband von 1926/27 (vgl. WP1) notierte Titel „Grossmutter“ auf den vorliegenden Text. Der Ausformulierungsgrad und die mögliche Verbindung zum (nie realisierten) Projekt eines Novellenbandes deuten darauf hin, dass Horváth diesen Text für abgeschlossen erachtet hat. Thematisch und stilistisch lässt sich Großmütterleins Tod dem Textcluster der Spießer-Prosa aus der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre zuordnen (vgl. das Vorwort). Aufgrund eines auffälligen Motivs besteht möglicherweise eine Verbindung mit der 1929 veröffentlichten Erzählung Das Fräulein wird bekehrt (ET16). Auf BS 47 n [2], Bl. 1 wird von der Großmutter berichtet, dass sie in einem Buch eine Rose fand „wie die Großmutter in Andersens Märchen“. Hier spielt Horváth ironisch auf H. C. Andersens Märchen Großmütterchen (Bedstemoder, 1845) an. Eine sehr ähnliche Anspielung findet sich in Das Fräulein wird bekehrt, wo die Großmutter des Fräuleins ebenfalls im Kontext dieses Märchens porträtiert wird (vgl. ET16/TS4/Kesten 1929, S. 398), und im textgenetischen Material zu dieser Stelle, an dem auch die Bezeichnung „Großmütterlein“ verwendet wird (vgl. den nur teilweise erhaltenen Text in WA 14/ET3/TS1/BS 4 c [1], Bl. 1). Wie weit aus der engen motivischen Verbindung auch eine zeitliche Nähe der Arbeiten zu folgern ist, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Das Fräulein wird bekehrt entstand erst 1928/29 im Umfeld der Arbeiten an Herr Reithofer wird selbstlos (vgl. WA 14/K2). Möglicherweise hat Horváth für diese Arbeiten auf seinen bestehenden Fundus nicht veröffentlichter Prosatexte zurückgegriffen. Die Figur der Großmutter ist in unterschiedlichen, meist boshaften Ausprägungen häufig in Horváths Werk anzutreffen (vgl. z.B. Geschichten aus dem Wiener Wald, WA 3, die Arbeiten zum „Roman einer Kellnerin“ und zu Herr Reithofer wird selbstlos, WA 14/K1–K2, sowie Don Juan kommt aus dem Krieg, WA 9). Der Tod der Großmutter an einer Lungenentzündung, an der sie durch den kalten Luftzug am Bahnhof erkrankt, fällt dabei besonders ins Auge: In Geschichten aus dem Wiener Wald ist es umgekehrt die dort auftretende Großmutter, die das uneheliche Kind Mariannes und Alfreds in den Luftzug stellt, um es aus der Welt zu schaffen.
Einzeltext 9: Der Tod aus Tradition T1 = ÖLA 3/W 217 – BS 47 e [2], Bl. 1–6 6 Blatt unliniertes Papier (292 × 228 mm), dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1–6 TS1 = Endfassung mit Werktitel „Der Tod aus Tradition / von Ödön von Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 91–95.
T2 = ÖLA 3/W 216 – BS 47 e [1], Bl. 1–6 6 Blatt unliniertes Papier (292 × 228 mm), dünn, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift, masch. Paginierung 1–6 TS2 = Fassung mit Werktitel „Der Tod aus Tradition / von Ödön von Horváth“ (nicht gedruckt)
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Der Text Der Tod aus Tradition ist als Typoskript (T1) sowie in einem davon angefertigten Durchschlag (T2) überliefert, die größtenteils identische hs. Korrekturen aufweisen. Beide Typoskripte wurden auf derselben Schreibmaschine angefertigt, wie sie für Teile der Sportmärchen sowie andere frühe Prosaarbeiten verwendet worden ist (vgl. ET1). Leichte Abweichungen der beiden Textstufen ergeben sich nur im Falle der hs. Ergänzung des Untertitels „Eine Legende aus den nördlichen Kalkalpen“, den Horváth in TS1 mit dem Zusatz „Verkalk-Gruppe“ und der Anmerkung „können Sie auch weglassen. Horváth“ versehen hat. Vermutlich hat Horváth den Text einer Zeitung bzw. Zeitschrift zum Abdruck angeboten, was neben dem Ausformulierungsgrad und der allgemeinen Einrichtung des Textes darauf hindeutet, dass Horváth ihn als abgeschlossen erachtet hat (vgl. dazu das Vorwort sowie die Editionsprinzipien). Der Tod aus Tradition gehört zum Textcluster der Spießer-Prosa, die vornehmlich in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre entstanden ist (vgl. das Vorwort). Horváth plante, den Text in einen Novellenband aufzunehmen, zu dem ein Entwurf aus den Jahren 1926/27 vorliegt (vgl. WP1/E1), womit sich die Entstehung des Textes in etwa datieren lässt. Die Anspielungen im Text auf das „Gesetz gegen Verrat militärischer Geheimnisse“ sowie auf „Schmutz und Schund“ sind weitere Indizien zur Datierung. Erstere könnte ein Seitenhieb auf die Auseinandersetzung der reichsdeutschen Justiz mit 1926 in der pazifistischen Weltbühne erschienenen Artikeln zum heimlichen Aufbau einer deutschen Luftwaffe sein. Die Anspielung auf „Schmutz und Schund“ bezieht sich vermutlich auf das Ende 1926 erlassene „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“, das gemeinhin als ‚Schmutz- und Schundgesetz‘ bezeichnet wurde (vgl. dazu ausführlich den Kommentar zu ET5).
Einzeltext 10: Aus den weissblauen Kalkalpen T1 = ÖLA 3/W 191 – BS 47 c, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 210 mm), dünn TS1 = Endfassung mit Werktitel „Aus den weissblauen Kalkalpen“ (Grundschicht) Druck in: GW III, S. 64f.
Der Text Aus den weissblauen Kalkalpen ist als Typoskript ohne hs. Korrekturen überliefert. Das verwendete dünne Papier ist stark vergilbt und ähnelt dem für Arbeiten zum Roman einer Kellnerin, einer Vorarbeit von Der ewige Spießer, benutzten (vgl. den Kommentar zu WA 14/K1/TS8–TS12). Der Text wurde zu Lebzeiten des Autors nicht publiziert. Anders als bei einem Großteil der übrigen Texte befindet sich die Verfasserangabe nicht beim Titel, sondern als Kürzel „oh.“ am Ende des Textes. Die Einrichtung des Textes sowie das Fehlen weiterer Arbeiten deuten darauf hin, dass Horváth diesen Text für abgeschlossen erachtete. Aus den weissblauen Kalkalpen spielt direkt auf die Landtagswahl in Bayern vom 20. Mai 1928 an, weshalb eine Entstehung des Textes im selben Jahr wahrscheinlich ist (vgl. hier auch den Kommentar in KW 11, S. 284). Thematisch gehört Aus den weissblauen Kalkalpen zu einer Reihe satirisch-ironischer (Reise-)Berichte des Autors aus Oberbayern und Tirol, von denen einige im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurden (vgl. ET11–ET14, ET18). Horváth war mit der Region aufgrund seines langjährigen Wohnsitzes im oberbayerischen Murnau am Staffelsee bestens vertraut und hat wiederholt Lokalereignisse als Ausgangspunkt
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für seine Werke herangezogen (vgl. dazu das Vorwort). Diverse Anspielungen lassen auch in Aus den weissblauen Kalkalpen Murnau als Ort der drei erzählten Begebenheiten durchscheinen: Der erwähnte Krottenkopf etwa ist der zwischen Murnau und Garmisch-Partenkirchen gelegene höchste Berg der bayerischen Voralpen. Bei dem im dritten Teil erwähnten „Mittersöching“ (BS 47 c, Bl. 2) handelt es sich vermutlich um eine Anspielung auf das nördlich von Murnau gelegene Obersöching.
Einzeltext 11: Abseits der Alpenstraßen D1 = Abseits der Alpenstraßen In: Reiseblatt des Berliner Tageblatts, 1. März 1929. TS1 = Endfassung mit dem Titel „Abseits der Alpenstrassen. Von Ödön Horváth“
Zu Abseits der Alpenstraßen sind keine hs. oder masch. Arbeiten Horváths überliefert, einzige Quelle ist der Abdruck im Reiseblatt des Berliner Tageblatts. Die Erwähnung der Probenarbeiten zu Die Bergbahn (Uraufführung am 5. Januar 1929 an der Volksbühne Berlin) zu Beginn des Textes legt nahe, dass der Text vermutlich Ende 1928 oder Anfang 1929 entstanden ist. In den Jahren 1929/30 verfasste Horváth weitere ironische bzw. satirische (Reise-)Berichte aus Bayern bzw. Tirol (vgl. ET10, ET12–ET14, ET18, vgl. auch WP8), die teilweise ebenfalls im Berliner Tageblatt erschienen sind. Insbesondere die Gegend um das oberbayerische Murnau am Staffelsee war ihm durch seinen langjährigen Wohnsitz dort bestens vertraut. Auf Murnau spielt der Erzähler auch indirekt an, wenn er das Gespräch mit der Kellnerin über die „rote Hand“ in einem „Orte mit dreitausend Einwohnern auf der oberbayerischen Hochebene zwischen Füssen und Tölz“ erwähnt. Das im zweiten Teil des Textes erwähnte Hinterhornbach thematisiert Horváth ausführlich in dem knapp ein Jahr später ebenfalls im Berliner Tageblatt veröffentlichten Reisebericht Hinterhornbach (ET18). Dass Horváth in Hinterhornbach öfters seinen Urlaub verbracht hat, ist durch den Bericht einer Freundin, Gustl Schneider-Emhardt, verbürgt (vgl. Gustl Schneider-Emhardt: Erinnerungen an Ödön von Horváths Jugendzeit, in: Horváth-Blätter 1/1983, S. 74). Die Möglichkeit, Texte im angesehenen Berliner Tageblatt zu veröffentlichen, ergab sich für Horváth vermutlich aus seiner gewachsenen Bekanntheit nach der erfolgreichen Premiere von Die Bergbahn am 4. Jänner 1929 an der Berliner Volksbühne. Horváth war im Zeitungsverlag Rudolf Mosse, dem Eigentümer des Berliner Tageblatts, aber auch aufgrund der Veröffentlichung mehrerer Sportmärchen in der zum selben Verlagshaus gehörigen Berliner Volks-Zeitung (SM/TS33–TS35) Ende 1926 kein Unbekannter mehr. Möglicherweise bestanden aus dieser Zeit entsprechende Kontakte.
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Einzeltext 12: Begegnung mit Kriminellen D1 = Begegnung mit Kriminellen In: Berliner Tageblatt, 1. Beiblatt, 25. April 1929. TS1 = Endfassung mit Werktitel „Begegnung mit Kriminellen. Von Ödön Horváth“
D2 = Verbrecher In: Freiheit (Wien), 27. April 1929. TS2 = Fassung mit Werktitel „Verbrecher“ (nicht gedruckt)
Zu Begegnung mit Kriminellen sind keine hs. oder masch. Arbeiten Horváths überliefert, die einzigen Quellen sind die Abdrucke im Beiblatt des Berliner Tageblatts (D1) sowie unter dem Titel „Verbrecher“ in der Wiener Zeitung Freiheit! (D2), der zwei Tage später veröffentlicht wurde. Der Text erschien im Tageblatt aufgeteilt auf zwei Seiten und teilte das Blatt auf S. 1 mit einem Beitrag über Wasserkraftprojekte in der Schweiz und in Norwegen von Oswald Flamm und auf S. 2 mit verschiedenen redaktionellen Artikeln über lokale Berliner Ereignisse und Kriminalfälle. Er gehört zu einer Reihe satirisch-ironischer (Reise-)Berichte aus Oberbayern und Tirol, die Horváth um 1930 vornehmlich im Berliner Tageblatt veröffentlichte (vgl. ET10, ET11, ET13, ET14 und ET18). Der Abruck des Textes unter dem anderen Titel „Verbrecher“ in D2 gibt indes einige Rätsel auf. Es handelt sich dabei um die einzige Veröffentlichung von Horváths Kurzprosa in einer österreichischen Zeitung, die jedoch über keine eindeutige Verfasserangabe verfügt. Horváths Autorschaft lässt sich hier nur aus der mit D1 identischen redaktionellen Vorbemerkung erschließen. Gegenüber D1 weist der Abdruck einige kleinere orthografische Abweichungen auf, die zum Großteil wohl durch Druckversehen entstanden sind (etwa „Aband“ statt „Abend“, „dann“ statt „denn“). Denkbar wäre, dass der Text von Horváths Verleger Ullstein lanciert wurde, um Werbung für die bereits geplante Veröffentlichung des dann erst ein Jahr später erschienen Romans Der ewige Spießer zu machen. An dieser Vermutung irritiert jedoch, dass sich Ullstein in Österreich nicht an ein ähnlich prestigeträchtiges Blatt wie das Berliner Tageblatt im Deutschen Reich, sondern an die zu diesem Zeitpunkt gerade anderhalb Jahre alte Freiheit! gewandt hat. Insgesamt ergibt sich so ein duchaus zwiespältiges Bild. Möglicherweise handelt es sich bei D2 um einen nicht autorisierten Abdruck, weshalb D1 als Endfassung gewertet wird. Im zweiten Teil des Textes bezieht sich Horváth auf den Fall der Raubmörder Heidger, die Ende Oktober 1928 bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Köln ums Leben kamen. Horváths Bericht über eine Begegnung bei Partenkirchen scheint im Wesentlichen den Tatsachen zu entsprechen, was auf ein autobiographisches Substrat des Beitrags hindeutet. In einem ausführlichen Beitrag zu den Vorfällen in Köln erwähnt etwa die Vossische Zeitung vom 26. Oktober 1928, dass sich die Brüder Heidger und ihr Komplize Lindemann im Sommer 1928 nach einem Überfall auf eine Nebenstelle der Reichsbank in den bayerischen Alpen aufgehalten hatten. Die Vossische Zeitung berichtet hier auch über den bei Horváth erwähnten Einbruch in die Münchener Polizeidirektion im Sommer desselben Jahres. Begegnung mit Kriminellen ist daher auch frühestens nach Ende Oktober 1928 entstanden, möglicherweise später, sofern die Zeitangabe im ersten Teil des Textes („Vor Weihnachten“) verlässlich ist. Ob der im ersten Teil geschilderte Kriminalfall ebenfalls auf einem tatsächlichen Geschehen beruht, ist unbekannt.
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Kurzprosa
Die redaktionelle Vorbemerkung des Artikels gibt einen Einblick in Horváths Erfolge als Schriftsteller Anfang 1929. Am 4. Januar 1929 feierte Die Bergbahn als erstes Stück Horváths in Berlin an der Volksbühne Premiere, eine frühere Fassung unter dem Titel Revolte auf Côte 3018 wurde bereits 1927 an den Hamburger Kammerspielen gezeigt. Für den angekündigten Roman Herr Reithofer wird selbstlos unterzeichnete er einen Tag nach Erscheinen des Beitrags, am 26. April 1929, einen entsprechenden Vertrag mit dem Ullstein-Verlag, der allerdings noch „Sechsunddreißig Stunden“ als Titel nennt. Eine Veröffentlichung dieses Textes kam nie zustande, und Horváth verarbeitete Teile dieses Romans später für den zweiten und dritten Teil seines Ende 1930 erschienenen Romans Der ewige Spießer. Vermutlich der Werbung für den geplanten Roman geschuldet ist die Anmerkung, es handle sich bei Begegnung mit Kriminellen um „Vorstudien“ zu Herr Reithofer wird selbstlos. In dessen Werkgenese lassen sich keine Verbindungen zum vorliegenden Text feststellen (vgl. WA 14).
Einzeltext 13: Das Bitterwasser-Plakat D1 = Das Bitterwasser-Plakat In: Berliner Tageblatt, 3. Beiblatt, 10. August 1929. TS1 = Endfassung mit Werktitel „Das Bitterwasser-Plakat. Von Ödön Horváth“ Druck in: Die Geschichtenerzähler. Neues und Unbekanntes von Allende bis Zafón. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 141f.
Zu Das Bitterwasser-Plakat sind keine hs. oder masch. Arbeiten Horváths überliefert, einzige Quelle ist der Abdruck im Beiblatt des Berliner Tageblatts. Unter der thematischen Überschrift „…… Reklame überall!“ erschien der Text gemeinsam mit den Beiträgen Erlebnis in einem Inserat von Hans Reimann und Reklame bis in das Grab! von Oskar Maria Graf, mit dem Horváth während seiner Berliner Jahre befreundet war. Bei der in der Erzählung genannten Ortschaft Vorderaltenau dürfte es sich um eine Anspielung auf das oberbayerische Dorf Altenau handeln, das nur wenige Kilometer von Horváths Wohnsitz in Murnau am Staffelsee entfernt liegt. So die diversen Zeitangaben des Textes auf realen Ereignissen gründen, lässt sich die Entstehung von Das Bitterwasser-Plakat auf frühestens Sommer 1928 datieren. Der Text gehört zu einer Reihe satirisch-ironischer (Reise-)Berichte aus Bayern und Tirol, die Horváth um 1930 verfasst und zumeist im Berliner Tageblatt publiziert hat (vgl. etwa ET10–ET12, ET14 und ET18). Den Ortsnamen Altenau verwendet Horváth auch in seinem Werkprojekt „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus (WP9), das um 1927/28 entstanden ist.
Einzeltext 14: Ein sonderbares Schützenfest T1 = ÖLA 3/W 211 – BS 47 j, Bl. 1–4 4 Blatt unliniertes Papier (287 × 225 mm), dünn, Durchschlag (violett), masch. Paginierung 1–4 TS1 = Endfassung mit Werktitel „Ein sonderbares Schützenfest / von Ödön Horváth“ (Grundschicht) Druck in: GW III, S. 66–69.
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Chronologisches Verzeichnis
Der Text Ein sonderbares Schützenfest ist als Durchschlag eines nicht erhaltenen Originals überliefert und weist keine weiteren hs. Eingriffe Horváths auf. Zu Horváths Lebzeiten wurde der Text nicht publiziert. Die Einrichtung des Typoskripts und das Fehlen von Entwürfen und Vorstufen deuten aber darauf hin, dass Horváth diesen Text als abgeschlossen erachtet hat. Der Text gehört zu einer Reihe satirisch-ironischer (Reise-)Berichte aus Bayern und Tirol, die Horváth um 1930 verfasst und zum Großteil im Berliner Tageblatt veröffentlicht hat (vgl. ET10–ET13 und ET18). Bei dem „sogenannten schmucken Markt“ (BS 47 j, Bl. 1) handelt es sich um eine Anspielung auf Murnau am Staffelsee, Horváths oberbayerischen Wohnsitz. Dies kann auch durch die Erwähnung des „Erinnerungsschiessens“ (ebd.) im vermutlich 1928/29 entstandenen Text Die Fürst Alm belegt werden, der das dort „Graf Arco Preisschiessen“ (WP8/TS1) genannte Ereignis explizit in Murnau verortet. So die genauen Datumsangaben („28. Juli, 3. und 4. August 1929“, BS 47 j, Bl. 1) verlässlich sind, kann Ein sonderbares Schützenfest auf die zweite Jahreshälfte 1929 datiert werden. Wie in der Forschung zu Horváths Prosa nachgewiesen werden konnte, hat Horváth sich für diesen Text tatsächlich an einem auch im Text erwähnten Beitrag über Murnau in einer Ausgabe der Illustrierten Das Bayerland von 1929 orientiert (vgl. BS 47 j, Bl. 2; vgl. dazu Elisabeth Tworek-Müller: Provinz ist überall. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 43f.).
Einzeltext 15: Mein Onkel Pepi / Pepis Album T1 = ÖLA 3/W 208 – BS 68, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (286 × 225 mm), dünn, Durchschlag (violett), masch. Paginierung 1, 2 TS1 = Fassung mit Werktitel „Mein Onkel Pepi / von Ödön Horváth“ (Grundschicht) Druck in: GW III, S. 103f.
D1 = Pepis Album In: Berliner Tageblatt, 5. Beiblatt, 11. August 1929. TS2 = Endfassung mit Werktitel „Pepis Album. Von Ödön Horváth“
Der Text ist unter dem Titel „Mein Onkel Pepi“ als Durchschlag ohne hs. Korrekturen überliefert (TS1). Unter dem Titel „Pepis Album“ wurde er mit kleineren Änderungen im Berliner Tageblatt gedruckt (TS2), in dem Horváth um 1930 verschiedene satirischironische (Reise-)Berichte aus Bayern und Tirol veröffentlichte (vgl. ET11–ET13 und ET18). In einem Brief an Walter Zadek vom 2. August 1929 kündigt Horváth an, dass Zadek „das gewünschte Familienportrait“ bald erhalten werde, womit vermutlich der vorliegende Text gemeint ist (Horváth an Walter Zadek, 2.8. 1929, ÖLA 84/S 48). Die Figur des Onkel Pepi hat ihre Vorlage in Horváths Biographie. Es handelt sich dabei um seinen Onkel Josef („Pepi“) Prenhal, k.u.k. Leutnant der Reserve, in dessen Wohnung in der Wiener Piaristengasse Horváth 1919 wohnte, während er sich auf die Reifeprüfung vorbereitete. Hinweise, die eine genaue Datierung der Textgenese erlauben, liegen nicht vor. Josef Prenhal verstarb Ende August 1929 nur kurz nach der Veröffentlichung des Textes. Ein mögliches Indiz zur ungefähren zeitlichen Einordnung gibt der Schluss des Textes: Den Ausruf „Also, wenn Du mal recht blöd bist, so denk an mich!“ verwendet Horváth in ähnlicher Form in seinem Romanprojekt Herr
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Kurzprosa
Reithofer wird selbstlos (vgl. etwa WA 14/K2/TS6/BS 5 a [9], Bl. 4) und auch im Abdruck des „Roman-Anfangs“ von Herr Reithofer wird selbstlos im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung am 4. Januar 1929 (vgl. WA 14/K2/TS10). Möglicherweise ist Mein Onkel Pepi also bereits in der zweiten Jahreshälfte 1928 im Umfeld dieser Arbeiten entstanden, so es sich nicht um einen originalen Ausspruch von Horváths Onkel handelt, der hier wie dort festgehalten wurde.
Einzeltext 16: Das Fräulein wird bekehrt Zum Text Das Fräulein wird bekehrt sind mehrere Typoskripte mit hs. Korrekturen (TS1 und TS2) sowie ein Durchschlag (TS3) überliefert. Die abgeschlossene Erzählung (TS4) wurde in die von Hermann Kesten herausgegebene Anthologie 24 neue deutsche Erzähler aufgenommen, die 1929 im Kiepenheuer Verlag erschienen ist. Das Fräulein wird bekehrt gehört in den Textcluster der Spießer-Prosa und ist ein Nebenprodukt des Romans Herr Reithofer wird selbstlos (WA 14/K2), an dem Horváth 1928/29 gearbeitet hat. Er entnimmt dem Romanprojekt für die vorliegende Erzählung etliche Figuren, Motive und Textpassagen, die später in mehr oder minder modifizierter Form auch in die Endfassung von Der ewige Spießer (WA 14/K4) eingegangen sind. T1 = ÖLA 3/W 130 – BS 4 c [1], Bl. 1–8 Insgesamt 8 Blatt, davon 7 Blatt unliniertes Papier (284 × 225 mm), 1 Blatt unliniertes Papier (112 × 225 mm), unregelmäßig geschnitten, Paginierung 2-4 und 6-9 auf Bl. 1-3 und 5-8, hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte TS1 = fragm. Fassung (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 281–285 (WA 14/ET3/TS1).
T2 = ÖLA 3/W 131 – BS 4 c [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 225 mm), Paginierung 6 TS2 = fragm. Fassung (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 286 (WA 14/ET3/TS2).
TS1 und TS2 sind in Form zweier Typoskripte überliefert, die beide nur fragmentarisch erhalten und vermutlich Ende 1928 oder Anfang 1929 entstanden sind. Zu TS1 fehlt ein Blatt mit der Paginierung 1, das den Anfang der Erzählung enthält und vermutlich die Familiengeschichte des namenlosen Fräuleins thematisiert hat (vgl. dazu den Beginn von TS4). In dieser Textstufe wird das Fräulein vom Buchhalter Schulz politisiert, weshalb sie an der Arbeiterwohlfahrtslotterie teilnimmt. Dort gewinnt sie 200 Mark, mit denen sie in die Berge auf Urlaub fährt, diesen aber dann krank im Bett verbringt. Die Erwähnung eines „Generaldirektor[s]“ (TS1/BS 4 c [1], Bl. 5), der der „Stolz des Dorfes“ war und in „[s]einer Heimat begraben sein“ (ebd.) möchte, weist auf eine Verwandtschaft dieses Textes mit dem Werkprojekt „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus (WP9) hin, das die Geschichte des Generaldirektors und der Ortschaft Altenau thematisiert. Den Namen des Buchhalters ändert Horváth in der Korrekturschicht von TS1 teilweise zu „Wiedmann“ (TS1/BS 4 c [1], Bl. 2), wodurch sich die Verbindung zu TS2 herstellen lässt, die eine fragmentarische Episode der Bekehrung des Fräuleins umfasst und nur zum Teil ausgearbeitet wurde. Den Namen Wiedmann führt hier ein Vertreter
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Chronologisches Verzeichnis
für Füllfederhalter, der auch in TS1 vorgesehen ist, dort aber keinen Namen trägt (vgl. TS1/BS 4 c [1], Bl. 4). T3 = ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, Bl. 1–14 14 Blatt unliniertes Papier, dünn (287 × 226 mm), Durchschlag, Paginierung 1–7 auf BS 4 a, Bl. 1–7 und auf BS 4 a, Bl. 8–14 TS3 = Fassung mit Werktitel „Das Fräulein wird bekehrt“ (nicht gedruckt) Druck in: GW III, S. 77–82.
D1 = Das Fräulein wird bekehrt In: 24 neue deutsche Erzähler. Hrsg. von Hermann Kesten. Berlin: Gustav Kiepenheuer 1929, S. 396–402. TS4 = Endfassung mit dem Werktitel „Ödön Horváth / Das Fräulein wird bekehrt“ Druck in: WA 14, S. 291–294 (WA 14/ET3/TS4).
H1 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, Eintragungen mit schwarzer Tinte E1 = Werkverzeichnis (unten, gedruckt mit ET19/E3) Druck in: WA 14, S. 708f (WA 14/K4/E13).
TS3 ist als Durchschlag ohne hs. Korrekturen überliefert. Der enthaltene Text war die Vorlage für die Druckfassung, die mit nur geringfügigen Änderungen in die Anthologie 24 neue deutsche Erzähler von Hermann Kesten aufgenommen wurde. Die Type der für TS3 verwendeten Schreibmaschine entspricht der für TS1 und TS2 benutzten. Mit dem Hinweis auf eine bevorstehende Operation des Reichskanzlers (TS4/S. 399) liefert die Erzählung einen indirekten Hinweis zur Entstehungszeit. Tatsächlich ist der deutsche Reichskanzler Hermann Müller im Frühjahr 1929 über längere Zeit hinweg krank gewesen und musste sich wiederholt Operationen unterziehen. Am 1. Juli 1929 schreibt etwa die Coburger Zeitung: „Reichskanzler Müller, dessen Gesundheitszustand in den letzten Wochen einiges zu wünschen übrig ließ, wird sich anfangs nächster Woche zu einem einmonatigen Erholungsurlaub nach Bad Mergentheim begeben.“ Die Schilderung der Familiengeschichte des Fräuleins in Das Fräulein wird bekehrt stimmt mit den in TS1 überlieferten Teilen überein, was die unmittelbare Verwandtschaft der Textstufen bezeugt. Die Schilderung der Großmutter, die im Gebetbuch eine Rose aufbewahrt (vgl. bereits TS1/BS 4 c [1], Bl. 1), ist eine Anspielung auf das Märchen Großmütterchen (Bedstemoder, 1845) von H. C. Andersen, die sich explizit auch in Großmütterleins Tod findet (vgl. ET8/TS1/BS 47 n [2], Bl. 1). Anstelle des Buchhalters Schulz bzw. Wiedmann von TS1 bekehrt hier Herr Reithofer das Fräulein zum Proletariat. Die Berge und die Arbeiterwohlfahrtslotterie sind auch hier (retrospektiv) Thema, Herr Reithofer berichtet, dass er 200 Mark gewonnen hat und deshalb die Berge sehen konnte. Zu dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos (WA 14/K2) zeigen sich in dem Kurzprosatext viele Parallelen. Horváth entnimmt dem Roman etliche Figuren, Motive und Textpassagen, etwa die Figur der Großmutter, die Verortung der Handlung in der Schellingstraße und die Schilderung der Rückkehr des Fräuleins in ihr Zimmer, die in vielen Aspekten mit der Erzählung von Agnes Pollinger übereinstimmt (vgl. die Passage in WA 14/K2/TS6/BS 5 a [9], Bl. 18–22). Den Werktitel „Das Fräulein wird bekehrt“ hat Horváth zuletzt im Notizbuch Nr. 5 in ein Werkverzeichnis (E1/ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7) eingetragen, weitere darin
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Kurzprosa
genannte Titel sind „Italienische Nacht“ und „Der ewige Spießer“. Das Werkverzeichnis steht neben Notizen zur Überarbeitung der Erzählung Die gerettete Familie (ET19), die unter dem Titel Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand in den Blättern des Deutschen Theaters als Begleittext zur Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald im November 1931 erschienen ist. Da es sich bei den in E1 genannten Titeln um die drei bis zu diesem Zeitpunkt in Büchern bzw. selbstständig veröffentlichten Werke Horváths handelt, war das Werkverzeichnis möglicherweise ebenfalls für die Blätter des Deutschen Theaters gedacht.
Einzeltext 17: In memoriam Alfred / Nachruf T1 = ÖLA 3/W 209 – BS 47 o, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (286 × 225 mm), dünn, Durchschlag (violett), masch. Paginierung 1, 2 TS1 = Fassung mit Werktitel „In memoriam Alfred“ (Grundschicht)
T2 = ÖLA 3/W 210 – BS 47 t, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm), hs. Eintragung mit schwarzblauer Tinte TS2 = Endfassung mit Werktitel „Nachruf“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 113f.
In memoriam Alfred ist als Durchschlag eines nicht erhaltenen Originaltyposkripts ohne hs. Korrekturen, Nachruf als Typoskript mit einem minimalen hs. Eingriff überliefert. Beide Textstufen umfassen in sich abgeschlossene, unterschiedliche Fassungen, deren Zusammengehörigkeit sowohl thematisch als auch durch eine große Zahl ähnlicher Textpassagen ersichtlich ist. Der Durchschlag T1/BS 47 o, Bl. 2 ist leicht fehlerhaft: Bei der Verfasserangabe am Fuß des Blattes hat sich keine Farbe durchgeschlagen, Horváths Name ist hier nur als Prägung im Papier zu erkennen. Die für T2 verwendete Schreibmaschine weist eine auffällig verschwommene Type auf, die eine materielle Verwandtschaft dieser Blätter mit Horváths Arbeiten zu Herr Kobler wird Paneuropäer Ende 1929 nahelegt (vgl. WA 14/K3). Das Durchschlagpapier von T1 wiederum hat eine sehr ähnliche Beschaffenheit wie dasjenige von Mein Onkel Pepi (vgl. ET15/T1). Anhand der materiellen Eigenschaften der Textträger und verschiedenen inhaltlichen Anspielungen auf die Romanprojekte des Jahres 1929 (vgl. die Ausführungen im Folgenden) lassen sich beide Textstufen ungefähr auf die zweite Jahreshälfte 1929 datieren. Keine der beiden Fassungen ist zu Horváths Lebzeiten publiziert worden. Aufgrund des Ausreifungsgrads der Texte und der Einrichtung der Typoskripte ist aber davon auszugehen, dass Horváth sie beide als abgeschlossen erachtet hat, wobei Nachruf als Fassung letzter Hand zu betrachten ist (vgl. dazu das Vorwort und die Editionsprinzipien). Aufgrund der Streichungen von Text sowie der Übernahme der Einfügung „für eine andere Firma“ auf TS1/BS 47 o, Bl. 2 in die entsprechende Stelle von TS2/BS 47 t, Bl. 2 kann In memoriam Alfred als die frühere Fassung ausgemacht werden. Beide Texte formulieren einen mit „Ödön Horváth“ unterzeichneten persönlichen Nachruf auf Alfred Kastner und unterscheiden sich neben einer abweichenden Einleitung und dem veränderten Schluss auch in verschiedenen Details: So verstarb Alfred Kastner in TS1 an der „Kopfgrippe“ (TS1/Bl. 1) und in TS2 nach einem unbestimmten „schweren Leiden“ (TS2/Bl. 1) bzw. beschimpft Kastner Horváth einmal als „Poet“ (TS1/Bl. 2) und das andere Mal als „Idealist“ (TS2/Bl. 2). TS2 ist gegenüber TS1 am Beginn wie am
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Ende gekürzt und umformuliert, dafür wurde eine an einen Partezettel erinnernde Todesnachricht vorangestellt. Die Hauptteile beider Fassungen stimmen indes überein, so die zweifelhafte berufliche Laufbahn Kastners und sein Ratschlag, sich aushalten zu lassen. Zugleich spielen sie äußerst selbstironisch auf Horváths bisherige Karriere als Schriftsteller an, der mit der Veröffentlichung von „Marienlegenden“ reüssiert, eine Anspielung auf seine ersten Erfolge mit den Sportmärchen, die wiederholt Erzählformen und Gattungsmerkmale religiöser Literatur aufnehmen. In memoriam und Nachruf können deshalb auch prototypisch für Teile der Kurzprosa Horváths stehen, die oftmals autobiographisch grundiert und naiv wirkt, tatsächlich aber metafiktional mit der (scheinbaren) Identität von Autor und Erzähler sowie von Leben und Text spielt (vgl. das Vorwort). In memoriam Alfred und Nachruf gehören über die Figur des Alfred Kastner in das unmittelbare Umfeld der Romane Herr Reithofer wird selbstlos und Der ewige Spießer. Kastner ist in beiden Romanen der Zimmernachbar von Agnes bzw. Anna Pollinger und vermittelt diese an einen Kunstmaler mit der Absicht, sie sich gefügig zu machen. In einem zum engeren werkgenetischen Kontext des Romans Der ewige Spießer gehörigen Werkverzeichnis mit Strukturplan (WA 14/K4/E7) notiert Horváth unter dem Titel „Herr Reithofer wird selbstlos. Ein neues Spiesserbuch“ ein Teilkapitel mit dem Titel „Herr Alfred Kastner stirbt“, mit dem vermutlich die vorliegenden Texte in Verbindung stehen. Andere Teilkapitel des Werkverzeichnisses tragen Titel wie „Fräulein Pollinger wird praktisch“, „Herr Reithofer wird selbstlos“, „Marianne oder die Verwesung“ (vgl. WA 14/K4/TS1) und „Hochwürden werden sinnlich“. Dabei handelt es sich um teils ausformulierte, teils im Entwurfsstadium verbliebene Texte aus dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos bzw. aus dem größeren Textcluster der Spießer-Prosa. Ein eigenes Kapitel zu Alfred Kastner in dieser Liste könnte darauf hindeuten, dass In memoriam Alfred bzw. Nachruf zu einer längeren Erzählung im Rahmen eines Novellenbandes ausgebaut werden sollte. Eine auffällige thematische Querverbindung zum Konvolut des Romans Herr Kobler wird Paneuropäer ist überdies die Erwähnung eines „christlichen chinesischen General[s]“. Von diesem spricht auch Herr Kakuschke, eine Bekanntschaft Koblers in einer frühen, Ende 1929 entstandenen Fassung des Romans (vgl. WA 14/K3/TS3/BS 6 a, Bl. 12). Bei dem dort erwähnten „General Feng“ handelt es sich vermutlich um Feng Yuxiang, einen zum Christentum konvertierten Heerführer im Chinesischen Bürgerkrieg ab 1927.
Einzeltext 18: Hinterhornbach H1 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 8, 9 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), schwarze Tinte, Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Brief aus Hinterhornbach“ (Bl. 8, 9) (Korrekturschicht) E1 = Strukturplan in fünf Teilen (Bl. 9, unten)
H2 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 8v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), schwarze Tinte TS2 = fragm. Fassung mit Werktitel „Kurzer Bericht aus Hinterhornbach“ (Grundschicht)
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T1 = ÖLA 3/W 212 – BS 47 u, Bl. 1–6 6 Blatt unliniertes Papier (284 × 213 mm), dünn, Durchschlag (violett), masch. Paginierung jeweils 1–3 auf Bl. 1–3 und Bl. 4–6 TS3 = Fassung mit Werktitel „Souvenir de Hinterhornbach / von Ödön Horváth“ konstituiert durch Bl. 1–3 (Grundschicht) Druck in: KW 11, S. 144f.
D1 = Hinterhornbach In: Berliner Tageblatt, 5. Beiblatt, 30. März 1930. TS4 = Endfassung mit dem Titel „Hinterhornbach. Von Ödön Horváth“ Druck in: Jean-Claude François: Ödön von Horváth: Vier Prosatexte. Erstausgabe und Kommentar. In: Recherches Germaniques 5 (1975), S. 317–328, hier S. 327f.
Hinterhornbach ist der letzte bekannte Text einer Reihe von satirischen (Reise-)Berichten Horváths, die zwischen 1928 und 1930 entstanden und zum Teil im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurden (vgl. ET10–ET14). Neben einem Strukturplan (E1) und zwei fragmentarischen Textstufen (TS1 und TS2) im Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364) sind zwei Durchschläge eines nicht erhaltenen Originaltyposkripts überliefert (TS3), deren Text als Vorlage für den Abdruck gedient hat. Der Drucktext (TS4) erschien unter der Überschrift „Am Rande der Zeit“ gemeinsam mit den Texten Die letzten Halloren von Hans Reimann und „Gütlers Eheleute“ von Oskar Maria Graf im Beiblatt des Berliner Tageblatts vom 30. März 1930. Zusammen mit Texten dieser Autoren hatte Horváth zuvor, ebenfalls im Berliner Tageblatt, 1929 Das Bitterwasser-Plakat veröffentlicht (vgl. ET13). Anhand der Eintragungen im Notizbuch Nr. 3 lässt sich die Entstehung von Hinterhornbach sehr genau datieren: Zu Beginn des Notizbuchs hat Horváth den Entwurf zu einem offenen Brief an Josef Fürst, den Herausgeber des Murnauer Tagblattes, eingetragen, der sich auf einen Artikel vom 13. März 1930 zum geplanten Reichstheatergesetz bezieht. Wenige Seiten später, auf denen erste Entwürfe zu Ein Wochenendspiel, Stunde der Liebe und Werkverzeichnisse notiert sind, finden sich die Arbeiten zu Hinterhornbach. Das in der Endfassung TS4 genannte Datum „15. März 1930“ dürfte somit den Gegebenheiten entsprochen haben und der Text deshalb relativ rasch entstanden sein. Die Tiroler Ortschaft Hinterhornbach, wo Horváth wiederholt auf Urlaub war, fand bereits in seinem Kurzprosatext Abseits der Alpenstraßen (ET11) Erwähnung, der ein knappes Jahr zuvor im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurde (vgl. den Kommentar dort). Der zuerst notierte „Brief aus Hinterhornbach“ (TS1) ist zunächst an eine „Klara“ adressiert, die bald durch einen nicht näher bestimmten „Herr[en]“ ersetzt wird. Dieser soll dem Erzähler in Aussicht gestellt haben, „mal im ‚B. T.‘ gedruckt zu werden“, womit das Berliner Tageblatt gemeint ist. Der Beginn des Briefes ist im Kontext der ironischen, mit autobiographischen Elementen spielenden Erzählhaltung in den Texten dieser Jahre zu sehen, nicht zuletzt da zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Texte Horváths im Berliner Tageblatt erschienen sind (vgl. ET11–ET13 und ET15). Möglicherweise hatte Horváth tatsächlich vorab eine Zusage erhalten und spielt hier mit der Rolle des aspirierenden Schriftstellers. Die Ortschaftsnamen werden, trotz des eindeutigen Titels, in TS1 noch verfremdet, das Dorf heißt hier zunächst „Hinterammerbach und liegt an dem Ammerbach“. Die Auflistung verschiedener Charaktere am Schluss der Textstufe und im anschließenden Strukturplan E1 deutet bereits auf die satirische Absicht des Berichts hin. In TS2 rückt Horváth wieder von der Briefform ab
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und notiert unter dem Titel „Kurzer Bericht aus Hinterhornbach“ Details zur Geografie und Einwohnerzahl, die sich allerdings leicht von den in TS1 enthaltenen unterscheiden. TS3 umfasst bereits den abgeschlossenen Text unter dem neuen Titel „Souvenir de Hinterhornbach“ (vgl. zum Titel auch „Souvenir de Piaristengass“, ET19/E1), dessen satirische Schärfe durch den scheinbar sentimentalen Charakter der ersten Absätze intensiviert wird. Die Erzählung von den verschiedenen Figuren und Geschehnissen fußt auf den Auflistungen von TS1 und E1, einzig der „Pfarrer, der wildert“ (E1) wird nicht in den fertigen Text übernommen. Der unter dem Titel „Hinterhornbach“ abgedruckte Text ist leicht gekürzt, es fehlen der zweite Absatz von TS3/BS 47 u, Bl. 1 über die Ferien und in der Beschreibung der Straße die Ergänzung, diese sei „noch vom K. K. Ärar angelegt worden“ (TS3/Bl. 1). Der restliche Drucktext entspricht unverändert der Vorlage. Die Notizen zur Entstehung als auch der erzählerische Charakter von Hinterhornbach weisen auf den hohen fiktionalen und stilisierenden Gehalt des Textes hin, der nichtsdestotrotz auf tatsächlichen Begebenheiten wie in diesem Falle Horváths Urlaube in Hinterhornbach fußt. Hinterhornbach ist damit auch ein exemplarischer Beleg für eine Form des literarischen Spiels im Grenzbereich von Fakt und Fiktion, das sich auch in anderen Kurzprosatexten Horváths erkennen lässt (vgl. etwa Nachruf, ET17, sowie Aus der Stille in die Stadt, ET20). Bezeichnend für die wechselseitige, metafiktionale Durchlässigkeit von (autobiographischer) Realität und Fiktion in Horváths Texten ist im gegenständlichen Falle auch eine Korrespondenz des Reiseberichts mit dem Werkprojekt „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ (WP7). Die einzige davon erhaltene Textstufe ist im Umfeld des Romans einer Kellnerin, einer frühen Konzeption von Der ewige Spießer (WA 14/K1), entstanden. Darin berichtet die Erzählerin über ein „altes Mütterlein, das sitzt in der Kirche auf der Hurenbank, weil ihr Sohn ein uneheliches Kind war“ (WP7/TS1/BS 60 b, Bl. 2). Dieselbe Episode findet sich in Hinterhornbach, jedoch ist das Werkprojekt mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits 1928 entstanden (vgl. den Kommentar dort). Daran ist anschaulich zu erkennen, wie austauschbar Episoden fiktiver wie faktualer Erzählung in Horváths Kurzprosa sind.
Einzeltext 19: Die gerettete Familie / Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand Die gerettete Familie und Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand wurden von Horváth als je eigenständige Kurzprosatexte veröffentlicht, sind aber genetisch eng miteinander verwandt. Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand entstand aus einer Überarbeitung des über ein Jahr zuvor erschienenen Textes Die gerettete Familie und war einer der Begleittexte zur Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald am Deutschen Theater Berlin am 2. November 1931. T1 = ÖLA 3/W 197 – BS 47 g, Bl. 1–4 4 Blatt unliniertes Papier (282 × 217 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand, masch. Paginierung 1–4 TS1 = Fassung mit Werktitel „Die gerettete Familie / von Ödön Horváth“ (Grundschicht)
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T2 = ÖLA 3/W 198 – BS 47 g [1], Bl. 1–4 4 Blatt unliniertes Papier (282 × 217 mm), Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit Bleistift und schwarzer Tinte, masch. Paginierung 1–4 TS2 = Fassung mit Werktitel „Die gerettete Familie / von Ödön Horváth“ (nicht gedruckt)
D1 = Die gerettete Familie In: Simplicissimus, 35. Jahrgang, Heft 6, 5. Mai 1930. TS3 = Endfassung mit dem Titel „Die gerettete Familie / Von Ödön Horváth“ Druck in: GW III, S. 87–89.
Zum Kurzprosatext Die gerettete Familie sind ein Typoskript (T1) sowie ein davon angefertigter Durchschlag (T2) überliefert. Der Text wurde in der Satire-Zeitschrift Simplicissimus abgedruckt, in der Horváth bereits zahlreiche seiner Sportmärchen veröffentlicht hatte. In beide Textträger sind eine leicht abweichende geringfügige Überarbeitung in schwarzer Tinte („ihrs nur grad vorgehalten“, TS1/Bl. 4 bzw. „ihr nur grad vorgehalten“, TS2/Bl. 4 statt „ihr nur grad Vorwürfe gemacht“ in der Grundschicht) sowie ein Strukturzeichen am Ende des Textes eingetragen. In TS2 befindet sich darüber hinaus eine kleinere Korrektur in Bleistift (Streichung von „seltsam“ im zweiten Absatz auf BS 47 g [1], Bl. 1), die wahrscheinlich vom Autor stammt. TS1 weist mehrere Markierungen und orthografische Korrekturen mit Bleistift von fremder Hand auf, mit denen der Text für den Abdruck eingerichtet wurde. Die im Simplicissimus abgedruckte Fassung (TS3) setzt Horváths hs. Korrektur auf TS1/Bl. 4 nur unvollständig um und realisiert hier die Variante von TS2. Ob es sich dabei um einen redaktionellen Eingriff bzw. ein Druckversehen handelt oder dem Simplicissimus auch TS2 vorgelegen hat, ist unklar. Weder Horváth selbst noch die Redaktion des Simplicissimus korrigieren in TS1 bzw. TS2 eine offensichtliche Abweichung in den Jahreszahlen: Während der Erzähler zu Beginn seine Affäre mit Frau Tomaschek am „7. August 1922“ schildert, berichtet Herr Tomaschek später, dass seine Frau ihn am „7. August 1923“ betrogen hätte. Ob diese Abweichung von Horváth hier absichtlich eingefügt wurde, lässt sich nicht feststellen, die Druckfassung gibt bei beiden Daten zuletzt übereinstimmend den „7. August 1922“ an. Dieses Datum nennt auch die 1931 in den Blättern des Deutschen Theaters abgedruckte, von Horváth revidierte Fassung mit dem Titel Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand (TS4). Die gerettete Familie erschien in der Ausgabe des Simplicissimus vom 5. Mai 1930. Auf derselben Seite abgedruckt waren die Gedichte Schwarzer Maibock von Peter Scher, i.e. Fritz Schweynert, und Das Fricksche Schulgebet von Karl Kinndt, i.e. Reinhard Koester. Zuletzt hatte Horváth 1926 mit dem Sportmärchen Der Herr von Bindungshausen (SM/D9/TS36) einen Text im Simplicissimus veröffentlicht. Die gerettete Familie gehört zum Textcluster der Spießer-Prosa Horváths, die in den späten 1920erund frühen 30er-Jahren entstanden ist und in den Romanen Herr Reithofer wird selbstlos und Der ewige Spießer kulminierte (vgl. dazu das Vorwort). Ein namenloser Erzähler schildert hier, wie er mittels intriganter Methoden die Familie Tomaschek „vor dem Verfall“ gerettet habe, den er durch seine Affäre mit Frau Tomaschek selbst mitverursacht hatte. Sowohl der aus dem Tschechischen stammende Familienname Tomaschek als auch die Angabe „VIII. Bezirk“ deuten auf Wien, genauer den Bezirk Josefstadt, als Ort der Handlung hin.
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Chronologisches Verzeichnis
H1 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 2 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, Eintragungen mit schwarzer Tinte, Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E1 = gestrichener Werktitel „Souvenir de Piaristengass“ (oben) E2 = gestrichene Notiz (oben mittig)
H2 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, Eintragungen mit schwarzer Tinte E3 = gestrichener Werktitel (oben und mittig) Druck in: WA 14, S. 708f. (WA 14/K4/E13).
H3 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7v, 8 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, Eintragungen mit schwarzer Tinte E4 = gestrichener Werktitel (Bl. 8, oben und mittig) E5 = gestrichene Notizen (Bl. 8 unten, Bl. 7v)
D2 = Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand In: Blätter des Deutschen Theaters. Heft III, Spielzeit 1931/32. TS4 = Endfassung mit Werktitel „Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand / Von Ödön Horváth“
Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand entstand aus der Überarbeitung von Die gerettete Familie und wurde in den Blättern des Deutschen Theaters zur Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald am 2. November 1931 in Berlin abgedruckt. Die Figur des Hierlinger Ferdinand ist eine wichtige Nebenfigur der Endfassung in drei Teilen des Volksstücks, ein Freund von Alfred, der die verstoßene Marianne als Tänzerin in die Nacktbar Maxim vermittelt. Erstmals erwähnt wird diese Figur allerdings schon früher, in der Gesamtfassung in sieben Bildern (vgl. WA 3/K4/TS24/BS 37 h, Bl. 13). Einige Notizen und Werktitel im Notizbuch Nr. 5 (ÖLA 3/W 365), das Horváth zwischen September und November 1931 verwendet hat, dokumentieren den Überarbeitungsprozess von Die gerettete Familie zu Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand. Die Notiz E1 steht neben Arbeiten zum Werkprojekt Im Himmel der Erinnerung (WP15), das auf verschiedenen textlichen Überlegungen zu frühen Konzeptionen von Geschichten aus dem Wiener Wald fußt (vgl. v.a. WA 3/K3/TS7). Zuletzt taucht dieser Titel dort als Revuenummer im Heurigen/Maxim-Bild (III/1) auf (vgl. WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 91f.). E1 führt den Titel „Souvenir de Piaristengass“ (vgl. den Titel „Souvenir de Hinterhornbach“, ET18/TS3) und weist noch keine erkennbare Nähe zu Die gerettete Familie auf. Der genetische Bezug zu den späteren Entwürfen lässt sich hier allein durch den Namen Hierlinger Ferdinand herstellen. Die im Notizbuch auf E1 und E2 folgenden Eintragungen deuten darauf hin, dass Horváth zunächst der aus Geschichten aus dem Wiener Wald ausgeschiedenen Episode im „Himmel der Erinnerung“ des Rittmeisters den Vorzug als Begleittext zur Uraufführung geben wollte (vgl. den Kommentar zu WP15). Im Notizbuch Nr. 5 folgen auf E1 und E2 auch erste Entwürfe zum Volksstück Kasimir und Karoline (vgl. WA 4/VA2). E3 wurde danach auf Bl. 7 eingetragen und umfasst eine Serie von Titelentwürfen, die
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Kurzprosa
sich in E4 auf Bl. 8 fortsetzt. E5 dokumentiert schließlich einige Überlegungen Horváths zu textlichen Veränderungen, die alle Eingang in den Drucktext fanden. Über die im Notizbuch Nr. 5 dokumentierten Änderungen hinaus weist Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand gegenüber Die gerettete Familie eine Reihe kleinerer stilistischer Eingriffe auf. Besonders auffällig ist die große Zahl an e-Apokopen (z.B. „Schul“, „müßt“) sowie an Wechseln in der Wortwahl (etwa „Antipathie“ statt „Groll“, „en passant“ statt „nebenbei“). Vermutlich sollte der Text für das Berliner Publikum stärker einem österreichischen bzw. als österreichisch empfundenen Sprachgebrauch angenähert werden. Im letzten Drittel der Erzählung hat Horváth überdies Änderungen an der Absatzgestaltung vorgenommen. Während nach dem Satz: „Auch aus sich hinaus.“ bzw. zwei Absätze weiter vor dem Satz: „Also eine solche Wirkung haben meine Worte noch kaum jemals gehabt.“ in TS3 jeweils ein Absatz folgt, liegt an denselben Stellen in TS4/S. 4 fortlaufender Text vor. Neben dem Text Horváths enthält die Ausgabe der Blätter des deutschen Theaters einen Auszug aus den anonymen Bemerkungen oder Briefe über Wien eines jungen Bayern auf einer Reise durch Deutschland an eine Dame von Stande (1804), den Text Kahlenbergschwärmerei aus der Sammlung Die Leute von Wien (1889) des Wiener Feuilletonisten Eduard Pötzl, eine stark gekürzte Fassung der kulturhistorischen Betrachtung Beim Heurigen aus dem Band Wiener Blut. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau (1873) von Friedrich Schlögl, die Erzählung Die Trafikantin aus dem Bilderbuch Bei uns z’Haus. Genrebilder aus dem Wiener Leben (1888) von Vincenz Chiavacci, einen Auszug aus der Beschreibung der Wiener Kaffeehäuser aus den Neuesten Beschreibungen von Wien (1812) von Johann Pezzl und eine Auswahl von Aphorismen Arthur Schnitzlers aus seinem Buch der Sprüche und Bedenken (1927). Als Motto ist den Blättern ein Epigramm Grillparzers beigegeben: „Hast du vom Kahlenberg das Land dir rings besehn, / So wirst du, was ich schrieb und was ich bin, verstehn.“ Darüber hinaus enthält das Heft teils historische Fotografien der Stadt Wien und der Wachau sowie ein Titelblattfaksimile des Notenhefts des Walzers Geschichten aus dem Wienerwald (Op. 325) von Johann Strauss (1825–1899).
Einzeltext 20: Aus der Stille in die Stadt Aus der Stille in die Stadt erschien am 25. Mai 1930 im Berliner Tageblatt, in dem Horváth in den Jahren 1929/30 mehrere satirische (Reise-)Berichte und Kurzprosatexte veröffentlicht hat. Aus dessen genetischem Konvolut wurden zwei Textstufen in früheren Editionen Traugott Krischkes unter dem Titel „Flucht aus der Stille“ (TS5, vgl. KW 11, S. 187f.) bzw. dem Incipit „Unlängst traf ich einen Bekannten …“ (TS8, vgl. KW 11, S. 189–192) als autobiographische bzw. theoretische Texte Horváths gewertet und im entsprechenden Werkumfeld ediert. Der diesen Editionen unbekannte Drucktext, der stilisierte Charakter der übrigen im Berliner Tageblatt veröffentlichten Kurzprosa sowie die zahlreichen Veränderungen des Textes im Verlauf seiner Genese deuten indes auf einen fiktionalen Text hin, der wie viele andere Kurzprosatexte Horváths mit einem autobiographischen Moment spielt (vgl. Vorwort).
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T1/H1 = ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht, oben) E1 = Notiz (mittig) TS2 = fragm. Fassung (Korrekturschicht, unten)
T2 = ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“ TS3 = fragm. Fassung (Grundschicht)
H2 = ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, Bleistift TS4 = fragm. Fassung (Grundschicht) Druck als Faksimile in: Krischke/Prokop 1972, S. 76.
Zu Aus der Stille in die Stadt liegen insgesamt zwölf Textstufen sowie ein Entwurf vor. Die enge genetische Zusammengehörigkeit des Konvoluts wird, neben den eindeutigen textlichen Bezügen, durch das verwendete Papier mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“ angezeigt. Papier dieser Sorte hat Horváth für Arbeiten zu seinen Romanprojekten Herr Reithofer wird selbstlos, Herr Kobler wird Paneuropäer und Der ewige Spießer (vgl. WA 14/K2–K4) sowie für den zu diesem Konvolut gehörigen fragmentarischen Kurzprosatext Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München (WA 14/ET1) verwendet, die auf die Jahre 1929/30 datieren. Weitere Blätter dieser Sorte finden sich im Werkprojekt Wer den Pfennig nicht ehrt (WP10) sowie in den Konvoluten zu Ein Wochenendspiel (vgl. ÖLA 3/W 3 – BS 12 c, Bl. 4–8), Elisabeth, die Schönheit von Thüringen (einer Vorarbeit zu Geschichten aus dem Wiener Wald, vgl. WA 3/VA1) und zuletzt, in merklichem zeitlichen Abstand, in den Nacharbeiten zu Kasimir und Karoline (vgl. WA 4/K5c/TS3). Das Papier war ein Produkt der Firma Max Krause, von der Horváth ab 1930 auch andere Schreibpapiere verwendet hat. Karierte Blätter mit dem Wasserzeichen „M.-K. Papier“ liegen in den Konvoluten zu Geschichten aus dem Wiener Wald (WA 3/K1) und Kasimir und Karoline (WA 4/K5a und K5c) vor, unlinierte Blätter mit dem Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“ im Konvolut des Romanprojekts Himmelwärts (WP17). Weitere Indizien für die textgenetische Nähe der Blätter sind die durchgängige Verwendung von Bleistift für hs. Ausarbeitungen und Korrekturen sowie die benutzte Schreibmaschine, die auch Aufschluss über die Datierung gibt. Mit einer ähnlichen Type und schwarzem Farbband hat Horváth Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München (WA 14/ET1), das Werkprojekt Wer den Pfennig nicht ehrt (WP10) sowie das Vorwort des Einreichtyposkripts von Der ewige Spießer (WA 14/K4/TS4/BS 8, Bl. 1) getippt. Für das Vorwort zu Der ewige Spießer wurde ebenfalls ein Blatt mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.K.-Papier“ benutzt, was sich mit den Eckdaten der Werkgenese des Romans deckt, dessen Typoskript laut Anmerkung der Setzerei am 11. Juli 1930 satzfertig vorlag. Die Arbeiten zu Aus der Stille in die Stadt sind deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit parallel zu den letzten Arbeiten an Der ewige Spießer entstanden. Die zeitliche Nähe der Textgenese zum Abdruck am 25. Mai 1930 im Berliner Tageblatt und die dort gestaltete Themenseite (vgl. den Kommentar zu TS12) lassen zumuten, dass Horváth zu diesem Text explizit eingeladen wurde. TS1, E1 und TS2 wurden auf demselben Blatt eingetragen und sind die frühesten Ar-
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beiten zu Aus der Stille in die Stadt. Nachdem Horváth die wenigen Zeilen von TS1 masch. getippt hat, hat er unmittelbar darunter die Notizen von E1 hs. mit Bleistift eingefügt, die weitere Aspekte seines Textes umreißen sollen. Wie die Topografie des Blattes zeigt, wurde TS1 erst nach der Eintragung von E1 überarbeitet. Anschließend setzt der Autor mit TS2 seine Arbeit am Text fort, wofür er sich aber nur sehr grob an der Korrekturschicht von TS1 orientiert. Die Verwendung des überarbeiteten Beginns von TS1 („Die Stille ist oft besungen worden und zwar nach allen Regeln der Reimerei“) in den folgenden Textstufen bietet eine ungefähre Orientierung über die weitere Genese (vgl. TS4). TS3 übernimmt sowohl den veränderten Beginn als auch weitere hs. Überarbeitungen von TS1 und einen Großteil des masch. Textes. Nicht übernommen wird die umfänglichere hs. Ergänzung („Nun wird aber […]“) an der Grenze zu E1. In TS3 folgt an dieser Stelle eine erste Ausarbeitung der Argumentation des Erzählers, weshalb der Stadt der Vorzug zu geben sei. Der Text bricht am Fuß des Blattes sehr unvermittelt ab, vermutlich haben hier ursprünglich weitere Blätter vorgelegen, die nicht überliefert sind. Horváth fügt in TS3 keine hs. Korrekturen ein, sondern fertigt stattdessen mit TS4 eine weitere hs. Textstufe auf einem separaten Blatt an. Hier beginnt er zunächst mit den Worten „Die Stille ist“, streicht diese aber sogleich und beginnt seinen Text nun mit der Passage einsetzend mit „Wenn ich antworten soll“, die er in TS3 auf der unteren Blatthälfte getippt hat. Die in einer Sofortkorrektur vorgenommene Änderung des Anfangs sowie die zuletzt notierte „Gefahr des ‚Romantisch-werden[s]‘“ weisen TS4 als unmittelbare Vorstufe von TS5 aus. T3 = ÖLA 3/W 229 – BS 64 k [2], Bl. 4–6 3 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift TS5 = fragm. Fassung mit Werktitel „Flucht aus der Stille oder das Werden eines neuen gesell. Bew.“ (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 657f. (Korrekturschicht); KW 11, S. 187f. (Grundschicht).
TS5 liegt ebenfalls auf Blättern mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“ vor (vgl. den Kommentar zu TS1). Hier ist dem Text erstmals ein Titel beigegeben, der das Motiv der Stille sowie das bereits in TS3 angesprochene „gesellschaftliche Bewusstsein“ aufnimmt. Der Beginn entspricht der Umstellung von TS4, orientiert sich textlich aber vor allem an der Gestaltung der Passage in TS3. Mit der Einführung der Figur eines fragenden Freundes konkretisiert Horváth den Antwortcharakter des Textes und deutet damit einen wichtigen konzeptionellen Schritt hin zur Dialogsituation der folgenden Textstufen an. Die auf TS5/Bl. 2, 3 folgende Ausarbeitung ist noch vorläufig, weist aber schon maßgebliche Motive und Sequenzen auf, so etwa die Vorstellung, am „Lande in der sozialen Schicht, die untergeht“, zu leben oder die Notwendigkeit, „zum denken einen Stuhl“ (Bl. 2) zu benötigen, womit die finanziellen Sorgen der jungen Schriftstellergeneration verdeutlicht, zugleich aber auch ironisiert werden. Weitere Elemente übernimmt Horváth aus den vorangegangenen Textstufen, so die neuerliche Feststellung, dass die „Stille oft besungen worden“ sei und ihre Bedeutung für die Fantasie aus TS1–TS3 sowie die „Gefahr des Romantischwerden[s]“ aus TS4. Der auf TS5/Bl. 2 notierte Seitenhieb Horváths auf die Kritik, dass seine Generation „keine Seele“ habe, verknüpft TS5 mit einem mit „Sie haben keine Seele!“ be-
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titelten fragmentarischen Text, der sich im Notizbuch Nr. 6 (ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 3, 2, 5) befindet. Das Notizbuch Nr. 6 hat Horváth Ende 1929/Anfang 1930 verwendet, es enthält vor allem Entwürfe zum Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer. Seine materielle Beschaffenheit wirft allerdings einige Fragen auf. Die den Text „Sie haben keine Seele!“ enthaltenden Blätter sind herausgerissen und im Zuge einer mangelhaften Restaurierung in der falschen Reihenfolge und vermutlich auch an der falschen Stelle des Notizbuchs wieder eingeklebt worden (vgl. dazu den Kommentar zu WA 14/K3/E1). Der mutmaßliche Anlass für diesen Text deutet darauf hin, dass er ursprünglich am Ende des Notizbuchs stand: Horváth kritisiert hier den gegenüber seiner Generation erhobenen Vorwurf, „erschreckend gut“, aber „kalt“ (Bl. 3) zu schreiben und führt gegen die „Vorkriegsquatscher“ bzw. die „romantischen Quatschköpf“ (Bl. 2) einen dezidiert neusachlichen Zugang zur Literatur ins Feld. Krischke vermutete, dass Horváth damit auf eine Besprechung von 24 neue deutsche Erzähler (vgl. ET16) reagierte, die Heinrich Mann in der Literarischen Welt vom 4. April 1930 veröffentlicht hatte (vgl. KW 11, S. 269). Mann warf darin der jungen Schriftstellergeneration vor, nur zu berichten und der Seele keinen Raum zu lassen. Da Horváth aber Heinrich Mann auch in einem wesentlich zahmeren Briefentwurf, der im Notizbuch Nr. 3 eingetragen ist (ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 21f.), antworten wollte, bleibt der genaue Adressat von „Sie haben keine Seele!“ unsicher. Möglicherweise reagierte Horváth hier auf eine von Peter Panter, i.e. Kurt Tucholsky, in der Weltbühne vom 22. April 1930 veröffentlichte Besprechung des Bandes, in der er vor allem den Beitrag Horváths kritisiert (vgl. Peter Panter: Auf dem Nachttisch (22.4.1930). In: Die Weltbühne 26 (1930), S. 621–626). In dieser Besprechung fallen auch die Urteile, die Autoren schrieben „ganz kalt, scheinbar unbeteiligt“, aber fallweise doch so gut, „daß es zum Erschrecken ist“ (ebd., S. 623). Aufgrund des merklichen zeitlichen Abstands zwischen den Kritiken und den letzten Eintragungen im Notizbuch Nr. 6 (ÖLA 3/W 363), die noch mit vermutlich bereits Ende 1929 entstandenen Strukturplänen zu Herr Kobler wird Paneuropäer (vgl. WA 14/K3) befasst sind, ist eine direkte Beziehung allerdings unsicher. Denkbar wäre aber auch, dass Horváth allein für diese Eintragungen das Notizbuch noch einmal zur Hand genommen und deshalb die in der Restauration wieder eingefügten Blätter selbst herausgerissen hat. T4 = ÖLA 3/W 228 – BS 64 k [1], Bl. 6a 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1 TS6 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
T5 = ÖLA 3/W 230 – BS 64 k [3], Bl. 10–12 3 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1–3 TS7 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
T6 = ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5], Bl. 13–16 4 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1–4 TS8 = Fassung (Korrekturschicht) Druck (Grundschicht) in: KW 11, S. 189–192.
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Wie auch die anderen Arbeiten zu Aus der Stille in die Stadt liegen TS6–TS8 auf Blättern mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“ vor (vgl. den Kommentar zu TS1). Den in TS5 mit der Figur eines fragenden Freundes angedeuteten konzeptionellen Schritt hin zu einem stärker dialogisch arbeitenden Text vollzieht Horváth zur Gänze in TS6. Er übernimmt zunächst den Beginn von TS5 („Wenn ich gefragt werde …“) und schließt eine neuerlich variierte Antwort an. Nach wenigen Zeilen bricht er das Typoskript hier aber ab und setzt gleich danach unmittelbar in einem Dialog mit der Frage ein, die „ein Bekannter“ dem Erzähler stellt. Diesen erzählerischen Auftakt behält Horváth in unterschiedlichen Variationen auch in den folgenden Textstufen bei. Den bisherigen Anfang streicht er während der Überarbeitung von TS6 mit Bleistift. Der grundlegende Aufbau weist schon deutliche Parallelen zur später abgedruckten Fassung auf. Auch nehmen die Ironiesignale des Textes immer mehr zu, etwa in der Betonung der „würzige[n] Luft“ als Kriterium für ein Leben am Lande. Die Textstufe ist nur fragmentarisch überliefert, am Fuß des Blattes bricht der Text mitten im Satz („wenn Sie wollen werde ich es“) ab. Gemeinsam mit der hs. eingefügten Paginierung 1 deutet dies darauf hin, dass hier zunächst mehrere Blätter vorgelegen haben müssen, die nicht erhalten sind. TS7 fixiert den neu gewählten Einstieg mittels einer Dialogsituation und bietet auf insgesamt drei Blättern eine bereits sehr weit gediehene fragmentarische Fassung. Dafür greift Horváth wieder auf Passagen der ersten Textstufen zurück, etwa in der Ausführung über die Stille, in der er den Beginn von TS1–TS3 wiederaufnimmt („Die Stille ist oft besungen worden“, Bl. 10), die vulgärfreudianische Anmerkung über die „Ermordung des Urpapas“ (Bl. 10, vgl. TS1 und TS3) und die Verführung zur „Romantik“ (Bl. 11, vgl. TS4). Im Mittelpunkt der Argumentation des Erzählers steht das selbstständige Erleben des in TS5 angesprochenen, hier stärker marxistisch grundierten „Werden[s]“ eines neuen „gesellschaftlichen Bewusstsein[s]“ (Bl. 12). Horváth bricht die Ausarbeitung auf Bl. 12 ungefähr in der Mitte des Blattes ab und überarbeitet Bl. 10 hs. mit Bleistift. Der in diesen Arbeitsschritt eingefügte Satz „Unlängst traf ich einen Bekannten in der Motzstrasse“ bestimmt von nun an den Beginn aller folgenden Textstufen bis hin zur Endfassung. In TS7 notiert Horváth zunächst „Passauer“, ändert aber dann sogleich wieder in „Motzstrasse“, beides zwei nahe gelegene Straßen in Berlin Schöneberg bzw. Wilmersdorf. In der Pension Lüttich, Motzstraße 20, wohnte Horváth zumindest im März 1931, möglicherweise bereits früher, wie aus seinem Briefwechsel mit dem Ullstein Verlag hervorgeht (vgl. Brief des Ullstein Verlags an Horváth vom 25.3.1931, Vertragsarchiv des Ullstein-Buchverlags; vgl. auch den Kommentar zu ET5). Der Name der Straße, in der die Begegnung stattfinden soll, wechselt im weiteren Verlauf der Bearbeitung mehrfach (vgl. TS8 und TS9) und ist ein wichtiges Indiz für den vornehmlich fiktionalen Charakter des bisher als autobiographisch-theoretische Äußerung des Autors gewerteten Textes. Die übrigen Blätter von TS7 weisen, abgesehen von einer hs. eingefügten Paginierung, keine Bearbeitungsspuren auf. Die auf TS7/Bl. 10 eingetragenen Korrekturen setzt Horváth in TS8 um, die auf insgesamt vier Blättern eine bereits in der Grundschicht abgeschlossene Fassung enthält. Der Dialog beginnt mit den in TS7 hs. eingefügten Worten „Unlängst traf ich einen Bekannten“, Ort der Handlung ist aber nicht die dort zuletzt notierte Motzstraße, sondern die Zimmerstraße entlang der Grenze von Berlin Mitte und Kreuzberg. Größere, in TS7 nicht angezeigte Änderungen am Text nimmt der Autor ab Bl. 14 vor. Er erweitert die Passage über die zuvor nur allgemein angesprochenen „Versu-
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chungen“ (TS7/Bl. 10), die der Erzähler nun mit seiner literarischen Produktion in Beziehung setzt: Anstelle eines auf dem Land verfassten Kapitels „Abendsonnenschein im Hochwald“ hieße ein in der Stadt geschriebenes Kapitel nun „Die Arbeitslosenunterstützung wird gekürzt“ (TS8/Bl. 14). Die folgende Passage über die Stille ist TS7 entnommen. Der auf Bl. 15 und 16 anschließende Text über die Stadt als Kulturzentrum, die Bedeutung des persönlichen Erlebens für das dichterische Schaffen und das Werden eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins baut ebenfalls auf Passagen von TS7 auf und erweitert diese merklich. Teils intensive hs. Überarbeitungsspuren finden sich auf den Bl. 13–15, während auf Bl. 16 nur noch die Paginierung sowie ein Strukturierungszeichen hs. ergänzt wurden. Der Ort der Handlung wird während der Überarbeitung neuerlich geändert, der Dialog findet nun in der „Rosentalerstrasse“ (TS8/Bl. 12) statt, womit die Rosenthaler Straße in Berlin Mitte gemeint ist. T7 = ÖLA 3/W 231 – BS 64 k [4], Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1 TS9 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
T8 = ÖLA 3/W 231 – BS 64 k [4], Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1 TS10 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
T9 = ÖLA 3/W 231 – BS 64 k [4], Bl. 9 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1 TS11 = fragm. Fassung (Grundschicht)
Mit TS9–TS11 liegen Fassungen auf Einzelblättern vor, die aufgrund des enthaltenen Textes und der gesetzten Korrekturen als Zwischenschritte hin zum Drucktext (TS12) zu bewerten sind. Die Einzelblätter tragen unterschiedliche Paginierungen und enthalten jeweils andere Textteile, gehören aber keiner zusammenhängenden Fassung an. Möglicherweise wurden die nicht überlieferten Blätter zur Kompilation eines Typoskripts verwendet, das als Druckvorlage diente. TS9 umfasst mit BS 64 k [4], Bl. 7 den Anfang des Textes und zeigt eine weitere konzeptionelle Veränderung an. Erneut beginnt die Erzählung mit einem Treffen, diesmal in der Charlottenstraße in Berlin Mitte, was auch der Handlungsort des veröffentlichten Textes ist (vgl. TS12). Die Ausgestaltung des Gesprächs ist hier aber merklich reduziert. Der Bekannte bricht die Unterhaltung auch bald wieder ab, und die zuvor dialogisch ausgeführten Passagen werden zum Selbstgespräch des Erzählers. Das Blatt weist zahlreiche kleinere hs. Eingriffe auf, die sich zum Teil in TS12 wiederfinden, so etwa die Änderung der das Gespräch beschließenden Aussage „Also das hat sich allmählich herumgesprochen“ zu einem knappen „Ja“. Sowohl die hs. Paginierung 1 am Kopf als auch der Abbruch des Textes am Fuß des Blattes mitten im Satz deuten darauf hin, dass ursprünglich weitere Blätter vorgelegen haben, die nicht überliefert sind. Der Text von TS10 befindet sich auf BS 47 k [4], Bl. 8, das die masch. Paginierung 2 trägt, und nimmt Teile einer Passage auf, die am Fuß von TS9/Bl. 7 steht. Da ein glat-
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ter Anschluss nicht möglich ist und die Paginierung hier bereits in der masch. Grundschicht getippt wurde, ist nicht von einer Fortsetzung von TS9 auf diesem Blatt auszugehen. TS10 beginnt mit einem getippten Satzfragment, ursprünglich hat hier also ein anderes, nicht überliefertes Blatt mit dem Beginn des Textes vorgelegen. Konzeptionell entspricht der Text dem Status von TS9, an die Stelle der Dialogform ist eine monologische Reflexion des Erzählers getreten. Inhaltlich verbindet TS10 Passagen aus den vorangegangenen Textstufen TS7 und TS8: So übernimmt und modifiziert Horváth aus TS8 die Passage über den Einfluss des Wohnortes auf die schriftstellerische Arbeit (vgl. TS8/Bl. 14) und greift für die Anmerkung zum neuen Bewusstsein auf die stärker marxistisch grundierte Formulierung von TS7 zurück (vgl. TS7/Bl. 12). Am Fuß des Blattes bricht der Text in der Grundschicht mitten im Satz ab, auch hier haben vermutlich weitere Blätter vorgelegen. Im unteren Blattviertel hat Horváth einige hs. Änderungen vorgenommen, die sich auch im Text der Endfassung TS12 wiederfinden bzw. sinngemäß weiterverwendet werden. Eine Änderung, die unmittelbar an den unabgeschlossenen Satz am Fuß des Blattes anschließt, ist nicht vollständig ausgeführt, was auf einen Abbruch der Bearbeitung hindeutet. TS11 setzt auf BS 47 k [4], Bl. 9, analog zu TS9 und TS10, ungefähr an der Stelle ein, an der TS10 abbricht. Obwohl das Blatt die masch. Paginierung 3 trägt, ist ein Anschluss an TS10 aber nicht gegeben. Der enthaltene Text entspricht dem konzeptionellen Status seit TS9 und weist eine erkennbare Nähe zum Text von TS12 auf, ist aber formal wesentlich weniger ausgereift als in den vorangegangenen Textstufen und wurde auch nicht bis zum Ende ausgeführt. Nach einer kleinen hs. Einfügung bricht Horváth auch die Bearbeitung in der Korrekturschicht ab. Weitere Textträger zur Werkgenese von Aus der Stille in die Stadt bzw. eine Druckvorlage von Horváths Hand sind nicht überliefert. D1 = Aus der Stille in die Stadt In: Berliner Tageblatt, 5. Beiblatt, 25. Mai 1930. TS12 = Endfassung mit Werktitel „Aus der Stille in die Stadt. Von Ödön von Horváth“
Die Endfassung TS12 ist allein als Drucktext überliefert, eine Vorlage von Horváths Hand liegt nicht vor. Eventuell handelt es sich bei TS9–TS11 um die Reste von Blättern, die Horváth zur Kompilation der nicht erhaltenen Druckvorlage benutzt hat. Der abgedruckte Text unterscheidet sich von der letzten vollständigen Fassung der Werkgenese (TS8) insbesondere durch die knappere Gesprächssituation und die Aufnahme der zuvor dialogisch eingebetteten Passagen in eine monologische Reflexion des Erzählers. Diese Änderungen lassen sich in TS9–TS11 deutlich nachvollziehen (vgl. den Kommentar dort). Aus der Stille in die Stadt erschien am 25. Mai 1930 im 5. Beiblatt des Berliner Tageblatts unter der Überschrift „Adressat verzogen …“ gemeinsam mit dem komplementär betitelten Text Aus der Stadt in die Stille von Wilhelm von Scholz (1874–1969). Beigegeben war dem Text Horváths eine redaktionelle Mitteilung, in der der Autor als „Verfasser des erfolgreichen Volksstücks ‚Die Bergbahn‘“ in Erinnerung gerufen und das baldige Erscheinen von Der ewige Spießer (vgl. WA 14) angekündigt wird.
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Einzeltext 21: Das Märchen vom Fräulein Pollinger T1 = ÖLA 3/W 207 – BS 4 b, Bl. 1–4 Insgesamt 4 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier (282 × 209 mm), 2 Blatt unliniertes Papier (282 × 209 mm), Durchschlag (Blaupapier), hs. Eintragung mit schwarzer Tinte, masch. Paginierung jeweils 1, 2 auf Bl. 1, 2 sowie Bl. 3, 4 TS1 = Fassung mit Werktitel „Das Märchen vom Fräulein Pollinger von Ödön Horváth“ konstituiert durch BS 4 b, Bl. 1, 2 (nicht gedruckt) Druck in: GW III, S. 75f. (vgl. WA 14/ET1/TS1).
D1 = Das Märchen vom Fräulein Pollinger In: Jugend, 35. Jg., Nr. 33, 9. August 1930, S. 518. TS2 = Endfassung mit Werktitel „Das Märchen vom Fräulein Pollinger / Von Ödön Horváth“
Der Kurzprosatext Das Märchen vom Fräulein Pollinger erschien am 9. August 1930 in der Münchener Kulturzeitschrift Jugend, in der Horváth zwischen 1928 und 1931 auch zahlreiche seiner Sportmärchen (wieder-)veröffentlicht hat (vgl. den Abschnitt Sportmärchen – Drucke). An Werkmaterial sind ein Originaltyposkript Horváths sowie ein Durchschlag dieser Blätter überliefert. Aufgrund einer kleineren hs. Änderung in TS1 („Seit diesem Ausflug“ zu „Seit dieser Bergtur“, TS1/BS 4 b, Bl. 2), die in den Drucktext übernommen wurde, kann TS1 als Vorlage von TS2 ausgemacht werden. Der Abdruck des Textes in der Jugend war bis dato unbekannt (vgl. WA 14/ET2). Mit auf der Seite gedruckt waren die Texte Zum Thema Ehe von Max Hayek und „Jolanthe“ oder: Die vollkommene Ehe von Georg Ulrich sowie Karikaturen von Erwin von Kreibig und Steffi Kohl. Das Märchen vom Fräulein Pollinger erzählt die Geschichte einer jungen Frau mit einer „Durchschnittsfigur“ und einem „Durchschnittsgesicht“ namens Anna Pollinger, die ungewollt schwanger wird. Ihr Liebhaber Fritz rät ihr zu einer Bergtour, da „bekanntlich die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, dass sie kein Kind kriegt“. Das Märchen findet neben seiner Veröffentlichung als Einzeltext auch Eingang in die Romanprojekte Horváths dieser Zeit. Er integriert den Text in den Roman Herr Kobler wird Paneuropäer und übernimmt ihn von dort aus in den Kobler-Teil des Romans Der ewige Spießer (vgl. WA 14). Dabei ändert er den Arbeitsplatz Annas von „Kontor einer Autoreparaturwerkstätte“ (BS 4 b, Bl. 1) in „Kontor einer Kraftwagenvermietung“ (WA 14/K4/TS4/BS 8, Bl. 30) und lässt den übrigen Text mit minimalen orthografischen Anpassungen bestehen. Vermutlich wollte Horváth den Text bzw. dessen Thema überdies für sein Hörspiel Stunde der Liebe verwenden. Im Nachlass ist dazu eine Vorarbeit mit dem Titel „Eines jungen Mannes Tag“ zu dem Hörspiel überliefert, in der die Geschichte des Fräuleins Pollinger aus der Sicht eines Herrn mit dem Vornamen Albert geschildert wird (vgl. ÖLA 3/W 268 – BS 63 l, Bl. 1–3).
Einzeltext 22: Der mildernde Umstand D1 = Der mildernde Umstand In: Simplicissimus, 35. Jg., Heft 41, 5. Jänner 1931, S. 483f. TS1 = Endfassung mit Werktitel „Der mildernde Umstand / Von Ödön Horváth“ Druck in: KW 11, S. 146–148.
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Der mildernde Umstand ist allein als Drucktext überliefert, werkgenetisches Material oder eine Druckvorlage von Horváths Hand liegen nicht vor. Erzählt wird die Begegnung eines unbenannten Erzählers mit dem Nazi Lallinger, der gerade von einer Gerichtsverhandlung wegen schwerer Körperverletzung kommt. Während einer Wahlveranstaltung sei es zu missverständlichen Zwischenrufen und schließlich zu einer Rauferei gekommen, bei der ein Unbeteiligter durch Lallingers Bruder niedergeschlagen und zunächst für tot gehalten wurde, dann aber wieder zu Bewusstsein kam und die Sache anzeigte. Im Zuge der Verhandlung bat Lallingers Bruder „um mildernde Umständ, weil der Tote ja einen derartigen Rausch gehabt hätte, daß er eh umgfallen wär“. Sein Bruder sei mit der Mindeststrafe auf Bewährung davongekommen, so Lallinger gegenüber dem Erzähler. Sowohl der Stil als auch inhaltliche Indizien wie die Lokalisierung der Begegnung in der Münchener Schellingstraße ordnen die Erzählung dem Umfeld von Horváths Romanprojekten und damit dem Textcluster der Spießer-Prosa zu (vgl. dazu das Vorwort). Im Roman Herr Reithofer wird selbstlos sowie dessen Vorarbeiten wird mehrfach ein Motorradfahrer namens Heinrich Lallinger erwähnt, der dort aber nicht als NS-Sympathisant charakterisiert ist (vgl. WA 14/K2/TS8/BS 5 b, Bl. 99 und 118). Möglicherweise entstand die Idee zu diesem Text auch im engeren Umfeld von Horváths Arbeiten an Herr Kobler wird Paneuropäer bzw. der Kompilation des Romans Der ewige Spießer, während der er wiederholt Entwürfe zu einem Novellenband notierte (vgl. etwa WA 14/K3/E27 und K4/E7). In diesem Falle wäre eine Entstehung des Textes im Laufe des Jahres 1930 möglich. Das Motiv einer politisch grundierten Schlägerei verweist schließlich auch auf Horváths Volksstück Italienische Nacht, das am 20. März 1931 in Berlin uraufgeführt wurde (vgl. WA 2). Der mildernde Umstand erschien schließlich am 5. Jänner 1931 auf zwei Seiten im Simplicissimus, in dem Horváth zuletzt 1930 Die gerettete Familie veröffentlicht hatte (vgl. ET19). Mit abgedruckt ist auf S. 483 das Gedicht Die Sieger im Filmkrieg von Ratatöskr, i.e. Hans Erich Blaich, und eine Karikatur Theaterverbote in München von Thomas Theodor Heine sowie auf S. 484 die Karikatur Herrlichen Zeiten entgegen! von Wilhelm Schulz.
Einzeltext 23: Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat D1 = Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat In: Simplicissimus, 35. Jg., Heft 47, 16. Februar 1931, S. 559. TS1 = Endfassung mit Werktitel „Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat / Von Ödön Horváth“ Druck in: KW 11, S. 141–143.
Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat ist allein als Drucktext überliefert, werkgenetisches Material oder eine Druckvorlage von Horváths Hand liegen nicht vor. Erzählt wird die Geschichte des NSDAP-Mitglieds Tafelhuber, der bei einer Faschingsfeier eine „Andalusierin“ begehrt, die sich bei einer Diskussion über die „Judenfrage“ als überzeugte Sozialdemokratin herausstellt. Da „auch bei einem Hitlermann der Geist willig und das Fleisch schwach“ ist, verleugnet Tafelhuber ihr gegenüber seine Gesinnung. Danach bekommt er aber „Gewissensbisse“ und betrinkt sich mit seinen Parteikameraden. Zu dieser Erzählung sind keine eindeutigen Werkbezüge festzustellen, sie lässt
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sich aber aufgrund inhaltlicher wie stilistischer Gesichtspunkte dem Textcluster der Spießer-Prosa Horváths zuordnen (vgl. dazu das Vorwort). Höchstwahrscheinlich gehört sie, wie bereits Der mildernde Umstand (ET22), auch in den Kontext der Arbeiten an Der ewige Spießer. Im Text wird auf den US-amerikanischen Industriellen Owen Young angespielt, nach dem der Young-Plan zur Abwicklung der Reparationsforderungen des Ersten Weltkriegs gegenüber dem Deutschen Reich benannt war. Der Plan wurde 1929 ausgehandelt, trat 1930 in Kraft und war von Beginn an Gegenstand rechtsgerichteter Propaganda, an der sich auch die NSDAP beteiligte. Aufgrund dieser Anspielung kann der vorliegende Text nicht vor 1929/30 entstanden sein. Das Motiv einer im Dilemma zwischen Politik und Lust gefangenen Figur ist bei Horváth häufig anzutreffen (vgl. etwa Theodors Tod, ET5, die Figur des Karl in Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht, WA 2, sowie Alfons Kobler in Herr Kobler wird Paneuropäer, WA 14). Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat erschien am 16. Februar 1931 im Simplicissimus nur anderthalb Monate nach der Erzählung Der mildernde Umstand (ET22). Auf derselben Seite mit abgedruckt ist die Karikatur Resumé von Josef Sauer.
Einzeltext 24: Der Fliegenfänger D1 = Der Fliegenfänger In: Uhu, 8. Jg., Heft 9, Juni 1932, S. 32f. TS1 = Endfassung mit Werktitel „Der Fliegenfänger / Von Ödön Horváth“ Druck in: GW III (2. Auflage), S. 527f.
Der Fliegenfänger ist allein als Drucktext überliefert, werkgenetisches Material oder eine Druckvorlage von Horváths Hand liegen nicht vor. Erzählt wird die Begegnung eines Ich-Erzählers mit einem „tatsächlich merkwürdigen Menschen“ im Allgäu. Der Erzähler lernt ihn in einem Wirtshaus kennen, wo dieser Mensch gemeinsam mit seinem gerade verwitweten Bruder in der Trauergesellschaft sitzt. Er wettet um zehn Maß Bier einen Fliegenfänger zu essen und scheitert daran, was sein Bruder mit den Worten „Das ist halt die Tücke des Objektes“ quittiert. Eindeutige Bezüge zu anderen Werken Horváths sind in diesem Text nicht zu erkennen, sieht man von der Äußerung des Bruders zur „Tücke des Objektes“ ab. Damit ist ein Schlüsselsatz aus Geschichten aus dem Wiener Wald aufgenommen, wo er von Alfred in Bezug auf Marianne geäußert wird (vgl. WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 23). Der reportageartige Charakter erinnert in mancher Hinsicht an die satirischen (Reise-)Berichte Horváths aus Bayern und Tirol, die zwischen 1928 und 1930 entstanden und zum Teil im Berliner Tageblatt erschienen sind (vgl. ET10–ET14 und ET18). Der Fliegenfänger erschien im Juni-Heft des Uhu, einer Monatszeitschrift des Ullstein Verlags, bei dem Horváth seit 1929 unter Vertrag stand, in der Rubrik „Mensch (homo sapiens). Seltene Exemplare auf Reisen gesammelt“. Darin ebenfalls abgedruckt waren Beiträge von Richard Katz, Manfred Hausmann, Norbert Jacques, Ernst Petzoldt, Fred Neumeyer und Paul Morand. Der Fliegenfänger ist die letzte zu Lebzeiten Horváths erschienene eigenständige Kurzprosa. Mehrere Werkprojekte aus der Zeit nach 1932/33 brachte er nicht zum Abschluss (vgl. WP17–WP24). Nach einem gescheiterten Versuch als Filmautor in Berlin 1934/35 widmete er sich vornehmlich seinen Dramen, die er mit wechselhaftem
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Erfolg zum Teil in Österreich, der Schweiz und der Tschechoslowakei auf die Bühne bringen konnte. Mit dem Werkprojekt Reise ins Paradies (WP18) liegt um 1936 wieder eine Prosaarbeit Horváths vor, aber erst mit den Exilromanen Jugend ohne Gott (1937, vgl. WA 15) und Ein Kind unserer Zeit (1938, vgl. WA 16) trat Horváth wieder öffentlich als Prosaschriftsteller in Erscheinung. Auszüge aus beiden Romanen erschienen teilweise in Zeitschriften des literarischen Exils, sind aber nicht als eigenständige Kurzprosa zu werten. Sein letztes Prosa-Werkprojekt, den Roman Adieu, Europa! (WP24), konnte er nicht mehr vollenden. Eine Arbeit daraus mit dem Titel „Neue Wellen“, eine Fassung des vermutlich ersten Kapitels des geplanten Romans, veröffentlichten Freunde postum als letzten seiner Kurzprosatexte in der Exilzeitschrift Maß und Wert im November 1938 (vgl. WP24/TS5).
Werkprojekte Prosa Werkprojekt 1: Novellen-Band H1 = ÖLA 84/S 59/F5/Bild 67 Diapositiv (schwarz/weiß) eines nicht erhaltenen Blattes E1 = Titelliste mit Werktitel „Novellen-Band“ (oben) E2 = Werkverzeichnis Druck als Faksimile in: Krischke/Prokop 1977, S. 85.
Das schlicht mit „Novellen-Band“ betitelte Werkprojekt ist allein über eine Diapositiv-Aufnahme eines verloren gegangenen Blattes überliefert, die von Traugott Krischke für einen gemeinsam mit Hans Prokop herausgegebenen Materialienband (Krischke/Prokop 1977, vgl. den Drucknachweis) angefertigt wurde und sich heute im Nachlass Traugott Krischke am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA 84) befindet. Der Verbleib des Originals ist unbekannt. Materiell handelte es sich bei dem abfotografierten Blatt mit hoher Wahrscheinlichkeit um unliniertes Schreibmaschinenpapier, das in der Mitte gefaltet und auf der vordersten Seite beschrieben wurde. Berücksichtigt man das in der Aufnahme festgehaltene Seitenverhältnis, ist eine ursprüngliche Größe des Blattes von etwa 285 × 225 mm anzunehmen, ein Format, das sich häufig unter Horváths Nachlassmaterialien findet. Als Schreibmaterial wurde vermutlich Tinte verwendet. Die Eintragungen auf dem Blatt sind auf 1926/27 zu datieren, was sich zum einen aus den teilweise bekannten Entstehungsdaten der genannten Teiltitel des geplanten Novellenbandes in E1 ergibt. Zum anderen nennt Horváth in E2 den Titel „Revolte auf Punkt 3018“, wobei es sich um sein frühes Volksstück Revolte auf Côte 3018 handelt, das im Sommer 1927 als erstes Stück Horváths überhaupt vom VolksbühnenVerlag angenommen und noch am 4. November desselben Jahres in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde (vgl. Krischke 1988, S. 44). In der unteren Blatthälfte hat Horváth überdies einen Entwurf mit dem Werktitel „Nach der Saison“ notiert, wobei es sich um einen frühen Entwurf zur Komödie Zur schönen Aussicht handelt, die 1927 entstanden ist und Anfang 1928 vom Volksbühnen-Verlag angenommen wurde (vgl. ebd., S. 46). In E1 sind Titel von größtenteils bereits bestehenden Kurzprosatexten aufgelistet, die in einem Novellenband zusammengefasst werden sollten. Ob Horváth Aussicht
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auf eine mögliche Publikation hatte, ist unbekannt, aber auch relativ unwahrscheinlich, da er noch ganz am Beginn seiner Karriere stand. Abgesehen von der Publikation einiger Sportmärchen (vgl. SM/TS28–TS37) und dem frühen Buch der Tänze (1922) konnte der junge Autor bis 1927 noch keine nennenswerten Erfolge vorweisen. Notiert sind die Titel „Lachkrampf“ (vgl. ET6), „Die Versuchung“ (vgl. ET7), „Grossmutter“ (vgl. ET8), „Legende vom Fussballplatz“ (vgl. SM/TS20), die Sportmärchen „Rennradfahrer“ (gemeint ist: Aus einem Rennradfahrerfamilienleben), „Was ist das?“ und „Start und Ziel“ (vgl. ebd.), „Geschichte einer kleinen Liebe“ (vgl. ET2), „Der Tod aus Tradition“ (vgl. ET9) und „Panne über Palästina“. Allein zu Letzterem ist kein entsprechender Einzeltext bzw. ein Werkprojekt überliefert. Im Falle der Titel „Grossmutter“ und „Geschichte einer kleinen Liebe“ ist der tatsächliche Bezug zu den Einzeltexten ungewiss, nicht zuletzt da Horváth bei diesen Titeln keine Strukturmarke eingetragen hat, die er gewöhnlicherweise bei abgeschlossenen Texten setzt (vgl. auch den Kommentar zu ET2 und ET8). Bemerkenswert ist auch das Vorhaben, Texte aus dem Konvolut der Sportmärchen mit aufzunehmen sowie die Eintragung der Legende vom Fußballplatz als davon unabhängiger Text. Möglicherweise ist das ein Hinweis darauf, dass Horváth die Arbeit an einer durchgängigen Kompilation der Sportmärchen spätestens zu diesem Zeitpunkt aufgegeben hat. Eine Abgrenzung der Legende vom Fußballplatz von den übrigen Sportmärchen findet sich indes aber auch schon in der frühesten Kompilation der Sportmärchen, wo dieser Text in die Gruppe der „Sportlegenden“ gehörte (vgl. TS1/A2/BS 62 d, Bl. 2).
Werkprojekt 2: Amazonas T1 = ÖLA 3/W 190 – BS 47 b, Bl. 1–5 5 Blatt unliniertes Papier (283 × 218 mm), dünn, Durchschlag (violett), hs. Eintragungen mit grüner Tinte TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Amazonas. Eine romantische Novelle von Ödön v. Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 61–63 (Korrekturschicht); KW 11, S. 117–120 (Grundschicht).
H1 = ÖLA 3/W 189 – BS 47 a, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (156 × 214 mm), gerissen, Bleistift E1 = Strukturplan in 6 Teilen
T2 = ÖLA 3/W 189 – BS 47 a, Bl. 2, 3 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1, 2 TS2 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
Zum Werkprojekt Amazonas sind zwei sehr unterschiedliche Textstufen auf einem Durchschlag (T1) und einem Typoskript (T2) mit jeweils hs. Korrekturen Horváths sowie ein Strukturplan (E1) überliefert. Unter dem hs. eingefügten Titel „Amazonas. Eine romantische Novelle“ liegt in TS1 eine fragmentarische Fassung vor, die eine Episode aus der Amazonas-Expedition des Konquistadors Francisco de Orellana (1511–1546) ausgestaltet. Die Handlung zerfällt in zwei Teile: Auf Bl. 1–3 wird der Bericht einer gescheiterten Erkundungsmission während der Expedition 1544 rekapituliert, die aber, so der Erzähler, gar nicht gescheitert sei, wie er „in eines kleinen Bahnhofs Wartesaal“ (TS1/Bl. 2) erfahren habe. Daran schließt auf Bl. 4f. die Erzäh-
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lung von Manuelo und Ludewig an, die auf diese Mission geschickt wurden und dabei die Leiche eines grausam hingerichteten Jünglings entdecken. Horváth hat die Textstufe vermutlich nicht weiter ausgearbeitet, an Bl. 5 anschließende Blätter liegen nicht vor. TS2 trägt keinen Titel und zeigt ein gänzlich anderes Ausgangsszenario. Die Handlung ist auf den 7. September 1926 datiert, geschildert wird eine Expedition dreier Europäer, des Leiters Heinrich Marc, seines namenlosen Kameraoperateurs und des Zoologen Gerhardt Klaus, im Auftrag einer „Filmfabrik“ (TS2/Bl. 2). Auf BS 47 a, Bl. 3 bricht Horváth das Typoskript nach nur wenigen Zeilen ab und überarbeitet die beiden Blätter mit Bleistift, ohne jedoch klare Hinweise für die geplante weitere Entwicklung des Stoffes zu geben. E1 zeigt unter dem Titel „Amazonas“ einen mit Bleistift notierten Strukturplan in sechs Teilen, die mit „Die Expedition“, „Die erste Amazone“, „Die Parade“, „Die Königin der Amazonen“, „Die Gefangennahme der Amazone“ und „Die Amazone in der Stadt“ betitelt sind. Aufgrund der skizzierten Handlung, die in der zeitgenössischen Gegenwart spielt, sowie der Verwendung von Bleistift kann E1 als Strukturplan für das in TS2 behandelte Szenario erschlossen werden. Die großen konzeptionellen und stilistischen Unterschiede zwischen den beiden Textstufen sowie die jeweils verwendeten Schreibmaterialien deuten auf eine längere Pause in Horváths Arbeit zu diesem Werkprojekt hin. Wie in anderen frühen Arbeiten weisen die Durchschlagsblätter von TS1 markante Ober- bzw. Unterlinien bei einzelnen Typen auf, wie sie auch in Blättern zu den Sportmärchen und anderen frühen Prosaarbeiten zu entdecken sind (vgl. den Kommentar zu ET1). Stilistisch zeichnet sich der Text durch eine auffällige Häufung von vor allem farblichen Epitheta und ausholenden Satzkonstruktionen aus, wie sie ebenfalls für Teile von Horváths früher Prosa typisch sind (vgl. etwa ET1). Für den stilistisch weitaus nüchterneren Text von TS2 verwendete Horváth eine andere Schreibmaschine. Bei ihr handelt es sich um ein Modell, das Horváth von Mitte der 1920er- bis Anfang der 1930er-Jahre häufig verwendet hat, was auch die Annahme eines zeitlichen Abstands zwischen TS1 und TS2 stützt. Die vorliegenden materiellen wie inhaltlichen bzw. stilistischen Indizien ermöglichen nur eine ungefähr Datierung des Werkprojekts. TS1 ist aufgrund der verwendeten Schreibmaschine frühestens 1923/24 und spätestens 1926/27 entstanden, TS2 sowie E1 wiederum vermutlich erst ab 1926/27, worauf auch die innerdiegetische Zeitangabe „7. September 1926“ (BS 47 a, Bl. 2) hindeutet. Traugott Krischke brachte die von ihm auf Basis der Grundschicht von TS1 edierte Fassung (vgl. KW 11, S. 267; die dortige Materialangabe „4 Typoskriptblätter“ ist falsch) in Zusammenhang mit dem 1927 erschienenen Roman Das Urwaldschiff von Arnold Höllriegel, i.e. Richard Bermann (1883–1939). Einige Ähnlichkeiten sind tatsächlich augenfällig, etwa die Schilderung der Expedition Orellanas, die in Bermanns Roman als Binnenerzählung präsent ist, oder die Erwähnung der mythischen Amazonen. Die umfängliche Rahmenhandlung in Höllriegels Roman behandelt eine Amazonasreise in der Gegenwart, was dem Text von TS2 entspricht, wenngleich dieser mit einiger Sicherheit später entstanden ist. Ob Horváth dieser Roman bekannt war, ist letztlich über die auffälligen Parallelen hinaus nicht zu belegen.
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Werkprojekt 3: „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann H1 = ÖLA 3/W 201 – BS 60 c [2], Bl. 1–4 4 Blatt kariertes Papier (165 × 103 mm), (Notizbuch), gerissen, Wasserzeichen fünfzackiger Stern, roter Blattschnitt, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E1 = gestrichene Notiz (Bl. 1, oben) E2 = gestrichener Werktitel mit Notiz (Bl. 1, mittig oben) E3 = Strukturplan in 4 Teilen (Bl. 1, mittig) TS1 = fragmentarische Fassung (Bl. 1 unten, Bl. 2–4, Grundschicht) Druck von TS1 in: KW 15, S. 14f.
Das Werkprojekt „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann ist auf vier Blättern mit dem Wasserzeichen „fünfzackiger Stern“ und rotem Blattschnitt eines nicht erhaltenen Notizbuchs überliefert. Ähnliche Blätter finden sich auch unter den Arbeiten zum Roman einer Kellnerin aus der Werkgenese des Romans Der ewige Spießer (vgl. WA 14/K1/E17–E23, TS3 und TS4). Insgesamt liegen drei Entwürfe und eine Textstufe zu diesem Werkprojekt vor. Auf BS 60 c [2], Bl. 1 beginnt Horváth mit einer gleich wieder gestrichenen Notiz (E1) zu einem „Löwenmädchen“ und setzt einen ebenfalls getilgten Entwurf mit dem Titel „Der Liliputaner“ (E2) darunter. Daran schließt ein Strukturplan in vier Teilen an, die mit „Der junge Mann“, „Die Bardame im Zoo“, „Das Dienstmädchen“ und „Das verbitterte Mädchen“ betitelt sind (E3). Die darauffolgende Textstufe TS1 basiert mit hoher Wahrscheinlichkeit auf E3. Ein junger Mann berichtet darin, dass er „einen Zehnmarkschein gefunden“ (TS1/Bl. 1) habe und beabsichtige, damit eine Frau kennenzulernen. Die erste Begegnung findet, so lässt der Kontext schließen, in einem Zoo statt, was dem zweiten Eintrag von E3 entspricht. Nachdem der Erzähler mit einer Frau vor einem leeren Käfig ins Gespräch kommt, trifft er sie beim Löwenkäfig wieder, vor dem auch ein Herr steht, der sich einbildet, „den Löwen hypnotisieren zu können“ (TS1/Bl. 4). Danach bricht die Bearbeitung ab, weitere Entwürfe oder Textstufen liegen nicht vor. Da Horváth in seinen Arbeiten zum Roman einer Kellnerin ähnliche Notizbuchblätter verwendet hat, ist von einer entstehungsgeschichtlichen Nähe auszugehen. Die Blätter lassen sich demnach ungefähr auf 1927 datieren. Die gestrichene Notiz von E1 zum „Löwenmädchen“ weist darüber hinaus auf eine mögliche Beziehung des Projekts zu Vorstufen des Romans Herr Reithofer wird selbstlos hin. Dort lernt die Protagonistin Agnes vor der „Bude der Lionella“ (WA 14/K2/TS6/BS 5 a [9], Bl. 19) einen Anwalt kennen, der sie entjungfert. Der „Liliputaner“ von E2 wiederum ist eine bei Horváth wiederholt anzutreffende Figur, die ihre bekanntesten Auftritte in Kasimir und Karoline (WA 4) und, Jahre später, im Roman Ein Kind unserer Zeit (WA 16) hat. Der genaue konzeptionelle Zusammenhang von E1 und E2 mit E3 bzw. TS1 ist jedoch unklar. Für frühere Vermutungen, dass das Werkprojekt in das Umfeld des Hörspiels Eines jungen Mannes Tag 1930 gehört, lassen sich abseits der Ähnlichkeit im Titel allerdings keine materiellen oder inhaltlichen Anhaltspunkte finden (vgl. KW 15, S. 201).
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Werkprojekt 4: Zwei Liebeserklärungen H1 = ÖLA 3/W 223 – BS 47 ai [1], Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (285 × 224 mm), Bleistift und roter Buntstift, hs. Paginierung 1–3 TS1 = Fassung mit Werktitel „Zwei Liebeserklärungen“ (Korrekturschicht) Druck in: KW 15, S. 11f.
T1 = ÖLA 3/W 224 – BS 47 aj, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 224 mm), hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Briefentwürfe datiert auf den 10. II. 27 auf Bl. 1v, 2v TS2 = fragm. Fassung mit Werktitel „Zwei Liebeserklärungen“ (Korrekturschicht)
Zum Werkprojekt Zwei Liebeserklärungen liegen eine hs. sowie eine masch. erstellte Textstufe vor. Wie die Übernahme einiger Einfügungen aus der Korrekturschicht von TS1 in der masch. Grundschicht von TS2 belegt, ist die hs. Ausarbeitung die frühere. Anhand zweier auf den Verso-Seiten von TS2/BS 47 aj, Bl. 1 und 2 eingetragenen Briefentwürfe lassen sich die Arbeiten zu diesem Werkprojekt sehr genau datieren. Auf den 10. Februar 1927 datiert, beginnt Horváth hier jeweils mit einem Brief an „Karen“ und „Dorice“, zwei nicht näher bekannte Freundinnen aus dem oberbayerischen Murnau am Staffelsee. Beide Schreiben brechen bereits nach wenigen Zeilen ab und wurden mit rotem Buntstift gestrichen. TS1 ist mit Bleistift auf drei Blättern eingetragen, die mit rotem Buntstift paginiert wurden. Der Text trägt bereits den Titel „Zwei Liebeserklärungen“ und ist mittels römischer Ziffern in zwei Teile untergliedert. Im ersten erklärt der unbenannte Sprecher „Madame“ (TS1/Bl. 1) mit blumigen Worten seine Liebe und versucht, sie zum Bleiben zu bewegen. Die abgehackten Sätze und Leerstellen implizieren, dass hier nur die eine Seite eines Dialogs zu hören ist. Der zweite Teil findet offenbar nach der erfolgreichen Verführung statt, wobei der Sprecher abrupt die Tonart wechselt, seine Geliebte schilt und schließlich geht. Horváth hat den Text geringfügig überarbeitet und am Schluss eine Strukturmarkierung gesetzt, mit der er üblicherweise abgeschlossene Fassungen bzw. Abschnitte kennzeichnet. TS2 nimmt den überarbeiteten Text von TS1 sowie die Untergliederung in zwei Teile auf und weist darüber hinaus auch eine Reihe dort nicht verzeichneter Änderungen auf. So ersetzt Horváth die „Marseillaise“ von TS1/Bl. 1 durch den neutralen Begriff „Nationalhymne“ (TS2/Bl. 1) und fügt einen Abschnitt über die Eltern des Sprechers ein. BS 47 aj, Bl. 1 ist nicht vollständig beschrieben, der Vergleich mit dem Schluss des ersten Teiles in TS1 legt aber nahe, dass hier kein Abbruch der Bearbeitung vorliegt. Der zweite Teil auf TS2/BS 47 aj, Bl. 2 enthält ebenfalls zuvor nicht eingetragene Änderungen. Nach nur wenigen getippten Zeilen bricht Horváth die Ausarbeitung ab und überarbeitet TS2/Bl. 1 mit Bleistift. Neben einem Untertitel für den ersten Teil („An eine unbekannte Geliebte“) verortet er hier die Handlung „in der Untergrundbahn“ und fügt die Namen von Haltestellen („Wittenbergplatz“) ein. Der Charakter des Textes verändert sich damit deutlich von einem halb wiedergegebenen Dialog im Boudoir zu einem inneren Monolog in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Die Überarbeitung ist vermutlich unvollständig, da TS2/Bl. 2 keine hs. Eintragungen aufweist. Die Arbeiten zu Zwei Liebeserklärungen ähneln in einigen Aspekten dem Kurzprosatext Theodors Tod, der vermutlich ebenfalls Anfang 1927 entstanden ist (vgl. ET5). Der Protagonist Theodor spricht darin seine Angebetete fast wortidentisch mit TS1 an
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(„Madame! Ich möchte mit Euch in einem melancholischen Parke spazieren, aber wir müssten uns in einem Urwald verirren“ etc., ET5/TS1/BS 47 x, Bl. 1), und auch die Fügung „Meine Liebe ist Sehnsucht nach Romantik und Wille zur Sachlichkeit“ (TS1 und TS2) wird dort, in die dritte Person gesetzt, verwendet (vgl. ET5/TS1/BS 47 x, Bl. 1). Schließlich spielen sowohl die beiden Textstufen von Zwei Liebeserklärungen als auch Theodors Tod auf den Reichsinnenminister Wilhelm Külz (1875–1948) an, der Ende 1926 das oftmals kurz als „Schmutz- und Schundgesetz“ bezeichnete „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ eingeführt hatte (vgl. dazu ausführlich den Kommentar zu ET5). Vor diesem Hintergrund ist von einer entstehungsgeschichtlichen Nähe der beiden Arbeiten unbedingt auszugehen. Möglicherweise hat Horváth Theodors Tod auf der Grundlage von Zwei Liebeserklärungen entwickelt, was das Fehlen weiterer, an die unvollständige Revision von TS2 anschließender Arbeiten erklären würde.
Werkprojekt 5: „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ T1 = ÖLA 3/W 192 – BS 47 d, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (283 × 224 mm), Wasserzeichen „Marran Schreibmaschinen“, hs. Eintragungen mit Bleistift, hs. Paginierung 1, 2 TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 105f.
Zum Werkprojekt „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ liegt eine Textstufe auf einem unbetitelten, insgesamt zwei Blatt umfassenden Typoskript vor, in das Horváth mit Bleistift geringfügige Ergänzungen und Korrekturen sowie eine Paginierung eingetragen hat. Die Blätter weisen das Wasserzeichen „Marran Schreibmaschinen“ auf. Papier dieser Sorte hat Horváth nur noch für zwei Briefe an den Theaterkritiker Herbert Ihering vom 11. bzw. 19. Mai 1927 verwendet, was eine zeitnahe Entstehung nahelegt (vgl. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ihering-Archiv, M. 1593). Der Text beschreibt zuerst die Gegend um das Café „in dem Eckhaus Steinstrasse und Lindenstrasse“ (Bl. 1) und ergänzt diese um eine aus demografischen Angaben und Kolportage gemischte Darstellung ihrer Bewohner. Ob Horváth hier ein tatsächlich existierendes Viertel vor Augen hatte, ist unklar. Die Handlung ist nur angedeutet: Michael Babuschke, der Frauen verachtet, da sie sich nicht für ihn interessieren, nimmt im Café Platz und beobachtet eine Frau, als Joachim, ein Geck, eintritt. Damit bricht die masch. Textstufe ab, die wenigen Einfügungen der Korrekturschicht betreffen ausschließlich Bl. 1 und verraten nichts über eine mögliche Fortführung der Erzählung. Eine Reihe von Themen bzw. Motiven des Werkprojekts verweist auf andere Werke bzw. Projekte Horváths in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre und ordnet es dem Textcluster der Spießer-Prosa zu (vgl. dazu das Vorwort). Auffällig ist vor allem der Bericht über die Bewohner der Steinstraße mit ihrem Schwerpunkt auf den Todesfällen. Eine sehr ähnliche Auflistung von Todesereignissen findet sich in einer Textstufe aus der genetischen Reihe des Romans einer Kellnerin (vgl. WA 14/K1/TS7). Der frauenverachtende Babuschke, der mangels eines „einwandfreien Schlips“ (Bl. 2) nicht beachtet wird, weist einige Ähnlichkeit mit dem Protagonisten des Kurzprosatextes Emil (ET4) auf. Dieser trägt eine „traurige Kravatte“ (ET4/TS1/BS 47 k, Bl. 2)
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und hat deshalb bei den Frauen keinen Erfolg. Das Setting in einem Café selbst wiederum gehört zu den bevorzugten Handlungsorten bei Horváth um 1930. Schließlich taucht der Name Michael Babuschke auch im ebenfalls 1927 entstandenen Romanexposé Verrat am Vaterland (WP6/TS4) auf. Dort trägt ihn einer der drei Brüder Babuschke, von denen darüber hinaus einer Joachim heißt. Über eine engere genetische Beziehung der beiden Werkprojekte kann aber angesichts der geringen Menge an überliefertem Material nur spekuliert werden.
Werkprojekt 6: Verrat am Vaterland H1 = ÖLA 3/W 356 – BS 47 y, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 224 mm), Wasserzeichen „Biela Mühle Schreibmaschinenpapier / Auxilio Dei“, Bleistift und schwarze Tinte TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Verrat am Vaterland / Roman“ (Korrekturschicht)
H2 = ÖLA 3/W 358 – BS 47 aa [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 223 mm), Bleistift E1 = gestrichener Strukturplan in 3 Teilen mit Werktitel „Verrat am Vaterlande“ (oben) E2 = fragm. Strukturplan in 4 Teilen mit Werktitel „Verrat am Vaterlande. Roman“ (mittig)
H3 = ÖLA 3/W 357 – BS 47 z, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 223 mm), Bleistift TS2 = fragm. Fassung mit Werktitel „Verrat am Vaterlande“ (Korrekturschicht)
H4 = ÖLA 3/W 359 – BS 47 aa [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 223 mm), Bleistift TS3 = fragm. Fassung (Grundschicht)
T1 = ÖLA 3/W 360 – BS 47 ab, Bl. 1–8 8 Blatt unliniertes Papier (292 × 214 mm), dünn, Durchschlag (Kohlepapier), hs. Eintragungen mit Bleistift, masch. Paginierung jeweils 1–4 auf Bl. 1–4 und Bl. 5–8 TS4 = Fassung mit Werktitel „Verrat am Vaterland / oder: Hass / Roman von Ödön von Horvath“ konstituiert durch BS 47 ab, Bl. 1–4 (Grundschicht) Druck in: GW IV, S. 651–654.
Zum Werkprojekt Verrat am Vaterland sind drei hs. Textstufen, eine masch. Textstufe auf zwei Durchschlägen und zwei fragmentarische Strukturpläne überliefert. Innerhalb des Materials lassen sich drei unterschiedliche Konzepte ausmachen, die mit einem Wechsel im verwendeten Papier korrespondieren, was nahelegt, dass Horváth wiederholt und mit jeweils zeitlichem Abstand an diesem Projekt gearbeitet hat. Das gesamte Werkprojekt ist vermutlich im Laufe des Jahres 1927 entstanden, was sich aus verschiedenen Indizien erschließen lässt. Ausschlaggebend für die Datierung ist zunächst TS1, die auf einem Blatt mit dem Wasserzeichen „Biela Mühle Schreibmaschinenpapier / Auxilio Dei“ vorliegt. Papier dieser Sorte ist bei Horváth ansonsten nur in Form eines Briefes an den Theaterkritiker Herbert Ihering vom 20. Juni 1927 belegt (vgl. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ihering-Archiv, M. 1593). Ein weiteres Indiz für die Datierung sind die Namen zweier Figuren im Romanexposé TS4, Michael und Joachim Babuschke, die auf das Werkprojekt „Das Cafe, in dem Michael Babuschke
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sass“ verweisen, das ebenfalls im Jahr 1927 entstanden ist (vgl. den Kommentar zu WP5). Darüber hinaus weist der TS4 zugrunde liegende Durchschlag dieselben markanten Ober- und Unterlinien bei einzelnen Typen auf wie eine Vielzahl an Textträgern der frühen Prosatexte bzw. der Sportmärchen (vgl. den Kommentar zu ET1). Vermutungen, es handle sich aufgrund thematischer Bezüge um einen Nebenstrang der Arbeiten an Die stille Revolution (vgl. WA 16) oder Figaro läßt sich scheiden (vgl. WA 8), sind angesichts dieser materiellen Indizien nicht aufrechtzuerhalten (vgl. KW 15, S. 205). TS1 ist mit einiger Wahrscheinlichkeit die früheste Ausarbeitung und wurde hs. mit Bleistift auf einem geviertelten Blatt „Biela“-Papier notiert. Konzeptionell unterscheidet sich die enthaltene Fassung von den folgenden vor allem durch ihre Erzählperspektive in erster Person. Unter dem Titel „Verrat am Vaterland“ und der Gattungsbezeichnung Roman gesteht ein Ich-Erzähler gleich zu Beginn: „Ich habe mein Vaterland verraten“, indem er um „500 Mark“ militärische Geheimnisse verkauft habe. Einen ähnlichen, in die dritte Person transponierten Anfang weisen auch TS2 und TS3 auf; TS2 nennt außerdem dieselbe Summe für den Verkauf von Geheimnissen. Nach einigen Zeilen über das Tal, in dem das Fort liegt und wo der Erzähler auch aufgewachsen ist, zerfällt TS1 in eine entwurfsartige Auflistung weiterer Motive und Ideen, die auf den frühen konzeptionellen Status des Geschriebenen hindeuten. Neben Aspekten zur persönlichen Geschichte des Erzählers wie „Schule – Familie – Volk“ und seinem Wissen darüber, „über dem Durchschnitt intelligent“ zu sein, stehen Notizen zum geplanten Handlungsverlauf, die auf eine Kriminal- oder Spionagegeschichte hindeuten. E1 und E2 sowie TS2 und TS3 unterscheiden sich von TS1 konzeptionell durch den Wechsel der Erzählperspektive in die dritte Person sowie materiell durch das verwendete Papier. Vermutlich hatte Horváth zuerst die beiden Strukturpläne E1 und E2 notiert, bevor er TS2 und TS3 erstellt hat. Beide Strukturpläne stehen unter dem Titel „Verrat am Vaterlande“ und weisen im Wesentlichen dieselben drei Teile auf, „Verrat“, „Er verjubiliert das Geld“ und „Er macht ein Geschäft und verliert es“. E2 enthält darüber hinaus noch einen unbetitelten vierten Teil und die Gattungsbezeichnung Roman. Der Fokus der Entwürfe liegt auf einem einzelnen Protagonisten, der in TS2 und TS3 den Namen Hannes Tomkowiak trägt. Die Abfolge der Textstufen erschließt sich anhand der eingetragenen Korrekturen, insbesondere des wechselnden Datums der Handlung („siebten“ bzw. „zwölften März“ in TS2 und „zwölften März“ in TS3). In TS2 beginnt Horváth zunächst mit einer Ausarbeitung unter dem Titel „Verrat am Vaterland. Roman“, deren Handlung 1923 während der französischen Besetzung des Ruhrgebiets stattfinden soll. Nach wenigen Zeilen streicht er diesen Teil und setzt mit einem zeithistorisch nicht mehr eindeutig ausgewiesenen Text neu an. Hannes Tomkowiak verrät sein Vaterland, indem er einem Agenten namens Faber erzählte, „was er wusste“ (TS2/Bl. 1). Dafür erhält er, wie bereits der Ich-Erzähler in TS1, 500 Mark. An dieser Stelle bricht Horváth die Bearbeitung ab und fertigt TS3 an. Hier wird eine weitere Figur erwähnt, Karl Sliwinski, den Tomkowiak seinen „Freund“ heißt und der ihn an einen Agenten namens Faber vermittelt. TS3 umfasst nur wenige Zeilen, weitere Bearbeitungen dieses Konzepts liegen nicht vor. Auffällig an TS2 und TS3 ist die wiederholte Erwähnung des bevorstehenden Osterfests. Ob Horváth hier ein konkretes Osterdatum vor Augen hatte, ist ungewiss. Aus kalendarischen Gründen scheidet das in TS2 zuerst genannte Datum „siebte[r] März“ aus, da der früheste mögliche Ostertermin der 22. März ist. Das danach erwähnte Datum „zwölfte[r] März“ würde, gemäß der Zeitangabe „zwei Wochen vor Ostern“ in beiden Textstufen, den 26. März als Osterdatum bedeuten, was aber kalendarisch erst
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1967 der Fall war. Sollte Horváth mit den zwei Wochen indes nur eine ungefähre Zeitangabe gemeint haben, kämen in den 1920er-Jahren verschiedene Osterdaten in Frage, so etwa das in TS2 zunächst erwähnte Jahr 1923 (1. April), aber auch 1921 (27. März) oder 1929 (31. März). Im mutmaßlichen Entstehungsjahr von Verrat am Vaterland 1927 fiel Ostern auf den 17. April. Das Romanexposé TS4 ist das einzige Typoskript dieses Werkprojekts und unterscheidet sich auch konzeptionell merklich von den vorangegangenen Arbeiten. Unter dem adaptierten Titel „Verrat am Vaterland oder: Hass“ behandelt das Exposé die Geschichte der drei Brüder Babuschke. Michael, nach anfänglicher Schwärmerei seinem Volk gegenüber feindlich gesinnt, und Joachim, der ihm opportunistisch folgt, überreden ihren jüngeren Bruder Friedrich, militärische Dokumente zu stehlen. Ihre Verschwörung findet in der Wohnung der zweifelhaften Schauspielerin Diana statt, die mit den Brüdern verschiedentlich verbandelt ist. Bei einem zweiten Diebstahlsversuch wird Friedrich ertappt und eingekerkert, woraufhin Joachim wahnsinnig wird. Friedrich entkommt zunächst aus dem Gefängnis und gelangt zu Diana, wird dann aber von der Polizei erschossen. Michael indes gelingt seine Flucht, um „leer und gebrochen, aber mit den Möglichkeiten ein neuer Mensch werden zu können“ (TS4/Bl. 4) weiterzuleben. Die Anfertigung von Durchschlägen und der hohe Ausreifungsgrad des Textes deuten darauf hin, dass diesen Blättern eine größere Menge an Vorarbeiten vorangegangen sein muss und Horváth das Werkprojekt weiterverfolgen wollte. Weitere Arbeiten zu diesem Werkprojekt sind aber nicht überliefert, aufgrund der gleichlautenden Namen dürfte aber zwischen TS4 und dem Werkprojekt „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ ein genetisches Naheverhältnis bestehen (vgl. WP5).
Werkprojekt 7: „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ T1 = ÖLA 3/W 330 – BS 60 b, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (330 × 209 mm), masch. Paginierung 1, 2 TS1 = fragm. Fassung (Grundschicht) Druck in: KW 15, S. 9f.
Zum Werkprojekt „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ ist eine Textstufe auf einem zwei Blätter umfassenden Typoskript ohne hs. Bearbeitungsspuren überliefert. Eine junge Frau erzählt darin einem unbenannten Gesprächspartner von ihren Erlebnissen der letzten Jahre und wie ihre Heirat mit einem Bahnangestellten sie aufs Land geführt hat. Aufgrund zahlreicher materieller wie inhaltlicher Übereinstimmungen handelt es sich bei TS1 mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Nebenbzw. Zwischenprodukt von Horváths Romanideen um 1928. Ähnliches Papier sowie eine ähnliche Schreibmaschine wurden für zahlreiche Entwürfe bzw. Textstufen zum Roman einer Kellnerin, einer Vorstufe von Der ewige Spießer, verwendet, der ebenfalls die Lebensgeschichte eines Fräuleins thematisiert (vgl. WA 14/K1). Die in der Erzählung erwähnten Episoden über „Clementine“, die „den Gashahn aufgedreht hat“ (Bl. 1), sowie über die Zeit der Erzählerin bei ihrer Tante wiederum zeigen deutliche Parallelen zu den frühen Textstufen bzw. dem Setting von Herr Reithofer wird selbstlos (vgl. etwa WA 14/K2/TS1 und TS6/BS 5 a [4], Bl. 3). Die Erzählerin erwähnt hier auch, sie hätte ihren Gesprächspartner damals warten lassen und sich „verspätet“ (Bl. 1), weshalb es sich bei dieser Geschichte möglicherweise um eine spätere Begeg-
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nung zwischen Agnes Pollinger und Eugen Reithofer aus dem Roman Herr Reithofer wird selbstlos handeln könnte. Die Schlussepisoden über die Zustände „draussen am Dorf“ (Bl. 2) indes weisen auf Horváths satirische Reiseberichte der Jahre 1929/30 hin. Besonders auffällig ist die Geschichte über ein „altes Mütterlein, das sitzt in der Kirche auf der Hurenbank, weil ihr Sohn ein uneheliches Kind war“ (ebd.). Dieselbe Episode ist auch im Reisebericht Hinterhornbach (ET18) enthalten, der Anfang 1930 entstand und im März 1930 im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurde. Da das vorliegende Werkprojekt aufgrund der übrigen Indizien mit hoher Wahrscheinlichkeit im Umfeld der frühen Arbeiten an Herr Reithofer wird selbstlos im Laufe des Jahres 1928 entstanden ist, weist die Schilderung dieser Episode an dieser Stelle auf die bewusste Mischung von Bericht und Fiktion hin, wie sie für Horváths Reisetexte charakteristisch ist (vgl. dazu den Kommentar zu ET18).
Werkprojekt 8: Die Fürst Alm T1 = ÖLA 3/W 196 – BS 47 f, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (312 × 209 mm), geschnitten, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Die Fürst Alm“ (Korrekturschicht) Druck in: KW 11, S. 133f.
Zum Werkprojekt Die Fürst Alm ist ein Typoskript mit hs. Korrekturen und Ergänzungen Horváths überliefert, weitere Entwürfe oder Textstufen bzw. Abschriften liegen nicht vor. Die verwendete Schreibmaschine entspricht der für viele andere Arbeiten in der zweiten Hälfte der 1920er- und in den frühen 1930er-Jahren verwendeten Maschine. Das überlieferte Blatt wurde unten leicht schief abgeschnitten, wobei aber kein Text abgetrennt worden sein dürfte. Die Fürst Alm gehört in das Umfeld reiseliterarischer Texte, die Horváth zwischen 1928 und 1930 verfasst und teilweise im Berliner Tageblatt veröffentlich hat (vgl. ET10–ET14 und ET18). Anders als diese Texte ist Die Fürst Alm aber von Horváth nicht vollendet worden, worauf die hs. Einfügung des Titels und einiger Textpassagen in das Typoskript und das Fehlen einer Reinschrift hindeuten. Ebenfalls unsicher ist die Datierung des Textes. In den bisherigen Ausgaben wurde aufgrund des engen Zusammenhangs mit Ein sonderbares Schützenfest (ET14), das ebenfalls das „Graf Arco Preisschiessen“ im bayerischen Murnau am Staffelsee thematisiert, das Jahr 1929 angenommen (vgl. KW 11, S. 267). Allerdings schildert Horváth in Ein sonderbares Schützenfest mit dem Jubiläum des Preisschießens ein konkretes Ereignis, während in Die Fürst Alm nur allgemein und weit weniger satirisch von der lokalen Tradition die Rede ist. Die titelgebende, laut Text „neu entstandene Station“ Josef Fürsts eröffnete bereits Mitte der 20er-Jahre (vgl. KW 11, S. 281). Horváth selbst erwähnt die Fürst Alm in einem Brief an Lotte Fahr vom 15. Januar 1929 (vgl. ebd., Brief Horváths an Lotte Fahr vom 15. Januar 1929, Kryptonachlass Horváth in ÖLA 84/Schachtel 57). Aufgrund dieser Indizien wäre auch eine Datierung auf 1928 denkbar.
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Werkprojekt 9: „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus T1 = ÖLA 3/W 200 – BS 47 p, Bl. 1–3 Insgesamt 3 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 222 mm) und 1 Blatt unliniertes Papier (330 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte und Bleistift, masch. Paginierung 1–3 TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 70–72.
Zum Werkprojekt „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus ist eine Textstufe auf einem drei Blätter umfassenden, masch. paginierten Typoskript mit wenigen hs. Bearbeitungsspuren in Bleistift und schwarzer Tinte überliefert. Der Titel „Der Stolz Altenaus“, unter dem der Text in den Gesammelten Werken sowie in der Kommentierten Werkausgabe vorliegt, wird von Krischke als der von Horváth verwendete impliziert (vgl. KW 11, S. 295, Anm. 43), scheint aber in den erhaltenen Materialien nicht auf. Er wird im vorliegenden Band als Ergänzung zum Incipit aufgenommen, da der Text in der Rezeption ausschließlich unter diesem Titel bekannt ist. Ein Journalist berichtet in TS1 von einem Interview mit dem „Generaldirektor“ (Bl. 1) zum sechzigsten Geburtstag, der der „Stolz Altenaus“ (Bl. 2) sei. Er rekapituliert daraufhin sowohl die Ortschronik Altenaus zwischen einem „rachsüchtigen Kaiser“ und einem „hinterlistigen päpstlichen Hausprälaten“ (Bl. 1) als auch die Familiengeschichte des Generaldirektors. Auf Bl. 3 bricht die Bearbeitung schließlich nach nur zwei Zeilen ab. Für dieses letzte Blatt hat Horváth eine andere Papiersorte im Folio-Format (330 × 209 mm) benutzt, was ebenfalls auf eine nicht abgeschlossene Bearbeitung des Textes hinweist. Das Werkprojekt weist einige markante Parallelen zu anderen Arbeiten aus dem Textcluster der Spießer-Prosa um 1928/29 sowie zu Horváths (Reise-)Berichten von 1928 bis 1930 (vgl. ET10–ET14 und ET18) auf und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit um 1929 in deren Umfeld entstanden (vgl. zur Spießer-Prosa das Vorwort). So ist die Ortschaft Altenau, unter dem Namen „Vorderaltenau“, auch Schauplatz der Handlung im Kurzprosatext Das Bitterwasser-Plakat (ET13), den Horváth Anfang August 1929 im Berliner Tageblatt veröffentlichte. In der vermutlich ersten Textstufe zur ebenfalls 1929 veröffentlichten Erzählung Das Fräulein wird bekehrt wiederum ist, ohne den Ort spezifisch zu nennen, von einem „Generaldirektor“ die Rede, der der „Stolz des Dorfes“ war und in „[s]einer Heimat begraben sein“ möchte (ET16/TS1/BS 4 c [1], Bl. 5). Teile des Textes dürften darüber hinaus, ähnlich wie im Falle von Ein sonderbares Schützenfest (ET14), auf die Lektüre einer Ausgabe der Illustrierten Das Bayerland von 1929 zurückzuführen sein (vgl. den Kommentar zu ET14). Die Einordnung in dieses Werkumfeld sowie die ungefähre Datierung decken sich auch mit dem benutzten Schreibmaterial. Die Type der Schreibmaschine entspricht der für die Reiseberichte sowie für Das Fräulein wird bekehrt verwendeten. Die überlange Papiersorte des letzten Blattes von TS1 wiederum findet sich auch in der Genese des Romans einer Kellnerin (vgl. WA 14/K1) sowie im Werkprojekt „Also gut, ich will Dir alles erzählen“ (WP7), das vermutlich im Kontext des Romans Herr Reithofer wird selbstlos entstanden ist (vgl. den Kommentar zu WP7). Das genaue genetische Verhältnis der verschiedenen, thematisch bzw. materiell verwandten Konvolute ist allerdings unklar. Ob es sich bei TS1 möglicherweise um eine Vor- bzw. Nacharbeit eines der genannten Konvolute handelt, ist nicht mit Sicherheit zu sagen.
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Werkprojekt 10: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert T1 = ÖLA 3/W 221 – BS 47 ag, Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 213 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte und rotem Buntstift TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 119f.
Zum Werkprojekt Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert ist ein zwei Blatt umfassendes unpaginiertes Typoskript mit einigen hs. Ergänzungen überliefert. Die darin überlieferte Textstufe erzählt die Geschichte der Prostituierten Frieda, die ihr gutes Aussehen und damit ihr „Fluidum“ (Bl. 1) durch die Begegnung mit dem Geschäftsreisenden Neuhuber verliert. Sowohl in der masch. Grundschicht als auch in der Korrekturschicht weist TS1 mehrere nicht aufgelöste Varianten auf, was gemeinsam mit der großen Menge an nicht korrigierten Tippfehlern auf einen Abbruch der Bearbeitung hindeutet. Hs. Bearbeitungsspuren finden sich auf beiden Blättern, wobei auf Bl. 1 allein die Titelzeile mit rotem Buntstift unterstrichen wurde. Auf Bl. 2 wiederum hat Horváth mit schwarzer Tinte einige Korrekturen und Ergänzungen eingetragen, die aber keine Hinweise zu einer möglichen geplanten weiteren Ausarbeitung liefern. Das Werkprojekt gehört thematisch lose zum Textcluster der Spießer-Prosa und ist vermutlich um 1929/30 entstanden (vgl. dazu das Vorwort). Indiz für die Datierung ist die verwendete Schreibmaschine, die Horváth auch für die masch. Textstufen von Aus der Stille in die Stadt (ET20) sowie im Kontext der Arbeiten an Der ewige Spießer für das Fragment Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München (WA 14/ET1/TS1) und für das Vorwort des Einreichtyposkripts des Romans (vgl. WA 14/K4/TS4) benutzt hat. Von den Arbeiten zu Aus der Stille in die Stadt und Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München unterscheidet sich TS1 jedoch durch die dort verwendete Papiersorte (Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“), weshalb Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert vermutlich nicht in unmittelbarer entstehungsgeschichtlicher Nähe dazu einzuordnen ist. Den Titel „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“ notiert Horváth später auch in einem umfangreichen, 1930 entstandenen Strukturplan zum Werkprojekt Der Mittelstand (vgl. WP13/E1).
Werkprojekt 11: Die Colombine H1 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 33v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte TS1 = gestrichene fragm. Fassung mit Werktitel „Die Colombine“ (Grundschicht)
Das Werkprojekt Die Colombine ist im Notizbuch Nr. 6 überliefert, das Horváth im Laufe des Jahres 1929 vor allem für Entwürfe zum Roman Herr Kobler wird Paneuropäer (WA 14/K3) verwendet hat. Die erhaltene Textstufe wurde auf der Verso-Seite von Bl. 33 eingetragen und ist mit mehreren Linien in schwarzer Tinte gestrichen. Behandelt werden die Faschingserinnerungen eines Ich-Erzählers, der „leider nur noch 8 Mark 70“ besitzt, weswegen ihm „nicht alles selbstverständlich erlaubt“ sei.
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Trotzdem versucht er sein Glück bei einer „Colombine, das war eine gewisse Frau Anna Hoferer“. Weitere Ausarbeitungen liegen nicht vor, haben aber möglicherweise existiert, da im Anschluss vermutlich einige Blätter fehlen, worauf Restaurierungsspuren (Streifen von Japanpapier, mit denen Bl. 24 und 25, die ersten Blätter dieses Bogens, befestigt wurden) schließen lassen. Allerdings bestehen gegenüber der materiellen Beschaffenheit des Notizbuchs Nr. 6 aufgrund einer die genetischen Zusammenhänge teilweise verfälschenden Restaurierung einige Zweifel (vgl. dazu die Ausführungen im Kommentar zu ET20/TS5 sowie zu WA 14/K3/E1). Es könnte sich deshalb bei der vorliegenden Eintragung tatsächlich um den einzigen Textträger des Werkprojekts handeln. Auf den dem Werkprojekt vorangehenden bzw. nachfolgenden Blättern hat Horváth verschiedene Entwürfe zu Herr Kobler wird Paneuropäer und allgemeine konzeptionelle Überlegungen zu seinen Romanprojekten Ende 1929 notiert. Auf der RectoSeite von Bl. 33 etwa befindet sich ein Werkverzeichnis, das die Romane Herr Reithofer wird selbstlos und Herr Kobler wird Paneuropäer noch als klar voneinander geschiedene Werke auffasst, sowie eine Notiz zu einem Novellenband (vgl. WA 14/K3/E28). Die folgenden Notizbuchblätter enthalten Strukturpläne zu einer bereits elaborierten Struktur des Romans Herr Kobler wird Paneuropäer (vgl. WA 14/K3/E29–E34).
Werkprojekt 12: Mein Selbstmord H1 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 41v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Mein Selbstmord“ (Grundschicht)
Das Werkprojekt Mein Selbstmord ist im Notizbuch Nr. 6 überliefert, das Horváth im Laufe des Jahres 1929 vor allem für Entwürfe zum Roman Herr Kobler wird Paneuropäer (WA 14/K3) verwendet hat. Ein Ich-Erzähler berichtet in der einzigen Textstufe TS1 von seiner Zeit als Fünfzehnjähriger, als er sich umbringen wollte, „weil ich noch nicht 18 Jahre alt war – mit anderen Worten: aus Liebeskummer“. Weitere Ausarbeitungen sind nicht vorhanden. TS1 unterscheidet sich durch die veränderte Schreibrichtung vom Großteil der übrigen Eintragungen des Notizbuchs, Horváth hat hier das Notizbuch auf dem Kopf stehend von der anderen Seite her beschrieben. Auf der Recto-Seite befindet sich der Strukturplan WA 14/K3/E37, der ebenfalls in dieser Schreibrichtung eingetragen wurde, und einer späten Bearbeitungsphase des Romans Herr Kobler wird Paneuropäer entstammt (vgl. den entsprechenden Kommentar in WA 14). Aufgrund einer fehlerhaften Restaurierung bestehen aber einige Zweifel an der materiellen Beschaffenheit des Notizbuchs (vgl. dazu die Ausführungen im Kommentar zu ET20/TS5 und WA 14/K3/E1). Auch Bl. 41 wurde dabei neu eingeklebt, es besteht somit die Möglichkeit, dass TS1 in einem anderen Werkzusammenhang entstanden ist. Allerdings hat Horváth auf dem in dieser Schreibrichtung vorangehenden hinteren Vorsatzblatt Bl. I*v ebenfalls auf dem Kopf stehend mehrere Namen und Adressen notiert, was für eine bewusste Eintragung von TS1 an dieser Stelle spricht. Unter den Namen und der der Adresse auf Bl. I*v können Heinrich F. S. Bachmair (1889–1959) und Lotte Eisner (1896–1983) identifiziert werden. Bachmair war von 1924–28 Prokurist des Simpli-
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cissimus-Verlags in München und übte diese Funktion dann bis 1930 im Verlag der Bremer Presse aus. Lotte Eisner war zwischen 1927 und 1933 Herausgeberin des FilmKuriers, einer der einflussreichsten deutschsprachigen Filmzeitschriften der Zwischenkriegszeit. Wofür Horváth diese Kontakte notiert hat, ist nicht bekannt, vermutlich wollte er die Möglichkeit weiterer Veröffentlichungen sondieren oder Werbung für seinen noch unvollendeten Roman machen.
Werkprojekt 13: Der Mittelstand H1 = ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 3 1 Blatt hochkariertes Papier (275 × 222 mm), Wasserzeichen „Atlantico / Marca Registrada“, schwarzblaue Tinte TS1 = Fassung mit Werktitel „Der Mittelstand. Roman“ (Korrekturschicht, links) TS2 = Fassung mit Werktitel „Der Mittelstand“ (Grundschicht, rechts) Druck von TS1 in: GW IV, S. 646f. Druck von TS2 in: GW IV, S. 646. Druck einer aus TS1 und TS2 konstituierten Fassung in: KW 15, S. 81f.
H2 = ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 2 1 Blatt hochkariertes Papier (220 × 141 mm), schwarzblaue Tinte TS3 = fragm. Fassung mit Werktitel „Der Mittelstand. Roman“ (Grundschicht) Druck in: KW 15, S. 79.
H3 = ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 4, 5 2 Blatt kariertes Papier (418 × 328 mm), Bogen, schwarzblaue Tinte E1 = Strukturplan in 5 Teilen mit Notizen Druck (teilweise) in: GW IV, S. 647–650; KW 15, S. 80.
H4 = ÖLA 3/W 348 – BS 12 a, Bl. 1 1 Blatt kariertes Papier (169 × 208 mm), gerissen, schwarzblaue Tinte E2 = Notizen Druck in: KW 15, S. 79.
H5 = ÖLA 3/W 278 – BS 3 c [1], Bl. 1 1 Blatt hochkariertes Papier (221 × 143 mm), schwarze Tinte E3 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 702f. (WA 14/K4/E9).
H6 = IN 221.000 / 3 – BS 37 b, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (224 × 284 mm), dünn, gefaltet, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E4 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) E5 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 706f. (WA 14/K4/E11–E12); WA 3, S. 384f. (WA 3/K4/E26).
Zum Werkprojekt Der Mittelstand sind drei hs. Textstufen, zwei Entwürfe sowie Eintragungen in drei Werkverzeichnissen überliefert, die im Laufe des Jahres 1930 entstanden sind. Der Mittelstand ist als Generationen- bzw. Gesellschaftsroman konzipiert und behandelt die Geschichte einer für den titelgebenden Mittelstand repräsentativen Fa-
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milie, aber auch die Ausdifferenzierung dieser Gesellschaftsschicht zwischen 1880 und 1930. Ähnliche Ideen hatte Horváth bereits während seiner Arbeit am Roman einer Kellnerin bzw. den frühen Arbeiten zu Herr Reithofer wird selbstlos erwogen, auch dort werden die familiären Hintergründe der wechselnden Protagonistinnen wiederholt in einem sozialgeschichtlichen Kontext thematisiert (vgl. WA 14/K1–K2). Aufgrund des in einer Sofortkorrektur geänderten Namens der handlungstragenden Familie von „Koller“ zu „Qu.“ kann TS1 als früheste Ausarbeitung bestimmt werden, später taucht nur mehr der Name „Qu.“ auf (vgl. E1 und TS3). Horváth hat TS1 und TS2 auf einem Blatt hochkariertem Papier mit einem auffälligen Wasserzeichen vermutlich spanischer Herkunft („Atlantico / Marca registrada“) eingetragen. Blätter mit dem gleichen Wasserzeichen finden sich im Konvolut zu Die Schönheit von Fulda, einer Vorarbeit zu Geschichten aus dem Wiener Wald (vgl. WA 3/VA1), sowie in der Werkgenese von Italienische Nacht (vgl. WA 2/K3/E1–E3 und TS1). Möglicherweise hatte Horváth dieses Papier während seines Besuchs der Weltausstellung in Barcelona im September 1929 erworben, jedoch erst später benutzt. Die genannten Arbeiten legen eine Datierung auf die erste Jahreshälfte 1930 nahe, was auch mit der Erwähnung von Der Mittelstand im Werkverzeichnis E3 korrespondiert (vgl. die Ausführungen unten). Unter dem Titel „Der Mittelstand“ und der Gattungsbezeichnung „Roman“ arbeitet Horváth in TS1 eine fragmentarische Fassung des ersten Kapitels „Die Entstehung der Familie Qu“ aus. Krischke/Hildebrandt geben im erweiterten Kommentar der Taschenbuchausgabe der Gesammelten Werke an, dass es sich bei der Familie „Qu“ um Familie Querfeld, Hannoveraner Vorfahren von Horváths Mutter handelt (vgl. GWA 8, S. 731). Ein Handlungsbogen im engeren Sinne ist nicht zu erkennen. Der Text beginnt mit theoretischen Ausführungen zur Frage, „ob die Menschen, materialistisch bedingt oder idealistisch bedingt sind“, und umreißt die familiengeschichtlichen Eckpunkte der Qus, die aus Hannover stammen, „aber niemand der Familie kennt Hannover“. Weitere Themen und Motive betreffen das „Gesetz […], dass die Energie der Enkel = die Energie der Grosseltern“, sowie die Ausbeutung, die für die Familie Qu eine „Gewohnheit“ sei. Nachdem Horváth TS1 abgeschlossen und durch einige Notizen ergänzt hat, zieht er einen Längsstrich über das Blatt und trägt auf der rechten Blatthälfte TS2 ein. Neuerlich unter dem Titel „Der Mittelstand“ liegen hier mehrere Absätze vor, die in dichter Folge allgemeine Aspekte der Romanidee behandeln und an ein Exposé oder ein Vorwort erinnern. Der Mittelstand ist hier als Klasse mit einer eigenen Ideologie gefasst, die mit der „Familienkultur“ in eins fällt und eine „Renaissance“ erlebe, zugleich „aber natürlich die Keime des Zerfalls in sich“ trage. Hervorzuheben ist hier die Formulierung „Mit einer Ideologie, die nur scheinbar ramponiert worden ist. (Ibsen)“, die einen der (im übrigen Werk nur selten erwähnten) literarischen Anknüpfungspunkte Horváths neben klar erkennbaren Versatzstücken sozialistischer bzw. marxistischer Ideen exponiert. Eng mit diesen Arbeiten verknüpft ist TS3, die nur wenige hs. Zeilen umfasst. Horváth notiert hier wieder eine Kapitelüberschrift, die, gegenüber TS1 leicht verändert, „Die Geschichte der Familie Qu“ lautet. Der darunter eingetragene Text über den Mittelstand als Klasse, die „auf der Idee der Familie gründet“, nimmt deutlich Bezug auf die in TS2 festgehaltenen Themen und Motive. Der Strukturplan E1 umfasst zwei vollständige Kanzleibögen karierten Papiers im Format 418 × 328 mm und bildet das Kernstück des Romanprojekts. Es handelt sich dabei um den materiell umfangreichsten zusammenhängenden Entwurf im gesamten Nachlass des Autors. Konzeptionell überschneidet sich in E1 die Struktur des geplanten Romans mit einem historischen Abriss und einer systematischen Ausdifferenzie-
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rung des Mittelstands als sozialer Klasse. Diese Herangehensweise ist für Horváth eher untypisch und lässt vermuten, dass er dafür auch sozialwissenschaftliche Theorie rezipiert hat. Konkrete Recherchen zu einem Werkprojekt sind in seinem Oeuvre sonst nur für das frühe Dramenfragment Dósa (1924) und die späte Posse Ein Sklavenball (1937, vgl. WA 11) belegt, wobei er für Dósa Literatur zur ungarischen Geschichte und für Ein Sklavenball mehrere Komödien des römischen Dichters Plautus exzerpiert hat. Bei einigen der einzelnen Kapitel bzw. Unterklassen des Mittelstands sind in E1 die Titel von Werkprojekten dieser Zeit zu identifizieren (vgl. die Ausführungen im Folgenden). Weitere Eintragungen weisen deutliche thematische Schnittmengen mit anderen Projekten um 1930 auf, etwa die Figur des Stadtrats mit Italienische Nacht sowie die Notiz „Kampf gegen des Warenhaus“ mit den frühen Konzeptionen von Geschichten aus dem Wiener Wald (vgl. etwa WA 3/K1/TS3 und K2/TS2). E1 kann deshalb in gewisser Weise als Summe von Horváths Beschäftigung mit der Spießer-Thematik Ende der 1920er-Jahre erachtet werden (vgl. spezifisch zur Spießer-Prosa das Vorwort). E1 führt erneut den Titel „Der Mittelstand“ mit der Gattungsbezeichnung Roman und besteht aus insgesamt fünf Teilen, „Allgemeiner Überblick“, „Die vorletzte Gestalt des Mittelstandes (1890–1918)“, „Der Zusammenbruch des Mittelstandes durch die Gewalten“, „Die neuen (werdenden oder Übergangsformen) Formen des Mittelstandes“ und „Tragik und Überwindung des Mittelstandes“, die ihrerseits teils mehrfach untergliedert sind. Die ersten beiden Teile sind relativ kurz gehalten und sollen in knappen Notizen das „Wesen“ des Mittelstands sowie seine jüngere Geschichte behandeln. Der dritte Teil zählt als „Gewalten“, die zum „Zusammenbruch des Mittelstandes“ nach 1918 führen, „Krieg“, „Inflation“, „Stabilisierung“, „Rationalisierung“ und „die Errungenschaften der Technik“ auf. Hier beigefügte Notizen geben ein Zitat von Marx über den Mittelstand an: „Bäcker, Hausbesitzer, Metzger, usw. – sie alle zehren am Fleische des Proletariats“ (Bl. 4). Dessen Authentizität bzw. Ursprung ist jedoch nicht zu ermitteln, eventuell zitiert Horváth sinngemäß oder er bezieht sich auf eine von Marx abgeleitete Quelle. Weiter ausgeführt werden hier auch Aspekte der Inflation und die „Errungenschaften der Technik“. In diesen Kontext wird auch die in TS1–TS3 exponierte „Geschichte der Familie Qu.“ eingeordnet, der die „Geschichte der Familie St.“ gegenübergestellt ist. Später fügt Horváth zu diesem Teil mit „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“ noch den Titel eines Werkprojekts dieser Zeit ein (vgl. WP10). Etwas abgesetzt und doppelt unterstrichen ist schließlich die „Revolution der Frau“ eingetragen, weiterführende Notizen dazu liegen aber nicht vor. Der vierte Teil ist der umfangreichste von E1, die Notizen dazu nehmen mehr als die Hälfte von Bl. 4 und fast das gesamte Bl. 5 ein. Horváth unterscheidet hier insgesamt sieben mit römischen Ziffern nummerierte „Formen“ des neuen Mittelstands und führt damit ein soziales Panorama der Zwischenkriegszeit vor Augen. Zunächst sind die „Überbleibsel aus der Schieberzeit“ und der „Aufstieg aus dem Proletariat“ verzeichnet, die beide „verschwindend gering“ seien. Die „aus Arbeiterschaft direkt“ und „aus proletarischen Parteien“ Aufgestiegenen umfassen mit dem Stadtrat (vgl. Stadtrat Ammetsberger in Italienische Nacht, WA 2), dem Funktionär (vgl. z.B. den Betriebsrat in Elisabeth, die Schönheit von Thüringen, einer Vorarbeit von Geschichten aus dem Wiener Wald, WA 3/VA1), oder dem proletarischen Studenten (vgl. z.B. Emil Wegmann in Kasimir und Karoline, WA 4/K2) archetypische Figuren verschiedener Werkprojekte Horváths bzw. aus deren Genesen. Die dritte Form wird als „Überbleib-
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sel aus dem alten Mittelstand“ bezeichnet, sie umfasst Gewerbetreibende im „Kampf gegen das Warenhaus“, Offiziere, freie Berufe, Intellektuelle und die Studenten, deren „Aufstieg in die Bourgoisie“ (i.e. Bourgeoisie) als „Legende“ bezeichnet wird. Zuletzt ist ein „Erfinder“ genannt, dessen Arbeit zum Untergang des Mittelstands beiträgt und Ausdruck seiner „Tragik“ sei, ein im fünften Teil des Strukturplans wiederkehrendes Motiv. E1 setzt auf Bl. 5 mit der vierten Form des neuen Mittelstands fort, die mit „Degradiert aus Bourgoisie“ überschrieben ist; hierzu gehören eine „Familie, die von der Pension des alten Majors lebt“, sowie die Universitätsprofessoren als „Bollwerk des Mittelstandes“. Die fünfte Form, mit „Degradiert aus Aristokratie“ betitelt, thematisiert neben dem „verlorene ‚von‘“ auch den „Hass auf das Bürgertum“. Bei beiden Einträgen wurde beträchtlicher Freiraum auf dem Blatt gelassen, der vermutlich für spätere Notizen gedacht war. Anschließend folgen „Die Angestellten“ und „Proletarisierter Mittelstand“ als Formen, sie weisen wieder ausführlichere Notizen auf. „Die Angestellten“, hier als „Produkt aus allen Degradierungen“ bezeichnet, umfassen so unterschiedliche Typen wie einen Schlafwagenschaffner, einen Syndikus oder einen Prokuristen. Davon abgesetzt notiert sind neue „Vergnügungen“ wie „Sport, Homöopathie, Mystik, Okkultismus, Spiritismus“ oder die „Sommerfrische“. Zur letzten Form, „Proletarisierter Mittelstand“, sind der Titel „Die Schönheit von Fulda“ (eine Vorarbeit zu Geschichten aus dem Wiener Wald, vgl. WA 3/VA1) und „Die ‚Völkischen‘“ aufgeführt, wozu der „‚freisinnige‘ Vater“ und der „Hakenkreuz-Sohn“ zählen. Zunächst hatte Horváth hier auch noch „Kommunisten“ eingetragen, dann aber wieder gestrichen und in den fünften und letzten Teil des Strukturplans aufgenommen. Neben den hierher verschobenen „Kommunisten“ sind weitere Titel eingetragen, so der des Dramenwerkprojekts „Die Lehrerin von Regensburg“ (vgl. ÖLA 3/W 298–W 301 – BS 9 [1–4]), „Die Bekehrung des Studenten Salm“ und „Die Entschung [gemeint ist vermutlich: Enttäuschung] des revolutionären Schriftstellers Kurt Albrecht“. Gemäß einer nebenstehenden Notiz soll die im dritten Teil bereits angedeutete „Tragik“ darin bestehen, dass „die wertvollen Söhne“ den Mittelstand verlassen. E1 enthält somit eine Vielzahl an Aspekten, die Horváths Schaffen um 1930 durchziehen. Neben dem Grundthema der Auseinandersetzung mit dem deklassierten Kleinbürgertum in der Spießer-Prosa und den Volksstücken weisen die unterschiedlichen Stoffe und Motive sowie die eingetragenen Werkprojekte und Figuren auf die dichte Vernetzung von Der Mittelstand mit dem übrigen Oeuvre hin. Sie skizzieren das Bild eines äußerst ambitionierten Vorhabens, dessen Fokus Horváth auch in den Jahren nach 1933 beschäftigen wird, wenn auch unter wechselnden Vorzeichen bzw. Umständen. Darin tritt eine oftmals übersehene Kontinuität in seinem Schreiben hervor, die sich beispielsweise im 1934–1936 entstandenen Exildrama Don Juan kommt aus dem Krieg manifestiert, das in einer stärker stilisierten Form auf die Motivreihen der „Revolution der Frau“ (Bl. 4), der Inflation und der Schieberzeit rekurriert. Besonders anschaulich ist dies in frühen Entwürfen des Stückes zu erkennen, deren Makrostruktur auch ein E1 ähnliches Gepräge aufweist (vgl. z.B. WA 9/K1/E2). Die genaue Position von E2 in der genetischen Reihe des Werkprojekts Der Mittelstand ist ungewiss. Materiell liegt E2 auf einem geviertelten Bogen desselben karierten Kanzleipapiers wie E1 vor, weshalb von einem Naheverhältnis beider Entwürfe ausgegangen werden kann. Die darauf eingetragenen Notizen lassen sich aber den anderen Arbeiten im Konvolut nicht eindeutig zuordnen. Thematisch kreisen sie um die Frage des Fortschritts, der Gegenüberstellung des „auf den einen Gestellten im
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Mittelstand“ mit dem „Kollektivgeist durch die Technik“, und um die „bürgerlichen Pessimisten“, „die es nicht haben wollen, dass eine Zeit mal nicht nach dem Profit produziere“. Im Rahmen von E1 könnten sie sich damit auf die dort angesprochene „Rationalisierung“ oder die „Errungenschaften der Technik“ (E1/Bl. 4) beziehen, die zum Zusammenbruch des Mittelstands führen, oder auf den fünften Teil des Strukturplans, der von der „Tragik und Überwindung des Mittelstandes“ (E1/Bl. 5) spricht. Möglicherweise ist E2 aber auch vor bzw. ganz unabhängig von E1 entstanden. Die letzten Spuren des Romanprojekts Der Mittelstand finden sich in drei Werkverzeichnissen. E3 entstand vermutlich kurz vor Abschluss des Romans Der ewige Spießer im Frühsommer 1930 und steht auf einem Blatt zum Dramenprojekt Der dumme Hans. Außer „Der ewige Spießer“ sind noch die Titel „Die Bergbahn“, „Es lebe die Liebe!“, „Der dumme Hans“, „Du wirst ihnen nicht entrinnen!“ und „Ein Wochenendspiel“ unter der Überschrift „Fünf Volksstücke“ aufgelistet. An „Ein Wochenendspiel“, einer frühen Fassung von Italienische Nacht, dürfte Horváth zu diesem Zeitpunkt bereits gearbeitet haben (vgl. WA 2), Die Bergbahn wurde 1929 uraufgeführt. Die anderen Titel bezeichnen Stücke, die Fragment geblieben bzw. nie über das Entwurfsstadium hinausgekommen sind. E4 und E5 befinden sich auf demselben Blatt und entstanden parallel zu den Arbeiten am dritten Bild von Geschichten aus dem Wiener Wald in der Fassung in sieben Bildern, an dem Horváth wohl noch Anfang 1931 gearbeitet hat (zur Chronologie dieser Werkgenese vgl. WA 3). In beiden Entwürfen sind die Titel „Der ewige Spießer“, „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und „Kinder und Militär die Hälfte“ eingetragen, in E5 zusätzlich noch „Die Arbeitslosen“. Bei den beiden letztgenannten Titeln handelt es sich um Dramenprojekte, zu denen nur wenige Entwürfe vorliegen.
Werkprojekt 14: Hannes, das Arbeiterkind H1 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 17v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E1 = Werkverzeichnis mit Strukturplan (unten; nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 464f. (WA 14/K4/E7).
H2 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 21 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, Bleistift E2 = gestrichener Werktitel „Hannes, das Arbeiterkind“ (nicht gedruckt)
H3 = ÖLA 3/W 335 – BS 12 b [3], Bl. 1 1 Blatt hochkariertes Papier (282 × 214 mm), Drucksorte der Gaststätte Kirchmeir in Murnau am Staffelsee, datiert auf den 11. Juni 1930, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E3 = fragm. Strukturplan in 27 Teilen (links) TS1 = fragm. Fassung (rechts, Grundschicht)
Zum Werkprojekt Hannes, das Arbeiterkind sind ein ausführlicher Strukturplan, eine hs. Textstufe, ein gestrichener Werktitel sowie ein Eintrag in ein Werkverzeichnis
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überliefert. Das E3 und TS1 enthaltende Blatt BS 12 b [3], Bl. 1 ist materiell besonders interessant. Es handelt sich dabei um eine Drucksorte, vermutlich Briefpapier, der Gaststätte Kirchmeir in Murnau am Staffelsee, deren Inhaber Ignatz Kirchmeir Horváth in den Arbeiten zum Roman einer Kellnerin erwähnt (vgl. WA 14/K1/E10). Da Horváth auch den Datumsvordruck ausgefüllt hat, kann die Entstehung des Blattes präzise auf den 11. Juni 1930 datiert werden. Das Werkprojekt selbst hat ihn aber vermutlich bereits früher beschäftigt, wie die Einträge in Werkverzeichnisse im Notizbuch Nr. 3 nahelegen. Unter dem Titel „Hannes, das Arbeiterkind“ mit der Gattungsangabe „Ein Märchenbuch“ steht es neben Entwürfen zur Kompilation des Romans Der ewige Spießer aus den vorher entstandenen Romanen Herr Reithofer wird selbstlos und Herr Kobler wird Paneuropäer (vgl. WA 14/K4/E7). Horváth hat diese Entwürfe bereits im Laufe des Frühlings 1930 eingetragen. Auf den folgenden Seiten des Notizbuchs notierte er einen Entwurf zu einem Brief an Heinrich Mann, in dem er auf dessen Kritik an dem 1929 von Hermann Kesten herausgegebenen Band 24 neue deutsche Erzähler (vgl. ET16) antworten wollte, die am 4. April 1930 in der Literarischen Welt erschienen war (vgl. ÖLA 3/W 364, Bl. 21f.; vgl. hierzu auch den Kommentar zu ET20/TS5). Auf dem ersten Blatt des Briefentwurfs notierte er zuerst mit Bleistift den sogleich wieder gestrichenen Werktitel „Hannes, das Arbeiterkind“ (E2). E1 und E2 sind also höchstwahrscheinlich im Laufe des April 1930 entstanden, die Nennung des Titels „Hannes, das Arbeiterkind“ an dieser Stelle somit die frühesten Erwähnungen. Mit E3 liegt ein fragmentarischer unbetitelter Strukturplan in 27 Teilen vor, deren genauer Zusammenhang unklar ist. Da in E1 aber von einem „Märchenbuch“ die Rede ist, sind die Teile vermutlich nicht als Struktur eines durchgängigen Textes, sondern als Auflistung einzelner, thematisch verwandter Märchen bzw. Kurzprosatexte zu verstehen. Überlegungen zu einer Sammlung von Kurzprosa bzw. zu einem Novellenband tauchen in Horváths Überlegungen dieser Zeit häufig auf (vgl. etwa WA 14/K4/E8). Ein weiteres Indiz dafür ist die gestrichene Eintragung „Das Märchen vom kleinen“ zum siebenten Teil des Plans. Neben „Hannes, das Arbeiterkind“ sind folgende Titel erwähnt: „Am Spielplatz“, „Die bürgerliche Familie“, „Das Gesetzbuch“, „Der Nationalist“, „Der Antisemit, der Antineger, der Antichines, der Antiindianer“, „Der Krieg“, „Die Revolution“, „Die goldene Mitte“, „Die Geburt“, „Die Begattung“, „Stadt und Land“, „Gründung der Stadt“, „Überwindung der Natur“, „Der böse Gott“, „Das Gebet“, „Der Tod“, „Wer kein Geld hat ist ein Schuft“ und „Der Arbeiter und die Maschine“, wobei Letzterer als Titel für die Teile 20 bis 27 steht. Der fünfte Teil trägt keinen Titel, die Teile „Die Geburt“, „Die Begattung“ sowie „Stadt und Land“ wurden gestrichen. TS1 wurde auf demselben Blatt wie E3 eingetragen und ist die einzige Textstufe des Werkprojekts. Der auf die Gattung Märchen verweisende Beginn „Es war einmal“ ist ein weiterer Hinweis darauf, dass in E3 jeweils eigenständige Märchen aufgelistet sind. Wie der Text schließen lässt, handelt es sich bei TS1 um eine Ausarbeitung des ersten Teiles „Hannes, das Arbeiterkind“. Hannes lebt in der Stadt, wo die Menschen „nicht wussten, wie das Land aussieht“, dafür aber „wie die Stadt aussah“. Durch seine Intelligenz hebt er sich von den anderen Schülern ab, weshalb er „grössenwahnsinnig“ wird. Nach dem zweiten Absatz von TS1 hat Horváth eine Strukturlinie eingefügt und etwas Freiraum gelassen, bevor er ungefähr in der Blattmitte die Arbeit fortgesetzt hat. Diese Topografie folgt dem durch die Form von E3 vorgegebenen Platz, sie könnte aber auch bedeuten, dass hier Varianten bzw. zwei separate Textstufen vorliegen.
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Werkprojekt 15: Im Himmel der Erinnerung H1 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 2 (= ET19/H1) 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, Eintragungen mit schwarzer Tinte, Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E1 = gestrichene Notiz (mittig) E2 = gestrichene Notiz mit Werktitel „Im Himmel der Erinnerung“ (unten)
H2 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 3, 4 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, Eintragungen mit schwarzer Tinte, Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
Zum Werkprojekt Der Himmel der Erinnerung liegen zwei Notizen sowie eine kurze Textstufe vor. Sämtliche Arbeiten befinden sich im Notizbuch Nr. 5, das Horváth im Sommer bzw. Herbst 1931 verwendet hat. Wie bereits die Erwähnung der Figur des Rittmeisters in E1 anzeigt, gehört das Werkprojekt konzeptionell in das Umfeld von Geschichten aus dem Wiener Wald (WA 3). In dessen Werkgenese hat Horváth wiederholt an einer Szene im „Himmel der Erinnerung“ gearbeitet, in der Reminiszenzen des Rittmeisters an seine Militärzeit die Geschehnisse im Maxim überblenden sollten (vgl. WA 3/K3/TS7 sowie den Kommentar dazu). In der Fassung in drei Teilen (WA 3/K5/TS12) trägt schließlich eine der Varieté-Nummern im Maxim diese Bezeichnung (vgl. ebd./SB Arcadia 1931, S. 91f.). Das vorliegende Werkprojekt greift diese in der Genese von Geschichten aus dem Wiener Wald verworfene Idee nochmals auf. Vermutlich waren die Notizen für einen Begleittext zur Uraufführung am 2. November 1931 am Deutschen Theater in Berlin gedacht. Darauf deuten auch die übrigen Eintragungen auf BS 33 [1], Bl. 2 sowie wenige Seiten später hin, die zum Kurzprosatext Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand gehören, der tatsächlich in Heft III der Blätter des Deutschen Theaters abgedruckt wurde (vgl. den Kommentar zu ET19). Die Entwürfe geben nur sehr wenige Eindrücke zur Gestalt des geplanten Textes, allein in E2 wird zwischen dem „Himmel“ und einem „Himmel der Erinnerung“ unterschieden. Ausführlicher wird Horváth in TS1, die von der Heimkehr des Rittmeisters erzählt, nachdem er „wiedermal nichts in der Lotterie“ (TS1/Bl. 3) gewonnen hat. Die Frage des Rittmeisters nach der aktuellen Lottoziehung ist ein wiederkehrendes Motiv in Geschichten aus dem Wiener Wald (vgl. z.B. WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 16f.). Nostalgisch erinnert er sich an „Herbstmanöwer“ und an eine „Primadonna“ (TS1/Bl. 3) bei der Operette, die „zwei steinreiche Leut ruiniert“ (TS1/Bl. 4) hätte. Hier bricht Horváth die Textstufe ab, weitere Arbeiten zu diesem Werkprojekt liegen nicht vor. Im Notizbuch Nr. 5 folgen auf den nächsten Seiten einige Entwürfe zu Karoline, die Schönheit von Haidhausen, einer Vorarbeit von Kasimir und Karoline (vgl. WA 4/VA2/E1–E3), sowie die Eintragungen zu Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand (ET19), das Im Himmel der Erinnerung als Begleittext ablöst.
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Werkprojekt 16: Der römische Hauptmann H1 = ÖLA 3/W 21 – BS 39 c [5], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 226 mm), gefaltet, schwarzblaue Tinte, Paginierung I., II. TS1 = Fassung mit Werktitel „Der römische Hauptmann“ (Korrekturschicht) Druck nach einer fehlerhaften Abschrift Traugott Krischkes (ÖLA 3/S 6 – BS 73) in: GW III, S. 131f.
Die einzige Textstufe zum Werkprojekt Der römische Hauptmann entstand 1932 und ist auf zwei Blättern überliefert, auf denen Horváth auch zwei Strukturpläne zu Glaube Liebe Hoffnung („Volksstück in fünf Akten“, Bl. 1) eingetragen hat. Trotz der gemeinsamen Eintragung handelt es sich bei Der römische Hauptmann um eine eigenständige Arbeit, konzeptionelle Anknüpfungspunkte zum Volksstück sind nicht zu erkennen. Erzählt wird von einem römischen Hauptmann, der nach der Kreuzigung Jesu Zweifel bekommt, „ob der Gekreuzigte nicht Recht gehabt hatte“, die „ganze Geschichte mit der Kreuzigung“ dann aber wieder vergisst (Bl. 2). Obwohl die Handlung „33 Jahre nach Christi Geburt“ (Bl. 1) spielt, weist der Text mehrere sprachliche wie sachliche Anachronismen auf, etwa einen „Friseur Brantl“, die „feschen Uniformen“ der Leutnants (ebd.), seinen Gang ins „Kasino“ oder sein Besuch „zum Tee bei der Gräfin“ (Bl. 2). Der Text knüpft lose an zwei Geschichten des Neuen Testaments an, die vom Hauptmann von Kafarnaum (Matthäus 8, 5–13 bzw. Lukas 7, 1–10) sowie vom Hauptmann Kornelius (Apostelgeschichte 10) berichten. Eine ähnliche Idee, einen römischen Hauptmann bei der Kreuzigung zu thematisieren, hatte Horváth bereits einige Jahre zuvor im Kontext seiner Arbeit am Roman einer Kellnerin um 1928 notiert, dort aber nicht weiterverfolgt (vgl. WA 14/K1/E15). Thematisch findet die Geschichte schließlich ihren Niederschlag im Roman Jugend ohne Gott, wo die Gotteserkenntnis des römischen Hauptmanns im gleichnamigen Kapitel den Lehrer beschäftigt (vgl. das Kapitel „Der römische Hauptmann“, WA 15/K1/TS2/Horváth 1937, S. 71–76 sowie zuvor ebd., S. 61).
Werkprojekt 17: Himmelwärts Das Romanprojekt Himmelwärts entstand Ende 1932 bzw. Anfang 1933 (vgl. dazu E5 sowie TS13/A2) und ist mit insgesamt 91 Blatt an Entwürfen und Textstufen das umfangreichste Konvolut unter den Fragment gebliebenen Prosawerken Horváths. Innerhalb des Materials lassen sich anhand der Hauptfigur(en) zwei erzählerisch unterschiedlich gelagerte Konzepte abgrenzen. Während in E1–E4 und TS1 ein Protagonistentrio vom „Stammtisch“ (E1) aus aufbricht, steht ab E5 allein Christian bzw. Ludwig Schlamperl im Mittelpunkt der Erzählung, der seinen tristen Lebensumständen zu entkommen sucht. Beide Konzepte stehen deutlich in der Gattungstradition des Schelmenromans, den Horváth für eine umfassende satirische Zeitkritik nutzt. Im Lauf seiner schriftstellerischen Arbeit hat Horváth den Titel „Himmelwärts“ außerdem für zwei Dramenprojekte benutzt, die sich, abgesehen von der literarischen Gattung, auch thematisch merklich vom Romanprojekt unterscheiden. Vermutlich kurz vor bzw. parallel zu dem vorliegenden Projekt entstanden die Arbeiten zu einer Zauberposse mit dem Titel „Himmelwärts“, die an Figuren und Motive aus der Werkgenese von Kasimir und Karoline anschließt und ähnlich dem Roman eine Vielzahl
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fantastischer Elemente aufweist (vgl. WA 7). Die Handlung der Zauberposse weist allerdings, bis auf veinzelte Motive in frühen Entwürfen (vgl. E1), kaum Berührungspunkte mit dem Romanprojekt auf. Horváth hat auch dieses Stück nicht vollendet und den Titel „Himmelwärts“ schließlich für sein „Märchen in zwei Teilen“ verwendet, über das er im April 1934 mit dem gleichgeschalteten Neuen Bühnenverlag in Berlin einen Vertrag abschloss (vgl. ebd.). Die Zugehörigkeit der Blätter des vorliegenden Konvoluts zum Romanprojekt Himmelwärts kann über wiederkehrende Figuren, Motive und Schauplätze sowie durch das verwendete Material (Papier mit Wasserzeichen „M. K.-Papier“ und „Aeolus M. K.Papier“) eindeutig festgestellt und gegenüber den Dramenprojekten abgegrenzt werden. Aufgrund der Namensgleichheit der drei verschiedenen Arbeiten haben frühere Editionen das Romanfragment Himmelwärts unter dem Namen des Protagonisten Schlamperl ediert (vgl. GW IV, S. 34*). Eine erste Edition unter dem Titel „Himmelwärts“ liegt in KW 15 vor, dort jedoch mit einer fehlerhaften Datierung auf die 1920er-Jahre (vgl. KW 15, S. 203). H1 = ÖLA 3/W 336 – BS 61 [1], Bl. 1 1 Blatt hochkariertes Papier (285 × 225 mm), Wasserzeichen „M. K.-Papier“, halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte E1 = Strukturplan in 15 Teilen mit Dialogskizzen und Notizen mit Werktitel „Himmelwärts / Romantischer Roman“
Der Strukturplan E1 ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die früheste überlieferte Arbeit zum Romanprojekt Himmelwärts und wurde auf einem halbierten Bogen hochkarierten Papiers mit dem Wasserzeichen „M. K.-Papier“ eingetragen. Auf Blättern desselben Papiers liegt auch der Strukturplan E2 vor. Horváth hat diese Papiersorte außerdem für einige Adaptierungsarbeiten zu Kasimir und Karoline verwendet, die er im Spätherbst 1932 angefertigt hat (vgl. WA 4/K5a/E1–E7), was sich mit der ungefähren Datierung des Werkprojekts auf Ende 1932/Anfang 1933 deckt (vgl. dazu E5 bzw. TS13/A2). Gemeinsam mit E2–E4 sowie TS1 bildet E1 eine erste konzeptionelle Einheit im Konvolut, die durch ihr am „Stammtisch“ (E1 und E2) bzw. in einer Gaststätte (vgl. TS1/A6/BS 61 [4], Bl. 1) beginnendes Setting und mehrere Protagonisten (vgl. E2) von den anderen Arbeiten zu unterscheiden ist. Unter der Gattungsbezeichnung „Romantischer Roman“ sind in E1 insgesamt 15 Teile verzeichnet, die von 1–14 durchnummeriert sind, wobei der Plan nach einer späteren Eintragung zwei neunte Teile aufweist. Vorgesehen sind die Teile „Stammtisch“, „Abfahrt“, „Das Meer“, „Robinson“, „Zurück zur Natur“, „Die Menschenfresser“, „Die Könige“, „Der Präsident der Republik“, „Der Umsturz“, „Das Perpetuum mobile“, „Die Autarkie-Inseln“, „Die Inseln, die immer miteinander Krieg führen“, „Die Inseln der Verbannten“, „Die Termiten-Insel“ und „Die gütige Fee“. Bei den Teilen „Der Präsident der Republik“ und „Das Perpetuum Mobile“ handelt es sich vermutlich um Residuen aus dem früheren Dramenprojekt mit dem Titel „Himmelwärts“ (vgl. WA 7), die jedoch bald aus dem Romanprojekt verschwinden. Auffälligerweise sind zu den ersten vier Teilen keinerlei Notizen eingetragen, was darauf hindeuten könnte, dass hierzu bereits ausgearbeiteter Text oder weitere Entwürfe vorgelegen haben. Wie aus einer Dialogskizze zum vorletzten Teil „Die Termiten-Insel“ zu ersehen ist, trägt ein Protagonist bereits den Namen Schlamperl; die TS1 kennzeichnende Reisegesellschaft wird erst in E2 erwähnt. Die Schauplätze der einzelnen Teile bzw. die beigefügten Notizen lassen
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die geplante Ausrichtung des Romans als fantastischen Text ebenso wie die zeitkritische Absicht Horváths in der Tradition des Schelmenromans klar erkennen. Einige der Teile, etwa die Geschichte des „Robinson“ oder der „Autarkie-Inseln“, finden sich als eigenständige Stationen auch in den anders konzipierten späteren Textstufen (vgl. etwa TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 17 und TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 49). Andere Aspekte, etwa der „Krieg gegen die Wilden“, werden teilweise übernommen und in neue Kontexte integriert (vgl. etwa zu den „Wilden“ TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 27ff. und TS7). Die deutlichste Übereinstimmung weist E1 mit dem Strukturplan E2 auf, in dem Horváth einen Großteil der vorliegenden Struktur wiederaufnimmt und teilweise neu anordnet (vgl. dazu sowie zum Verhältnis der Strukturpläne zu TS1 den Kommentar zu E2). H2 = ÖLA 3/W 336 – BS 61 [1], Bl. 2, 3 2 Blatt hochkariertes Papier (285 × 225 mm), Wasserzeichen „M. K.-Papier“, halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte E2 = Strukturplan in 13 Teilen mit Dialogskizzen und Notizen mit Werktitel „Himmelwärts / Romantischer Roman“ Druck in: GW IV, S. 34*f.
E2 setzt die konzeptionellen Überlegungen von E1 fort und zeigt auf zwei Blättern einen Strukturplan in dreizehn Teilen. Materiell hat Horváth wie bei E1 auf halbierte Bögen hochkarierten Papiers mit dem Wasserzeichen „M. K.-Papier“ zurückgegriffen, was neben den thematischen Konvergenzen auf die enge Verwandtschaft der beiden Strukturpläne hinweist. Unter dem Titel „Himmelwärts“ samt der Gattungsbezeichnung „Romantischer Roman“ verzeichnet sind die Teile „Stammtisch“, „Abfahrt“, „Das Meer“, „Der Sturm – Gestrandet“, „Der österreichische Robinson“, „Die Autarkie Inseln“, „Der Präsident der Republik“, „Der Krieg gegen die Wilden“, „Die Insel der Verbannten“, „Der 5 Jahresplan“, „Die geschlechtslosen Menschen“, „Ruinen“ auf BS 61 [1], Bl. 2 und „Die gütige Fee“ auf Bl. 3. Vergleicht man diese Struktur mit der von E1, so wird deutlich, dass der Autor hier nur eine Handvoll der zuvor notierten Teile übernommen und darüber hinaus neu angeordnet hat. In einigen Fällen ersetzen Notizen aus E1 die ursprünglichen Teiltitel, etwa „Ruinen“ statt „Die Könige“ oder „Der 5 Jahresplan“ statt „Der Umsturz“. In anderen Fällen begründen sie separate Teile wie „Der Sturm“, der in E1 noch mit Fragezeichen versehen war, und „Der Krieg gegen die Wilden“, dem auch die „Menschenfresser“ zugeordnet werden. Schließlich fassen andere Eintragungen bestehende Teile allgemeiner, wie etwa „Die geschlechtslosen Menschen“, was „Die Termiten-Insel“ aus E1 ersetzt. Unverändert bleibt in E2 die grundlegende Struktur aufeinanderfolgender fantastischer Reisestationen bestehen, die deutlich in der Gattungstradition des Schelmenromans steht. Die gegenüber E1 merklich größere Zahl an Notizen und Ergänzungen gibt einige Hinweise auf weitere inhaltliche Aspekte des geplanten Romans. Oben rechts auf Bl. 1 sind die drei Namen Schlamperl, Ludwig und Lenz notiert, womit erstmals ein Protagonisten-Trio erwähnt wird. In TS1 ist zunächst ein Quartett an Figuren vorgesehen, das auch den Erzähler einschließen sollte (vgl. die aus der Grundschicht stammende Variante auf TS1/A6/BS 61 [4], Bl. 2). Nach einer Überarbeitung, die vermutlich mit TS1/A2 einhergeht, agieren schließlich die Figuren Christian Schlamperl und Ludwig, Heinrich Kowarek ist der Dritte im Bunde (vgl. TS1/A6/BS 61 [4], Bl. 2f.). Der nun im fünften Teil vorgesehene „Robinson“ wird in E2 zu einem Österreicher, der sich in seiner Isolation mit der Hundezucht beschäftigt (vgl. E7,
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TS1/A6/BS 61 [4], Bl. 9f., TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 7), mit „Butter Insel“ sind erste Ideen zu den „Autarkie Inseln“ festgehalten (vgl. E1 und später TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 17, TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 49 sowie TS11/A5/BS 61 d [1], Bl. 62). Die umfangreichsten Notizen weist der letzte Teil „Die gütige Fee“ auf, der sich auf Bl. 3 befindet und auch Ideen zum Ende des Textes festhält. Als Schlamperl nach der Reise behauptet, das Leben habe keinen Sinn, fährt ihm die Fee als „Abgesandte der Güte“ (Bl. 3) in ironischer Verkehrung harsch über den Mund. In diesem Teil soll das Protagonisten-Trio auch auf ein kleines Mädchen treffen, das sie mitnehmen. Über die Frage, wer sie adoptieren darf, geraten sie in Streit, weshalb sie das Spiel entscheiden lassen wollen, wozu Horváth „Kartenspiel“, „Falschspiel“ und „Sauferei“ erwähnt. Schließlich geht den Dreien das Geld aus, und sie müssen wieder arbeiten.
H3 = ÖLA 3/W 337 – BS 61 [2], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (210 × 131 mm), Notizbuchblatt aus einem nicht überlieferten Notizbuch, Perforation am oberen Blattrand, schwarze Tinte E3 = Notiz (oben) E4 = Notiz zum II. Teil (unten)
Die beiden Notizen E3 und E4 befinden sich auf einem aus einem Notizbuchblock herausgerissenen Blatt, dessen Maße mit denen des von Horváth Mitte/Ende 1932 benutzten Notizbuchs Nr. 7 (ÖLA 3/W 362) übereinstimmen, das vor allem Nacharbeiten zu Kasimir und Karoline (WA 4/K5a–K5c) enthält. An Adaptierungen zu Kasimir und Karoline hatte Horváth vermutlich parallel zu Himmelwärts gearbeitet (vgl. den Kommentar zu E1). Trotz zahlreicher weiterer identischer Merkmale wie der Festigkeit des Papiers, abgerundeten Ecken am Fuß und einer gleichförmigen Perforation am Kopf des Blattes handelt es sich aber höchstwahrscheinlich nicht um ein aus diesem Notizbuch stammendes Blatt, da BS 61 [2], Bl. 2 nicht über eine leichte Karierung wie die dort enthaltenen Blätter verfügt. Vermutlich gehört es zu einem ähnlichen Notizbuch, das als verloren erachtet werden muss. Das Blatt lässt sich vor allem aufgrund der Notizen in E4 dem Werkprojekt Himmelwärts zuordnen. Unter der Nummerierung „II.“ ist hier von einem Motorboot am See die Rede, das Ludwig von einer Tante geerbt habe. Der Figurenname Ludwig wird für einen der drei Protagonisten in TS1 sowie in den späteren Textstufen (vgl. zuerst die Korrekturschicht von TS3/A5) als Vorname des dort alleinigen Protagonisten Schlamperl verwendet. Da die Reise an einem „See“ beginnen soll, entstand E4 mit ziemlicher Sicherheit im Vorfeld von TS1, wo Ludwig sein Motorboot allerdings nicht durch eine Erbschaft erhält, sondern mittels seines Anteils an einem Lotteriegewinn erwirbt. Weniger klar zu deuten ist der Status der Notiz E3 im Kontext des Werkprojekts. Horváth vermerkt hier die Worte eines „Philosoph[en]“, die Welt bestehe „aus Boshaften und Dummen“, wobei die „Boshaften dumm und die Dummen boshaft“ würden, wenn man ihnen das laut sagte. Noch schlimmer sei dies aber bei den „Ausnahmen“, den „Guten“ und „Gescheiten“. Möglicherweise handelt es sich bei E3 um einen Entwurf zu einem Vorwort, wie es etwa in TS1 am Ende der Textstufe als Lob des Narrentums vorliegt (vgl. TS1/A6/BS 61 [4], Bl. 13). Die Figur des Philosophen wiederum könnte die Philosophen des Narrenkönigs vorwegnehmen, die in TS3/A5 vorkommen (vgl. TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 15).
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T1 = ÖLA 3/W 338 – BS 61 [3], Bl. 1, 2, ÖLA 3/W 339 – BS 61 [4], Bl. 1–13 Insgesamt 15 Blatt, davon 13 Blatt unliniertes Papier (295 × 209 mm), 1 Blatt unliniertes Papier (106 × 209 mm), geschnitten, 1 Blatt unliniertes Papier (336 × 209 mm), geschnitten und geklebt, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, Bleistift und rotem Buntstift, masch. Paginierung 6, 7 auf BS 61 [3], Bl. 1, 2, masch. Paginierung 1–6 auf BS 61 [4], Bl. 1–5, masch. Paginierung jeweils 6 auf BS 61 [4], Bl. 6, 7 und masch. Paginierung 7–12 auf BS 61 [4], Bl. 8–13 TS1/A1 = Fassung des I. Kapitels konstituiert durch BS 61 [4], Bl. 1–4 (vgl. Simulationsgrafik; nicht gedruckt) TS1/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 [4], Bl. 1–6 (vgl. Simulationsgrafik; nicht gedruckt) TS1/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 [4], Bl. 1–5, BS 61 [3], Bl. 1, 2, BS 61 [4], Bl. 8 (vgl. Simulationsgrafik; nicht gedruckt) TS1/A4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 [4], Bl. 1–5, 7 (vgl. Simulationsgrafik; nicht gedruckt) 1 TS /A5 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 [4], Bl. 1–5, 7, 8 (vgl. Simulationsgrafik; nicht gedruckt) TS1/A6 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 [4], Bl. 1–5, 7–13 (Korrekturschicht: schwarzblaue Tinte; vgl. Simulationsgrafik) Druck von TS1/A6 in: GW IV, S. 418–428 (teilweise Grundschicht).
TS1 ist die erste umfangreichere Textausarbeitung des Romanprojekts Himmelwärts und liegt auf insgesamt 15 Blatt vor. Der Entstehungsprozess lässt sich in sechs Ansätze aufgliedern, die zum einen aufgrund des Austauschs von Material (A2, A3 und A5) und zum anderen durch die Übernahme von zuvor hs. gesetzten Korrekturen in die masch. Grundschicht unmittelbar daran anschließender Blätter (A4 und A6) unterschieden werden können. Konzeptionell setzt TS1 mit hoher Wahrscheinlichkeit den Strukturplan E2 fort (vgl. den Kommentar dort), dessen erste vier Teile in A6 in Form dreier Kapitel vorliegen, an die ein viertes anschließt, bei dem es sich um eine Art Vor- oder Nachwort handeln dürfte. Wie in E2 festgehalten, verfügt TS1 über drei Protagonisten, Christian Schlamperl, Ludwig sowie Heinrich Kowarek, der den zuvor notierten „Lenz“ (E2/Bl. 2) ersetzt. Vermutlich bis zur Überarbeitung des mit A1 vorliegenden Materials im Übergang zu A2 ist anfänglich auch der Erzähler als vierter Protagonist vorgesehen (vgl. dazu die aus der Grundschicht stammende Variante auf BS 61 [4], Bl. 2). A1 umfasst die ersten vier Blätter des Typoskripts, der enthaltene Text gehört zum ersten Teil „Stammtisch“ von E1 bzw. E2, zu dem dort keine Notizen eingetragen sind. A2 lässt sich über den Namen der Gastwirtschaft, in der Schlamperl, Ludwig und Kowarek ihren Lotteriegewinn versaufen, abgrenzen. Auf Bl. 1 lautet deren Name in der Grundschicht noch „Gasthaus zum wilden Löwen“, in der Korrekturschicht wird er zu „Gasthaus zum Drachen“ geändert. An „den wilden Drachen“ denken die Protagonisten wieder auf Bl. 5, wo dieser Name bereits in der Grundschicht vorliegt, was ein starkes Indiz dafür ist, dass Horváth die masch. Ausarbeitung zuvor unterbrochen hat, um die hs. Korrekturen auf den ersten vier Blättern einzufügen. Ab Bl. 5 liegt dementsprechend der neue Ansatz A2 vor. Die hs. Änderungen auf den in A1 erstellten Blättern sind vermutlich in zwei separaten Korrekturvorgängen mit derselben schwarzblauen Tinte entstanden, wobei der zweite erst in A2 durchgeführt wurde. Wichtige Indizien dafür liefert neuerlich die Namensänderung der Gastwirtschaft: Der Korrekturduktus auf Bl. 1 zeigt, dass die Änderung von „Löwen“ zu „Drachen“ unabhängig von der Streichung des Adjektivs „wilden“ erfolgt ist. Da auf Bl. 5 in der Grundschicht zunächst „den wilden Drachen“ und in der Korrekturschicht schließlich „ihren lieben Drachen“ zu lesen ist, ist eine Änderung auf Bl. 1 in zwei separaten
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Korrekturvorgängen plausibel. Über diese Änderung hinaus trägt Horváth weitere Korrekturen und Ergänzungen auf Bl. 1–4 ein, deren Entstehung in A1 bzw. A2 jedoch nicht genau abgegrenzt werden kann. A2 enthält auf den Blättern BS 61 [4], Bl. 5 und 6 eine fragmentarische Ausarbeitung des zweiten Kapitels. Auf Bl. 6 bricht Horváth nach nur wenigen Zeilen mitten im Satz ab („Die Bauern arbeiteten auf den Feldern“), streicht anschließend hs. die Kapitelnummerierung auf Bl. 5 und integriert damit die begonnene Ausarbeitung in das erste Kapitel. Neben einigen kleineren Korrekturen, darunter die mit BS 61 [4], Bl. 1 korrespondierende Änderung des Namens der Gaststätte, fügt er auf Bl. 5 unten ein Strukturzeichen ein, um den neuen Abschluss des ersten Kapitels auf Bl. 5 zu bekräftigen. Die ersten zwei Kapitel von E1 und E2 „Stammtisch“ und „Abfahrt“ fallen dadurch zusammen. Im Übergang zu A3 scheidet Bl. 6 aus dem Produktionsprozess aus. Es wird durch das neue Blatt BS 61 [3], Bl. 1 mit der Paginierung 6 ersetzt, auf dem das zweite Kapitel beginnt, das thematisch mit dem dritten Teil von E1 und E2 („Das Meer“) korrespondiert. Das in A3 folgende Blatt mit der Paginierung 7 besteht aus BS 61 [3], Bl. 2 und dem unteren Teil von BS 61 [4], Bl. 8 und wurde später in A5 neuerlich zur Montage verwendet, wo ein neuer oberer Teil von BS 61 [4], Bl. 8 verklebt wurde. Auf beiden in A3 eingefügten Blättern hat der Autor noch kleinere Ergänzungen in Tinte auf die Blätter eingetragen, so die Einfügung der Passage über die „stillen Weiher der Kindheit“ auf BS 61 [3], Bl. 1, wie sie auch in A4/Bl. 7 vorkommt. Wann genau die Ergänzungen auf dem bereits in diesem Ansatz vorliegenden Teil des Blattes BS 61 [4], Bl. 8, darunter ein das Kapitel beschließendes Strukturzeichen, vorgenommen wurden, ist ungewiss. Möglicherweise fanden sie erst im Zusammenhang mit der Montage des Blattteiles in A5 statt, worauf auch das Fehlen von Korrekturen in Tinte auf dem abgetrennten Teil BS 61 [3], Bl. 2 hindeutet. Für die geplante weitere Entwicklung des Werkprojekts in dieser Konzeptionsphase sind einige makrostrukturelle Anstreichungen und Notizen auf BS 61 [3], Bl. 1 wie Bl. 2 interessant, die mit rotem Buntstift ausgeführt sind. Während Horváth damit einerseits den Teil des Textes auf Bl. 1 streicht, den er modifiziert auf das in A4 eingefügte Blatt BS 61 [4], Bl. 7 übernehmen wird, markiert er andererseits auch eine längere Passage am Fuß des Blattes sowie auf Bl. 2. Hier erzählt Ludwig von einer „spiritistischen Sitzung“, bei der ihm Kaiser Nero erschienen sei, der sich darüber beklagt habe, „dass man jetzt die Hunde nach ihm benennt“ (BS 61 [3], Bl. 1). Diese Passage ist mit der Anmerkung „Ruine“ versehen, die im Strukturplan E2 als zwölfter Teil („Insel mit nur Ruinen“) vorgesehen ist. In E1 steht die Eintragung „Ruinen“ als Ergänzung zum siebenten Teil („Die Könige“). In A4 entfernt Horváth die beiden zuvor eingefügten Blätter und fertigt mit BS 61 [4], Bl. 7 einen neuen Beginn des zweiten Kapitels, in dem die Korrekturen aus A3 berücksichtigt sind. Besonders hervorzuheben ist hier die Passage über den fehlenden Kompass, die bereits in A3/BS 61 [3], Bl. 1 skizziert wurde. Sie ist in A4 weitaus komischer gestaltet, indem die drei Reisenden hier ein Buch über die Geschichte des Kompasses finden (vgl. A6/BS 61 [4], Bl. 7). Die von Ludwig hier vorgelesene Stelle ist ein Zitat: Sie stammt unverändert aus einer bereits zu Horváths Lebzeiten veralteten Ausgabe von Meyers Konversationlexikon (vgl. Meyers Konversationslexikon. Bd. 9. 4. Aufl. Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 1885–1892, S. 994f.). Da der Anschluss an das folgende Blatt BS 61 [4], Bl. 8 mittels einer hs. Korrektur am Fuß von Bl. 7 hergestellt wurde, kann auf einen neuerlichen Abbruch des Pro-
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duktionsprozesses geschlossen werden; Bl. 8 ist dementsprechend bereits Teil von A5. Den hier getippten Text bricht Horváth knapp nach der Mitte des Blattes wieder ab, streicht den zuletzt getippten Absatz mit Bleistift und überklebt ihn mit dem vom in A3 eingefügten Blatt BS 61 [3], Bl. 2 abgetrennten Teil, womit A6 vorliegt. Dieser Blattteil enthielt möglicherweise bereits in A3 ein Strukturzeichen, mit dem das zweite Kapitel schließt. Nachdem sich Horváth in A2–A5 Klarheit über die Gestaltung dieses Kapitelübergangs verschafft hat, verläuft die Textentwicklung in A6 wieder zügiger. Das von BS 61 [4], Bl. 9 bis Bl. 12 reichende dritte Kapitel enthält die Landung der drei Reisenden auf der Insel des gestrandeten „Robinson“ (E2/Bl. 1), der hier als „Bieber“ (A6/BS 61 [4], Bl. 10) bezeichnet wird. Neben dem Schiffbrüchigen lernt das Trio auch seine Familie von Möpsen kennen und beschließt nach einigem Streit, den „Bieber“ mitzunehmen. Insbesondere BS 61 [4], Bl. 10 und Bl. 11 weisen eine größere Menge an hs. Korrekturen und Ergänzungen in Tinte auf. Davon abgehoben ist eine makrostrukturelle Eintragung in rotem Buntstift neben dem unten auf Bl. 10 beginnenden Absatz bis zur Mitte von Bl. 11, die die Geschichte des Schiffbruchs des „Biebers“ und die Beschreibung seiner Hütte umfasst. Hierzu hat der Autor in römischen Ziffern „IV.“ notiert, ein Hinweis darauf, dass er die Verschiebung dieses Teiles in das folgende Kapitel plante. Das in A6 anschließende vierte Kapitel indes umfasst nur das Blatt BS 61 [4], Bl. 13 und geht erzählerisch einen Schritt zurück. Der Erzähler (bzw. der „Verfasser“) äußert sich hier über die Absicht des Buches, das für Leute geschrieben sei, „denen es schlecht geht“, und gibt an, ihm gelte immer noch „als höchster Spruch: gegen Lüge und Dummheit. Werdet aufrichtig, erkennt Euch selbst!“ Damit schließt Horváth deutlich an die im Motto zu Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) formulierte Haltung seiner Volksstücke („Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.“ WA 3/K5/TS12/SB Arcadia 1931, o. Pag. (S. 2)) an, die sich auch in seinem ersten Roman Der ewige Spießer (1930) findet. An dieses Blatt schließen keine weiteren Arbeiten zu dieser Konzeption des Werkprojekts mehr an. Die übrigen Textstufen und Entwürfe des Konvoluts von Himmelwärts folgen bereits einer modifizierten Idee, die nur mehr einen Protagonisten, zunächst Christian Schlamperl, vorsieht. H4 = ÖLA 3/W 14 – BS 39 b [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), schwarzblaue Tinte, hs. Einträge mit Bleistift von fremer Hand (Berliner Bearbeitung) E5 = gestrichener fragm. Strukturplan mit Werktitel „Himmelwärts / Roman“ Druck in: WA 4/K4/E1, S. 366f.
H5 = ÖLA 3/W 366 – BS 25 [3], Bl. 4 1 Blatt aus dem Notizbuch o. Nr. mit blauem Blattschnitt, liniertes Papier (152 × 89 mm), hs. Eintragungen mit schwarzer Tinte E6 = fragm. Strukturplan in 2 Kapiteln
H6 = ÖLA 3/W 337 – BS 61 [2], Bl. 2 1 Blatt liniertes Papier (219 × 138 mm), Wasserzeichen „M. K.-Papier“, schwarzblaue Tinte TS2 = fragm. Fassung des Kapitels „Abfahrt“ mit Werktitel „Die Reise um die Welt“ (Grundschicht)
Die fragmentarischen Strukturpläne E5 und E6 sowie die fragm. Fassung des Kapitels „Abfahrt“ in TS2 sind mit einiger Wahrscheinlichkeit die frühesten Zeugen für die
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konzeptionelle Änderung des Romanprojekts nach Horváths Abbruch der Arbeit an TS1/A6. Hinsichtlich der zeitlichen Einordnung von Himmelwärts sind sowohl E5 als auch E6 interessant. Gemeinsam mit dem fragmentarischen Strukturplan E5 sind auf BS 39 b [1], Bl. 1 Strukturpläne zu einem Stück mit dem Werktitel „Lustspiel“ sowie Titelentwürfe zu einer gemeinsamen Publikation von Kasimir und Karoline und Glaube Liebe Hoffnung eingetragen. Horváth hatte vor der Auflösung seines seit 1929 bestehenden Vertrags mit Ullstein Anfang 1933 noch vereinbart, dass von Glaube Liebe Hoffnung eine Buchausgabe erscheinen sollte (vgl. zuletzt den Brief Ullstein an Horváth vom 23. Dezember 1932, Ullstein Vertragsarchiv). Wie die Notizen hier zeigen, machte er sich Hoffnungen, darin auch das vorher entstandene Volksstück unterzubringen (vgl. WA 4/K4/E1 sowie den Kommentar dort). E5 ist somit frühestens in der zweiten Jahreshälfte 1932, nach der Annahme von Glaube Liebe Hoffnung durch Ullstein entstanden. E6 wiederum wurde in ein Notizbuch (ÖLA 3/W 366 – BS 25 [3]) eingetragen, das Horváth vornehmlich in der zweiten Jahreshälfte 1932 benutzt hat. Es unterscheidet sich von den übrigen Notizbüchern durch seinen stark funktionalen Charakter. Horváth hat darin weniger Ideen zu seinen Werken, sondern vor allem Termine und Kontakte notiert. Diese sehen unter anderem Treffen mit den Journalisten P.A. Otte und Bernhard Diebold (vgl. BS 25 [3], Bl. 2), den Regisseuren Heinz Hilpert, Berthold Viertel und Rudolf Beer, dem Schauspieler Oskar Sima, aber auch ganz allgemein mit Vertretern des Arcadia- und Kiepenheuer-Verlags vor (vgl. ebd./Bl. 7). Genannt sind auch die Namen Lukas Kristl, mit dem Horváth an Glaube Liebe Hoffnung gearbeitet hat, und Robert Stemmle, der auf eine Anregung Max Reinhardts hin Ende 1932 gemeinsam mit Horváth an der Revue Magazin des Glücks arbeitete. Zu dieser findet sich auch ein gestrichener Entwurf im Notizbuch (vgl. ebd./Bl. 5). Die Treffen mit Hilpert, aber auch mit Beer sowie Verlagsvertretern betrafen vermutlich die Uraufführung von Glaube Liebe Hoffnung. Rudolf Beer sollte das Stück zunächst Anfang 1933 im Deutschen Theater in Berlin zur Uraufführung bringen. Jedoch hatte auch Heinz Hilpert, Regisseur der Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald am selben Hause am 2. November 1931 und mittlerweile Intendant der Berliner Volksbühne, Interesse daran. Ein möglicher Wechsel wurde durch die Auflösung des Vertrags Horváths mit Ullstein im November 1932 wahrscheinlich (vgl. ebd.). Horváth stand daraufhin mit dem Kiepenheuer-Verlag in Verhandlungen, worauf auch die hier notierten Treffen mit dem zu Ullstein gehörigen Arcadia-Verlag, der die meisten Stücke Horváths verlegt hat, abzielen dürften (zu Horváths Wechsel zu Kiepenheuer vgl. die Vorworte zu Eine Unbekannte aus der Seine bzw. Hin und her, WA 6, S. 5 bzw. S. 171). Mit Berthold Viertel versuchte Horváth Anfang 1933 bezüglich einer erneuten Inszenierung von Geschichten aus dem Wiener Wald ins Gespräch zu kommen (vgl. auch den Brief Horváths an Berthold Viertel vom 2. Jänner 1933, DLA Marbach, Viertel 78.898/7). Die Eintragungen im Notizbuch lassen sich deshalb ziemlich genau auf Ende 1932 eingrenzen. Dieser Befund korrespondiert mit der vom verwendeten Material abgeleiteten Datierung von E1 und E2. Dort hat Horváth auf hochkariertes Papier mit dem Wasserzeichen „M. K.-Papier“ zurückgegriffen, das er auch für die Nacharbeiten zu Kasimir und Karoline verwendet hat (vgl. den Kommentar zu E1). Papier mit diesem Wasserzeichen liegt auch im Falle von TS2 vor; es handelt sich hier aber um ein kleinformatiges liniertes Blatt, das keine Aufschlüsse zur Chronologie bzw. Werkgenese gibt. Das in E5 notierte „Lustspiel“ scheint zudem im Material von TS3 nochmals auf, hier
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hat Horváth auf der Rückseite von TS3/A2/BS 61 b [1], Bl. 18 von Hand „Lustspiel in drei Akten“ eingetragen (vgl. den Kommentar zu TS3). Den anschließenden Arbeiten ab E7 bzw. TS3 ist gemein, dass sie nicht mehr ein Protagonistentrio, sondern einen einzelnen Protagonisten vorsehen, der wie in TS1 zunächst Christian, später Ludwig Schlamperl heißt. Formal wie inhaltlich bestehen weiterhin starke Kontinuitäten, etwa die Beibehaltung mehrerer in E1 und E2 vorgesehener Handlungsteile und Motive sowie die allgemeine Stationenstruktur der Schelmenreise (vgl. dazu im Detail die Kommentare zu den folgenden Arbeiten). E5, E6 sowie TS2 selbst sind aufgrund ihres stark fragmentarischen Charakters zunächst nur schwer einem der beiden Konzepte zuzuordnen. Da sie sich durch den Beginn „Im Hafen“ (E5, E6 und TS2) von der Exposition in TS1/A6 im Wirtshaus bzw. am „Stammtisch“ (E1 und E2) unterscheiden und die Schilderung in TS2 bereits einige Ähnlichkeit mit der von TS3/A5 hat, kann von einem Naheverhältnis beider Arbeiten mit dieser Textstufe ausgegangen werden. Die Einordnung des stark fragmentarischen und nur provisorisch mit „R.“ betitelten Strukturplans E6 in diese Gruppe sowie in das Werkprojekt Himmelwärts im Allgemeinen kann allein aufgrund der Erwähnung des Hafens vorgenommen werden. Während E5 neuerlich den Titel „Himmelwärts“ mit der Gattungsbezeichnung „Roman“ führt, bringt TS2 mit „Reise um die Welt“ einen neuen Titel ins Spiel, der nur in dieser Textstufe Verwendung findet. Möglicherweise ist er in der Abkürzung „R.“ in E6 nochmals aufgenommen. Horváth hat diesen Titel allerdings auch, ähnlich dem ersten Dramenprojekt mit dem Titel „Himmelwärts“ aus dieser Zeit, für ein alternativ „Das Paradies“ genanntes Dramenprojekt verwendet, das er im Notizbuch Nr. 7 notiert hat. Dort steht es zwischen Entwürfen zu „Die Wiesenbraut“ im Vorfeld der Uraufführung von Kasimir und Karoline (vgl. WA 4/K5b) und ist auch im zweiten Halbjahr 1932 entstanden. Ähnlich wie im Falle des Dramenprojekts sind nur wenige konkrete Überschneidungen mit dem geplanten Roman Himmelwärts auszumachen. H7 = ÖLA 3/W 342 – BS 61 b [3], Bl. 1 1 Blatt hochkariertes Papier (287 × 226 mm), schwarzblaue Tinte E7 = Strukturplan in 8 Kapiteln mit Notizen
E7 zeigt einen mehrfach überarbeiteten Strukturplan in acht Kapiteln, der in enger Verbindung mit TS3 steht und vermutlich kurz vor bzw. parallel zu den ersten Ansätzen dieser Textstufe erarbeitet wurde. Zuletzt festgehalten sind die Teile „Es war einmal“, „Die Wunder der Tiefsee und der Kavalier in der Wanne“, „Ein Bieber“, „Die Erzählungen des Biebers“, „Wie die Möpse heissen“, „Vergangene Zeiten“, „Das Narrenschiff“ und „Eine Audienz“. Insbesondere die ersten drei Kapitel lassen sich durch die in die Korrekturschicht von TS3 eingetragenen Kapiteltitel klar auf diese Textstufe beziehen, ebenso der im alternativen Titel des ersten Kapitels genannte „Christian Schlamperl“ (vgl. aber zu den Abgrenzungsproblemen der Korrekturschicht den Kommentar dort). Ab dem vierten Kapitel weist TS3 keine Kapiteltitel mehr auf und beginnt, im inhaltlichen Aufbau von E7 abzuweichen. Trotzdem lassen sich deutliche thematische Bezüge erkennen, so entspricht das dort vierte Kapitel dem in E7 eingetragenen Kapiteltitel „Die Erzählungen des Biebers“ und das fünfte Kapitel dem Titel „Das Narrenschiff“. Die zum achten Kapiteltitel von E7 („Eine Audienz“) gehörige Notiz „Der König aller Narren ist ein ganz vernünftiger Mensch“ wiederum integriert Horváth in das fünfte Kapitel von TS3 (vgl. TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 15).
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Chronologisches Verzeichnis
T2 = ÖLA 3/W 340 – BS 61 b [1], Bl. 1–32, ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 36 33 Blatt unliniertes Papier (295 × 209 mm), Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, masch. Paginierung 1–22 auf BS 61 b [1], Bl. 1–22, masch. Paginierung 22 auf BS 61 b [1], Bl. 32, masch. Paginierung 24–32 auf BS 61 b [1], Bl. 23–31, masch. Paginierung 30a auf BS 61 b [2], Bl. 36 TS3/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 b [1], Bl. 1–17 (nicht gedruckt) TS3/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 b [1], Bl. 1–20 (nicht gedruckt) TS3/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 b [1], Bl. 1–22 (nicht gedruckt) TS3/A4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 b [1], Bl. 1–21, 32, 23–31 (nicht gedruckt) TS3/A5 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 b [1], Bl. 1–21, 32, 23–29, BS 61 b [2], Bl. 36, BS 61 b [1], Bl. 30, 31 (Korrekturschicht: schwarzblaue Tinte) Druck von BS 61 b [1], Bl. 1–31 in: GW IV, S. 428–455.
Mit TS3 liegt eine bereits sehr weit entwickelte Fassung von Himmelwärts auf insgesamt 33 Blatt in fünf Ansätzen vor, die sich anhand der Auflösung der Textstufe in einzelne Notizen (A2), durch die Montage von Material (A3) und durch den Austausch bzw. die Ergänzung einzelner Blätter (A4 und A5) voneinander abgrenzen lassen. TS3 übernimmt einerseits eine Fülle von Themen, Motiven und Ideen aus E1, E2 und TS1, weist aber andererseits auch mit der Veränderung der Ausgangssituation der Erzählung (vgl. E5, E6 und TS2) und der Beschränkung auf nur einen Protagonisten eine erhebliche konzeptionelle Transformation auf. Im Mittelpunkt steht nun allein Christian Schlamperl, seine Begleiter aus TS1/A6, Heinrich Kowarek und Ludwig, verschwinden aus der Handlung. Den Namen des Protagonisten selbst ändert Horváth dann in einer später auf A5/BS 61 b [1], Bl. 1 eingefügten zweiten Korrekturschicht zu Ludwig Schlamperl, der für das Werkprojekt ab TS5 bestimmend ist. Strukturell fußt TS3 auf dem Strukturplan E7. Die ersten drei der dort notierten Kapiteltitel („Es war einmal“, „Die Wunder der Tiefsee und der Kavalier in der Wanne“ und „Ein Bieber“) werden hier hs. eingefügt bzw. im Falle des zweiten Kapitels weiter bearbeitet (Korrektur zu „Ein misslungener Rekord“, A5/BS 61 b [1], Bl. 5). Die darauf folgenden Kapitel weisen keine Betitelung mehr auf und orientieren sich nur lose an der in E7 festgehaltenen Abfolge, bleiben ihr aber thematisch verpflichtet. Vor allem im vierten bzw. fünften Kapitel der Textstufe sind noch deutliche Bezüge zum vierten („Die Erzählungen des Biebers“) und siebenten Kapitel („Das Narrenschiff“) des Strukturplans E7 zu erkennen. In A1 führt Horváth das neue Setting ein: Anstatt mit einer Stammtisch-Gesellschaft beginnt der Text mit der Biographie des Protagonisten Christian Schlamperl, der den Beruf des Kellners erlernt hat, damit aber keine Arbeit findet und sich mit einem Segelboot davonmacht. Auf dieser Reise trifft er im zweiten Kapitel zunächst den „Kavalier“ (BS 61 b [1], Bl. 6), der versucht, in einer Badewanne die Welt zu umsegeln, und nimmt ihn mit. Gemeinsam treffen sie im dritten Kapitel den schiffbrüchigen „Bieber“ (BS 61 b [1], Bl. 7), der mit einer Schar Möpse auf einer Insel lebt und im vierten Kapitel seine Geschichte erzählt. Wie schon in TS1/A6 zu ersehen, handelt es sich bei dieser Figur um den „österreichische[n] Robinson“ aus E2. Da er sich nicht von seinen Hunden lösen kann, verbleibt der „Bieber“ auf der Insel. Bis zu diesem Punkt entspricht A1 noch sehr genau dem in E7 skizzierten Handlungsverlauf, Abweichungen sind ab dem fünften Kapitel zu bemerken. Hier treffen Christian Schlamperl und der Kavalier auf das Narrenschiff und werden dem Narrenkönig vorgestellt, auf dessen „Huldigungsfahrt“ (BS 61 b [1], Bl. 17) sie ihn begleiten. Der Text auf BS 61 b [1], Bl. 17 zerfällt bereits in der masch. Grundschicht in knappe No-
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Werkprojekte Prosa
tizen zu den einzelnen Stationen der Fahrt (z.B. „Universitätsbesuch“ und „Dombesuch“). Die Bearbeitung wurde danach höchstwahrscheinlich abgebrochen, um die bereits erstellten Blätter hs. zu überarbeiten. A2 setzt mit BS 61 b [1], Bl. 18 fort. Horváth hat dieses Blatt zunächst in einem anderen Kontext verwendet und auf der Rückseite mit schwarzblauer Tinte „Lustspiel in drei Akten“ notiert, was die Annahme einer Unterbrechung des Produktionsprozesses nach Bl. 17 zusätzlich stützt. Die Notiz bezieht sich auf ein Dramenprojekt Horváths aus dieser Zeit, das bereits zuvor im Kontext von Himmelwärts aufgetaucht ist (vgl. E5). A2 setzt mit dem sechsten Kapitel fort, in dem Schlamperl sich auf einer sportbegeisterten Insel in ein Mädchen verliebt und das Narrenschiff verlässt. Mit BS 61 b [1], Bl. 20 liegt schließlich ein montiertes Blatt vor, dessen Mittelteil aus einem anderen Blatt ausgeschnitten und aufgeklebt worden ist. Entsprechende Anschlussteile, mit denen sich A2 fortsetzen ließe, sind nicht überliefert. Die Montage des Blattteils mit dafür neu erstelltem Material zu Bl. 20 konstituiert 3 A . Hier und auf dem folgenden Blatt führt Horváth die Erlebnisse Schlamperls auf der Sport-Insel weiter aus. Im überlieferten Konvolut liegen schließlich zwei die Handlung fortführende Blätter mit der Pagina 22 vor (BS 61 b [1], Bl. 22 und 32), deren genetische Abfolge nur schwer zu ermitteln ist. Beide schließen genau an BS 61 b [1], Bl. 21 an und bereiten thematisch die Geschehnisse im Venusberg vor, entwickeln aber einen unterschiedlichen Text. So wird dem Stafette laufenden Schlamperl auf Bl. 22 sein Stab von einer Frau entwendet, die ihn in den Venusberg führt, während er auf Bl. 32 von selbst dorthin findet. Beide Blätter weisen Eintragungen bzw. Korrekturen mit rotem Buntstift auf, die jedoch in keinerlei Beziehung zueinander stehen. Da kein Blatt mit der Pagina 23 überliefert ist, lässt sich der genaue Anschluss an den auf BS 61 b [1], Bl. 23 (Paginierung 24) folgenden Text nicht zweifelsfrei bestimmen. In der vorliegenden Konstitution wird davon ausgegangen, dass Bl. 22, das eine umfangreiche Variante in der Grundschicht aufweist, durch das textlich weniger ambivalente Bl. 32 ersetzt wird, das A4 konstituiert. In A4 setzt der Text auf BS 61 b [1], Bl. 23 aufgrund eines fehlenden Blattes mit der Paginierung 23 mitten im Satz mit der Erzählung von Schlamperls Zeit im Venusberg und seinem Entschluss, ihn zu verlassen, fort. Sowohl dieses Blatt als auch die folgenden Blätter BS 61 b [1], Bl. 24 und 25 weisen eine umfangreiche Überarbeitung in rotem Buntstift auf, mit der die einzelnen Absätze neu angeordnet werden sollen. Schlamperls Besäufnis im Wirtshaus auf Bl. 24 sollte hier zunächst Teil der Handlung im Venusberg werden, wurde dann aber ganz gestrichen. Auf den folgenden Blättern schließen Schlamperls Versuch, sich eine bürgerliche Existenz zu schaffen, und seine Erlebnisse als Soldat und Revolutionär an. Diese Episoden gehen vermutlich auf den Eintrag zum achten Teil von E2 zurück, der mit „Krieg gegen die Wilden“ betitelt ist, bei dem es sich um eine Weiterentwicklung des sechsten Teiles „Die Menschenfreser“ von E1 handeln dürfte. Als letztes Blatt von A4 liegt BS 61 b [1], Bl. 31 vor, wobei jedoch ungewiss ist, ob Horváth die Bearbeitung der Textstufe hier tatsächlich abgebrochen hat oder ob Material verloren gegangen ist. Die masch. Ausarbeitung dieses Teiles ist merklich weniger ausgereift als die der vorangegangenen Kapitel, auch hat Horváth hier nur wenige hs. Korrekturen eingefügt. Unabhängig davon, ob Horváth in A4 die Bearbeitung abgebrochen hat, deutet die Konstitution von A5 auf den Verlust von Material hin. A5 kommt durch die Einfügung von BS 61 b [2], Bl. 36 zustande. Das Blatt BS 61 b [2], Bl. 36 gehört zu einer Gruppe von Einzelblättern im Konvolut zu Himmelwärts, die nur schwer einer der überliefer-
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Chronologisches Verzeichnis
ten Textstufen zugeordnet werden können und Überlieferungsverluste vermuten lassen. Sie sind vor allem im genetischen Umfeld von TS3 und TS5 entstanden (vgl. TS4 und TS6–TS8). Das vorliegende Blatt trägt die Pagina 30a und ergänzt den Text von BS 61 b [1], Bl. 29 mit der Pagina 30, wobei jedoch textliche Diskontinuitäten auftreten; möglicherweise war es auch als Variante gedacht. Die darauf umrissene Geschichte des „Weiblein[s]“ als Allegorie der Revolution taucht auch in späteren Textstufen wieder auf (vgl. TS6 und TS8). Das TS3 zugrunde liegende Typoskript weist Korrekturen und Ergänzungen in schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift auf, wobei sich vor allem auf BS 61 b [1], Bl. 1, dem ersten Blatt von TS3/A5, zwei separate Korrekturvorgänge in schwarzblauer Tinte entdecken lassen. Neben einer größeren Zahl an Korrekturen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits in A2 entstanden sind, hat Horváth dieses Blatt später nochmals überarbeitet. Er ändert hier den Vornamen des Protagonisten von Christian zu Ludwig und fügt in der rechten oberen Ecke des Blattes eine umfangreiche Variante zum Schicksal von Schlamperls Eltern ein, in der ebenfalls der neue Figurenname vorkommt. Diese Variante bildet die Grundlage für den Text von TS5/A1. Sämtliche folgende Blätter von TS3/A5 weisen jedoch nach wie vor den Figurennamen Christian auf, ein starkes Indiz dafür, dass dieser Eingriff erst am Schluss der Bearbeitung vorgenommen wurde und direkt zu den Ansätzen von TS5 führt, was wiederum einen Abbruch der Bearbeitung nahelegt. Möglicherweise hat Horváth parallel noch andere Korrekturen auf Bl. 1 eingetragen, die sich nicht eindeutig von den früheren unterscheiden lassen, weshalb für die vorliegende Konstitution die vollständige Korrekturschicht in schwarzblauer Tinte inklusive der Namensänderung zu Ludwig dargestellt wird. Die Eintragungen in rotem Buntstift wiederum betreffen vor allem makrostrukturelle Änderungen des Textes. Hervorzuheben ist hier eine umfängliche Anstreichung auf den Blättern BS 61 b [1], Bl. 15, 16 und 18, wo Horváth Teile der Handlung auf dem Narrenschiff im fünften und sechsten Kapitel kennzeichnet und dazu „Autarkie-Archipel“ (vgl. auch BS 61 b [1], Bl. 17 sowie E1 und E2) notiert. Diesen Eingriff dürfte er dann auch bei der Arbeit an TS5 berücksichtigt haben (vgl. TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 49f.). Besonders umfangreiche Anstreichungen in rotem Buntstift finden sich auch im Zuge der Absatzkorrektur auf BS 61 b [1], Bl. 23–25 im Zusammenhang mit der Venusberg-Handlung (vgl. den Kommentar zu A4). Da die später entstandenen Fassungen keinen vergleichbaren Handlungsteil mehr aufweisen, kann über eventuelle Konsequenzen der Umstellung nicht geurteilt werden. Darüber hinaus wurden auch einige Detailkorrekturen auf BS 61 b [1], Bl. 1 und Bl. 5 mit rotem Buntstift eingetragen, die in TS5/A4 ihren Niederschlag gefunden haben. T3 = ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 33 1 Blatt unliniertes Papier (295 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 25 TS4 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
Das TS4 konstituierende Blatt BS 61 b [2], Bl. 33 gehört zu einer Gruppe verschiedener Einzelblätter im Konvolut zu Himmelwärts, die nur schwer einer der überlieferten Textstufen zugeordnet werden können und umfangreiche Überlieferungsverluste innerhalb des zu TS3 gehörigen Materials (vgl. den Kommentar dort) sowie andernorts vermuten lassen (vgl. TS6 und TS7). Das Blatt trägt die Paginierung 25 und wurde nur
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Werkprojekte Prosa
zur Hälfte beschrieben. Es beinhaltet eine Episode aus der Handlung im Venusberg über einen pädophilen Postsparkassenbeamten. Aus dem enthaltenen Text lassen sich keine eindeutigen Anzeichen zur genetischen Zugehörigkeit des Fragments ableiten. Da die Venusberg-Handlung nur in der Konzeption um Christian Schlamperl (TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 32, 23 und 24) nachgewiesen werden kann, gehört es mit einiger Wahrscheinlichkeit in dessen Umfeld. Ein Indiz dafür ist auch die Paginierung des Blattes, die in etwa mit der Paginierung der entsprechenden Stellen in TS3/A5 (Paginierung 22, 24 und 25) übereinstimmt. Textlich ist allerdings kein Anschluss möglich. Eventuell hat Horváth das Blatt im Zusammenhang mit TS3/A3 bzw. mit einem am Material heute nicht mehr ersichtlichen Austausch weiterer Blätter erstellt. Dass es einer nach TS3/A5 entstandenen, bis auf BS 61 b [2], Bl. 33 vollständig verloren gegangenen Fassung entstammt, ist aufgrund der direkten Fortsetzung der Überarbeitung auf TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 1 eher unwahrscheinlich.
T4 = ÖLA 3/W 343 – BS 61 c [1], Bl. 39–55, ÖLA 3/W 344 – BS 61 c [2], Bl. 38 18 Blatt unliniertes Papier (295 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, masch. Paginierung jeweils 1 auf Bl. 38, 39, masch. Paginierung 2–17 auf Bl. 40–55 TS5/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 c [2], Bl. 38 (Korrekturschicht: schwarzblaue Tinte) TS5/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 c [1], Bl. 39–41 (nicht gedruckt) TS5/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 c [1], Bl. 39–52 (nicht gedruckt) TS5/A4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 c [1], Bl. 39–55 (Korrekturschicht: schwarzblaue Tinte)
Die Ansätze von TS5 basieren auf den in TS3/A5 zuletzt vorgenommenen Änderungen des Textes. Wie auf TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 1 in einer umfangreichen Variante notiert, heißt der Protagonist nun definitiv Ludwig Schlamperl, womit sich auch die folgenden Arbeiten bis hin zu TS13 genetisch gruppieren lassen. Während der Beginn der Erzählung mit der Familiengeschichte Schlamperls und seinem Entschluss, auf einem Segelboot davonzufahren, noch der vorigen Handlungsfolge entspricht, ändert Horváth den weiteren Verlauf des Textes merklich. Formal unterscheidet sich TS5 durch ihre hs. eingefügte kleinräumigere Kapitelgliederung und den vollständigen Verzicht auf Kapiteltitel von der vorigen Fassung. Die Textstufe liegt auf insgesamt 18 Blatt in vier Ansätzen vor, die sich durch den Austausch von Material (A2) sowie durch die Adaption von Textstellen am Fuß einzelner Blätter, mit denen neue Übergänge hergestellt wurden (A3 und A4), unterscheiden lassen. A1 umfasst nur ein einzelnes Blatt, der getippte Text basiert hier auf der in TS3/A5 vermutlich zusammen mit der Namensänderung Schlamperls in einer zweiten Korrekturschicht auf TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 1 entwickelten Variante. Gleich nach der masch. Fertigstellung des Blattes hat Horváth hs. Korrekturen eingetragen, die die Grundlage des ersten Blattes von A2 bilden. Der Text dieses Ansatzes erstreckt sich bis zu Ludwigs Abfahrt mit dem Segelboot auf BS 61 c [1], Bl. 41. An dessen Fuß befindet sich ein hs. gestrichener Teilsatz, was darauf hindeutet, dass hier ein Übergang zu neuem Material hergestellt wurde. Die folgenden Blätter konstituieren dementsprechend A3. Horváth überarbeitet vermutlich noch in A2 die bis dahin erstellten Blätter, wobei vor allem BS 61 c [1], Bl. 40 eine Vielzahl einzelner Eingriffe aufweist. Wie weit diese für die Textentwicklung relevant waren, lässt sich nicht beurteilen, da keine weiteren Ausarbeitungen dieser Textstelle überliefert sind.
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A3 setzt auf BS 61 c [1], Bl. 42 mit Schlamperls Abfahrt fort. Auf den in diesem Ansatz folgenden Blättern beginnt der Text merklich von dem in TS3/A5 entwickelten Handlungsbogen abzuweichen. Anstelle des Kavaliers und des Biebers trifft Schlamperl nun sogleich auf das Narrenschiff, dessen Beschreibung wesentlich größeren Raum einnimmt und mit insgesamt zehn Blatt fast den doppelten Umfang von TS3/A5 aufweist. Eine derart umfängliche Änderung ist an den Korrekturen in TS3/A5 nicht abzulesen; möglicherweise haben hier zuvor noch andere Blätter vorgelegen bzw. wurde die Erweiterung in nicht erhaltenen Entwürfen vorbereitet. In A3 sind mehrere der Notizen aus TS3/A5 umgesetzt, etwa die „Flaggengala“ (TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 16) auf BS 61 c [1], Bl. 47 oder einige der nur skizzenhaft notierten Reisestationen von TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 17 sowie die Episode über die Autarkie-Inseln auf BS 61 c [1], Bl. 49f. Viele der Blätter weisen eine dichte Korrekturschicht in Tinte sowie in rotem Buntstift auf, die, wie der hs. hergestellte Übergang zu den Blättern von A4 nahelegt, vermutlich noch in diesem Ansatz eingetragen wurde. Neben zahlreichen Einzelkorrekturen und Varianten fällt hier vor allem die gegenüber TS3/A5 kleinräumigere Kapitelgliederung ins Auge, die mit Tinte eingetragen und später mit rotem Buntstift teils revidiert wurde. Die Eintragungen mit rotem Buntstift betreffen allgemein wieder die makrostrukturelle Ebene des Textes. Neben umfänglichen (An-)Streichungen auf einzelnen Blättern (z.B. BS 61 c [1], Bl. 47, 48 und 50) hat Horváth in diesem Überarbeitungsvorgang auch zahlreiche Umstellungen im Text markiert, etwa eine völlige Neuordnung der Absatzfolge auf BS 61 c [1], Bl. 45 und 46 sowie eine Anknüpfung von dort getippten Passagen an den Text auf Bl. 50. Sowohl die Korrekturen in Tinte als auch in Buntstift finden später ihren Niederschlag in den entsprechenden Passagen von TS11 (vgl. TS11/A5/BS 61 d [1], Bl. 59–63). Am Fuß von A3/BS 61 c [1], Bl. 52 bricht der getippte Text im Satz ab. Der auf dem folgenden Bl. 53 in der Grundschicht anschließende Text (bis „und dann war der Bann gebrochen“) entspricht wörtlich dem hs. auf Bl. 52 eingetragenen, was den zwischenzeitlichen Abbruch der Bearbeitung bzw. den Austausch von Material an dieser Stelle belegt und A4 konstituiert. Die folgenden Blätter betreffen Schlamperls Erlebnisse auf der Sport-Insel, wo Horváth beginnt, die in TS3/A5 nur kurz geschilderte Begegnung mit dem Mädchen detailliert auszugestalten. Wie das in A3 eingefügte Material weisen die vorliegenden Blätter wieder eine dichte Korrekturschicht vornehmlich in Tinte auf, die die Grundlage später entstandener Fassungen bildet (vgl. dazu v.a. TS13/A2 und A6). Der überlieferte Text reicht bis BS 61 c [1], Bl. 55, wo der letzte Satz gestrichen wurde; daran eindeutig anschließendes Material ist nicht überliefert. Ob hier ein Abbruch von Seiten Horváths oder ein Überlieferungsverlust vorliegt, ist, ähnlich wie im Falle von TS3/A5, nicht eindeutig zu entscheiden. Die folgenden Textstufen TS6 und TS7 stehen vermutlich in einem engeren textgenetischen Verhältnis zu TS5, was vor allem durch das verwendete Papier im Unterschied zu den Arbeiten ab TS9 angezeigt wird (vgl. den Kommentar zu TS6 und TS7). Sie lassen sich aufgrund der lückenhaften Überlieferung aber nicht eindeutig auf die vorliegende Textstufe bzw. weitere Ansätze davon beziehen.
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Werkprojekte Prosa
T5 = ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 34 1 Blatt unliniertes Papier (295 × 209 mm), Paginierung 29 TS6 = fragm. Fassung (Grundschicht)
T6 = ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 35 1 Blatt unliniertes Papier (295 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 29a TS7 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
Wie im Fall von TS4 entstammen die TS6 und TS7 zugrunde liegenden Blätter einem Konvolut von nur schwer einer konkreten Fassung zuzuordnenden Einzelblättern. Aufgrund des Figurennamens Ludwig und des verwendeten Papiers – in TS3 hieß der Protagonist noch Christian, ab TS9 liegt ausschließlich solches mit dem Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“ vor – stehen sie wahrscheinlich in einem engeren textgenetischen Verhältnis zu TS5. Sie lassen sich jedoch nicht eindeutig auf diese beziehen, da sie dort nicht ausgearbeitete Teile der Handlung betreffen und eine weitaus höhere Paginierung (29 bzw. 29a) aufweisen. TS6 wurde auf einem nur zur Hälfte beschriebenen Blatt mit der Paginierung 29 getippt, das keinerlei hs. Bearbeitungsspuren aufweist. Das hier geschilderte Gespräch mit einem Portier über das Verfehlen von Idealen, wobei es vermutlich um eine Beziehungsgeschichte geht, ist völlig neu und kommt in keiner der vorangehenden bzw. nachfolgenden Fassungen vor. TS7 umfasst insgesamt drei voneinander abgesetzte Textblöcke, in denen Schlamperls Erlebnisse als Soldat behandelt werden. Die Paginierung 29a legt zunächst eine Ergänzung des Textes von TS3/A5 nahe, wo dieser Handlungsteil auf den mit 28–32 paginierten Blättern steht. Da hier aber der Figurenname Ludwig (statt Christian) verwendet wird, ist das Blatt mit einiger Sicherheit erst nach den letzten Adaptionen von TS3/A5 entstanden, die in enger Beziehung mit der Arbeit an TS5 stehen. Denkbar wäre, dass BS 61 b [2], Bl. 35 zu einem nicht erhaltenen Teil von TS5 gehört. Im ersten, nur einen Satz umfassenden Textblock wird Ludwigs Unbehagen in der Uniform erwähnt. Der zweite, etwas längere Block greift mit dem Krieg gegen die Wilden und der Heirat der Frau mit dem Unteroffizier einige Handlungsteile aus TS3/A5 wieder auf. Neu ist die Idee, Ludwig von den Wilden pflegen zu lassen. Den größten Teil des Blattes macht der letzte Textblock aus, in dem die Geschichte von Hans, einem Kameraden Ludwigs, erzählt wird, mit dem er gemeinsam „Posten“ steht. Durch die Worte eines alten „Weiblein[s]“ wird Hans zum Revolutionär, was auf die in TS3/A5/BS 61 b [2], Bl. 36 eingefügte Handlung verweist, wo Christian Schlamperl mit dem Weiblein spricht. In einer hs. Ergänzung notiert Horváth hier einige Ideen zum Dialog dieser Passage. Die Aussage von Hans: „Du sollst nicht töten“ und die Aufforderung des Weibleins: „Denk darüber nach!“ finden sich in der Grundschicht von TS8, einer weiteren Variante der Soldaten- bzw. Revolutionshandlung. T7 = ÖLA 3/W 341 – BS 61 b [2], Bl. 37 1 Blatt unliniertes Papier (295 × 209 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und rotem Buntstift, masch. Paginierung 44 TS8 = fragm. Fassung (Korrekturschicht: schwarzblaue Tinte)
Wie TS4, TS6 und TS7 entstammt das TS8 zugrunde liegende Blatt einem Konvolut von nur schwer einer konkreten Fassung zuordenbaren Einzelblättern. Innerhalb dessen ist die Stellung von TS8 besonders schwierig zu bewerten. Mit Gewissheit kann nur
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Chronologisches Verzeichnis
festgestellt werden, dass das Blatt aufgrund des verwendeten Papiers vor TS9 entstanden sein muss, da Horváth ab TS9 auf Papier mit dem Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“ zurückgreift. Der ausgearbeitete Text betrifft wie auch der Text von TS3/A5/BS 61 b [2], Bl. 36 und TS7 die Soldaten- bzw. Revolutionärshandlung mit dem Besuch des alten Weibleins, das vorliegende Blatt weist aber die im Vergleich zu den anderen Textstufen merklich höhere Paginierung 44 auf. Irritierend ist hier auch der Name „Egginger“ für den vom Weiblein besuchten Soldaten, der sich in keiner anderen Arbeit zum Werkprojekt findet. Mehrere inhaltliche Aspekte sprechen dafür, dass TS8 Ideen aus TS3/A5 sowie TS7 zusammenführt: Während das Gefängnis als Ort der Handlung aus TS3/A5 stammt, verweisen sowohl die hier in der Grundschicht getippte Antwort Eggingers („Du sollst nicht töten“) als auch die Aufforderung des Weibleins („Denk darüber nach!“) auf die hs. Ergänzungen von TS7. Vor diesem Hintergrund könnte es sich bei der Figur des Egginger um eine Weiterentwicklung von Hans aus TS7 handeln. Eventuell liegt mit BS 61 b [2], Bl. 37 aufgrund der hohen Paginierung das Fragment einer bereits sehr weit ausgearbeiteten Fassung des Romans basierend auf TS5/A4 vor, die als verloren erachtet werden muss. T8 = ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 56 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1 TS9 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
T9 = ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 57 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 3 TS10 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
Ab TS9 verwendet Horváth für die Arbeiten am Werkprojekt Himmelwärts durchgängig Papier mit dem Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“, wodurch sich TS9–TS11 und TS13 vom übrigen Konvolut abgrenzen lassen. Die innerhalb dieses Teilkonvoluts überlieferten Textstufen enthalten durchwegs nur stark fragmentarische Fassungen. Bei TS9 und TS10 handelt es sich um einzelne Blätter, die vermutlich im Zusammenhang mit TS11 entstanden sind. In TS9 tippt Horváth den Beginn seines Romans auf der Grundlage von TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 39, bricht aber bereits in der Mitte des Blattes wieder ab und setzt hs. kleinere Korrekturen, die ebenfalls nicht vollständig ausgeführt worden sind. TS10 wiederum umfasst in etwa den Text von TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 41, wobei auch einige dort nicht eingetragene Änderungen umgesetzt wurden. BS 61 d [1], Bl. 57 trägt wie auch das korrespondierende Blatt von TS5/A4 die Paginierung 3, allerdings sind keine Blätter mit dem vorangehenden Text überliefert. Horváth hat die Bearbeitung hier ebenfalls auf der Hälfte des Blattes abgebrochen und nur wenige hs. Korrekturen gesetzt. Sowohl TS9 als auch TS10 betreffen Text, der in den Ansätzen von TS11 nicht enthalten ist. Möglicherweise handelt es sich bei beiden Textstufen um Reste einer dorthin gehörigen Ausarbeitung, die sich aufgrund der lückenhaften Überlieferung aber nicht zweifelsfrei TS11 zuordnen lässt. T10 = ÖLA 3/W 345 – BS 61 d [1], Bl. 58–63 6 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 6–11 TS11/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [1], Bl. 58, 59 (nicht gedruckt)
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Werkprojekte Prosa
TS11/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [1], Bl. 58–60 (nicht gedruckt) TS11/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [1], Bl. 58–61 (nicht gedruckt) TS11/A4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [1], Bl. 58–62 (nicht gedruckt) TS11/A5 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [1], Bl. 58–63 (Korrekturschicht)
Mit TS11 liegt eine fragmentarische Fassung in insgesamt fünf Ansätzen vor, die durch überlappende Textvarianten differenziert werden können, wobei in der Konstitution jedoch fallweise der tatsächliche Textanschluss nicht vollständig sicher ist. Materiell hat Horváth wieder Blätter mit dem Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“ verwendet, wodurch sich TS11, gemeinsam mit TS9, TS10 und TS13, von den vorangehenden Ausarbeitungen abgrenzen lässt. Das erste Blatt BS 61 d [1], Bl. 58 trägt die Paginierung 6, Blätter zum Beginn des Romans sind nicht überliefert. Möglicherweise handelt es sich bei TS9 und TS10 um die Reste einer entsprechenden Ausarbeitung der ersten fünf Blätter, die sich aufgrund der lückenhaften Überlieferung aber nicht zweifelsfrei hier zuordnen lassen. Der enthaltene Text umfasst die Narrenschiff-Episode und basiert auf der Korrekturschicht der entsprechenden Blätter von TS5/A4. Anders als der Text von TS5/A4 weist die vorliegende Ausarbeitung keinerlei Kapitelnummerierung mehr auf. Horváth beginnt in A1 mit einer Reinschrift des teilweise stark überarbeiteten Textes von TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 42–44, der Ludwig Schlamperls Fahrt über das Meer und sein Erwachen auf dem Narrenschiff umfasst. Der Übergang von BS 61 d [1], Bl. 59 zu Bl. 60 zeigt an, dass die Ausarbeitung zwischenzeitlich unterbrochen wurde, da auf Bl. 60 Text der Korrekturschicht von Bl. 59 als Variante wieder aufgenommen wird. Obwohl der Textanschluss glatt hergestellt werden kann, überraschen das völlige Fehlen von Anschlussmarkierungen, die Reichweite der Überlappung von über fünf masch. Zeilen sowie der Beginn des Textes von A2/Bl. 60 mitten im Satz. Denkbar wäre, dass Horváth Bl. 58 und 59 ins Reine geschrieben und erst dann mit der Ausarbeitung von Bl. 60 begonnen hat. Ähnliche, wenngleich weniger umfangreiche Textanschlüsse liegen auch bei A3 und A4 vor. Allein der Übergang zu A5 ist deutlich durch eine Streichung des masch. Textes auf BS 61 d [1], Bl. 63 markiert. In A2–A5 erweitert Horváth sukzessive den Text, wobei er den wesentlichen Eckpunkten der Handlung von TS5/A4 folgt, im Detail aber mehrere Änderungen vornimmt. So fehlt in TS11 die umfängliche Beschreibung der Narren von TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 45, dafür ist die Passage über die Inseln (vgl. TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 49, vgl. auch die „Autarkie Inseln“ in TS3/A5/BS 61 b [1], Bl. 17 und E2) stark ausgebaut. Sämtliche Blätter wurden teils intensiv hs. überarbeitet. Nach der Beschreibung des vom Narrenkönig gestifteten „Wanderpokal[s]“ (A5/BS 61 d [1], Bl. 63) liegt kein anschlussfähiges Material mehr vor. Ob Horváth die Bearbeitung hier abgebrochen hat oder ob Text verloren gegangen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Die Textstelle des Abbruchs entspräche konzeptionell genau dem Ende des siebenten Kapitels von TS5/A4 auf BS 61 c [1], Bl. 50f., wo die Handlung auf der Sport-Insel anschließt. Arbeiten zu diesem Teil des Romans liegen bruchstückhaft in TS13/A1–A6 vor, allerdings unter einer nicht an A5/BS 61 d [1], Bl. 63 anschließbaren Paginierung. Aufgrund der allgemein disparater werdenden Textsituation im Verlauf der Genese des Werkprojekts ist von größeren Überlieferungsverlusten auszugehen. TS11/A5 stellt somit die letzte überlieferte Fassung dieses Romanteils dar.
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Chronologisches Verzeichnis
H8 = ÖLA 3/W 347 – BS 61 d [3], Bl. 72 1 Blatt hochkariertes Papier (221 × 143 mm), halbiertes Blatt, schwarzblaue Tinte TS12 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
Mit TS12 liegt eine kurze hs. Textstufe unter der Überschrift „Narrenkönig“ vor, die Schlamperls Ankunft in einem „Bade“ beschreibt. Es handelt sich hierbei um Schlamperls Eintreffen auf der Sport-Insel, das Horváth in dieser Form erstmals in TS5/A4 ausgearbeitet hat. Der hier gewählte Aufbau der Szene – Schlamperl blickt dem (Narren-)Schiff nach und hat das Gefühl, „dass ihn alle anschauen“ – entspricht aber deutlich TS13/A1/BS 61 d [2], Bl. 64. TS12 dürfte somit dessen Vorstufe sein. Auffällig ist das abweichende Schreibmaterial: Während die masch. Textstufen in diesem Teil der Werkgenese durchwegs auf unlinierten Blättern mit dem Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“ überliefert sind, wurde TS12 auf einem halbierten Blatt hochkarierten Papiers eingetragen. Es entspricht aber weder dem für E1 und E2 verwendeten hochkarierten Papier mit Wasserzeichen „M.-K.-Papier“, noch dem hochkarierten Papier, das für E7 verwendet wurde. T11 = ÖLA 3/W 346 – BS 61 d [2], Bl. 64–71 8 Blatt unliniertes Papier (296 × 208 mm), Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 14 auf Bl. 64, 67 und 71, masch. Paginierung 15 auf Bl. 65 und 68, masch. Paginierung 16 auf Bl. 66 und 69, hs. Paginierung 14 auf Bl. 64, hs. Paginierung 17 auf Bl. 70 TS13/A1 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [2], Bl. 64, 65 (vgl. Simulationsgrafik, nicht gedruckt) TS13/A2 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [2], Bl. 64–66 (Korrekturschicht, vgl. Simulationsgrafik) TS13/A3 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [2], Bl. 67 (Korrekturschicht, vgl. Simulationsgrafik) TS13/A4 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [2], Bl. 71 (Korrekturschicht, vgl. Simulationsgrafik) TS13/A5 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [2], Bl. 68 (Korrekturschicht, vgl. Simulationsgrafik) TS13/A6 = fragm. Fassung konstituiert durch BS 61 d [2], Bl. 69, 70 (Korrekturschicht, vgl. Simulationsgrafik)
TS13 ist die letzte überlieferte Arbeit zum Werkprojekt Himmelwärts und liegt auf insgesamt acht Blättern in sechs Ansätzen vor. Wie auch für die vorangehenden Textstufen TS9–TS11 hat Horváth hier Papier mit dem Wasserzeichen „Aeolus M.-K.-Papier“ verwendet. Ausgehend von einem Textvergleich mit TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 50f., würde A1 inhaltlich an die zuletzt vorliegende Fassung von TS11/A5 anknüpfen. Da das früheste überlieferte Blatt A1/BS 61 d [1], Bl. 64 jedoch die nicht an TS11/A5/BS 61 d [1], Bl. 63 anschließende Paginierung 14 trägt, sind weitere, nicht überlieferte Arbeiten basierend auf TS11/A5 anzunehmen. Ein Rest davon liegt vermutlich mit TS12 vor, wo Horváth den gegenüber TS5/A4 veränderten Beginn der Passage hs. notiert. Obwohl zwischen den einzelnen Blättern ein eindeutiger Überarbeitungszusammenhang besteht, ist die Rekonstruktion der Ansatzfolge aufgrund großer Überlieferungsverluste schwierig. Eindeutig ist der Zusammenhang der jeweils ersten Blätter von A1–A4 (BS 61 d [2], Bl. 64, 67 und 71), da zwischen A2 und A4 die jeweiligen hs. Korrekturen in der Grundschicht umgesetzt werden. Auch auf den Blättern mit der
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Werkprojekte Prosa
Paginierung 15 (BS 61 d [2], Bl. 65 und 68) sind entsprechende Korrespondenzen zu entdecken. Im Fall der Blätter mit der Paginierung 16 (BS 61 d [2], Bl. 66 und 69) weist der wenige überlappende Text weitgehend dieselbe Grundschicht auf, hier ist Bl. 69 aufgrund der Fortführung des Textes und der umfänglichen Korrekturen mit Sicherheit das später entstandene Blatt. Die genaue Abfolge von A4–A6 ist ungewiss, da entsprechende Anschlussblätter fehlen. Für den Anschluss von BS 61 d [2], Bl. 66 in A2 wiederum gibt es keine eindeutigen Markierungen. Die vorliegende Reihung der Ansätze orientiert sich am bekannten Verlauf der Handlung in TS5/A4. Horváth widmet sich in TS13 den Erlebnissen Schlamperls am Strand der Sport-Insel. Die Handlung folgt im Wesentlichen der im achten bis zehnten Kapitel von TS3/A5 vorgegebenen Abfolge mit Schlamperls Ankunft, der Begegnung mit dem kleinen Jungen und mit dessen Schwester. Letztere trägt in A2 bzw. A6 wie zuletzt die Sportlerin in TS3/A5 den Namen Lottchen. Der Text der einzelnen Ansätze basiert auf der Korrekturschicht von TS3/A5 (vgl. etwa die Einfügung der Passage über die „hohen Absätze“ von TS5/A4/BS 61 c [1], Bl. 54 in A6/BS 61 d [2], Bl. 69), wobei im Detail einige dort nicht vermerkte Überarbeitungen auszumachen sind. Sämtliche Blätter von TS13 weisen ihrerseits teils intensive hs. Überarbeitungen auf. Einen wichtigen Hinweis auf die Datierung der vorliegenden Blätter sowie auf die möglichen Gründe für den Abbruch des bereits weit gediehenen Romanprojekts gibt eine gestrichene hs. Notiz auf A2/BS 61 d [2], Bl. 64. Bei der in der linken oberen Ecke des Blattes befindlichen Aufzählung „R. Hitler / I. Frick / Au. Neurath / F. Schwerin-Krosigk / Wirt. Hugenberg / A. Seldte“ handelt es sich um einen Teil des am 30. Jänner 1933 angelobten Kabinetts Hitler. Neben Hitler als Reichskanzler sind die Minister des Inneren (Wilhelm Frick, NSDAP), des Äußeren (Konstantin von Neurath, parteilos), der Finanzen (Johann Ludwig Schwerin von Krosigk, parteilos), für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung (Alfred Hugenberg, DNVP) und für Arbeit (Franz Seldte, Stahlhelm) genannt. Mit Himmelwärts steht diese Liste in keinerlei Bezug. Ihre Eintragung hier deutet darauf hin, dass Horváth vermutlich während der Schreibarbeit von der neuen Regierung erfahren und sie hier notiert hat. Damit lässt sich die Entstehung von TS13 sehr genau auf Ende Jänner bzw. Anfang Februar 1933 eingrenzen. Mitte März 1933 verlässt Horváth schließlich das Deutsche Reich. Nach einem gescheiterten Versuch, als Dramatiker in Österreich Fuß zu fassen, kehrt er jedoch Mitte 1934 wieder für Arbeiten als Drehbuchautor zurück, um erst 1935 endgültig zum Emigranten zu werden (vgl. dazu das Vorwort zu Hin und her, WA 6, S. 169–174). Mit seinem Wegzug aus dem Deutschen Reich 1933 bricht Horváth die Arbeit an Himmelwärts im Besonderen und an Prosa im Allgemeinen ab. Zwischen 1933 und 1935 stellt Prosa in seinem Werk eine Ausnahme dar (vgl. die kurze Prosafassung von Don Juan kommt aus dem Krieg, WA 9/K1/TS5, bzw. die Ideen zu einem Roman „Figaro II.“, WA 8/VA1/E1). Erst 1935/36 ist mit Reise ins Paradies (WP18) wieder ein nennenswertes Werkprojekt überliefert.
Werkprojekt 18: Reise ins Paradies Das Mitte der 1930er-Jahre entstandene Werkprojekt Reise ins Paradies ist die erste umfangreichere Beschäftigung Horváths mit Prosa seit dem Abbruch der Arbeit an Himmelwärts (WP17) Anfang 1933. Zwischenzeitlich dachte er zwar daran, die Stoffe von Don Juan kommt aus dem Krieg und Figaro läßt sich scheiden in Prosaform zu be-
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handeln, Überlegungen dazu kamen jedoch über bloße Ansätze nicht hinaus (vgl. WA 9/K1/TS5 und WA 8/VA1/E1). Am Beginn der Werkgenese steht der fingierte Briefwechsel eines Autors mit seinem Bruder, den er als Illustrator für ein Buchvorhaben gewinnen möchte. Horváth benannte den so angeschriebenen Bruder nach seinem eigenen Bruder Lajos (bzw. Luci, vgl. TS2), der tatsächlich als Zeichner u.a. für den Simplicissimus arbeitete, und stilisierte in der Figur des Autors mehrfach auch eigene schriftstellerische Erfahrungen (vgl. TS1–TS3 und TS5). Dadurch ergibt sich ein spielerischer, im Grenzbereich von Authentizität und Fiktion angesiedelter autobiographischer Aspekt des Werkprojekts, wie er sich in vielen Kurzprosatexten Horváths zeigt (vgl. etwa die Reiseberichte ET10–ET14 und ET18 sowie Aus der Stille in die Stadt, ET20). Lajos von Horváth selbst erfuhr von diesem Werkprojekt erst nach dem Ableben seines Bruders (vgl. GW IV, S. 35*). Da Ödön von Horváth aber an einigen Stellen tatsächlich Bilder vorgesehen hat (vgl. E1 und TS7), hatte er womöglich an eine spätere Einbindung Lajos‘ in das Werkprojekt gedacht, dies aber aufgrund anderer Projekte nicht verwirklicht. Die Form des Briefwechsels bleibt als Rahmen des Textes bis in die letzten überlieferten Textstufen bestehen (vgl. TS9). Der grundlegende Einfall von Reise ins Paradies ist die Idee eines Autos, das durch die Zeit reisen kann. Mit dem fantastisch-märchenhaften Setting wie dem Motiv der Reise knüpft Horváth an den Ton des Romanprojekts Himmelwärts an. Eine vergleichbare Anknüpfung an die Gattungstradition des Märchens liegt schließlich in mehreren späten Werkprojekten Horváths vor, etwa in Ein Teufel hat Ferien (WP19), Der Gedanke (WP22) und Der brave Bürger / Der letzte Mensch (WP23) sowie besonders deutlich im bereits sehr ausgereiften Text des Werkprojekts Das Märchen in unserer Zeit (WP21). Konzeptionell lassen sich in Reise ins Paradies zwei Phasen unterscheiden: Zunächst stellt das geplante Buch noch den Erfinder Ferdinand Sobottka in den Vordergrund und ist einer Tante zugeeignet (vgl. TS1–TS4 und E1). Später ist es einem fiktiven Onkel Ferdinand gewidmet, der zugleich Protagonist des Textes ist (vgl. E2–E13 und TS6–TS9). Reise ins Paradies ist vermutlich 1935 oder 1936 entstanden. Zwar gibt der fingierte Briefwechsel einige Datumsangaben, die jedoch nicht unmittelbar mit dem tatsächlichen Entstehungskontext des Textes zusammenhängen dürften. Darauf deuten beispielsweise die Orts- und Zeitangaben in den vom fiktiven Schriftsteller verfassten Schreiben hin, die nicht mit Horváths Lebensumständen übereinstimmen (vgl. dazu den Kommentar zu TS1). Unklar ist, wie weit die in der Persona des Schriftstellers geschilderten Erfahrungen Horváths eigenen entsprechen. Der Schriftsteller gibt an, er würde „Novellen“ verfassen (TS1 und TS3/BS 15 [1], Bl. 4), bzw. dass er „nichts für den Film“ schreiben wolle (TS5/BS 15 [1], Bl. 7), und bezeichnet sein letztes Stück als „Durchfall“ (ebd.). Möglicherweise spielt Horváth damit auf seine Erlebnisse im Berliner Filmbetrieb 1934/35 und die sehr gemischt rezipierte Uraufführung von Mit dem Kopf durch die Wand am 10. Dezember 1935 im Wiener Theater in der Scala an. Über Mit dem Kopf durch die Wand hat Horváth im späten Widerruf vieler seiner Stücke im Kontext der Komödie des Menschen Ende 1937 ganz ähnlich geurteilt: „Einmal beging ich einen Sündenfall. Ich schrieb ein Stück Mit dem Kopf durch die Wand, ich machte Kompromisse verdorben durch den neupreussischen Einfluss, und wollte ein Geschäft machen, sonst nichts. Es wurde gespielt und fiel durch. Eine gerechte Strafe.“ (WA 11/K7/E4/BS 14 b, Bl. 6)
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H1 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (330 × 210 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
H2 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 4–6 3 Blatt unliniertes Papier (330 × 210 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte TS2 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 456–458.
H3 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 3v 1 Blatt unliniertes Papier (330 × 210 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte TS3 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
H4 = ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (330 × 210 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte TS4 = Fassung des I. Kapitels (Korrekturschicht; oben und mittig) E1 = Notizen zum II. Kapitel (unten)
TS1–TS4 sowie E1 sind die frühesten Arbeiten zu Reise ins Paradies. Neben drei Textstufen eines fingierten Briefwechsels mit Lajos von Horváth (TS1–TS3) liegen Arbeiten zu einem Vorwort (TS4) und einige Notizen (E1) vor. Sowohl die ihnen zugrunde liegende Konzeption als auch die Übernahme von Korrekturen bzw. Überarbeitungen sowie das verwendete Papier im Folio-Format (330 × 210 mm) weisen auf den engen textgenetischen Zusammenhang der Blätter hin. Ab H5/E3–E8 verwendet Horváth ausschließlich Schreibmaschinenpapier in zwei verschiedenen Formaten (Format A4 bis H9/TS7, danach Quart-Format), wodurch sich diese späteren Arbeiten auch materiell deutlich von den vorangehenden abheben lassen (vgl. aber die Materialien für TS5 bzw. E2). TS1 umfasst das erste Schreiben an den Bruder, in dem die schwierige finanzielle Lage eines Schriftstellers thematisiert wird. Zu dieser Textstufe hat Horváth mehrfach neu angesetzt und dabei verschiedene Details geändert. Während etwa der Schriftsteller zunächst nur allgemein davon schreibt, dass es ihm an Einfällen mangle, gibt er schließlich an, „Zeitungsartikel“ zu verfassen. Dies korrigiert Horváth sogleich zu „Novellen“, was sich auch in TS2 und TS3 findet, in TS5 ist von Theaterstücken und Arbeiten für den Film die Rede (vgl. TS5/BS 15 [1], Bl. 7). Diese abrupten Änderungen sind deutliche Anzeichen für die Fiktionalität des Briefwechsels. Auch die Datums- und Ortsangabe „Wien, 7. August 35“ entspricht nur ungefähr Horváths tatsächlichen Lebensumständen. Zu diesem Zeitpunkt bezog er gerade Quartier im oberbayerischen Pöcking, nachdem er Anfang April 1935 bereits von Berlin in die Wohnung seiner Eltern in München übersiedelt war (vgl. Krischke 1988, S. 116). In Wien hat er sich laut den erhaltenen Meldeunterlagen erst wieder ab dem 19. August 1935 aufgehalten. Die in TS1 zuletzt vorliegende Fassung des Schreibens nimmt Horváth in TS2 wieder auf und erweitert den Briefwechsel um zehn einzeln nummerierte Schreiben, wobei er die letzten nur knapp skizziert. In der Korrespondenz entwickelt der Schriftsteller, dem zwischenzeitlich doch „einige Novellen eingefallen“ sind (TS2/BS 15 [1], Bl. 5), die Idee eines gemeinsamen Buches. Darin soll ein „kühner Erfinder“ (ebd.) ein Auto entwickeln, das in der Zeit zurückfahren kann. Die Idee habe der Schriftsteller von einem Herrn namens Sobottka, nach dem auch der Protagonist heißen soll
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(vgl. ebd. sowie TS3, E1 und TS5). Für die mit sechs bis zehn nummerierten Schreiben notiert Horváth nur einige Ideen zur weiteren Korrespondenz. So soll der zeichnende Bruder, hier erstmals direkt „Luci“ (Kosename von Horváths Bruder Lajos) genannt, nach „Schanghai“ auswandern und dort von Piraten entführt werden (TS2/BS 15 [1], Bl. 6, vgl. TS5/BS 15 [1], Bl. 9). Spätestens mit dieser, auch in den folgenden Textstufen aufgenommenen Entwicklung des Briefwechsels zeigt sich dessen fiktiv-fantastischer Gehalt. TS3 befindet sich auf der Rückseite von BS 15 [1], Bl. 3, auf dessen Vorderseite TS1 eingetragen wurde. Horváth vermerkt hier zunächst einen Satz zum „alte[n] Sobottka“, ersetzt diesen aber sogleich durch den Beginn des ersten Briefes an den Bruder in der Fassung von TS2. Er bricht den Brief bereits nach wenigen Zeilen wieder ab und ergänzt ihn um die Idee, das Buch einer Tante zu widmen, die die „Wohltäterin“ des Brüderpaares sei. Dann streicht er den bisher notierten Text und setzt darunter neu an, um diesen Einfall auszubauen. Die Idee einer Widmung, zunächst an die Tante, dann an den Onkel Ferdinand, ist von TS3 an fixer Bestandteil von Reise ins Paradies. In TS4 entwickelt Horváth ein Vorwort zu seinem Werkprojekt, wofür er erstmals den Titel „Reise ins Paradies“ verwendet. Hier führt der erzählende Autor die Entstehungsfiktion des Buches weiter und erzählt, dass es zunächst ein Weihnachtsgeschenk für die Tante gewesen sei. Nach ihrem Tod haben der Autor und sein Bruder ihr Vermögen geerbt und sich darum eine Gast- bzw. Landwirtschaft gekauft. Ein zufällig in der Gastwirtschaft abgestiegener Verleger habe dann das Buch entdeckt und veröffentlicht. Direkt darunter sind mit E1 Notizen zu einem anschließenden Kapitel eingetragen, das zuerst den Titel „Zurück ins Paradies“, dann „Nach entschwundenen Tagen“ tragen sollte. Einen Briefbeginn an die Tante streicht Horváth sogleich wieder und ersetzt ihn durch eine Bildbeschreibung des Erfinders Ferdinand Sobottka samt seinem Zeitwagen. Das beschriebene Bild ist durch ein leeres Panel vertreten. Möglicherweise hatte Horváth vor, zu einem späteren Zeitpunkt seinen Bruder Lajos, der als Zeichner und Illustrator arbeitete, in das Werkprojekt über sein fiktives Alter Ego hinaus einzubinden (vgl. dazu auch TS7). T1 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 7–9 3 Blatt unliniertes Papier (297 × 210 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte TS5 = fragm. Fassung (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 458–461.
TS5 ist die erste masch. Textstufe des Werkprojekts Reise ins Paradies und enthält eine fragmentarische Fassung des einleitenden Briefwechsels zwischen dem Autor und seinem Bruder. Horváth greift hier, anders als bei den vorhergehenden Arbeiten, materiell auf einfaches Schreibmaschinenpapier im Format A4 zurück, das er ab H5/E3–E8 verwendet. Insgesamt sind sieben Briefe verzeichnet, von denen die ersten drei ausgearbeitet und die übrigen hs. auf der unteren Blatthälfte von BS 15 [1], Bl. 9 notiert sind. Erste Arbeiten dazu liegen hs. mit TS1–TS3 vor. Wie dort vorgesehen, beginnt der Briefwechsel mit der Angabe „Wien, 7. August 35“ (BS 15 [1], Bl. 7, vgl. den Kommentar zu TS1) und soll das geplante Buch die Vorstellungen des „arme[n] Sobottka“ (BS 15 [1], Bl. 8) umsetzen. Stärker als in den vorangehenden Textstufen steht in TS5 das Thema der Auswanderung im Vordergrund. Bereits in seinem ersten Rückschreiben berichtet der Bruder von seinem Plan, als Matrose nach Shanghai auszuwandern,
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und schließt mit den Worten: „Hier gefällts mir nichtmehr.“ (BS 15 [1], Bl. 8) Die hs. Notizen auf BS 15 [1], Bl. 9 sehen vor, dass der Bruder dort von „Piraten“ entführt werden soll, was auf eine erstmals in TS2 formulierte Idee zurückgeht. Trotz der eindeutigen Bezüge weicht TS5 in verschiedenen Aspekten merklich von TS1–TS3 ab. So findet sich hier keine deklarierte Widmung des Vorhabens, für das zuerst in TS4 eine Tante genannt wird; ab E2 ist Onkel Ferdinand der Adressat, ab E8 ist er sogar der Protagonist des Textes. Der erste, auf den 7. August 1935 datierte Brief ist in TS5 gegenüber den vorherigen Fassungen stark erweitert. Anstelle von „Novellen“ (zuletzt in TS3) spricht der Autor von Arbeiten für den Film, wo jedoch sein Stil nicht verstanden werde, und von seinem letzten Stück, das ein „Durchfall“ (BS 15 [1], Bl. 7) gewesen sei. Möglicherweise spielt Horváth mit den Arbeiten für den Film auf seine Erfahrungen im Berliner Filmbetrieb 1934/35 an. Bei dem durchgefallenen Stück könnte es sich um die sehr gemischt rezipierte Uraufführung der Komödie Mit dem Kopf durch die Wand am 10. Dezember 1935 im Wiener Theater in der Scala handeln, in das er u.a. seine Erfahrungen aus dem Filmbetrieb einfließen ließ (vgl. den einführenden Kommentar zu Reise ins Paradies oben). H4 = ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 2, 3 2 Blatt unliniertes Papier (330 × 210 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte E2 = Strukturplan mit Werktitel „Die Reise“ mit Repliken und Notizen Druck (teilweise) in: GW IV, S. 36*f.
E2 wurde wie TS1–TS4 und E1 nochmals auf einem halbierten Bogen im Folio-Format (330 × 210 mm) eingetragen. Ab H5/E3–E8 verwendet Horváth für die Arbeit an Reise ins Paradies ausschließlich Schreibmaschinenpapier im Format A4, wie es auch für TS5 bereits vorliegt. E2 unterscheidet sich durch die Wahl eines neuen Protagonisten („Beppo“) und die Widmung an „Onkel Ferdinand“ (BS 15 [2], Bl. 3) von den vorangehenden Arbeiten. Ab E8 wird Onkel Ferdinand schließlich als Protagonist des ihm gewidmeten Textes genannt; ob er in E2 mit der Figur Beppo identisch ist, lässt sich aus dem Entwurf nicht folgern. Allerdings war „Beppo“ auch der Rufname von Horváths 1929 verstorbenem Onkel Josef Prenhal, bei dem er 1919 in Wien gelebt hatte (vgl. auch ET15) Während Horváth sich zuvor mit der Rahmenerzählung des fingierten Briefwechsels beschäftigt hat, arbeitet er hier erstmals die Struktur des geplanten Binnentextes aus. Unter dem Titel „Die Reise“ setzt die Handlung beim „Tankwart“ ein, darauf folgt eine Reise rückwärts durch die Zeit in mehreren, teils wieder gestrichenen Stationen. Hervorgehoben sind „Biedermeier“, „Franz. Revolution“ bzw. „Napoleon“, „Ludwig XIV. / Ludwig XV.“, „Columbus“, „Mittelalter“, „Völkerwanderung“, „Rom“, „Alexander der Grosse“ bzw. „Diadochen“, „Hellas“, „Ägypten“ bzw. „Babylon“, „Neandertaler“, „Eiszeit“ und „Zurück“. Diese Stationen sind teilweise mittels Buchstaben gegliedert und dürften zugleich die Kapitel des Textes benennen. Zu allen Kapiteln sind Notizen und Dialogskizzen unterschiedlicher Länge eingetragen. Insbesondere die Kapitel zur Französischen Revolution und zu Napoleon weisen erkennbare Nebenhandlungen auf. So soll ein Revolutionär in die Zeit Ludwigs XV. mitreisen und dort „Oberlakai“ (Bl. 2) werden. Ein von ihm dort tyrannisiertes Mädchen wiederum reist anschließend ins Mittelalter mit. E2 ist der ausführlichste Plan zum Verlauf von Reise ins Paradies. Tatsächlich hat Horváth später nur wenige der hier notierten Teile ausgearbeitet, weiterführende No-
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tizen bzw. Textstufen finden sich nur zu den Kapiteln „Ludwig XV.“ und „Napoleon“ in E10 bzw. TS6. Der Beginn des Textes von E2 („Der Tankwart“) geht in TS9 in dem hier noch nicht eingetragenen Kapitel „Probefahrt in die Kinderzeit“ auf, das erstmals in TS7 vorliegt. Dass die Struktur von E2 zumindest in Teilen für das Werkprojekt weiterhin bedeutsam war, deutet eine Bemerkung in der überlieferten Reinschrift des Briefwechsels (TS9) an, wo der Autor ankündigt, der Onkel solle „zurückfahren, wohin er nur möcht, ins Mittelalter, zur Maria Theresia und zu seinem geliebten Napoleon, zum Schubert Franzl oder zum trojanischen Pferd“ (TS9/BS 15 [1], Bl. 15). In seiner Anlage sowie in den skizzierten Handlungsbögen weist E2 einige auffällige Parallelen zu anderen Werkprojekten Horváths dieser Zeit auf. Die Wandlung des Revolutionärs zum Lakaien etwa, wie sie in den Kapiteln zur Französischen Revolution notiert ist, bildet die Ausgangssituation der Komödie Figaro läßt sich scheiden (1936, vgl. WA 8; vgl. hier auch den Kommentar zu TS6). In den Vorarbeiten zu dieser Komödie scheinen auch die in E2/BS 15 [2], Bl. 3 notierten „Diadochen“ auf, wo sie als Titel eines historischen Romans vorgesehen sind (vgl. etwa WA 8/VA1/E1). Überdies erinnert die Struktur einer Reise durch die Zeiten an Horváths späten Plan einer „Komödie des Menschen“ (vgl. z.B. WA 11/K7/E4), die sich höchstwahrscheinlich an der Tragödie des Menschen (Az ember tragédiája, 1861) des ungarischen Autors Imre Madách (1823–1864) orientierte (vgl. dazu ausführlich das Vorwort zu Ein Dorf ohne Männer in WA 10, S. 259f.). H5 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), schwarzblaue Tinte E3 = Notiz (links oben) E4 = gestrichene Notiz mit Werktitel „Die Reise ins Paradies“ (rechts mittig) E5 = gestrichene Notiz (links mittig) E6 = Strukturplan in 4 Kapiteln (rechts unten) E7 = Strukturplan in 3 Kapiteln (links mittig unten) E8 = Strukturplan in 6 Kapiteln (links unten)
H6 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), schwarzblaue Tinte E9 = Strukturplan in 7 Kapiteln
Mit H5 beginnt Horváth, für die Arbeiten zu Reise ins Paradies ausschließlich einfaches Schreibmaschinenpapier im Format A4 anstelle der Folio-Blätter von H1–H4 zu verwenden. Der Wechsel im Material fällt auch mit einigen konzeptionellen Verschiebungen des Werkprojekts zusammen, für das Horváth in E3–E9 einen neuen erzählerischen Rahmen entwickelt. Ausgangspunkt der Handlung ist nun die Feier zum hundertsten Geburtstag von Onkel Ferdinand, der wie zuvor die Tante ein „Wohltäter“ des Brüderpaars ist und das Buch als Geschenk erhält (E4; vgl. auch E2). Horváth setzt auf diesem Blatt immer wieder neu mit Notizen und kurzen Strukturplänen an, in denen er den Ablauf der Feier skizziert, die den gestrichenen Datumsangaben in E4 und E5 zufolge am 16. bzw. 17. Dezember stattfinden soll. In E6 schläft der Onkel nach der Gratulation und einem „Festessen“ ein, woraufhin „St. Nikolaus“ erscheint. Diesen Einfall dürfte Horváth sogleich wieder verworfen haben, er notiert in E7 die Abfolge „Torte“, „Onkel im Lehnstuhl; Gratulanten“ und „Das Festessen; Onkel ist eingeschlafen“. E8 adaptiert diesen Plan, nach der „Torte“ und dem „Onkel im Lehn-
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stuhl (mit Napoleonbüste)“ (vgl. E10, TS6 und TS9/BS 15 [1], Bl. 15) bringen ihm die beiden Brüder ein „Auto, mit dem er in jede Zeit fahren kann“; Onkel Ferdinand ist damit zum Protagonisten des Textes geworden. Danach schließen die Teile „Festessen“ und „Der Onkel schläft ein“ an, der vorgesehene sechste Teil ist unbetitelt. In E9 notiert Horváth auf einem separaten Blatt die um ein siebentes Kapitel erweiterte Struktur von E8 und nimmt kleinere Änderungen vor, die die weitere Handlung als Traumsequenz charakterisieren. So träumt der Onkel im sechsten Kapitel des Strukturplans davon, eine „Probefahrt“ (vgl. TS7) zu machen und steigt dann im siebenten Kapitel „auf der Torte ein“ und „fliegt durch die Luft“. H7 = ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), schwarzblaue Tinte E10 = Notizen und Dialogskizzen zum Kapitel „Napoleon“
H8 = ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), schwarzblaue Tinte TS6 = fragm. Fassung des Kapitels „Napoleon“ (Korrekturschicht)
E10 und TS6 wurden hs. auf Schreibmaschinenpapier eingetragen. Da TS6 „Onkel Ferdinand“ (TS6) als Protagonisten führt, muss sie nach E3–E9 entstanden sein. E10 erwähnt als Hauptfigur „Ferdinand“, was sich ebenso auf den in E1 so genannten Erfinder Sobottka beziehen könnte. Die Verwendung von Schreibmaschinenpapier für diesen Entwurf spricht aber für eine genetische Einordnung gemeinsam mit TS6. Konzeptionell schließen beide Arbeiten an E2 an, was dessen Bedeutung auch für die späteren Phasen des Werkprojekts unterstreicht (vgl. den Kommentar zu E2). Dort beziehen sie sich auf das Kapitel „Napoleon“ bzw. im Fall von E10 auch auf die Kapitel „Franz. Revolution“ sowie „Ludwig XV.“. E10 umfasst mehrere Notizen und Dialogskizzen zum Kapitel „Napoleon“, als weiterer Titel ist „Der Mann Jean Février“ angeführt. Die Eintragungen erweitern den in E2/BS 15 [2], Bl. 2 vermerkten Einfall eines von Napoleon enttäuschten Revolutionärs, der „Oberlakai“ wird. Der Revolutionär Jean begleitet Ferdinand zunächst vom napoleonischen Zeitalter in die Revolutionszeit, wo seine Warnungen vor der Zukunft aber ignoriert werden. Daraufhin reisen sie in die Zeit Ludwigs XV., den Jean zur Rede stellen möchte. Dort trifft der auf die Mätresse des Königs, Madame du Barry, die ihn „bekehrt“, woraufhin er Lakai wird. Im Revolutionär, der sich zum Lakaien wandelt, liegt möglicherweise eine Verbindung zu Horváths Komödie Figaro läßt sich scheiden vor, die zwischen 1934 und 1936 entstanden ist (vgl. auch den Kommentar zu E2). In den Vorarbeiten zur Komödie trägt die Figur des Dieners ebenfalls noch den Namen Jean (vgl. WA 8/VA2/TS1). TS6 formuliert den Beginn des Napoleon-Kapitels, das Onkel Ferdinands erste Station seiner „grosse[n] Reise“ sein soll. Seine Verehrung für Napoleon ist bereits in der „Napoleonbüste“ von E8 angeklungen, die auch in TS6 unter seinen Devotionalien auftaucht. Sein Ziel ist die „Schlacht von Jena“, womit die Schlacht bei Jena und Auerstedt gemeint ist, bei der am 14. Oktober 1806 die französische Armee unter Napoleon das preußische Heer besiegte. Onkel Ferdinand kommt jedoch zu spät, die Schlacht ist bereits zu Ende. Die darunter befindliche Notiz „Er war bei der Zusammenkunft dabei: Luise – Napoleon“ spielt auf die Begegnung der Königin Luise von Preußen mit Napoleon am 6. Juli 1807 in Tilsit an.
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Chronologisches Verzeichnis
H9 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 10, ÖLA 3/W 350 – BS 15 [2], Bl. 6–8 4 Blatt unliniertes Papier (296 × 209 mm), schwarzblaue Tinte TS7 = Fassung des Kapitels „Probefahrt in die Kinderzeit“, konstituiert durch BS 15 [1], Bl. 10, BS 15 [2], Bl. 8, 6, 7 (Korrekturschicht) E11 = Notiz (Bl. 10, rechts oben) E12 = Notiz (Bl. 10, rechts mittig) E13 = Notiz (Bl. 8, links mittig)
In TS7 formuliert Horváth das in E9 angedeutete Kapitel einer „Probefahrt in die Kinderzeit“ auf insgesamt vier Blatt hs. aus. Er greift dafür wiederum auf Schreibmaschinenpapier zurück, was den textgenetischen Zusammenhang mit H5–H8 auch materiell absichert. Auf den ersten beiden Blättern (BS 15 [1], Bl. 10 und BS 15 [2], Bl. 8) sind neben TS7 die drei Entwürfe E11–E13 eingetragen, die klar vom ausformulierten Text abgehoben sind. Sie umfassen verschiedene Notizen zum Text dieses Kapitels bzw. zum Schluss des Buches. Während der Arbeit an der Textstufe vermerkt Horváth immer wieder die Einfügung von Bildern bzw. Zeichnungen in den Text, zu denen er einige rudimentäre Skizzen auf BS 15 [2], Bl. 8 anfertigt (vgl. die Abbildung im Zusammenhang mit E11–E13). Diese Skizzen deuten darauf hin, dass Horváth möglicherweise später seinen Bruder Lajos, der bereits im fingierten Briefwechsel adressiert worden ist, zu diesem Werkprojekt hinzuziehen wollte. Lajos von Horváth selber hat allerdings von den Plänen seines Bruders erst nach dessen Tod erfahren (vgl. die einleitenden Bemerkungen zu Reise ins Paradies oben). Die „Probefahrt in die Kinderzeit“ beschreibt die erste Ausfahrt Onkel Ferdinands mit seinem Zeitauto. In der Zeit seiner Kindheit angekommen, wandert Ferdinand durch die Straßen, vergleicht die damalige Landschaft mit ihrem späteren Aussehen und findet sein Elternhaus wieder. Dabei trifft er auf eine Gruppe Kinder beim Murmelspiel, darunter den „dicke[n] Karl, der ihn um die Kugeln betrogen hat“. Nachdem er Zeuge der Bestrafung Karls geworden ist, macht er sich auf den Rückweg und nimmt sich vor, am nächsten Tag in die Zeit Napoleons zu fahren (vgl. E10 und TS6). Der hier festgehaltene Text bildet die Grundlage des fragmentarisch ausgearbeiteten Kapitels in TS9 (vgl. TS9/BS 15 [1], Bl. 16–18). In E11 entwirft Horváth ein abschließendes Antwortschreiben des Onkels an seine Neffen, nachdem er ihr Buch erhalten hat. Er schreibt, obwohl er wisse, dass es „nie und nirgends richtig“ auf der Welt gewesen sei, wollte er immer „anderswohin“. Auch wenn er keine zweihundert Jahre mehr werden wolle, bedanke er sich für das Geschenk, denn sie hätten ihm damit „eine Freude gemacht“. E12 und E13 stellen demgegenüber Ergänzungen zum Text von TS7 dar. Die Notiz E12 wurde unterhalb von E11 eingetragen und thematisiert den „Garten der Kinder“, der vor allem in der Erinnerung schön sei. Dabei „verschwinden die Gefahren, ja selbst die Angst reizt nur zum Lächeln“. Diesen Text übernimmt Horváth in erweiterter Form in die fragmentarische Fassung des Kapitels in TS9/BS 15 [1], Bl. 17. E13 steht auf BS 15 [2], Bl. 8 neben der Beschreibung der damaligen Landschaft von TS7. Horváth stellt hier die Veränderungen des Platzes in Form einer Liste dar. Genannt werden eine Schule, ein „Palais mit Schwänen“, eine Tankstelle, die früher eine Pferdetränke war, und die Commerzbank an der Stelle eines kleinen Ladens sowie ein einziges Haus aus der Kinderzeit, „sonst hat sich alles verändert“. Orte wie die Schule, das Palais sowie die Commerzbank wurden bereits im Text von TS7 erwähnt; vermutlich sollte E13 eine Neubearbeitung dieser Passage vorbereiten.
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Werkprojekte Prosa
T2 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 11, 12 2 Blatt unliniertes Papier (284 × 223 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand, masch. Paginierung 1, 2 TS8 = Fassung (Korrekturschicht) Druck (gemeinsam mit TS9) in: GW IV, S. 461–464.
Mit TS8 liegt die masch. Textstufe eines Vorworts zum Werkprojekt Reise ins Paradies mit wenigen hs. Korrekturen vor. Sie steht in keinem erkennbaren Bezug zum Vorwort von TS4, vorangehende Arbeiten sind nicht erhalten. Das verwendete Schreibmaschinenpapier hat annähernd Quart-Format (284 × 223 mm) und unterscheidet sich so merklich vom A4-Format von T1 bzw. H5–H9. Das Papier ist zudem auffällig vergilbt, was es von dem annähernd gleichformatigen Papier unterscheidet, das Horváth für TS9 benutzt hat. Trotz dieser leichten Unterschiede im Material ist aber davon auszugehen, dass zwischen TS8 und TS9 ein textgenetisches Naheverhältnis besteht. Da die Paginierung sowohl von TS8 als auch TS9 jeweils bei 1 ansetzt, dürften die beiden Textstufen unabhängig voneinander entstanden sein. Anders als in TS4 entwickelt das Vorwort von TS8 nun keine sich ins fantastische entwickelnde Entstehungsfiktion mehr, eine tatsächliche Zusammenarbeit mit dem Bruder Lajos von Horváth lag aber auch zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Das Vorwort trägt die römisch bezifferte Kapitelnummerierung I, die jedoch keine Fortsetzung in TS9 mehr findet, was neuerlich als Hinweis auf den noch vorläufigen Charakter beider Textstufen gewertet werden kann. TS8 beginnt mit einer Lobpreisung der Natur, worüber sich, so der Text weiter, der schreibende und der zeichnende Bruder oft „gezankt gestritten, gerauft, geprügelt und wieder versöhnt“ (BS 15 [1], Bl. 11) hätten. Beide gehen ihrer jeweiligen Tätigkeit nach, „weil es uns freut“ (ebd.). Das Buch ist nun weder der Tante (TS4) noch Onkel Ferdinand (zuletzt in E11), sondern dem Publikum gewidmet, das die Brüder auch direkt ansprechen und bitten, sich nicht über sie zu ärgern. T3 = ÖLA 3/W 349 – BS 15 [1], Bl. 13–18 6 Blatt unliniertes Papier (282 × 223 mm), hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte, masch. Paginierung 1–6 TS9 = fragm. Fassung des Kapitels „Ein Briefwechsel“ (Korrekturschicht) Druck (gemeinsam mit TS8) in: GW IV, S. 462–464.
TS9 ist die umfangreichste überlieferte Arbeit des Werkprojekts Reise ins Paradies und umfasst eine vollständige Fassung des Briefwechsels der beiden Brüder sowie eine fragmentarische Fassung des ersten Kapitels „Probefahrt in die Kinderzeit“. Die Einfügung separater Deckblätter deutet darauf hin, dass Horváth hier versucht, die bisherige Sammlung von Ideen und Konzepten in eine verbindlichere Form zu bringen. Nach dem Abbruch des Textes auf BS 15 [1], Bl. 18 hat Horváth das Werkprojekt jedoch nicht weiter verfolgt, weitere Arbeiten sind nicht überliefert. Bis auf die Einfügung einer Variante auf BS 15 [1], Bl. 17 weisen die Blätter keine hs. Bearbeitungsspuren auf. Das verwendete Schreibmaschinenpapier hat wie T2/TS8 annähernd Quart-Format (282 × 223 mm) und unterscheidet sich merklich von dem für T1 bzw. H5–H9 benutzten Papier im Format A4 sowie von den Folio-Blättern der frühesten Arbeiten. Aufgrund des hohen Vergilbungsgrads von T2 und den leicht abweichenden Abmessungen liegt bei T3 vermutlich eine andere Papiersorte vor. Trotz dieser leich-
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ten Unterschiede im Material ist aber davon auszugehen, dass zwischen TS8 und TS9 ein textgenetisches Naheverhältnis besteht (vgl. den Kommentar zu TS8). Der Text des Briefwechsels weicht stark von den vorherigen Fassungen in TS1–TS3 und TS5 ab. Allein über den Beginn des ersten Briefes („Lieber Bruder, wo steckst Du?“, BS 15 [1], Bl. 14) lässt sich ein Zusammenhang mit TS5 erkennen. Die Briefe weisen nun keine exakte Ortsangabe mehr auf und wurden in ihrer Datierung verändert. Der Briefwechsel beginnt nun bereits im März 1935 und setzt nach einer längeren Pause am 11. August 1935 wieder ein. Anders als in den vorherigen Fassungen fehlen hier die Klagen bzw. Reflexionen über die Probleme schriftstellerischer Existenz und das latente Thema der Emigration. Stattdessen fordert der Schriftsteller seinen Bruder sogleich auf, mit ihm an einem Buch für ihren „Wohltäter“ (BS 15 [1], Bl. 14, vgl. E4) Onkel Ferdinand zu arbeiten. Der Bruder schlägt daraufhin vor, ihn jedoch zuerst eine Probefahrt absolvieren zu lassen. Das anschließende Kapitel „Probefahrt in die Kinderzeit“ ist um die in E2 notierte Episode mit dem Tankwart erweitert, die Passage über den „Garten der Kindheit“ (BS 15 [1], Bl. 17) stammt aus E12 (dort: „Garten der Kinder“). Ab BS 15 [1], Bl. 18 basiert der Text, nach einer zunächst abweichenden Variante, auf TS7.
Werkprojekt 19: Ein Teufel hat Ferien H1 = ÖLA 3/W 334 – BS 31 b [2], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (341 × 210 mm), gerissen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarze Tinte, Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung), gestrichene Paginierung 1 E1 = Notizen mit Werktitel „Ein Teufel hat Ferien. Roman“ (rechts) E2 = Notiz (links)
Zum Werkprojekt Ein Teufel hat Ferien liegen allein zwei Entwürfe vor, die Horváth auf einem Blatt mit dem Wasserzeichen „Drei Sterne“ eingetragen hat. Papier dieser Sorte hat der Autor vor allem in den letzten Konzeptionen von Pompeji (WA 11/K6–K7) und für frühe Arbeiten zu Ein Kind unserer Zeit verwendet (vgl. WA 16). Die vorliegenden Eintragungen sind deshalb ungefähr auf die Jahresmitte 1937 zu datieren, was auch dem in E1 angeführten Datum „1937“ entspricht. Dasselbe Papier hat Horváth auch für das Werkprojekt Das Märchen in unserer Zeit verwendet, das seinerseits nur über diese materielle Verwandtschaft zu datieren ist (vgl. WP21). Unter dem Titel „Ein Teufel hat Ferien“ sind in E1 einige lose zusammenhängende Einfälle zu einem vermutlich zeitkritisch-satirischen Roman notiert. Die Grundidee ist der irdische Ferienaufenthalt eines Teufels, der zuletzt vor 200 Jahren die Erde bereist hat. Er bestaunt eine Fabrik samt Laufband und überlegt, die Hölle damit auszustatten. Nachdem er zuletzt mit „Danton an einem Tisch“ gesessen habe, konstatiert er nun, dass die Welt „[d]ümmer“ geworden sei. Schließlich bereist er verschiedene Länder Europas, außer Russland, wo er kein Visum bekommen habe. E2 wurde später am linken Blattrand eingetragen, hier berichtet der Teufel vom Büroalltag in der Hölle und seinem nur knapp bemessenen Urlaubsanspruch. Thematisch steht das Werkprojekt in der Nähe des dramatischen Märchens Himmelwärts, das zum Teil in der Hölle spielt, allerdings bereits 1934 entstanden ist (vgl. WA 7). In seiner Struktur als Reiseroman, in dem der Teufel verschiedene Orte besucht und kommentiert, erinnert das Werkprojekt an das 1933 abgebrochene Romanprojekt Himmelwärts (WP17).
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Werkprojekte Prosa
Werkprojekt 20: Waisenkinder / Hinter dem Mond H1 = ÖLA 3/W 361 – BS 11 a [4], Bl. 1 1 Blatt kariertes Papier (328 × 210 mm), halbierter Bogen, schwarze Tinte, Eintragungen mit Bleistift und Kugelschreiber von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS1 = fragm. Fassung (Korrekturschicht)
Zum Werkprojekt Waisenkinder / Hinter dem Mond ist allein eine hs. erstellte Textstufe überliefert. Auffällig ist vor allem die Topografie des Blattes, das Horváth nur auf der linken Hälfte beschrieben hat. Möglicherweise hat der Autor sich hier Platz für weitere Notizen oder Strukturpläne freigehalten, dann aber das Werkprojekt nicht weiter verfolgt. Die genaue Entstehungszeit ist ungewiss, ebenso der exakte Titel, da die notierten Titelvarianten „Waisenkinder“ und „Hinter dem Mond“ wieder gestrichen wurden. Vermutlich besteht eine Verbindung des Werkprojekts zu den Vorarbeiten von Ein Kind unserer Zeit. Horváth hat sich dort kurzzeitig mit einer Passage in einem Waisenhaus als Ausgangspunkt seines Romans beschäftigt, wobei für eines der Waisenkinder der auch in TS1 genannte Name „Peter“ verwendet wird (vgl. WA 16/VA2/TS5 und TS6). Das Werkprojekt könnte somit ein Nebenprodukt dieser Arbeiten sein und wäre damit auf die Jahresmitte 1937 zu datieren. Die in TS1 vorliegende fragmentarische Fassung erzählt von der Familie Watzlaw mit ihren insgesamt sieben Söhnen, „Ferdinand, {Viktor}, Wladimir, Klaus, Josef, Paul und Peter“ und setzt mit der Geburt des jüngsten, Peter, ein. Die Familie liegt in Streit mit ihren Nachbarn, der Familie Prohaska, die sieben Töchter haben. Der Streit entzündete sich daran, dass „der Hund des Prohaska die Katze des Watzlaw“ tötete, woraus sich „ein riesiger Prozess“ entwickelt habe. An dieser Stelle bricht Horváth die Ausarbeitung ab.
Werkprojekt 21: Das Märchen in unserer Zeit H1 = ÖLA 3/W 206 – BS 31 a, Bl. 1, 2 Insgesamt 2 Blatt, davon 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 212 mm), halbierter Bogen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, 1 Blatt unliniertes Papier (343 × 209 mm), halbierter Bogen, Wasserzeichen „Drei Sterne“, schwarze Tinte, Paginierung 1, 2 TS1 = Fassung mit Werktitel „Das Märchen in unserer Zeit“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 123f.
Zum Werkprojekt Das Märchen in unserer Zeit liegt eine einzige hs. Textstufe auf insgesamt zwei Blättern mit dem Wasserzeichen „Drei Sterne“ vor. Papier dieser Sorte hat Horváth vor allem in den letzten Konzeptionen von Pompeji (vgl. WA 11/K6–K7) und für frühe Arbeiten zu Ein Kind unserer Zeit verwendet (vgl. WA 16). Auch die knappen Ausführungen zum Werkprojekt Ein Teufel hat Ferien finden sich auf einem Blatt dieser Papiersorte (vgl. WP19). Das Märchen in unserer Zeit ist deshalb ungefähr auf die Jahresmitte 1937 zu datieren. TS1 enthält eine vollständige Fassung des Textes mit dem Werktitel „Das Märchen in unserer Zeit“: Ein kleines Mädchen zieht darin aus, um das Märchen zu suchen, das „verloren gegangen sei“ und womöglich gar in einem „Massengrab“ (Bl. 1) verscharrt wurde. Auf ihrer Suche befragt sie eine Reihe von Tieren, die ihr keine Auskunft ge-
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ben können oder wollen und, im Fall der Kühe, die Frage in Hörweite ihrer Kälber gar nicht gestellt bekommen wollen, um ihnen keine Illusionen zu machen. Schließlich trifft das Mädchen auf ein altes Pferd, das den Gang zum Abdecker erwartet. Es weist das Mädchen darauf hin, dass es das Märchen schon gefunden habe, da sie selber das Märchen sei. Daraufhin fabuliert das Mädchen dem Pferd vor seiner Schlachtung einige Geschichten und verweigert am nächsten Sonntag das kredenzte Pferdefleisch, wird aber allein durch ihre Erinnerung an das alte Pferd bereits satt. Horváth setzt darunter eine Strukturmarkierung, die er gewöhnlich unter abgeschlossene Fassungen einfügt. Dennoch dürfte es sich hier um eine noch nicht abgeschlossene Arbeit handeln, da kein Typoskript davon angefertigt wurde. Der Titel „Das Märchen in unserer Zeit“ verweist auf einige andere Arbeiten Horváths, allen voran den Roman Ein Kind unserer Zeit (WA 16), aber auch auf die Stücke Don Juan kommt aus dem Krieg und Figaro läßt sich scheiden, die in ihren frühen Konzeptionen bzw. Vorarbeiten oft ähnliche Titel führen (vgl. WA 9/K1, Ein Don Juan unserer Zeit, und WA 8/VA2, Die Hochzeit des Figaro in unserer Zeit). Ab Mitte der 1930er-Jahre wandte sich Horváth wieder häufiger der Gattung Märchen zu, die ihn während seiner gesamten schriftstellerischen Arbeit seit den satirischen Sportmärchen thematisch wie formal beschäftigt hat. 1935/36 arbeitete er etwa an dem märchenhaft-fantastischen Text Reise ins Paradies (WP18) und 1937 am Märchen Der Gedanke (WP22), das im Rahmen der Werkgenese von Ein Kind unserer Zeit entsteht. Aber auch die stark fragmentarischen Textstufen des Werkprojekts Der brave Bürger / Der letzte Mensch weisen mit anthropomorphen Tieren und formelhaften Wendungen Züge der Gattung auf (vgl. den Kommentar zu WP23).
Werkprojekt 22: Der Gedanke H1 = ÖLA 3/W 325 – BS 14 a, Bl. 1 (vgl. WP23/H1) 1 Blatt unliniertes Papier (229 × 146 mm), geviertelter Bogen, Bleistift und schwarze Tinte, Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Der Gedanke“ (Grundschicht)
T1 = ÖLA 3/W 174 – BS 26 i [3], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (296 × 210 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte TS2 = fragm. Fassung mit Werktitel „Der Gedanke. Ein Märchen“ (Korrekturschicht) Druck in: GW III, S. 125–127 (fälschlich konstituiert mit einem Blatt aus Ein Kind unserer Zeit, WA 16/K1/TS5/BS 26 i [3], Bl. 3, S. 119f.); Horváth 1975, S. 25f.
Zum Werkprojekt Der Gedanke liegen zwei Textstufen mit jeweils fragmentarischen Fassungen vor. TS1 wurde mit Bleistift auf dem Kopf eines geviertelten Bogens notiert, auf dem auch eine vermutlich parallel oder kurz danach entstandene Textstufe zum Werkprojekt Der brave Bürger / Der letzte Mensch eingetragen ist (TS1/BS 14 a, Bl. 1, vgl. WP23/TS1). Horváth hat TS1 später mit schwarzer Tinte gestrichen. TS2 liegt auf zwei Blättern eines Durchschlags vor, auf dessen Rückseite sich eine Reinschrift des ersten Kapitels von Ein Kind unserer Zeit befindet (vgl. WA 16/K3/TS1). In der Werkgenese des Romans finden sich wiederholt Überlegungen zu einem Kapitel mit der Bezeichnung „Der Gedanke“ (vgl. etwa WA 16/K2/E31 sowie den Kommentar
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Werkprojekte Prosa
dort). Auch liegen dort einige Textstufen dazu vor, deren Formulierungen denen von TS2 auffällig ähneln (vgl. etwa „Ich treffe einen Gedanken“, WA 16/K3/TS6). Auch wenn die Zugehörigkeit von TS2 zu Ein Kind unserer Zeit nicht mit Sicherheit zu belegen ist, besteht zweifelsohne ein Naheverhältnis. Als Nebenprodukt der Arbeit am Roman ist Der Gedanke somit vermutlich in der zweiten Jahreshälfte 1937 oder Anfang 1938 entstanden. TS1 umfasst nur wenige Zeilen über die Begegnung mit einem „Gedanken“, den der Erzähler gleich wieder vergessen hat. Der flüchtige Schreibduktus deutet darauf hin, dass es sich hierbei, ähnlich wie bei den beiden Textstufen von WP23, um einen spontanen Einfall handeln dürfte (vgl. den Kommentar dort). TS2 baut darauf auf, ist aber wesentlich ausführlicher. Ein Ich-Erzähler berichtet von seiner Begegnung mit einem Gedanken während eines Spaziergangs, und dass er ihn sogleich wieder vergessen habe. Beim Versuch, sich an den Gedanken zu erinnern, gerät er an andere Gedanken, die jedoch allesamt „Kraut und Rüben“ (TS2/Bl. 1) seien. Ein „sehr gescheiter belesener Gedanke“ (ebd./Bl. 2) eröffnet ihm, dass er wohl keinen Gedanken, sondern ein Gefühl suche. Am Schluss trifft der Erzähler auf den „Engel des Todes“ (ebd.) und erkennt in ihm den Gedanken, nach dem er so lange gesucht hatte, der sich zuletzt als „das nichts“ (ebd.) herausstellt. Der Gedanke gehört zu einer Reihe von Texten, die ab Mitte der 1930er-Jahre entstanden sind, die wieder stärker märchenhafte Elemente in den Vordergrund stellen, darunter Das Märchen in unserer Zeit (WP21), aber auch die fantastische Reise ins Paradies (WP18) und die skizzenhaften Arbeiten zu Der brave Bürger / Der letzte Mensch (WP23).
Werkprojekt 23: Der brave Bürger / Der letzte Mensch H1 = ÖLA 3/W 325 – BS 14 a, Bl. 1, 2 (vgl. WP22/H1) 2 Blatt unliniertes Papier (229 × 146 mm), geviertelter Bogen, Bleistift und schwarze Tinte, Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Der brave Bürger“ (Korrekturschicht: Bleistift)
H2 = ÖLA 3/W 325, BS 14 a, Bl. 2v 1 Blatt unliniertes Papier (229 × 146 mm), geviertelter Bogen, Bleistift TS2 = Fassung (Grundschicht)
Zum Werkprojekt Der brave Bürger / Der letzte Mensch sind zwei Textstufen mit jeweils fragmentarischen Fassungen überliefert. TS1 wurde auf zwei Blättern eines geviertelten Bogens festgehalten. Am Kopf von BS 14 a, Bl. 1 hat Horváth überdies eine Textstufe zum Werkprojekt Der Gedanke (vgl. WP22/TS1) notiert, auf der Verso-Seite von Bl. 2 wiederum befindet sich TS2. Beide wurden mit Bleistift in einem sehr weitläufigen Schreibduktus notiert, was darauf hindeutet, dass es sich um spontane Einfälle handelt. Dafür würde auch ihr sentenzhafter Charakter sprechen. Ihr genauer konzeptioneller Zusammenhang ist jedoch fraglich, eventuell handelt es sich bei TS2 um einen separaten Einfall. Die in TS1 vorliegende fragmentarische Fassung trägt den Titel „Der brave Bürger“ und ist in drei nummerierte Abschnitte gegliedert. Im ersten ist ein Gespräch mit einer Ameise über Menschlichkeit und „Ameisigkeit“ (TS1/Bl. 1) vorgesehen, im zweiten ist von einer Erfindung die Rede, die Große klein macht, wobei sich einer der
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Großen versteckt und die Kleinen zertrampelt. Im letzten Abschnitt werden „Feinde“, die man nicht „klein“ gemacht hat, in Hunde verwandelt. Über den genauen Zusammenhang dieser fantastisch anmutenden Episoden ist nichts bekannt. TS2 skizziert eine Umformung des Mythos von Adam und Eva. Horváth notiert zunächst „Der letzte Mensch“, wobei es sich vermutlich um den Titel dieses Textes handelt, den er aber nicht gesondert auszeichnet. In knappen Sätzen wird eine neue Schöpfungsgeschichte geschildert, in der Gott in seiner Güte einen Neubeginn versucht und unter einem neuen Stern neuerlich Adam und Eva schafft. Insbesondere die zuletzt eingetragene Wendung: „Und wenn sie den Apfel nicht gegessen haben, dann leben sie heute noch“ deutet auf einen märchenhaften Charakter dieses Werkprojekts hin. Möglicherweise besteht hier auch eine Verbindung zu Horváths spätem Dramenprojekt einer „Komödie des Menschen“, zu der er sich vermutlich durch die Tragödie des Menschen (Az ember tragédiája, 1861), ein dramatisches Gedicht des ungarischen Autors Imre Madách (1823–1864), anregen hat lassen (vgl. dazu den Kommentar zu Pompeji, WA 11/K7/E4). Der von Goethes Faust inspirierte Text Madáchs beginnt seinerseits bei Adam und Eva nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Der Teufel nimmt Adam im Stück durch die Zeiten mit, um ihm das Schicksal der Menschheit vor Augen zu führen.
Werkprojekt 24: Adieu, Europa! Adieu, Europa! ist das letzte Prosawerkprojekt Horváths. An ihm hat er bis unmittelbar vor seinem Tod am 1. Juni 1938 in Paris gearbeitet. Unter dem Titel „Adieu, Europa!“ sind mehrere Vorarbeiten zu einem Roman versammelt, an dem er vermutlich schon kurz nach der Abgabe von Ein Kind unserer Zeit beim Amsterdamer Verlag Allert de Lange zu arbeiten begonnen hat (vgl. das Vorwort zu Ein Kind unserer Zeit, WA 16, S. 7). Erstmalig hat Horváth den geplanten Titel in einem Brief an Walter Landauer, seinen Lektor bei Allert de Lange, vom 25. April 1938 erwähnt (vgl. Brief Horváths an Landauer vom 25. April 1938, Internationales Institut für Sozialgeschichte (IISH), Amsterdam, Signatur 27/554). Erste, unbestimmte Andeutungen zu einem neuen Projekt hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits in einem ebenfalls an Landauer gerichteten Schreiben vom 2. April 1938 gemacht (Brief Horváths an Landauer vom 2. April 1938, IISH, Signatur 27/541). Zuvor, in einem an Landauer gerichteten Brief vom 26. Februar 1938, erwähnte Horváth allerdings auch ein Projekt mit dem Titel „Das Ende der Kunst“, dessen Spuren sich bereits in den Vorarbeiten von Ein Kind unserer Zeit finden (vgl. WA 16/VA1/E11 und E25 sowie VA2/TS4 und E4). Eventuell geht dieses Projekt in Adieu, Europa! auf, wo, vermutlich bedingt durch Horváths nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 erzwungene neuerliche Flucht, das Emigrations-Thema stärker im Vordergrund steht. In einigen Entwürfen zu Adieu, Europa! scheint etwa die „Göttin der Kunst“ als wiederkehrendes Motiv auf (vgl. E5 und E7–E10), zudem findet sich auch eine in Vorarbeiten zu Ein Kind unserer Zeit skizzierte Handlung rund um einen Irrenarzt bzw. ein Irrenhaus in verschiedenen Entwürfen des Werkprojekts (vgl. etwa E5). Gegenüber Landauer erwähnte Horváth Ende Februar auch, dass der Roman „Das Ende der Kunst“ die „Erlebnisse eines Autors, der für das Theater schreibt“ (Brief Horváths an Landauer vom 26. Februar 1938, IISH, Signatur 27/529–531) thematisieren solle. Vergleichbare Motive finden sich ebenfalls in Adieu, Europa! (vgl. etwa E5 und E8 sowie TS3–TS5).
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Werkprojekte Prosa
Horváth befand sich von Ende März bis Anfang Mai 1938 auf einem längeren Besuch bei der Schauspielerin Lydia Busch in Teplitz-Schönau (Teplice-Sˇanov) in der Tschechoslowakischen Republik. Busch berichtete auch davon, dass Horváth ihr aus seinen Arbeiten dieser Zeit vorgelesen hatte und erwähnt „drei, vier Sätze von einem Schiff, traurig, seltsam, suggestiv, wie alles was er schrieb“ (Lydia Busch: Teplitz. In: Traugott Krischke (Hg.): Materalien zu Ödön von Horváth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 109). Dabei handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Passage vom Boot „mit schwarzen Segeln“ (vgl. TS2/BS 16 c [1], Bl. 1, TS3/BS 16 c [2], Bl. 4 und TS5/Maß und Wert 2/1938, S. 241). Ein großer Teil des überlieferten Werkprojekts dürfte während des Aufenthalts im Hause Busch entstanden sein. Insgesamt liegen 13 Blatt an hs. Material vor, die auf insgesamt zehn Entwürfe und drei Textstufen entfallen. Unter dem Titel „Neue Wellen“ erschien im Herbst 1938 postum und von Freunden Horváths organisiert ein Kapitel des Romanprojekts in der Zeitschrift Maß und Wert (TS5). Die Angaben von Ferdinand Lion, dem verantwortlichen Redakteur und Verfasser einer Vorbemerkung zum Abdruck, bekräftigen, dass Horváth an Adieu, Europa! bis kurz vor seinem plötzlichen Tod gearbeitet hat. Laut Lion handelt es sich bei dem Text um Material, das im „Portefeuille Horváths nach seinem tödlichen Unglücksfall gefunden“ wurde (TS5/Maß und Wert 2/1938, S. 240). Das Original hierzu ist indes verloren gegangen (vgl. den Kommentar zu TS4). Adieu, Europa! wurde auch als Versuch zu einer Autobiographie gelesen (vgl. dazu das Vorwort). Tatsächlich sind zu dieser Annahme einige Anhaltspunkte, etwa in Notizen zum Strukturplan E4, gegeben, wenngleich hier auch die in anderen Projekten festzustellende Neigung Horváths zum selbstironischen Spiel mit (Auto-)Biographemen in seiner Prosa berücksichtigt werden muss (vgl. exemplarisch Flucht aus der Stille, ET20). Zugleich weisen insbesondere die Entwürfe eine Vielzahl an auffälligen Querverbindungen zu anderen Werkprojekten Horváths der vorangegangenen Jahre auf. Hervorzuheben sind hier Figaro läßt sich scheiden, Jugend ohne Gott, Ein Kind unserer Zeit sowie verschiedene Vorarbeiten zu diesen Werken, aus denen Horváth Motive und Handlungselemente entnimmt, um sie für sein neues Projekt fruchtbar zu machen. Eng damit verknüpft sind die in der Figur des Schriftstellers angelegten Reflexionen über eine andere Art des Schreibens. Horváth thematisiert darin auch seine eigene schriftstellerische Krise nach 1935, wie sie etwa auch in der Vorarbeit Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit in der Werkgenese von Jugend ohne Gott (vgl. WA 15/VA2) und besonders deutlich in einem Konzept zum geplanten Dramenzyklus Komödie des Menschen Ende 1937 zum Ausdruck kommt (vgl. zuletzt WA 11/K7/E4). H1 = ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 3, 3v 1 Blatt unliniertes Papier (296 × 422 mm), gefaltet, schwarzblaue Tinte E1 = Strukturplan in 3 Teilen mit Werktitel „Adieu, Europa!“ (Bl. 3 oben) E2 = gestrichene Notiz (Bl. 3 mittig) E3 = Notizen (Bl. 3 unten, Bl. 3v)
Das Werkprojekt Adieu, Europa! ist vermutlich zu einem Großteil während Horváths Aufenthalt im tschechoslowakischen Teplitz-Schönau (Teplice-Sˇanov) entstanden, wo er von Ende März bis Anfang Mai 1938 Gast der Schauspielerin Lydia Busch war. Explizit erwähnt hat Horváth sein Romanprojekt gegenüber Walter Landauer in einem Brief vom 25. April 1938, erste Andeutungen dürften aber bereits in einem
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ebenfalls an Landauer gerichteten Schreiben vom 2. April desselben Jahres vorliegen (vgl. die einführenden Anmerkungen zu Adieu, Europa!). Die genaue genetische Einordnung des vorliegenden Blattes ist unsicher, da der notierte Strukturplan E1 sowie die beiden Notizen E2 und E3 keine eindeutige Anbindung an die übrigen Entwürfe bzw. Textstufen erlauben. Auch das verwendete Material, es handelt sich um einen in der Mitte gefaltenen Bogen im Format A3, hebt sich merklich vom übrigen Konvolut ab, in dem sonst ausschließlich Blätter im Folio-Format (339 × 211 mm) vorliegen. Am wahrscheinlichsten handelt es sich um frühe Entwürfe, weshalb BS 16 a, Bl. 3 hier an den Beginn der genetischen Reihe gesetzt wird. E1, E2 und den Beginn von E3 hat Horváth auf die Vorderseite des gefaltenen Blattes eingetragen und E3 auf der ersten Innenseite fortgeführt, die übrigen Seiten sind leer. Schon im Strukurplan E1 steht der Titel „Adieu, Europa!“ samt der Gattungsbezeichnung „Roman“ (Bl. 3) fest. Wie Horváth zu diesem Titel gekommen ist, ist über die brieflichen Anmerkungen gegenüber Walter Landauer hinaus unbekannt, da Notizen, die Erprobung von Titelvarianten oder andere schriftlich fixierte Überlegungen dazu nicht überliefert sind. Bei den Eintragungen „I. Klasse“, „II. Klasse“ und „III. Klasse“ unterhalb des Titels handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen dreigliedrigen Strukturplan, wie er etwa auch in E5 vorliegt. Die drei Klassen dürften hier eine Anspielung auf Preisklassen einer Reise sein. E2 ist durch einen horizontalen Strich deutlich von E1 abgetrennt. In der hier festgehaltenen Notiz erklärt eine kettenrauchende Figur namens Peter, dass Europa keine Zukunft mehr habe und man deshalb „weg“ (E2/Bl. 3) müsse. Damit ist das Emigrations-Thema des Werkprojekts angesprochen. E2 wurde aber vermutlich noch vor Beginn der Eintragung von E3 wieder gestrichen. In E3 sind mehrere, nur lose zusammengehörige Notizen versammelt, die sich thematisch von den übrigen Arbeiten zu Adieu, Europa! abheben und vornehmlich den „Hass auf den Geist, auf den Intellekt“ (E3/Bl. 3v) thematisieren. In einem unbestimmten „Sie“ ist eine Gruppe angesprochen, die vor keiner „Niedertracht“ zurückschrecke, um „sich selber belügen zu können“. Diese habe der Welt eine „Ersatzreligion“ gegeben, ihr aber „Charme“ und „Schönheit“ genommen (E3/Bl. 3). Weitere Notizen beschäftigen sich mit der „hässlichste[n]“ Sprache, der Knechtschaft „aus Lust“ (ebd.), mit „grossen Männer[n] in Distanz zum Volk“, dem „Raubvolk“, dem „Hass gegen das Weibliche“ und Männern, die „heiraten die Hässlichen, um es sich abzugewöhnen“ (E3/Bl. 3v). Am Fuß von Bl. 3v notiert Horváth zuletzt eine Überlegung zur Entstehung dieser Geisteshaltung, die auf Adam und Eva zurückzuführen sei, die sich noch immer „Vorwürfe wegen der Vertreibung aus dem Paradies“ machen (ebd.). Vor allem die Notizen in E3 weisen einige Ähnlichkeit mit den Arbeiten zu Ein Kind unserer Zeit und Jugend ohne Gott auf, wo Geist- und Frauenfeindlichkeit, blinder Befehlsgehorsam und allgegenwärtiger Hass ebenfalls wesentlich die Atmosphäre der erzählten Welt sowie die verwendete Motivik bestimmen. Besonders anschaulich zeigt sich das auch am Bild von Adam und Eva am Fuß von E3/Bl. 3v, das in engem symbolischen Zusammenhang mit den biblischen Anspielungen in Jugend ohne Gott steht (vgl. dazu die Kapitel „Adam und Eva“ sowie „Vertrieben aus dem Paradies“ in WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 85–95 und S. 146–151).
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H2 = ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 211 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte E4 = Strukturplan in 4 Teilen mit Werktitel „Adieu, Europa!“ mit Notizen Druck als Faksimile in: Horváth Blätter 1/1983, S. 10.
Der Strukturplan E4 liegt auf einem Blatt im Folio-Format vor und ist gemeinsam mit dem übrigen Material vermutlich zwischen März und Mai 1938 entstanden (vgl. den Kommentar zu E1). Materiell handelt es sich um einen vermutlich aus einem Heft gelösten Bogen, den Horváth halbiert hat. Blätter dieser Sorte machen, mit Ausnahme von H1/E1 und der TS4 zugrunde liegenden Abschrift fremder Hand T1, den Großteil des Konvoluts zu Adieu, Europa! aus. Ein vollständiger, nicht halbierter Bogen dieser Papiersorte liegt noch im Fall von H9/E10 vor. Das vorliegende Blatt sowie BS 16 a, Bl. 7 (H3/E5–E7) lassen sich anhand ihrer noch gut erkennbaren Schnitt- bzw. Bruchkanten deutlich als Teile eines Bogens ausmachen, was das textlich zu erschließende genetische Naheverhältnis der Entwürfe auch materiell stützt. Unter dem Titel „Adieu, Europa!“ und der Gattungsbezeichnung Roman entwirft Horváth hier, anders als zuletzt in E1, eine Struktur in vier Teilen, die er mit einer Vielzahl von Notizen zur Handlung und zu wiederkehrenden Motiven versieht. Bedeutsam ist vor allem die Betitelung der einzelnen Teile, die hier jeweils „Emigration“ (zunächst „Weggehen“) bzw. im Falle des zweiten Teiles „Rückkehr“ lauten. Zur „erste[n] Emigration“ notiert Horváth, dass eine Welt „zusammengestürzt“ sei, weswegen man „ganz anders schreiben“ müsse. Hierin ist mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Anspielung auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 zu sehen. Ein erzählendes Ich fragt sich hier, ob es „Fehler“ gemacht habe, wobei der Satz: „Weil man es nicht für möglich gehalten hat, dass das kommt“ mittels Unterstreichung besonders hervorgehoben ist. Weitere Notizen sprechen von einer „verlorene[n] Braut“ und einer „zweite[n] Braut in der Emigration“, sowie dem „Hass auf die ehemaligen Freunde und die ehemaligen Ideen“, wozu später der „Durchfall der Première“ ergänzt wird. Der zweite Teil ist mit „Die Rückkehr“ betitelt, wozu Horváth mit „Figaro lässt sich scheiden“ den Titel seiner zwischen 1934 und 1936 entstandenen Komödie notiert (vgl. WA 8), in der Emigration und Rückkehr zentrale wie ambivalente Themen sind. Weitere Motive des zweiten Teiles betreffen die „Korruption“, einen „Brief“, eine „3. Braut“ und zuletzt ein „Wiedersehen mit der 1. Braut“. Zum dritten Teil, betitelt mit „Die zweite Emigration“, vermerkt Horváth mit „Das Cabaret“, „Die Schauspielschule“ und „Das Parlament“ drei Motive bzw. Handlungsorte. Weitere Anmerkungen legen nahe, dass dieser Teil von Geschehnissen am Theater handelt (vgl. auch die „Première“ im zweiten Teil). Der vierte Teil nennt zuletzt unter dem Titel „Die dritte Emigration“ allein den Romantitel: „Adieu, Europa!“ E4 weist eine Vielzahl von Einfällen und Motiven auf, die in den späteren Entwürfen wiederaufgenommen werden, etwa die „Première“ (vgl. E8–E10, in Form einer Filmvorführung auch in E5), das „Cabaret“ und den „Sommernachtstraum“ (vgl. E5), einen „Brief“ (bzw. mehrere, vgl. E5 und E8–E10) und die „Braut“ (vgl. E8–E10, als Braut des Irrenarztes). Transformiert, aber dennoch deutlich erkennbar fortgeführt wird das Grundthema der Emigration wie der „Rückkehr“ aufgrund politischer Verwerfungen, in E5 etwa mit den Kapiteln „Der Umsturz“ und „Bleibe im Land und nähre Dich redlich!“ (vgl. E5 und E8). Besonders hervorzuheben sind in E4 auch Horváths autobiographische Anspielungen sowie die impliziten wie ausdrücklichen Verweise auf frühere Werke (vgl. dazu
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das Vorwort). Vor dem Hintergrund von Horváths Biographie ist zum einen die Abfolge Emigration/Rückkehr/Emigration frappierend, entspricht dies doch dem erratischen Handeln des Autors nach 1933 (vgl. dazu ausführlich das Vorwort zu Hin und her, WA 6, S. 169–174). Nachdem Horváth Deutschland im April 1933 gemeinsam mit anderen AutorInnen verlassen hatte, kehrte er 1934, geschützt durch seine ungarische Staatsbürgerschaft, zurück, ließ sich in den gleichgeschalteten Reichsverband deutscher Schriftsteller aufnehmen und versuchte, im Berliner Filmbetrieb Fuß zu fassen. Er hat diesen Schritt später bereut, worauf hier auch das Motiv der „Korruption“ abzielen könnte. Erst Anfang 1935 verließ Horváth Deutschland endgültig, und zwar in Begleitung seiner Freundin, der Schauspielerin Wera Liessem, die er während seiner Arbeiten zum Film kennengelernt hatte und auf die womöglich mit der „3. Braut“ angespielt wird. Zum anderen ist die Erwähnung des Wolfgangsees und von Bad Ischl ein unmittelbarer Hinweis auf die eigenen Lebensumstände. Im Zuge seiner „erste[n] Emigration“ hielt sich Horváth, einem Zeugnis Alexander Lernet-Holenias zufolge, zunächst im oberösterreichischen Salzkammergut auf und traf laut Wiener Meldeunterlagen am 18. April 1933 von St. Wolfgang am Wolfgangsee kommend in Wien ein (vgl. dazu das Vorwort). Neben der expliziten Erwähnung von „Figaro lässt sich scheiden“ im zweiten Teil des Strukturplans liegen schließlich auch mehrere implizite Querverbindungen zu anderen Werken Horváths aus dieser Zeit vor. So ist die Abfolge verschiedener Bräute ein bestimmendes Merkmal des parallel zu Figaro läßt sich scheiden entstandenen Schauspiels Don Juan kommt aus dem Krieg. In diesem Stück ist Don Juan auch mit dem Schreiben eines Briefes befasst, ein ebenfalls in E4 hervorgehobenes Motiv. In den folgenden Entwürfen und Textstufen werden diese Querverbindungen weiter intensiviert und teils neu geknüpft. H3 = ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 211 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte E5 = Strukturplan in 3 Teilen mit Werktitel „Adieu, Europa!“ mit Notizen und Repliken (oben) E6 = Dialogskizze (mittig unten) E7 = Notiz (unten)
Die Entwürfe E5–E7 liegen wie der Großteil der Arbeiten zu Adieu, Europa! auf einem Blatt im Folio-Format vor, das durch die Halbierung eines vermutlich einem Heft entnommenen Bogens entstanden ist (vgl. den Kommentar zu E4). Das vorliegende Blatt gehörte ursprünglich zum selben Bogen wie H2/E4, wie anhand der gut erhaltenen Bruchkante zu erkennen ist, womit sich das genetische Naheverhältnis von E4 zu E5–E7 auch materiell belegen lässt. Wie die übrigen Arbeiten sind E5–E7 vermutlich während Horváths Aufenthalt in Teplitz-Schönau von März bis Mai 1938 entstanden (vgl. den Kommentar zu E1). In E5 gibt Horváth die markante Unterteilung des geplanten Textes in einzelne ‚Emigrationen‘ wieder auf und entscheidet sich zu einer Struktur in drei Teilen, wie sie auch in E1 vorliegt. Diese reichert er mit mehreren Notizen an, die teils auf E4 zurückgehende Motive, Einfälle und kurze Textausarbeitungen umfassen. Die hier mittels Unterstreichung hervorgehobenen Eintragungen dürften dabei eine erste Binnenstrukturierung der einzelnen Teile entlang tragender Motive bzw. Handlungsereignisse sein. Anders als in den vorangehenden Entwürfen hat Horváth den Titel „Adieu, Europa!“ nicht als Erstes eingetragen, wie sich aus der Platzierung in der
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rechten oberen Blattecke schließen lässt. Die Gruppierung der Notizen dort wiederum deutet darauf hin, dass Horváth zunächst den Strukturplan erstellt und den Titel eingetragen hat, um erst abschließend Ergänzungen vorzunehmen. Zum ersten Teil wurde zunächst „Der Erfolg“ und „Der Umsturz“ notiert und hierzu später „Neue Wellen“, „Der Irrenarzt“ und „Die drei Briefe“ ergänzt. „Neue Wellen“ bezeichnet das einzige textlich ausgearbeitete Kapitel von Adieu, Europa!, das postum in der Zeitschrift Maß und Wert abgedruckt wurde (vgl. TS5). Horváth erwähnt diesen Titel in E9 und E10 allerdings nicht mehr und hat ihn in TS3 sogar eindeutig wieder gestrichen, weshalb seine Verwendung für den Abdruck in Maß und Wert vermutlich nicht mehr seinen Absichten entsprochen hat. Mit „Der Umsturz“ nimmt E5 die „erste Emigration“ von E4 wieder auf, in der „[e]ine Welt […] zusammengestürzt“ (E4) ist. Auch „Die drei Briefe“, an deren Stelle Horváth zunächst nur „Der Brief“ geschrieben hat, gehen auf den vorangehenden Strukturplan zurück. Neu ist die Einfügung „Der Irrenarzt“. Die Figuren des Irrenarztes und seiner Braut tauchen in den Folgeentwürfen wiederholt auf und gehen auf einen um ein Irrenhaus gruppierten Motivkomplex aus den Vorarbeiten Die stille Revolution und Krieg ohne Kriegserklärung in der Werkgenese von Ein Kind unserer Zeit zurück (vgl. WA 16/VA1/E23, E24, TS14, TS15, E25, E26 und VA2/TS7). Der zweite Teil beinhaltet die Eintragungen „Bleibe im Land und nähre Dich redlich!“, „Der Film“ und „Der Durchfall des Filmes“; dazu ergänzt Horváth später „Der geisteskranke Führer“, „Der verschweinste Fortschritt“ und „Der Empfang des Filmmannes zu Ehren der Göttin der Kunst“. Die Einträge „Bleibe im Land und nähre Dich redlich!“ und „Der Durchfall des Filmes“ nehmen Elemente aus dem zweiten Teil von E4, „Die Rückkehr“ bzw. „Der Durchfall der Première“, wieder auf. „Der geisteskranke Führer“ wiederum verweist auf den Motivkomplex des Irrenhauses in Ein Kind unserer Zeit zurück (vgl. oben). Dort hielt Horváth eine kurze Handlungsfolge fest, in der ein Geisteskranker zunächst eine politische Position erringt, dann aber hospitalisiert wird, wieder freikommt und schließlich mit dem echten Führer verwechselt wird, den man nun für einen „Irrsinnigen“ hält (WA 16/VA1/E26). Die „Göttin der Kunst“, die in E5 erstmals in der Genese von Adieu, Europa! erwähnt wird, steht möglicherweise in Zusammenhang mit Überlegungen zu einem Roman mit dem Titel „Das Ende der Kunst“, den Horváth ursprünglich nach Ein Kind unserer Zeit erarbeiten wollte (vgl. die einleitenden Anmerkungen zu Adieu, Europa!). Als Figur taucht sie neuerlich in den Entwürfen E7–E10 auf und wird dort mit der Handlung im Irrenhaus verbunden. Der dritte Teil des Strukturplans E5 hebt die Eintragungen „Cabaret“, „Der ‚Sommernachtstraum‘“ und „Engagment nach U.S.A.“ hervor. Während die ersten beiden Motive des dritten Teiles von E4 aufgreifen, spezifiziert Letzterer die Reichweite der dort im vierten Teil vermerkten „dritte[n] Emigration“, die den Protagonisten über den Atlantik führen soll. Zugleich ist darin eine der Keimzellen für die Vermutung zu sehen, Horváth selbst habe eine Emigration in die USA erwogen, was aufgrund der autobiographischen Faktur des Werkprojekts zumindest plausibel scheint. Abseits einiger wesentlich später festgehaltenen Erinnerungen von Freunden Horváths lässt sich ein tatsächliches Emigrationsvorhaben Horváths aber nicht belegen. Ein neuerliches autobiographisches Einsprengsel findet sich indes in der Eintragung „Das Mädel hat Erfolg wegen des Kusses im Kongress“ zum „Sommernachtstraum“, die wohl auch an den Eintrag „Parlament“ in E4 anknüpft. Während seiner Zeit im Berliner Filmbetrieb berichtet Horváth seinem Freund Hans Geiringer über ein an der Zensur gescheitertes Film- bzw. Drehbuchprojekt: „Den ‚Kuss im Parlament‘ hat er verboten,
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in Deutschland ist also damit nichtsmehr zu machen. Vielleicht übernimmt ihn die amerikanische Fox, aber das ist nur sehr vielleicht!!“ (Brief Horváths an Hans Geiringer, Berlin, 16. September 1934, zit. nach einer Kopie in ÖLA 84/S 58). Die Handlung des „Kusses im Kongress“, bei dem es sich wohl um einen Film handelt, steht somit im (autobiograhischen) Kontext von Horváths opportunistischer Anbiederung an den NS-Filmbetrieb, wie sie schon in der „Korruption“ (E4) und den Anmerkungen zum „Durchfall des Films“ im zweiten Teil von E5 angeklungen sind. Auch spätere Entwürfe nehmen diese Themata von Opportunismus und (politischer) Anbiederung im Zusammenhang mit Film- und Theaterprojekten wieder auf (vgl. E8–E10). Weitere Ergänzungen zum dritten Teil von E5 betreffen das „Cabaret“, währenddessen „die grössten Greuel“ geschehen sollen, und „Witze gegen das System“, die zu einer „Verhaftung“ und dem „Tod des Verhafteten“ führen. Zu Letzterem notiert Horváth explizit „Die stille Revolution“, eine Vorarbeit von Ein Kind unserer Zeit, in der auch die hier wiederaufgenommenen Handlungsfäden um den Irrenarzt ihren Ursprung haben (vgl. WA 16/VA1), und stellt so den Konnex zwischen beiden Werkprojekten explizit her. Im Umfeld der Handlung des „Kusses im Kongress“ soll auch eine neuerliche Begegnung mit der „Göttin der Kunst“ stattfinden, die sich selbst aber als „auch nicht so wichtig“ darstellt. Bei E6 wie E7 handelt es sich um separate Notizen, wie ihre jeweilige Abtrennung mittels Strukturierungszeichen zeigt. In E6 ist eine Dialogskizze zwischen der „Jugend“ und einem „Ältere[n]“ festgehalten. Die „Jugend“ spricht darin über einen Dritten und behauptet, er habe nur „Kampf, aber keine Enttäuschungen erlebt“. Der „Ältere“ denkt daraufhin: „Wirst Du mich verstehen?“ Überraschend ist hier die dramatische Form, wie sie an der Verwendung einer Regieanweisung („betrachtet ihn und denkt“) für die unausgesprochene Antwort zu erkennen ist. Die Dialogskizze hat keinen erkennbaren Bezug zu den bisherigen Entwürfen von Adieu, Europa! und wird auch später nicht wiederaufgenommen. Eventuell überlegte Horváth hier, in dieses Werkprojekt einen Vater-Sohn-Konflikt ähnlich dem von Ein Kind unserer Zeit zu integrieren (vgl. WA 16). Die Notiz E7 beschreibt einen Jungen, „der mit verbissener Würde frisst“ und für seine tanzende Schwester „die Zwangsjacke anempfiehlt“. Eine Ergänzung hierzu nennt ein „kleines Mädchen, das die Göttin der Kunst küsste“. Damit steht E7 in einem deutlichen Naheverhältnis zur Handlung um die „Göttin der Kunst“ und den „Irrenarzt“, wie sie in E5 eingeführt wurde. Spätere Entwürfe greifen diese Motive indes nicht mehr auf. H4 = ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 211 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte E8 = Strukturplan in 2 Teilen mit Notizen und Repliken
E8 liegt wie ein Großteil des Materials zu Adieu, Europa! auf einem Blatt im FolioFormat vor, das durch die Halbierung von vermutlich einem Heft entnommenen Bögen entstanden ist (vgl. den Kommentar zu E4). Der Entwurf ist mit den übrigen Arbeiten zu diesem Werkprojekt während Horváths Aufenthalt in Teplitz-Schönau zwischen März und Mai 1938 entstanden (vgl. dazu die einführenden Anmerkungen zu Adieu, Europa!). Mit E8 liegt ein sehr ausführlicher Strukturplan in zwei Teilen mit zahlreichen Notizen und Repliken vor, in den Horváth, abweichend von den übrigen Entwürfen, keinen Titel eingefügt hat. Der Strukturplan schließt strukturell wie motivisch eindeu-
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tig an Ideen an, die bereits in E5 entwickelt worden sind, bringt sie teils in eine neue Abfolge und fügt eine Vielzahl neuer Einfälle hinzu. Die genetische Abfolge von E5 zu E8 lässt sich insbesondere an der Eintragung von „Neue Wellen“ am Beginn des ersten Teiles von E8 belegen, in E5 wurde dieses Kapitel noch nachträglich hinzugefügt. Da E8 mit E5 in enger Verbindung steht, aber nur über zwei Teile verfügt, handelt es sich wohl nur um eine teilweise Weiterbearbeitung. Möglicherweise haben aber ursprünglich weitere Blätter vorgelegen, die verloren gegangen sind, der Abschluss am Fuß des Blattes ist in dieser Hinsicht uneindeutig. Erstmals in der Genese des Werkprojekts verwendet Horváth in E8 Nummerierungen für die Binnenstruktur der einzelnen Teile, womit präzisere Aussagen über die geplanten Handlungsabfolgen möglich sind. Teil 1 wurde mehrfach überarbeitet, zuletzt liegen acht Kapitel vor, wobei die Nummerierung 4 zweimal vergeben wurde: „Neue Wellen“, „Beim Verleger“, „Der Brief aus dem Irrenhaus“, „Die grosse Première. Der Erfolg“, „Der Irrenarzt“, „Der Irrenarzt und seine Braut“, „Der Umsturz“ und „Der Tod des Irrenarztes“. Gestrichen, wieder gültig gesetzt und schließlich neuerlich gestrichen wurde die als zweites Kapitel vorgesehene Eintragung „Das Verbot – was nicht sein darf!“. Ein sechstes Kapitel „Die grosse Première“, die ein „Durchfall“ hätte sein sollen, wurde ebenfalls gestrichen und wurde vermutlich durch das neu eingefügte zweite Kapitel mit der Nummer vier, „Die grosse Première. Der Erfolg“, abgelöst; das Motiv des „Durchfall[s]“ wandert in eine Ergänzung zum siebenten Kapitel „Der Umsturz“, wo ein „Durchfall des Filmes“ erwähnt wird. Mehrere Motive und Handlungsfäden aus E5 sind in dieser Kapitelfolge wiederaufgenommen. In dem neu hinzugefügten Kapitel „Beim Verleger“ sowie dem nach „Neue Wellen“ eingefügten Handlungsort „Beisel“ kommen die Fragen nach einem neuen Schreiben bzw. die Selbstreflexion des schriftstellernden Protagonisten wieder auf, wie sie in E4 angeklungen sind. Während es beim Verleger um die „Annahme des ersten Stückes“ und die „Liebe zur Primadonna“ geht, fragt sich im „Beisel“ das erzählende Ich: „Für wen schreibe ich?“ Die hier angeführte Figur der Kellnerin weist möglicherweise zurück auf Horváths ersten Roman, Der ewige Spießer, der von Überlegungen zu einem Roman einer Kellnerin (vgl. WA 14/K1) seinen Ausgang nahm. Kellnerinnen-Figuren spielen aber auch in der in E4 explizit erwähnten Komödie Figaro läßt sich scheiden, wo Susanne als Kellnerin in Cherubins Bar arbeitet, und mit der Figur Leni im Schauspiel Der jüngste Tag in späteren Stücken wichtige (Neben-)Rollen. Die Handlung rund um den „Irrenarzt“, die sich auf die Vorarbeit Die stille Revolution von Ein Kind unserer Zeit zurückverfolgen lässt (WA 16/VA1; vgl. den Kommentar zu E5), baut Horváth wesentlich aus. So stammen die „drei Briefe“ aus E5 nun von einem Insassen des Irrenhauses und werden als „Warnung“ verstanden. Der Protagonist trifft hier auf den Irrenarzt und spricht mit ihm über „etwas Grosses“, „Revolution“, „Wahnsinn“ und „Verbrechen“. Nach dem „Umsturz“ begeht der Arzt schließlich „Selbstmord mit seiner Braut“. Weitere Ergänzungen betreffen eine „Studentin als Gärtnerin“ im Kapitel „Der Irrenarzt“ und ein Gespräch mit einem „Regisseur beim 6-Tage-Rennen“ im Kapitel „Der Umsturz“, wo auch der „Durchfall des Filmes“ geschehen soll. In einem „Filmatelier“ ist schließlich wieder die „Göttin der Kunst“ (vgl. E5, E7, E9 und E10) vorgesehen. Verschiedene Anmerkungen verknüpfen hier, wie die Führung der Anschlusspfeile auf dem Blatt zeigt, dieses Kapitel mit den knappen Anmerkungen zum zweiten Teil. Der zweite Teil ist nur kurz ausgearbeitet, was auch auf mögliche Materialverluste hindeuten könnte (vgl. oben). Er trägt wie in E5 den Titel „Bleibe im Lande und
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nähre Dich redlich!“ und geht vermutlich auf den zweiten Teil des Strukturplans E4 „Die Rückkehr“ zurück. Hier werden, in Anspielung auf den biblischen Verrat Jesu durch Judas, „30 Silberlinge“ erwähnt, was zu einem „Verrat, der aber nichts nützt“ führt. Zuletzt ist die „Gattin des ehemaligen Ministers“ vorgesehen, wozu Horváth „Emigrant aus Liebe“ ergänzt. Hierin ist möglicherweise wieder eine Querverbindung zu Figaro läßt sich scheiden zu sehen, wo sich Figaro als „Emigrant aus ehelicher Treue“ (WA 8/K4/TS3/SB Max Pfeffer 1936, S. 23) bzw. „aus Liebe“ (ebd./SB Max Pfeffer 1936, S. 50) darstellt. H5 = ÖLA 3/W 320 – BS 16 c [1], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (339 × 211 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte, Paginierung 1, 2 TS1 = fragm. Fassung des I. Kapitels mit Kapiteltitel „Neue Wellen“ (Korrekturschicht)
TS1 liegt wie ein Großteil des Materials zu Adieu, Europa! auf Blättern im Folio-Format vor, die durch die Halbierung von vermutlich einem Heft entnommenen Bögen entstanden sind (vgl. den Kommentar zu E4). Die Textstufe ist mit den übrigen Arbeiten des Werkprojekts während Horváths Aufenthalt in Teplitz-Schönau zwischen März und Mai 1938 entstanden. Lydia Busch, seine Gastgeberin, erwähnte in einer Erinnerung an diese Zeit, dass ihr Horváth einige Sätze über ein Schiff vorgelesen habe, wobei es sich mit einiger Sicherheit um die in TS1 entwickelte und in TS2 übernommene Passage vom „Boot“ „mit schwarzen Segeln“ gehandelt hat (TS1/BS 16 a, Bl. 1 und TS2/BS 16 a, Bl. 4; vgl. dazu die einführenden Anmerkungen zu Adieu, Europa!). In TS1 wendet sich Horváth erstmals einer umfänglichen textlichen Ausarbeitung seines Stoffes zu und erarbeitet eine fragmentarische Fassung des ersten Kapitels mit dem Titel „Neue Wellen“. Die genetische Einordnung der Textstufe ergibt sich zum einen aus der Verwendung des Titels, der erstmals in E5 belegt ist und spätestens mit E8 definitiv am Beginn des Romans steht. Den Titel „Neue Wellen“ hat Horváth in TS2 bereits wieder gestrichen, auch kommt er in E9 und E10 nicht mehr vor, wohl aber wird dort auf die in TS1 und TS2 gestaltete Szenerie am Meer eingegangen. E9 und E10 nennen stattdessen „Die Entstehung des neuen Stückes“ (E9) bzw. „Schwankende Gestalten“ (E10) als Beginn des Romans. Vor allem in E10 fügt Horváth anstelle von Notizen zum Beginn nur eine knappe Nummerierung ein, die darauf hindeutet, dass hier bereits ausgearbeiteter Text vorgelegen hat (vgl. den Kommentar dort). Nachträglich hat Horváth in TS1 schließlich über den Kapiteltitel „I. Teil“ (TS1/Bl. 1) eingefügt, was ebenfalls für ein genetisches Naheverhältnis zwischen E5 bzw. E8 und TS1 spricht, da in E9 und E10 auf eine Gliederung in übergreifende Teile zugunsten ausführlicherer Einzelkapitel verzichtet wird. TS1 evoziert eine Schreibsituation, die vom Rauschen des Meeres leitmotivisch durchzogen wird: „Während ich schreibe, höre ich draussen das Meer“ (TS1/Bl. 1). Ein Ich-Erzähler, bei dem es sich um einen Schriftsteller handelt, hat sich in das Haus eines Fischers am Meer eingemietet. Ihm gehört nur, was er anhat, ein Koffer und „eine alte Reiseschreibmaschine“ (ebd.), und ihn plagen Geldsorgen. Sein Vermieter sei ein „braver Mann“ (ebd.), der sich freut, wenn man sich nach seiner Gicht erkundigt. Die hier ausgearbeitete Szene erinnert in Einigem an Arbeiten Horváths unter dem Titel Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit, die eine der Vorarbeiten zu Jugend ohne Gott bilden (vgl. WA 15/VA2). Der Schriftsteller räsoniert weiter über seine Zukunftsaussichten, beobachtet dabei das Meer und berichtet von einem am
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Meer verschollenen Boot, das er als wiedergängerisches Gespensterschiff imaginiert (vgl. hierzu die Auskunft von Lydia Busch oben). Für seinen Lebensunterhalt schreibt er Feuilletons für eine Frauenzeitschrift um einen „lächerlichen Betrag“, außerdem „ist alles gelogen“ (TS1/Bl. 2). In einer nur schwierig in den Textverlauf zu integrierenden Ergänzung merkt Horváth hier „Frauentypen für den Mittelstand“ an, bei der erwähnten „Marie Claire“ handelt es sich um die 1937 in Paris gegründete Frauen- und Modezeitschrift. Deren „Werdegang“ (ebd.) sollte in einem zweiten Kapitel behandelt werden, in den übrigen Entwürfen und Textstufen finden sich indes keine Hinweise dazu. Der Schriftsteller ist „nichtmehr zuhaus“ (TS1/Bl. 2) und gibt sich als Emigrant zu erkennen, dessen Feuilletons übersetzt werden müssen, da er die lokale Sprache nicht spricht. Früher war er „mal eine angehende Hoffnung“, ein erstes Stück war ein „grosser literarischer Erfolg, das zweite kam nichtmehr, es war aus, Revolte“ (ebd., vgl. die Anmerkungen zu „Erfolg“, „Durchfall“ und „Umsturz“ in E5 und E8). Er musste „weg von zuhaus“, obwohl er nie „politisiert“ habe und nur für das „Recht der Kreatur“ (TS1/Bl. 2) eingetreten sei. Mit einer neuerlichen Beschreibung des leitmotivischen Meeresrauschens bricht Horváth die Bearbeitung schließlich ab. Der hier entwickelten Text geht in die teilweise Reinschrift TS2 ein. H6 = ÖLA 3/W 321 – BS 16 c [2], Bl. 1–4 Insgesamt 4 Blatt, davon 2 Blatt unliniertes Papier (210 × 171 mm), geviertelter Bogen, 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 211 mm), halbierter Bogen, 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 210 mm), schwarzblaue Tinte, Paginierung 1–4 TS2 = Fassung mit gestrichenem Titel „Neue Wellen“ (Korrekturschicht) Druck in: Horváth Blätter 1/1983, S. 7f.
TS2 liegt wie ein Großteil des Materials zu Adieu, Europa! auf Blättern im Folio-Format vor, die durch die Halbierung von vermutlich einem Heft entnommenen Bögen entstanden sind (vgl. den Kommentar zu E4). Abweichend davon hat Horváth hier ein Blatt weiter geteilt und den Beginn von TS2 auf den so entstandenen geviertelten Blättern eingetragen (Bl. 1 und Bl. 2). Die Textstufe ist mit den übrigen Arbeiten des Werkprojekts während Horváths Aufenthalt in Teplitz-Schönau zwischen März und Mai 1938 entstanden. Eventuell hat es sich bei TS2 (bzw. TS1) um den Text gehandelt, den Horváth seiner Gastgeberin Lydia Busch vorgetragen hat (vgl. den Kommentar zu TS1 und die Einleitung oben). Mit TS2 liegt eine abgeschlossene Fassung vor, wie sich anhand der Strukturzeichen auf Bl. 4 erkennen lässt. Besonders auffällig ist, dass der hier von Horváth zunächst noch eingetragene Titel „Neue Wellen“ später gestrichen wurde. Sowohl in E9 als auch E10 findet er ebenfalls keine Verwendung mehr, weshalb es sich beim postumen Abdruck in TS5 unter dem Titel „Neue Wellen“ möglicherweise um eine zumindest in ihrer Betitelung von fremder Hand veränderte Fassung handelt (vgl. den Kommentar zu TS4 und TS5). TS2 basiert textlich eindeutig auf TS1, wie insbesondere die Umsetzung einer dort befindlichen umfangreichen Einfügung gleich zu Beginn der Textstufe erkennen lässt. Horváth lässt das grundlegende Setting eines Schriftstellers am Meer in TS2 gleich, ändert aber mehrere wesentliche Details. Beim Beginn des Textes, der Passage vom verschollenen „Boot“, das als Gespensterschiff „mit schwarzen Segeln“ (TS2/Bl. 4) imaginiert wird, und weiteren kleineren Textteilen handelt es sich um eine Reinschrift des bereits entwickelten Textes von TS1. Die Pas-
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sagen über den Vermieter indes sind stark gerafft, und anstelle der Reflexionen über den Geldmangel tritt als erste größere Veränderung gegenüber TS1 die Freude des Schriftstellers über einen jüngst abgeschlossenen „Vertrag“ mit einem der „grössten Verleger“ (TS2/Bl. 2), der ihm ein knappes Auslangen ermöglicht (vgl. E8). Der Erzähler arbeitet nun nicht mehr an einem Feuilleton, sondern an einem Theaterstück (vgl. E8–E10), weiß aber noch nicht, ob es „ein Trauerspiel werden soll oder ein Lustspiel“ (TS2/Bl. 2). Anschließend erinnert er sich an seinen ersten Erfolg, den er mit einer „Dilettanten-Truppe“ während seines Universitätsstudiums hatte. Dieses hat er mittlerweile aufgegeben, um sich ganz dem Stückeschreiben widmen zu können. Anders als in TS1 handelt es sich hier also nicht mehr um einen Emigranten, der sich nach seiner Flucht ans Meer an vergangene Zeiten erinnert, sondern um einen jungen Schriftsteller, der sich in einem Land befindet, in dem alles „verboten“ ist (BS 16 c [2], Bl. 3). H7 = ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (335 × 207 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte E9 = Strukturplan in 3 Kapiteln mit Werktitel „Adieu, Europa!“ mit Notizen und Repliken
E9 liegt auf einem etwas kleineren Blatt als der Großteil des Konvoluts zu Adieu, Europa! vor (vgl. den Kommentar zu E4). Da das Papier jedoch dieselbe Qualität hat und es sich dabei ebenfalls um einen halbierten, wohl einem Heft entnommenen Bogen handelt, dürften die abweichenden Abmessungen von BS 16 a, Bl. 1 wohl allein der Abnutzung der Blattränder im Lauf der Zeit geschuldet sein. Gemeinsam mit den anderen Arbeiten zum Werkprojekt ist E9 zwischen März und Mai 1938 während Horváths Aufenthalt in Teplitz-Schönau entstanden (vgl. den Kommentar zu E1). Neuerlich unter dem Titel „Adieu, Europa!“ und der Gattungsbezeichnung „Roman“ (vgl. E1, E4 und E5, abweichend aber E8) entwirft Horváth in E9 einen Strukturplan in zunächst vier, dann drei Kapiteln, wobei er die zuvor etablierte Struktur in übergeordneten Teilen (vgl. E8) nicht übernimmt. Fixiert werden die Kapitel „Schwankende Gestalten“, „Die Première“ und „Der Umsturz“, das zuvor als drittes Kapitel geplante „Irrenhaus“ geht im zweiten Kapitel auf. Zahlreiche der hier verwendeten Motive und Einfälle gehen auf E5 und E8 zurück, sind aber neuerlich starken Veränderungen unterworfen. Beim ersten Kapitel „Schwankende Gestalten“, wohl eine Anspielung auf die Zueignung aus Goethes Faust, fällt der Verzicht auf die Eintragung „Neue Wellen“ auf, die in TS2 nachträglich als Titel gestrichen wurde. Zwar bleibt das in TS1 entwickelte Setting am Meer bestehen, eine Vielzahl von Ergänzungen weist aber auf die bereits in TS2 bemerkbaren Änderungen hin. Mit der Eintragung „1.) – 20.)“ gleich zu Beginn markiert Horváth vermutlich bereits bestehenden Text, jedoch lassen TS1 bzw. TS2 keine entsprechende Nummerierung erkennen. Anstelle der Geschichte einer Emigration wie in TS1, handelt es sich in E9 in Übereinstimmung mit TS2 vornehmlich um die Entwicklung eines Schriftstellers, der ein „Stück über die Not der Fischer“ verfasst. Dabei stellt sich dieser die „gymnasiastische Frage: warum diese ganze Kunst? Wozu?“, mit der das Werkprojekt wieder näher an Horváths früheres Konzept eines Romans mit dem Titel „Das Ende der Kunst“ zu rücken scheint (vgl. die einführenden Anmerkungen zu Adieu, Europa!). Zugleich scheint Horváth die Erzählperspektive zu ändern, da in E9 und auch in E10 der Schriftsteller konsequent in der dritten Person referiert wird. Eventuell handelt es sich bei dem im dritten Kapitel er-
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Werkprojekte Prosa
wähnten „Hadschi“ um dessen Figurennamen. Weiters sind verschiedene Nebenhandlungsstränge notiert, etwa ein „Gespräch mit dem alten Fischer, über die alte Zeit“ (vgl. den Vermieter in TS1 und TS2), das in einem „Beisel“ (vgl. E8) stattfinden soll. Dort tritt auch ein „Taucher“ auf, der eine „Mischung zwischen Köhler Ludwig und Heinrich Rambold“ sein soll. Heinrich Rambold (1872–1949) war ein Hinterglasmaler aus dem oberbayerischen Murnau am Staffelsee, das bis 1933 Horváths bevorzugter Wohnort war. Weitere Eintragungen betreffen „Blödsinn am Stammtisch“ und „Das Mädchen im Dorf“. Diese wird mit einer „Vertreterin“ in Zusammenhang gebracht, der gegenüber der Schriftsteller sich gemein benimmt, daraufhin aber eine „zarte Liebesszene“ schreibt. Sobald diese später gelobt wird, „fällt ihm die Vertreterin ein und die abgetretenen Absätze“. Zum „Stück über die Not der Fischer“ notiert Horváth: „Man hat damals alles vom Klassenkampf aus geschrieben, aber ich setze das Meer ein, die Naturgewalten.“ Unter Umständen liegt hierin eine Anspielung an Horváths erstes Stück, Revolte auf Côte 3018 (1927) bzw. dessen Neufassung Die Bergbahn (1928), vor, in der ein von den Naturgewalten des Gebirges konterkarierter Klassenkampf das Substrat des dramatischen Konflikts bildet. Nachdem das Stück beendet ist, folgt im zweiten Kapitel die „Première“, wo das Stück aber durchfällt (vgl. demgegenüber „Die grosse Première“ und ihren „Erfolg“ in E8). Dennoch findet danach ein „Fest“ statt. Hierzu ergänzt ist auch ein weiteres Stück, das einen „manischen Kaufmann, der die grossen Geschäfte macht“ thematisieren soll. Darauf folgt die aus den Überlegungen von E8 bekannte Handlung im „Irrenhaus“, aus dem jemand Briefe schreibt. Dieser Teil der Handlung war zunächst als eigenes Kapitel gedacht, wurde dann aber in das zweite Kapitel integriert. Mittels Pfeil verschiebt Horváth hier etwa auch den ersten Brief in die Probenzeit der durchgefallenen „Première“. Der Schriftsteller trifft auf den „Irrenarzt und seine Braut“ und führt dort ein Gespräch über „Wahnsinn und Verbrechen“, womit in E8 entwickelte Figuren und Motive aufgegriffen werden. Hier tritt auch die „Göttin der Kunst“ in Erscheinung, die erstmals in E5 notiert wurde (vgl. auch E8). Im dritten Kapitel findet schließlich der „Umsturz“ statt (vgl. E5 und E8). Hier soll eine Figur namens „Hadschi“ zum Film kommen, was Horváth aber wieder streicht. Eventuell handelt es sich dabei um den Namen des Schriftstellers, da in E9 erstmals eine personale Erzählperspektive erprobt wird (vgl. die Anmerkungen oben). In einem „Atelier“ (vgl. das „Filmatelier“ in E8) überredet ihn eine Frau zu bleiben, durch die er auch „zum Film“ gelangt. Er trifft dort auf einen „Filmautor“, der sich beklagt, dass alle, „die erstklassig waren“, im Zuge des Umsturzes vertrieben worden sind. Horváth spielt damit wohl auf den Exodus der Kulturschaffenden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 an. Schließlich sollen der „Taucher und der Stammtisch“ aus dem ersten Kapitel in der Stadt eintreffen. Daran anschließende Eintragungen zum weiteren Ablauf des Romans liegen nicht vor. Die in E9 entwickelte Struktur übernimmt Horváth fast vollständig in E10. Der Bearbeitungsstand in E9 verdeutlicht die starken Veränderungen, denen das Werkprojekt seit E4 unterworfen ist. Die in der Werkgenese zunächst feststellbaren autobiographischen Einsprengsel treten sukkzessive zurück, wenngleich sich einige Elemente aus E9, etwa das klassenkämpferische Stück „Über die Not der Fischer“, vor diesem Hintergrund weiterhin autobiographisch deuten lassen bzw. im Falle der Erwähnung Heinrich Rambolds eindeutig auf Horváths Biographie rekurrieren. Allerdings entspricht dieses Schreibverfahren durchaus dem anderer Werkprojekte. Ausgehend von einer vermutlich autobiographisch grundierten Episode entwickelt Horváth
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Chronologisches Verzeichnis
etwa das Sujet seines Kurzprosatextes Aus der Stille in die Stadt, in dessen Werkgenese sich gleichermaßen zunehmende Literarisierungsstrategien beobachten lassen (vgl. ET20). Ähnliche Verfahrensweisen liegen auch in den (Reise-)Berichten aus Bayern und Tirol vor, die größtenteils zwischen 1928 und 1930 im Berliner Tageblatt erschienen sind (vgl. ET10–ET14 und ET18). Eine vergleichbare Hereinnahme von Horváth bekannten Personen als Ausgangspunkt einer Figurenentwicklung wiederum liegt exemplarisch im Roman einer Kellnerin, der frühesten Konzeption des späteren Romans Der ewige Spießer, vor. Dort notiert der Autor in verschiedenen Strukturplänen Namen von Personen und Gaststätten in Murnau am Staffelsee als Figuren und Schauplätze seines Romankonzepts (vgl. etwa WA 14/K1/E8 und E9). H8 = ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (339 × 211 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte TS3 = fragm. Fassung zweier Kapitel (Korrekturschicht)
TS3 liegt wie ein Großteil des Materials zu Adieu, Europa! auf einem Blatt im FolioFormat vor, das durch die Halbierung von vermutlich einem Heft entnommenen Bögen entstanden ist (vgl. den Kommentar zu E4). Die Textstufe ist mit den übrigen Arbeiten des Werkprojekts während Horváths Aufenthalt in Teplitz-Schönau zwischen März und Mai 1938 entstanden. Die Einordnung von TS3 an dieser Stelle der genetischen Reihe ist unsicher und lässt sich nur auf wenige Indizien gründen. In der enthaltenen fragmentarischen Fassung sind ein zweites bzw. drittes Kapitel notiert, die die Titel „Der Brief einer Wahnsinnigen“ und „Besuch in der Irrenanstalt“ tragen, was in dieser Form auf E8 bzw. E9 zurückgeht. Ausführungen bzw. Anmerkungen zu einem ersten Kapitel liegen nicht vor, möglicherweise sollte der Text an „Neue Wellen“ (vgl. TS1 und TS2) anschließen. Am ehesten entspricht die Aufteilung der Kapitel noch dem Strukturplan E9, wofür auch die nachträgliche Hinzufügung von „III.“ sprechen würde, da in E9 der Besuch im „Irrenhaus“ zunächst als drittes Kapitel vorgesehen war. Gegen einen unmittelbaren Bezug spricht allerdings die in TS3 vorherrschende Ich-Erzählform, die in E9 bereits in eine personale Perspektive transformiert wurde. Im Kapitel „Brief einer Wahnsinnigen“ reflektiert ein Ich-Erzähler über die Phrase „als wär es gestern gewesen“, die er als „dummes Wor[t]“ aber wieder zurückweist. Er erinnert sich nur noch an „etwas, das gewesen ist“, aber „nichtmehr wiederkommt“. Dabei handelt es sich um den Brief, der mit einer Figur namens „Ingeborg“ in Zusammenhang steht, bei der es sich um die anschließend erwähnte „Irrsinnige“ handeln dürfte (vgl. „Brief aus dem Irrenhaus“ in E8). Der Erzähler zeigt den Brief Freunden, die über den Brief lachen. Zum dritten Kapitel notiert Horváth nur den Titel „Der Besuch im Irrenhaus“ und bricht die Ausarbeitung danach ab. H9 = ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (335 × 414 mm), gefaltet, schwarzblaue Tinte E10 = Strukturplan in 3 Teilen mit Werktitel „Adieu, Europa!“ mit Notizen
Während ein Großteil des Materials zu Adieu, Europa! auf Blättern im Folio-Format vorliegt, die durch die Halbierung vermutlich einem Heft entnommener Bögen entstanden sind, liegt im Falle von E10 ein unversehrter Bogen dieser Papiersorte vor (vgl. den Kommentar zu E4). E10 wurde dabei auf der Vorderseite des gefalteten Bogens eingetragen, die restlichen Seiten sind unbeschrieben. Gemeinsam mit den
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Werkprojekte Prosa
übrigen Arbeiten zu diesem Werkprojekt ist E10 während Horváths Aufenthalt in Teplitz-Schönau zwischen März und Mai 1938 entstanden (vgl. den Kommentar zu E1). E10 ist mit einiger Sicherheit die letzte überlieferte literarische Arbeit von Horváths Hand vor seinem Tod in Paris am 1. Juni 1938. Das Original der Ende 1938 in Maß und Wert abgedruckten und womöglich erst nach E10 entstandenen Textstufe des vermuteten Anfangskapitels ist verloren gegangen (vgl. TS4 und TS5). In E10 nimmt Horváth die in E9 entwickelte Struktur in drei Kapiteln wieder auf, die hier nicht mit römischen Ziffern, sondern mit Buchstaben bezeichnet sind. Unverändert bleibt der Romantitel: „Adieu, Europa!“ Im ersten Kapitel vertauscht er die Betitelung aus E9 mit deren dortiger Ergänzung, sie lautet hier „Die Entstehung des neuen Stückes“; „Schwankende Gestalten“ steht dahinter in Klammern. Das Folgekapitel ist zu „Die erste Première“ erweitert, das dritte lautet wie schon in E9 „Der Umsturz“. Die Notizen zu „Die Entstehung des neuen Stückes“ sind sehr knapp. Hier vermerkt Horváth nur „1.) –27.)“, womit er vermutlich auf bereits bestehenden Text verweist (vgl. auch „1.) –20.)“ in E9), und den Titel des Stückes, „Die Not der Fischer“ (vgl. E9), den er um die Anmerkung „Das Mitleid, das Mitgefühl“ ergänzt. Zum zweiten Kapitel „Die erste Première“ (vgl. E8 und E9) sind die Notizen weit ausführlicher und verändern neuerlich die geplante Handlung. So soll das Stück kein „Durchfall“ (E9) mehr werden, es wird stattdessen ein „Überraschungserfolg“, jedoch „niemand hält was von dem Stück“. Dann treffen die drei Briefe (vgl. E4, E5, E8 und E9) ein, in denen der Absender fordert, der Schriftsteller solle „was gegen den Krieg“ schreiben. Im „Irrenhaus“ findet wie in E9 vorgesehen eine Begegnung mit der „Göttin der Kunst“ statt. Hier schlägt der Irrenarzt auf Anregung seiner Braut dem Schriftsteller eine Idee für ein Stück vor, „ein Lustspiel aus dem Irrenhaus“. Das dann entstehende Stück mit dem Titel „Der manische Grosskapitalist“ geht auf die Notiz „Der manische Kaufmann“ von E9 zurück und gerät nun zum „Durchfall“, nach dem wieder ein „Fest“ stattfinden soll. Das Kapitel „Der Umsturz“ (vgl. E5, E8 und E9) zeigt den Schriftsteller nun auf einem Faschingsfest, wo er eine Frau kennenlernt, die ihn mit einem „Filmproduzent[en]“ in Verbindung bringt. Die „Aufnahmen zu einem vaterländischen Film in den Bergen“, ein seit den 1920er-Jahren beliebtes Genre, das auch in der NS-Filmindustrie gepflegt wurde, werden „gestört“. Hier erfolgt ein überraschender Wechsel zurück in die IchPerspektive: Der Erzähler kommt sich vor „wie ein Lustmörder, so wichtig hab ich mich genommen, mein Leid“. Die Frau indessen „spielt eine Rolle trotz ehrlicher Liebe“. Insbesondere dieser Abschnitt ist in der Forschung als autobiographische Episode hervorgehoben worden: So berichtete Hertha Pauli von einem rauschenden Faschingsfest 1933, auf dem Horváth auch mit der jungen Schauspielerin Marianne Hoppe in Kontakt kam. Diese begleitete er zu den Filmaufnahmen zu Der Judas von Tirol (1933), basierend auf der literarischen Vorlage von Karl Schönherr, in dem Hoppe die weibliche Hauptrolle übernommen hatte (vgl. dazu das Vorwort). Hervorzuheben sind einige Ergänzungen zum zweiten wie dritten Kapitel, die Horváth später eingefügt hat und die gleichfalls in der Ich-Perspektive erzählt sind. Zur Notiz „Leer ist alles in ihm“ am Beginn des dritten Kapitels heißt es nun von einem erzählenden Ich, „dass alles leer in mir war“, heute wisse es aber, „dass es nur mein Hohn war“. Eine ähnliche Ergänzung findet sich zum zweiten Kapitel: „Ich komme zum Hohn, da die Erkenntnis der Korruption, aber ohne Gott im Hintergrunde“. „Die Reichen“ sollen nun für die Kunst des Erzählers sein, die „Armen dagegen aus sturer Dogmatik = Dummheit“. Während die Bemerkung zur Korruption auf E4 zurückweist,
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Chronologisches Verzeichnis
die dort im Zusammenhang mit der „Rückkehr“ und dem Eintrag „Figaro lässt sich scheiden“ steht (vgl. E4), erinnern die Ausführungen über den „Hohn“ in E10 an ein zentrales Motiv aus Jugend ohne Gott. Im Kapitel „Das Zeitalter der Fische“ erklärt Julius Caesar dem Lehrer das Verhalten der Schüler folgendermaßen: „Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn.“ (WA 15/K/TS2/Horváth 1938a, S. 34) T1 = ÖLA 3/W 322 – BS 16 c [3], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (270 × 211 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit Kugelschreiber von fremder Hand (Lajos von Horváth) TS4 = Fassung (nicht gedruckt)
D1 = Neue Wellen In: Maß und Wert. Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur. Hg. v. Thomas Mann und Konrad Falke. 2. Jg., Heft 2, November/Dezember 1938, S. 240f. TS5 = Fassung des Kapitels „Neue Wellen. Von Ödön von Horvath“ mit einem Geleitwort von Ferdinand Lion. Druck in: GW III, S. 141f.
Mit TS4 liegt eine von Lajos von Horváth angefertigte und von ihm hs. als „Endfassung“ bezeichnete Abschrift einer Textstufe zum Kapitel „Neue Wellen“ vor, deren Original dem textlich identischen Abdruck von TS5 zugrunde gelegen hat. Dieses ist nicht erhalten, weshalb die Positionierung von TS4 in der genetischen Reihe nicht mit Sicherheit zu bestimmen ist. Der hier überlieferte Text könnte auch schon kurz nach der Abfassung von TS2 und noch vor der Aufzeichnung von E9 bzw. E10 entstanden sein. Der Abdruck von TS5 kam auf Vermittlung von Freunden Horváths postum zustande und ist in der November/Dezember-Ausgabe der von Thomas Mann mitherausgegebenen Emigrantenzeitschrift Maß und Wert erschienen, die zwischen 1937 und 1940 in Zürich verlegt wurde. Zuständig für den Text war Ferdinand Lion, Redakteur bei Maß und Wert, der auch eine Einleitung dazu verfasst hat. Der Text von TS4 bzw. TS5 schließt an den von TS2 an, den Horváth hier neuerlich adaptiert hat. Einige Zweifel bestehen am gewählten Titel „Neue Wellen“ in TS5, der mit hoher Wahrscheinlichkeit postum eingesetzt worden ist. Horváth selbst hat in TS2 den Titel wieder gestrichen und in E9 bzw. E10 nicht notiert; überdies weist die TS4 zugrunde liegende Abschrift keinen Titel auf. Während in den aus TS2 übernommenen Passagen sämtliche Detailkorrekturen umgesetzt wurden, sind in TS4/TS5 die Ausführungen über das „Universitätsstudium“ des Schriftstellers und seine Entdeckung durch den Verleger entfernt worden (vgl. TS2/BS 16 a, Bl. 2f.). Durch diese Tilgung erscheint der erzählende Schrifsteller nun nicht mehr als angehender Jungautor, sondern als Autor in der Emigration, womit der Text konzeptionell wieder eher an TS1 anschließt. Die Passagen über die knappe materielle Absicherung des Schriftstellers sind dafür in TS4/TS5 weiter ausgebaut, auch finden sich einige Überlegungen zum Theaterstück, an dem er arbeiten möchte. Dabei dürfte es sich allerdings eher um ein triviales, unterhaltungsliterarisches Werk handeln: „Ich hab‘ einen guten Einfall, eine alltägliche Liebesgeschichte in höchstens vier Akten. Aber ich seh‘ noch keinen richtigen Schluß. Soll die Frau sich vergiften oder nicht? Und was mach‘ ich mit dem Mann?“ (TS5/S. 241) Andeutungen zu einem Liebesstück, an dem der Schriftsteller arbeitet, finden sich etwa in E9, wo der Schriftsteller eine „zarte Liebesszene“ schreibt, nachdem er sich gegenüber einer Vertreterin grob benommen hat.
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Werkprojekte Prosa
Das von Ferdinand Lion verantwortete Vorwort zum Abdruck des Textes ist ein wichtiges Dokument zur frühen Rezeption Ödön von Horváths. Lion nennt Horváths „Portefeuille“ als Herkunft der Blätter, in dem sie nach seinem Tod gefunden worden sind. Sein Werk stellt Lion in die Tradition Frank Wedekinds, dem gegenüber er aber seine „poetisch-graziöse Seite“ (TS5/S. 240) betont. Sein einziger Held sei der „Zufall: das dramatische Gebilde zittert wie im Wind“ (ebd.). Damit nimmt Lion einen schon zu Lebzeiten Horváths etablierten Topos der Theaterkritik auf, die den Volksstücken dramatisches Ingenium, aber einen Mangel an Form attestiert haben (vgl. exemplarisch den Abschnitt „Uraufführung und zeitgenössische Rezeption“ im Vorwort zu Geschichten aus dem Wiener Wald, WA 3, S. 27–36). Besonders hervorgehoben werden die Stücke Geschichten aus dem Wiener Wald und auch, ohne sie direkt zu benennen, Italienische Nacht und Kasimir und Karoline, deren Handlungen trotz aller auftretenden Gefährdungen immer „höchst gefahrlos“ (TS5/S. 240) endeten. Lion kommt auch kurz auf die Komödie Figaro läßt sich scheiden zu sprechen, die er zwar als „schönste Gelegenheit, die heutige Emigration vergleichsweise zu zeichnen“, wertet, Horváth aber den „Esprit“ eines Beaumarchais abspricht (ebd.). Unter den späten Werken gibt Lion dem Schauspiel Der jüngste Tag den Vorzug gegenüber dem „absichtsvollen politischen“ (ebd.) Roman Jugend ohne Gott: Selbst die dort zentrale Katastrophe eines Eisenbahnunglücks sei „von einem resigniert-heitern Laisser-faire umgeben“ (ebd.). Diese Rezeptionslinien, die Lion vom Heiteren und Zufälligen aus bei Horváth zieht, wirken nachhaltig. Nicht zufällig wird das Theater in der Josefstadt in Wien seinen Spielbetrieb am 2. Dezember 1945 unter anderem mit der österreichischen Erstaufführung von Der jüngste Tag wieder aufnehmen, in dem sich Schuld auf ein zufälliges Versehen zurückführen lässt.
Sportmärchen (Endfassungen, emendiert) Die emendierte Endfassung der Sportmärchen als von Horváth erstellte Kompilation folgt der Endfassung SM/TS20. Separat als emendierte Endfassungen beigefügt sind mehrere Märchen, die Horváth abgeschlossen und teilweise auch zu Lebzeiten publiziert, jedoch nicht in die Kompilation von SM/TS20 aufgenommen hat. Diese folgen den davon zuletzt erhaltenen Fassungen und wurden alphabetisch gereiht. Der große und der kleine Berg folgt dem Abdruck des Textes unter dem Titel „Bergsteiger-Märchen“ in der Zeitschrift Der Alpenfreund (SM/D12/TS38); die dort ebenfalls abgedruckten, in SM/TS20 enthaltenen Märchen Die Beratung und Die Eispickelhexe werden hier neuerlich abgedruckt. Das Sprungbrett folgt der separaten Abschrift SM/TS19, die von Horváth als Einzeltext eingerichet worden ist. Der Herr von Bindunghausen basiert auf dem von SM/TS20 stark abweichenden Abdruck des Textes im Simplicissimus (SM/ D9/TS36). Der Fallschirm liegt allein in der Kompilation von SM/TS1/A2 vor und wurde dort entnommen (SM/TS1/A2/BS 62 a, Bl. 43). „Nur auf die Bindung kommt es an!“ und Sommer und Winter folgen den als Einzeltexte eingerichteten Durchschlägen der Kompilation SM/TS1/A2 (SM/TS6 sowie TS10). Sämtliche Texte wurden nach den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit normalisiert und sämtliche in den einzelnen Textstufen ausgewiesenen Herausgebereingriffe umgesetzt. Darüber hinaus wurde die sehr uneinheitliche Setzung von Leerzeilen in den Typoskripten angeglichen. Die Gestaltung der Märchentitel wurde nicht
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Chronologisches Verzeichnis
vereinheitlicht und orientiert sich jeweils am einzelnen Textträger. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien am Ende dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 706).
Kurzprosa (Endfassungen, emendiert) Die emendierten Endfassungen der Kurzprosa folgen den jeweils vorliegenden Endfassungen der Einzeltexte. Falls, wie etwa im Falle von Die gerettete Familie / Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand (ET19), ein Einzeltext in unterschiedlichen Bearbeitungen separat veröffentlicht wurde, werden beide Fassungen emendiert. Im Falle von nicht publizierten Einzeltexten, die über mehrere abgeschlossene Fassungen verfügen wie etwa Lachkrampf (ET6/TS1 und TS2) und In memoriam Alfred / Nachruf (ET17/TS1 und TS2), wurde nur der Text letzter Hand emendiert. Die insbesondere in unveröffentlichten Texten teilweise sehr uneinheitliche Setzung von Leerzeilen wurde vereinheitlicht. Nicht vereinheitlicht wurde die unterschiedliche Formatierung von Werktiteln; ihre Gestaltung orientiert sich jeweils am einzelnen Textträger. Ebenfalls nicht vereinheitlicht wurden die unterschiedlichen Strukturzeichen in den Texten bzw. an deren Ende. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien am Ende dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 706).
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Simulationsgrafiken
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Simulationsgrafik zu WP17/TS1/A1–A6 (Himmelwärts)
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Simulationsgrafik zu WP17/TS13/A1–A6 (Himmelwärts)
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Informationsgrafiken (Sportmärchen)
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Tab1: Sportmärchen / Textgenese
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Tab2: Sportmärchen / Kompilationen
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Tab2: Sportmärchen / Kompilationen
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Anhang
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Editionsprinzipien
Editionsprinzipien Die Wiener Ausgabe (WA) sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist eine historischkritische Edition. Sie umfasst alle abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Werke sowie alle verfügbaren Briefe und Lebensdokumente des Autors. Den Ausgangspunkt bilden die umfangreichen werkgenetischen Materialien aus dem Nachlassbestand des Autors im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (teilweise als Leihgabe der Wienbibliothek im Rathaus). Die einzelnen Bände der WA sind in Vorwort, Text- und Kommentarteil gegliedert. In ihrem Zusammenspiel machen diese Teile den Entstehungsprozess der Werke transparent und bieten die Möglichkeit eines schrittweisen Nachvollzugs bis in die Letztfassungen der Texte. Das Vorwort skizziert die Entstehungsgeschichte unter Miteinbeziehung der zeitgenössischen Rezeption. Der Textteil reiht die genetischen Materialien chronologisch, wobei die Edition in Auswahl und Textkonstitution auf Lesbarkeit zielt. Dem Lesetext ist ein kritisch-genetischer Apparat beigegeben. Dieser macht die Änderungsprozesse des Autors deutlich, auf denen die konstituierten Fassungen basieren, ferner verzeichnet er alle Eingriffe der Herausgeber. Die Endfassung des Werkes wird zusätzlich in emendierter Form dargestellt. Im Kommentarteil findet sich ein chronologisches Verzeichnis, das alle vorhandenen Textträger formal und inhaltlich beschreibt und Argumente für die Reihung der darauf befindlichen Entwürfe (E) und Textstufen (TS) sowie für die Konstitution der innerhalb der Textstufen vorliegenden Fassungen liefert. Simulationsgrafiken dienen zur Darstellung komplexer genetischer Vorgänge.
1 Textteil 1.1 Genetisches Material Das genetische Material wird in zwei unterschiedlichen Formen zur Darstellung gebracht: Entwürfe erscheinen in diplomatischer Transkription, Fassungen innerhalb von Textstufen werden linear konstituiert.
1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) Von genetischen Materialien, deren Topografie sich nicht in eine lineare Folge auflösen lässt, wird eine diplomatische Transkription geboten. Hierbei handelt es sich um sogenannte Entwürfe (E), in denen Horváth auf meist nur einem Blatt in Form von Strukturplänen u.ä. das grobe Konzept von Werken und Werkteilen oder knappe Textskizzen entwirft. Die diplomatische Transkription versteht sich als eine Orientierungshilfe zur Entzifferung des nebenstehend faksimilierten Originals und gibt dessen Erscheinungsbild nicht in allen Details, sondern nur insofern wieder, als dies der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre dient. Den verwendeten Schriftgrößen kommt dabei keine distinktive Funktion zu; sie dienen dazu, die räumlichen Verhältnisse des Originals annähernd wiederzugeben. Folgende Umsetzungen finden statt:
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Überschriebene Zeichen oder Wörter werden links neben den ersetzenden wiedergegeben, wobei der ursprüngliche Ausdruck gestrichen und der neue Ausdruck mittels zweier vertikaler Linien eingeklammert wird: tä|e|xt; text|text|. Unlesbare Wörter erscheinen als { }, gegebenenfalls mehrfach gesetzt; unsicher entzifferte Zeichen und Wörter als: te{x}t, {text}. Gestrichener Text in Zeilen erscheint als: text. Vertikale oder kreuzförmige Streichungen werden als solche dargestellt. Mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie gekennzeichneter Text wird als solcher wiedergegeben. Unterstreichungen erscheinen als: text, text. Deutlich von einem Wort abgesetzte Punkte werden entsprechend dargestellt: text . Eingerahmte oder in eckige Klammern gestellte Ziffern, Wörter und Textpassagen erscheinen als: [text], gegebenenfalls auch über mehrere Zeilen gestellt. Der vom Autor zur Strukturierung verwendete Stern (manchmal eingekreist und bis hin zu dicken schwarzen Punkten intensiviert) erscheint als: . Das vom Autor zur Strukturierung verwendete große X erscheint als: . Von Horváth zur Markierung verwendete An- und Durchstreichungen werden individuell angepasst wiedergegeben. Verweispfeile und Linien werden schematisch dargestellt, sofern sie Wörter und Textblöcke miteinander verbinden. Dienen solche Zeichen der Abgrenzung von Textteilen, werden sie nicht wiedergegeben. Liegen auf einem Blatt mehrere Entwürfe nebeneinander, werden diese ab dem zweiten Entwurf zur besseren Unterscheidung grau hinterlegt. Aktuell nicht relevanter Text (Entwürfe zu anderen Werken und Werkvorhaben) erscheint in grau 50 %: text. Die im Zuge der Berliner Bearbeitung von Horváths Nachlass partiell vorgenommene Transkription schwer lesbarer Wörter bzw. allfällige Kommentare direkt in den Originalen erscheinen kursiv und in grau 50 %: text.
1.1.2 Lineare Textkonstitutionen (Fassungen) Textausarbeitungen des Autors, die eine lineare Lektüre zulassen, werden (ohne Faksimileabdruck) konstituiert. Hierbei handelt es sich um Fassungen oft im Rahmen umfänglicher Textstufen (TS). Folgende Prinzipien kommen zur Anwendung: x
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Schichtwahl: Im Lesetext wird entweder die Grundschicht oder die in der jeweiligen Arbeitsphase gültige Korrekturschicht einer Textstufe ediert. Die Grundschicht wird im Allgemeinen dann gewählt, wenn es um die Präsentation frühester Schreibansätze geht; in eher seltenen Fällen liegen Typoskripte auch ohne handschriftliche Korrekturschichten vor. Ein genauer Ausweis der Schichtwahl (im Fall des Vorliegens komplexer Schichtungen differenziert nach unterschiedlichen Schreibwerkzeugen und Farben – z.B. schwarze Tinte, roter Buntstift) erfolgt im chronologischen Verzeichnis. Punktuelle Streichungen und Einfügungen, die aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, weil das Material im Laufe des Produktionsprozesses dorthin weitergewandert ist, werden im Lesetext nicht berücksichtigt. Besondere Auffälligkeiten werden gegebenenfalls im chronologischen Verzeichnis beschrieben.
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Editionsprinzipien
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Textausarbeitungen, die linear in eine Fassung nicht sinnvoll integriert werden können, aber offensichtlich aus der gegenwärtigen Bearbeitungsphase stammen, erscheinen im Lesetext eingerückt und grau hinterlegt. Deutlich gesetzte Leerzeilen werden in entsprechender Anzahl wiedergegeben.
Emendiert (und im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesen) werden offensichtliche Schreib- und Tippfehler des Autors sowie inkonsequente Ersetzungen oder offensichtlich falsche Setzungen von Figuren- oder Ortsnamen. Folgende Normierungen finden statt: Regie- und Szenenanweisungen erscheinen kursiv, Figurennamen in Kapitälchen (innerhalb von Regie- oder Szenenanweisungen nur dann, wenn sie vom Autor grafisch hervorgehoben wurden, ansonsten bleiben sie ohne Auszeichnung). Von Horváth hs. fallweise anstelle von (runden Klammern) gesetzte [eckige Klammern] werden als runde Klammern wiedergegeben. Autortext erscheint in Times New Roman 12 pt. Herausgebertext innerhalb des Autortextes wird unter Backslashes in Helvetica 9 pt. gesetzt; im Einzelnen umfassen diese Eintragungen den Abbruch von Textbearbeitungen ohne Anschluss an den folgenden Text bzw. am Ende von Texten durch den Eintrag: \Abbruch der Bearbeitung\ sowie den Verlust von Text (z.B. durch Abriss oder Blattverlust): \Textverlust\.. Unsicher entzifferte Buchstaben bzw. unsicher entzifferte Wörter erscheinen als: te{x}t, {text}; unlesbare Wörter (gegebenenfalls mehrfach gesetzt) als: { }. Blattwechsel wird durch 얍 angezeigt, die Angabe des neuen Textträgers mit Signatur erfolgt in der Randspalte. Die Ansatzmarke: text kennzeichnet im Lesetext Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungsvorgängen des Autors oder Eingriffen der Herausgeber hervorgegangen sind; nachgewiesen wird beides im kritisch-genetischen Apparat. B
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1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat Werden Fassungen in der Grundschicht ediert, verzeichnet der kritisch-genetische Apparat die Veränderungsprozesse nur in dieser Schicht (Sofortkorrekturen). Werden Fassungen in der Korrekturschicht ediert, verzeichnet er alle Änderungsprozesse im Übergang von der Grundschicht zur Korrekturschicht; Sofortkorrekturen in der Grundschicht werden hier nicht mehr verzeichnet, sondern als Ausgangspunkt gesetzt. Ferner weist der kritisch-genetische Apparat alle Eingriffe der Herausgeber nach (diese werden von Herausgeberkommentaren eingeleitet, wie z.B. korrigiert aus:, gestrichen:, gemeint ist:). Autortext erscheint in Times New Roman 10 pt, Herausgebertext in Helvetica 9 pt. In einigen Fällen (z.B. SM/TS1/A2, ET8/TS1) werden im Apparat darüber hinaus Abweichungen zu Abdrucken mit nicht geklärter Autorisation bzw. nicht gedruckten Textstufen verzeichnet (vgl. im Detail die jeweiligen Kommentare im Chronologischen Verzeichnis).
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Editionsprinzipien
1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) Was die Gestalt der Endfassungen betrifft, werfen die bisherigen Leseausgaben Horváths zahlreiche Fragen auf. Um den Benutzern der Wiener Ausgabe einen einheitlich normierten Lesetext zu bieten, erscheinen die Endfassungen der Texte zusätzlich in emendierter Form. Die Basis der Emendation bieten die zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Gegenüber den (nicht immer konsequent gepflogenen) Eigentümlichkeiten von Horváths Schreibung ergeben sich Abweichungen vor allem in folgenden Punkten: x
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x x
x
x
x
x
x
Zusammengeschriebene Wörter und Wortgruppen wie „garnicht“, „garkein“, „nichtmehr“ werden getrennt. Doppel-s anstelle von ß wird berichtigt (mit Ausnahme des Doppel-s im Format Figurennamen, z.B. G ROSSMUTTER ). Die Interjektionen, bei Horváth oft: „A“ und „O“, werden auf „Ah“ und „Oh“ vereinheitlicht. Falschschreibung von Fremdwörtern wird korrigiert, sofern es sich nicht um stilistische Setzungen handelt. Werden bereits zu Horváths Lebzeiten gemäß zeitgenössischer Rechtschreibkonvention veraltete Fremdwortschreibungen verwendet (z.B. „Affaire“, „Couvert“), so wird die Schreibung Horváths beibehalten. Fehlende Accents werden nachgetragen, ebenso fehlende Punkte, auch in „usw.“ etc. Gedankenstriche, die in Typoskripten als -- realisiert sind, erscheinen als –. Die groß geschriebene Anrede „Du“, „Ihr“ etc. wird klein gesetzt, die Höflichkeitsform erscheint groß. Ebenfalls groß bleiben persönliche Anreden in Zitaten innerhalb von Figurenreden (z.B. in von Figuren vorgelesenen Briefen, Schildern etc.). Kleinschreibung am Beginn ganzer Sätze nach Doppelpunkten und Gedankenstrichen wird korrigiert. Kommasetzung, im Einzelnen: – Überzählige Kommata in als- und wie-Vergleichen werden getilgt. – Fehlende Kommata in vollständigen Hauptsätzen, die durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, werden ergänzt; ebenso in Relativsätzen und erweiterten Infinitiv- und Partizipialgruppen. – Nach Interjektionen wie „Ja“, „Nein“, „Na“, „Ah“, „Oh“, „Geh“ wird nur dann ein Komma gesetzt, wenn die Interjektionen betont sind und hervorgehoben werden sollen. Wenn sie in den Folgetext integriert sind, werden sie nicht durch Kommata getrennt, z.B. „Na und?“ Grammatikalische Fehler werden nur so weit korrigiert, als es sich dabei nicht um stilistische Setzungen handelt; alle dialektal geprägten Formen bleiben erhalten. Figurennamen erscheinen in Kapitälchen (auch in Regie- und Szenenanweisungen). Normierungen in Regieanweisungen: Bilden Regieanweisungen ganze Sätze (auch in Verbindung mit vorangegangenen Figurennamen), so wird abschließend ein Punkt gesetzt.
706
Editionsprinzipien
2 Kommentarteil 2.1 Chronologisches Verzeichnis Das chronologische Verzeichnis beschreibt alle zu einem Werk vorhandenen Textträger und sichert die Reihung der darauf befindlichen werkgenetischen Einheiten argumentativ ab. Textträger und Text werden getrennt sigliert: Die Materialsigle bezeichnet den Textträger und unterscheidet Handschrift (H), Typoskript (T) und Druck (D). Die Textsigle bezeichnet die auf dem Textträger befindliche werkgenetische Einheit und differenziert Entwürfe (E) und Textstufen (TS) mit teilweise mehreren Ansätzen (A). Die Beschreibung des Textträgers umfasst folgende Elemente: Signatur: Wiener Signatur (ÖLA bzw. IN) des Nachlassbestands und Berliner Signatur (BS), gegebenenfalls auch andere Angaben zu Bezeichnung und Herkunft des Textträgers Materielle Beschreibung: Umfang, Papierart samt Angaben über spezielle Erscheinung, Größe in Millimeter, Angabe über Teilung, Faltung, Reißung o.ä., Wasserzeichen, Schreibmaterial, Paginierung vom Autor samt Seitenzahlen und Blattnachweisen, Eintragungen fremder Hand Der Beschreibung des Textträgers folgt eine Auflistung und formale Beschreibung der auf dem jeweiligen Textträger befindlichen Entwürfe, Textstufen und Ansätze. Umfasst ein Textträger mehrere werkgenetische Einheiten und ist eine dieser Einheiten im Entstehungsprozess später einzuordnen, wird sie erst dort verzeichnet und kommentiert. Die Beschreibung des Textträgers wird an der späteren Stelle wiederholt. Auch das Weiterwandern von Textträgern (durch Übernahme von Blättern in spätere Fassungen) wird vermerkt. Sofern die Entwürfe und Fassungen veröffentlicht sind, wird deren Erstdruck in einer abschließenden Zeile verzeichnet. Das konkrete Erscheinungsbild der Texte in den Erstdrucken weicht jedoch von den in der Wiener Ausgabe gebotenen Neueditionen oftmals gravierend ab. Der nachfolgende werkgenetische Einzelkommentar beschreibt die Entwürfe, Textstufen und Ansätze auch inhaltlich. Argumente für deren Reihung (manchmal in Form von gesetzten Wahrscheinlichkeiten) werden genannt und Beziehungen zu anderen Einheiten im werkgenetischen Material hergestellt; gegebenenfalls wird auch auf den Zusammenhang mit anderen Werken des Autors verwiesen. Folgende werkgenetische Begriffe finden Verwendung: Konzeption Als Konzeption (K) gilt eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei Teile/sieben Bilder/etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt.
707
Editionsprinzipien
Vorarbeit Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten (VA) zugeordnet. Im Falle des Vorliegens mehrerer Vorarbeiten werden diese nach genetischen Zusammenhängen gruppiert und/oder in eine Folge gebracht. Einzeltext Ein Einzeltext (ET) ist ein eigenständiger, abgeschlossener Text der Kurzprosa. Als abgeschlossen gelten einerseits diejenigen Texte, die der Autor zu Lebzeiten publiziert hat. Zu Lebzeiten nicht publizierte Texte andererseits werden dann als abgeschlossen gewertet, wenn sie anhand verschiedener Indizien, etwa durch Strukturmarkierungen, Verfasserangaben, Reinschriften, Anmerkungen etc., deutlich als vom Autor vollendet zu erkennen sind, andernfalls sie als Werkprojekt behandelt werden. Die genauen Gründe für die Bewertung eines zu Lebzeiten des Autors nicht publizierten Textes als abgeschlossenen werden im jeweiligen Kommentar im Chronologischen Verzeichnis angegeben. Als eigenständig wiederum gilt ein Text dann, wenn er unabhängig von einem anderen Werkvorhaben entstanden ist bzw. gegenüber seinem ursprünglichen Entstehungszusammenhang im Laufe der Textgenese einen relativen Grad an Eigenständigkeit erlangt hat, der sich z.B. in einer vom Entstehungszusammenhang abgelösten separaten Publikation darstellen kann. Werkprojekt Im weitesten Sinne liegt jedem Werk ein Werkprojekt zugrunde, das in einem abgeschlossenen Text aufgeht. Als Werkprojekt (WP) im engeren Sinne gelten Schreibvorhaben, die zu Lebzeiten des Autors aus verschiedenen Gründen nicht abgeschlossen wurden und allein als Fragment bzw. Werktorso vorliegen. Gegenüber den einem abgeschlossenen Werk zuordenbaren werkgenetischen Materialien (wie etwa der Roman einer Kellnerin in der Werkgenese des Romans Der ewige Spießer, vgl. WA 14) weisen diese Werkprojekte einen hohen Grad an Eigenständigkeit auf und können keiner abgeschlossenen Werkgenese subsumiert werden. Entwurf In einem Entwurf (E) legt Horváth die Gesamtstruktur eines Werkes oder eines einzelnen Strukturelements (Bild, Kapitel, Szene, …) fest. Entwürfe sind fast ohne Ausnahme handschriftlich ausgeführt und zumeist auf ein einziges Blatt beschränkt. Zur näheren Beschreibung stehen (spezifisch für den Dramentext) folgende Begriffe zur Verfügung: x
x x
x
Strukturplan: Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z.B. Gliederung in Akte oder Teile, Szenen, Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren). Konfigurationsplan: Skizzierung einzelner Szenen (= Auftritte). Skizze: Punktuell bzw. schematisch ausgearbeitete Textsequenz. Der Begriff wird auch für grafische Entwürfe (z.B. zum Bühnenbild) verwendet. Darüber hinaus können Entwürfe auch lose Notizen zu Motiven, Figuren, Schauplätzen, Dialogpassagen oder Handlungselementen enthalten.
708
Editionsprinzipien
Textstufe Eine Textstufe (TS) bezeichnet eine klar abgrenzbare Arbeitseinheit im Produktionsprozess, die intentional vom Anfang bis zum Ende einer isolierten Werkeinheit (Bilderfolge, Bild, Akt, Kapitel, Unterkapitel, …) reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes dient. Materiell umfasst der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder Übernahme aus einer frühen Arbeitsphase zur Zusammenstellung aktueller Fassungen verwendet hat. Ansatz Ein neuer Ansatz (A) liegt dann vor, wenn der Autor innerhalb einer Textstufe eine materielle Ersetzung von Textträgern oder Teilen davon (Blattbeschneidungen, Austausch von Blättern) vornimmt. Innerhalb einer Textstufe bilden die einander folgenden Ansätze eine genetische Reihe; textlich repräsentiert sich in ihnen in der jeweils gültigen Textschicht die jeweils aktuelle Fassung des Textes. Der letzte Ansatz einer Textstufe, d.h. der letztmalige Austausch von Textträgern, bildet die materielle Grundlage der letzten Fassung innerhalb der jeweiligen Textstufe. Die Abfolge der Ansätze innerhalb einer Textstufe wird in komplizierten Fällen in Simulationsgrafiken dargestellt. Fassung Der Begriff der Textstufe ist ein dynamischer; er bezeichnet die Gesamtheit des in einer Arbeitsphase vorliegenden genetischen Materials, das in Grund- und Korrekturschicht und in verschiedene Ansätze differenziert sein kann. Der Begriff der Fassung bezeichnet im Gegensatz dazu die konkrete Realisation eines singulären Textzustands (z.B. K1/TS7/A5 – Korrekturschicht). Die Fassungen, die im Textteil konstituiert werden, stellen eine Auswahl innerhalb einer Vielzahl von Möglichkeiten dar. Der Produktionsprozess wird von ihnen an möglichst aussagekräftig gesetzten Punkten unterbrochen und ein jeweils aktuelles Textstadium linear fixiert. Endfassung Der Begriff Endfassung bezeichnet eine Fassung, in der sich aus Autorensicht eine endgültige Textgestalt repräsentiert. Durch spätere Wiederaufnahme der Arbeit können innerhalb einer Werkgenese mehrere Endfassungen (meist auch als Abschluss einzelner Konzeptionen) vorliegen. Stammbuch Mit dem Begriff Stammbuch bezeichneten Horváths Theaterverlage in kleiner Auflage hergestellte Drucke, die nicht für den allgemeinen Verkauf, sondern für den Gebrauch an Theatern bestimmt waren. Oft tragen solche Stammbücher den Aufdruck: „Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt“ sowie den meist handschriftlich notierten Vermerk „ST“ (für „Stammbuch“). Mit diesen Anmerkungen wurde der für die jeweilige Aufführung autorisierte Text gekennzeichnet. Vorarbeiten und Konzeptionen, Entwürfe, Textstufen und Ansätze werden im chronologischen Verzeichnis über Siglen gereiht, die Reihung von TS und E erfolgt innerhalb der jeweiligen Kategorie, sodass sich als genetische Abfolge z.B. ergeben kann: K2/E1, K2/TS1, K2/TS2/A1, K2/TS2/A2, K2/E2, K2/E3, K2/TS3 usw.
709
Editionsprinzipien
2.2 Simulationsgrafiken In den Simulationsgrafiken wird die Abfolge von Ansätzen innerhalb einer Textstufe dargestellt und zwar in der Art, dass die Textträger mit syntagmatisch zusammengehörendem Text untereinander stehen und die ersetzenden Textträger rechts von den ersetzten positioniert werden. Ausgangspunkt der Darstellung ist der früheste Ansatz der jeweiligen Textstufe. Die Textträger werden an allen rekonstruierbaren Positionen abgebildet und damit die materiellen Vorgänge der Textentstehung und -ersetzung simuliert. Die ungefähre Form des Textträgers ist in der Grafik durch einen Rahmen wiedergegeben. Die Paginierung Horváths – so vorhanden – und die Berliner Blattnummer sind eingetragen. An seiner ersten Position wird der Textträger mit durchgezogenen Rahmenlinien dargestellt, an allen späteren mit strichlierten, wobei der Textträger so lange eingeblendet bleibt, wie er Gültigkeit hat. Die doppelt-strichpunktierten Linien kennzeichnen Schnitte, die punktierten Linien „Klebenähte“, die nach dem Ankleben von neuem Text auf den Originalen erkennbar sind. Zur Illustration der Funktionsweise dient die nachstehend abgebildete Simulationsgrafik zu einer Textstufe der Hofrat-Konzeption aus Geschichten aus dem Wiener Wald. Diese Grafik, die ausschließlich Material der Mappe BS 37 c darstellt, zeigt einen relativ gleichmäßig verlaufenden Produktionsprozess: Horváth beginnt (links oben eingetragen) auf Bl. 14 mit der Ausarbeitung des Bildes, bricht jedoch mitten auf Bl. 15a ab, setzt auf Bl. 15b mit dem Text neu an und kommt bis Bl. 17. Er korrigiert den Text dieser Blätter handschriftlich und macht sich am Fuß von Bl. 17 Notizen zum weiteren Textverlauf. Auf Bl. 18 und 19 schreibt er den Text von Bl. 17 ins Reine und setzt ihn dann auf Bl. 19 neu fort, bricht jedoch wieder ab, noch bevor er das Blatt vollgeschrieben hat. Bl. 19 wird dann durch Bl. 20 ersetzt, Bl. 20 gemeinsam mit Bl. 21 durch Bl. 22–24. In dieser Art schreibt sich Horváth in immer neuen Ansätzen bis ans Ende des Bildes durch. Bei Bl. 32 wendet der Autor ein Verfahren an, das ihm kürzere Rückschritte ermöglicht: Er schneidet Bl. 32a von Bl. 32 ab und klebt ein Stück mit neuem Text an. Die anschließenden Blätter 33 bis 37 sind in einem Zug geschrieben.
710
Editionsprinzipien
711
Siglen und Abkürzungen
Siglen und Abkürzungen Schriftarten (allgemein) Times New Roman
Autortext
Helvetica
Herausgebertext, im Autortext unter Backslashes
Diplomatische Transkriptionen (Entwürfe) text, text
getilgtes Zeichen, getilgter Text. Tilgungen über mehrere Zeilen (meist durch Kreuz) werden grafisch entsprechend dargestellt
tä|e|xt
überschriebenes und ersetzendes Zeichen
text|text|
überschriebener und ersetzender Text
text, text
unterstrichener Text
text
unterwellter Text; mit Fragezeichen überschriebener Text wird grafisch entsprechend dargestellt
[text]
eingerahmter oder in eckige Klammern gestellter Text oder Ziffer; falls über mehrere Zeilen reichend, grafisch entsprechend dargestellt Strukturierungszeichen: Stern, Punkt Strukturierungszeichen: großes
te{x}t, {text}
unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort
{}
unlesbares Wort, ggfs. mehrfach gesetzt
Times New Roman, 50 % grau
Eintragung fremder Hand, Berliner Bearbeitung
Times New Roman, 50 % grau
aktuell nicht relevanter Text
\E1\
grau hinterlegte Fläche zur Abgrenzung verschiedener Entwürfe
Lineare Konstitutionen (Fassungen) B
textN, B N
Ansatzmarke; kennzeichnet Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungen des Autors hervorgegangen sind, sowie Eingriffe der Herausgeber
얍
Blattwechsel; Angabe des Textträgers in der Randspalte eingerückt, grau hinterlegt; Textzusätze des Autors in der aktuellen Fassung, die sich in den Lesetext linear nicht integrieren lassen
te{x}t, {text}
unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort
{}
unlesbares Wort, ggfs. mehrfach gesetzt
\Abbruch der Bearbeitung\
Herausgebertext im Autortext
\Textverlust\
712
Siglen und Abkürzungen
Kritisch-genetischer Apparat text\e/
nachträglich eingefügtes Zeichen
\text/
nachträglich eingefügter Text
text[e]
getilgtes Zeichen
[text]
getilgter Text
t[ä]|e|xt
getilgtes Zeichen in Verbindung mit Ersetzung
[text] |text|
getilgter Text in Verbindung mit Ersetzung
[text]|text|
überschriebener Text
te{x}t, {text}
unsicher entzifferter Buchstabe; unsicher entziffertes Wort
{}
unlesbares Wort, ggfs. mehrfach gesetzt
[text]
rückgängig gemachte Tilgung
text
mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie versehener Text
!text"!text"
durch Verweisungszeichen des Autors umgestellter und gegenseitig ausgetauschter Text
text f text [text]f x
Text von bis Textverschiebung
x
neuer Textanschluss
text2 text1
vom Autor geänderte Wort- oder Satzfolge
(1), (2) …
Variantenfolge
gestrichen: gemeint ist: Eintragung von fremder Hand: eingefügt verweist auf K3/TS7 fehlt in D2
irrrrorrrrp
korrigiert aus:
Herausgeberkommentare in Helvetica 9 pt.
Signaturen ÖLA
(vormals: Österreichisches) Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien
BS
Berliner Signatur
IN
Inventarnummer
IN 221.000/34 – BS 38 a [1], Bl. 1
Signatur Wienbibliothek im Rathaus, Wien
ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 9
Signatur Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien
713
Siglen und Abkürzungen
Abkürzungen K
Konzeption
VA
Vorarbeit
ET
Einzeltext
WP
Werkprojekt
H
Handschrift
T
Typoskript
TS
Textstufe
A
Ansatz
E
Entwurf
SM
Sportmärchen
Bl.
Blatt
Pag.
Pagina (vom Autor eingefügt)
hs.
handschriftlich
masch.
maschinenschriftlich
fragm.
fragmentarisch
r
recto (Vorderseite)
v
verso (Rückseite)
o. BS
ohne Berliner Signatur
714
Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis GW GWA GA
Horváth 1961 Horváth 1969 Horváth 1971
Horváth 1972 Horváth 1975
Horváth 1976 Horváth 1979 KW
KW 15 KW 16 WA
WA 2
WA 4
WA 6
WA 8
Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Dieter Hildebrandt/Walter Huder/Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970–71. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke/Dieter Hildebrandt. 2., verbesserte Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. (= Gedenkausgabe anlässlich des 50. Todestages, Abdruck von Texten und genetischem Material aus den Gesammelten Werken und Bibliothek Suhrkamp-Bänden, der 5. Band mit Skizzen, Fragmenten und einem Gesamtkommentar ist nicht erschienen) Ödön von Horváth: Stücke. Hg. v. Traugott Krischke. Mit einem Nachwort von Ulrich Becher. Reinbek: Rowohlt 1961. (= Rowohlt-Paperback, Bd. 3) Ödön von Horváth: Sportmärchen. Hg. v. Walter Huder. Berlin: Hessling 1969 (= Berliner Handpresse 25). Ödön von Horváth: Von Spießern, Kleinbürgern und Angestellten. Auswahl und Nachwort von Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. (= Bibliothek Suhrkamp 285) Ödön von Horváth: Sportmärchen. Mit einem Nachwort von Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Insel 1972. Ödön von Horváth: Die stille Revolution. Kleine Prosa. Mit einem Nachwort von Franz Werfel. Zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen von Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975. (= suhrkamp taschenbuch 254) Ödön von Horváth. Ein Lesebuch. Hg. v. Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Ödön von Horváth: Sechsunddreißig Stunden. Die Geschichte vom Fräulein Pollinger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. (= Bibliothek Suhrkamp 630) Ödön von Horváth: Kommentierte Werkausgabe in 14 Einzelbänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–88. Ödön von Horváth: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Ödön von Horváth: Ein Fräulein wird verkauft und andere Stücke aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Hg. v. Klaus Kastberger. Berlin: de Gruyter 2009ff. Ödön von Horváth: Sladek. Italienische Nacht. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2016. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 2) Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2009. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 4) Ödön von Horváth: Eine Unbekannte aus der Seine. Hin und her. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2012. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6) Ödön von Horváth: Figaro läßt sich scheiden. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Andreas Ehrenreich und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 8)
715
Literaturverzeichnis
WA 9
WA 10
WA 11
WA 14
WA 15
WA 16
Ödön von Horváth: Don Juan kommt aus dem Krieg. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 9) Ödön von Horváth: Der jüngste Tag. Ein Dorf ohne Männer. Hg. v. Nicole Streitler und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 10) Ödön von Horváth: Ein Sklavenball / Pompeij. Hg. v. Martin Vejvar unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Nicole Streitler-Kastberger. Berlin: de Gruyter 2015. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 11) Ödön von Horváth: Der ewige Spießer. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 14 [2 Teilbände]) Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2013. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 15) Ödön von Horváth: Ein Kind unserer Zeit. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2014. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 16)
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717
Literaturverzeichnis
Zˇmegaˇc, Viktor: Horváths Erzählprosa im europäischen Zusammenhang. Tradition und Innovation. In: Literatur und Kritik, H. 237/238 (1989), S. 332–345.
718
Register (Prosa)
Register (Prosa) Im Register erfasst und alphabetisch geordnet sind sämtliche Werktitel, die Ödön von Horváth für seine abgeschlossenen wie Fragment gebliebenen literarischen Prosatexte verwendet bzw. zumindest erwogen hat. Die Fundstellen sind mit Siglen (Angabe von Band, Vorarbeit/Konzeption und Entwurf/Textstufe; vgl. Siglen und Abkürzungen sowie das Literaturverzeichnis, in diesem Band, S. 712–718) eindeutig ausgewiesen und folgen ihrer Erwähnung in der jeweiligen genetischen Reihe. Werktitel abgeschlossener Texte sowie die in den jeweiligen Textgenesen bedeutsamen vorläufigen Werktitel sind fett und kursiv gesetzt (z.B. Jugend ohne Gott, Ein Soldat der Diktatur). Den Werktiteln sind verschiedene, oft kurzlebige Alternativtitel, die Horváth im jeweiligen Produktionsprozess ebenfalls erwogen hat, kursiv beigegeben (z.B. Roman. Durch Korruption zum Katholizismus, Das verwunschene Schloss). Bei unbetitelten Texten v.a. in der Kurzprosa wurden Incipits als Titel angenommen und ggf. durch die in der bisherigen Forschungsgeschichte etablierten Titel ergänzt, wobei Letztere als nicht von Horváth stammende nicht kursiviert erscheinen (z.B. „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus). In Fällen, in denen Titel erschlossen werden konnten, sind diese durch markiert (z.B. ). Jeweils abschließend und in Klammern gesetzt wurden den einzelnen Einträgen die Siglen der unbetitelten Entwürfe und Textstufen beigegeben, die sich dem Werktitel bzw. seinen Alternativtiteln eindeutig zuordnen ließen (vgl. dazu die Kommentare im Chronologischen Verzeichnis des jeweiligen Bandes). Nicht in das Register von Horváths Prosa aufgenommen wurden autobiographische und theoretische Arbeiten sowie Filmtreatments. Ebenfalls nicht verzeichnet wurde die Verwendung von Werktiteln als Kapiteltitel. Abseits der Alpenstraßen WA 13/ET11/TS1
Aus einem Heldenleben in sieben Gesängen f Ein Soldat der Diktatur
Adieu, Europa! WA 13/WP24/E1, E4, E5, E9, E10 (WA 13/WP24/E2, E3, E5, E7, E8, TS1–TS5)
Aus einem Rennradfahrerfamilienleben WA 13/SM/TS26, TS29, TS43
„Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ WA 13/WP7/TS1
Aus Leichtathletikland WA 13/SM/TS44 Begegnung mit Kriminellen WA 13/ET12/TS1
Amazonas WA 13/WP2/TS1, E1 (WA 13/WP2/TS2)
Bergsteiger-Märchen WA 13/SM/TS38 Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit WA 15/VA2/TS2/A1 (WA 15/VA2/TS1, TS2/A2–A4)
Brief aus Hinterhornbach f Hinterhornbach Charlotte WA 14/K1/E11, E15 Charlotte, die Kellnerin WA 14/K1/E11 Der bürgerliche Osterspaziergang WA 14/K1/E11, E14 Lotte, die Kellnerin WA 14/K1/E18, E19 Die Kellnerin WA 14/K1/E20, E21 (WA 14/K1/E12, E13, TS2, E16, E17, TS3, E22, E23, TS4–TS11, TS13/A1–A4)
Aus den Erinnerungen des Fräulein Pollinger aus München WA 14/ET1/TS1 Aus den weissblauen Kalkalpen WA 13/ET10/TS1 Aus der Stille in die Stadt („Unlängst traf ich einen Bekannten“) WA 13/ET20/TS12 Flucht aus der Stille WA 13/ET20/TS5 (WA 13/ET20/TS1, E1, TS2–TS4, TS6–TS11)
Charlotte, die Kellnerin f Charlotte Das Bitterwasser-Plakat WA 13/ET13/TS1
719
Register (Prosa)
„Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ WA 13/WP5/TS1
Die beiden Magenschwinger WA 13/SM/TS7 Die Colombine WA 13/WP11/TS1
Das Ende der Kunst WA 16/VA1/E11; VA2/TS4, E4 Die drei Gesellen WA 13/SM/TS12 Das Fräulein wird bekehrt WA 14/ET3/TS1–TS4, K4/E13; WA 13/ET16/TS1–TS4, ET16/E1
Die Fürst Alm WA 13/WP8/TS1
Das Märchen in unserer Zeit WA 13/WP21/TS1
Die gerettete Familie WA 13/ET19/TS1–TS3
Das Märchen vom Fräulein Pollinger WA 14/ET2/TS1, K4/E5; WA 13/ET21/TS1, TS2
Die Kellnerin f Charlotte Die Mauerhakenzwerge WA 13/SM/TS37
Das Sprungbrett WA
13/SM/TS19 Die Regel WA 13/SM/TS5, TS11, TS18
Das verwunschene Schloss f Ein Soldat der Diktatur Der brave Bürger WA 13/WP23/TS1 Der letzte Mensch WA 13/WP23/TS2
Die Reise f Reise ins Paradies Die Reise um die Welt f Himmelwärts Die Schande unserer Zeit WA 16/VA1/E18, E19
Der bürgerliche Osterspaziergang f Charlotte Die stille Revolution WA 16/VA1/E1–E3, E5, TS6, TS7, TS9, E13, E16, TS10, E17, TS12, E23, E24, TS15, E25; VA2/E4, TS7 Die zweite Revolution WA 16/VA1/TS8 Sieg nach Punkten WA 16/VA1/E24 (WA 16/VA1/TS1, TS2, E4, TS3, TS4, E6, E7, TS7, E8, E9, E12, E14, E15, TS11, E21, E22, TS13, TS14, E26)
Der europäische Spiessbürger f Herr Kobler wird Paneuropäer Der ewige Spießer WA 14/K4/E1, E2, E9–E14, WA 2/K1/E7 Herr Reithofer wird selbstlos WA 14/K4/E3 (WA 14/K4/E4, TS2, TS3/A1–A2, TS4)
Die zweite Revolution f Die stille Revolution Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes WA 13/SM/TS21, TS28, TS40
Die Versuchung WA 13/ET7/TS1 Ein Don Juan unserer Zeit WA 9/K1/TS5
Der Fliegenfänger WA
13/ET24/TS1
Der Gedanke WA 16/K2/TS19; WA 13/WP22/TS1, TS2 Der Herr von Bindunghausen WA 13/SM/TS36 WA 13/SM/TS3
Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand WA 13/ET19/E3, E4, TS4 Souvenir de Piaristengasse WA 13/ET19/E1 (WA 13/ET19/E2, E5)
Der letzte Mensch f Der brave Bürger
Ein Kind unserer Zeit WA 16/K3/TS18 (WA 16/K3/TS1–TS9, TS10/A1–A12, TS11/A1–A4, E1, E2, TS12, E3–E5, TS13, E6, TS15/A1, E7, TS15/A2–A6, E8–E11, TS16, TS17/A1, A2)
Der mildernde Umstand WA 13/ET22/TS1
Ein Soldat f Ein Soldat seiner Zeit
Der Mittelstand WA 13/WP13/TS1–TS3, E1 (WA 13/WP13/E2)
Ein Soldat der Diktatur WA 16/K2/E1, E9, E12, E35, E39 Das verwunschene Schloss WA 16/K2/E11 Im Nebel der Zukunft WA 16/K2/E12, E13 Aus einem Heldenleben in sieben Gesängen WA 16/K2/E18, E21
Der römische Hauptmann WA 13/WP16/TS1 Der Tod aus Tradition WA 13/ET9/TS1, TS2
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Register (Prosa)
(WA 16/K2/TS1, E2–E7, TS2, E8, TS3–TS7, E14–E17, E19, E20, TS8–TS13, E22–E25, TS14, E26–E33, TS16, TS17, E34, E36, TS18, TS20, E37, E38, TS21, TS22, E40, TS23, TS24)
Roman WA 14/K3/E1, E6, E16, E18 Der europäische Spiessbürger WA 14/K3/E7 Herr Alfons Kobler WA 14/K3/E12 (WA 14/K3/E2–E5, E8–E11, E13–E15, E17, TS1/A1, E32, E33, TS1/A2, E37, TS2, TS3, E38)
Ein Soldat seiner Zeit WA 16/K1/E5, E7, E10, E16, E18, E19, E21, E22, E24, E27, E29, K2/E10 Ein Soldat WA 16/K1/E1, E2, E4, TS3 Soldat unserer Zeit WA 16/K1/E1, E3 Krieg ohne Kriegserklärung WA 16/K1/E12 (WA 16/K1/E6, TS1, TS2, TS4, TS5, E8, E9, E11, E13–E15, E17, TS8, E20, TS9, TS10, E23, E25, E26, E28) Ein sonderbares Schützenfest WA 13/ET14/TS1 Ein Teufel hat Ferien WA 13/WP19/E1
Herr Reithofer wird selbstlos (Sechsunddreißig Stunden) WA 14/K3/E7, E23–E26, E28, E31, E35, K4/E6 Roman-Anfang WA 14/K2/TS10 (WA 14/K2/TS1–TS9) Herr Reithofer wird selbstlos f Der ewige Spießer; Fräulein Pollinger wird sinnlich Himmelwärts WA 13/WP17/E1, E2, E5 Die Reise um die Welt WA 13/WP17/TS2 (WA 13/WP17/E3, E4, TS1/A1–A6, E6, E7, TS3/A1–A5, TS4, TS5/A1–A4, TS6–TS10, TS11/A1–A5, TS12, TS13/A1–A6)
Emil WA 13/ET4/TS1, TS2 „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann WA 13/ WP3/TS1 (WA 13/WP3/E1–E3)
Hinterhornbach WA 13/ET18/TS4 Brief aus Hinterhornbach WA 13/ET18/TS1 Kurzer Bericht aus Hinterhornbach WA 13/ET18/TS2 Souvenir de Hinterhornbach WA 13/ET18/TS3 (WA 13/ET18/E1)
WA 8/K4/TS2 Figaro II. () WA 8/VA1/E1 Flucht aus der Stille f Aus der Stille in die Stadt
Ich kämpfe nicht mit! WA 16/VA1/E20
Fräulein Pollinger wird sinnlich WA 14/K3/E23, E24 Fräulein Schmidt wird sinnlich WA 14/K3/E25 Novellenband WA 14/K3/E27 Zahlreiche Leute WA 14/K3/E28, E31 Herr Reithofer wird selbstlos WA 14/K4/E7
„Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus WA 13/WP9/TS1 Im Himmel der Erinnerung WA 13/WP15/E2 (WA 13/WP15/E1, TS1) Im Nebel der Zukunft f Ein Soldat der Diktatur
Fräulein Schmidt wird sinnlich f Fräulein Pollinger wird sinnlich
In memoriam Alfred f Nachruf
Geschichte einer kleinen Liebe WA 13/ET2/TS1 Grossmütterleins Redoute WA 14/K3/E35
Jugend ohne Gott WA 15/K/TS2 Roman. Durch Korruption zum Katholizismus WA 15/K/E1 (WA 15/K/E2, TS1)
Großmütterleins Tod WA 13/ET8/TS1 Hannes, das Arbeiterkind WA 14/K4/E7; WA 13/WP14/E1–E3, TS1
Krieg ohne Kriegserklärung WA 16/VA2/E4–E6, E9; K1/E12 (WA 16/VA2/E1–E3, TS1–TS3, TS5, TS6, E7, E8)
Herr Alfons Kobler f Herr Kobler wird Paneuropäer
Krieg ohne Kriegserklärung f Ein Soldat seiner Zeit
Herr Kobler wird Paneuropäer WA 14/K3/E19– E26, E28–E31, E34–E36, K4/E6, E7
Kurzer Bericht aus Hinterhornbach f Hinterhornbach
721
Register (Prosa)
Lachkrampf WA 13/ET6/TS1, TS2
Sportmärchen WA 13/SM/TS17, TS20
WA 13/SM/TS15 (WA 13/SM/TS1/A1–A2, TS2, TS16)
Legende vom Fußballplatz WA 13/SM/TS27, TS32, TS33, TS45 Lotte, die Kellnerin f Charlotte
f Sportmärchen
Marianne, oder: Das Verwesen WA 2/IN/ K1/TS2; WA 14/K4/TS1, E8
Stafetten WA 13/SM/TS9
Mein Selbstmord WA 13/WP12/TS1 Start und Ziel WA 13/SM/TS22, TS31, TS35 13/ET17/TS2
Nachruf WA In memoriam Alfred WA 13/ET17/TS1
Theodors Tod WA 13/ET5/TS1, TS2
Novellen-Band WA 13/WP1/E1
Ursula. Roman einer Kellnerin WA 14/K1/E3 Roman WA 14/K1/E1, E7 (WA 14/K1/E2, E4–E6, TS1)
Novellenband f Fräulein Pollinger wird sinnlich
Verrat am Vaterland WA 13/WP6/TS1, E1, E2, TS2, TS4 (WA 13/WP6/TS3)
Nur auf die Bindung kommt es an! WA 13/SM/TS6 Ostern WA 14/K1/E8, E9 Roman WA 14/K1/E10
Vom artigen Ringkämpfer WA 13/SM/TS4, TS14, TS23, TS31, TS34, TS39
Pepis Album WA 13/ET15/TS2 Mein Onkel Pepi WA 13/ET15/TS1
Vom kleinen Beamten WA 13/ET3/TS1, TS2
Persönlichkeiten WA 13/SM/TS8, TS13
Vom unartigen Ringkämpfer WA 13/SM/TS24, TS30, TS34, TS39
Regatta WA 13/SM/TS41
f Der Herr von Bindunghausen
Reise ins Paradies WA 13/WP18/E4 Die Reise WA 13/WP18/E2 (WA 13/WP18/TS1–TS4, E1, TS5, E3, E5–E10, TS6, TS7, E11–E13, TS8, TS9)
Waisenkinder / Hinter dem Mond WA 13/WP20/TS1
Roman f Herr Kobler wird Paneuropäer; Ursula. Roman einer Kellnerin
Was ist das? WA 13/SM/TS25, TS31, TS42
Roman-Anfang f Herr Reithofer wird selbstlos (Sechsunddreißig Stunden)
Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert WA 13/WP10/TS1
Roman. Durch Korruption zum Katholizismus f Jugend ohne Gott Sieg nach Punkten f Die stille Revolution
Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat WA 13/ET23/TS1
Soldat unserer Zeit f Ein Soldat seiner Zeit
Zahlreiche Leute f Fräulein Pollinger wird sinnlich
Sommer und Winter WA 13/SM/TS10
Zwei Briefe aus Paris WA 13/ET1/TS1
Souvenir de Hinterhornbach f Hinterhornbach
Zwei Liebeserklärungen WA 13/WP4/TS1, TS2
Souvenir de Piaristengasse f Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand
722
Inhalt (detailliert)
Inhalt (detailliert) Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Sportmärchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzprosa und Werkprojekte Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 22
Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Sportmärchen . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (SM/TS1/A2) Fassung (SM/TS3) . . . . . . . . . . Fassung (Poesiealbum Seyd) (SM/TS15) Fassung (Das Sprungbrett) (SM/TS19) . Endfassung (Sportmärchen) (SM/TS20)
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51 52 73 76 88 89
Kurzprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 1: Zwei Briefe aus Paris . . . . . . Fassung (ET1/TS1) . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 2: Geschichte einer kleinen Liebe . Endfassung (ET2/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 3: Vom kleinen Beamten . . . . . . Endfassung (ET3/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 4: Emil . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (ET4/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 5: Theodors Tod . . . . . . . . . . Fassung (ET5/TS2) . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 6: Lachkrampf . . . . . . . . . . . Fassung (ET6/TS1) . . . . . . . . . . . . . Endfassung (ET6/TS2) . . . . . . . . . . . Einzeltext 7: Die Versuchung . . . . . . . . . Endfassung (ET7/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 8: Großmütterleins Tod . . . . . . Endfassung (ET8/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 9: Der Tod aus Tradition . . . . . . Endfassung (ET9/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 10: Aus den weissblauen Kalkalpen Endfassung (ET10/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 11: Abseits der Alpenstraßen . . . Endfassung (ET11/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 12: Begegnung mit Kriminellen . . Endfassung (ET12/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 13: Das Bitterwasser-Plakat . . . . Endfassung (ET13/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 14: Ein sonderbares Schützenfest . Endfassung (ET14/TS1) . . . . . . . . . . . Einzeltext 15: Mein Onkel Pepi / Pepis Album Fassung (Mein Onkel Pepi) (ET15/TS1) . . . Endfassung (Pepis Album) (ET15/TS2) . . . Einzeltext 16: Das Fräulein wird bekehrt . . . Endfassung (ET16/TS4) . . . . . . . . . . . Einzeltext 17: In memoriam Alfred / Nachruf Fassung (In memoriam Alfred) (ET17/TS1) . Endfassung (Nachruf) (ET17/TS2) . . . . .
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105 107 108 109 110 113 114 115 116 119 120 123 124 126 129 130 133 134 139 140 145 146 147 148 151 152 155 156 157 158 161 162 163 165 166 171 172 174
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Inhalt (detailliert)
Einzeltext 18: Hinterhornbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET18/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in fünf Teilen (ET18/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET18/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET18/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (ET18/TS4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 19: Die gerettete Familie / Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung (Die gerettete Familie) (ET19/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (Die gerettete Familie) (ET19/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werktitel, Notiz (ET19/E1, E2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werktitel, Werkverzeichnis (ET19/E3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werktitel, Notizen (ET19/E4–E5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand) (ET19/TS4) Einzeltext 20: Aus der Stille in die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notiz (ET20/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (ET20/TS11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (ET20/TS12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 21: Das Märchen vom Fräulein Pollinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (ET21/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 22: Der mildernde Umstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (ET22/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 23: Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat . . . . . . . . . . Endfassung (ET23/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 24: Der Fliegenfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung (ET24/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekte Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 1: Novellen-Band . . . . . . . . . . . . . . . Titelliste, Werkverzeichnis (WP1/E1) . . . . . . . . . . Werkprojekt 2: Amazonas . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP2/TS1) . . . . . . . . . . Strukturplan in sechs Teilen (WP2/E1) . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP2/TS2) . . . . . . . . . . Werkprojekt 3: „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann . . . . Notiz, Werktitel, Strukturplan (WP3/E1–E3) . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP3/TS1) . . . . . . . . . . Werkprojekt 4: Zwei Liebeserklärungen . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP4/TS1) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP4/TS2) . . . . . . . . . . Werkprojekt 5: „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ Fragmentarische Fassung (WP5/TS1) . . . . . . . . . . Werkprojekt 6: Verrat am Vaterland . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP6/TS1) . . . . . . . . . .
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177 179 180 182 183 185 187 188 190 192 194 196 198 201 203 204 206 207 208 209 211 213 216 219 220 221 222 225 226 227 228 231 232 235 236 237 239 240 243 245 248 250 251 252 254 255 256 257 259 260 263 265
Inhalt (detailliert)
Strukturpläne (WP6/E1–E2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP6/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP6/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung (WP6/TS4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 7: „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP7/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 8: Die Fürst Alm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP8/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 9: „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP9/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 10: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert Fragmentarische Fassung (WP10/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 11: Die Colombine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP11/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 12: Mein Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP12/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 13: Der Mittelstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung (WP13/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung (WP13/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP13/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in fünf Teilen (WP13/E1) . . . . . . . . . . . . . . . Notizen (WP13/E2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 14: Hannes, das Arbeiterkind . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in 27 Teilen (WP14/E3) . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP14/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 15: Im Himmel der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . Notizen (WP15/E1–E2). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP15/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 16: Der römische Hauptmann . . . . . . . . . . . . . . Fassung (WP16/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 17: Himmelwärts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in 15 Teilen (WP17/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in 13 Teilen (WP17/E2) . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen (WP17/E3–E4). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS1/A6) . . . . . . . . . . . . . Strukturplan (WP17/E5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in zwei Teilen (WP17/E6) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in acht Kapiteln (WP17/E7) . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS3/A5) . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS4) . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS5/A1) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS5/A4) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS6) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS7) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS8) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS9) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS10) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS11/A5) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS12) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS13/A2) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS13/A3) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS13/A4) . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt (detailliert)
Fragmentarische Fassung (WP17/TS13/A5) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP17/TS13/A6) . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 18: Reise ins Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP18/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP18/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP18/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP18/TS4) . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen zum II. Kapitel (WP18/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP18/TS5) . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan (WP18/E2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen, Strukturpläne (WP18/E3–E8) . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Kapiteln (WP18/E9) . . . . . . . . . . . . . . Notizen und Dialogskizzen (WP18/E10) . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP18/TS6) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung des Kapitels „Probefahrt in die Kinderzeit“ (WP18/TS7) . . . Notizen (WP18/E11–E13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung (WP18/TS8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung des Kapitels „Ein Briefwechsel“ (WP18/TS9) Werkprojekt 19: Ein Teufel hat Ferien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen (WP19/E1–E2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 20: Waisenkinder / Hinter dem Mond . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP20/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 21: Das Märchen in unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP21/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 22: Der Gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP22/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP22/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 23: Der brave Bürger / Der letzte Mensch . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP23/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (WP23/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 24: Adieu, Europa! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Teilen, Notizen (WP24/E1–E3) . . . . . . . . . . Strukturplan in vier Teilen (WP24/E4) . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Teilen, Dialogskizze, Notiz (WP24/E5–E7) . . . . Strukturplan in zwei Teilen (WP24/E8) . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung mit Kapiteltitel „Neue Wellen“ (WP24/TS1) . Fassung (WP24/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Kapiteln (WP24/E9) . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung zweier Kapitel (WP24/TS3) . . . . . . . . . Strukturplan in drei Teilen (WP24/E10) . . . . . . . . . . . . . . . . Fassung des Kapitels „Neue Wellen“ (WP24/TS5) . . . . . . . . . . . Sportmärchen (Endfassungen, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportmärchen (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . Bergsteiger-Märchen (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . Das Sprungbrett (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . Der Herr von Bindunghausen (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . Der Fallschirm (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . „Nur auf die Bindung kommt es an!“ (Endfassung, emendiert) . . . . . Sommer und Winter (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . Kurzprosa (Endfassungen, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Briefe aus Paris (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . Geschichte einer kleinen Liebe (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . Vom kleinen Beamten (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . Emil (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt (detailliert)
Theodors Tod (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lachkrampf (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Versuchung (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Großmütterleins Tod (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod aus Tradition (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . Aus den weißblauen Kalkalpen (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . Abseits der Alpenstraßen (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . Begegnung mit Kriminellen (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . Das Bitterwasser-Plakat (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . Ein sonderbares Schützenfest (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . Pepis Album (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fräulein wird bekehrt (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . Nachruf (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinterhornbach (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gerettete Familie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus der Stille in die Stadt (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . Das Märchen vom Fräulein Pollinger (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . Der mildernde Umstand (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat (Endfassung, emendiert) Der Fliegenfänger (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar
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Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportmärchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzprosa und Werkprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 1: Zwei Briefe aus Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 2: Geschichte einer kleinen Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 3: Vom kleinen Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 4: Emil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 5: Theodors Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 6: Lachkrampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 7: Die Versuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 8: Großmütterleins Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 9: Der Tod aus Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 10: Aus den weissblauen Kalkalpen . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 11: Abseits der Alpenstraßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 12: Begegnung mit Kriminellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 13: Das Bitterwasser-Plakat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 14: Ein sonderbares Schützenfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 15: Mein Onkel Pepi / Pepis Album . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 16: Das Fräulein wird bekehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 17: In memoriam Alfred / Nachruf . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 18: Hinterhornbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 19: Die gerettete Familie / Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 20: Aus der Stille in die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 21: Das Märchen vom Fräulein Pollinger . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 22: Der mildernde Umstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeltext 23: Wie der Tafelhuber Toni seinen Hitler verleugnet hat . . . . . . Einzeltext 24: Der Fliegenfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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563 563 592 592 592 593 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602 603 603 604 605 607 608
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610 613 620 620 621 622
Inhalt (detailliert)
Werkprojekte Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 1: Novellen-Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 2: Amazonas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 3: „Es ist Sonntag“ / Der junge Mann . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 4: Zwei Liebeserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 5: „Das Cafe, in dem Michael Babuschke sass“ . . . . . . . . . . Werkprojekt 6: Verrat am Vaterland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 7: „Also gut, ich will Dir das alles erzählen“ . . . . . . . . . . . Werkprojekt 8: Die Fürst Alm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 9: „Ich will in meiner Heimat begraben sein“ / Der Stolz Altenaus Werkprojekt 10: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert . . . . . Werkprojekt 11: Die Colombine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 12: Mein Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 13: Der Mittelstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 14: Hannes, das Arbeiterkind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 15: Im Himmel der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 16: Der römische Hauptmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 17: Himmelwärts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 18: Reise ins Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 19: Ein Teufel hat Ferien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 20: Waisenkinder / Hinter dem Mond . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 21: Das Märchen in unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 22: Der Gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 23: Der brave Bürger / Der letzte Mensch . . . . . . . . . . . . . Werkprojekt 24: Adieu, Europa! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportmärchen (Endfassungen, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzprosa (Endfassungen, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Simulationsgrafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . WP17/TS1/A1–A6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . WP17/TS13/A1–A6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
691 692 693
Informationsgrafiken (Sportmärchen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab1: Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab2: Kompilationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Textteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Genetisches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) 1.1.2 Lineare Textkonstitutionen (Fassungen) . . . . . . . 1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat . . . . . . . . . . . . . 1.2 Emendierter Text (Endfassung) . . . . . . . . . . . . . 2 Kommentarteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Simulationsgrafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
703 703 703 703 704 705 706 707 707 710
Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
715
Register (Prosa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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728
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