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German Pages 191 Year 1999
ROBERT v. FRIEDEBURG
Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg
Band 27
Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530-1669
Von Robert v. Friedeburg
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Friedeburg, Robert von: Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt : Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530-1669/ von Robert v. Friedeburg. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd.27) ISBN 3-428-09787-4
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-09787-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Für Anne
Vorwort Die folgenden Ausführungen sind das Ergebnis der ersten Phase eines Forschungsprojektes über "Konfession und territoriale Identität" im Alten Reich. Die Erfahrungen der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten während der ersten drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer kritischen Bestandsaufnahme der deutschen Geschichte seit der Reformation, in der das ältere Augenmerk auf das Werden des modemen Staates übernommen, jedoch nun mit einem kritischen Vorzeichen versehen wurde. Dafür stehen Wertungen wie die von 1974, die "Konsolidierung des protestantischen Obrigkeitsstaates nach den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts [habe] hinsichtlich der gemeineuropäischen Lehre von Tyrannis und Widerstandsrecht...einen einzigartigen Traditionsbruch" ausgelöst, als dessen Folge ,,Deutschland unter den Nationen Westeuropas [zum] Land ohne Revolution" geworden sei, welches die "parlamentarische Demokratie" nurmehr als "gnädiges Schicksal." von den atlantischen Siegern habe empfangen können.! In der seit den 1970er Jahren in Gang gekommenen und bis heute nicht abgeschlossenen Diskussion über das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan ist diese Vorstellung eines übermächtigen, die Bevölkerung des Reiches disziplinierenden und manipulierenden Staatswesens schrittweise relativiert und zurückgenommen worden. Die intensive Erforschung der Vielzahl rechtlicher Handhaben und Möglichkeiten, mit denen Stände und Untertanen im Alten Reich ihre Interessen durchzusetzen vermochten, haben zu dieser Revision beigetragen. Auf der Suche nach dem Deutschen ohne Untertanenmentalität konzentrierte sich ein Teil der Forschung jedoch auf diejenigen sozialen und rechtlichen Aktivitäten von Ständen und Untertanen, die gegen ihre Obrigkeit gerichtet zu sein schienen und die sogar als Vorläufer moderner Vorstellungen politischer Verfaßtheit und Partizipation gedeutet wurden. So wichtig diese Forschungen in vieler Hinsicht waren, so problematisch hat sich doch die Übertragung politischer und verfassungsrechtlicher Kategorien, wie sie durch das Staatsrecht des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, auf die frühe Neuzeit erwiesen. Die jüngere Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stände und Konfessionen und mit der Geschichte politischer Ideen, Begriffe und Sprachen trägt indirekt auch zu einem neuen Blick auf die moderne Geschichte des 19. und 20. Jahrhun-
! Hella Mandt, Tyrannislehre und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1974, 9f.
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Vorwort
derts bei, in dem die Frühe Neuzeit in ihren eigenen, uns oft fremden Kategorien wiederentdeckt worden ist. Zu den von dieser Entwicklung berührten Problembereichen gehören besonders das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan und das Problem regionaler Identitäten in Deutschland, die nicht einer Nation oder einem Nationalstaat geschuldet waren, gleichwohl aber zu den wichtigen Siglen der deutschen Geschichte zählen und die sich als Teil des konfessionellen Landespatriotismus im Reich verstehen lassen. Beiden Problemen will sich das Forschungsprojekt über "Konfession und territoriale Identität" widmen. Es verfolgt drei Ziele. Erstens sollen die größeren Territorien im Norden und Osten des Reiches, wie beispielsweise Pommern, stärker in den Blickpunkt der Erforschung des Verhältnisses von Untertanen, Ständen und Fürstenherrschaft geraten. Viele der vorliegenden Studien über die Eigenständigkeit von Untertanen und Gemeinden im Reich konzentrierten sich, um die Eigenständigkeit deutscher Untertanen zu belegen, auf den deutschen Südwesten, also vor allem Teile des oberrheinischen und schwäbischen, z.T. auch fränkischen Reichskreises, deren Bewohner in der Auseinandersetzung mit den reichsunmittelbaren Obrigkeiten häufig die Reichsgerichte in Anspruch nehmen konnten. Das Bild vom autoritären protestantischen Fürstenstaat wurde so auf den Norden und Osten des Reiches eingeschränkt, dem ein vermeintlich freierer Südwesten entgegentrat, ohne daß die Qualität der politischen und sozialen Herrschaftsbeziehungen in den größeren und mittleren Territorien des Reiches schon hinreichend erforscht worden wäre oder die der positiven Bewertung des "Südwestens" zu Grunde liegenden Annahmen überprüft worden wären. Zweitens will das Forschungsprojekt dazu beitragen, das Verhältnis von Untertan und Obrigkeit nicht als Auseinandersetzung unterschiedlicher politischer Prinzipien verstehen, bei denen Stände und Untertanen vermeintlich andere Zielvorstellungen des Gemeinwesens vertraten als die Obrigkeiten, sondern als gestuftes und vielschichtiges Loyalitäts- und Verpflichtungsverhältnis, das in der frühen Neuzeit ohne den Hintergrund konfessioneller Loyalität nicht zu verstehen ist. Es will den entstehenden Territorialstaat auch als Gehäuse des konfessionellen Glaubenslebens im Reich, nicht allein als fürstliche Gerichts-, Lehens- und Landesherrschaft, begreifen. Sozialgeschichtlich angelegte Studien über das Verhältnis von Gemeinden, Landeskirchen und Obrigkeit sollen hierzu einen Beitrag leisten? Zu Beginn erwies es sich jedoch, daß sich die beiden zu behandelnden Problemkreise - das 2 Ergebnisse hierzu werden u.a. in die Konzeption des Bandes über Kultur und Mentalität der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutsche Geschichte), München (Oldenbourg) (vorauss.) 2000, eingehen. Zu ersten Forschungsergebnissen siehe The Public of Confessional Identity: Church and Church Discipline in Eighteenth Century Hesse, in: James Me/ton et. al. (Hg.), Constructing Publics: Cultures of Cornmunication in Early Modem Gerrnan Lands, Kirksville 1999.
Vorwort
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Verhältnis von Obrigkeiten und Untertanen und die regionale Identität im Reich im Phänomen des Landespatriotismus verschränken, dieser aber nicht zuletzt aus den Debatten um die Rechtmäßigkeit organisierter Gewaltanwendung gegen den Kaiser im Umkreis der Diskussionen unter den Anhängern des Augsburger Bekenntnisses seinen Ausgang nahm. Die Forderung nach Loyalität zu einem der im Reich entstehenden territorialen Gemeinwesen trat im Rahmen des häufig als "Widerstandsrecht" apostrophierten Problemkreises und der Behandlung des Gemeinen Mannes in diesem Zusammenhang auf. Notwehrrecht und Landespatriotismus, so zeigte sich, wandten sich von Fall zu Fall auch und gerade gegen den eigenen Fürsten. Die Rechtfertigung organisierter Gewaltanwendung gegen Obrigkeiten nahm aufgrund der Entstehung territorialer Gemeinwesen im Reich eine andere Entwicklung als in England oder Schottland, aber keine, die umstandslos als Weg in den protestantischen Obrigkeitsstaat gedeutet werden kann. Es erschien daher als notwendig, in einem ersten Schritt die Behandlung des Gemeinen Mannes im Rahmen des Widerstandsrechts im Reich nachzuvollziehen und dazu bewußt die Königreiche England und Schottland, die vermeintlich westeuropäischen Mutterländer der Revolte gegen Fürsten, zum Vergleich heranzuziehen. Die Aufgabe der vorliegenden Studie ist es, eine konzeptionelle Grundlage für die spätere auch sozialgeschichtliche Untersuchung regionaler und territorialer Identität im Reich zu schaffen. Für Anregung und Unterstützung schulde ich vielfachen Dank. Die deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Projekt "Konfession und territoriale Identität" im Rahmen eines Heisenbergstipendiums. Ein Cameron-Fellowship der Universität St. Andrews (Schottland) ermöglichte mir vom März bis Juni 1997 die Erforschung der Rezeption des deutschen Widerstandsrechts im Schottland des 17. Jahrhunderts. Zahllose Anregungen danke ich dem Kolloqium für die Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit an der Universität Bielefeld, Heinz Schillings Oberseminar zu Forschungsproblemen der Geschichte der Frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität in Berlin, Andrew Pettegrees Reformation Studies Seminar der Universität St. Andrews, der von Luise Schorn-Schütte organisierten Tagung über Strukturen des politischen Denkens in der frühen Neuzeit und des von Giuseppe Duso initiierten Arbeitsgesprächs über politische Theorie im Umkreis von Johannes Althusius in Wolfenbüttel. Glenn Burgess, Gregory Claeys und John Morrill gaben mir Gelegenheit, Aspekte der Arbeit in Hull, London und Cambridge vorzutragen. Besonderen Dank schulde ich Horst Dreitzel, Paul Joachi m Heinig, Johannes Kunisch, Wolfgang Mager und Horst Rabe. Horst Dreitzel machte mich auf die besondere Bedeutung der Kategorie Notwehr zu Beginn meiner Untersuchungen aufmerksam. Der Austausch mit Wolfgang Mager zu ,,Republik" und "Genossenschaft" war eine wichtige Anregung. Paul Joachim Heinig und Horst Rabe lasen Teile des Manuskriptes und halfen mir mit kritischen Hinweisen weiter. Johannes Kunisch befürwortete die Drucklegung der Studie bei Duncker & Humblot. Ich danke den Herausgebern für die Übernahme der Studie in ihre Reihe, dem Verlag für fürsorgliche und kooperative Zusammenarbeit und
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Vorwort
Stefan Gorißen für Freundschaft und Unterstützung bei der technischen Aufbereitung des Textes für den Druck. St. AndrewsIBielefeld, im Juni 1999
Robert v. Friedeburg
Inhalt A. Widerstandsrecht und die Frage nach der Entstehung des neuzeitlichen Gemeinwesens ....................................................................
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I. Gemeiner Mann und ständische Gesellschaft im Spiegel des Widerstandsrechts
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11. Die Geschichte des Widerstandsrechts und die po!ltischen Auseinandersetzungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ........................................
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B. Notwehr und Widerstandsrecht 1m Heiligen Römischen Reich, 1530-1664 .....
51
I. Notwehr und Gemeiner Mann in den Rechtfertigungsschriften der Anhänger des Augsburger Bekenntnisses, 1530-1562 ........................................
51
11. Widerstandsrecht und Notwehrrecht zwischen 1614 und 1664 ...................
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Notwehr und Widerstandsrecht in den Königreichen England und Schottland, 1553 -1669 ........................................................................
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I. Notwehr und Gemeiner Mann in den englischen Konfessionskonflikten, 15531657. ..... ... .............. ... ....... ..... .... .... ... ...... .... ....... ... ... ....
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c.
11. Die Notwehr des Gemeinwesens und des Gläubigen im Königreich Schottland,
1560-1669 .................................................................... 130
Schluß: Konfessionelle Erfabrungsgemeinschaften, monarchische Herrschaft und Notwehr: Duell zwischen "Herrschaft" und "Genossenschaft" oder Krise des ,,monarchischen Republikanismus"? ................................... 148 Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................... 167 Personen- und Sachregister .......................................................... 188
A. Widerstandsrecht und die Frage nach der Entstehung des neuzeitlichen Gemeinwesens I. Gemeiner Mann und ständische Gesellschaft im Spiegel des Widerstandsrechts Der Syndikus der Stadt Münster und lutherische Parteigänger Johannes Wick veröffentlichte 1531 eine der radikalsten Schriften zur Widerstandsfrage. Er gestand selbst dem einfachen .,Landvolk" das Recht zur Notwehr gegen die eigene Obrigkeit zu. wenn weder höhere noch niedere Magistrate ihren Pflichten zum Schutz der Christen gerecht würden und keine andere Hilfe als die Selbsthilfe in Aussicht stände. Als Beleg führte er den biblischen Phineas an (4. Mose 25, 1-9), der, ohne selbst Amtsträger zu sein, einen Götzenanbeter mit seiner Lanze durchbohrt hatte, um Gottes Willen genüge zu tun: 135 Jahre später erhoben sich schottische Untertanen, um sich gegen die Übergriffe der königlichen Truppen zu wehren, denen die presbyterianische Untergrundkirche in Schottland seit der Rückkehr der Stuarts auf die Throne von England und Schottland und dem Beginn der Restauration ausgesetzt war, und dem König eine Beschwerdeschrift gegen ihre Peiniger vorzulegen. Nach der Niederschlagung der Erhebung rechtfertigte ein anonymes Pamphlet den Aufstand zum einen als Notwehr, zu der, da Rechtsmittel gegen die Rechtsbrüche der königlichen Truppen nicht zur Verfügung gestanden
1 Johann Wieks der Rechte Doctoris zu Bremen Rathschlag/daß man dem Keyser widerstehen möge..... 1531. in: Friedrich Hortleder, Der Römischen Keyser und königlichen Majestät...Handlungen und Ausschreiben ... von Rechtmäßigkeit, Anfang und FOl1gang des deutschen Kriegs ... Vom Jahr 1546 biß auf das Jahr 1558, Weimar 1618, Buch 11, S. 74-80. Dieser hier benutzte Band umfaßt im ,,Ersten Buch ... [Quellen] Von der Rechtmäßigkeit des Teutschen Krieges auff Seiten Römischer Keyserlicher Majestät Caroli de V" und ein "ander Buch Von der Rechtmäßigkeit deß Teutschen Krieges auf Seiten des Schmalkaldischen Bundes-Obersten, Chur und Fürsten". die mit einem ,,Rathschlag [von] Luther. Philipp Melanchthon Bugenhagen ob ein Fürst seine Unthertanen umb des Glaubens willen wider keyserliche Majstät oder andere Fürsten Gewalt schützen möge, anno 1523", beginnen. Dieses zweite Buch wird im folgenden als Hortleder ß zitiert. Vgl. zu den Titeln von Hortleber und den Einbänden Heinz Scheible (Hg.). Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546, Gütersloh 1969. S.9; zu Münster und Wick Heinz Duehhardt, Protestanten und Sektierer im Sozial- und Verfassungsleben der Bischofsstadt im konfessionellen Zeitalter. in: Franz-Josef Jakobi (Hg.), Geschichte der Stadt Münster. Bd. I, S. 217-47; Ronnie Po-ehia Hsia, Gesellschaft und Religion in Münster 1535-1618, Münster 1989. S. 8; zur zentralen Bedeutung des Amtes im europäischen Kontext Conal Condren, Liberty of Office and its Defence in Seventeenth Century Political Argument, in: History ofPolitical Thought 18 (1997), 460-82.
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A. Widerstandsrecht und neuzeitliches Gemeinwesen
hätten, keine Alternative bestanden habe. Zum anderen verwies diese Rechtfertigung auf den biblischen Phineas, gleich dem jeder Gläubige seinen Pflichten zur Verteidigung des Glaubens nachkommen müsse. Gegen die Rechtsbruche der Magistrate und zum Schutz des Glaubens besitze selbst der einzelne Untertan ein Recht zur Notwehr und eine Pflicht zum Kampf für Gott. In seiner Widerlegung dieser Rechtfertigung wies der Bischof von Orkney, Andrew Honeyman, der selbst in den konfessionellen Konflikten in Schottland zum Opfer eines Attentates presbyterianischer Gläubiger geworden war, auf die Gefahren für jedes Gemeinwesen hin, wenn Untertanen, unter welchem Vorwand auch immer, zum Attentat auf ihre Magistrate aufgefordert würden. So sehr Repräsentanten des Gemeinwesens Rechtsbruche des höchsten Magistrats zum Schutz des Gemeinwesens Einhalt gebieten mochten, so dürfe doch der Gemeine Mann unter keinem Vorwand aus der Gehorsamspflicht der ständischen Herrschaftsordnung entbunden werden, die Grundlage jeder "politique society" sei. Der "Wahnsinn von Münster" sei die notwendige Folge einer solchen Freisetzung der Untertanen. 2 Diese beiden Hinweise auf das Recht der Notwehr und den biblischen Phineas aus den 1530er und 1660er Jahren kennzeichnen Beginn und Ausklang der kriegerischen Auseinandersetzungen um die richtige Deutung des christlichen Glaubens innerhalb der europäischen Gemeinwesen im Gefolge der Reformation, eine Auseinandersetzung, die spätestens seit den 1570er Jahren nicht nur zwischen Anhängern und Gegnern der römischen Kirche, sondern auch zwischen den protestantischen Anhängern verschiedener Glaubensdeutungen mit gleicher Erbitterung geführt wurde. Die Entwicklung widerstreitender Bekenntnisse des christlichen Glaubens wird in der Geschichtswissenschaft u.a. als Konfessionalisierung untersucht. 3 Dieser Prozeß stellte die Herrschaftsordnungen der europäischen Gesellschaften vor tiefgreifende Zerreißproben. Die beiden Hinweise auf das Recht der Notwehr und den biblischen Phineas an seinem Beginn und Ende stehen in diesem Zusammenhang und kennzeichnen ein Strukturproblem der Epoche. Sie suchten die Gewaltanwendung ständisch niederer Personengruppen gegen ständische Höhere zur Verteidigung des für richtig befundenen Bekenntnisses zu rechtfertigen
2 Andrew Honeyman, A Survey of the insolent and infamous libel, entituled, Naphtali, Edinburgh 1668, S. 100; ders., Survey ofNaphtali, Part 11, Edinburgh 1669; Rosalind Mitchison,A History of Scotland, London 1970, S. 252f.; Michael Lynch, Scotland. A New History, London 1991, ND 1997, S. 291-4; A. Van Doren Honeyman, The Honeyman Family in Scotland and America, Plainfield (NJ) 1909, S. 26-41. 3 Heinz &hilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Giesen, Bernhard (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt/M 1991, 192-252; Johannes Wal/mann, Lutherische KonfessionaIisierung - ein Überblick, in: Hans-Christoph Rublack (Hg.), Die lutherische KonfessionaIisierung in Deutschland, Gütersloh 1992, S. 33-53.
I. Gemeiner Mann und ständische Gesellschaft
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und wiesen darauf hin, daß im Falle des Versagens selbst der niederen Magistrate bei der Verteidigung der Rechts- und Glaubensordnung Pflicht und Recht zur Notwehr beim einfachen ,,Landvolk" liegen könne und daß auch in der Heiligen Schrift Einzelne zur Verteidigung des Glaubens berechtigt gewesen seien. Die Unter- und Einordnung des Einzelnen in die rechtmäßigen Herrschaftsordnungen der irdischen Welt wurde jedoch ebenso als unverziehtbares Band der gemeinsamen Rechts- und Glaubensordnung verstanden wie der gemeinsame christliche Glaube. Reformation und Konfessionalisierung stellten diese Vorstellung auf eine harte Probe, denn die Befolgung der Gebote der Heiligen Schrift, Gehorsam gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit zu leisten (Römer 13) und Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (Apostelgeschichte V, 29) schienen nun nicht mehr in jedem Fall vereinbar. Die Menschen mußten sich fragen, in welchen Fällen das Gehorsarnsgebot anwendbar sei, ob es Ausnahmen gäbe, und ob die Gewährung solcher Ausnahmen nicht bald von manchen für ihren Eigennutz verwendet und damit zugleich die Gnindlage des Gemeinwesens, Eintracht und Unterordnung, untergraben würde. Notwehr und Selbstverteidigung gegen unrechtmäßige Übergriffe wurden unter diesen Umständen zentrale Begriffe zur Rechtfertigung der Verteidigung des für richtig erkannten christlichen Bekenntnisses gegen die eigene Obrigkeit. Die beiden Hinweise auf den biblischen Phineas kennzeichnen jedoch nicht nur die Zerreißprobe zwischen Konfessionskonflikt und ständischer Herrschaftsordnung, ihre Hinweise auf das Versagen niederer Magistrate und· ein Recht der Notwehr deuten zugleich verschiedene Spielräume zur Lösung dieses Problems im Reich, in England und in Schottland an, Lösungen, die durch die spätrnittelalterlichen Verfassungslagen auf den britischen Inseln und im Reich nicht determiniert, aber fundamental beeinflußt wurden. Die folgenden Ausführungen fragen nach dem Verhältnis zwischen Widerstandsrecht und Notwehrargument im Hinblick auf die Berucksichtigung des Gemeinen Mannes während der Konfessionskonflikte im Reich und in den beiden britischen Königreichen England und Schottland. Im Vergleich zwischen dem Reich und den Königreichen England und Schottland soll der Frage n!tchgegangen werden, welchen Personengruppen - oder selbst dem einzelnen Untertanen - ein Recht zur Notwehr unter welchen ereignis- und verfassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen der konfessionellen Konflikte zugesprochen wurde. Denn die Entwicklung eines individuellen Widerstandsrechts wird als wichtger Meilenstein bei der Erosion der Grundlagen der ständischen Herrschaftsordnung betrachtet. Die folgende Untersuchung zielt damit auf die Frage nach Wandel und Beharrung der ständischen Herrschaftsordnung in der Krise der Konfessionalisierung des christlichen Glaubens und der Konfessionskonflikte zwischen der Reformation und dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts im Spiegel des Notwehrrechts. Im Verlauf der Glaubenskämpfe im Europa des konfessionellen Zeitalters schlossen sich an die Rechtfertigung der organisierten Gewaltanwendung gegen die eigene Obrigkeit Erörterungen über die Natur des Gemeinwesens an, die parallel zur Umformung des christlichen Europa und seiner Gemeinwesen in souve-
A. Widerstandsrecht und neuzeitliches Gemeinwesen
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räne Staaten in die Entwicklung eines Staatsrechts mündeten. Der Problematik des Widerstandsrechts ist die Verfassungsgeschichte daher nicht zuletzt mit dem Ziel nachgegangen, Ort und Begriff der Souveränität im Prozeß des Werdens des modemen Staates zu bestimmen. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand die Frage nach der Entwicklung verschiedener Verfassungsentwürfe, aus deren Verortung der Souveränitätsrechte und Fassung des Souveränitätsbegriffs sich unterschiedliche Rechtfertigungen für die Ausübung organisierter Gewaltsamkeit gegen den rechtmäßig eingesetzten Herrscher ergaben. Der Begriff Widerstandsrecht faßte für die Forschung zu diesem Zweck unterschiedliche Argurnentationsmuster zusammen, der sich die Zeitgenossen bedienten. Er umfaßt eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsakte und Annahmen wie Herrscherverlassung und -absetzung, ständische Vertragsgarantie zugunsten Dritter und die Ausübung der Majestätsrechte durch die Stände in besonderen Fällen. Als Grundtypen widerstandsrechtlicher Begründungen wurden jüngst der Hinweis auf ständische und in den leges fundamentales festgelegte Rechtsbestände, auf die Bindung des Herrschers durch das Naturrecht und auf einen Vertrag zwischen Herrscher und Unterworfenen insgesamt genannt.4 Unter diesem Aspekt wurden lean Bodins Six livre de la republique (1576) als unter dem Druck des französischen Konfessionskonfliktes entstandene Abkehr von "dem herkömmlichen Prinzip der Rechtsreformation durch formellen oder informellen Konsens von Fürst und Ständen" und Hinwendung zur "Rechtssetzung kraft Willensentscheidung" des Souveräns verstanden. 5 Die politische Konzeption des lohannes A1thusius ist unter diesem Blickwinkel häufig als Gegenentwurf zu Bodin gedeutet worden, weil Althusius die Souveränitätsrechte beim Gemeinwesen ansiedelte, nicht bei den durch das Gemeinwesen nur eingesetzten Magistraten, und weil er zur Kontrolle dieser Magistrate Wächter vorsah. 6 Die Perspektive der folgenden Untersuchung zum Verhältnis von Herrschaftsordnung und Gemeinem Mann ist jedoch eine andere. Sie fragt weniger nach unterschiedlichen Verfassungsentwürfen im Spiegel des Widerstandsrechts als nach dem Problem der Erosion von allen Beteiligten geteilter Vorstellungen über die Ordnung des Gemeinwesens im Spiegel des Notwehrrechts. Trotz aller Unterschiedlichkeit ihrer verfassungsrechtlichen Konzeptionen waren lean Bodin und lohannes A1thusius nämlich zugleich von der Notwendigkeit rechtmäßiger Heinrich de Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns, Aalen 1992, S. 217-20. Vgl. Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986,48-65, Zitat S. 48; zur Entwicklung der Forschung vgl. Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Refonnation bis in den Vormärz, Köln 1991, S. 452-481. 6 Vgl. Hans U/rich Scupin, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Theorien von Gesellschaft und Staat des Johannes Althusius und Jean Bodin, in: Karl Wilhe/m Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, S. 301-12, hier S. 307. 4
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I. Gemeiner Mann und ständische Gesellschaft
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Herrschaftsordnungen in dieser Welt überzeugt. Nur in ihrem Rahmen könne das Ziel jedes Gemeinwesens, die Organisation des menschlichen Zusammenlebens, erfüllt werden. Dieses Ziel verglichen beide mit dem Harmonieren verschiedener Töne zu einer Melodie. Nur so lange sich die Mitspieler unterschiedlicher Instrumente bedienen, diese aber für den gemeinsamen Zweck, eben den Gemeinnutz, die res publica, einsetzten, gelänge auch die ErfüUung des Zieles des Zusammenlebens, des guten und glückseligen Lebens. 7 Beide Autoren kennzeichnen das Verhältnis zwischen den Magistraten, deren Handeln diese Harmonie sichern soll, und den Untertanen, unbeschadet der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Einrahmung des höchsten Magistrats, wie das eines Steuermanns eines Schiffes zu Mannschaft und Passagieren. Ohne Unterordnung unter den Steuermann würden alle mit dem Schiff, mit dem beide das Gemeinwesen verglichen, untergehen. 8 Die Unterordnung der Gehorchenden in die rechtmäßigen Herrschaftsordnungen dieser Welt rechtfertigten beide im Rahmen ihrer Konzeptionen rechtmäßiger Herrschaft nicht zuletzt funktional. Eine Verweigerung der Ein- und Unterordnung ge7 Zum "vie bien hereuse" und zur Forderung nach "Harmonie melodieuse de tout ce monde" bei Jean Bodin siehe ders., Six Iivres de la republique, Paris 1583, livre I, 5; vgl. auch Kapitel VI livre VI ,.oe la iustice distribue, commutative, & harmonique, laquelle des trois propre a chacune Republique; JH.M. Salmon, The Legacy of Jean Bodin: Absolutism, Populism or Constitutionalism?, in: History 01 Political Thought, 17 (1996), S.500-21; Julian H. FrankJin, 'Sovereignty and the mixed constitution: Bodin and his critics', in: J. H. Bums (Hg.), The Cambridge History 01 Political Thought. 1450-1700, Cambridge 1991, S. 298-328, hier 308-9; Wolfgang Mager, 'Republique', Archives de Philosophie du Droit, Tome 35, Sirey 1990, S. 257-273, hier 267; Simone Gayard-Fabre, Jean Bodin et le droit de la republique, Paris 1989, S. 255-78; Johannes Althusius (1557/63-1638), Politica Methodice Digesta, Herborn 1614, c I n. 30: ,,Finis politicae, es usus vitae commodae, utilis, & felicis, atque salutis communis"; c. 1 n. 36: ,,Deinde conservatio & duratio omnium rerum consistit in illa ordinationis, & subjectionis concordia. Narn sicut ex diversi toni fidibus, ad symmetriarn intensis, sonus dulcissimus oritur & melodia suavis. gravibus, mediis & acutis conjunctis: ita conventus & societas in Rep. imperantium & obedientium se habet, & ex divitum, pauperum, artificum, sedentatiorum & id genus diversorum graduum personarum statu, quarn suavissima oritur & conveniens harmonia; & si ad concentum reducantur, efficitur concordia laudabilis, felix & pene divina, & durabilior. Quod si vero ornnes aequales, singulique pro arbitrio vellent alios regere, & alii recusarent regi, hinc facilis esset discordia, & discordia dissolutio societatis: Nullus esset gradus virtutis, nullus meritum, & sequeretur, ut ipsa aequalitas esset summa inaequalitas... Hinc inter signa irae divinae refertur, quando haec imperantium & obtemperantium symmetria, ejusque ministri, & duces non sunt." 8 Vgl. Jean Bodin, Six Livre de la Republique, I 8; Johannes Althusius, Politica, XIX, 23: ,,Narn hanc magistratus summi constitutionem sua sit utilitas & necessitas Reip. summa. Narn teste Cic. lib. 3 de legib. nihil tarn aptum es ab jus conditionernque naturae, quarn imperium, sine quo nec domus ulla, nec civitas, neque gens, nec hominum universum genus stare, nec rerum natura omrnnis, nec ipse mundus potest. In apibus princeps & rex unus est, quo presente totum agmen tenetur, quo amisso dilabitur, migratque ad alios, & sine rege esse non potest. Si navis sine naucIero, helIum sine duce, corpus sine anima regni non potest." Vgl. besonders zum Problem der Eignung der Herrscher Giuseppe Duso, Herrschaft als Gubernatio, in: Ders. u.a. (Hg.), Herrschaft und politische Ordnung im Umkreis von A1thusius, Wiesbaden 2000.
2 v. Friedeburg
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A. Widerstandsrecht und neuzeitliches Gemeinwesen
fährdete in den Augen beider das Gemeinwesen als solches. Es hätte den Rahmen der Sozialordnung und der Arbeitsteilung zwischen Herrschenden und Gehorchenden in der ständischen Gesellschaft gesprengt. 9 Mit demselben Argument wehrte sich Bischof Honeyman 1668 gegen die Behauptung, auch einzelne Untertanen ohne jede Führung durch Repräsentanten des Gemeinwesens seien zum Widerstand gegen Magistrate, unter welchem Vorwand auch immer, berechtigt.IO Gerade die Befürworter widerstandsrechtlicher Argumente mußten sich daher nicht zuletzt gegen den Vorwurf schützen, sie leisteten mit ihren Behauptungen einer Zerstörung jeder irdischen Ordnung Vorschub, indem die Gehorsamspflicht des Gemeinen Mannes untergraben würde. Das Interesse der jüngeren Forschung am Widerstandsrecht konzentrierte sich auf die Berücksichtigung des Gemeinen Mannes unter zwei unterschiedlichen Blickwinkeln. In der englischsprachigen Forschung dominierte die Frage nach der Entflechtung des Einzelnen aus der ständischen Ordnung. In einem Prozeß, der in den Abhandlungen von John Locke den Weg in die Frühaufklärung gebahnt habell, habe die durch die Konfessionskonflikte erzwungene Rechtfertigung der Gewaltanwendung gegen rechtmäßige Obrigkeiten die Vorstellung der Zeitgenossen vom Gemeinwesen selbst tiefgreifend verändert. Nicht zuletzt die Auflösung des älteren Naturrechts verdanke sich diesen Forschungen zufolge der durch die Krisen und Bedrohungen der Glaubensspaltung vorangetriebenen Dynamik des Widerstandsrechts, welche das Denken über den Menschen in der Welt mit sich gerissen habe. In der deutschsprachigen Forschung läßt sich das Interesse am Gemeinen Mann nicht zuletzt als Gegenreaktion auf eine ältere, sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelnde Sicht des Verhältnisses von Reformation, Territorialstaat und Fürstenherrschaft verstehen. Wie im nachfolgenden Kapitel ausführlicher dargelegt wird, wurde das Problem des Widerstandsrechts im Reich als Spiegel der Durchsetzung der fürstlichen Territorialherrschaft gegen das Reich als Staat und den Kaiser verstanden. Diese Durchsetzung wurde seit den 1920er Jahren, vor allem jedoch im Gefolge der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft, zunehmend auch als Vorentscheidung für den monarchischen Territorialstaat und gegen die Rechte des Volkes im Rahmen einer vermeintlich deutsch-britischen 9 Vgl. Horst Drejtzel, Politischer Aristotelismus und Souveräner Staat. Die Staatslehre des Henning Amisaeus, Wiesbaden 1970, S. 347-350. 10 Honeyman, Survey 11, S. 105: ,.As when a great Prince commits to an Architect a master of work, the building of a far palace to him, diverse sorts of men, Borrow men, Masons, Sklaiters, Wrights are all imployed about the work. ..the master of work doth none of all their work, yet he looketh to the right ordering of all... put order to their differences... So the magistrates of a town, although they be not tradesmen... may be appeal.ed to by the wronged party". 11 Vgl. Quentin Sldnner, Modem Political Thought, Cambridge 1978; John MarshalI, Resistance, Religion and Responsibility, Cambridge 1994.
I. Gemeiner Mann und ständische Gesellschaft
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Dichotomie, eines lutherischen Weges in den Obrigkeitsstaat und eines calvinistisch-westeuropäischen Weges in den Sieg der Stände über die Fürsten gedeutet. Im Rahmen dieser Deutung machte sich die Forschung einzelner Emigranten bereits seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts auf die Suche nach liberaldemokratischen Wurzeln auch in der deutschen Geschichte und in diesem Zusammenhang, verstärkt seit den siebziger Jahren, nach der Rolle des Gemeinen Mannes und seiner Gemeinde im Kampf mit der Fürstenherrschaft. In der jüngsten Kontroverse zwischen Winfried Schulze und Siegfried Wollgast zu diesem Problem wies Winfried Schulze auf die ,,Absenkung der politisch-sozialen Qualiflkationen"zu rechtmäßigem Handeln von Untertanen im Rahmen der Verrechtlichung der Auseinandersetzungen zwischen Untertanen und Territorialobrigkeit auch im Reich hin. 12 Neben den reichsgerichtlichen Auseinandersetzungen ländlicher Gemeinden gegen ihre Landesherren geriet die Standschaft ländlicher Gemeinden in einigen Gemeinwesen der Schweiz in den Mittelpunkt des Interesses. Der Herborner Jurist Johannes Althusius wurde sogar als Theoretiker eines genossenschaftlichen Gegenentwurfs zur Fürstenherrschaft im Reich und in Europa herangezogen, der in diesen Schweizer Gemeinwesen verwirklicht worden sei. 13 Die folgende Untersuchung wird sich mit der These eines Duells zwischen ,,Herrschaft" und "Genossenschaft" als Schlüssel einer Berücksichtigung des Gemeinen Mannes im Widerstandsrecht auseinandersetzen. Thren Ausgangspunkt bildet jedoch die Verrechtlichung konfessioneller Konflikte durch die Territorialisierung des Reiches als zentralem Unterschied zwischen dem Reich und den Königreichen England und Schottland. Sie überprüft die Konsequenzen dieser Divergenz vor dem Hintergrund der Konfessionalisierung des christlichen Glaubens, der doch das wichtigste Band blieb, ein Gemeinwesen zusammenzuhalten. 14 Die Konfessionalisierung stellte die Herrschaftsordnung der alteuropäischen Gesellschaft vor ungeheure Zerreißproben, die, so sehr sich die Kontrahenten auch immer wieder auf spätmittelalterliche Autoren beriefen und insofern auf ältere, vor-
12 Winfried Schulze, Zwingli, Lutherisches Widerstandsdenken, monarchomachischer Widerstand, in: Peter Blickle u.a. (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 199-216, S. 203, S. 214. Zur Forschungsentwicklung im Hinblick auf den Reichspatriotismus vgl. in diesem Zusammenhang Adam Wandruszka von Wanstetten, Vom Begriff des "Vaterlands" in der Politik des Dreißigjährigen Krieges, in: Hans Rudolf Ulrich (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg. Perspektiven und Strukturen, Darmstadt 1977, S. 175-184; Michael Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. Zum 18. Jahrhundert, in: Günther Birtsch (Hg.), Patriotismus, in: aufklärung 4 (1991). 13 Peter Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 529-556. 14 Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich - Religiöser Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1-45; ders., Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Bemd Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt 1991, S. 192-252.
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konfessionelle Traditionsstränge zurückgriffen, eine neue Qualität der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und ihrer Reflexion erzwangen. Die jüngere Forschung zum englischen Widerstandsrecht hat gerade die besonders einflußreichen und weit in das 18. Jahrhundert wirkenden Schriften von Algernon Sidney und John Locke als Produkte einer dieser Zerreißproben im England der Jahre 1679 bis 1688 verstanden. 15 Sowohl für Locke wie für Sidney spielte dabei das Problem der Selbstverteidigung gegen den Konfessionsgegner im äußersten Notfall eine zentrale Rolle. Obwohl bereits die Peinliche Halsgerichtsordnung des Reiches von 1532, die Constitutio Criminalis Carolina, den Versuch machte, Begriff und Gegenstand der Notwehr in das Strafrecht des Heiligen Römisches Reiches zu integrieren, zu verrechtlichen und darni~ zu bändigen, wurde der Begriff der Notwehr zwischen dem ersten Drittel des 16. und dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts auf den britischen Inseln und im Reich zur Rechtfertigung einer breiten Spannweite von Handlungen organisierter Gewaltsarnkeit herangezogen, die vom Selbstschutz des einzelnen Untertanen gegen Rechtsverletzungen durch einen Büttel der niederen Obrigkeit bis hin zu organisierter Gewaltanwendung ganzer Aufstandsbewegungen, ja Territorien, gegen den höchsten Magistrat reichte. Im Gegensatz zu den Rechten, die ständische Eliten als Repräsentanten des Gemeinwesens, als Inhaber von Ämtern oder als Teilhaber an den Souveränitätsrechten zukommen mochten, konnte die Notwehr auch dem einzelnen Hausvater zukommen. Das Recht zur Gewaltanwendung im Rahmen der Notwehr war weder a priori ständisch eingeschränkt noch direkt mit einem bestimmten Verfassungskonzept verbunden. Es mochte in verschiedenen verfassungsrechtlichen Konstellationen unterschiedliche Rollen spielen und unterschiedlichen Personengruppen zukommen, je nachdem, welche anderen Rechtsmittel gegen tatsächlich oder vermeintlich unrechtmäßige Angriffe von der Rechtsordnung jeweils zur Verfügung gestellt wurden. Noch in Zedlers Universallexikon sind dem Begriff "Widerstand" nur vier Spalten gewidmet, die Fragen des geltenden Rechts weitgehend außer Acht lassen, während der Artikel zur ,,Nothwehr" in zehn Spalten auch die Frage der Zulässigkeit von Notwehr gegen den Landesherren durch einzelne Untertanen behandelt. 16 Die Frage nach der Berücksichtigung des Gemeinen Mannes im Notwehrrecht fragt nicht in erster Linie nach der Entstehung des souveränen Anstaltsstaates und dem Konflikt um den Besitz der Souveränitätsrechte in ihm, sondern nach dem Verhältnis zwischen der Fähigkeit einer Herrschaftsordnung, den konfessionellen Konfliktparteien Rechtsmittel zur Verfügung zu stellen, und der Radikalisierung des Widerstandsrechts im Medium der Notwehr. Der Zugriff der vorliegenden
IS Vgl. lonathan Scott, Algemon Sidney and the Restoration Crisis, 1677-1683, Cambridge 1991; MarshalI, Resistance. 16 V gl. lohann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 24 und 55, Leipzig 1740 und 1748, Sp.1440-1449und 1817-1820.
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Studie aus der Perspektive der Konfessionalisierung des frühneuzeitlichen Europa sucht die nationalstaatliche Perspektive durch die Perspektive der Ubiquität des Konfessionskonfliktes zu relativieren und nimmt weniger die Auseinandersetzung zwischen Obrigkeit und Untertan, sondern die Glaubenskämpfe seit der Reformation zum Ausgangspunkt, die insbesondere auf den britischen Inseln nicht zuletzt zwischen Protestanten ausgetragen wurden. Die folgenden Ausführungen gehen von der Überlegung aus, daß die Zeitgenossen im Widerstandsrecht in erster Linie um die Bewahrung einer Herrschaft des Rechts und der wahren Lehre rangen, und daß die Bereitschaft, die Schwelle für die Rechtmäßigkeit gewalttätigen Handeins zu senken, als unfreiwillige Erosion ihrer Suche nach gottgefälligem und rechtmäßigem Leben verstanden werden ml,lß. Der Blick auf die Rechtfertigung des Widerstandes gegen die rechtmäßige Obrigkeit mit dem Hinweis auf ein Recht zur Notwehr in Gebieten, die in ihrer verfassungsrechtlichen und politischen Entwicklungen als Alternativen zum Territorialabsolutismus des Reiches gehandelt wurden, wird zeigen, daß dort entweder ebensowenig wie im Reich eine Entbindung der Menschen von den Notwendigkeiten menschlicher Ordnung, von Herrschaft und Unterordnung, gewollt wurde, oder, wo sie doch zustande kam, diese Entbindung als schmerzliche Erosion der eigentlich gewünschten Herrschaft des Rechts verstanden wurde. Recht und Herrschaft des Rechts waren im Reich ebenso wie auf den britischen Inseln Schlagworte der Zeit. Die tiefgreifenden Unterschiede bei dem Versuch der Verrechtlichung der Konfessionskonflikte sind nicht zuletzt auf die divergierenden Verfassungsvoraussetzungen der Konfessionalisierung im Reich und in den britischen Inseln zurückzuführen. Die Entwicklung des Widerstandsrechts muß daher in den Zusammenhang der Verfassungsentwicklung des jeweiligen Gemeinwesens im allgemeinen und der spezifischen Konflikte im besonderen gestellt werden, in deren Rahmen die Beteiligten ihr Vorgehen zu rechtfertigen suchten. 17 Unter diesem Blickwinkel stehen die Konfessionskonflikte und die Möglichkeit ihrer Verrrechtlichung in einem direkten Verhältnis zum Notwehrrecht. Die Konfessionalisierung des christlichen Glaubens in unterschiedliche Bekenntnisse mußte vor dem Hintergrund unterschiedlicher Verfassungsentwicklungen in verschiedene Konfliktformen führen. Gleichwohl verstanden sich viele Zeitgenossen selbst als Mitglieder von europäischen Konfessionsparteien, deren Loyalität eher den Glaubensbrüdern in fremden Ländern als den Konfessionsgegnern im eigenen Gemeinwesen galt. Widerstandsrechtliche Argumente wurden daher über die Grenzen einzelner Gemeinwesen hinweg rezipiert und auf das eigene Gemeinwesen bezogen. Das galt insbesondere für die im Reich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelten Argumente im England und Schottland der 1550er und 17 V gl. zur Behandlung politischer Theorie als Teil politischer Praxis den Sammelband von Luise Scham-Schütte (Hg.), Strukturen politischen Denkens in der fiilhen Neuzeit, (Beihefte der Historischen Zeitschrift), München 1999.
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1560er Jahre und erneut für die Rezeption deutscher Juristen auf den britischen Inseln der 1630er bis 1660er Jahre. Ein Vergleich des Problemkomplexes Gemeiner Mann und Notwehrrecht würde jedoch an Schärfe verlieren, wenn beliebig viele Gemeinwesen einbezogen würden. Für das Reich und die britischen Inseln als Bezugspunkts eines Vergleichs sprechen vor allem zwei Gründe. Zum einen wurde die frühneuzeitliche Auseinandersetzung zwischen Fürsten und Ständen als Vorentscheidung über die Durchsetzung des politischen Liberalismus zur vorherrschenden Ideologie des viktorianischen Großbritannien bzw. des monarchischen Prinzips in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts verstanden. Deutschland und die britischen Inseln wurden zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem zweiten Drittel unseres Jahrhunderts als Beispiele geradezu entgegengesetzter politischer Weichenstellungen beschrieben, in welche die Reformationen hineingeführt und für die das Widerstandsrecht ein Spiegel gewesen sei. Das 16. und 17. Jahrhundert erschienen nicht zuletzt wegen der anglo-schottischen Bürgerkriege und des Dreißigjährigen Krieges zugleich als Kulminationspunkt und Wegscheide für verschiedene Wege in die Neuzeit. Die Verfestigung des Territorialabsolutismus im Reich nach dem Westfälischen Frieden und die Niederlage der Stuarts in ihren schottischen und englischen Königreichen erschienen als Ausgangspunkt von Verfassungsentwicklungen, die noch das 19. Jahrhundert in Deutschland und Großbritannien in fundamental unterschiedlicher Weise prägten. In diesem Zusammenhang erschien die Entwicklung des Widerstandsrechts im Rahmen der in beiden Gemeinwesen tobenden Konfessionskonflikte von grundsätzlicher Bedeutung. Diese Auffassung spiegelte sich bis in Bewertungen wie der, daß die "Konsolidierung des protestantischen Obrigkeitsstaates nach den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts hinsichtlich der gemeineuropäischen Lehre von Tyrannis und Widerstandsrecht...ein einzigartiger Traditionsbruch" gewesen sei, als dessen Folge "Deutschland unter den Nationen Westeuropas [zum] Land ohne Revolution" wurde, welches die "parlamentarische Demokratie" nurmehr als "gnädiges Schicksal" von den atlantischen Siegern empfangen konnte. 18 Inzwischen wissen wir freilich, daß umgekehrt das lutherische Magdeburger Bekenntnis Einfluß auf Protestanten in Frankreich und Schottland ausübte und Protestanten aus ganz Europa von den Argumenten Luthers und Melanchthons tief beeinflußt wurden. Die Debatten der 1530er bis 1550er Jahre strahlten jedoch nicht nur ganz allgemein nach Europa aus. England und das Reich von den frühneuzeitlichen Zeitgenossen - im Gegensatz etwa zu Spanien oder Frankreich - als Beispiele beschränkter Monarchien verstanden. Während des Spätmittelalters wurde die monarchische Herrschaft im Königreich England und im Reich in spezi-
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Mandl, 9f.
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fischer Weise an die Zustimmung des Gemeinwesens gebunden. 19 Der Würzburger Domherr und nachmalige Bischof von Bamberg, Lupold von Bebenburg, bezeichnete es in seinem 1340 vollendeten De iuribus regni et imperii Romanorum als Teil deS Reichsrechts, daß der König von den Kurfürsten als Repräsentanten des Reiches gewählt werde. 20 Sir John Fortescue untertitelte sein Werk über "The Govemance ofEngland" aus den 1440er Jahren explizit "The Difference between an Absolute and a Lirnited Monarchy,,21. Die Absetzung Richards 11. in England und Wenzel N. von Böhmen prägten in beiden Gemeinwesen die Reflexion über die beschränkte Natur der monarchischen Herrschaft in ihnen. 22 Englische und deutsche protestantische Widerstandsschriften des 16. Jahrhunderts bezogen sich auf die in dieser Hinsicht spezifisch rechtlich gebundene Natur monarchischer Herrschaft in diesen Gemeinwesen, um vermeintliche Rechtsbrüche der Monarchen und ein Recht zur Notwehr gegen diese Rechtsbrüche zu deduzieren. Gegen Ende des 17. Jahrhundert zog der Märtyrer der protestantischen Sache in England, Algemon Sidney, in seinen zwischen 1681 und seiner Hinrichtung durch den Stuart Monarchen Karill. 1683 geschriebenen ,,Discourses Conceming Govemment" das Reich als Beispiel einer Wahlmonarchie mit dem Recht nof disposing of their govemment" heran. 23 Indem als Folge der "Glorious Revolution" Wilhelm von Oranien und Maria Stuart Könige in England wurden, schien der ,,Act for Declaring the Rights and Liberties of the Subjects and for the Settling of the Succession of the Crown" der "Convention", die Wilhelm nach seiner Landung im Januar 1689 selbst einberufen hatte, die Grundlage für die Legitimität der Inbesitznahme monarchischer Herrschaft in England durch Wilhelm und Maria zu werden. England ließ sich nun ebenso wie das Reich als Wahlmonarchie verstehen, englische und deutsche monarchische Herrschaft schienen in ihrer Reichweite und in ihrer Beschränktheit in einem schroffen Gegensatz zur monarchischen
19 Vgl. Schulze, Zwingli; Hubert Languet, der lange als Autor der Vindicae Contra Tyrannos gehandelt wurde, unterhielt einen umfangreichen Bekannten- und Freundeskreis im Reich, hielt sich dort immer wieder lange auf und wurde tief von Luther und besonders Me1anchthon beeinflusst, vgl. Beatrice Nicollier-de Weck, Hubert Languet (1518-1581), Genf 1995. Zum Begriff des Reiches im 14. und 15. Jahrhundert Peter Moraw, Art. ,.Reich", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1985, S. 423-456, hier S. 451-3. 20 Hasso Hofmann, Repräsentation. Studie zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1974, S. 228f. 21 James H Burns, Lordship, Kingship and Empire. Tbe Idea of Monarchy 1400-1525, Oxford 1991, S. 1-2,32-64. 22 Vgl. Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250-1490, Berlin 1985; Paul-Joachim Heinig, Die Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung, in: R. Mußgnug (Red.), Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 1993, S. 7-31. 23 Aigernon Sidney, Discourses Conceming Government (1681-83), London 1751, S. 333; B1air Worden, Tbe Commonwealth Kidney of Algemon Sidney, in: Journal ofBritish Studies 24 (1985); Scou, Algemon Sidney and the Restoration Crisis, S.201.
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Herrschaft Ludwigs XIV. in Frankreich zu stehen. 24 Deutsche refonnierte und lutherische Reichsstände und englische und schottische Protestanten sahen sich der gemeinsamen Bedrohung durch den französischen Absolutismus und die Expansionsbestrebungen der französischen Monarchie gegenüber und verteidigten sich gegen die vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung des katholischen Gegners, gegen die Bedrohung aus Spanien und Frankreich und, von Fall zu Fall, auch gegen die eigenen Monarchen. Ständische Libertät und Reichsgesetze, ,Jiberty" und "parliament" wurden dabei zu Bollwerken, wenn sich die Verteidigung des Glaubens gegen den eigenen Monarchen richtete. Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erklärten englische Historiker die englische Freiheit als Erbe in Deutschland wurzelnder Traditionen: "Why has England so long and so successfully maintained her free Government...because England is still, as she always has been, German".25 Die Untersuchung der Verfassungskämpfe und -entscheidungen der konfessionellen Zerreißproben der ständischen Herrschaftsordnung und ihrer mittel- und langfristigen Folgen wurden nicht nur zu zentralen Themen der Verfassungsgeschichte, sie wurden im 18. und 19. Jahrhundert auch im besonderen Maße mit verfassungsgeschichtlichen Problemstellungen und dem Selbstverständnis der deutschen und britischen Gesellschaften verknüpft. Obgleich im Zuge der Aufklärung die Konfessionskirchen selbst zur Zielscheibe der Kritik durch das neue Verständnis vom Menschen, seinem Ort in der Schöpfung und seinem Gemeinwesen gerieten, wurden die protestantischen Glaubenskämpfer bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts als Vorkämpfer der neuen Ordnungen herangezogen. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Qualität der sich seit dem Untergang der ständischen Ordnung in Europa herausschälenden nationalstaatlichen Verfassungen und den vermeintlichen Wegscheiden des 16. und 17. Jahrhunderts gewann überdies seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für das Selbstverständnis der deutschen ebenso wie der britischen Gesellschaft zentrale Bedeutung. Die Reformationen im Reich und auf den britischen Inseln wurden im Verlauf der historischen Selbstvergewisserung beider Gesellschaften seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend im Rahmen einer vermeintlichen Dichotomie der deutsch-englischen Entwicklung gedeutet. Zeitgenössische politische und verfassungsrechtliche Probleme gewannen für den Problemkomplex Re24 Robert Beddard, The unexpected Whig Revolution of 1688, in: ders. (Hg.), The Revolutions of 1688, Oxford 1991, S. 11-101, hier S. 45f.; Howard Nenner, The Right to be King. The Succession to the Crown ofEngland 1603-1714, London 1995, S. 223-225; Severinus de Monzambano (Samuel Pufendorf), De Slatu Imperii Germanici (1667), hrsg. von Fritz Salomon, Weimar 1910, Caput N: De capite Imperii Germanici Imperatore; ubi de electione Electoribus. 25 Sir James Stephen, Lectures on the History of France, 1851, Bd. I1, S. 495, zit. nach J.H.M. Salmon, The French Religious Wars in English Political Thought, Oxford 1959, S. 1.
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formation und Widerstandsrecht eine ganz besonders hohe Bedeutung. Sie beeinflußten auch die Konzepte und Fragestellungen der Historiographie. Das gilt ganz besonders für das Problem von Widerstandsrecht und Gemeinem Mann. Die Forschung ist von einer einseitigen Betonung des Territorialabsolutismus im Reich bzw. einer Entwicklung zugunsten ständischer Libertät in England abgewichen und hat statt dessen die Komplexität der politischen, verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse betont, die es nicht rechtfertigen, die Geschichte Englands, Schottlands und des Reiches ausschließlich oder auch nur in erster Linie als divergierende Wege in die Neuzeit zu verstehen. 26 Die Differenzierung des Absolutismus-Begriffs, die Neubewertung der Ständegeschichte und der lutherischen Orthodoxie in Deutschland und der sogenannte Revisionismus der Historiographie zur englischen Revolution27 müssen ihren Platz in diesem Bild erst noch finden. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Konfessionskonflikt und Widerstandsrecht, Notwehr und Gemeinem Mann, muß daher zunächst in den Zusammenhang ihrer historiographischen Deutung gestellt werden, bevor die Argumentationen des lutherischen Widerstandsrechts bis zum Augsburger Religionsfrieden skizziert und an Hand ihrer Rezeption und des Vergleichs mit England und Schottland bewertet werden können. Die Darstellung setzt daher zunächst auf dem Höhepunkt des Wandels der politisch-sozialen Sprache in der Spätaufklärung mit Schlözer ein und verfolgt die Erforschung des Widerstandsrechts und die mit ihr einhergehende Auseinandersetzung um die Macht im sich herausbildenden modernen Nationalstaat bis in die Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie wendet sich erst in Abschnitt B dem Verhältnis von Widerstandsrecht, Notwehrrecht und Gemeinem Mann im Reich zu. Abschnitt C behandelt diesen Problemkreis in den Königreichen England und Schottland.
26 Ronald G. AscWHeinz Duchhardt, Einleitung: Die Geburt des ,,Absolutismus" im 17. Jahrhundert: Epochenwende der europäischen Geschichte oder optische Täuschung?, in: Diess. (Hg.), Der Absolutismus - ein Mythos?, Köln 1996. S. 3-24; Reinhard Blänkner, •.Absolutismus und "ftiihmoderner Staat". Probleme und Perspektiven der Forschung, in: RudolfVierhaus (Hg.), Frohe Neuzeit - Frühe Moderne?, Göttingen 1992, S. 48-74. 27 Deutsche Forschungsüberblicke bei Rona/d G. Asch, Triumph des Revisionismus oder Rückkehr zum Paradigma der bürgerlichen Revolution?, in: Zeitschrift rur historische Forschung 22 (1995), S. 523-540; &khart Hellmuth, Die englische Revolution in revisionistischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989). S. 441-454.
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11. Die Geschichte des Widerstandsrechts und die politischen Auseinandersetzungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts "Zwei oder mehrere erwachsene vollbürtige Menschen begegnen sich zum erstenmal. Was werden, was dürfen sie miteinander anfangen? Sie werden sich balgen (Hobbes)." Hobbes' Widerlegung jeder Form von Widerstandsrecht ist wohl kaum je knapper ironisiert worden als im "Statsrecht" des Göttinger Gelehrten August Schlözer von 1793. Die Ironisierung diente jedoch nicht nur der historischen Distanzierung, mit der Schlözer neben Hobbes auch Justus Lipsius, Johannes Althusius und Christoph Besold zu Autoren von rein historischem Interesse erklärte, die "gerade nichts von dem enthalten, was wir jetzo Politik nennen."· Sie diente auch der Traditionsstiftung, wenn er die Entstehung des modernen Staatsrechts in "Luthers und Zwinglis Reformation" lokalisierte, weil durch den Glaubensstreit das Problem des Widerstandsrechts in neuer Weise problematisiert worden sei. "Von der Zeit an war die große Frage von demjure resistendi, aus der in der Folge das Staatsrecht erwachsen mußte ...2 Schlözer führte das Staatsrecht auf das Widerstandsrecht und dieses auf die Reformation zurück. Die Frage nach dem Gehorsam gegenüber dem Kaiser im Streit um Luthers Lehre war für ihn der eigentliche Ausgangspunkt für die Entstehung der Rechtsordnung des Reiches, in deren Kern er die Möglichkeit der Appellation der Untertanen vor gegenüber ihrer Obrigkeit unabhängigen Gerichten sah. 3 Auf die Entwicklung widerstandsrechtlicher Argumente im Reich ließ er in einer zweiten Phase deren Rezeption und Weiterentwicklung durch die französichen Monarchornachen und in einer dritten Phase die Entscheidungen des Dreißigjährigen Krieges im Reich und der englischen Revolutionen folgen. 4 Schlözer betrieb in seiner Schrift historische Analyse. Manche seiner Einsichten, so die Rezeption des lutherischen Widerstandsrechts in Frankreich durch die Vermittlung des Magdeburger Bekenntnisses5 , werden heute wiederentdeckt. Er war jedoch zugleich ein Protagonist der deutschen Spätaufklärung und betrieb mit seiner Schrift politische Meinungsbildung, ohne daß sich aufgeklärtes Anliegen I August Ludwig Schlözer, Allgemeines Statsrecht und Statsverfassungslehre, Göttingen 1793, S. 8. 2
Ebd., S. 38, 82-83.
Schlözer, Statsrecht, S. 82-3: ,,Luther predigte reinere Religion; der Kaiser wo\1te es weren; natürlich entstand nun die Frage, muß man dem Kaiser in allen Dingen gehorchen? Nein, nicht in Glaubenssachen, antworteten im Jahre 1531 beide Facultäten in Wittenberg. Bald ward Frage und Antwort erweitert, und man fing von der 'Schutzwere der Untertanen gegen die Obrigkeit überhaupt' zu sprechen an". 3
4
Ebd, S. 86-87.
~ Ebd., S. 83-4.
11. Geschichte des Widerstandsrechts
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und historische Analyse ausschließen mußten. Als Aufklärer schrieb Schlözer an der Schwelle zwischen der frühneuzeitlichen Entwicklung des Widerstandsrechts als Teil des eigenen Rechtslebens und seiner historischen Untersuchung als Teil der eigenen Vergangenheit. Historisch-kritische Analyse und Traditionsstiftung für die politischen Standpunkte der eigenen Zeit gerieten keineswegs erst nach 1800 in produktive Spannung. Das galt bereits für die pamphletistische Auseinandersetzung um die Meinung des gerade verstorbenen Luthers zum Widerstandsrecht während des Schmalkaldischen Krieges und ihre Dokumentation durch den sächsischen 'uristen Friedrich Hortleder am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Die politisch - soziale Sprache des frühneuzeitlichen Widerstandsrechts und die Sprache zu seiner Untersuchung seit dem späten 18. Jahrhundert unterschieden sich jedoch radikal voneinander. Der Autor eines Staatsrechts für das Alte Reich ordnete das Widerstandsrecht in die ,,Herrschaft des Rechts" und in die Eindämmung der vom "Gemeinen Mann" ausgehenden Gefahren ein, die während der frühen Neuzeit Fixpunkte der Verteidigung widerstandsrechtlicher Argumente blieben, wenn er dem einzelnen Untertan das Recht zum Widerstand versagte und hinzufügte, "das Volk im Haufen ist unfähig dazu. Wehe also dem State, wo keine Volksrepräsentanten sind! Glückliches Deutschland, das einzig Land der Welt, wo man gegen seine Herrscher, ihrer Würde unbeschadet, im Weg Rechtens, bei einem fremden, nicht ihrem eigenen Tribunal, aufkomen kann".6 Der Spätaufklärer Schlözer schrieb jedoch auch im Schatten der Hinrichtung Ludwigs XVI. und beteiligte sich an jener Umwälzung der politisch-sozialen Sprache, durch die das Widerstandsrecht der frühen Neuzeit zu einem Teil seiner eigenen Vergangenheit wurde. Im Gefolge dieses Wandels veränderte sich der Begriffs- und Argumentationshaushalt der politisch - sozialen Sprache so einschneidend, daß Sparta, dessen Ephoren widerstandsrechtlichen Konzeptionen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zum Vorbild gedient hatten, als Despotie verworfen wurde, weil die bürgerlichen Grundrechte durch keine Verfassung gesichert seien. Schlözer unterschied nicht nur "bürgerliche Freiheit", den Genuß der Naturrechte, von der "politischen Freiheit" als ,,Anteil an der Herrschaft", sondern stellte sogar fest, die politische Freiheit könne "oft da am größten sein, wo die bürgerliche Freyheit am geringsten ist (wie in den Schweizer Demokratien)".7 Öffentliche Staatsanstalt und bürgerliche Privatrechtsgesellschaft traten im Gefolge dieser Entwicklung ebenso auseinander wie schließlich die Legalität der positiven Gesetze des entstehenden modemen, konfessionsneutralen Anstaltsstaates
6
Ebd., S. 107.
Ebd., S. 36f.; vgl. zur Neubewertung Spartas Gottfried Samue/ Treuer (1683-1743), Wilhelm Freyherr von Schröders Disquitio Politica vom absoluten Fürstenstaat. Mit nöthigen Anmerkungen versehen...Leipzig und Wolfenbüttel 1719. 7
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A. Widerstandsrecht und neuzeitliches Gemeinwesen
und die Legitimität des Gewissens. Diese Entwicklung hatte fundamentale Folgen für die Beschreibung und Bewertung der Gesellschaft und ihrer Konflikte, und damit für Begriff und Verständnis des Widerstandsrechts. Der Frühaufklärer Gottfried Samuel Treuer bezog sich 17l9'in seiner Polemik gegen die proabsolutistische "Disquitio Politica vom absqluten Fürstenstaat" von Wilhelm von Schröder noch explizit auf die Auseinandersetzungen zwischen den Mecklenburgischen Ständen und ihrem Herzog während des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts. "Das Elend, in welches die Mecklenburgischen Landstände, wie notorisch ist, gesetzet worden, weiset den erbärmlichen Erfolg der Einführung eines absoluten und unerträglichen Dominates" nach. Treuer resurnierte, "wenn wir das Wesen der Civil Societäten überhaupt und in all seinen Eigenschaften und Theilen betrachten, so deucht mir das Fundament der Schönheit derselben in einer Vollkommenen Union und Harmonie der Rechte der Majestät und derer Freyheiten des Volks mit dem Endzweck des gemeinen Wohlstandes ... um dessentwillen die Republik formieret sei". Die Beachtung der historisch verbrieften leges fundamentales eines Gemeinwesens befördere diese Harmonie. 8 Treuers Begriff von Republik als Herrschaftsordnung der Menschen zur Organisation ihres Lebens in dieser Welt, sein Begriff vom Gemeinnutz als Zweck des Gemeinwesens und seine Vorstellung von der Harmonie zwischen Fürst und Volk, vor allem aber seine Bereitschaft, die Stände als Repräsentanten des Volkes anzusehen, verbinden seine Ausführungen noch mit älteren Anschauungen der politischen Theorie.9
Im selben Jahr, in dem Schlözer sein Staatsrecht veröffentlichte, trieb Immanuel Kant mit seiner Schrift "Über den Gemeinspruch" die Auflösung dieser frühneuzeitlichen Konzeptualisierug der Widerstandsproblematik weiter voran. Er löste die Frage historischer Rechtsbesitzstände völlig von der Frage der Rechte der Staatsbürger. Statt dessen formulierte er seine Idee eines den Willen des Volkes repräsentierenden Gesetzgebers, durch den auch im monarchischen Staat republikanische Verfassungsprinzipien verwirklicht seien. Im Zuge der amerikanischen und der französichen Revolution war aus dem älteren Begriff ,.Republik" als Bezeichnung jeder staatlichen Herrschaftsordnung, wie ihn noch Treuer verwandt hatte, bzw. als Regierungsform eines Freistaates ohne Monarch, das Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung geworden. ,.Republikanismus" wurde von Kant zum Verfassungsprinzip erhoben, in dem Gewaltenteilung verwirklicht und ein den Willen des Volkes repräsentierender Gesetzgeber institutionalisiert sei. In Mecklenburg mochten die Landstände, auf ihre historischen Besitzstände pochend, im Sinne Treuers rechtmäßigen Widerstand gegen den Fürsten üben, wenn der seine historischen Rechte überschritt. Für Kant erfüllten die Mecklenburgi-
8
Treuer, Wilhelm Freyherr von Schrödem, S. 37, S. 130-31.
Vgl. vor allem zu den Strukturkontinuitäten der politischen Theorie im Reich und zu Treuer Horst Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, Mainz 1992, S. 81-99. 9
11. Geschichte des Widerstandsrechts
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schen Landstände dagegen kaum seine Anforderungen an eine Repräsentation der Mecklenburgischen Bevölkerung. Andererseits konnte es gegen den Kantischen Gesetzgeber, wo er einmal institutionalisiert war, keinen rechtmäßigem Widerstand mehr geben. \0 Vorraussetzung dafür war freilich, daß in den deutschen Monarchien tatsächlich repräsentative Gesetzgeber institutionalisiert waren. Für den Göttinger Aufklärer Schlözer stellten die Reichsgerichte und die Appellationsgerichte der Territorien eine solche Möglichkeit des Gesetzesschutzes dar. Im Gefolge der bürgerlichen Umwälzung der Revolutionen von 1789 bis 1848 veränderte sich jedoch auch das zeitgenössische Verständnis von Repräsentation. Die Auflösung des Alten Reiches und die Entstehung souveräner Einzelstaaten auf deutschem Boden erzwang die Frage nach der rechtlichen Verfaßtheit dieser Staaten mit besonderer Dringlichkeit. Artikel 13 der Bundesakte des Deutschen Bundes verpflichtete die Einzelstaaten des Deutschen Bundes auf die Einrichtung einer "landständischen Verfassung". Was darunter jedoch zu verstehen sei, eine Neuauflage der ständischen Vertretungen des Alten Reiches oder eine gewählte, im neuen Sinne repräsentative Volksvertretung unter Einbeziehung des Bürgertums, blieb zwischen den Vertretern der politischen Restauration und des liberalen Konstitutionalismus umstritten. Der sich daran anschließende Streit um die Ausgestaltung dieser repräsentativen Versammlungen leitete in die Frage nach dem Ort der Souveränität in den neuen Staaten über und lenkte die historische und staatsrechtliche Debatte in zweierlei Hinsicht in neue Bahnen. Es ging nun zum einen um die Entscheidung zwischen Fürsten- und V olkssouveränität in den neuen Staaten. Die von Treuer noch anvisierte Harmonie zwischen einem Herrschafts- und Geburtsstand wie dem Mecklenburgischen Adel als Repräsentation des Volkes und seinem Fürsten war dabei kein konstitutionelles Vorbild mehr, sondern wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts selbst zum Skandalon. Es ging zum anderen um die Suche nach historischen Legitirnitätsgründen für den einen oder anderen Standpunkt. Vertreter konstitutioneller Verfassungen und repräsentativer Volksvertretungen, die oktroyierte Verfassungen und die alten landständischen Vertretungen ablehnten, griffen auch auf naturrechtliche Legitimitionen ihrer Auffassungen zurück. 11
10 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fiir die Praxis (1793), hrsg. v. Dieter Henrich, Frankfurt 1967. Zur Neukonzeptualisierung der Problemlage durch Kant vgl. Christoph Link, Jus resistendi. Zum Widerstandsrecht im deutschen Staatsdenken, in: Audormar Scheuermann u.a. (Hg.), Convivium Utriusque Iuris, Wien 1976, S. 55-68; Wolfgang Mager, Art. Republik, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von Otto Brunner, Wemer Conze und Reinhart Koselleck, Band 5, Stuttgart 1984, S. 549-651, hier 607-18. 11 V gl. beispielsweise Karl Heinz Ludwig Pö/itz, Das constitutionelle Leben nach seinen Formen und Bedingungen, Leipzig 1831, S.56-63; Diethelm Klippei (Hg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert: Kontinuität, Inhalt, Funktion, Wirkung, Goldbach 1997.
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Die Opposition gegen oktroyierte Verfassungen und die alten ständischen Vertretungen griff jedoch auch auf vermeintliche Wurzeln ihrer Auffassungen im Mittelalter zurück, weil im Verständnis aller Seiten ein gelungenes Verfassungsleben einer "geschichtlichen Grundlage" bedürfe. 12 Der ,,Entwurf einer Verfassung, die auf altgermanischem Recht beruht, auf neu germanischen Ständen und auf einem gesalbten König" von J.F. Benzenberg von 1816 ist dafür ein erstes Beispiel. 13 Die Auseinandersetzung um repräsentative Volksvertretung und monarchische Herrschaft und um die Deutung von Artikel 13 nach 1820 wurde dadurch bis in die mittelalterliche Vergangenheit zurückprojeziert. Das Widerstandsrecht wurde dabei zur Probe aufs Exempel für den mit historischen Argumenten ausgetragenen Streit um die Legitimität von Volks- oder Fürstensouveränität in den nach dem Zusammenbruch des Alten Reiches im Deutschen Bund entstehenden neuen souveränen Staaten. Die Geschichtswissenschaft als Disziplin gewann ihre Bedeutung als Leitwissenschaft nicht zuletzt dadurch, daß ihren Erkenntnissen Folgen für die Legitimität strittiger politischer Konzepte beigemessen wurde. Die Bemühen um Traditionsstiftung und um historisch-kritische Analyse traten nun erst recht in jene Spannung, aus der die Beschäftigung mit dem Widerstandsrecht bis heute ihre Motivation und ihren Reiz schöpft. 14 Eines der spektakulärsten Beispiele für diese neue Aktualität historischer Forschung im Streit um die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der neuen souveränen Bundesstaa~en ist die Studie über "Widerstand, Empörung und Zwangsübung der Staatsbürger gegen die bestehende Staatsgewalt, in sittlicher und rechtlicher Beziehung" des ehemaligen Präfekturrats im Fuldadepartments des Königreichs Westfalen, Friedrich Murhard. 15 In Kurhessen kam es nach 1815 zunächst zu keiner Einigung über eine neue Verfassung und die Ausgestaltung der einzurichtenden landständischen Vertretung. 16 Es war daher wohl kein Zufall, daß Kurhessen im Anschluß an die Revolution in Paris von Unruhen in Land und Stadt erschüttert
12
Pölitz, S. 51.
13 Thomas Würtenberger, Staatsverfassung an der Wende vom 18. ~m 19. Jahrhundert, in: R. Mußgnug (Red.), Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 1993, 85-121, zu Benzenberg S. 108; vgl. auch Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, Frankfurt 1988; W Peters, Späte Reichspublizistik und FlÜhkonstitutionalismus, Frankfurt 1993; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, 24lf. 14 Mit dieser Bewertung bereits Paul Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung, Berlin 1906, S. 32-44.
15 Friedrich Murhard, Über Widerstand, Braunschweig 1832; vgl. zu ihm Norbert Fuchs, Die politische Theorie des Friedrich Murhard 1778-1853. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Uberalismus im Vormärz, Diss. Nürnberg 1973, S. 20-41. 16 Vgl. Helmut Seier (Hg.), Akten und Dokumente zur kurhessischen Verfassungsgeschichte 1848-1866, Marburg 1987; ders. (Hg.), Akten zur Entstehung und Bedeutung des kurhessischen Verfassungsentwurfes von 1815-16, Marburg 1985; ders., Akten und Briefe aus den Anfangen der kurhessischen Verfassungszeit, 1830-1837, Marburg 1992.
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wurde, in deren Folge es zur Einrichtung einer Verfassung kam. In den bis zur Annexion durch Preußen im Jahre 1867 nicht mehr abreißenden Verfassungskonflikten zwischen dem hessischen Kammerliberalismus und den Kurfürsten spielte der hessische Staatsgerichtshof und der Streit um seine Besetzung immer wieder eine zentrale Rolle. Denn dieses Gericht wurde zum Schiedsrichter zwischen Fürst und Kammer. Seiner Unabhänigkeit wurde von liberaler Seite daher besonderes Gewicht beigemessen, von kurfürstlicher Seite fehlte es nicht an Versuchen, die Entscheidungen des Gerichts durch den Versuch der Einflußnahme auf seine Besetzung mitzubestimmen. 17 Unmittelbar im Anschluß an die kurhessische Revolution von 1830 kam es daher bereits 1832 um die Besetzung dieses höchsten hessischen Verfassungsgerichts zum Streit. Der Kammerabgeordnete Burkhard Wilhelm Pfeiffer, zugleich Mitglied des Gerichtshofes, kritisierte die neue Praxis der kurfürstlichen Regierung, vakant gewordene Stellen des Gerichtes mit Männem des kurfürstlichen Vertrauens zu besetzen, ohne, wie bisher üblich, Gutachten zu den Kandidaten durch das Gericht selbst einzuholen. Friedrich Murhard ging sogar soweit, in seinem Artikel "Staatsgerichtshof' im Staatslexikon der badischen Liberalen Karl von Rotteck und Karl Welcker diese Praxis der kurhessischen Regierung anzugreifen. 18 Bereits das Organisationsedikt von 1821 - die kurhessische Verwaltungsrefonn nach 1815 - und die Verfassung nach der Revolution von 1831 nahmen bei der Einrichtung des Kassler Gerichtes den Gedanken des Rechtsschutzes durch die Reichsgerichte aus dem Alten Reich auf, auf den schon Schlözer sich bezogen hatte. Der Gerichtshof stand ganz bewußt in der Tradition des Kassler Oberappellationsgerichtes, das seinerseits im Gegenzug zur Gewährung der privilegia de non appellando an den Reichsstand Hessen-Kassel eingerichtet worden war. 19 Die kurhessische Verfassung hatte in Paragraph 123 11 ausdrücklich Bezug auf ein Edikt vom 26.11.1743 genommen, in dem die richterliche Unabhängigkeit der Richter am Oberappellationsgericht durch den Hinweis auf die reichsrechtliche Herleitung seiner Kompetenzen erläutert worden war. Daruberhinaus legte die Verfassung in Paragraph 113 I durch die Rechtswegegarantie die rechtliche Überprüfbarkeit aller Amtshandlungen und in Paragraph Il3II die Kompetenzprüfung beim zuständigen Richter selbst fest. Die monarchische Regierung sollte dabei gegebenenfalls durch die Person des Staatsanwaltes verklagbar sein. 20
17 Vgl. Wolf Erich Kellner, Verfassungskärnpfe und Staatsgerichtshof in Kurhessen, Marburg 1965. 18
Kellner, Verfassungskämpfe, S. 39; Fuchs, S. 36.
19 Vgl. C. Borlwwsky, Die kurhessische Regierung als Gericht vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis zur Reform von 1821: Ein Beitrag zur kurhessischen Rechtsgeschichte. Diss. Frankfurt 1955; Kellner, S. 66. 20 Kellner, S. 66.
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A. Widerstandsrecht und neuzeitliches Gemeinwesen
Einerseits wurde die Unabhängigkeit des Kassler Gerichtes also ganz direkt mit dem Hinweis auf seine Einrichtung und seine Rechte im Alten Reich verteidigt. Die Vergangenheit des Alten Reiches spielte schon von daher eine bedeutende Rolle für die Verteidigung des Gerichts. Der spätere Richter am Oberappellationsgerichtshof Otto Bähr stellte noch in seiner 1864 erschienenen Studie "Der Rechtsstaat" expressis verbis die Verbindung zwischen den verfassungsgerichtlichen Kompetenzen seiner Zeit und den Reichsgerichten her. 21 Der Streit um die Kompetenzen des Gerichts wurde andererseits öffentlich um die Legitimität der Praxis monarchischer Herrschaft überhaupt ausgetragen, in dem es beiden Seiten, Karruner und kurfürstlicher Regierung, darum zu tun sein mußte, die gebildete Öffentlichkeit des Landes, Beamte wie Soldaten, von der Rechtmäßigkeit der eigenen Handlungen und damit schließlich auch der jeweils handlungsleitenden Verfassungsprinzipien zu überzeugen. Nur weil dies der Karruner schließlich gelang, brach der Versuch der kurhessischen Regierung nach 1848, das Land im Kriegszustand zu regieren, 1850 zusammen. Otto Bähr resumierte noch 1864, der "Kriegszustand sei "an der moralischen Macht, welche ihm der Anspruch der Gerichte entgegenstellte, erlahmt".22 Um diese ,,moralische Macht" kämpfte auch die Veröffentlichung Friedrich Murhards von 1832 über das Widerstandsrecht. Murhard führte dort auf rund vierhundert Seiten die "Staatssysteme eines Rechts des Stärkeren" von Machiavelli bis Hobbes und die "Stimmen für unbedingten leidenden Gehorsam" von Luther über Badin bis Hobbes, Filmer, Kant und Gentz gegenüber den "Stimmen für die Rechtmäßigkeit des Widerstandes und der Zwangsübung gegen die bestehende Staatsgewalt in besonderen Fällen" auf, von Buchanan und Milton bis zu John Locke und Algemon Sidney.23 Murhard setzte in seinem noch von Otto Gierke benutztem Werk damit die Einteilung von Autoren in zwei vermeintlich klar unterscheidbare Lager der Befürworter und Gegner von Widerstandsrecht jenseits des jeweiligen historiographischen Kontextes fort, die sich nach 1649 in der polemischen Abrechnung der antimonarchomachischen Autoren mit den vermeintlichen Königsmördern durchgesetzt hatte. 24 Im Gegensatz zu Schlözers Staatsrecht war Murhards Werk in erster Linie polemische Kritik an der kurhessisehen Regierung mit historischer Munition. 2S Sie diente der Herauspräparierung
Kellner, S. 66; OUo Bähr, Der Rechtsstaat, KassellGöttingen 1864, S. 140-192. Bähr, Rechtsstaat, S. 154. 23 Murhard, S. 23-195; vgl. hierzu auch Fuchr, S. 266-93. 24 Diese Problematik wird am Schluß noch einmal aufgenommen. 25 Murhard reihte beispielsweise Horn unter die Bellirworter eines Widerstandsrechtes, Kant aber unter diejenigen, die ein solches ablehnten, eine Einteilung, die so praktisch jedes historischen Sinnes entbehrt. Vgl. zu Johann Friedrich Horn Heinrich De Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns (ca. 1629-1665), Aalen 1992, S.222-224; Johann Friedrich Horn, Architectonica de Civitate, 2. Auflage 1699, Liber 11, c Xll, De Subditis, besonders Paragraphen X-Xll. Der Souverän steht zwar unter dem Naturrecht, den Unter21
22
11. Geschichte des Widerstandsrechts
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einer historischen Auseinandersetzung zwischen ,,Rechtsstaat" und Gewaltstaat", die weit in die deutsche Vergangenheit hineinreiche und die Anhänger des hessisehen Kammerliberalismus zu Erben einer langen freiheitlichen Tradition machte?6 Rankes 1835 bis 1837 entstandene und 1838 bis 1840 erschienene Geschichte der Reformation markiert den nächsten wichtigen Schritt in der Konzeptualisierung des reformatorischen Widerstandsrechts. 27 Einerseits blickte Ranke gleich Schlözer auf den europäischen Rahmen und teilte mit Schlözer dessen positive Bewertung der Glorious Revolution. Ranke unterstrich das zeitgenössische Ziel einer Herrschaft des Rechts. Zwischen den ,.zeiten des blühenden Kaisertums" und der "Unabhängigkeit der einzelnen Staaten" hob er das 16. Jahrhundert als einen eigenen ,.zeitraum" hervor. Auf den Abkommen der Reichstage des 16. Jahrhunderts "beruhte der Friede des Reiches in einer seiner lebensvollsten Epochen, während ganz Europa in den wildesten Religionskriegen blutete ... " Das eben sei der Unterschied des Reichs zu anderen Gemeinwesen, daß in allen anderen "die Idee des Rechts an den Inhalt der Gewalt selbst geknüpft gewesen ist; wodurch sie, wie namentlich auch in England, nicht selten gewaltig ins Gedränge gekommen: in Deutschland gab es immer über allen den einzelnen Staatsgewalten noch etwas, was nicht wieder Gewalt war, sondern den Einwirkungen derselben, so viel als möglich entrückt, auf dem Boden der Reichsgesetze, der Vergangenheit und der Gelehrsamkeit ruhend, die Idee eines rechtlichen, juridisch gesicherten Zustandes an und für sich repräsentierte. ,,28 Diese Feststellung gemahnte zwar vordergründig an Schlözers Lob der deutschen Gerichte, erhielt aber durch ihre Einbettung in Rankes Schilderung einer ständisch gegliederten und durch die Fürsten geführten deutschen Nation29 im tanen bleibt bei rechtswidrigen Maßnahmen des rechtmäßig eingesetzten Herrschers jedoch nur der passive Ungehorsam, und auch der Ursurpator ist, herrscht er bereits, als rechtmäßiger Herrscher zu behandeln. Jede aktive Handlung ist gegen ihn verboten, selbst wenn er als Tyrann das gesamte Gemeinwesen ins Unglück stürzt, eine rur das 17. Jahrhunderts selbst von ausdrücklichen Antimonarchornachen wie Barclay nicht geteilte Position, die Horn Zum Extremisten stempelt. Horn unter die Befiirworter eines Widerstandsrechts, Kant aber unter seine Gegner einzuordnen, kann so nur unter völliger Absehung des jeweiligen Diskussionsstandes und -zusammenhangs gelingen. 26 Murhard, S. 366-385. 27 Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, hrsg. von Paul Joachimsen, München 1925-1926; Jaroslav Pelilwn, Leopold von Ranke as Historian of the Reformation, in: Georg G. Iggers, James M. Powell (Hg.), Leopold von Ranke and the Shaping ofthe Historical Discipline, Syracuse 1990,89-98; Felix Gilbert, History: Politics or Culture. Reflections on Ranke and Burckhardt, Princeton 1990. 2R Leopold v. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. VI. "Über einige noch unbenutzte Sammlungen deutscher Reichstagsakten, S.471-487, hier S. 473f. 29 Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. VI. "Über einige noch unbenutzte Sammlungen deutscher Reichstagsakten, S.471-487, hier S. 473f: ,,In den früheren Epochen knüpft sich ebenso gut wie bei uns Deutschen wie in anderen Reichen die 3 v. Friedeburg
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Streit um Fürsten- und Volkssouveränität eine konservative Schlagseite. 3o Ranke differenzierte unterschiedliche widerstandsrechtliche Stränge, konzentrierte sich bei der Erörterung der Diskussion im Reich jedoch auf diejenigen der seit dem Herbst 1530 unterscheidbaren Begründungen für ein Recht zum Widerstand, die den Konflikt um die causa lutheri in erster Linie zwischen Reichsfürsten und Kaiser zu lokalisieren schienen, nicht zwischen Obrigkeit und Ständen, geschweige niederen Magistraten oder gar Untertanen. Das war einmal die "privatrechtliche" Argumentation der sächsischen Juristen. Dabei ging es um die Frage der Anwendung des römischen Rechtes bei der Frage, wann ein Richter - hier der Kaiser über ein gültiges Urteil verfüge und dieses vollstrecken lassen könne bzw. unter welchen Umständen gegen die Vollstreckung eines Urteils Widerstand möglich sei. 31 Unter den ,,Deuen Ideen" im Reich im Gefolge der Widerstandsdiskussion nannte er zweitens allein die Vorstellung vom Reich als Aristokratie?2 Er unterstrich drittens den Aspekt der Reichsverteidigung gegen äußere Feinde, der sich aus dem vermeintlichen "Gehülfenturn" des Kaisers für den Papst und die ausländischen Berater des Kaisers ergab und vor allem für Luther eine nicht unwesentliche Rolle spielte. 33 Damit hob er auf diejenigen Argumente ab, welche die Rechtsbrüche des Kaisers, die Bedrohung des Reiches als ganzes und die Rolle der Fürsten zum Ausgangspunkt machten: "Hätte man nicht meinen sollen, die Nation, in ihren verschiedenen Ständen beleidigt, in der Tiefe ihres Daseins angegriffen und in ihrer Zukunft bedroht, werde sich gegen die Gewalt...plötzlich ein-
Entwicklung der Nation, der Fortgang ihrer Geschichte, an die Persönlichkeit und die Handlungen eines Fürsten." Leopold von Ranke, Englische Geschichte, Band 3, Leipzig 1937, S. 360 zur Würdigung der Glorious Revolution und der parlamentarischen Bedeutung für die Reformation. Zwar wies Ranke daraufhin, die Reformation im Reich sei "durch die Fürsten durchgeführt" worden, die englische Reformation sei jedoch bald "mit parlamentarischen Rechten" in Verbindung getreten. Noch 1925 wies Paul Joachimsen in seiner Herausgabe von Rankes Deutscher Geschichte darauf hin, wie zentral rur Ranke, der auf die Gemeinsamkeiten der "romanischen und germanischen Völker" abhob, der Gedanke der Herrschaft von Recht und Religion in jedem Gemeinwesen war, vgl. Paul Joachimsen, Einleitung, S. LVII. 30 Siehe Ernst Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, hrsg. v. Clausdieter Schott, München 1972, Bd. 1, S. 15-19.
31 Vgl. Diethelm Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechts in der Reformationszeit (1523-1530), Berlin 1991, S. 61-98. 32 Vgl. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, München 1925, hrsg. von Paul Joachimsen, Bd m (1840), Buch V, Abschnitt "Widerstand" S. 204-237. Ranke behandelt in erster Linie die Deliberationen des Reichstages von Augsburg; Buch VI über das ,,Emporkommen des Schma1ka1dischen Bundes" zu den "privatrechtlichen Gründen" bei Richterunzuständigkeit vgl. S. 249-51; hierzu jetzt Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand,84-97.
33 Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. III, 6. Buch VI, S. 251; Bd. IV, 8. Buch, S. 342; Bd. V, 9. Buch, S. 145-6; davon abgesehen streifte er die Haltung Luthers und Melanchthons nur mit dem Hinweis auf ihre ablehnende Haltung bis zum Oktober 1530 und erklärte sie mit ihrer aus dem neuen Testament abgeleiteten Deutung der Reichsverfassung.
H. Geschichte des Widerstandsrechts
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mal wie ein Mann erheben? Das ist nicht ihre Gewohnheit...Auch sieht sie gern ihre Fürsten sich vorangehen. ,,34 Trotz dieser Zuspitzung auf die Rechte der Fürsten und auf die Idee vom Reich als Aristokatie, die nur von einer kleinen Minderheit vertreten wurde35 , hob Ranke bereits auf drei zentrale Problemkornplexe ab, die von der jüngeren Forschung erneut in den Mittelpunkt gerückt wurden. Das waren die Notwehrargumentation36 der sächsichen Juristen, die besonderen Rechte und Privilegien des deutschen Fürstenstandes und verfassungspatriotische Momente?7 Rankes und Schlözers Positionen stellten durch die Differenzierung unterschiedlicher Argumentationsstrategien im Widerstandsrecht, den Blick auf die Verflechtung mit der Entwicklung außerhalb Deutschlands und der von bei den geteilten Aufmerksamkeit für die Frage nach einer Herrschaft des Rechts sui generis bereits eine weit über Murhardt hinausgehende breite Grundlage für die kommende Forschung. 38 Schlözers Rezeption in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts wurde jedoch nicht zuletzt durch Rankes Einfluß eingeschränkt39 , dessen Geschichte der Reformation in ihrer Wirkung ebenfalls "eigentümlich begrenzt" blieb.40 Das Interesse an den Problemen der Legalität historischer Ereignisse im Horizont der Zeitgenossen41 und an der Bewahrung einer Herrschaft des Rechts und der Religion verloren im
Ebd., Bd. V, 9. Buch, S. 138f. zur Belagerung von Magdeburg, Zitat S. 157. 35 Hortleder wird von Ranke hierfür mit Bd. 11, 8, S. 81-84 herangezogen. Neudruck bei Heinz Scheib/e (Hg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 15231546, Gütersloh 1969, Nr. 17, S. 69-76. 36 Vgl. Quentin Skinner, The Origins of the Calvinist Theory of Revolution, in: Barbara C. Malament (Hg.), After the Reformation, 1980, S. 309-30, hier S. 316f.; vgl. die kritische Bewertung von Skinner bei Böttcher, S. 96-98. 37 Zu diesem Aspekt bereits Richert Benert, Lutheran Resistance Theory and the Imperial Constitution, in: n Pensiero Politico (1973), S. 17-36, hier S. 35f. 38 Das gilt auch für seine Bewertung der Herrschaft Cromwells als Diktatur und seiner positiven Bewertung der Glorious Revolution, vgl. Hans-Christoph Schröder, Rankes ,,Englische Geschichte" und die Whig Historiographie seiner Zeit, in: Vierhaus, FlÜhe Neuzeit, S. 27-47. . 39 Peter Burke, Ranke als Gegenrevolutionär, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Leopold von Ranke und die modeme Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, S. 189-200; ders., Ranke the Reactionary, in: Iggers, Powell, S. 36-44. 40 Paul Joachimsen, Vorrede, in: Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. I, S. CV; Georg G. Iggers, The Crisis of the Rankean Paradigm in the Nineteenth Century, in: Iggers, Powell, Ranke, S. 170-180; Wolfgang J. Mommsen, Ranke and the Neo-Rankean School in Imperial Gerrnany, in: Ebd., S. 124-140, zur Gegenreaktion der borussischen Schule und zum Neorankeanismus und den Unterschieden zu Ranke um die Wende des 20. Jahrhunderts. 41 Es erklärt sich wohl auch aus Rankes anfanglicher Skepsis gegen Bismarcks Reichsgrundung, die in seinem Wallenstein-Buch zum Ausdruck kam. Wie bekannt hat sich Ranke später mit der Bismarckschen Reichsgrundung ausgesöhnt; vgl. Rudolf Vierhaus, Die Idee der Kontinuität im historiographischen Werk Leopold von Rankes, in: Mommsen, Ranke, S. 166-186. 34
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A. Widerstandsrecht und neuzeitliches Gemeinwesen
Gefolge der Revolution von 1848, dem Machtkampf zwischen Preußen und Österreich, dem Aufkommen der nationalen Bewegung in Deutschland, der Reichsgründung und der Bedeutung der borussischen Schule an aktueller Bedeutung. Selbst dieser Schule kritisch gegenüberstehende Reichshistoriker von Einfluß wie Karl Wilhelm Nitzsch vermochten Rankes Engführung von Politik und Religion nicht nachzuvollziehen. 42 Die nachfolgende Forschung orientierte sich statt dessen an der Entstehung des anstaltlichen Machtstaates einerseits und seines Verhältnisses zu Nation und Volk seit dem Mittelalter andererseits. Die frühe Neuzeit und die Reformation wurden in diese neue Konzeption eingereiht. Dabei erwies sich die bereits von Murhardt skizzierte Linie einer bis in das Mittelalter zurückliegenden Dichotomie von Rechts- und Gewaltstaat, wenn auch in immer neuen und veränderten Formen, als in mancher Hinsicht einflußreicher als die von Ranke oder Schlözer verfolgten Probleme. Auf der Seite des liberalen Konstitutionalismus und der nationalen Bewegung trat in dieser Auseinandersetzung die Forschung zum Mittelalter und seinen städtischen Korporationen. ,,Die ältere deutsche Städtegeschichte ist die Geschichte des bürgerlichen Emanzipationskampfes gegen den das Land bestimmenden Feudalismus.'.43 Den liberalen Vertretern des deutschen Bürgertums versprach die Geschichte der mittelalterlichen Städte des Reiches ,,mit ihrem engen Verhältnis zu den deutschen Kaisern und Königen ... die Chance, Ansprüche auf Freiheitsrechte historisch zu legitimieren, ohne sich mit der französischen Revolution zu diskreditieren ... Liberale und Konservative banden ihre Vorstellung vom Bürger, wenn auch in unterschiedlicher Weise, an Kaiser und Reich, und diese Bindung" machte die mittelalterliche Stadt zu einem bevorzugten Untersuchungsobjekt.44 Zu einem Schlüsselbegriff zur Bündelung der Befunde über die mittelalterlichen Städte und ihrer Übertragung auf die Gesamtgesellschaft der Gegenwart wurde dabei in dem Maße derjenige der "Genossenschaft,,, in dem der Begriff der Herrschaft zum abstrakten Wissenschaftsterminus wurde. In polarer Entgegensetzung gerann "Genossenschaft" im Verlauf des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts sowohl zum
42 Vgl. Karl Wilhelm Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes bis zum Augsburger Religionsfrieden, 1892, S.429: ,,Die Geschichte der Reformation ist zugleich die einer Neubildung von Staaten...Die politischen Faktoren, welche sich bisher feindlich gegenüberstanden, vereinigten sich jetzt zur Erreichung deIjenigen Ziele, aus denen der modeme Staat sich gebildet hat. Die Reformation hat trotz des Zwiespalts, den sie hervorrief, für das nationale Leben, welches so tief zerklüftet war... eine entschieden heilende Wirkung gehabt."
43
Paul Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung, Berlin 1906, S. 4.
44 Anne Kosfeld, Politische Zukunft und historischer Meinungsstreit. Die Stadt des Mittelalters als Leitbild des Frankfurter Bürgertums in der Verfassungsdiskussion der Restaurationszeit, in: Reinhart Koselleck, Klaus Schreiner (Hg.), Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 375-454, hier S. 450, S. 449.
11. Geschichte des Widerstandsrechts
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Gegenbegriff zu den sich immer drängender bemerkbar machenden sozialen ,,Abstufungen der Staatsgesellschaft" als auch zum monarchischen Prinzip.45 Der Begriff der Genossenschaft verband die Vorstellung einer Rechtsgleichheit der Genossen untereinander mit der Handlungsfahigkeit städtischer Korporationen nach außen. Diese Genossenschaft galt es nun als Modell deutscher Verfassungsgestaltung insgesamt historisch zu legitimieren, und dafür traten ihre Vertreter die Suche nach ihren Wurzeln in der deutschen Vergangenheit des Mittelalters an. Eine erste systematische Nutzung in den verfassungspolitischen Debatten der Zeit erfuhr der Begriff in earl Ludwig von Hallers ,,Restauration der Staatswissenschaft" von 1816.46 Der in zweiter Auflage 1825 erschienene sechste Band ist den ,,Republiken und freien Kommunitäten" gewidmet, ein Gegenstand, der direkt die Geschicke von Hallers Heimatstadt Bem betraf. Bislang war zur Kennzeichnung von Rechtspersonen im öffentlichen und privaten Recht in erster Linie der Begriff der "Korporation" genutzt worden. 47 Hallers ,,Patrimonialer Konservativismus" ebnete die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Rechten und Pflichten zugunsten einer Taxierung aller staatsrechtlichen Verbindlichkeiten als privatrechtlicher Verträge ein. Sie seien letztentlich sowohl Ausdruck des Wunsches und Bedarfs der Menschen nach Geselligkeit, aber auch der Durchsetzung der Stärkeren.48 Haller wurde dadurch das Ziel scharfer Kritik sowohl von konservativer Seite, der die vertragstheoretische Grundlegung Hallers mißfiel, wie von Liberalen wie Robert v. Mohl, der nur Bevölkerungen mit "niederer Gesittung" und entsprechender gesellschaftlicher Entwicklungsstufe eine Herrschaft auf privatrechtlicher Grundlage zumuten wollte, und von Naturrechtlem wie Gustav HugO. 49 Für die Genese des Genossenschaftsbegriffs ist besonders der sechste Band und seine Behandlung der souveränen Stadtrepubliken bedeutsam. Während in den
45 Dietrich Hilger, Artikel ,,Herrschaft", in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 92-93; vgl. beispielsweise Herrmann Beisler, Betrachtungen über Gemeinde-Verfassung und Gewerbwesen mit besonderer Bezugnahme auf Bayern, Augsburg 1831, S. 36 zur "souveränen Volksgemeinde", S. 25 zur polaren Gegenüberstellung rechtlicher Differenzierung und gemeindlicher Korporation. 46
Benutzt wurde die zweite Auflage von 1820ff.
V gl. beispielsweise noch Gustav Hugo, Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosphie des positiven Rechts, Berlin 1819, S. 239, zur "Verbindung mehrerer" Menschen als "ein einzelner Berechtigter". 47
48 Vgl. earl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd. 1, 1. Auflage 1816, S. XLVII-XUX; vgl. zu Haller Wilhelm Hans v. Sonntag, Die Staatsauffassung earl Ludwig von Hallers, Jena 1929, S. 45-57; Karl Georg Faber, Metaphysik der Macht im patrimonialen Konservativismus Karl Ludwig von Hallers, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 914-16. 49 Robert v. Mahl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 2, Erlangen 1868, S. 557; Hugo, Naturrecht, S. 519.
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Kapitelüberschriften des Buches zunächst nur von "Republiken oder freyen Communitäten" die Rede ist, wird im fünften Kapitel über die "natürlichen Rechte und Verhältnisse im Inneren" der Begriff der ,,Republik" gleichbedeutend mit dem der "Genossenschaft" gebraucht. 50 Die Republiken konzipierte Haller als Rechtspersonen, die ebenso wie die natürliche Person des Fürsten aufgrund einer Fülle privater Verträge Herrschaft über die Vertragspartner und Untertanen ausübe und keine andere Herrschaft über sich anerkenne. Auf dieser Grundlage wandte er sich gegen die Differenzierung der Verfassung souveräner Städte als Demokratien oder als Aristokratien und gegen die Vorstellung, den die Herrschaftsrechte ausübenden Familien sei dieses Recht aus der Gruppe der übrigen, nun minderberechtigten, Stadteinwohner zugeflossen. 51 Die Herrschaft der englischen ostindischen Kompanie über Bengalen wurde ihm ein Beispiel für die Herrschaft einer privatrechtlichen Personengruppe und zugleich ein passender Anknüpfungpunkt für die Kritik . von Mohls. 52 Im Kern von Hallers Theorie stand jedoch wohl nicht zuletzt sein Bemühen, die Rechte der Bernischen Patrizier seiner Heimatstadt, zu denen er selbst zählte, staatstheoretisch gegen die Ansprüche der anderen Berner Einwohner in den Verfassungskonflikten nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft zu verteidigen. Im Anschluß an Auseinandersetzungen innerhalb des Berner Patriziats wurde 1682 festgelegt, "dass die höchste Gewalt und landesherrliche Souveränität, auch die oberste Herrschaft, Macht und Botmäßigkeit über dieses loblichen Standes Bero Deutsch und Welsche Lande ...zustehen und gebühren tue, Uns, den anfangs genannten Schultheißen, Klein- und Groß Räten genannt die Zweihundert der Stadt Bern, also und dergestalten, daß außer Gott dem Allmächtigen wir über uns niemand erkennen, auch um unsere Handlungen wir niemand Rechenschaft schuldig sind".s3 Dieser Personengruppe suchte Haller noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Herrschaftsrechte gegen die Ansprüche der anderen Berner zu sichern, indem er die Herrschaft der Patrizier in einer Städtischen Republik ebenso wie die Herrschaft eines Fürsten in einer Monarchie als System von Privatverträgen konstruierte. Im Zusammenhang mit der Erörterung der Monarchie unterschied Haller eine natürliche Person, den Fürsten, der aufgrund solcher Privatverträge die Herrschaft über die anderen Mitglieder des Gemeinwesens, die Untertanen, ausübte. Da die Souveränitätsrechte nicht bei der Bevölkerung insgesamt liegen sollten, benötigte er für seine Darstellung jeweils einen Begriff zur
50 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd. 6, Zweyter Teil, Fünftes Kapitel, S. 48-65.
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Ebd., S. XVI-XIII.
52
Vgl. S. XV.
53 Christoph v. Steiger, Innere Probleme des bemischen Patriziats an der Wende zum 18. Jahrhundert, (Diss. phil. Bem 1954), S. 54f., zit. nach Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, Berlin 1986, S. 89f.
11. Geschichte des Widerstandsrechts
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Kennzeichnung der Form des Gemeinwesens und einen weiteren Begriff zur Kennzeichnung der Personengruppe der Herrschenden innerhalb der jeweiligen Herrschaftsordnung, handele es sich nun um eine Monarchie oder eine städtische Republik. Im Hinblick auf die Behandlung städtischer Republiken bedurfte er daher eines Begriffs, der neben dem Staat der Republik Bern noch einmal die zur Herrschaft in Bern berechtigte Personengruppe in Abgrenzung zu den anderen Einwohnern Berns kennzeichnete. Die Begriffsbildung "Genossenschaft" erlaubte ihm, innerhalb der Republik Bern von dem herrschaftsberechtigten Personenkreis der Patrizier im engeren Sinne - eben der Rechtsperson der Genossenschenaft - zu sprechen. So wie er in der Monarchie den Monarch bzw. in der Aristokratie den Adel als herrschaftsberechtigten Personenkreis dem Volk entgegenstellen konnte, stellte er in der Stadtrepublik die Genossenschaft dem Volk entgegen. Diese begriffliche Finesse war in den ersten vier Kapiteln des Buches über die Republik (Begriff und Definition, Entstehungsart, Zweck, Erwerb der Unabhängigkeit) unnötig, stellte sich aber im fünften Kapitel über die ,,Natürlichen Rechte und Verhältnisse im Innern". Nun war zum ersten Mal von ,,Republik oder Genossenschaft" die Rede, da der Begriff der Genossenschaft im Gegensatz zum dem der Republik die Vorstellung einer privilegierten Personengruppe mit gemeinsamen Rechten innerhalb der Republik evozierte. Hier führte er aus, daß der Beitritt zur "Genossenschaft" freiwillig sein (Abschnitt 11), die Genossenschaft aber gegen ihren Willen auch niemand in ihren Verband aufnehmen müsse. Im elften Kapitel wurde schließlich die Funktion des zuvor als gleichbedeutend mit "Republik" verwendeten Begriffs der "Genossenschaft" vollends deutlich, wenn Haller "das Gut der Republik" als Eigentum "der ganzen Genossenschaft" reklamierte. Hallers patrimonialer Konservativismus wurde Hilfe· des Begriffs der Genossenschaft auch auf die Herrschaft der Patrizier über ihre Mitbürger innerhalb einer Stadt anwendbar. Trotz dieses besonderen Entstehungszusammenhangs im Dienst eines extremen Konservativismus gewann der Begriff der Genossenschaft im 19. Jahrhundert besondere Bedeutung für die Geschichte des Widerstandsrechts. In seiner 1843 veröffentlichten Studie über "Volksrecht und Juristenrecht" vertrat bereits Georg Beseler, ein führender Vertreter der deutschrechtlichen Schule, die These von der besonderen Befähigung der Germanen zur Gemeindebildung, deren Kraft jedoch im Verlauf des 17. Jahrhunderts der fürstlichen Machtausweitung zum Opfer gefallen sei. Die Vereinsgründungswellen seiner Gegenwart nahmen seiner Ansicht nach diese verschüttete Tradition wieder auf. Beseler schlug damit zwei für die folgende Forschung bedeutsame Schneisen. Er griff erstens auf das Mittelalter zurück, während die Frühe Neuzeit nurmehr eine Zeit des Verfalls darstellte, er machte zweitens die Auseinandersetzung von Fürsten und Gemeinden zur zentralen erklärenden Variabel seiner Analyse. 54
54
Georg Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, S. 169, Leipzig 1843.
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Durch den überragenden Einfluß seines Schülers Otto Gierke wurden diese Schneisen für die Geschichte des Widerstandsrechts außerordentlich bedeutsam. 55 Gierkes Werk über "Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien" von 1879 dankt die Widerstandsforschung das anhaltende Interesse an dem Herborner Juristen als Kronzeugen der theoretischen Reflexion und Reife eines genossenschaflichen Gegenmodells zur Fürstenherrschaft und der Entwicklungsfähigkeit widerstandsrechtlicher Argumente im Reich auch über den Augsburger Religionsfrieden hinaus. 56 Gierke führte Althusius als Theoretiker und Anwalt der Genossenschaft an. Gierke stützte sich, um den Aufbau des Gemeinwesens bei Althusius aus einzelnen Genossenschaften zu belegen, auf diejenige Stelle in der Politica des Althusius, in der die Zusammensetzung jeder der gegliederten Großmonarchien der Zeit, ob nun Frankreich, Spanien oder des Reiches, aus einzelnen Provinzen, Fürstentümern und Regionen beschrieben wird: ,,Membra regni, seu symbioticae universalis consociationis hujus voco, non singulos homines, neque familias ... sed civitates, provincias & regiones ... ".57 Diese häufig angeführte Stelle ist im Gesamtkontext einer vielschichtigen Argumentation zu sehen, in welcher der einzelne Bürger keineswegs nur oder in erster Linie als Mitglied seiner consociatio particu[aris zum Gemeinwesen gehört. 58
55 Vgl. mit dieser Bewertung schon Sander, Feudalstaat, S. 188, Anm. 1 zur Wirkung Bese1ers auf Gierkes Bestimmung der Genossenschaft; zu Gierke jetzt Wolfgang Mager, Genossenschaft, Republikanismus und konsensgestuetztes Ratsregiment. Zur Konzeptualisierung der politischen Ordnung in der vormodemen deutschen Stadt, in: Luise SchornSchütte (Hg.), Strukturen politischen Denkens in der frühen Neuzeit, (Beihefte der Historischen Zeitschrift), München 1999. 56 Otto v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Aalen 19686 (1879); zu Althusius vgl. Karl Wilhelm Dahm et al. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, vgl. Bespr. durch Horst Dreitzel, 'Neues über Althusius', lus Commune 16 (1989), S. 276-302. 57 Gierke, Althusius, S. 25; Johannes Althusius (1557/63-1638), Politica Methodice Digesta, Herborn 16143, IX, 5; vgl. zu diesem Problemkomplex jetzt Horst Dreitzel, Civitas composita et Föderatio. Zwei Konzeptionen territorialer Staatsbildung im 16. und 17. Jahrhundert, in: Giuseppe Duso (Hg.), Herrschaft und politische Ordnung im Umkreis von Johannes Althusius, WolfenbütteI2000. 58 Vgl. auch Althusius, Politica V, 10: ,,Membra universitatis sunt privatae diversaeque consociationes conjugum, farniliarum & collegiorum, non singuli cujusque consociationis privatae... sed cives ejusdem universitatis sunt a coeundo, ideo, quod ex privata symbiotica transeuntes (Hervorhebung des Autors), coeunt in unum corpus universitatis." Peter J Winters, Die Politica des Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg 1963, S. 200 versteht Mitgliedschaft in der consociatio privata und in der universitas als komplementär, aber es ist die Frage, ob Althusius mit der Begriffswahl "transeuntes" nicht eher den Austritt aus der Sphäre des Eigennutzes von Familie oder Zunft und den Eintritt in die Sphäre des Gemeinnutzes signalisieren wollte. Schließlich scheut er sich nicht, durch die Wahl des Begriffs des "cives" die Partizipation dieser Bürger vorauszusetzen, die aber bedarf der Befreiung vom Einfluß des Eigennutz. Stand der Forschung bei Hasso Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit, in: Dahm, 513-42. Danach wird die "sozialwissenschaftliche Theorie des genossenschaftlichen Aufbaus des Gemeinwesens"
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Die Wiederentdeckung des von Schlözer noch als überholt gekennzeichneten und von Murhard keineswegs besonders hervorgehobenen Autors spiegelte gleich in doppelter Weise eine neue Akzentsetzung in der Historiographie des Widerstandsrechtes. Gierke wandte sich einerseits gegen den vermeintlichen Individualismus der westlichen Gesellschaften und verstand sich als Anwalt spezifisch deutscher, bis in die germanische Vergangenheit zurückreichender Organisationsformen des Gemeinwesens, darin in der Tradition Beselers und der deutschen Rechtsschule stehend. Diese Formen sah er aber andererseits auch durch die Einigung der Deutschen zu einem Nationalstaat unter monarchischer Führung bedroht. Er wandte sich daher ebenso gegen die Rechtspositivisten um Paul Laband und deren Deutung der reichsdeutschen Staates als Bund souveräner Fürsten. Gierke vertrat damit eine für den deutschen Liberalismus des 19. Jahrhunderts keineswegs uncharakteristische Frontstellung gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat und den naturrechtlichen Individualismus gleichermaßen. Diesen Alternativen stellte er schon 1868 seine, vermeintlich bis in die germanische Zeit zurückreichende und spezifisch deutsche, Genossenschaftslehre entgegen, in der Gemeinschaft ohne die Atomisierung in Individuen oder die Unterordnung unter fürstliche Reservatrechte verwirklicht worden sei. Gierke rekonstruierte darin eine Lehre vom Gemeinwesen, die im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts vom Naturrecht überformt und ,,mechanisiert" und vom fürstlichen Obrigkeitsstaat an die Seite gedrängt worden sei. Gierkes wandte sich aus dieser doppelten Frontstellung heraus gegen die ,,romanistische" Sicht der Körperschaft, verstanden als ihre Mitglieder repräsentierende Rechtsperson, und gegen die ,,naturrechtliche Gesellschaftslehre" als "individualistisch und mechanisch", deren "geheime Empfindung" es sei, "die Korporation überhaupt durch die frei geschlossene und frei lösliche Assoziation der Individuen zu ersetzen".59
bei Althusius weitgehend unreflektiert von der "Eigenlogik des vom Hoheitsrecht geprägten Charakters der staatsrechlichen Beispiele" übelWölbt und konterkariert (Hofmann, Repräsentation, S. 533.) Vgl. Rober! v. Friedeburg, Reichsverfassung und der Wandel des Widerstandsrechts vom reichsständischen Privileg zum Naturrecht des Individuums: Die Politica des Johannes Althusius und ihre schottische Rezeption, in: Luise Schom-Schütte (Hg.), Strukturen des politischen Denkens in der Frühen Neuzeit, Beihefte der Historischen Zeitschrift, München 1999. 59 Zitate Gierke, Althusius, S. 263. S. 262-3. Zur doppelten Frontstellung von Gierke Otto G. Oexle, Otto von Gierkes 'Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft', in: Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S.193219, hier 199-202; zur zeitgenössischen Diskussion um den Ort der Souveränitätsrechte im Kaiserreich Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreiches (1871-1918), Frankfurt 1997, S.338-367 zur "Genossenschaftslehre" bei Otto von Gierke und Hugo Preuß.
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Diese Überlegungen sind in seine zwischen 1868 und 1913 in vier Bänden erschienene Lehre von der Genossenschaft eingebunden. 60 Der 1873 erschienene zweite Band beschrieb das "ältere deutsches Recht" (1. Kap.), für dessen Anerkennung er sich einzusetzen beabsichtigte. Im dritten, 1881 erschienenen Band folgten die prägnantesten Teile seines Argumentes. Er beschrieb darin seine Sicht der mittelalterlichen Theorie der Volkssouveränität, die auf der vertraglichen Bindung der Amtsträger zum Volk gefußt habe, ohne das Volk als bloße Ansammlung von Individuen zu denken. Sie sei bei Lupold von Bebenburg, Marsilius von Padua und Nicolaus von Cues ausgeführt worden und habe den Boden für den ,,repräsentativen Verfassungstaat" bereitet. 61 Während des 16. und 17. Jahrhunderts seien diese mittelalterlichen Ansätze durch den Territorialabsolutismus verdrängt worden. 62 Die deutsche mittelalterliche Stadtverfassung, der stärkste Garant der mittelalterlichen Theorie dieser Volkssouveränität und zugleich ihre Verwirklichung in der Praxis, sei durch die Einrichtung städtischer Obrigkeiten ebenfalls zur Seite gedrängt worden. 63 Im Rahmen dieser Exposition der Wegscheide der Frühen Neuzeit gegen die Lebensform der Genossenschaft ordnete Gierke Althusius die Rolle eines der letzten Vertreter dieser Lehre zu. Seine "consociationes" und seine Sicht des Aufbaus des Gemeinwesens auf ihnen sei durch eine Lehre vom Gesellschaftsvertrag ersetzt worden, die immer ,,mechanischer, rationalistischer und individualistischer" geworden sei. 64 Vor dem Hintergrund der doppelten Frontstellung gegen das monarchische Prinzip in den Staaten des Deutschen Bundes und dem entstehenden Kaiserreich, dem vermeintlichen Individualismus der westeuropäischen Aufklärung und der Einordnung des 16. und 17. Jahrhunderts als eines Zeitraums des Zerfalls der älteren genossenschaftlichen Organisationen wurde Altltusius zum Protagonisten der ,,historisch-organischen Auffassung der Zwischenverbände", die zugleich der Ausgangspunkt der Idee vom Rechtsstaat, der Volkssouveränität und des Föderalismus gewesen sei. 65 Gierkes Argumente wurden - wenn auch in z.T. signifikanter Verformung - zu Pfahlen der Forschung66 mit einschneidenden Folgen für die Konzeptua1isierung der Widerstandsforschung. Der noch von Schlözer problematisierte Zusammen-
60 Dtto von Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868-1913, Bd. 1 1868, Bd. 2 Breslau 1873, Bd. 3 Berlin 1881. 61
Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 2, S. 577-95.
62
Ebd., S. 765-790.
63
Ebd., S. 791.
64
V gl. Gierke, Althusius, S. 23-26, S. 117-9.
65
66
Gierke, Althusius, Zitat S. 263. V gl. Sander, Feudalstaat, S. 188: ,,Eine zweite Gesamtansicht der deutchen Verfas-
sungsgeschichte, welche sich hierin mit Gierkes großem Werk vergleichen könnte, besitzen wir nicht".
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hang mit den westeuropäischen Monarchomaehen geriet selbst dort, wo er weiterverfolgt wurde, in den Hintergrund, weil die Frage nach den genuin deutschen mittelalterlichen Wurzeln der politischen Entwicklung gerade im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Abgrenzung von westeuropäischen Entwicklungen entstanden war. Gegenüber Rankes Problemstellung einer Herrschaft des Rechts und der Religion im Zeitalter ihrer Aufspaltung in widerstreitende Bekenntnisse wurde die Auseinandersetzung von Fürsten- und Volkssouveränität zum Zentrum der Interpretation des Widerstandsrechts, der andere Gesichtspunkte untergeordnet wurden. Die historische Forschung zu Beginn des 20. Jahrhundert würdigte nicht zuletzt Melanchthon ausführlicher, differenzierte seine Haltung zum Widerstand in unterschiedliche Phasen und bezog sie auf die Veränderungen in den wiederholten Überarbeitungen der loci communes, in denen sich Melanchthons wandelnde Bewertung des naturrechtlichen Notwehrrechts spiegelte. 67 Ihr Rahmen wurde jedoch die Geschichte der Reformation als Durchsetzung des modemen Staates auf dem Wege über den Territorialstaat68 - und das hieß nun, in Übernahme der Konzeption Gierkes, aber positiver Bewertung des durch ihn kritisch apostrophierten Vorgangs, des Fürstenstaates -, für den die ,,staatstheorie der Reformation" die "Omnipotenz der Obrigkeit" gepredigt habe. 69 Die Reformation im Reich habe daher bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den "Triumph des Absolutismus" gemündet, mit der Durchsetzung des Territorialstaates sei nach 1550 das Widerstandsrecht aus dem politischen Leben des Reiches verschwunden, bei den Protagonisten des Widerstandsrechts habe es sich ohnehin nur um "Politiker [gehandelt], die alte Traditionen der Wissenschaft in den Kampf des Tages führten, um sie als politische Waffe zu benutzen.,,7o Das "gottgewollte Recht der niederen Obrigkeit" wurde daher als die ,,mit dem religiösen Gewand überkleidete Theorie des deutschen Partikularismus" gedeutet. 71 Gierkes Gegenüberstellung genossenschaftlicher und herrschaftlicher Elemente wurde von späteren Autoren wie Kurt Wolzendorf aufgenommen, aber einseitig zugunsten der Annahme einer völligen
67 Ludwig Cardauns, Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die rechtmäßige Obrigkeit, Dissertation Bonn 1903 S. 11; Curt Christmann, Melanchthons Haltung im Schmalkaldischen Kriege, Berlin 1902, S. 10-16; Hans Lüthje, Melanchthons Anschauungen über das Recht des Widerstandes gegen die Staatsgewalt, in: Zeitschrift fiir Kirchengeschichte 47 (1928), S. 513-42; hierzu jetzt Luther D. Peterson, Justus Menius, Philipp Melanchthon, and the 1547 Treatise 'Von der Notwehr Unterricht', in: Archiv fiir Reformationsgeschichte 81 (1990), S.138-155.
6R Vgl. Sander, Feudalstaat, S. I, S. 8 zum Bild des landesherrlichen Territorialstaats als Gelenk zwischen mittelalterlichem und modernem Staat.
69
Christmann, Melanchthons Haltung, S. 46-47.
70
Cardauns, Lehre, S. 115-6.
71
Ebd., S. 116.
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Durchsetzung scheinbar ungebundener fürstlicher Machtfülle entschieden. 72 Die ältere Einsicht in die auch über das Ende des 16. Jahrhunderts hinausgehende Bedeutung des Reiches und die ehemalige Hochschätzung seiner Gerichtsbarkeit waren verlorengegangen. 73 Diese Verkehrung von Gierkes Bewertung des Widerstandsrechts auf der Grundlage der von ihm selbst mitgeprägten dichotomischen Sicht von Volks- und Fürstensouveränität gipfelte in der 1916 erschienenen Arbeit von Kurt W olzendorf über "Staatsrecht und Naturrecht". Sie erklärte das Widerstandsrecht zum anachronistischen Fremdkörper im modemen Staat. Für W olzendorf stellten die Widerstandslehren ein spezifischen Merkmal des "dualistischen Ständestaates" mit seiner auf Stände und Fürsten verteilten und zwischen beiden umkämpften Handhabung der Souveränitätsrechte dar. Er verfolgte ihre Bedeutung bis zum 18. Jahrhundert. Die Bedeutung des Widerstandsrechts bis zur französischen Revolution versteht Wolzendorf als "Wirkung der ständischen Staatsordnung".74 Die Entstehung des konstitutionellen Staates nach der französischen Revolution habe dagegen zur ,,Entbehrlichkeit außerordentlicher Rechtsbehelfe mit der fortschreitenden Entwicklung des organischen Ausbaus des ordentlichen Rechtsschutzes" geführt. 75 Die Bedeutung der Glaubenskämpfe stellt Wolzendorf gegenüber dem nun zum Verfassungsgrundprinzip der Zeit erhobenen ständisch-fürstlichen Dualismus völlig zurück. Das wird von ihm mit dem Hinweis auf die direkte Bedeutung positivrechtlicher Elemente in den Widerstandslehren begründet. Wolzendorf legte seine Untersuchung europäisch vergleichend an und suchte die Erscheinungsformen des "dualistischen Ständestaates" auch an Hand widerstandsrechtlicher
72 Die Rezeptionsforschung zum Einfluß des lutherischen Magdeburger Bekenntisses war inzwischen weitergeführt und verfeinert worden, so daß die Frage nach der Rezeption des Magdeburger Bekenntnisses in Schottland und Frankreich Eingang in die vergleichende Betrachtung lutherischer und calvinistischer Widerstandstheorien fand, ohne jedoch die völlige Dominanz des staatszentrierten Paradigmas anzutasten. Vgl. Cardauns, Lehre S. 46 (mit Hinweis auf Gottlob von Polenz, Geschichte des französischen Calvinismus, 5 Bde. 1857-68, Bd. 3, Gotha 1860) mit Bezug auf Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, S. 27, 76f., S. 85-88 zur Frage der Rezeption in Schottland und Frankreich.
73 Vgl. noch Ranke, Deutsche Geschichte, Bd. VI, Über einige noch unbenutzte Sammlungen deutscher Reichtagsakten, 1838, S.474, 479: Auf den Reichstagen im 16. Jahrhundert "beruhte der Friede des Reiches in einer seiner lebensvollsten Epochen, während ganz Europa in den wildesten Religionskriegen blutete... " Das eben sei der Unterschied des Reichs zu anderen Gemeinwesen, daß in allen anderen "die Idee des Rechts an den Inhalt der Gewalt selbst geknüpft gewesen ist; wodurch sie, wie namentlich auch in England, nicht selten gewaltig ins Gedränge gekommen: in Deutschland gab es immer über allen den einzelnen Staatsgewalten noch etwas, was nicht wieder Gewalt war, sondern den Einwirkungen derselben, so viel als möglich entrückt, auf dem Boden der Reichsgesetze, der Vergangenheit und der Gelehrsamkeit ruhend, die Idee eines rechtlichen, juridisch gesicherten Zustandes an und für sich repräsentierte." 74 Kurt Wolzendorf, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vorn Widerstandsrecht des Volkes gegen die rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916, S. 258. 7S
Ebd., S. 490.
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Schriften aus Schottland und Frankreich zu verfolgen. Die Bemühungen der evangelischen Stände im Reich, der Monarchomachen und der schottischen Widerstandstheoretiker, Belege für ihre Thesen aus den eigenen Rechtskreisen heranzuziehen, wurden ihm Beweis für die Tatsache, daß die Bedeutung religiöser Motive gegenüber dem Bestand ständischer Reservatrechte bei der Frage nach der tatsächlichen Rezeption und Durchsetzung widerstandsrechtlicher Argumente ganz vernachlässigt werden könne und der ständische Dualismus und seine Verankerung in der positiven Rechtsordnung die eigentliche Erklärung für Aufstieg und Niedergang des Widerstandsrechts biete. 76 Wolfzendorf rückte mit dieser Konzeption den Zusammenhang des gesamten westeuropäischen Kontexts widerstandsrechtlicher Argumente wieder in den Mittelpunkt, nicht jedoch in der Form.einer Rezeptionsgeschichte widerstandsrechtlicher Topoi unter differierenden verfassungsrechtlichen und konfessionsspezifischen Hintergründen, sondern als Ausdruck der sich überall Bahn brechenden Rechtskonstruktion des ständischen Dualismus. Die Rezeption von Luther, Melanchthon und den anderen Reformatoren der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war von Schlözer bereits vermutet worden. Wolzendorf rezipierte Schlözer auch an prominenter Stelle. Seine Einsichten wurden von ihm jedoch nicht mehr berücksichtigt. Der europäische Vergleich ständischer Besitzstände im positiven Recht und ihre Spiegelung und Neuformulierung im Widerstandsrecht hatte die Frage der europäischen Rezeption widerstandsrechtlicher Argumente im Kontext der Reformation und Konfessionalisierung abgelöst. Dazu mag vor allem die nachhaltige Wirkung der Bewertung der lutherischen ,'zwei Reiche Lehre", der lutherischen Orthodoxie im 16. und 17. Jahrhundert und der lutherischen "Soziallehren" durch Ernst Troeltsch seit der Jahrhundertwende77 beigetragen haben, die mit einem gewichtigen Anteil lutherischer Ideen am Widerstandsrecht unvereinbar war. Die Lutheraner schienen für eine zentrale Rolle in
76
Ebd., S. 497-500.
77 Wolzendorf, Staatsrecht, bezog sich explizit auf Troeltsch. Ernst Troeltsch, Luther, der Protestantismus und die modeme Welt, in: ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie.Ges. Schriften Bd. IV, Tübingen 1925, S.202-54. Vgl. zur Inanspruchnahme Luthers durch die deutsche Nationalbewegung Werner Conze, Zum Verhältnis des Luthertums zu den mitteleuropäischen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert, in: Bernd Moeller (Hg.), Luther in der Neuzeit, Gütersloh 1983, S. 178-193, hier S. 18lf.; Luise Schorn-Schütte, Ernst Troeltsch Soziallehren und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Friedrich-Wilhelm Graflf. Rendtorff (Hg.), Ernst Troeltsch Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, Gütersloh 1991, S. 133-151; zur Kritik an der Troeltschen Sicht und besonders an der daran anschließenden der lutherischen Orthodoxie vgl. die Forschungsüberblicke bei Wolfgang Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Amdts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie, Göttingen 1988, S. 16-17; Jörg Baur, Lutherisches Christentum im konfessionellen Zeitalter - ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung, in: Dieter Breuer (Hg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 1995, S. 43-62.
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der Problemstellung nicht mehr zu taugen. Dagegen geriet nun vor allem der vermeintlich calvinistische Beitrag zum Widerstandsrecht in den Blickpunkt der Forschung. In der Person von Althusius verbanden sich in eigentümlicher Weise diese Aufwertung des Calvinismus in seiner Bedeutung für die Geschichte des Widerstandsrechts und die in England nachwirkende Rezeption Gierkes. Die Rezeption von Gierke in England ließ Althusius dagegen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer maßgeblichen Figur für die historische Behandlung des Gegenstandes werden. Bis zu den 1860er Jahren wurde die Deutung der Frühen Neuzeit noch in einem solch hohen Maße von venneintlich parallelen verfassungsrechtlichen Wurzeln oder gemeinsamen konfessionellen Konflikten innerhalb der deutschen bzw. britischen Gesellschaften geprägt, daß deutsche und englische Historiker zu anerkennenden Bewertungen der jeweils anderen Vergangenheit kommen konnten. Noch der englische Historiker Froude fahndete, Protestantismus und Katholizismus gegeneinander ausspielend, nach einer "affinity of the teutonic races".78 Noch deutlicher äußerte sich der Cambridger Historiker Sir James Stephen. In seinen 1851 veröffentlichten Vorlesungen zur französischen Geschichte meinte Stephen: "To the Question of Voltaire, then, why has England so long and so successfully maintained her free Government and her free institutions? I answer, because England is still, as she always has been, German; because of her national franchises are the spontaneous and legitimate fruit of her national character; of that character, dutiful, serious, -persevering, reverential and hopeful, which has been transrnitted to us from our Anglo-Saxon ancestors, and which it now remains for us to transmit to our remotest descendants".79 Ohne der für Gierke charakteristischen doppelten Frontstellung gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat und den venneintlichen Individualismus des Westens gewahr zu sein, übernahm die englischsprachige Forschung nach 1880 Gierkes Althusius - Bild als Opponent autokratischer Ordnung in ihren Kanon der Erzväter des politischen Liberalismus, ja, der Demokratie, avant la lettre. 8o
78 V gl. James Anthony Froude, The Condition and Prospects of Protestantism, in: ders., Short Studies on Great Subjects, London 1898, S. 146-79, vor allem zur (S. 158-9) "spiritual affinity" der "teutonic races"; zur liberalen Historiographie Jürgen Osterhammel, Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von Hume bis Macaulay, in: Historische Zeitschrift 254, 1992, S. 281-340; in Deutschland etwa Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Das constitutionelle Leben nach seinen Formen und Bedingungen, Leipzig 1831, S. 2f., wo er die Urkunden des deutschen Reichsstaatsrechts wie die Goldene Bulle von 1356 und den Ewigen Reichslandfrieden von 1495 mit der Magna Charta 1215, der petition of rights 1629 oder der Habeas Corpus Akte von 1679 gleichsetzt. 79 Sir James Stephen, Lectures on the History ofFrance, 1851, Bd. 11, S. 495, zit. nach iHM Salmon, The French Religious Wars in English Political Thought, Oxford 1959, S. 1. 80 George Peabody Gooch, English Democratic Ideas in the Seventeenth Century (1898), with supplementary notes and appendices by H. 1. Laski, Cambridge 19272, meinte
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Die Studien des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts arbeiteten auf diese Weise der Vorstellung zweier wenigstens seit der Reformation getrennter Wege in die Neuzeit zu, eines deutsch-lutherischen und eines britisch-calvinistischen. Unterschiedliche, ja sich diametral gegenüberstehende Verfassungsprinzipien und diese begünstigende religiöse Ideen hätten diese Wege geprägt, welche ihrerseits durch die lutherische Reformation im Reich und die vermeintlich calvinistische Reformation in England und Schottland artikuliert und begründet worden seien. W 01zendorfs Studie konterkarierte diese Sicht durch seine vergleichende Analyse ständischer Verfassungsrechte, untermauerte sie aber indirekt durch seine Ausklammerung der deutschen Reformation. Althusius wurde so, obwohl er über Gierke Eingang in die späteren Darstellungen fand, aus der organischen Entwicklung der deutschen Verfassungs geschichte, in die Gierke selbst ihn gestellt hatte, herausgelöst. Er wurde zu einem in erster Linie reformierten Autor, der in die Geschichte des Zusammenhangs von Calvinismus und Freiheit, nicht in die Verfassungsgeschichte des Reiches im Zeitalter der Konfessionalisierung, einzuordnen sei. Althusius erschien nicht mehr als Endpunkt einer genuin deutschen, sondern als Exponent einer calvinistischen und daher prononciert un-deutschen, weil nicht durch die lutherische Obrigkeitshörigkeit bestimmten, Geschichte "of democratic ideas".81 Althusius wurde dazu folgerichtig aus dem Kontext der politischen Theorie des - vermeintlich vom Aufstieg des lutherischen Obrigkeitsstaats bestimmten Reiches herausgelöst und schließlich sogar als niederländischer Autor apostrophiert. 82 Krise und Zusammenbruch der Weimarer Republik umrahmten die nächste zentrale Wende der widerstandsrechtlichen Forschung. Sie ging von dem liberalen Historiker Hans Baron aus, der sich auf die Suche nach den partizipatorischen Wurzeln in der deutschen Geschichte begab. Sie sollten dem entstehenden totalitären Machtstaat entgegengehalten werden. Als Schüler von Troeltsch übernahm Baron dessen Bewertung der lutherischen Reformation im Reich. Das Alte Reich und die politische Theorie der lutherischen Territorien wurden daher nicht zum Gegenstand seiner Suche nach partizipatorischen Wurzeln der deutschen Geschichte. Statt dessen wandte er sich denjenigen Gemeinwesen zu, die nicht im Machtbereich der lutherischen Territorien an der Reformation teilgenommen hatten. Baron besaß ohnehin ein besonderes Interesse an der spätmittelalterlichen Bürgerkultur der italienischen Städte und dem Ethos der Florentiner Bürgerkommune
zu Althusius Politica S. 48 daß ,,in the concatenation of political ideas, the aristocratic superstructure is easily lost sight of and the democratic substratum easily borrowed".
81 Gooch, S. 48. Howell A. Lloyd, The Netherlands: Althusius, in: 1. H. Bums (Hg.), The Cambridge History ofPolitical Thought, Cambridge 1991, S. 287-291. 82
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als Grundlage ihrer als freiheitlich apostrophierten Stadtverfassung. 83 In einem epochemachenden Aufsatz in der Church History von 1939 verband er dieses Interesse an der politischen Theorie der Stadt im spätrnittelalterlichen Italien mit der Entwicklung oberdeutscher Reichsstädte während der Reformation und suchte die politischen Kulturen dieser Städte unter der Troeltschen und Weberschen Perspektive einer "psychologischen oder intellektuellen Disposition des Calvinismus,,84 zur Mobilisierung des "modem capitalistic and democratic spirit" zu verbinden. 85 Dieser Geist des Calvinismus komme immer dann zum Durchbruch, wenn er in einer günstigen Umgebung gedeihen könne - eben in unabhängigen Städten, beispielsweise den oberdeutschen Reichsstädten. Dort habe es daher zu einer Entwicklung kommen können, die er als "Calvinistischen Republikanismus" bezeichnete. Diese Entwicklung spiegele die Widerstandstheorie des Straßburger Reformators Martin Bucer. Die Lutheraner hätten das Reich nur zum Fürstenbund uminterpretiert und damit den Städten keine eigenständige Rolle zugestanden. 86 Bucer habe dagegen mit Hinweis auf das jüdische Gemeinwesen vor der Einsetzung von Königen und auf Sparta die städtische als niedere Obrigkeit aufgewertet. Dieser niederen Obrigkeit habe er Schutzpflichten für die Verfassung zugesprochen. Diese Argumente seien von Calvinisten überall in Europa zur Deutung der Rolle der Stände in der Monarchie aufgenommen worden, u.a. von Althusius. 87 Barons Anliegen - die Verbindung der politischen Implikationen biblischer Modelle im Calvinismus mit der politischen Kultur der italienischen Bürgerkommune des 15. Jaru-hunderts 88 und ihre Übernahme in ständische Verfassungsmodelle, eine Kombination von Otto Gierke und Max Weber - generierten in der Folgezeit unabhängig voneinander verschiedene Forschungszusammenhänge. Dazu zählen die Erforschung der Rezeption der Geschichte der römischen Republik in der politischen Theorie der frühen Neuzeit, vor allem der im Florentiner Kontext entstandenen Argumente Machiavellis. Die Bemühungen oberdeutscher städtischer Gemeinwesen um größere Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit im Verlauf der Reformation blieben ebenfalls ein Gegenstand der Forschung. 89 Während 83 Hans Baron, The Crisis of the Early Italien Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age ofClassicism and Tyranny, Princeton (N.J.) 1955; ders., In Search ofAorentine Civic Humanism, 2 Bde., Princeton 1988. 84 Hans Baron, Calvinist Republicanism and its Historical Roots, in: Church History (8) 1939, S. 30-42, hier S. 3l. 85 Ebd., S. 30. 86 Vgl. aber beispielsweise ,,Ein theologischer Rathschlag von Nümberg", in: Hortleder, ß, 10, S. 86-87, wo S. 86 behauptet wird, "daß niemand zweifeln darf, daß der Stätte und Communen Gewaltl nicht weniger denn des Keysers." 87 Baron, Calvinist Republicanism, S. 35-38, S. 41. 88 Ebd., S. 33f. 89 Vgl. JG.A. Pocock, The Machiavellian Moment: Aorentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975; ders., The Machiavellian Moment revisited: A Study in History and Ideology, in: The Journal of Modern History 53 (1981),
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Baron aber eigens unterstrichen hatte, daß "the backbone of resistance to the rising wave of absolutism was not local self government of city states and territorial princes, but the participation of the estates in the central government,,90, blieb Gierkes Entgegensetzung genossenschaftlicher Selbstverwaltung und obrigkeitlicher Herrschaft im deutschsprachigen Forschungskontext, wenn auch nur dort, weiter bestimmend.91 Eine ganze Reihe von Entwicklungen haben dazu beigetragen, die veImeintIiche Entgegensetzung von Fürst und Ständen einerseits, von Luthertum und Calvinismus andererseits in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu relativieren. Die Ständeforschung problematisierte eine Sicht der Stände, die deren Stärke und Aufgabe in der Bekämpfung monarchischer Herrschaft sah. 92 Die Perspektive der genossenschaftlich-herrschaftlichen und lutherisch-calvinistischen Dichotomie wurde relativiert. Der Streit um das Widerstandsrecht wurde statt dessen als Streit um die Handhabung einer Herrschaft des Recht und um die Bewahrung des Glaubens im Reich gedeutet. 93 Die Neubewertung des Luthertums wurde nicht zuletzt durch den Widerstand der lutherischen Kirchen Skandinaviens gegen die deutsche Besetzung eingeleitet. Mit Kriegsende begann ein bis heute nicht völlig abgeschlossener Prozeß der Revision des Troeltschen Lutherbildes und der Neubewertung der lutherischen Orthodoxie. 94 Statt ausschließlich von einer Auflösung der Staatlichkeit des Reiches S.49-72; Thomas A. Brady jr., Protestant Politics: Jacob Stunn (1489-1553) and the German Refonnation, New Jersey 1995. 90 Baron, Calvinist Republicanism, S. 38. 91 Siehe vor allem zur Begriffsbildung des ,,Kommunalismus" durch Peter Blickle, Kommunalismus und Republikanismus in Oberdeutschland, in: H.G. Koenigsberger (Hg.), Republiken und Republikanismus im Europa der flühen Neuzeit. München 1988, 57-75; ders., Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), 529-556. 92 Volker Press, Fonnen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Peter Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen, Berlin 1983, S. 234-300; G. R. Eiton, The Body of the Whole Realm: Parliament and Representation in Medieval and Thdor England, in: Studies in Tudor and Stuart Politics & Govemment Bd. 2, Cambridge 1974, S. 19-61, hier S.30f.; Philip T. HoffmaniKathryn Norberg, Fiscal Crises, Liberty, and Representative Govemment, 14501789, Stanford 1994. 93 Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand; Benert, Lutheran Resistance Theory. 94 Eivind Bergrav, Wenn der Kutscher trunken ist. Luther über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit (1941), Neudruck in Kaufmann, Widerstandsrecht, S. 135-150; Hans Emil Weber, Von den Kirchenrechtstheorien im Alten Luthertum (1946), in: ders., Gesanunelte Aufsätze, hrsg. v. Ulrich Seeger, München 1965, S. 224-243; Johannes Heckei, Widerstand gegen die Obrigkeit? Pflicht und Recht zum Widerstand bei Martin Luther (1954), Neudruck in: ders., Das blinde, undeutliche Wort ,,Kirche". Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Siegfried Grundmann, Köln 1964, S.288-306; tiers., Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1953; Martin Honecker, Cura Religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht 4 v. Friedeburg
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A. Widerstandsrecht und neuzeitliches Gemeinwesen
zugunsten der Staatsbildung in den fürstlichen Machtbereichen zu sprechen, problematisierte die Forschung schließlich die komplementäre Formierung institutioneller Verdichtung von Herrschaft auf Reichs- und auf territorialer Ebene und die parallel verlaufende Einbeziehung immer weiterer Regionen in diesen Prozeß im Zuge des Ineinander von Reichsreform, Reformation und Konfessionalisierung. Widerstandsrechtliche Argumente wurden in diesem Zusammenhang weniger als ein Widerlager zur Staatsbildung (des Reiches) oder als Deckmantel (zur Konsolidierung fürstlicher Territorialherrschaft), sondern als Teil der das Gemeinwesen allererst formenden Verfassungsdiskussion verstanden. Schon der Augsburger Religionsfriede regelte schließlich selbst die Handhabung eines, wenn auch noch nicht zur Anwendung gelangten, Widerstandsrechts, insofern er weder die Protestanten zu Ketzern erklärte noch die Jurisdiktion der römisch katholischen Bischöfe über sie aufhob, sondern nur suspendierte. 95
des 17. Jahrhunderts insbesondere bei Johann Gerhard, München 1968; Martin Heckel, Artikel ,,Rechtstheologie Luthers", in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2051-2083; Martin Brecht, Artikel ,,Luther I", in: TRE 21 (1991), S. 514-530; Karl Heinz zur Mühlen, Artikel Luther, ll: Theologie, in ebd., S. 531-567; Martin Brecht, Die Rezeption von Luthers Freiheitsverständnis in der frühen Neuzeit, in: LutheIjahrbuch 62 (1992), S. 121-151, hier S. 125; Walter Sparn, Artikel ,,Lutherische Orthodoxie", in: Evangelisches Kirchenlexikon; Dietrich Braun, Luther über die Grenzen des Staates, in: Archiv für Reformationsgeschichte 78 (1987), S. 61-80; Sommer, Gottesfurcht; Ronald Asch, No Bishop no King oder Cuius regio eius religio. Die Deutung und Legitimation des fürstlichen Kirchenregimentes und ihre Implikationen für die Genese des ,,Absolutismus" in EngJand und im protestantischen Deutschland, in: Asch/Duchhardt, Absolutismus, S. 79-123; Heinz Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997; ders., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hrsg. v. Gerhard MaylRolfDecot, Mainz 1996. 9S Vgl. Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250-1490, Berlin 1985; Horst Rabe, Der Augsburger Religionsfriede und das Reichskarnmergericht 1555-1600, in: ders./Hansgeorg MolitorlHans-Christoph Rublack (Hg.), Festgabe für Walter Zeeden, Münster 1976, S. 260-80; Paul-Joachim Heinig, Die Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung, in: Mußgnug, Wendemarken, S. 7-31; Georg Schmidt, Der Westfälische Friede - eine neue Ordnung für das Alte Reich?, in: Ebd., S. 45-72; ders., Der Wormser Reichstag von 1495 und die Staatlichkeit im hessisehen Raum, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 46 (1996), S. 115-136; ders., Der Dreißigjährige Krieg, München 1995, S. 94-98.
B. Notwehr und Widerstands recht im Heiligen Römischen Reich, 1530-1664 I. Notwehr und Gemeiner Mann in den Rechtfertigungsschriften der Anhänger des Augsburger Bekenntnisses, 1530-1562 Als Ergebnis der Forschungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich der Schwerpunkt der Untersuchung des Widerstandsrechts verschoben. Es geht nun weniger um die Rekonstruktion eines Systems von Verfassungsprinzipien. Statt dessen liegt ein Hauptaugenmerk auf der Untersuchung der Entwicklung von Problemzusanunenhägen und Topoi unter dem Druck konkreter verfassungs-, ereignis-und kirchengeschichtlicher Veränderungen und Konflikte. Das gilt auch für das lutherische Widerstandsrecht und seine Entwicklung zwischen den 1520er Jahren und 1550er Jahren, also in Jahren sich wandelnder sozial-, verfassungsund ereignisgeschichtlicher Handlungsspielräume. Der rechtliche und begriffliche Ort der Notwehr in der widerstandsrechtlichen Diskussion unter denjenigen Ständen, die sich durch das Wormser Edikt und besonders durch die unmittelbar drohende Gefahr seiner Vollstreckung seit dem Herbst 1530 gefährdet sehen mußten, ergibt sich aus einer Reihe von Argumentationsmustern. Diese Argumentationsmuster entstanden im Wandel der reichspolitischen Situation, der Bewertung der reichsrechtlichen Lage und der unterschiedlichen Kombination verschiedener Rechtsquellen. 1 In ihrem Zentrum standen drei Konzepte, mit denen organisierte kollektive und rechtmäßige Gewaltanwendung gegen eine Vollstreckung des Worrnser Ediktes begrifflich gefaßt wurden. Diese Konzepte rankten sich um die Begriffe des "Widerstandes", der ,,Notwehr" und der "Gegenwehr". Weder der Begriff des "Widerstandes" noch die im Rahmen des Strafrechts gestattete ,,Notwehr" oder das Naturrecht der Selbstverteidigung, die "Gegenwehr", konzipierten eine Herausforderung der gegebenen Rechtsordnung, der ständischen Ordnung oder der Lehenshierarchie. " ...Widerstand gegen die anfechter des reichs und Teutscher nation ... ", die Türken und "Christenfein-
1 Wolfgang Günter, Luthers Vorstellung von der Reichsverfassung, Münster 1976; Bernhard Lohse, Die Bedeutung des Rechts bei der Frage des obrigkeitlichen Widerstandes in der frühen Refonnation, in: Christine Roll (Hg.), Recht und Reich im Zeitalter der Refonnation, Frankfurt 1995; Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologen und die Politik der evangelischen Stände, Heidelberg 1977; ders., Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1980; Hans-Joachim Gänßler, Evangelium und weltliches Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlass von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimente, Wiesbaden 1983.
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
de", zu leisten war geradezu eine der Pflichten, die dem Regiment der Reichsstände bei seiner Einrichtung im Jahre 1521 mit auf den Weg gegeben wurde. Der Begriff signalisierte die Handhabung organisierter kollektiver Gewaltanwendung durch die Reichsstände. 2 Der Begriff der Notwehr kennzeichnete in der Peinlichen Halsgerichtsordnung von 1532 denjenigen Tatbestand des Totschlags, bei dem der Täter straffrei ausging, weil er zum Schutz im Angesicht unmittelbarer Bedrohung seiner selbst, aber auch zugunsten dritter, gehandelt hatte. Die Paragraphen 139 (',Erstlich von rechter Notwer, wie die entschuldigt"), 140 ("Was eine rechte Notwer ist"), 141, 142 und 143 zur Regelung der Beweislast, 144 ("Vonn berurnbter notwere gegen eynem Weibsbilde'), 145 (zur "aberratio ictus" im Notwehrfall) behandelten das Notwehrproblem im engeren Sinn. Paragraph 150 nahm das Problem jedoch noch einmal im Hinblick den Schutz Dritter auf. Im Kern wird als Notwehr die Selbstverteidigung gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff auf die eigene Person, ein "Uberlauffen, Anfechten oder Schlagen", verstanden. Paragraph 150 führte jedoch aus: "Hernach werden etlich entleibung inn gemein berurt, die auch entschuldigung uf inen tragen mögen, so darinn ordentlich er weise gehandellt wurt. Item es sein sunst meher andere entleibunge, die etwan uß unstrafflichen ursachen bescheen, so dieselben ursachen Recht und ordenlich gepraucht werden .. .Item so einer zu Rettung eins andern leip, leben oder gutt jemandt erschlecht...Item so jemanndt einen bey nechtlicher weill geferrlicher Weyse inn seinem huse findet unnd erschlecht". Damit eröffnete sich eine breitere Grundlage der Interpretation der Notwehr. Auf der Grundlage dieses Paragraphen konnte auch ein Totschlag zugunsten Dritter und zum Schutz des Eigentums als Notwehr gedeutet werden. 3 Das Naturrecht gewährte schließlich die Gegenwehr im Rahmen des "vi vim repellere". Der Streit um diese Konzepte und ihre Anwendung wurde bereits bis in die 1550er Jahre als Teil der pamphletistischen Auseinandersetzung im Reich um die Rechtrnäßigkeit eines möglichen Widerstandes publiziert. Einige der Pamphlete und Traktate blieben jedoch auch weit über das Ende des Schmalkaldischen Krieges hinaus im Gedächtnis. Manche von ihnen wurden durch die Edition von Quellen zur Frage "Von der Rechtrnäßigkeit des Teutschen Krieges" durch den sächsischen Juristen Friedrich Hortleder am Vorabend des Ausbruchs des Dreißigjährigen Krieges der deutschen Öffentlichkeit erneut zugänglich gemacht. Sie dürfen insofern als besonders bedeutende und beständige Grundlage der Diskussi-
2 Vgl. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 24, Leipzig 1740, Sp. 1817-1818 zur Beauftragung von jedermann mit "billigem Widerstande gegen den Christenfeind" im Reichsabschied von 1500; Christine Roll, Das zweite Reichsregiment, Köln 1996, S. not.
3 Alfons Knetsch, Der Begriff der Notwehr nach der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karl V und dem Strafgesetzbuch für das deutsche Reich, Berlin 1906, S. 8-10, 19-24.
I. Notwehr und Gemeiner Mann
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on unter den Zeitgenossen angesehen werden.4 Die von Hortleder erneut edierten Quellen werden daher im folgenden als Grundlage der Diskussion und Rezeption des lutherischen Widerstandsrechts der 1520er bis 1540er Jahre herangezogen. Die Diskussion unter den Anhängern des Augsburger Bekenntnisses über die mögliche Rechtmäßigkeit organisierter Gewaltanwendung gegen den Kaiser als Lehensherren und Oberhaupt des Reiches läßt sich nach Argumentationsführung und Begriffsbildung in mehrere Entwicklungslinien ordnen. Diese Entwicklungslinien sind nicht als klar gegeneinander abgegrenzte und logisch oder zeitlich aufeinander folgende Schritte oder Phasen zu verstehen, sondern kennzeichnen miteinander konkurrierende, sich jedoch gegenseitig auch überlappende Argumentationszusarnmenhänge. Bekanntlich waren Melanchthon und Luther nach langem Zögern5 bereit, sich einer Deutung der Reichsverfassung und der geltenden Gesetze zu beugen, nach der den Fürsten die Notwehr gegen einen Angriff des Kaisers im Fall der Rechtsverweigerung durch den Kaiser gestattet sei.6 Sie folgten damit einer Argumentationsfigur, die bis 1536 in diversen Stellungnahmen und Gutachten wie beispielsweise dem Gutachten vom Luther, Jonas, Bugenhagen und Amsdorf vom Dezember 1536, immer wieder zum Ausdruck kam. Sie läßt sich daher als eine erste eigenständige Entwicklungslinie innerhalb der lutherischen Widerstandsdiskussion kennzeichnen. 7
4 Hortleder. Vgl. zur Beurteilung speziell der Flugschriften Heinz Scheible, Reform, Reformation, Revolution. Grundsätze zur Beurteilung der Flugschriften, in: Archiv für Reformationsgeschichte 65 (1974), S. 108-134.
5 Vgl. Scheible, Widerstandsrecht, S. 17, Nr. I: Gutachten Luthers kurz vor dem 8. Februar 1523; S. 17, Nr. 2: Melanchthon, kurz vor dem 8. Februar 1523; S. 20-23, Nr. 5: Luther an BTÜCk, 28. März 1528; Nr. 6, Luther an Kurfürst Johann den Beständigen von Sachsen vom 22. Mai 1529; Nr. 11: Luther an Kurfürst Johann den Beständigen vom 24.12. 1529; Nr. 13: Melanchthon, Gutachten vor dem 6. März 1530; Nr. 14: Luther (mit Jonas, Bugenhagen und Melanchthon an Kurfürst Johann den Beständigen von Sachsen; Hortleder 11, Nr. 2: Gutachten von Luther, Bugenhagen, und Melanchthon von 1528; vgl. Wolgast, Wittenberger Theologie, S. 95-177; Lohse, Problem; Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 40-72. 6 Vgl. Scheible, Problem, Nr. 16: Gutachten von Luther, Jonas, Melanchthon, Spalatin u.a. vom 26.-28. Oktober 1530; Wolgast, Wittenberger Theologie, S. 173-185; Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 147-156; vgl. Scheible, Problem, Nr. 15 Gutachten der kursächsischen Juristen; hierzu Wolgast, Wittenberger Theologie, S. 165-173; Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 136-148.
7 Gutachten von Luther, Jonas, Bugenhagen, Amsdorf, Cruciger, Melanchthon für Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, in: Scheible, Nr. 20; vgl. bereits Bugenhagen an Kurfürst Johann den Beständigen von Sachsen vom September 1529, in: Scheible, Nr. 7, bzw. Hortleder 11, Nr. 3; Anonymes theologisches Gutachten, um 1530, in: Scheible, Nr. 18; Gutachten Luther, Jonas, Bucer, Melanchthon für Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und LandgrafPhilipp von Hessen, in: Scheible Nr. 21 mit einer Verschärfung der Definition des Verteidigungsfalles. Schon wenn die Acht publiziert sei, sei von der Eröffnung des Krieges auszugehen (S. 94); Schreiben Luthers an Gregor BTÜCk, 1539, in: Hortleder 11 Nr. 16, S. 97-99.
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
Diese Deutung entstand als Kombination verschiedener Gesichtspunkte. Sie bezogen sich auf die Frage, unter welchen Bedingungen der Treuevorbehalt der Stände gegen den Kaiser als des Lehensherm und Haupt des Reiches 8 und die einschlägigen Gehorsamsgebote der Heiligen Schrift mit einer Verteidigung gegen die Durchsetzung des W ormser Ediktes vereinbar seien und wem die clausula petri das Recht zur Gewaltanwendung bei dieser Verteidigung gäbe. Dabei mußte es einerseits um eine Beantwortung der Frage gehen, wer im Reich eigentlich Obrigkeit und daher prinzipiell zu Widerstand und Schutz der Untertanen berechtigt oder gar verpflichtet sei - der Kaiser, die Reichsfürsten, oder andere Stände? Andererseits mußte es um die Frage der Anwendbarkeit des Notwehrrechts oder des Naturrechts der Gegenwehr gehen, zwei unterschiedliche, sich aber keineswegs prinzipiell ausschließende Zugänge zur Legitimation einer gewaltsamen Verteidigung gegen die Vollstreckung des Ediktes. Im Angesicht der drohenden Gefahr einer Exekution des W ormser Ediktes nach dem Reichstag von Augsburg 1530 verschmolzen seit dem Herbst dieses Jahres diese unterschiedlichen Gesichtspunkte zu einer einigermaßen kohärenten Argumentationsfigur. Sie verknüpfte die Unrechtmäßigkeit einer Vollstreckung des W ormser Ediktes ohne die Klärung der Glaubensfrage auf einem Konzil, die Verpflichtung des Kaisers zur Einhaltung gewisser Rechtswege durch die Wahlkapitulation9 , die Stellung der Reichsfürsten als eigentlicher Obrigkeit im Reich lO , ihre Pflichten zum Schutz der Untertanen 11 und das Recht der Reichsstände zur Abwehr unberechtigter Angriffe des Kaisers, soweit sie nämlich ohne gültiges Urteil und ohne Prozeß auf sie erfolgten. Der Kaiser sei als Richter in der Glaubensfrage unzuständig und breche geltendes positives Recht, wenn er bei einer gewaltsamen Vollstreckung des Ediktes die Reichsstände mit Krieg überziehe. Eine naturrechtliche Herleitung eines Notwehrrechts oder eine allgemeine Erlaubnis
H Böttcher,
Ungehorsam oder Widerstand, S. 49-51.
Landgraf Philipp von Hessen an Landgraf Georg von Brandenburg-Ansbach, Dezember 1529, in: Scheible, Nr. 10; Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 57-63, kennzeichnet diese Argumentation als Teil des ungeschriebenen und geschriebenen Rechts der deutschen Reichsfiirsten; Quentin Skinner, The Origins of the Calvinist Theory of Revolution, in: Barbara C. Malament (Hg.), After the Reformation, 1980, 309-30, bezeichnet sie als "Constitutional Theory". 9
10 Mit Hinweis auf diese Vorstellung behaupteten die Kurfürsten schon 1356 gegen den Papst, sie seien, als Repräsentanten des Reiches, zur alleinigen Bestimmung des Kaisers berechtigt und setzten 1400 Kaiser Wenzel ab, vgl. Hasso Hofmann, Der spätrnittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: Der Staat 21 (1988), S. 52345. 11 Vgl. die Gutachten von Amsdorfund Bugenhagen kurz vor Februar 1523, in: Scheible, Ne. 3 und 4; Hortleder, U, Nr.l2: Einrede auf das gestellte Bedencken... , 1531, S. 9lf.
I. Notwehr und Gemeiner Mann
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zur Notwehr gegen den Kaiser als rechtsbrecherischen Richter war damit zunächst nicht impliziert. 12 Insofern diese verschiedenen Gesichtspunkte nicht nur unabhängig voneinander formuliert 13 , sondern in diversen Gutachten zwischen 153014 und 153615/1538 16 mit leichten Variationen mehrfach aufeinander bezogen und im Zusammenhang vorgetragen wurden, läßt sich von der Fonnierung dieser einzelnen Gedankengänge zu einem einigermaßen kohärenten Argument in einer ersten Entwicklungslinie der lutherischen Widerstandsargumentation sprechen. Welche Rolle konnte dem Gemeinen Mann in dieser Argumentation zukommen? Das hing in der Folge davon ob, in welchem Maße ständischen Gruppen unterhalb der Reichsfürsten oder gar unterständischen Gruppen die Handhabung obrigkeitlicher Rechte zugestanden wurde. Es hing aber auch davon ab, welche Rolle Konzepte wie das der Notwehr und der Gegenwehr spielen sollten, deren
12 Gutachten der kursächsischen Juristen kurz vor dem 26. Oktober 1530, in: Scheible, Nr. 15, S. 63-66, hier S. 62: "Sed Iicitum est resistere iudici, qui iudex est et iurisdictionem de causa cognoscendi habet, quando iniuste procedit vel est ab eo appellatum etc"; Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 83-97, S. 138-144; Wolgast, Wittenberger Theologie, S. 180-82; zur Notwehr der Glossatoren und Kommentatoren des 13. und 14. Jahrhunderts, die aus dem Corpus luris Civilis ein Notwehrrecht im Falle der Vollstreckung unrechtmäßig zustande gekommener Urteile konstruiert hatten und zwischen der Gehorsamspflicht gegenüber dem Richter und dem Recht auf Selbstverteidigung gegenüber der Person des Richters als Privatmann unterschieden, als welcher der Richter handele, wenn seine Befehle der rechtlichen Grundlage ermangelten, vgl. Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 84-93. Die einschlägigen Kommentare zum römischen Recht behandelten jedoch Probleme der Abwehr der Pfändung oder des Sachschadens durch Gerichtsdiener niederer Richter, sie berührten nicht die Gehorsamspflicht gegenüber dem höchsten Magistrat. Melanchthon wies daher zunächst darauf hin, daß die Deduktion eines Widerstandsrechts gegen den Kaiser nicht zulässig sei: "Sed ad haec respondum est, quod iurisconsulti non distinguunt inter non obedire et vi resistere in illis casibus citatis. Liret non obedire, ut cum imperator mandat aliquid manifeste iniustum fieri. Hic concedunt mihi illa iura, ne obediam, sed non concedunt mihi, ut contra imperatorem arma suscipiam volentem cogere", siehe Melanchthon, Gutachten von Anfang März 1530 in: Scheible, Nr. 13, 57-60, hier S. 57; er wies die Anwendbarkeit eines naturrechtlichen Notwehrrechts zunächst ebenfalls zurück, weil dieses naturrechtliche Notwehrrecbt innerhalb eines Gemeinwesens zugunsten des Vorrechts der Obrigkeit entfalle, Rache an Übeltätern zu üben, und nur innerhalb des ius gentium relevant bleibe (CR 21,116-120). 13 Vgl. zu den Rechten der Fürsten Philipp von Hessen vom Dezember 1529, in: Scheible, Nr. 10; Gutachten der kursächsischen Juristen vom Oktober 1530, in: ebd., Nr. 15. 14
Vgl. ,,Anonymes juristisches Gutachten um 1530", in: ebd., Nr. 18.
Gutachten Luther, Jonas, Bugenhagen, Amsdorf, Cruciger, Melanchthon für Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, in: ebd., Nr. 20. 15
16 Gutachten Luther, Jonas, Bucer, Melanchthon für Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf PhiIipp von 1538, in: ebd., Nr. 21. In diese ArgumentationsIinie fallen u.a auch die Beantwortung zweier Fragen durch Bugenhagen an Kurfürst Johann des Beständigen vom September 1529 (in ebd., Nr. 7); ein Schreiben Luthers an den sächsischen Kanzler Brück (in: Hortleder, II, 16, S. 97-99).
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
Handhabung nicht apriori an ständische Qualifikationen gebunden war. Widerstand des Gemeinen Mannes, also organisierte Gewaltanwendung gegen ständisch Höhere, wurde durch die Carolina zwar als "fürsetzliche und boßhafftige auffruren"!? kriminalisiert. Das verschloß aber einer "fortschreitenden Absenkung der politisch-sozialen Qualifikationen" der Trägergruppen rechtmäßigen Widerstandes!8 - etwa bis hinab zu städtischen Magistraten - nicht grundsätzlich den Weg. Auch die Begriffe der Not- und der naturrechtlichen Gegenwehr waren nicht eo ipso ständisch exklusiv definiert. Luther und Melanchthon äußerten sich freilich zunächst im Hinblick auf solche Perspektiven der Erweiterung der sozialen Basis des Widerstandes eindeutig ablehnend. Luther sprach sich dagegen aus, daß mediate Stände auch nur Schutz beim Schrnalkaldischen Bund suchen könnten.!9 Melanchthon wehrte sich bis wenigstens 1535 gegen eine naturrrechtliche Ausdeutung des Widerstandsrechts über den engen Kreis der Reichsstände hinaus, weil er strikt zwischen der aus dem römischen Recht seiner Ansicht nach rekonstruierbaren Notwehrkonstruktion - wie sie beispielsweise in der Carolina definiert war - und dem Widerstand unterschied. 20 Die Verbindung von Notwehroption und Reichsstandschaft schloß in der 17 Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532 (Carolina), hrsg. von Gustav Radbruch, Stuttgart 1967,83, Art. 129. 18 Schulze, Zwingli, S. 203. 19 Reinhart Koselleck, Föderale Strukturen in der deutschen Geschichte, Pforzheim 1975, S. 15. 20 Gutachten von Melanchthon, März 1530, in: Scheible, Nr. 13; Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 91-95. In diesem Zusammenhang kann Böttcher (S. 95) gegen Quentin Skinner, The Origins of the Calvinist Theory of Revolution, in: Barbara C. Malament (Hg.), After the Reformation, 1980, S. 309-30, anführen, daß die römisch-rechtliche Notwehrargumentation in der Tat keinen Spalt für eine Erweiterung auf den Gemeinen Mann bot, weil sie sich nur auf die Notwehr gegen unrechtliche Maßnahmen von Gerichten der ersten Instanz - mit Bezug auf den Betroffenen - bezog, nicht aber auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Gemeinem Mann oder Fürsten und Gemeinem Mann anwendbar war. Ein allgemeines naturrechtliches Notwehrrecht ließ er zunächst ebensowenig gelten, weil er zunächst nicht zwischen Rache und Notwehr unterschied und das Recht zur Rache naturrechtlich der Obrigkeit zugeordnet sah, während Privatrache, ebenso wie für Luther, schon aufgrund der menschlichen Natur untersagt bleiben mußte; vgl. Philipp Melanchthon, Loci Communes Rerum Theologicarum (1521), in: Opera Omnia, CR 21, S. 116-120, hier S. 118: "Quandoquidem ea est rerum humanarum conditio, ex qua pro lapsus Adam inussit nobis omnibus notam peccati, ut saepe a malis boni laedantur, adnitendum esse humano generi ut lex de non laedendo in p1urimis conservetur ideoque coercendos, refrenandos tollendosque esse a medio, qui publicam pacem interturbant, qui innocentes laedunt, quo plures servari possint, sublatis iis qui laeserant...Hinc in re publica magistratus sunt, hinc sontium poenae, hinc bella, quae omnia Iurisconsulti referunt in ius gentium" Ders., In Quintrum Librum Ethicorum Aristotelis (1532), in: Omnia Opera, CR 16,388-9: ,,Ad hanc igitur legern naturae pertinet dictum: Vim vi repellere licet, scilicet ordinato modo a ratione et legibus, nec id dictum pugnat cum Evangelio quod ait (Rom, 12, 19.): Non vidicantes vosmet ipsos." Ders., Neubearbeitung Loci Communes Theologici (1535), Dmnia Opera, CR 21; S.408f.: "Vulgare dictum est: Vim vi repellere ius naturale concedit. Id dictum nonnulli reprehendunt, tanquam pugnet eum Evangelio. Ego vero saepe iam dixi, Evange-
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Argumentation dieser ersten Entwicklungslinie die Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung durch den Gemeinen Mann fast hermetisch aus. Jeder dieser einzelnen Gesichtspunkte traf innerhalb des lutherischen Lagers auf Widerspruch. 21 Zugleich befanden sich diese Gesichtspunkte bereits seit 1531 in stetiger Weiterentwicklung. Drei Veränderungen untergruben in der Folge die klare Fixierung des Notwehrrechtes auf die Reichsstände und erlauben, seit 1531 von dem Beginn einer weiteren, zweiten Entwicklungslinie zu sprechen, welche die erste zeitlich überlagerte, die enge Verknüpfung von Obrigkeitsbegriff, Reichsstandschaft und Notwehrrecht jedoch auflöste und damit dem Gemeinen Mann einen gewichtigen Platz in der Widerstandsdiskussion einzuräumen schien. Melanchthon modifizierte zwischen 1535 und 1543 erstens seine Haltung zum Problem der Notwehr. Er beschrieb sie nun als grundsätzlich jedem Menschen naturrechtlich zukommendes "Werk Gottes", so daß sie nun potentiell jedem angegriffenen Hausvater bei der Verteidigung seiner Person und seiner Familie als Recht zur Verfügung stand?2 In einem Brief an die von Einsiedei zog er später die Konsequenz aus diesem konzeptionellen Wandel, als er jedem Hausvater das Recht der Notwehr zum Schutz seiner Familie zugestand23 : "So ein Fürst einem Unterthan sein Weib wegführen sollte, und der Mann könnte sie schützen, so wäre er das zu thun schuldig, unangesehen daß er ein Unterthan wäre, und thät hierin christlich und recht, wenn er gleich seinen Herrn in der Gegenwehr umbrächte ... Nun ist der Schutz natürliches Recht...Nun ist in öffentlicher iniuria atroci ei'nemjeden der Schutz, die Defension natürlich erlaubt... ...24
lio non aboleri legern naturae et politicas ordinationes. Quare non pugnat Evangelium cum haec voce: Vim vi repellere iuris naturae est; si modo recte intelligatur. Debet enim ad vindictarn publicam, hoc est, ad officium magistratus, accomodari; ut magistratus vim vi depellit, cum latrocinia depellit armis et bello. Neque enim concedit id dictum privatis movere seditiones, sed eo ordine et modo concedit vim vi re depellere, quem magistratus praescribit. Nam illa ipsa ordinatio est legis naturae, videlicet ut sint magistratus."
21 V gl. die Positionen fränkischer Lutheraner in Scheible, Nr. 8 (Gutachten Spengler November 1529), 9 (Brenz an Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach), 12 (Gutachten Spenglers für Markgraf Georg von Brandenburg Ansbach vom Januar 1530), und 19 (Gutachten der zu Ansbach versammelten Theologen für Markgraf Georg von Brandenburg Ansbach vom Febuar 1531). 22 Vgl. Neubearbeitung der Loci Theologici von 1543 (Opera Omnia, CR 21, S. 602ff., hier S. 720ff ,,oe Vindicta", wo nun vindicta und defensio unterschieden werden (S. 723: ,,Paterfamilias debet defensionem suae coniugi et suis liberis, ergo in oppugnatione aedium facit officium dilectionis"); vgl. Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand, S. 95. 23 V gl. Omnia Opera, CR 11, Epistolarum lib. VI, Nr. 1066, Sp. 603f. (Juli 1546, Datierung nach Heinz Scheible (Hg.), Melanchthons Briefwechsel, Bd. 4, Stuttgart 1983, S. 395. 24 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß Paragraph 119 der Carolina als Berechtigung zum Schutz der Keuschheit der Frau gelesen werden konnte, vgl. Knetsch, S. 8.
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In diese Linie fällt auch seine Schrift ,.oe licita defensione".25 Die Verteidigung gegen den Kaiser sei mit dem Evangelium vereinbar. "Sicut enim Evangelium non delet Arithmeticam in humanis mentibus, sic non delet leges naturae et alias, quae ex his bona consequentia extinctae sunt de moribus politicis".26 Er ging dann auf die Pflichten der Magistrate zum Schutze der Kirche und der Unschuldigen ein und deutete Römer 13 als Gehorsamgebot gegenüber "iustae iurisdictionis" (Sp. 152). "Sed manifestam et atrocem in iuriam depellere, iustum est, quia talern defensionem lex naturae et Magistratuum leges ipsae concedunt". Die klare Fixierung des Notwehrrechtes auf die Reichsstände wurde zweitens durch eine immer breitere Verwendung des Begriffs von der "niederen Obrigkeit" unterlaufen. Dieser "niederen Obrigkeit" wurde, ohne Einschränkung auf die Reichsfürsten, die Pflicht zur Verteidigung ihrer Untertanen zugeschrieben. Der Begriff ließ sich grundsätzlich durch Stände weit unterhalb der Reichsfürsten in der ständischen Sozialordnung des Reiches füllen. Dabei fiel auch bereits das später, nicht zuletzt von Althusius, aufgegriffene Argument der "niederen Obrigkeit" als "Wächter" der Gesetze, eine Rolle, durch welche eine "niedere Obrigkeit" sogar über ständisch eigentlich höherrangige Gruppen rücken konnte. In einem "theologischen Rathschlag aus Nürnberg" von 1531 wurde etwa argumentiert, alle "ordentliche Gewalt" sei von Gott, unahbängig davon, ob sie nun höhere oder "untere" sei: "Darumb daß nicht die Person der Könige den Regierungen für sich, als wenn sie Geber deß Gewalts, einzig Gewalt gebühren oder machen: Sondern daß das Reich oder Regierung den Königen ihre Gewalt ... durch die Wahl und Ordnung heimsetzen und geben. Darumb auch eben die nemblich Wächter, so dem König die Gewalt geben und überantwortet, haben ihm den, so er nicht hält, wessen er verpflichtet ist ... wiederumb zu nehmen ... Auß dem ist auch zu ermessen und zu schließen, daß auch die niedere Gewalt, so fern es Gottes Ordnung ist, nicht allein der höheren Gewalt gleich, sondern auch in etlichen Fällen höher und fürnehrner ist"?? Dort ist auch die Rede davon, "Stätte und Communen" seien ebenso wie der Kaiser als Obrigkeit zu verstehen. Auch sie hätten ihr Amt durch Wahl und Einsetzung erhalten, sie seien Wächter der Gesetze. 28 Luther radikalisierte schließlich die Erweiterung der rechtmäßigen Notwehr auf einen noch breiteren Personenkreis durch seine Konzeption des ,,Hausregimentes" aus dem Jahre
25 Epistolarum libri X, Opera Omnia CR VI, Sp. 150-155. 26 Ebd., Sp. 150. 2? Vgl. ,,Ein theologischer Rathschlag von Nümberg, daß nicht alle, sondern nur die ordentliche Gewalt von Gott. Und daß derowegen die untere Obrigkeit im Reich wolbefugt, wider die unordentliche Gewalt des Obern, in Glaubenssachen, ihre Unterthanen zu schützen" (1531), in: Hortleder, 1110, S. 86-87. 28 ,,Ein theologischer Rathschlag von Nürnberg, daß nicht alle, sondern nur die ordentliche Gewalt von Gott. Und daß derowegen die untere Obrigkeit im Reich wolbefugt, wider die unordentliche Gewalt des Obern, in Glaubenssachen, ihre Unterthanen zu schützen", in: Hortleder, 1110, S. 86-87, hier S. 86, S. 87.
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1539. Neben "Welt-Regiment" und "Kirche" sei es von Gott in der Welt "wider den Teufel geordnet" und im Fall der apokalyptischen Herausforderung der Gottesordnung durch den Teufel - bzw. den Papst - zur Notwehr berechtigt?9 Drittens erschienen in den Quellen in den 1530er Jahren mehr oder minder detaillierte Schilderungen der Bedrohung des Gemeinwesens durch Türken und "türckische Tyrannen,,30, aber auch der Ordnung Gottes durch den Papst als Antichrist und apokalyptisch gedachten ,,Beerwolf,.31 Die Schilderung und Ausschmückung dieser Gefahren ermöglichte, dem angegriffenen Gemeinwesen ein Recht der Notwehr zuzuordnen, ohne die Handhabung dieses Rechtes strikt den Reichsständen zu belassen oder konkrete Aussagen über die Personengruppen zu machen, die das Gemeinwesen schützen sollten. Luther sprach beispielsweise bereits 1531 in seiner "Warnung an seine Lieben Deutschen" ganz allgemein davon, "Wo es zum Kriege kommt...so will ich das TheiV so sich wieder die mörderische unnd blutgierige Papisten zur Wehr setzt/nicht auffrührerisch gescholten haben... sondern wills lassen gehen und geschehen/daß sie es eine Notwehre heißen", ohne damit den Untertanen bereits ein Recht zum gewalttätigen Widerstand einräumen zu wollen, wohl aber ein Recht, sich einer Beteiligung an einem möglichen Kriege gegen die Evangelischen zu verweigern. 32 Es versteht sich, daß es sich beim Hinweis auf das Recht, den eigenen Glauben gegen Heiden zu verteidigen, und bei Luthers apokalyptischem Tyrannen aus der
29 ,,Etliche Schlußreden D. Martin Lutheri in öffentlicher Disputation vertheidigt" (1539), in: Hortleder, II, Nr. 18, S. 100-103, hier S. 100; dabei handelte es sich um die nach der Niederschrift der ersten 70 Thesen hinzugefügten Thesen. Vgl. zu den 70 ursprunglichen Thesen Martin Luther, WA 39 II, De tribus hierarchiis (Die Zirkulardisputation über das Recht des Widerstandes gegen den Kaiser, Math. 19,21), S. 35-91; Scheible, Nr. 22, S. 94-98, besonders S. 94, Anm. 456. Der durch Scheib1e wiedergegebene Erstdruck vom April1539 endet mit einer Spitze gegen den Kaiser. Über diese 70 Thesen wurde jedoch nicht disputiert, sondern über insgesamt 91 Thesen, die als Ankündigung zur der Zirkulardisputation auch gedruckt wurden. Der überraschende Frankfurter Abschied vom 19. April 1539 veranlaßte die Zufügung dieser zusätzlichen Thesen, die sich vor allem gegen den Papst richteten, und die auch bei Hortleder erneut gedruckt wurden, vgl. zur Entwicklung dieser Argumentationslinie Luise Schom-Schütte, Die Drei Stände Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1997, S. 435-61, hier S. 439; zur Bedeutung in der Notwehrdiskussion Luther D. Peterson, Justus Menius, Philipp Melanchthon, and the 1547 Treatise von der Notwehr Unterricht, in: Archiv für Reformationsgeschichte 81 (1990), S. 138-57, hier S. 140. 3U Vgl. ,,Anonymes theologisches Gutachten (etwa 1530), in: Scheible, 18, S.77-83; Abdruck in Hortleder, II, 5, S. 69-72, hier S. 71.
31 ,,Etliche Schlußreden D. Martin Lutheri ... ", in: Hortleder, II, Nr. 18, S. 100-103, hier S. 101, Thesen VI-Vm; Scheible, 22, S. 94-98, hier S. 97, These 58; vgl. Wolgast, Wittenberger Theologie, S.243-50; Heckel, Widerstand, S. 130; Heckel, Rechtstheologie, Sp. 2066. 32 ,,D. Martin Luther Meynung in der Wamung an seine lieben Teutschen", in: Hortleder II, 13, S. 92-93, hier S. 93; vgl. Wolgast, Wittenberger Theologie, S. 185-88.
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Zirkulardisposition zu Matthäus um unterschiedliche Gesichtspunkte handelte. Gemeinsam war ihnen aber der immer wichtiger werdende Akzent auf einem Recht zur Notwehr im Angesicht unmittelbarer Bedrohung. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Konzeptionen dieser Bedrohung waren insofern fließend, als Hinweise auf vermeintliche oder tatsächlich geschehene Massaker spanischer und italienischer Soldaten des Kaisers - wie bei der Erstürmung der Feste Düren im jülisch-klevischen Erbfolgekrieg im August 1543 -, die Beschwörung der Türkengefahr und die Darstellung des Papstes als eines apokalytischen Tyrannen zwar unterschiedliche, aber ineinander übergehende Topoi zur Beschreibung der Bedrohung der Gläubigen bildeten. 33 Ranke wies bereits darauf hin, daß diese Entwicklung insofern eng mit Luther verbunden war, als es ihm auf ein Recht zur Verteidigung gegen äußere Feinde, nicht auf einen Konflikt mit dem Kaiser ankam. 34 Eines der radikalsten Pamphlete mit Bezug auf die Bestimmung der zur Notwehr qualifizierten Sozialgruppe, in dem mehrere der eben besprochenen Elemente zum Tragen kamen, stammte von dem Münsteraner Syndicus ,,Johannes Wick, der Rechte Doctor".35 Die von ihm formulierten politisch-sozialen Qualifikationen der zur Notwehr bei Rechtsverweigerung in Glaubensfragen berechtigten Personengruppen ließen im Gang seiner Argumentation jede ständische Beschränkung hinter sich. Ist zunächst noch von den "christlichen Fürsten und Ständen auch zu sampt der Landtvolck ihre selbst Recht sprechen auß ihrem eigenen Zuthun" die Rede, so spricht er kurz darauf nur mehr davon, "auch ein Landtvolck [möge] von wegen der falschen Lehre sich wider solche Obrigkeit setzen, wenn man daß als zu keinem anderen Richter und Conciliium kommen kan" und fiihrte als Beleg die Geschichte von Phineas an, der, ohne ein Amt besessen zu haben,
33 Vgl. bereits Landgraf Philipp an Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach (1529), in: Scheible, Nr. 10, S.43-47, hier S.46; Luther, Warnung an seine lieben Deutschen (1531), in: Hortleder II, 13, S. 93; ,,Erklärung Luther wider den Heuchler zu Dresden", in: Hortleder II, 14, S. 94-5; Gutachten Bugenhagen. Cruciger, Maior, Melanchthon fiir den Schmalkaldischen Bund, Mai/Juni 1546, in: Scheible, Nr. 23, S. 98-100, hier S. 99 zum "exempel an Tewren"; "Schrift D. Martin Luther an einen Pfarrherren" (1539), in: Hortleder II, Nr. 13, S. 104-105, S. 104. 34 Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. III, Buch VI, S. 251; Wolgast, Wittenberger Theologie-S. 186 zu Luthers Ausnehmung des Kaisers aus den Erörterungen seiner "Warnung an seine lieben Deutschen" und sein Hauptaugenmerk auf den ,,mörderischen und blutgierigen Papisten". -
35 Zu Münster und Wick Heinz Duchhardt, Protestanten und Sektierer im Sozial- und Verfassungsleben der Bischofsstadt im konfessionellen Zeitalter, in: Franz-Josef Jakobi (Hg.), Geschichte der Stadt Münster, Bd. 1, S. 217-47; Ronnie Po-chia Hsia, Gesellschaft und Religion in Münster 1535-1618, Münster 1989, S.8: Johannes von der Wieck war Syndikus der Stadt Münster, Hauptbefiirworter der lutherischen Reformation in der Stadt und Gegner der Täufer.
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einen Sünder gegen Gottes Gebote auf eigene Faust mit seiner Lanze durchbohrte. 36
Manche Flugblätter bezweifelten mit Hinweis auf Lupold von Bebenburg, ob die Fürsten überhaupt als Untertanen des Kaisers bezeichnet werden könnten 37 oder apostrophierten das Reich gar mit Hinweis auf die Römische Republik als Aristokratie38 , insistierten jedoch auf dem Verbot der Privatrache. 39 Vielleicht suchten sie damit einen Ausweg aus dem angesichts des Bauernkrieges und erst Recht der Ereignisse um Münster sich abzeichnenden Dilemma. Eine Rechtfertigung der Notwehr mit dem Hinweis auf natürliches und positives Recht ging, las man Streitschriften wie die von Wick, offenbar zugleich mit der Gefahr einer Entbindung des Gemeinen Mannes aus der Gehorsarnsordnung dieser Welt einher. Flugblätter wie das von Johannes Wick schienen genau in diese Richtung zu deuten. In dieser Situation erschien es möglicherweise als Ausweg, die Fürsten zur einzigen Obrigkeit zu erklären und damit das Problem eines Widerstandes gegen die Obrigkeit zu umgehen. Solche Versuche der Eindämmung der Widerstandsdiskussion wurden jedoch durch das Notwehrkonzept, das Gewaltanwendung nicht an ständische Qualiftkationen, sondern an den Tatbestand der Außerkraftsetzung der regulären Rechtsordnung im Notfall knüpfte, von vorneherein unterlaufen. Sie gingen gegen Luthers die weltliche Ordnung transzendierende Zirkulardisposition zu Matthäus von 1539, in der er in eschatologischen Formulierungen zur allgemeinen Verteidigung gegen den als apokalyptischen Tyrannen gedachten Papst als Antichrist aufrief, ohnehin ins Leere. Hinweise auf die Christenpflicht zum Gottesgehorsam, auf ein Recht zur Notwehr gegen die "Bluthunde" des Papstes40 und auf die Blutbäder der
36 ,,Johann Wicks der Rechte Doctoris zu Bremen Rathschlag", in:Hortleder, hier S. 7576. Zu Phineas vgl. Mose 25 v. 1-9.
37 VgJ. ,,Ein anderer theologischer Rathschlag... " (1531), in: Hortleder, n, 11, S. 88-90, hier S. 89f.
38 ,,Anonymes juristisches Gutachten (nach November 1530), in: Scheible, 17, S. 69-77, hier S. 75f.: "Summa surnrnarum, diB keyserthumb lest sich nich viel anders ansehen, dan ethwann der rath zu Roma gewest ist".
39 ,,Ein anderer theologischer Rathschlag ... " (1531), in: Hortleder, n, 11, S. 88-90, hier S. 89f mit der explizit gestellten Frage, "was Unordnung und Zenüttung aller Regiment hieraus folgen" würde, wenn das Recht zur Notwehr gegen die Obrigkeit zu weit ausgelegt würde. 40 ,,Ein Bedenken/daß vonnöthen sey, !luff Weltliche Mittel und Wege zu trachten/durch welche das Evangelium erhalten werden möge... " (1530), in: Hortleder, n, 4, S. 68f., hier S. 68: " ...ein jeder Christ schuldig istldrzu zu helfen/damit diejenigen/so noch schwach! und umb der Wahrheit willen zu sterben ... nicht abfallen ... "; ,,D. Martin Luthers Meynung in der Warnung an seine Lieben Teutschen", in: Hortleder, n, 13, S. 92-93, hier S. 93.
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spanischen und italienischen Soldaten des Kaisers41 verschmolzen zwischen 1531 und 1546 in immer wiederkehrenden Variationen. Zum zentralen Nexus dieser neuen Entwicklungslinie in der lutherischen Argumentation zum Widerstand wurde der Begriff der Notwehr. Er wurde mit Beschreibungen und Erinnerungen an die Türkengefahr und die Bedrohung durch den Papst verbunden und aus dem spezifischen Kontext der Carolina und der Rechte der Reichsstände herausgelöst. Als Naturrecht und "christlich Recht,,, so propagierten die Pamphlete, stand die Notwehr wenigstens jedem christlichen Hausvater ZU. 42 Das spezifische Notwehrrecht der Carolina zum Schutz von Weib und Kind und die Gegenwehr des Gemeinwesens im Kampf gegen Heiden und "fremde Nationen,,43 verschmolzen. 44 Höhe- und zugleich Endpunkt dieser zweiten Entwicklungslinie wurde der Schmalkaldische Krieg von 1546/47. Die Notwehrargumentation erreichte in zwei Überarbeitungen der ,,Notwehr Unterricht" von Justus Menius durch Melanchthon ihren Höhepunkt und ihre Wende, die kurz hintereinander 1547 erschienen. Melanchthon war es bereits bei seiner Herausgabe von Luthers Zirkulardisposition um die Mäßigung des apokalyptischen Aufrufs und die Rechtfertigung des Krie-
41 Gutachten Bugenhagen. Cruciger, Maior, Melanchthon für den Schmalkaldischen Bund, Mai/Juni 1546, in: Scheible Nr. 23, S. 98-100, hier S. 99 zum ..exempel an Tewren .. (=Hortleder, 11, 21). 42 ..Schrift D. Martini Luther an einen Pfarrherrn..... (1539), in: Hortleder 11, 19, S. 104f.; ,,Eine Vermahnung Doctor Martin Luther an alle Pfarrherrn ... mit einer Vorrede des Kurfürsten von Sachsen und Burggrafen zu Magdeburg Hofpredigers Christoph Hofmann.. (1546), in: ebd., 20, S. 105-107, Vorrede Hofmann, S. 105 zum Kampf ..wider den Türcken und der Päpstlichen unauffhörlich Tücklmörderische Praktiken und greuliche Tyrannei ..; vgl. auch Melanchthon, Brief an die von Einsiedei, Omnia Opera, CR 11, Epistolamm Iib. VI, Nr. 1066, Sp. 603f. Juli 1546: ..So ein Fürst einem Unterthan sein Weib wegführen sollte, und der Mann könnte sie schützen, so wäre er das zu thun schuldig, unangesehen daß er ein Unterthan wäre, und thät hierin christlich und recht, wenn er gleich seinen Herrn in der Gegenwehr umbrächte... Nun ist der Schutz natürliches Recht...Nun ist in öffentlicher iniuria atroci einem jeden der Schutz, die Defension natürlich erlaubt. Darumb thun die Fürsten recht und sind die frembden Völker, Hispanier und Italiener, so Eur Blut begehren, nicht anders denn wie Mörder zu achten in diesem Fall. .. 43 ,,Ein Schrift D. Johann Bugenhagen Pomerani... an andere Pastoren und Prediger.., in: Hortleder, 11, 22, S. 109-111, hier S. 109 zum ..Volck auß frembder Nation/das nach Teutschen Blut dürstet", gegen das ,,JugendlFrauen und Jungfrauen/wider sie/als wider MörderIFrauen und Jungfrauen schänden/zu schützen" sind; S. 110 daß alle "Hausväter wissen [sollen], daß sie Gott diesen Dienst auch schuldig seynd/ zu Rettung der KirchenlPriesterlKirchen/Christlich RegimentlWeib und KindIEhre und Zucht".
44 So auch Melanchthon in ,.Philipp Melanchthons Vorrede vor die Warnung D. Martini Luther an seine lieben Teutschen/vor etliche Jahre geschrieben" (Juli 1546), in: Hortleder 11,24, S. 122-125, wo S. 124 die befürchtete Auseinandersetzung mit der Verteidigung von "Weib oder Kind" als ,,recht gottgefaIlig Werk.. gerechtfertigt wird.
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ges gegenüber der gelehrten Welt und dem einfachen Volk gegangen. 45 In seiner Überarbeitung des ihm von Menius zugesandten Texts strich er die meisten Invektive gegen den Papst als "Werwolf,,46, kürzte diejenigen Passagen, in denen die Grenze zwischen passivem Ungehorsam und aktivem Widerstand selbst im Hinblick auf Kinder gegenüber ihren Eltern überschritten wurde, zu einem die Unverletzlichkeit von Herrschaftsordnungen weniger relativierenden Text47 und ließ die ursprünglich vorhandene ausführliche Diskussion der Schöpfungsordnungen, die den Hausvaterstand als eine dieser Ordnungen und damit als zum Widerstand berechtigt apostrophierte, ganz weg. 48 Im Ergebnis spitzte die neue Fassung des Textes von Menius, die auch von Hortleder 1618 wiederabgedruckt wurde, die Notwehrargumentation nicht mehr auf ein Recht der Hausväter zu. Sie parallelisierte statt dessen nach wie vor deren Gegenwehr im Notwehrfall mit dem Recht zur Gegenwehr eines ganzen Gemeinwesens, nun am Beispiel von Wilhelm Tell und der Schweiz. Der Vater habe recht getan, den Amtmann zu töten, der ihn gezwungen habe, auf den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes zu zielen. Daher sei der Kampf der Schweiz ,,kein Aufruhr, sondern rechte, billiche Defension und Gegenwehr gewesen", die "Gott gefällig" sei. 49 Das sei besonders im Falle der Verteidigung der Kirche gegen Türken, ,,Papstliche,, und ,,Heiden,, der Fall. 50 Während die Schrift im Ergebnis am Konzept der Notwehr ihr zentrales Gerüst behielt, gewann der Gesichtspunkt des Rechts eines ganzen Gemeinwesens auf Notwehr größeres Gewicht, während demgegenüber die Frage eines Notwehrrechts des Gemeinen Mannes als Ausgangspunkt eines allgemeinen Widerstandsrechts aller Untertanen im Konfessionskonflikt in der Schwebe gehalten und gegenüber den Formulierungen von Menius abgeschwächt wurde. Das einflußreiche Magdeburger Bekenntnis setzte diese zwiespältige Linie gegenüber einem Widerstandsrecht des Gemeinen Mannes im Jahre 1550 fort. 51 Als Teil der ,,Hauptstücke christlicher Lehr" übernahm es im "Siebenden Kapitel: Von weltlichem und Hauß Regiment und von ihrem Gewalt" die Idee vom "Haußregirnent" und stellte dieses Hausregiment in die Verantwortung zum Schutz der Kir-
45 Peterson, Notwehr Unterricht, S. 141f.; vgl. Melanchthon, Vorrede zur Zirkulardisposition zu Mathäus, in: Opera Omnia, eR VI, Sp. 358-360, spezifiziert S. 359, daß ,,Nothwehr nach einem jeden Stand [Hervorrebung des Autors], ist ein recht Werk".
46
Peterson, Notwehr Unterricht, S. 151.
47
Ebd., S. 153.
48
Ebd., S. 155.
Iustus Menius, "Von der Nothwehr Unterricht", in: Hortleder, 11, 29, S. 138-156, hier S.149. 50 Ebd., S. 154. 49
51
Zu seiner Rezeption vgl. Schulze, Zwingli, mit weiterführender Literatur.
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che neben das weltliche Regiment. 52 Sucht die Obrigkeit die ,,Ausrottung guter Religion und guter Sitten", so wird sie "auß Gottes Ordnung ein Ordnung des Teuffels/welcher Ordnung ein jeder nach seinem Beruff mit gutem Gewissen widerstehen" könne 53 - damit kommt im Zweifelsfall auch das "Haußregiment" zum Zuge. Einschränkend heißt es jedoch wenig später54 , "Und wiewol der Handel von der Notwehr an sich nit unrechtlsondern recht istlso reden wir doch nit gerne davon/umb deß willen/daß wir leichtlich erachten können/daß viel böser Leitlauch unter den Christen/wegen ihres Gottlosen und Unchristlichen Fürhabensldiesen Schein einer Nothwehr suchen unnd furgeben möchten/daß auch fromme und wahr Christen/weil sie Aeisch und Blut haben/und dadurch auch mit Ungedult und Rachgier wider Unrecht leichtlich angefochen werden/solches Schutzes der Nothwehr vorzeitig/da unnd wie sich nach Gottes Wort nicht gebühret...mißbrauchen köndten ...Wo aber Hans Unvernunnfft (wie er allezeit pflegt) diesen unseren wahren göttlichen BerichtIden wir thun von der Nothwehr/oder Auffenthalth eine UnterObrigkeitigegen der Obernl...rnißbrauch[e]", so sei dies die Schuld der ,,Papisten". Mit dem Hinweis, "Der aber widerstehetlder sehe darauffldaß er es thue in und durch seinen rechten Beruf.55, ist nun nur noch von der "Unter Obrigkeit", nicht aber mehr vom Hausmannsstand, die Rede. 56 Die Auseinandersetzungen innerhalb der Stadt Magdeburg im Jahre 1562, nur zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Magdeburger Bekenntnisses, zwischen der "Unterobrigkeit.der Stadt", Bürgermeistern und Räten, und einzelnen Predigern im Zusammenhang mit dem Streit um die Deutung der Rechtfertigungslehre zwischen Georg Maior und Nikolaus von Amsdorf zeigen, wie ernst die Magdeburger Räte und Bürgermeister ihr eigenes Mandat als Obrigkeit nahmen und für wie gefahrlich sie Behauptungen hielten, auch der Hausmannsstand könne rechtmäßige Gewalt ausüben. Auf die Konflikte lutherischer Prediger mit ihren Stadtobrigkeiten und ganz besonders auf Tilemann Hesshusius, den Superintendenden von Magdeburg in den Jahren 1560-1562, der in Konflikt mit den Bürgermeistern und Räten geriet, ist die Forschung jüngst eingegangen. Dabei ging es nicht zuletzt um c.
S2 ,,Bekenntnis, Unterricht und Vermahnung der Pfarrherrn und Prediger der christlichen Kirchen zu Magdeburg" (13. April 1550), in: Hortleder, N, 7, S.817-854, hier S.832. S3 Ebd., S. 832. S4 Ebd., S. 837. ss Ebd., S. 838. S6 In der Ausdifferenzierung des Unrechts in unterschiedliche Grade (ebd., S. 838-40) geht das Bekenntnis auch auf das Problem ein, zwischen verschiedenen Notwehrsituationen und den ihnen entsprechenden Reaktionen zu differenzieren und nimmt damit die Verrnengung verschiedener Problemlagen im Begriff der Notwehr, die erst einen Weg zur Gewährung eines Widerstandsrechts selbst an Untertanen gewiesen hatte, wieder zurück. Unterschieden wird ein "erster Grad unrechter Gewalt", zweitens "große und öffentliche" Gewalt, einen "dritten Grad", in der die Obrigkeit zum Tyrann geworden sei und einen vierten Grad, in welcher dieser Tyrann "also toll und rasend" werde.
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die konkurrierende Verantwortung der sich formierenden evangelischen Geistlichkeit und der weltlichen Obrigkeit um die Regelung der Predigt und um die Handhabung des Strafamtes der Prediger auch gegen die eigene Obrigkeit. Der Ansprüche der evangelischen Geistlichen richteten sich in heiden Hinsichten auch kritisch gegen ihre eigene Obrigkeit und führten zu einer Fülle von Konflikten zwischen Geistlichen und Obrigkeit, die jüngst von Luise Schom-Schütte im Rahmen ihrer Untersuchung der ,,Dreiständelehre" als kirchlichem und politischem Ordnungsprinzip thematisiert wurden. 57 Tilman Hesshusius griff durch seine 1561 in Magdeburg veröffentliche Schrift "Vom Ampt und Gewalt der Pfarherrn" in diese Auseinandersetzung zugunsten der Rechte der Prediger ein. Die "Bürgermeister und Rathmänner" der Stadt Magdeburg wollten dagegen in diesen Auseinandersetzungen gegen Tilman HesshusiUS58 ein Kontrollrecht über die von der Kanzel aus angesprochenen Sachverhalte durchsetzen. Sie verweigerten Hesshusius u.a. den Druck einer Schrift gegen Maior. Aus der Sicht des Rates sollte damit nicht zuletzt den Unruhen in der Stadt, die durch Hesshusens Angriffe auf andere Geistliche, den Rat und Teile der Gemeinde geschürt worden waren, ein Ende gesetzt werden. Ein Mitstreiter von Hesshusius flocht in einer Predigt, folgt man Hesshusius' Darstellung des Konfliktes, daraufhin eine "Christliche Warnung und Vermahnung" an den Rat ein, Gott solle es den "Regenten aus Gnaden verzeihen", daß sie einzelne Prediger an der Veröffentlichung ihrer Meinung gehindert und einen anderen eingesperrt hätten. Tilman Hesshusius griff die Bürgermeister und Räte in seiner ,,Nothwendigen Entschuldigung und Verantwortung wider den Bericht des Raths der Stadt Magdeburg" darüberhinaus öffentlich als "gottlose Juristen" an. 59 Der Rat reagierte einerseits mit der Ausweisung der opponierenden Prediger aus der Stadt, andererseits mit der öffentlichen Rechtfertigung seiner Politik gegenüber den Bürgern der Stadt, seinen Untertanen. Denn der Rat regierte, da er sich selbst als rechtmäßige Obrigkeit verstand, doch praktisch und theoretisch im Rahmen des positiven, natürlichen und göttlichen Rechts. Dazu zählte auch der Versuch der Rechtfertigung der Machtrnittel, die der Rat gegen einzelne Prediger eingesetzt hatte und damit auch des Entscheidungsrechts, das sich der Rat als weltliche Obrigkeit zumaßte, gegen den Vorwurf der "Gottlosigkeit". Rat und Bürgermeister begründeten ihr Entscheidungsrecht mit dem Hinweis auf ihr von
57 Vgl. Luise Scham-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Ftühneuzeit, Gütersloh 1996, Kapitel Vll: Die Geistlichkeit zwischen Obrigkeit und Gemeinde, S. 390-432, zu Hesshusius S. 402; Inge Mager, T. Heshusen, Geistliches Amt, Glaubensmündigkeit und Gemeindeautonomie, in: Heinz Scheible (Hg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wolfenbüttel 1996. 5R
Vgl. Scham-Schütte, Evangelische Geistlichkeit, S. 217-19.
Vgl. Tilemani Hessui nothwendige Entschuldigung und gründliche Verantwortung wider den Bericht des Raths der Stadt Magdeburg, 0.0. 1562. 59
5 v. Friedeburg
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Gott auferlegtes Amt als Obrigkeit, ihre Verantwortung für die "erste Tafel der zehn Gebote" und ihre Pflicht, "auffsehenshalben auff der Kirchen/die inn unsere Stadt Ringmauer und Bothrnäßigkeit begriffen sind, gebührende und habende Amtsgerechtigkeit Gott und unserer hohen Obrigkeit zu ehren und aller Kirchen zum besten und zur Notdurft! nach unserer Amtspflicht Erforderung zu üben und zu halten". Der Rat thematisierte damit eigens das Verhältnis zwischen den Geistlichen als Stand und dem Rat als weltlicher Obrigkeit. Hesshusius wolle mit seinen öffentlichen Angriffen "Unser Amt als uns von Göttlicher Majestät aufferlegt...unter die Füsse treten und vernichten". Er möge meinen, sein Urteil sei das des "Heiligen Geistes ...und uns mit Gewalt einbilden, als könt ein Prediger nimmer irren". Tatsächlich spreche jedoch "nicht allwege der Heilige Geist sondern offt der Teufel selbst aus den Predigern." Die öffentlich opponierenden Prediger verglich der Rat mit Müntzer. Auch Müntzer habe "den gemeinen Mann, ja auch wohl verständige Leute verführet". Die Sündhaftigkeit von Rat und Stadt stellte der Rat nicht in Abrede. Aber die Deutungsautorität über einzelne Begebenheiten, so den plötzlichen Tod einer Frau in der Stadt, dürfe nicht allein bei einem Prediger liegen. Sie, die Bürgenneister und Ratleute, dürften und brauchten "ihr Gewissen" dem Urteil solcher ,,köstlichen Zeloten und ernstlich eiffrigen" nicht "zu unterwerfen", weil sie als "Weltliche Stadtregierung... nach göttlicher Ordnung" diesen Predigern nicht unterworfen seien. Vor den Augen der Magdeburger Stadt nahmen die Räte dann explizit zur öffentlichen Auseinandersetzung um ihre Autorität Stellung. "Und ob dann wol Tilemann inen geschwinden griff gebraucht das er sich auff unsere Gemeine reserviert, vielleicht der fröhlichen Hoffnung und Zuversicht, uns unsere Gemein also vorzubilden, als ob wir ganz übel rnißgehandelt so mögen wir aber dennoch mit Gott, Warheit und allen Rechten und demnach auch mit gutem Gewissen" behaupten, daß das Stadtregiment keine "Tyrannei wider treue Lehre" sei, sondern "gegen Tilemann und seinen Anhang unser Amtpflicht geübt...daB wir alle gegen Gott und unserer Gemein zu Ehren und besten gemeinet". Zu den Pflichten des Amtes, das Rat und Bürgenneister "von Gottes, unserer hohen Obrigkeit" besaßen, gehöre eben auch die Fürsorge für die Stadt und ihre "notdurft". Rat und Bürgenneister verweigerten damit nicht nur den Predigern das eigene Urteil über die Erörterung ihrer Lehrstreitigkeiten in der Öffentlichkeit, sie beanspruchten zugleich das Amt des Richters über diese Streitigkeiten für sich. Sie nannten ihre Streitschrift, in der sie sich vor der Gemeinde für ihr Einschreiten rechtfertigten, bezeichnenderweise die ,,Nothwehr des Raths und Syndici ...der alten Stadt Magdeburg".60 Der Rat verstand sich selbst als im Stand der Obrigkeit, in sein Amt von Gott eingesetzt. Vom Hausrnannsstand als einer der drei Schöpfungsordnungen war keine Rede. Die Ausübung der Notwehr gegen die Bedrohung des Gemeinwesens lag in dieser Sicht allein beim Rat als Obrig-
60 Nothwehr des Rats und Syndici auch etliche Pastoren und Prediger der Alten Stadt Magdeburg.... Magdeburg 1562.
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keit. Einer weiteren Absenkung der ständisch-sozialen Qualifikationen zur Ausübung der Notwehroption oder eine Erweiterung der Berechtigung zur Kritik am Rat durch die Prediger als eigenem Stand der Kirche wollte der Magdeburger Rat, vor der Öffentlichkeit seiner Stadt herausgefordert, selbst durch die klare Fixierung der Institutionen niederer Obrigkeit auf städtische Magistrate einen Riegel vorschieben und von diesem Gesichtspunkt die Magdeburger Bürger überzeugen. Dieses Bemühen stand nicht im Zusammenhang eines Konfliktes zwischen städtisch-bürgeriicher Genossenschaft und fürstlicher Territorialherrschaft. die eine für mehr Partizipation, die andere für fürstliche Herrschaft kämpfend. Es handelte sich um die Argumentation der bürgerlichen Räte der Stadt Magdeburg, die im ganzen protestantischen Europa zum Wahrzeichen des Widerstandes gegen das Interim und den eigenen Landesfürsten geworden war. Als Obrigkeit nahmen die Räte dieser Stadt jedoch eine Position ein, die sich aus den für die Zeitgenossen, jedenfalls aus der Sicht des Rates, offen zu Tage liegenden Strukturnotwendigkeiten jedes menschlichen Gemeinwesens, einer Monarchie ebenso wie einer städtischen Republik, ergaben. Die Räte von Magdeburg machten keine Unterscheidung zwischen Prinzipien genossenschaftlich-partizipatorischen Zusammenlebens unter Rechtsgleichen und fürstlicher Herrschaft gegenüber Untertanen, sondern wiesen auf ihre Pflichten als Obrigkeit sui generis hin und suchten die Bürger von diesem Standpunkt in dem Schlagabtausch veröffentlichter Flugschriften, die uns als Quellen vorliegen, zu überzeugen. Sie suchten ihre Stellung als Obrigkeit durch die Zustimmung der Beherrschten zu dieser Stellung gegen Hesshusius abzusichern. Die Handhabung der Notwehr mußte in diesem Zusammenhang allein in der Kompetenz der Obrigkeit, jedoch im Interesse des Gemeinwesens liegen. Gerade von der Natur dieser Interessen suchten die Räte ihre Untertanen schließlich zu überzeugen. Kehren wir noch einmal in die Krisenzeit auf dem Höhepunkt des Schmalkaldischen Krieges zurück. Denn in die gleiche Richtung wie die städtische Obrigkeit in Magdeburg argumentierte das bereits 1547, im Jahr der Überarbeitung von Menius' Schrift, veröffentlichte Traktat "Von der Defension und Gegenwehr" von Reglus Selinus, einem Lehrer der Kinder von Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen. 61 Die Notwehr des Gemeinwesens insgesamt geriet ganz in den Mittelpunkt der Argumentation, während expressis verbis mit Hinweis auf die von .,Herrn Ornnes", dem Gemeinen Mann, ausgehenden Gefahren ein Vergleich des Notwehrrechts des Fürsten mit dem "anderer gemeiner Leute" abgelehnt wird. Damit entstand eine weitere Entwicklungslinie, die jedoch keineswegs einfach als Spiegel des Durchbruchs des Territorialabsolutismus gegenüber den niederen Ständen und dem gemeinen Mann zu verstehen ist Vielmehr bezog diese neue Argumentation das Notwehrrecht auf das betreffende Gemeinwesen insgesamt. Im
61
S'
Regius SelinusIBasilius Bonnerus, in: Hort1eder, II, 30, S. 156-173.
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Kern dieser Verteidigung stand die Bewahrung der Rechte und der Verfassung des Gemeinwesens. Gegen sie dürfe auch der Fürst nicht verstoßen. Gegenüber der ersten Entwicklungslinie lutherischer Widerstandsargumentation wurde das Notwehrrecht nicht den Fürsten als erblichem Herrenstand sui generis zugebilligt, dem der Kaiser als solchem vertraglich verpflichtet sei, sondern den "Völckern und beschriebenen Rechten". Sie mündete damit in einen konfessionellen Landespatriotismus, der seine eigene Entwicklung in den Territorien des Reiches nehmen und sich auch gegen die Territorialfürsten selbst wenden sollte. 62 Die Schrift beginnt mit den Kriegszielen der Feinde, welche die Notwehr des angegriffenen Gemeinwesens rechtfertigen müssen. Dazu zählte jedoch nicht nur ,,notorischer Grewel und Abgötterey" durch den Papst, sondern das Ziel, ,,Eine gottlose und Türckische Monarchie zu machen ... und Teutsche Nation/unser lieben Vaterlande/ihre althergebrachte Freyheit zu nehmen ...und uns also in eine schändliche und unchristliche Hispanische Dienstbarkeit zu verwandeln und servitut ewiglich zu bringen/daß wir glauben und thun müssen/was sie nur gelüstet/als die Leibeigenen und Sc1aven/wider alle RechtelFriedensständte/Verträge/Landfriede ... " Damit werden die Verteidigung des Glaubens, die Herrschaft des Rechts und die zeitgenössischen humanistischen Topoi der deutschen Nation und des deutschen Vaterlandes aufeinander bezogen und zur Berechtigung der Notwehr des Gemeinwesens neu zusammengefügt.63 Der darauf folgende Abschnitt zur ,,Defension und Gegenwehr" weist darauf hin, der Kaiser habe sich vom Papst "bereden lassen" und unterstreicht damit den Aspekt der Verteidigung gegen Feinde außerhalb des Reiches. Es folgt eine Aufzählung der Versäumnisse des Kaisers, wegen denen er kein Recht zu einem Angriff habe. Dabei kommen zunächst die Rechte der Reichsfürsten auf ein rechtmäßiges Verfahren zur Sprache, zu dem es bisher nicht gekommen sei. 64 Gleich darauf wird jedoch das Bild Luthers vom ,,Beerwolf" aufgenommen, ,,Jedermann" seiner Pflicht gemahnt, ungeachtet "obs ein Herr oder Richter verbieten wollte", Widerstand gegen dieses Un-
62 Zu Problem und Begriff Manfred Jacobs, Die Entwicklung des deutschen Nationalgedankens von der Reformation bis zum deutschen Idealismus, in: Horst ZilJeßen (Hg.), Volk - Nation - Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 19702 , S. 51-110; Michael Stal/eis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert, in: Günter Birtsch (Hg.), Patriotismus, in: Aufklärung 4 (1991), S.7ff; Schmidt, Luther, S. 75; Scham-Schütte, Identite regionale; Formulierungen zur Verteidigung des Vaterlandes und seiner Gesetze schließen an zeitgenössische Topoi an. Im nur fünf Jahre zuvor ergangenen Reichsabschied von 1542 heißt es beispielsweise zum Problem der Türkensteuern, "so erfordert es demnach die unvermeidlich Nothdurfi, daß alle Stände, Städte und Einwohner des heiligen römischen Reiches und teutscher Nation, in diese beharrliche Hilfe gezogen ..... werden, zit. nach Neue vollständige Sammlung der Reichs-Abschiede, Frankfurt 1747, Teil 11, S. 444f.
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Selinus, Defension, S. 157f.
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Ebd., S. 164.
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geheuer zu leisten. 65 Fürsten, so fährt Selinus dann mit Bezug auf Baldus fort, regierten unter "Deum et leges". Das gelte auch für Fürsten, die "keinen Oberherren mehr erkennen". Während "Herr Ornnes Junckhers Pöbel und den gemeinen Hauffe, thut von ihm selbst freywillig nichts guts,,66, "sollen fürstliche, Adeliche/UIid erbare Hertzen und Gemüther. .. ungezwungen unnd freywillig ... thun was jedermann von rechts wegen/zu thun schuldig ist/nicht was sie gelüstet/und nach ihrem Gefallen leben".67 Selinus läßt es aber mit dieser Warnung vor "Herrn Ornnes" und dem Hinweis auf die besondere Tugend der Herrenstände nicht bewenden. "Wenn ein Fürst oder Herr mit einem ehrlichen oder zimblichen Sachen contrahieret/ so ist er nach allen/natürlichen/der Völcker und beschriebenen Rechten schuldig/solchen Contracts/so den Rechten gemäßIzu halten/es sey mit welchem es wolle! seynen Unterthanen, oder sonsten mit anderen: Es sey verbriefet und verschrieben oder nicht." Erneut Baldus zitierend, schließt der Abschnitt, daß ,,Naturales enim constitutiones ligant etiam supremum Principum, Papam aut Imperatorem... Die natürliche Rechte und Ordnungen/verbindten auch den obersten Fürsten ... Und kein Gewalt noch Autorität/weder ein Fürst noch ein Senatlkann machen/daß ein Fürst nicht ein unvernünftig Thier seylkan ihn auch nicht absolvieren noch entbinden von natürlichem Gesetz noch von dem, was die natürliche Vernunft oder das ewige Gesetz lehrt. Denn was natürlich ist, ist unwandelbar. Und der weise Heide Aristoteles vermahnet den größten König Alexander/daß er die Verträge und zusagen hielte!es würde sonst ein böses Ende hernach folgen/sagt D Baldus".68 Die Argumention schließt mit einer Interpretation von Davids Verzicht auf Widerstand gegen Saul und einer Analyse des Rechts der Fürsten zur Notwehr. Während Saul als "PrivatPerson" auf Widerstand gegen Saul verzichtetet habe, seien die Fürsten "in der Possession des Regiments" und daher zum Widerstand gegen den Kaiser berechtigt.69 Selinus zog für seine Argumentation und seine Schilderung der Ordnung im Reich als Herrschaft des Rechts Plato, Aristoteies und Baldus heran. Er leitete mit diesen Belegen auch die Pflichten aller Fürsten gegenüber ihren Untertanen ab. Die Kriegsziele des Feindes zur Errichtung von ,,Abgötterey", "Unchristlicher Hispanischer Dienstbarkeit" und "Türckischer Monarchie" korrespondieren mit dem Gegenbegriff der "althergebrachten Freyheit" "unseres lieben Vaterlandes", der
65
Ebd., S. 165.
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Ebd., S. 166.
67 Ebd., S. 166. 68 Ebd. S. 166. Vgl. zum Topos des "unvernünftigen TIriers" Susan C. Karant-Nunn,
,,Nicht wie die unvernünftigen TIrier: Rhetorical Efforts to Separate Humans and Animals in Early Modem Gennany, unveröff. Manuskript, 1998.
69 Ebd., S. 169f.
B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
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"Teutschen Nation".7o Selinus fügt am Schluß hinzu, der "Keyser" habe im Reich ,,keine Gewalt", "wie man vom Türclcischen Kaiser sagt, daß er über seine Unterthanen haben soll, als ein Herr über seine leibeigenen Leute".71 Damit verband er zum Schluß die Rhetorik der Türkengefahr, die bis dahin in erster Linie die Notwehr des Gemeinwesens gegen Heiden und Anhänger des Papstes begründete, mit der Verteidigung des Gemeinwesens als Herrschaft des Rechts. Selinus begründete seine Einschränkung des Notwehrrechts auf das Gemeinwesen als Ganzes statt auf einzelne Personenengruppen - mit den von "Hans Unvernunft" ausgehenden Gefahren. Das Gemeinwesen als Subjekt der Notwehr beschrieb er jedoch als Herrschaft des geschriebenen und ungeschriebenen Rechts. Die Fürsten seien an "solchen Contractslso den Rechten gemäß", gebunden. Während Selinus freilich in erster Linie das Reich im Auge hatte, wenn er vom "lieben Vaterland sprach", wurde der Begriff des "Vaterlandes" zum gleichen Zeitpunkt im deutschsprachigen Raum nicht nur als Bezeichnung für das Reich verwendet. Die böhmischen Stände sprachen in ihrem Beschluß auf dem Ständetag im März 1547 zur Verteidigung gegen Ferdinand von sich als von den ,,Liebhabern unsers Vaterlands und Gemeinem Nutz", die ,,zu Bewarung unsers Vaterlands und dan unser aller selbst, Weib, Kinder, Hab, Guts und Underthanen" zur Notwehr gegen Ferdinand und Karl schritten.72 Die explizite Nennung von "Weib, Kindern, Habs, Guts" zählte bereits zum Repertoire der Notwehrargumentation, schloß sie doch an den Topos der Notwehr als Verteidigung des eigenen Hausstandes und Besitzes an. Das Subjekt dieser Notwehr waren freilich weder Fürst, noch Adel, noch Hausväter, sondern die ,,Liebhaber des Vaterlands", das selbst zum schutzwürdigen Gut erklärt wurde - noch vor Frau und Kindern. Es handeltes sich also keineswegs einfach um eine Argumentationsfigur ständischen Widerstandes, in dessen Rahmen eine ständische Korporation zur Verteidigung ihrer Besitzstände aufgerufen hätte, sondern um die Pflichten böhmischer Patrioten gegenüber dem Königreich. Den böhmischen Ständen wäre es schließlich auch kaum möglich gewesen, sich diejenigen Rechte anzumaßen, die Reichsfürsten gegenüber dem Kaiser für sich in Anspruch nahmen. Sie umgingen die Frage der detaillierten Zuordnung des Notwehrrechts zu bestimmten sozialen Gruppen durch den Hinweis auf das Vaterland und die Pflichten, welche die Liebe zum Vaterland mit sich bringt.
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Ebd., S. 157.
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Ebd., S. 173.
72 Zit. nach Winfried Eberhard. Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystems Ferdinands I. in Böhmen, München 1985, S. 450.
II. Widerstandsrecht und Notwehrrecht (1614-1664)
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11. Widerstandsrecht und Notwehrrecht zwischen 1614 und 1664 Der Einfluß der bis 1550 im Reich entwickelten Argumente auf die Weiterentwicklung des Widerstandsrechts in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts läßt sich inzwischen nicht nur durch die Wiederherausgabe zentraler Texte durch Friedrich Hortleder im Jahre 1618 und durch die Benützung der dort wiederaufgelegten Quellen durch führende Juristen und Theologen während des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts belegen. Die Forschung hat darüberhinaus den Diskussionsverlauf zwischen 1550 und dem Ende des 16. Jahrhunderts, in dem die Notwehr immer wieder eine zentrale Rolle spielte, freigelegt. Die Rechtfertigung der Notwehr gegen die Rechtsbrüche spanischer Truppen in den frühen Erklärungen Wilhelms von Oranien zum Widerstand gegen den Herzog von Alba in den Niederlanden nahm das Notwehrargument und das Argument zu den Rechten und Pflichten der Reichsstände wieder auf. Als Wilhelm von Oranien 1568 sein Eingreifen in den Niederlanden am Beginn des Achtzigjährigen Krieges gegen Spanien publizistisch verteidigte, wandte er sich nicht gegen König Philipp. Analog dem Versuch der Argumentationen in den 1530er Jahren, den Papst und die Rechtsbrüche spanischer Truppen anzugreifen, sich aber nicht gegen den Kaiser zu wenden, wies Wilhelm von Oranien eigens darauf hin, der König wisse von dem rechtsbrecherischen Treiben seines Büttels nichts. Statt dessen prangerte er die Rechtsbrüche von Herzog Alba an und wies auf sein Recht und seine Pflicht als Stand des Reiches zum Schutz der verfolgten Christen in den Niederlanden hin. Da kein Gericht Abhilfe schaffe, sei er zur Notwehr berechtigt. Der Hinweis auf das Fehlen von Rechtsmitteln gegen den Rechtsbrecher Alba und das sich daraus ableitende Recht der Notwehr gegen diesen Rechtsbrecher standen im Mittelpunkt der Flugschrift. 1 Der Krieg in den Niederlanden und die Bürgerkriege in Frankreich leiteten mit dem Eingreifen Wilhelms in den Niederlanden und der Bartholomäusnacht in Frankreich im reformierten Wetterauer Grafenverein in den 1570er und 1580er Jahren in eine Debatte über Tyrannenbegriff und Notwehr über, die zum einen direkt an die Argumentation Wilhe1ms von Oranien anschloß. Wilhelm von Oranien erläuterte, wie Hubert Languet in einem Brief vom 1. April 1568 an August von Sachsen berichtet, während eines fast vierzehntägigen Aufenthaltes von Languet in Dillenburg ihm und "aliquot aliis" sein Eingreifen in Holland? Ludwig von Wittgenstein und Johann VI. von Nassau Dillenburg beteiligten sich an diesen
I Vgl. Wilhelm Prinz von Oranien, Bekentnis samt Defension und Nothwehr wider des Duca de Alba Unehrhörte Verfolgung gegen alle Stände der Niederlande. 0.0.1568;. 2 Vgl. Nicollier-de Weck, Langue!, S. 191-192 zum Briefwechsel zwischen Languet und August von Sachsen.
72
B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
Debatten. Ludwig von Wittgenstein verstand beispielsweise den Kampf der Niederländer gegen Spanien als ihrem Gemeinwesen naturrechtlich zukommende defensio. Als Vertreter nicht-fürstlich geführter Gemeinwesen und als Anhänger eines nicht durch den Augsburger Religionsfrieden gedeckten Bekenntnisses nahmen sie diejenigen Argumente auf, die bis zum Augsburger Religionsfrieden entwickelt worden waren. Sie schlossen also an den Stand der Debatte über die Pflichten der niederen Obrigkeiten, die Notwehr bei Rechtsmittelverweigerung und das Naturrecht der Gegenwehr jedes Gemeinwesens an, die im Verlauf der 1530er Jahre über den Schrnalkaldischen Krieg bis hin zur Interimskrise bei Regius Selinus und durch das Magdeburger Bekenntnis formuliert worden waren. Johannes Althusius begann seine Lehrtätigkeit in Herbom in einem durch diese Debatten bestimmten Klima. Zum einen blieb in diesen Debatten der einzelne Untertan unzweideutig in die Herrschaftsordnung des Gemeinwesens eingebunden auch die Wetterauer Grafschaften waren schließlich ständische Herrschaftsordnungen, in denen die Grafen ebensolche Ansprüche an ihre Rechte als Obrigkeit machten wie die Magdeburger Räte. Zum anderen aber wurden die Rechte auf Not- und Gegenwehr nicht allein den Reichsfürsten zugesprochen - eine Entwicklung, die bereits bei Selinus und im Magdeburger Bekenntnis einsetzte - denn die Wetterauer Grafen waren selbst schließlich keine Reichsfürsten. 3 Schließlich fand diese Debatte wohl in einem Zustand der Bedrohung, nicht aber der äußersten Verzweiflung oder völligen Rechtlosigkeit statt. Obwohl der Augsburger Religionsfriede ein Stillhalteabkommen blieb, das leicht zu zerbrechen drohte und das für die Reformierten, aus der Sicht der anderen beiden Religionsparteien, urnsoweniger Platz zu bieten schien, je deutlicher sie als eigene Partei sichtbar wurden, das halbe Jahrhundert zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und dem Waffenstillstand des Hauses Österreich mit den Türken im Jahre 1606 führte vor Augen, daß ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen im Reich möglich war. 4 Die bereits bei Regius Selinus und im Magdeburger Bekenntnis entwickelten Argumentationsfiguren wurden daher weitergeführt. Sie leiteten in eine über den bis 1550 erreichten Stand hinausgehende klare Differenzierung von Widerstand, Notwehr und Gegenwehr über, die keineswegs nur von reformierten Autoren ver-
3 Gerhard Menk, Die Politiktheorie Ludwigs von Wittgenstein, Johann VI. von Nassau Dillenburg und des Johannes Althusius, in: Guiseppe Duso u.a. (Hg.), Herrschaft und politische Ordnung im Umkreis von Johannes Althusius. (Wolfenbüttler Beiträge zur Barockforschung). Wiesbaden 2000; Merio Seattola, Von der "rnaiestas" zur "symbiosis". Der Weg des Johannes Althusius zur eigenen Lehre in den drei Auflagen seiner Politica methodice digesta, in: ebd. 4 Albrecht P. Luttenberger, Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian 11., Mainz 1994; Ronald G. Asch, The Thirty Years War, London 1997; Georg Sehmidt, Der Dreißigjährige Krieg, München 1995.
11. Widerstandsrecht und Notwehrrecht (1614-1664)
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treten wurde. Johannes Althusius Ausführungen zum Widerstandsrecht in seiner Politica von 1614 spiegeln diese Entwicklung zwar in einer ersten systematischen Neuformulierung. Sie spiegelten sich jedoch ebenso in Überlegungen lutherischer Autoren, z.T. mit direktem Bezug auf Althusius. Dabei wurde das Widerstandsrecht den Reichsständen belassen, nicht nur den Reichsfürsten, und in Ausnahmefällen selbst den Landständen. Den Untertanen blieb die schon in der Carolina behandelte Notwehr, die z.T. auch naturrechtlich begründet wurde. Die naturrechtliche Gegenwehr fiel jedoch den neuen konfessionellen Gemeinwesen zu, die sich in dem halben Jahrhundert zwischen der Reformation und dem Ende des 16. Jahrhunderts entwickelt hatten, und denen als Gemeinwesen schon von Selinus das Recht zur Gegenwehr zugesprochen worden war. Das entsprach der Institutionalisierung des Territorialstaates als Gehäuse des konfessionellen Glaubenslebens, nicht jedoch des Territorialabsolutismus als unumschränkter FÜfstenherrschaft. 5 Diese These läßt sich an Hand einer Reihe von Beispielen sowohl aus dem lutherischen wie aus dem reformierten Lager veranschaulichen, in denen sich die Notwehr des Gemeinwesens auch gegen den Landes fürsten selbst richten konnte. Die Einschränkung des Notwehrrechts der Untertanen auf die in der Carolina spezifizierten Fälle und ihre klare Abgrenzung von kollektiver, organisierter Gewaltanwendung ging im Reich mit der Gewährung von Rechtswegen oder der Einrichtung von Instanzen zum Schutz der Gesetze einher. In diesen Zusammenhang läßt sich auch die Wiederaufnahme des Amtes der Ephoren in der politischen Theorie des Johannes Althusius verstehen. 6
5 Ronald Asch, No bishop no King oder Cuius Regio, Eius religio. Die Deutung und Legitimation des fürstlichen Kirchenregimentes und ihre Implikationen für die Genese des Absolutismus in England und im protestantischen Deutschland, in: AschlDuchhardt, S. 79124. 6 Johannes Althusius (1557/63-1638), Politica Methodice Digesta, Herbom 1603, 1610, 1614, dort zu den Ephoren c. 18 n 47-124; c 19 n. 31; c. 38 n 28-123; c. 39 n 2,50,58. Zur Herkunft der Lehre über Melanchthon, Calvin und Zwingli vgl. Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, Bd. 2, Cambridge 1978, S. 230-4; zur heterogenen Forschungslage zu Althusius vgl. Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und seine Wirkung im Rahmen der Entwicklung der Politik, Berlin 1975, Einwände bei Michael Stol/eis, Bespr. Friedrich, Zeitschrift für historische Forschung, 4 (1977), S. 364-6; ders., Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1, München 1988, S. 106-8; der heterogene Forschungsstand kommt zum Ausdruck in Karl Wilhelm Dahm et al. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, vgl. Bespr. durch Horst Dreitzel, 'Neues über Althusius', lus Commune 16 (1989), S. 276-302; zentrale Aspekte der Forschungsrichtungen bei Hasso Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit, in: Dahm, 513-42; Peter J Winters, Johannes Althusius, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt 1977; Michael Behnen, Herrscherbild und Herrschafistechnik in der Politica des Johannes Althusius, Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), S. 417-72; Horst Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung, Mainz 1992, S. 24-32; Robert v. Friedeburg, Reichsverfassung und der Wandel des Widerstandsrechts vom
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
Althusius' Politica war an der gegliederten Großmonarchie seiner Zeit orientiert - wie dem Reich, Frankreich oder Spanien? Den Stand der Forschung zum Problem des Gemeinen Mannes in A1thusius' Theorie repräsentieren die Ergebnisse von Hasso Hofmann. Die "sozialwissenschaftliche Theorie des genossenschaftlichen Aufbaus des Gemeinwesens" wird bei A1thusius, wie Hofmann gezeigt hat, weitgehend unreflektiert von der ,,Eigenlogik des vom Hoheitsrecht geprägten Charakters der staatsrechlichen Beispiele" überwölbt. 8 Während sich in der Theorie des Gemeinwesens die consociatio universalis aus den einzelnen consociationes particulares zusammensetzt, tritt in der Herrschaftsordnung der Einzelne aus seinen sozialen Zusammenhängen heraus und wird zum cives. 9 ' Althusius wurde von seinen Zeitgenossen ebenso wie Bodin als Theoretiker des Gemeinwesens als Herrschaftsordnung verstanden, eine ohnehin selbstverständliche Voraussetzung politischen Denkens der Zeit. 10 Nur der höchste Magistrat im
reichsständischen Privileg zum Naturrecht des Individuums: Die Politica des Johannes Althusius und ihre schottische Rezeption, in: Luise Schom Schütte (Hg.), Strukturen politischen Denkens in der fiühen Neuzeit (Beihefte der historischen Zeitschrift), München 1999; ders., Reformed Monarchomachism and the genre of the 'politica' in the Empire: The Politica of Johannes Althusius in its constitutional and conceptual context, in: Archivia della ragion di Stato 1999 (dort auch ausführliche Auseinandersetzung mit der Forschung). 7 Althusius bevorzugte eindeutig die Monarchie ge~enüber jeder anderen Verfassungsform und nannte c. 39 n. 30 neun Gründe für ihre Uberlegenheit. Vgl. Horst Dreitzel, Bespr. Thomas O. Hüglin, Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1991, Zeitschrift für historische Forschung, 22 (1995), S. 567-70, mit der jüngsten Zusammenfassung der Argumente gegen die Vereinnahmung von Althusius für den ..Föderalismus"; vgl. zur Begriffsbildung bei Althusius c. 17, n. 26-29, wo als Beispiele für Konföderationen die Personalunion von England und Schottland, die Verbindung Schlesiens und Mährens mit dem Königreich Böhmen und die Verbindung litauens mit Polen genannt werden 8 Hasso Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit, in: Dahm, 51342, hier S. 533; ders., 'Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche', Der Staat 27 (1988), S. 523-45. 9 GierIre, Johannes Althusius, stützt sich S. 25, um den föderativen Charakter des regnum bei Althusius zu belegen, auf Althusius, Politica, IX, 5 . Vgl. dagegen Althusius, Politica V, 10. Winters, Politica des Althusius, S. 200. Es ist aber es ist die Frage, ob Althusius mit der Begriffswahl ..transeuntes" nicht eher den Austritt aus der Sphäre des Eigennutzes von Familie oder Zunft und den Eintritt in die Sphäre des Gemeinnutzes signalisieren wollte, schließlich scheut er sich nicht, durch die Wahl des Begriffs des ..cives" die Partizipation dieser Bürger vorauszusetzen, die aber zu Bürgern erst nach der Befreiung vom Einfluß des Eigennutz in den consociationae privatae nach der ..transitio" werden konnten. Der Begriff ..consociatio" stammt von Cicero, vgl. Althusius, Politica, c I, 7: ..Unde Cicero dixit, populum esse coetum juris consensu & utilitatis communione consociatum". 10 V gl. zur Heranziehung von Althusius zu diesem Aspekt beispielsweise Christian Liebenthal, Collegium Politicum, Amsterdam 1652, VI, 185, zitiert Althusius für ,,res publica constat ex imperantibus & obedientibus", und bezieht sich damit vermutlich auf Althusius, Politica, C I, 36: .... .ita conventus & societas in Rep. imperantium & obedientium se habet...". Althusius nutzt allerdings häufiger Termini wie ..consociatia publica particularis"
11. Widerstandsrecht und Notwehrrecht (1614-1664)
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regnum kann den einzelnen Gliederungen, die in der Theorie des Gemeinwesens als consociationes particulares die consociatio universalis erst bildeten, diejeni-
gen Rechte verleihen, welche sie allererst zu einer Korporation mit Rechten machten. 11 Als Akteure in der Herrschaftsordnung des regnum treten nurrnehr die Repräsentanten des gegliederten Volkes, nicht dieses selbst, geschweige einzelne Untertanen, hervor. 12 Althusius' Erwähnung eines "pactum" bei der Errichtung der Herrschaftsordnung darf daher nicht als Hinweis darauf mißverstanden werden, den Untertanen stehe bei einern Fehlverhalten der Magistrate das Recht zum Austritt aus der Herrschaftsordnung oder zum Widerstand zu oder man könne bei Althusius von einern Theoretiker der Volkssouveränität sprechen. 13 Herrschaftliche Akte bleiben den Ephoren vorbehalten, die als Gruppe das corpus consociatio, den gegliederten Volkskörper, repräsentieren. 14 Melanchthon und
nach ihm die französischen Monarchornachen hatten sich bereits auf Sparta und die Ephoren bezogen. Von Althusius wurde das Amt der Ephoren in eine Lehre der Rechte niederer Staatsorgane urnforrnuliert, die in enger Verbindung mit der
(für civitas) und civitas oder regnum oder consociatia publica universalis (für res publica); zur Entwicklung einer eigenen Tenninologie durch Althusius, mit der er seiner ursprünglich klar an Bodin orientierten Tenninologie ein eigenes Gepräge zu geben suchte, vgl. Merio Scattola, Von der "maiestas" zur "symbiosis". Der Weg des Johannes Althusius zur eigenen Lehre in den drei Auflagen seiner Politica methodice digesta, in: Duso. 11 Althusius, Politica, c V, 32-42 zu den verschiedenen Gemeindeformen, 42 zur Rechtsvergabe: "Ex sola magistratus summi voluntate civitatis jus constituitur." 12 Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974, S. 368-72; ders., Repräsentation, in: Dahm, S.529-35. . 13 Althusius, Politica, c XIX, 18; "pactum" erscheint nur zweimal im Register der Ausgabe von 1614, und zwar mit Hinblick auf das alttestamentarische jüdische Gemeinwesen und die Kirche, vgl. Politica, c XIX, 34; c xxvm, 16-17; zur lex fundarnentalis und zum Problem des Herrschaftsvertrages vgl. Hofmann, Repräsentation, in: Dahm, S. 539-41; Michael Stolleis, Rez. Christopher Friedrich, Althusius, in: Zeitschrift für historische Forschung,4 (1977), S. 364-6. 14 Althusius, Politica, c xvm, 48, ,,Ephori sunt, quibus populi in corpus politicum consociati consensu demandata est summa Reip. seu universali consociationis, ut repraesentantes eadem... "; Althusius, Politica, c XIX, 18, ,,oe constitutione summi magistratus, & de ejusmodi pacto & contractu inter magistratum summum, ephoros, populum totum corporum consociatorum repraesentates..."; 31, ,,Populus igitur hic stipulatur, seu interrogat vel administrandi & imperandi mandatum dat per ephorum...". Der Monarch bleibt jedoch das Haupt des Gemeinwesens: Althusius, Politica, c IX, 23-24: ,,Rex enim populum, non contra populus regem repraesentat"; c XIX 98: "Gerunt vero & repraesentant hi summi Magistratus personam totius regni, omnium subditorum & Dei, a quo omnis potestas. Gerunt quasi typum divinae potentiae, majestatis, gloriae, irnperiae, gloriae, imperii, clementiae, providentiae, curae,protectionis & gubemationis. Ideo in suis titulis utuntur, Nos gratia Dei"; c xvm, 49-66, 84-88. (70): ,,Rex vero, seu summus magistratus, generalern in singulos etiam optimates habet potestatem, majestam & praeeminentiam, a cujus potestate & administratione omnia pendent... (73) Deinde hi ephori universi quidem magistratu summa sunt superiores".
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
Entwicklung einer Staatslehre im Reich standen. 15 Althusius ging sogar soweit, in diesem Rahmen ein ausgeklügeltes Eingreifrecht dieser Ephoren zu entwerfen, das als Rechtsakt in die Rechtsordnung des Gemeinwesens integriert war und damit die durch die Zeitgenossen empfundene Problematik eines Widerstandes, der die gegebene Rechtsordnung zu konterkarieren drohte, umging. 16 Dabei ging er grundsätzlich davon aus, bei den Ephoren handele es sich im Reich in erster Linie um die Kurfürsten. Schon die besonders prekäre Lage der Reformierten im Reich 17 legte es aber nahe, auch Fälle in seine Konzeption einzubeziehen, in denen auch andere Reichsstände, oder, in bestimmten, eingegrenzten Fällen auch Landstände die Funktion der Verteidigung der Gesetze gegenüber einem sein Amt verfehlenden Fürsten haben konnte. 18 Das Problem der organisierten Gewaltanwendung gegen ständisch Höhere innerhalb des regnum wird bei Althusius durch die Begriffe defendere, defendere in casu necessitatis und contra vim & iniuriam defendere umschrieben. Sie bezeichnen das ständische Widerstandsrecht, die Notwehr und die naturrechtliche Gegenwehr. Von resistere und Widerstand gegen unrechtmäßige Handlungen des rechtmäßigen Herrschers ist ausdrücklich in c XX n 19-20 und c xxxvm n 2835,48,65-67,93 und 106 die Rede. Im Zusammenhang mit der Behandlung des Untertaneneides in c XX n 19 wird den Untertanen ausdrücklich jeder Widerstand gegen die Magistrate untersagt und im Falle eines Treubruchs des obersten Magistrats gegen seinen Eid auf die Ephoren verwiesen. 19 Die Widerstandsrechte der Ephoren und die mit diesem Begriff jeweils bezeichnete Personengruppe werden in Kapitel XXXVIII über die Maßnahmen gegen den rechtmäßig eingesetzten, aber tyrannisch handelnden Herrscher ausführlich behandelt. N. 28-36 spricht den Ephoren ausdrücklich das ius resistendi "nomine populi" und als Repräsentanten des regnum zu (n 30, 35). Die Abschnitte n 65 bis 67 diskutieren ausdrücklich, das Widerstand den "subditi et privati" nicht zusteht (n 65). Dazu werden u.a. Matthäus und Römer 13 als Belege herangezogen. Althusius befindet sich hier völlig im Einklang mit der etablierten Diskussion zur Sache. Das Recht zur Bewertung der Handlungen des höchsten Magistrats und zur Bestrafung (,judiciandi vel puniendi") steht allein den "optimates" zu (n 66). Den Untertanen bleibt nur die Flucht (n 67). Als Beleg wird neben Matthäus c 23 die ebenfalls zentrale alttestamentarische Stelle (2 Chron. c 11 v 13-14) herangezogen, in der David vor dem 15 Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, Göttingen 1966, S. 337-417, speziell zu Althusius S. 425-50; Gerhard Menk, 'Johannes Althusius und die Reichsstaatslehre', in: Dahm, S. 255-300. 16 Althusius, Politica, c. 28, n 93. 17 Volker Press, Außerhalb des Religionsfriedens?, in: Vogler, Wegscheiden, S.309335. 18 Vgl. Althusius, Politica, c. 8 n 92; c. 18 n 123-124, c. 38 n. 52-53, 67,47-48. Ich .danke an dieser Stelle ausdrücklich Horst Dreitzel für seine Hinweise und Kritik. 19 Ebd., C. XX n 19-20
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rechtmäßig eingesetzten, aber tyrannisch handelnden König Saul in die Berge flieht, statt sich ihm zu widersetzen. Gegen den rechtmäßig eingesetzten Herrscher bleibt den Untertanen, selbst wenn dieser Herrscher tyrannisch handelt, kein Recht auf Widerstand. Sie können die Hilfe und den Schutz der Optimaten erwarten aber nicht selbst handeln. Althusius gesteht unter bestimmten Umständen auch den Landständen ein Recht zum Widerstand gegen ihren Landesfürsten zu, verzichtet aber bezeichnenderweise in diesem Zusammenhang auf den Begriff ,,resistere" und spricht statt dessen von ,,removere" (c vrn n 89-91). Nur mit Bezug auf die ephores und optimates, die Reichsstände, ist von resistere die Rede. Der expressis verbis mit den Begriffen resistentialresistere bezeichnete Widerstand dieser "optimates" bzw. "ephores" wird von Althusius als "actum jurisdictionis & superioritas" bezeichnet, den die Ephoren "nomine regni" ausführen (c xxxvrn n 93). Das Problem der Auflösung der Gehorsamsordnung des Gemeinwesens durch die Gewährung eines Widerstandsrechts gegen die rechtmäßige Obrigkeit ist damit durch die Institutionalisierung einer Personengruppe gelöst, die als Treuhänder des Gemeinwesens gegen den obersten Magistrat handlungsfähig ist, ohne diese Gehorsamsordnung im mindesten zu konterkarieren, und deren Rechte ausdrücklich von denen der "subditi et privati" abgegrenzt sind. Das ius resistentiae begründete Althusius mit dem Hinweis auf die Stände als den Repräsentanten des Gemeinwesens - nicht als Repräsentanten des Volkes im modernen Sinne.20 Die besondere Stellung der Reichsstände als Teilhaber der Souveränitätsrechte gegenüber dem Kaiser im Reich spiegelt sich in dieser Lösung des Widerstandsproblems?l Das Problem der Gegenwehr und Selbstverteidigung des Gemeinwesens wird bei Althusius durch Begriffe wie "defensio" und "protectione" umrissen. So gehört zu den "iuris provincialis communione" die ,,Defensio contra vim & injuriam" (c VII, n 60). Zur "defensio" und "protectio universalis consociationis" mit dem Ziel der "conversatio juris & bonorum" zählt auch die Kriegführung (c XVI n 3-4), wobei die Anführung im Zweifel wieder bei den Ephoren liegt (c xvrn, n 19). Fehlt es an ihnen, kommt zur Selbstverteidigung auch die Führung durch andere ständische Instanzen, die "tributim, curiatim vel centuriatim" in Frage (c xvrn n 123-124), von denen im selben Kapitel bereits bei der möglichen Einset20 Althusius, Politica, c xvrn, 48, ,,Ephori sunt, quibus populi in corpus politicum consociati consensu demandata est summa Reip. seu universali consociationis, ut repraesentantes eadem. .. "; Althusius, Politica, c XIX, 18, "Oe constitutione summi magistratus, & de ejusmodi pacto & contractu inter magistratum summum, ephoros, populum totum corporum consociatorum repraesentantes... "; 31, "Populus igitur hic stipulatur, seu interrogat vel administrandi & imperandi mandatum dat per ephorum... ". C xvrn, 59 ,,Eliguntur autem & constituuntur ejusmodi Ephori consensu populi, tributim, centuriutim, curiatim... "; siehe Schubert, Reichstage, S. 410-12 zum Modell der Reichsstände; vgl. entsprechend zu Althusius Schilderung der Lage innerhalb einzelner Territorien Althusius, Politica, c. V, 52-55; dazu Hofmann, Repräsentation, in Dahm, S. 527. 21 Vgl. Quaritsch, Souveränität, S. 70-76.
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zung der Ephoren die Rede war (c XVIII, n 59). Kapitel XXXVIII über das Tyrannenproblem gewährt auch einzelnen Reichsständen als ,,Ephores speciales" das Recht zur Verteidigung ihrer Territorien (n 50-55) und führt als Beispiel die Verteidigung der Schweizer gegen Österreich und der Niederlande gegen Spanien an. Dabei ist von der Selbstverteidigung der "ordines et status Belgii" bzw. von "ordines, oppida, civitates & pagi" der Schweiz die Rede (n 52), die sich "contra vim et injuriam defendere" (n 55). Analog der Argumentation zur Selbstverteidigung des Reiches und seiner Gemeinwesen gegen die Türken oder den Papst steht dem zur Herrschaftsordnung inkorporierten Gemeinwesen, der universitas universalis ebenso wie der universitas particularis. dem regnum wie der Provinz, ein Recht zur Selbstverteidigung zu, deren Organisation und Führung ständischen Eliten und damit im Grenzfall auch städtischen Magistraten überlassen bleibt. Althusius selbst verstand das Amt eines städtischen Magistrats - ebenso wie die Magdeburger Magistrate in der Auseinandersetzung mit Hesshusius - als Herrschaftsamt, nicht als abhängig von der Bürgergemeinde insgesamt, und er schränkte daher während seiner Emdener Zeit die Partizipation der Emdener Bürger am städtischen Regiment nachhaltig ein. 22 Wo bleiben die Untertanen? Neben Flucht und der Hoffnung auf Schutz durch andere Stände werden ihre Handlungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit den Begriffen "necessitas" und "patria" behandelt. Zum einen mögen die Untertanen "In tempo necessitatis" sich einem anderen Stand unterwerfen und dessen Befehlen folgen (c viII n 92). Vor allem aber wendet sich Althusius in diesem Zusammenhang der bereits in der Carolina behandelten Notwehr im engeren Sinne des Wortes zu. Im Fall der Bedrohung von Leib und Leben durch die Zufügung offensichtlichen Unrechts von Seiten eines Magistrats ist die Verteidigung von Leib und Leben im Sinne der unmittelbaren Selbstverteidigung gestattet. 23 Althusius begründet dies mit dem Hinweis auf das Naturrecht und die positiven Gesetze. Und in der Tat wurde dieses Notwehrrecht auch in der späteren Literatur in der Regel gewährt. 24 In zwei Fällen taucht der Begriff ,,resistere" allerdings auch im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Handeln von "omnes et singuli" auf. So gehört es zu den Pflichten der Ephoren, die "subditi resistentes & cives patriae arnantes", die das Vaterland liebenden und es verteidigenden Bürger und Untertanen, um sich zu
22 V gl. dazu H WAntholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Aurich 1955, S. 130-143. 23 Althusius, Politica, c XXXVIII n 67: "Verum quando notoria vis privato a magistratu infertur, turn in casu necessitatis & vitae suae defendendae, defensio ipsi est permissa". 24 V gl. u.a. Johann Friedrich Rhetius, Disputatio Inauguralis de Jurae Necessariae Oefensionis, Frankfurt 1671; Nicolaus Christoph Lyncker, Oe Resistentia quae sit Potestati, Jena 1694; Johann Volkmann Bechmann, Oisputatio Juridica de Legitima Oefensione, Jena 1669.
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sammeln, um ihre Aufgabe zu erfüllen Cc XXX n 48). Und erneut ist vom Vaterland und den Untertanen die Rede, wenn es um die Verteidigung des Gemeinwesens gegen die Invasion eines Tyrannen ohne Rechtstitel geht. ,,At tyranno absque titulo regnum invadenti, etiam privata autoritate sine alterius jussu, omnes et singuli patriae amantes optimates & privati resistere & possunt & debent" (c XXXVIII n 68). In der Politica des Althusius sind ständisches Widerstandsrecht, die Notwehr des Einzelnen unter besonderen Bedingungen zum Schutz des eigenen Lebens und die Selbstverteidigung des Gemeinwesens - in diesem Zusammenhang häufig als patria apostrophiert - scharf und unzweideutig voneinander getrennt. Keineswegs darf die Politica als strategisches Manifest für die Auseinandersetzung der Stadt Emden, deren Syndikus Althusius nach seiner Zeit in Herborn wurde, mit ihren Landesherren verstanden werden. Der Kern der Argumente in der Politica war bereits während seiner Zeit in Herborn und vor dem Wechsel als Syndikus nach Emden entstanden. 25 In die Neuauflagen der Politica von 1610 und 1614, insbesondere in sein 38. Kapitel der Auflage von 1614 zum Tyrannenproblem, gingen die Erfahrungen aus der Auseinandersetzung Emdens mit seinem Landesherren in der Tat ein. 26 Es wäre aber ein fundamentales Mißverständnis, deshalb auf eine Veränderung der Politica auf dem Wege zu einer Karnpfschrift genossenschaftlicher Unabhängigkeit gegen fürstliche Landesherrschaft zu schließen, denn so einfach lagen die Konflikte nicht. Althusius machte im selben Zeitraum nämlich nicht nur seine Erfahrungen mit der Auseinandersetzung mit dem Landesherren, sondern ebenso mit dem Teil der Bevölkerung Emdens, die seine Politik verurteilte und unter der sich eine innerstädtische Opposition gegen ihn bildete. Gegen sie richtete sich sein Bemühen, die Partizipationsmöglichkeiten der Emdener Bürger am Stadtregiment einzuschränken. Sofern solche Erfahrungen eine Rolle spielten und Althusius mußte wohl kaum erst durch seine Emdener Erfahrungen von der Gefährlichkeit des gemeinen Volkes überzeugt werden -, die Gewährung eines Widerstandsrechts für die Untertanen mußte ihm in jedem Fall gefährlich erscheinen. 27 Das den Untertanen zugestandene Notwehrrecht gilt nicht einmal mehr auch
25 Michael Stolleis, De Regno Recte Instituendo et Administrando', in: Guiseppe Duso et. al., Su una sconosciuta'disputatio' di Althusius (Quademi Fiorentini 25, 1996), S. 13-46, hier 20. 26 Antholz, Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, S. 143-144; so schon Otto v. Gierke, Johannes Althusius, 6. Auflage Aalen 1968, S. 14. 27 Antholz, Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, S. 130-143; vgl. hierzu die überall in der Politica verstreuten Hinweise auf die unbedingte Notwendigkeit einer Herrschaftsordnung, z. B. Althusius, Politica, XIX, 23: "Rationes evidentes hujus constitutionis summi rnagistratus plurirnae sunt. Nam hanc rnagistratus summi constitutionem sua sit utilitas & necessitas Reip. summa. Nam teste eic. lib. 3 de legib. nihil tarn aptum es ab jus conditionernque naturae, quam imperium, sine quo nec dornus ulla, nec civitas, neque gens, nec hominum universum genus stare, nec rerum natura ornrnnis, nec ipse mundus potest. In apibus (er benützt hier den Begriff apex, der für die Tiara der asiatischen Fürsten gebraucht
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zum Schutz Dritter, sondern nur mehr zum Schutz des eigenen Lebens. 28 Die Institutionalisierung des ständischen Widerstandes als Recht der Ephoren sollte ja gerade die Gefahren, die Von der möglichen Unterhöhlung der Herrschaftsordnung als Vorbedingung guten und glückseligen Lebens29 - zu dem das Bekenntnis als Leitfaden des Lebens im Kern und damit auch seine Verteidigung zählte - durch die Bändigung konfessionell bedingten Widerstandes abwenden. Diese konzeptuelle Einteilung der Behandlung von Widerstand in ein ständisches Widerstandsrecht, ein Notwehrrecht des Einzelnen in Anlehnung an die Bestimmungen der Carolina und ein Recht der Gegenwehr des Gemeinwesens als "Vaterland" war keineswegs eine Besonderheit der Politica des reformierten AIthusius. Sie findet sich ebenso in lutherischen Darstellungen, z.T. mit direktem Verweis auf Althusius. Der lutherische Professor für Recht an der Universität Rinteln Reinhard Koenig (1583-1658) veröffentlichte neben ,,oe status imperii Romano" und ,,oe origine electorum" (Gießen 1608) 1619 auch eine Sammlung mit Disputationen, ,,Disputationurn Politicarurn Methodice".3o Wie andere lutheri-
wurde, um höchste Macht zu symbolisieren, R.v.F.) princeps & rex unus est, quo presente totum agmen tenetur, quo amisso dilabitur, migratque ad alios, & sine rege esse non potest. Si navis sine nauc1ero, bellum sine duce, corpus sine anima regi non potest." Die Beschreibung der Demokratie ist nur am Rande und mit Mißtrauen abgehandelt, vgl. Althusius, Politica c XXXIX ',,De speciebus summi magistratus", 11, 32: ,,Polyarchicus magistatus summus est, qui subditis, cum aliis sociis pari vel eodem imperio summa instructus, imperat, & jura majestatis administrat: hoc est, vicissitudo administrationis inter plures communicata", and stresses (33) tbat in tbis case just as in the case of monarchy, even "plures administratores hic non habent diversas potestas & imperia... sed omnes conjunctim simul unam supremarn potestatem habent" Bodin zitierend). In Krisensituationen gilt es daher für jedes demokratisch verfaßte Gemeinwesen, einen Diktator zu benennen (40): ,,Plane in magnis periculis, manisque calamitatibus Resp. polyarchica nulla ratione melius servari potest, quam si ex communi imperantium consensu, imperii administratio uni vel alteri commendetur" Wahlen werden überdies als gefährlich bewertet, weil der Einfluß des gemeinen Volkes nicht zu sehr wachsen darf (50): ,,Populo indistincte electionem dare, periculosum videtur, utpote qui privatis suis affectibus ducitur... " (erneut Bodin zitierend). Die Demokratie leidet daher als Regierungsform von dem Einfluß des einfachen und sündigen Volkes (64): ,,Populare est, mutabiles & temporales esse magistratus, ut evitetur invidia .. ". 28 Althusius, c. 38n. 67: "Sed haec ita accipienda, modo non tarannidis miistri hi privati esse cogantur, vel quicquam facere, quod Deo sit contrarium. Nam tunc fugient in alium locum, ut obedientiam hic non resistendo, sed fugiendo declinent". Altbusius führt hier neben den einschlägigen Stellen bei Mattbäus und dem Hinweis auf die Flucht Davids vor Saul, ein besonders häufig gebrauchtes Beispiel für die Vemeinung eines Widerstadsrechts, auch die Flucht von Christus vor Herodes an und meint dann: "Verum quando notoria vis privato a magistratu infertur, turn in casu neccessitatis & vitae suae defendae, defensio ipsi est permissa". So auch Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung, S. 29. 29 Althusius, Politica, c I 30 ,,Finis politicae, es usus vitae commodae, utilis, & felicis, atque salutis communis". 30 Vgl. Stal/eis, Öffentliches Recht, Bd. 1, S.ll1, 119, 125, 179f, 182, 190,214; ein weiteres späteres Werk ist die "Oratio de praestentia Studii Politici: Et qis vere dicendus politicus (Rinteln 1647), vgl. Walfgang Weber, Prudentia gubernatoria. Studien zur Herr-
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sche Autoren argumentierte er gegen Bodin und verteidigte den Status des Reiches als Monarchie31 , die allerdings durch die "leges status seu regni,.:l2 regiert werde und denen die Magistrate dienen müßten. 33 Die niederen Magistrate in den Territorien - die Landesfiirsten - werden als Repräsentanten des Kaisers verstanden. 34 In der Disputatio XVI ,,oe Principiis, conditionibus et causis bellorurn gerendorum" kommt analog zur Politica des Althusius das Recht der niederen Magistrate, die das Volk repräsentieren, zum Widerstand und sogar zur Absetzung des Monarchen zur Sprache. Dieser auch als ,,Ephoren,, bezeichneten Gruppe kommt es auch zu, "subditi & cives patriae amentes, qui salvam Rempublicam volunt" um sich zu sammeln, um das Gemeinwesen zu verteidigen. Erneut ist allein im Zusammenhang mit der Verteidigung des Vaterlandes von den Untertanen als einer Personengruppe die Rede, die zum Schwert greifen kann, allerdings in ihrer Rolle als "cives patriae amantes". Die Verteidigung des Vaterlandes ist kein Recht, sondern ein Pflicht. Neben der Vindiciae contra Tyrannos zitiert der lutherische Rechtsprofessor auch die reformierten Autoren Keckerrnann und Althusius. 35 Den einzelnen Untertanen bleibt das jus gladii mit Hinweis auf Matthäus, ebenso wie bei Althusius. aber verwehrt. Greifen sie dennoch zum Schwert, sind sie der ,,seditio" schuldig?6 Die Selbstverteidigung von Leib und Leben ist jedoch naturrechtlich gestattet?1 König ist im Hinblick auf seine Konzeptualsierung von Widerstands- und Notwehrrecht keineswegs als Ausnahme zu betrachten. Christian Warner riet in seiner Prudentia Politica Christiana von 1614, zur Verteidigung gegen Angriffe sollten schaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992, lO. 31 "Nulla enirn est res publica, ubi non est summa irnperandi facultat", fügte allerdings hinzu, "Secundo additur. recta ratione rnoderata (I, l31), und .. potestas summa, perpetua legibus soluta", siehe Slol/eis, Öffentliches Recht, Bd. I, S. 179. 32 Ebd. 33 M. Reinhard Koenig, disputationurn Politicarurn Methodice, Gießen 1619, Disp. IX, 21, 30: ,,Materia legurn sunt non tanturn contingenta, libertati voluntas nostrae sujecta: sed feruntur etiarn de rebus necessarii & naturalibus. Sic honesti vivere, alterurn non laedere, jus suurn cuique, tribuere, sunt naturalia... Hinc lex, rnagistratus rnutus, & rnagistratus lex loquens indigatur & sicut rnagistratus populo, ita magistratu, lex praeesse dicitur"- mit Bezug auf Cicero verglich bezeichnete er das Recht als schweigenden Magistrat und den Magistrat als sprechendes Recht. 34 Koenig, ebd. XI, 16: ..repraesentare imperatorern in suis ditionibus vulgo dicuntur". 35 XVI 61: ..Quod ad publicas personas attinet, quae curn potestate sunt, & habent jus inferioris rnagistratus, toturnque populurn repraesentat, ut sunt Ephori seu Ordines & status Regni, qui curn ex jussu consensu populi creandi magistraturn habeant, etiam potestatern eurnjudicandi & rernovendi habent"; 62.: ,,Resitentibus vero Ephoris & statibus adjungere se debent subditi, & cives patriae arnantes, qui salvam Rernpublicam volunt... .. 36 Ebd., 52: ,,Ratio est manifesta. Nam privatis, ut Deus jus gladii no tradidit, ita nec usrnus gladii ab iis reposcit: & si gladiurn injuste stringunt, seditiosi sunt." 37 Ebd., 48: ,,Defensio sui ipsius est juris naturalis". 6 v. Friedeburg
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die Untertanen nicht nur bewaffnet, sondern auch regelmäßig im Gebrauch der Waffen geübt werden. Darin spiegelte sich einerseits das Landesdefensionswesen der Zeit, andererseits aber auch Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Untertanen bei der Verteidigung des Bekenntnisses. 38 Mit am einflußreichsten unter den Lutheranern war sicherlich Johann Gerhard. 39 In seinem zwischen 1610 und 1622 entstandenen Standardwerk, den Loci Theologici40 , behandelt er im Abschnitt ,,oe Magistratu Politico" auch das Problem der Pflichten der Untertanen und des Widerstandsrechts.41 Die Untertanen schuldem dem Gemeinwesen ihre Liebe, sie müssen ihm mit Rat und Tat beiseite stehen, für es kämpfen und auch für es sterben. Hier zitiert Gerhard die berühmte Sentenz von Horaz: ,,Dulce et decorurn est, pro patria mori".42 Sie schulden den Magistraten Gehorsam, aber dieser Gehorsam hat Grenzen. Befehle gegen Frömmigkeit, das wahre Bekenntnis und die Freiheit des Gewissens, und daher auch gegen Gottes Gesetz, fallen nicht unter das Gehorsamsgebot.43 Damit befand sich Gerhard mitten in der Widerstandsproblematik. Zunächst wies er darauf hin, daß die Urchristen Nero und Diocletian nicht abgeschüttelt hätten. Er zitierte Bodins Warnung vor Predigern, die zum Aufstand gegen vermeintliche Häretiker unter den Fürsten aufriefen, hätte dafür aber auch auf die Warnung der Magdeburger Stadtobrigkeit gegen Müntzer zurückgreifen können. Ein unfrommer Fürst sei nicht zum Herrscher zu bestimmen, aber, einmal bestimmt, zu dulden. Gerhard ging dann im Einzelnen darauf ein, welchen Befehlen eines unfrommen Fürsten zu gehorchen sei, welchen nicht. So sind etwa die Steuern zu zahlen. Die Untertanen müssen den unfrommen Fürsten in dieser Hinsicht als Strafe für ihre Sünden ertragen. Gegenüber dem rechtmäßigen Herrscher sind die Untertanen, so lange der Glaube nicht betroffen ist, zum Gehorsam verpflichtet. Nur gegnüber dem Tyrann ohne Rechtstitel gelten diese Einschränkungen nicht.44
3ft Christian Warner Friedtlieb, Prudentia Politica Christiana, Goßlar 1614, S. 314-316; Gunter Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung. Das Landesdefensionswerk in Hessen-Kassel unter Landgraf Moritz (1592-1627), Darmstadt 1973. 39 Siehe jetzt Johann Anse/rn Steiger, Johann Gerhard (1582-1637), Stuttgart 1997; Thornas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede, Tübingen 1998, 2232. 40 Zit. nach Johann Gerhard, Loci Theologici (1610-22), hrsg. v. F. Frank, Leipzig 1885. 41 Ebd., Bd. VI, S. 547-561. 42 Ebd. S. 547: ..... pro ea mortem obeundo, si alter fieri nequeat, de qua morte Horaz cenit: Dulce et decorum est, pro patria mori ... " 43 Ebd., S. 549: ..... quae contra pietatem, verae confessionem et conscientiae libertatern, adeoque contra divinam legern, non tenentur subditi magistratui obedire". 44 Ebd., S. 549-559. Vgl. S. 555: ..Impius princeps eligi non debet, interim electus postea est tolerandus"; Bodin, Six livre de la republique, Lib I, c. 9.
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Das eigentliche Problem im Zeitalter der Glaubenskriege bildete jedoch der rechtmäßige Herrscher, der die Gesetze Gottes bricht- der "tyrannus in exercitio". Auch gegen ihn ist Widerstand erlaubt. Gerhard nimmt eine ganze Reihe von älteren Argumenten auf. Im ,,regnurn electurn" - also der Wahlmonarchie gleich dem Reich, Erbmonarchien behandelte er hier nicht - sei der Fürst an Bedingungen gebunden. Die "ordines regni", die Stände des Reiches, seien beim Bruch dieser Bedingungen zu Widerstand berechtigt, denn sie "non enim sunt mere et absolute subditi, sed partem potestatis in electione surnrni capiti sib rerservarunt".45 Göttliches, natürliches und bürgerliche Rechte gestatteten es den Ständen des Reiches, "contra injustarn oppressionem se et subditis defendere". Das Evangelium setze die Gesetze der menschlichen Gemeinwesen nicht außer Kraft, wie Luther in seinem "Bedencken zur Gegenwehr" erläutert habe. Neben Luther karnen auch die Gutachten der Wittenberger Theologen zur Widerstands frage aus den 1530er Jahren zu Wort. Aber auch Regius Selinus' Schrift von 1547 wurde, auf dem Umwege der Edition von Hortleder, von Gerhard herangezogen.46 Gerhard geht jedoch noch über diese Positionen hinaus. Er bezieht sich auf die Vindiciae contra Tyrannos und das Problem des Bruches des Bundes zwischen Herrscher und Volk. Zwar hätten Barclay und Henning Arnisaeus - zwei der profiliertesten antirnonarchornachischen Autoren - Brutus' Thesen widersprochen. Der Tyrann - mit oder ohne rechtmäßigen Titel- der durch sein Verhalten das Gemeinwesen zu zerstören drohe, verliere jedoch seine Qualität als Magistrat. So wie der Ehebruch die eheliche Bindung aufhebe, so sei durch das Verhalten des Tyrannen auch das Band des Gehorsams zwischen Herrscher und Untertanen gebrochen.47 Die Untertanen seien nicht durch Gott verpflichtet, einern Tyrannen zu gehorchen. Das Wohl des Vaterlandes stehe über den bösen Wünschen eines Einzelnen. Der Fürst stehe daher unter dem Gemeinwesen. Die Selbstverteidigung des Gemeinwesens - von den Ständen ist nun nicht mehr eigens die Rede - sei ein Naturrecht.48 Gerhard verzichtet also darauf, im Einzelnen zu benennen, wer gegen den Tyrannen vorgehen darf, wenn die "ordines regni" nicht helfen. Er vermeidet es, explizit Landständen ein Recht zum Widerstand einzuräumen und spricht statt dessen über die Pflicht, für das Vaterland zu kämpfen. Während im Zusammenhang mit dem Begriff ,,resistere" also ausdrücklich nur von den Ständen des Reiches die Rede ist, wird im Zusarnrnhang mit dem Begriff "defensio" die Gegenwehr und Selbstverteidigung des Gemeinwesens als Vaterland ohne spezifischen Bezug auf die Stände erörtert. Gerhards Überlegungen waren keineswegs nur einem engeren Ebd., S. 559. Ebd., S. 559-561. 47 Ebd., S. 560-561: "Sieut adulterium solvit vineulum conjugaIe, quia directe adversatur eonjugii legibus; sie tyrannis liberat subditos ab obedientiae vinculo, quia imperii legibus ex adverso repugnat." 48 Ebd. S. 561: "Patriae saIus et boni publici eura pluris facienda quarn unius insana libido." 45
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
Kreis lutherischer Theologen bekannt. In der Textsammlung des Dominicus Arumaeus zum Öffentlichen Recht wird Gerhard mit einer knapperen lateinischen Fassung seiner Überlegungen und einer ausführlicheren deutschen Übersetzung widergegeben. Die in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel vorhandene Kopie dieser Sammlung gehörte zum Besitz der Familie von Alvensleben, eine der wichtigsten und einflußreichsten Familien zwischen EIbe und Aller. 49 Welche ungeheure Bedeutung der Hinweis auf die Pflichten gegenüber dem eigenen Vaterland während des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts für die Konzeptualisierung des Widerstandsrechts und die Bändigung seiner Gefahren besaß, zeigt sich nicht zuletzt an der Behandlung des Problems durch den vielleicht proabsolutistischen Autor der Zeit, den Lutheraner Henning Amisaeus. 50 Amisaeus kann schon aufgrund seiner besonders polemischen Auseinandersetzung mit Althusius, den er bereits in seiner Karnpfschrift ,,oe Autoriate Principum" in eine Reihe mit dem Autor der "Vindiciae contra Tyrannos", mit dem Schotten Buchanan und dem Franzosen Hotrnan stellte, als extremer Vertreter fürstlicher Territorialherrschaft gelten.51 Daher verzichtete er wohlweislich in seinem breit rezipierten "De Jure Maiestatis Libri Tres" auf die systematische Behandlung des Tyrannenbegriffs, wie sie Althusius beispielsweise in seiner Politica geliefert hatte. 52 Ein in sich geschlossener Abschnitt zum Widerstandsrecht gegen einen Tyrannen fehlt daher bei Arnisaeus. Dennoch behandelte auch er den Widerstand eines Territoriums als Vaterland und die Pflichten der Patrioten zur Verteidigung ihres Vaterlandes. Er tat dies im Zusammenhang mit der Behandlung der Eidespflichten der Vasallen ihrem Lehensherren gegenüber. Wo der Lehensherr das Vaterland der Vasallen bedrohe oder gar angreife, da sei den Vasallen erlaubt, ihre Treueide dem Lehensherren gegenüber zu brechen. Unter der Abschnittsüberschrift ,,Patria praefertur patri" werden die Lehensleute daran erinnert, daß der Ehrfurcht und Verpflichtung gegenüber dem Vaterland allen anderen Pflichten nachzuordnen seien. 53
49 Dominicus Arumaeus, Discursus Academicarum De jure Publico in quibus de Potestate et capitulatione imperatoris, Juribus & Jurisdictione Electorum & Principum... rnateriis tractatur, Jena 1623, Bd. IV, discursus 15 und discursus 18, S. 48-49, 73-89. Zur Familie Alvensleben vgl. Peter-Michael Hahn, Fürstliche Territorialhoheit und lokale Adelsgewalt. Die herrschaftliche Durchdringung des ländlichen Raumes zwischen Eibe und Aller (130017(0), Berlin 1989. 50 Vgl. zu ihm Horst Dreitzel Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die "Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970; ders., Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, Mainz 1992, S. 33-39. 51 Henning Arnisaeus, De Autoritate Principum in Populum semper inviolabili. Commentario Politica opposita seditiosis quorundam scriptis ... Straßburg 1635, c. I, S. 2-9. 52 Ders., De Jure Maiestatis Libri Tres, Frankfurt 1612, Straßburg 1635, zur Behandlung des Tyrannenbegriffs vgl. c. III. 53 Ders., De Jure Maiestatis, c. V, 12.
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Die Notwehr des Einzelnen im eng eingezogenen Rahmen der Selbstverteidigung im Angesicht einer unmittelar bestehenden Bedrohung des eigenen Lebens kannte Arnisaeus im übrigen ebenso wie die meisten anderen Autoren, ohne damit auch nur entfernt, ebensowenig wie Althusius, organisierte Gewaltanwendung im Sinne eines Widerstandsrechts zu meinen. In England und Schottland wurde Amisaeus freilich daher von Gegnern der Krone häufig als Anwalt eines Notwehrrechts des Gemeinwesens gegen den eigenen Fürsten angefiihrt, fehlte dort doch regelmäßig die Möglichkeit, zwischen der rechtmäßigen Verteidigung des Vaterlandes auch gegen den eigenen Monarchen und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit streng zu unterscheiden. Doch dazu später. 54 Es scheint, als ob in der nächsten Generation evangelischer Juristen im Reich diese Bändigung des Konfessionskonfliktes durch die Ausdifferenzierung von reichsständischem Widerstandsrecht, der Gegenwehr des Gemeinwesens als Vaterland und der Notwehr des Einzelnen zum unmittelbaren Selbstschutz bei gleichzeitiger Territorialisierung der Konfessionsfrage noch einen Schritt weiter gegangen sei. Ein Beispiel ist die politische Lehre des Christian Liebenthal, Professor in Gießen und Berater des Landgrafen von Hessen-Darmstadt, von 1619, die 1652 in Amsterdam wiederaufgelegt wurde. 55 Dort wurden die vertraglichen Verpflichtungen zwischen Kaiser und Reichsständen, auf die bereits Philipp der Großmütige und nach ihm erneut Althusius abgehoben hatte, nun auf die Untertanen ausgedehnt. Liebenthal stützte diese Vorgehensweise in seiner Abhandlung der Herrschaftsordnung im 6. Kapitel "Oe Magistratu" (VI).56 Der höchste Magistrat57 erhalte seine Rechte durch Gott oder menschliche Bestimmung, die implizit oder explizit sein könne (VI, 5-9). Die Souveränitätsrechte zerfallen aber in ,,maiestas personalis" (VII, 3) und "maiestas realis" (VII, 5). LiebenthaI nahm damit, obwohl seit 1624 Berater des lutherischen Landgrafen in Hessen-Darmstadt, das Argument der reformierten Gegner dieses auf. Die reformierte Fakultät Marburg
54 Vgl. beispielsweise zu Schottland James Steuart, Jus Populi Vindicatum, London 1669, c. 11, S. 23, zititiert Arnisaeus, De Autoritate Principum, c 11. n 10. Vgl. zu England Henry Parker, Jus Populi, London 1644, S. 67; vgl. hierzu Michael Mendle, Henry Parker and the English Civil War, Cambridge 1995, S. 132. 55 Christian LiebenthaI1586-1647, "Collegio Politicorum", Gießen 1619, zweite Auflage Amsterdam 1652 (ich verwende diese zweite Auflage), Sohn eines Beamten aus der Brandenburger Neumark, studierte Philosophie an den Universitäten Frankfurt (Oder), Wittenberg und Rostock, diente als Hofmeister in Hessen-Darmstadt und wurde dann Professor an der lutherischen Universität Gießen, der Gegengrundung der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, tUr Philosophie und Rhetorikund seit 1624 Rat des Landgrafen; vgl. Stolleis, Öffentliches Recht S. 111, 119f.; Weber, Prudentia gubematoria, S.25, 65, 77, 85, 287-296. 56 ,,Respublica constat ex imperantibus & obedientibus, merito Althusio & aliis Politicis duas Reipublicae parte facimus, subditos videlicet & Magistratus", VI, p 185. 57 VI 4. ,,Definimus magistratum personam publicam, legitirna imperandi potestate instructam, ad bene regendam & adrninistrandam Rempublicam".
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hatte die Differenzierung der Majestätsrechte in maiestas realis und maiestas personalis zunächst nicht zuletzt entwickelt, um den Landgrafen Moritz in Kassel in den Rechtsstreitigkeiten um das oberhessische Erbe mit seinem Vettern in Dannstadt zu unterstützen. 58 Liebenthal nahm diese Unterscheidung gleichwohl auf und begründete mit ihr, Deutschland sei "non absolutum dominaturn" (VII 5). Die Majestas realis sei die des zur Herrschaftsordnung inkorporierten Gemeinwesens selbse9 und in den leges regni des Gemeinwesens verankert. Jedem Kaiser sei daher ein Eid ("sponsio") an die "communis civitatis" abzuverlangen, repräsentiert durch die Kurfürsten60 , nach dessen Ablegung das Imperium dem höchsten Magistrat zufalle. 61 Dem Gemeinwesen bleibe ein Anrecht auf die Erfüllung der Verträge. 62 Das Gemeinwesen der civitas - und nicht erst die Herrschaftsordnung der respublica - wurde bereits als Ordnung für ein gutes Leben beschrieben ("societas ad bene vivendum" V, 58). Während die civitas an einigen Stellen als fonnlos und gesetzlos und daher als bestandslos ohne die Herrschaftsordnung der res publica gekennzeichnet wird, die der civitas erst "ordo, vita, forma & anima" verleihe (V 61), wurde sie zugleich als "collegium" oder "corpus" (V, 63) bezeichnet, die ihrerseits über Rechte und Verträge zwischen ihren Untergruppen verfüge. 63 Auch die Untertanen seien nach Liebenthai durch die Verträge des Augsburger Religionsfriedens von 1555 in Religionsfragen geschützt. 64 Liebenthal begründete
58 Die Unterscheidung von maiestas realis und personalis wurde zuerst entwickelt von Hermann Kirchner (1562-1620), Res Publica, Marburg 1608; hierzu Thomas Klein, Conservatio Reipublicae per bonam educationem - Leben und Werk Hermann Kirchners (1562-1620), in: Walter Heinemeyer u.a. (Hg.), Academia Marbugensis, Marburg 1977, S. 181-230, zum Zusammenhang mit dem Erbstreit in Hessen um Oberhessen besonders
S.212-18.
Lieben/hai, Vß 6 ,,Majestas hanc Reipublicae seu realem". Liebenthai, VII 7: ,,Est ergo lex fundarnentalis, qua libertas Germania retinetur, nihil aliud, quam communis sponsio civitatis, quam cum electoribus, qui totam civitatum & Remp. repraesentant, futurus Imperator init." 61 Ebd., VII 9: "A certis vero capitibus & conditionibus quibus populi Germanici Imperium summum in imperatore transfertur, dicitur haec sponio seu pactio, alio nomine capitulatio & has breviter enumeratas condtitiones compleatur." 62 Ebd., Vß, Qu. I: "Nec est, quOd Donellus regerat: Populum in principum nullum habuisse jus, ergo non potuisse adversus Principem legern ferre. Certum enim est, quod in Regem & Principem ex populo delectum, antequam creatur, populus idem jus ac imperium, quod in reliquos cives ac privatos obtineat." 63 Ebd., V, 73: ,,Juris communicatio" erhalte sie durch "certis pactis & legibus .. .inter collegas, ,.. quod jus vel communi collegarum consensu receptum & introductum est inter collegas". 64 V gl. Horst Dreitzel, Toleranz und Gewissensfreiheit im konfessionellen Zeitalter, in: Breuer, Religion und Religiösität, S. 115-128. Die beteiligten katholischen und evangelischen Reichsstände vereinbarten zum gegenseitigen Schutz ihrer Konfessionsverwandten, daß den Untertanen in den Gebieten, in denen sie bereits 1624 die von ihnen gewünschte Religion ausüben konnten, dies auch weiter gestattet sein sollte, und selbst wo das nicht der Fall war, diese Ausübung zumindest im eigenen Haushalt gestattet sein sollte. 59
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diese dann auch in die Verfassungspraxis eingegangenen Überlegungen mit dem Hinweis, Deutschland sei schließlich kein "absolutum dominatum".65 Liebenthai zitierte bei der Frage nach den möglichen Maßnahmen bei Rechstverstößen der Magistrate die Vindiciae contra Tyrannos, wies die Untertanen aber auf den Appell an andere niedere Magistrate zur Unterstützung hin. 66 Liebenthai, der sich ebenso wie Gerhard an mehreren Stellen auf Althusius bezog67 und, wie gesagt, für die Unterscheidung von maiestas realis und personalis eintrat, mag rur die Entwicklung des Reichsstaatsrechts nach 1648 nicht mehr repräsentativ sein. Die zweite Auflage seines Werkes von 1619 erschien denn auch in Amsterdam, nicht im Reich. Auch die Heranziehung von Althusius' Politica als selbstverständlichem Referenzwerk der politischen Theorie weist Liebenthai, ebenso wie Gerhard, der Generation bis zum Westfälischen Frieden zu, denn erst nach dem Westfälischen Frieden und insbesondere im Gefolge der Identifizierung von Althusius mit der Hinrichtung Karls I. in England 1649, wenn auch nicht unmittelbar im Anschluß, verlor sich der Bezug auf Althusius. 68 Aber auch in der zuerst 1663 veröffentlichten und ausdrücklich gegen die Monarchomachen gerichteten ,,Architectonica de civitate" von Johann Friedrich Horn69 wurden die Möglichkeiten von Notwehr und Widerstand noch ähnlich geregelt. Horn nahm gegen die Behauptung Stellung, die Souveränitätsrechte würden vom Volk auf den Monarchen übertragen, das Gemeinwesen verfuge über eine eigene maiestas realis und es bestehe unabhängig von der Person des Monarchen weiter. 70 Seine Position ist also verfassungsrechtlich der Position Liebenthals entgegengesetzt. Die summa potestas ist bei Horn eine direkte Stiftung Gottes, die Einsetzung einer Person in das Amt des höchsten Magistrates und die Bindung dieses Magistrats an bestehende positive Rechte und Verträge wird dadurch jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, denn Horn unterschied den Besitz der Souveränität, der allein beim Herrscher liege, von der möglichen vertraglichen Beschränkung der Ausübung der maiestas. Horn konzedierte sogar, die monarchia limitata sei die wesentlich verbreitetere Form als das regnum absolutum.71 Auf die Vgl. Liebenthai, c. V, Quaestio IX, S. 182; c. VII,5. Ebd., S. 467-473. 67 Beispielsweise VI, S. 185. 68 Vgl. die Polemik gegen Althusius als Monarchomachen bei Peter Gartz, Puritanischer Glaubens- und Regimentsspiegel, Leipzig 1650; zur Rezeption im Reich auch über den WestfaIischen Frieden hinaus, insbesondere auch in Auseinandersetzungen innerhalb der Territorien vgl. Gerhard Menk, Johannes Althusius und die Reichstaatslehre, in: Dahm, S.255-300. 69 Benutzt wird die Ausgabe von 1699; vgl. zu Horn Heinrich de Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns, Aalen 1992; Dreitzel, Absolutismus, S. 85-87. 10 Vgl. beispielsweise Horn, I 2, c 10, n 8: ,,1mperii caussa non est pactum". Vgl. Wall, S. 198-20l. 11 Wall, S. 214-5. 65
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Frage, ob ,,Majestas legisbus soluta" sei, antwortete er, ,Jus Naturale, item Jus gentium, non posse mutari a principe".72 Entsprechend läßt Horn den Monarchen nur im Bereich des positiven Rechts Recht und Unrecht bestimmen, nicht aber im Bereich des Naturrechts. Der Bereich der Verstöße gegen das Naturrecht wird nun besonders eng gezogen. Ein Angriff auf den Souverän selbst ist ausgeschlossen. 73 Gegen naturrechtswidrige Maßnahmen seiner Diener seien jedoch Notwehr und Selbstverteidigung erlaubt.74 Folgt man dieser Skizze, so wurde das eigentliche 'Widerstandsrecht als Herrschaftsprivileg vornehmlich den Ständen des Reiches und ein Recht zur Selbstverteidigung in eng eingegrenzten Notwehrfallen, der Carolina folgend, den Untertanen zugeordnet. Im Rahmen des Landespatriotismus, also der Erörterung der Pflichten der Bürger und Patrioten gegenüber ihrem Vaterland, wurden dagegen Probleme der ständischen Differenzierung und der von dem Gemeinen Mann ausgehenden Gefahren von den Autoren weitgehend außer acht gelassen, denn sie konnten in diesem Zusammenhang umgangen werden. Das zeichnete sich bereits bei Regius Selinus ab und wurde bei Althusius" Gerhard und König mit der Formulierung von den "amantes patriae" zu einem Recht der Gegen- und Notwehr, z.T. mit dem Hinweis auf das Naturrecht, für ein ganzes Gemeinwesen in seiner Eigenschaft als Bekenntnisgemeinschaft und Vaterland ausgebaut, freilich in der Form einer Pflichtenlehre für die Bürger und Patrioten, nicht als Rechtelehre für die Untertanen. Die Pointe dieser Argumentation lag darin, daß die Gruppe der Untertanen von der jenigen der Bürger und Patrioten gerade nicht scharf abgegrenzt wurde. Zu Bürgern und Patrioten wurden im Konfliktfall diejenigen Personen, die bereit waren, ihr Leben für das Vaterland einzusetzen. Es hing daher von der spezifischen historische Situation ab, in der solche Überlegungen Anwendung finden mochten, wer jeweils als Patriot angesprochen wurde oder bereit und in der Lage war, sich dieser Rolle zu bedienen. Unsere nächste Frage muß daher sein, welche Rolle diese Überlegungen aus Werken der politischen Theorie wie bei König und Althusius in populäreren Werken wie Chroniken und Predigten in deutscher Sprache spielten? Wie waren solche Überlegungen in spezifische politische und verfassungsrechtliche Entwicklungen einzelner Territorien eingebunden? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir uns von der Ebene der politischen Theorie der Universitäten ab- und uns einer spezifischen verfassungs- und landesgeschichtlichen Situation zuwenden. Ähnlich wie während des Schmalkaldischen Krieges bedurfte es schließlich der Bedrohung 72 Horn, I. 2, c. 2, n. 10, S. 281.1. 2, c 10, n IV S. 597 führt er aus, ,,Ad limitatum imperium referimus regnum, quod circumscriptam habet regiminis formam: quando certis conditionibus in solium admittitur regnaturus, & per deterrninata pacta atque juramenta civibus promittit, ad quae ex officio, aut jure alio, non teneretur obstrictus." 73 Horn, I. 2, c 12, n 10. 74 Horn, I. 2, c. 12, n 11: ,,Defensio permittitur in ministros"; Wall, S. 224.
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des Glaubens, um die Niederschrift solcher Predigten und Traktate überhaupt zu veranlassen. Ein unter diesem Aspekt geeignetes Territorium ist das Herzogtum Pommern.75 Zwischen 1532 und 1625 in Pommern-Stettin und Pommern- Wolgast geteilt, fiel das Herzogtum nach dem Tode des letzten regierenden Herzogs aus dem Greifengeschlecht im Jahre 1637, Bogislav XIV., in den Verträgen von Münster und Osnabrück an Brandenburg (Hinterpommern und Cammin) und Schweden (Vorpommern und Rügen). Der Konfessionswechsel von Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg von 1613 erwies sich als ein erstes Wetterleuchten für" diese kommenden Wirren, denn aufgrund seiner Heirat mit einer Tochter Bogislavs besaß nun ein reformierter Fürst die Anwartschaft auf das lutherische Pommern. Seit 1627 von kaiserlichen Truppen besetzt, drohte nach dem Erlaß des Restitutionsediktes 1629 die Rekatholisierung des Landes. Zwischen 1630 und 1635 durch schwedische Truppen besetzt und zunächst auch geschützt, kehrten 1635 die Kaiserlichen als Sieger erneut ins Land. Bereits im Jahr zuvor hatte der kranke Herzog Bogislav mit Billigung der Landstände eine Regimentsordnung erlassen, welche u.a. das lutherische Bekenntnis als Teil der leges fundamentales Pommerns festschrieb. Das lutherische Pommern wurde jedoch nicht nur von konfessionsfremden Feinden bedroht, wenigstens zwischen 1637 und 1648 besaß es auch keinen angestammten Fürsten. Die ZufaIligkeiten dynastischer Erbfolge, politischer Verwicklungen und des Kriegsglücks lieferten Pommern nicht nur immer wieder konfessionsfremden militärischen Besatzern aus, sondern boten auch den Nährboden für eine Rhetorik der Verteidigung des lutherischen Bekenntnisses in Pommern, die sich immer wieder auf Pommern als der Territorialgrundlage der Kirchenverfassung und der Kirchenordnung berufen mußte und dazu nicht nur an die Verbindlichkeit des Corpus Doctrinae Pomeranicum erinnerte, sondern auch, angesichts des Bekenntisstandes des Hohenzollern, zur Loyalität der Untertanen zum Pommerschen Vaterland appellierte. Die Integrität Pommerns als Gemeinwesen und seiner Gesetze war zur entscheidenden Bastion des Luthertums in der Verteidigung gegen Reformierte und Katholiken geworden. In diesem Zusammenhang nutzten in Pommern Chroniken, Predigten und Abhandlungen zur Staatsklugheit und zur Kriegführung Wendungen und Formulierungen, die sich als Ausdruck des sich in dieser Lage formierenden konfessionellen Landespatriotismus verstehen lassen und in denen das Naturrecht der Notwehr und die Problematik eines Widerstandes gegen die Obrigkeit zur Verteidigung des Vaterlandes verschmolzen wurden. Diese Rhetorik lobte einerseits Land und Ge-
75 Vgl. jüngst im Überblick Roderich Schmidt, Pommern, Cammin, in: Anton SchindlingIWalter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Teil 2: Der Nordosten, S. 182-205.
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setze, forderte die Pommern zur Nachahmung des frommen Lebens ihrer Vorväter auf und berief sich auf das Recht zu Notwehr und Widerstand, um Gesetz und Bekenntnis auch gegenüber dem Zugriff der konfessionsfremden Nicht-Pommeraner, auch der Fürsten, zu verteidigen. Die Autoren, in erster Linie Theologen der Universität Greifswald und zugleich Vertreter der kirchlichen Hierarchie wie Daniel Cramer (1568-1637, Superintendent), Christoph Schulte76 , Jacob Fabricius (1560-1640, Superintendent) und Johannes Micraelius (1597-1658, Rektor des Stettiner Gymnasiums) waren si"h untereinander häufig bekannt. Sie zählten zur res publica litteria Pommerns, in deren Kreis Lobgedichte auf Pommern zirkulierten. 77 Bleiben wir zunächst beim Genre der gelehrten Abhandlung über das Wesen der Politik. In seiner "Regia Politici Scientia" von 1654 beschäftigte sich Johannes Micraelius auch mit dem Problem des Widerstandsrechts. Als Ziel des Gemeinwesens verteidigt er das gute und glückselige Leben. Die res publica versteht er als die Herrschaftsordnung und Form der civitas.78 Die Bürger seien die Gruppe derjenigen, die den Gesetzen des Gemeinwesens unterworfen sei. Micraelius teilte sie, dem Verständnis des Gemeinwesens als Herrschaftsordnung entsprechend, in "irnperantes" und "subditi", "superiores" und ,,inferiores", ,,nobiles" und "ignobiles" und "cives regni et nationis" und "cives oppidi" ein. In dieser Reihung sich entsprechender Gegenbegriffe schwingen auch die besonderen Bedingungen im Reich mit, in dem die Reichsstände als Bürger des Reiches begriffen werden konnten. Indem er in dieser Folge von Gegenüberstellungen am Ende diejenige der "cives regni et nationis" und "cives oppidi" anfügt, wurden von ihm die Stadtbürger eindeutig als Gehorchende den Reichsständen unterstellt. Micraelius' Beschreibung der "cives subditi" als "belua multorum capitum", als vielköpfige Bestie79 , unterstreicht seine Konzeption einer unzweideutigen Herrschaftsordnung.
An ihrer Spitze stehen jedoch keineswegs allein die Reichsstände. Die wahren Bürger (veri cives) sind für Micraelius diejenigen, welche ,,rempublicam curent", nämlich Soldaten, Senatoren und Richter, und Geistliche, "quarum illi remp. tuentur adversus hostes; isti consulent & judicant; hi religionem curant". Je mehr
76 Vgl. zu beiden Sabine Mödersheim, Die Emblematik am Hof der pommerschen Herzöge: Martin Marstaller und Daniel Crarner, in: Wilhelm KühlIHorst Langer (Hg.), Pommern in der fiiihen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region, Tübingen 1994, S. 267-279, hier S. 275. 77 Vgl. zur Geselligkeit dieses Kreises Achim Aurnhammer, Andreas Hiltebrand - ein pommerscher Dichterarzt zwischen Späthurnanismus und Friihbarock, in: LangerlKühlmann, Pommern in der Friihen Neuzeit, S. 199-225. 78 Johannes Micraelius, Regia Politici Scientia, compendiosis aphorismis & quaestionibus proposita, 1654, Uber I De republica constituenda et Fundenda, eIDe Politica, S. 1-2. 79 Ebd., c IX "De Civibus", S. 89-90.
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diese Personengruppe der Soldaten, Richter und Geistlichen an der Leitung des Gemeinwesens beteiligt sei, desto tugendhafter werde das Gemeinwesen. 8o Welches verfassungsrechtliche Widerlager besaß diese Feststellung bei Micraelius? Bei der Diskussion der Souveränitätsproblematik81 lehnte Micraelius die Teilung der Souveränitätsrechte in Anlehnung an Kirchner und Besold in maiestas reahs und maiestas personalis ab. 82 Statt dessen unterschied er aber zwischen ,,rem modum habendi summitatem imperiis", dem Besitz der Souveränitätsrechte, und den Umständen ihrer Handhabung. Im Hinblick auf diese Handhabung seien fixierte Bedingungen ("conditiones") denkbar, an die der Inhaber der Souveränitätsrechte gebunden sei. 83 Der Fürst repräsentiere zwar die Korporation des Gemeinwesens - so wie bei Althusius der Magistrat seine Korporation vertritt und rechtsgeschäftlich an ihrer Stelle handeln kann - sei aber ,,singulis majorem & universis minorem".84 Gegenüber dem Tyrannen gestattete Micraelius wie schon Althusius dem einzelnen Untertanen die Flucht. 85 Micraelius schloß mit einer Reihe von Voraussetzungen, die für eine berechtigte Erhebung gegen den Fürsten bestehen müßten und kam zu der Feststellung, in einem durch Gesetze geregelten Gemeinwesen sei es zur Verteidigung dieser Gesetze im Notfall gestattet, für "patriam libertatem & religionern" die Waffen auch gegen den eigenen Fürsten zu ergreifen.86 Erneut wird nicht konkret auf bestimmte ständische Gliederungen innerhalb des Gemeinwesens abgehoben, die das Schwert ergreifen sollen, sondern auf die Qualität des Gemeinwesens als Vaterland und die dem korrepondierenden Verpflichtungen derer, die ,,rempublicam curant" - eben Richter und Soldaten, Senatoren und Geisltiche. In seinem ,,Lexicon Philosophicon" von 1653 definierte Micraelius dieses Vaterland erneut in erster Linie als Rechtsordnung, als Summe der Gesetze, nach denen wir leben - in: Pommern also beispielsweise die Regimentsordnung von 1634.87
80 Ebd., S. 96. Micraelius stand hier vermutlich unter dem Einfluss von Cicero, dem er ein eigenes Werk widmete, vgl. Johannes Micra/ius. Ciceronis libri de officiies in themata et quaestiones redacti, Stettin 1658. 81 Die Diskussion findet wie bei anderen Autoren an Hand des Begriffs der rnaiestas statt, vgl. Quaritsch, Souveränität. 82 Ebd., c. X, De Imperantium in republica vel Regno rnajestate, S. 105; vgl. Quaritsch, Souveränität; Klein, Kirchner. 83 Ebd., S. 105. 84 Ebd., S. 113. 85 Ebd., S. 116. 86 Ebd., S. 117: " ... adversus superiorem armis se patriam libertatem & religionem tueri". 87 Johannes Micraelius, Lexicon Philosophicon Terrninorum Philosophis Usitatorum, Jena 1653, 2. Auflage 1662, Sp. 978.
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Ein zentrales Medium der Rede über das Vaterland über den engeren Kreis der Leser politischer Traktate hinaus waren zunächst die Chroniken. 88 Johannes Micraelius selbst feierte in seiner eigenen Chronik von 1640 die Frömmigkeit der Pommern und Pommern als "das rechte urhalte Vaterland der Gothen".89 In seinem Herzog Bogislav XIV (1625-37) gewidmeten "Großen Pommerschen Kirchen Chronikon" suchte der lutherische Superintendent Daniel Cramer die Geschichte der "gens pomerana" zu erzählen, denn es sei nicht "ein ehrliebendes Herzlund Tugendhafftes Gemüth" das nicht "besondere Lust, Anmuthigkeit und Liebe zu den Historien in aller Welt (furnemblich eben den in seinem Vaterlande ergangenen) tragen [würde]. Denn was der Pommern betrifft hat es denselben für den als wir itzo die Zeit rechnen können an denkwürdigen Geschichten nicht gemangelt, sondern an geschickten Leuten, welche mit besonderem Fleiß auf dieselben acht gehabt. ,,90 Cramer begann in der Zeit noch vor der Christianisierung Pommerns, ging aber besonders ausführlich auf diese Christianisierung, auf die Reformation, auf die Konflikte um das Interim und, seiner eigenen Zeit näherkommend, auf die Konversion des Hohenzollern Johann Sigismund zum refonnierten Glauben 1613 und auf die barsche Kritik daran durch den Generalsuperintendenten Bartold Krakewitz ein. 91 Krakewitz konnte später bei seiner Verteidigung des lutherischen Bekenntnisstandes auf die ,,Regimentsverfassung" von 1634 verweisen, die als pommersches Fundamentalgesetz ein Bollwerk gegen die Hohenzollern und eine mögliche Zweite Reformation nach dem Beispiel Hessen-Kassels bilden sollte. 92
88 Vgl. Horst Langer, Literatur in Pommern während der Frühen Neuzeit. Vorraussetzungen, Erscheinungsbilder, Wirkungsfelder, in: KühUHorst Langer, Pommern, S.3-34; zur Natur der Chronik als Aufforderung zur imitatio der Helden vgl. Hans-Günter Leder, Johannes Bugenhagens Pomerania - Humanistische Einflüsse auf die frühe Landesgeschichtsschreibung in Pommern, in: ebd., S. 77-100; Roderich Schmidt, Die ,,Pomerania" als Typ territorialer Geschichtsdarstellung und Landesbeschreibung des 16. und beginnenden 11. Jahrhunderts, in: Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15. bis 11. Jahrhundert, hrsg. v. H.-B. Harder, Köln 1983. 89 Johannes Micraelius, Altes Pommemland, Stettin 1640; vgl. Langer, Literatur, S. 5. 90 Daniel Cramer, Großes Pommersches Kirchenchronikon, Stettin 16282, benutzt ist die zweite Auflage von 1628, hier Vorrede S. iii. Vg1. hierzu Klaus Guth, Mittelalterliche Kulturkontakte zwischen Franken und Pommern im Spiegel der Konfessionsgeschichte. Die Pommersche Chronik Daniel Cramers von 1602, in: W. Buchholz (Hg.), Pommern und die deutsche Landesgeschichte (im Druck). Ich danke Prof. Dr. Klaus Guth für seine Hinweise und Anregungen. 91 Cramer, Kirchenchronikon, 3. Buch, S.93-120, 188-194; zur Konversion des Hohenzollern siehe Manfred RudersdorflAnton Schindling, Kurbrandenburg, in: Anton SchindlinglWalter Ziegler, Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 2, S. 34-61, hier S. 54-61. 92 Vgl. Bartold Krakewitz, De sacra coena wider die Reformierten, 1616, in: Jacob Heinrich Balthasar, Erste Sammlung einiger zur Pommerschen Kirchenhistorie gehörigen Schriften, Greifswald 1123, Bd. 11, S. 662ff.; H. Heyden, Die Kirchenpolitik in Pommern
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Die Landesverfassung und die Eigenständigkeit des Landes waren Bollwerke zum Schutz des Bekenntnisses geworden. Cramer unterstützte in seiner Beschreibung Krakewitz und schloß seine Chronik mit Sinnsprüchen pommerscher Fürsten. Herzog Philipp II (1606-1618) eignete er als Motto beispielsweise "C.E.R. Christo & Reipublicae" zu: "Vivo tibi Christo, tibi & 0 Respublica vivo, Non mihi sum natus, sed patria atq. Deo." Philipp I. (1532-1560) ordnete er den Spruch ,,P. L. E. G. Pro Lege et Grege" zu : "Rex rege lege gregem: & pro lege & pro grege pugna: Nam non Rex sueris, sit nisi grex, nisi lex. ,,93 In seiner Predigt "Vergleichung der beyden gottseeligen regenten Josiae des Königs Judae und Gustavi Adolphi,,94 argumentierte Christoph Schulte in erster Linie mit dem Alten Testament und verglich die Schlachten des Schwedenkönigs mit denen des Propheten Josua. Dessen Kampf mit dem Pharao wird als Rechtfertigung des Kampfes gegen den Kaiser gedeutet. Zweck und Rechtfertigung der Gewaltanwendung sei in beiden Fällen die Verteidigung des Vaterlandes als Ort der Rechts- und Religionsausübung. ,,Also hat man nicht ursach, den Josiam unnötiger Weise erregten Krieges zu beschuldigen, sondern vielmehr zu rühmen, daß er sich vor seine Untertanen, Vaterland und Volck Gottes seinem Beruf nach freudig gewagt." Das Lob für die Kriegstüchtigkeit des römischen Feldherrn und Bürgers Scipio wurde jedoch ebenso zum Vergleich und zur Illustrierung der Tugend der Vaterlandsliebe und der Kriegstüchtigkeit herangezogen. 95 Dieses Lob blieb auch keineswegs auf den Fürsten beschränkt. Nach dem Tode von Gustav Adolph in der Schlacht bei Lützen wurde Schweden, und damit auch Pommern, der Sache nach zunächst von einer Reihe von Räten regiert. In der 1644 erschienenen "Syntagma Historiaru Ecclesiae Omniurn,,96 widmete Johannes Micraelius die einzelnen Bücher den führenden schwedischen Beamten nach dem Tode von Gustav Adolph wie Oxenstierna, Leon Torstenson und Axel Lillie. 97 Im dritten Buch über "De ecclesia Christi sub Imperii Germanicis, a Carolo Magno ad nostra usqu. tempora" verglich er diese Räte mit den Spartanischen Gesetzeshütern, die ,,mea patria Pomerania" und zugleich die ,,res publica Christiana" vor dem "Tyrannidem Antichristi" beschützten. 98 Auch seine "Regia Politici Scientia" von 1654 war erneut Oxenstierna und den "Senatoren" des schwedischen Königreichs gewidmet.
von der Teilung des Landes 1648 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Baltische Studien N.F. 57 (1971), 51-65. 93 Cramer, Kirchenchronicon, S. 237-9. 94 Stettin 1631. 95 Ebd., S. 45, S. 56f. 96 Erschienen in Stettin. 97 Micraelius, Syntagma Historiaru Ecclesiae. 98 Ebd., S. lf.
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
Der Schutz des pommerschen Vaterlandes und der ,,res publica Christiana" oblag jedoch nicht nur Fürst und Räten. Der pommersche Superintendent Jacob Fabricius veröffentlichte mit seinen ,,Einunddreißig Kriegsfragen,,99 von 1631 ein Handbuch in deutscher Sprache, das wohl unter dem Einfluß der drohenden Rekatholisierung nach dem Erlaß des Restitutionsediktes von 1629 entstanden war. Er stellte ihm Psalm 94, 11, 15 voran: "Recht muß doch Recht bleiben, und dem werden alle frommen Herzen zufallen". Er rechtfertigte dann in 31 Punkten den Verteidigungskrieg im allgemeinen und insbesondere den Krieg gegen den KaiSer, ohne dessen Oberhoheit über das Reich im Prinzip anzuzweifeln. Er bezog sich dabei sowohl auf die Notwehrargumentation der sächsischen Juristen vom Herbst 1530 als auch auf die seither geschlossenen Verträge bzw. Reichsgesetze, die der Kaiser nun breche. 1°O Über den Anlaß des Krieges in Böhmen könne man streiten lOl , aber sein Fortgang habe mit der böhmischen Angelegenheit nichts zu tun, sondern die "eigentliche Ursach des Krieges [sei] daß jedermann dem Papst die Füße soU wider küssen" und die "völlige Unterdrückung des evangelisch und lutherischen Christbekenntnisses." Die ,,Practick der Papisten [sei] gleich wie die türckische Tyrannei jenes persischen Königs, des Saporis".102 ,,Der leidige Papst und seine Blutgierigen Jesuiten sind warlieh die fümembsten Actores, [aber] wir Pommern haben ... keyserliche Briefe und Zeugnisse in den Händen, darin unser geleistet devotion gegen ihre kayserliche Mayestät etliche mal ist gelobet worden".103 Wie aus der Geschichte Sleidans lO4 über das Bündnis Karls V. und des Papstes von 1546 hervorgehe, wolle der Papst auch jetzt "dermassen in Deutschland reinschlagen, daß sein Roß in der Lutherischen Blute schwimmen sollte".\05 Luther habe in dieser Situation gefolgert, daß der Papst der eigentliche Angreifer sei und der Kaiser nur sein Verbündeter, "deshalb haben auch die unseren beschlossen, das kayserliche Majestät in dem Fall nicht Kayser ist, sondern Kriegs-
99 Jacob Fabricius, Einunddreißig Kriegsfragen. Von dem itzigen erbännlichen Kriege in Deutschland, Stettin 1631. 100 Ebd., S. 6Of.: ,,Aber die einheimischen Reichsfürsten und Reichsstände, welche wider die kayserliche Majestät nichts gesündigt haben, mit so vieljähriger Kriegslast so hart zu bedrängen, als heutigen Tags geschieht, das will sich mit der theuer beschworenen Keyserlichen Kapitulation, mit dem Hochverpoenten Land- und Religonsfrieden, mit den heilsamen Reichsconstitutionibus... , mit den Immunitäten und Freyheiten... der Churfürsten und Stände des Reichs sehr übel beisammen reimen." 101 Ebd., S. 62. 102 Ebd., S. 63, 67. 103 Ebd., S. 72 104 Johannes Sleidanus, Der erste Theil ordentlicher Beschreibung und Verzeichnis al~ ledey furnemer Handel, so in Glaubens und ander weltlicher Sachen bei Regierung Kaiser Karls V zugetragen, deutsch StraBburg 1580; vgl. Polenz, Geschichte des französischen Calvinismus, Bd. 3, S. 87-104 zur Rezeption insbesondere des Magdeburger Bekenntnisses über Sleidan in Frankreich. lOS Fabricius, Kriegsfragen, S. 77.
11. Widerstandsrecht und Notwehrrecht (1614-1664)
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mann, und Mörder des Papstes. 106 Also muß man "ihm die übergebreitete Larve des keyserlichen Namens abziehen und die Gegenwehr darwider ergreifen". 107 Fabricius erläuterte dann das Naturrecht der Gegenwehr, das "lehret, wie man sich ordentlich schützen soll, entweder mit Hülff der Obrigkeit, oder alleine, so die Obrigkeit, welche wider alle unbillige Gewalt soll helfen, nicht vorhanden ist. Und dazu hat Gott den männlichen Herzen Muth und Freudigkeit gegeben, daß sie für die Gerechtigkeit streiten. ,,\08 Fabricius führte neben Cicero vor allem die Apokalypse und Jeremiah an. 109 Diese einprägsame Rhetorik wurde von Überlegungen dazu eingerahmt, wer Gegenwehr leisten dürfe. Sie schwanken zwischen dem Hinweis auf die hohe und ,,mittelbare Obrigkeit", auf das Magdeburger Bekenntnis und der ausführlichen Zitation von Luthers Zirkulardisposition zu Matthäus, die jeden Gläubigen aufforderte, den Papst als ,,Beerwolf' zu erschlagen, ohne auf das Urteil des Richters zu warten. IIO Beispiele landesherrlicher Befehle an die Untertanen in ,,Meissen, Bayern und der Marck", es ,,mit dem Papst zu halten", denen zu widerstehen sei, illustrieren, wann Fabricius auch unterhalb der Reichsstände ein Recht zur Gegenwehr gelten lassen will. I I I Eine solche Gegenwehr, ein ,,foedus defensionis" gegen die Obrigkeit, sei allerdings nur unter Konfessionsverwandten erlaubt. Während die Untertanen für Handel und Wandel mit Konfessionsfremden Verträge abschließen dürften und sich, solange die Ausübung des Bekenntnisses gesichert sei, auch in einem ,,foedus homagiale" einem konfessionsfremden Fürsten unterwerfen dürften, sei, so seine These mit Hinweis auf den Schrnalkaldischen Bund, ein "foedus defensionis" nur unter Konfessionsverwandten erlaubt. l12 Als die Stettiner Theologen 1630 die Rechtmäßigkeit des in Aussicht genommenen Schwedisch-Pommerschen Bündnisses beurteilen sollten, gewannen Kategorien wie Notwehr und Selbstverteidigung unmittelbare praktische Relevanz. Zwar lagen die schwedischen Truppen nach ihrer Landung im Juni 1630 bereits Ebd., S.86 Ebd., S. 90. \08 Ebd., S. 91. 109 Ebd., S. 96, Apokalypse 8. v. 6 & 7, ,,Bezahlet sie wie sie (das Römische Babel) wie sie euch bezahlet hat und machts ihr zweifliltig,nach ihren wercken, und mit welchem Kelch sie Euch eingeschenkt hat, schencket ihr wieder zweifaItig ein. Wie viel sie sich herrlich gemacht hat, so viel schencket ihr Qual und Leiden"; Jeremiah 10 v. 14. ,,Rüstet Euch wider Babel, schiesset in sie, sparet der Pfeile nicht, denn sie hat wider den Herrn gesündigt". In seinen Annotationes in Apocalypsi, Jena 1643, parallelisierte Johann Gerhard die Ungehauer der Apokalypse mit dem Papst, so S. 104, XIllI, v 14: Imago illa bestiae intelligi hoc modo, quod ad similitudinem Monarchiae politicae Papa condiderit Tyrannidem Politico Ecclesiasticam sedis Romanae". 1\0 Ebd., S. 111; vgl. zum Topos des Beerwolf vgl. oben. 111 Ebd., S. 176. 112 Ebd., 324-339. 106 \07
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B. Notwehr und Widerstandsrecht im Reich
aufUsedom und Wollin, während sich die Kaiserlichen bis südlich von Stettin zurückgezogen hatten. Herzog Bogislav war die Bitte um Neutralität von Gustav Adolph jedoch verweigert worden. Nach mehrmonatigen Verhandlungen kam es dann endlich zu einem förmlichen Bündnis zwischen Schweden und Pommern gegen Bogislavs eigenen Wunsch. Bogislav scheute nicht nur die offene Konfronation mit dem Kaiser. 1621 und 1626 erneuerte Erbverträge banden ihn an Kurbrandenburg und legten fest, keine gegen den Vertragspartner gerichteten Bündisse einzugehen. Insbesondere die Forderung des Schwedenkönigs, im Falle des Todes von Bogislav Pommern erst nach Ersatz seiner Kriegskosten auf Kosten Brandenburgs räumen zu wollen, schienen den Bestimmungen der Erbverträge mit Brandenburg zu widersprechen. Die Stettiner Geistlichkeit sprach sich jedoch eindeutig für das Bündnis aus. Das Gutachten war als Antwort auf die selbstgegebene Frage fonnuliert, ob gegenseitige Hilfe gegen unrechtmäßige Gewalt und Schutz der gemeinsamen Freiheit mit dem Frieden des Reiches und den durch Pommern geschlossenen Verträgen vereinbar seien. Bündnisse, die "pro assertione verae fidei Christianae" geschlossen würden, erfüllten diese Bedingung in jedem Fall, so behaupteten die Geistlichen. Insbesondere seien alle "orthodoxi theologi" der Meinung, daß ,,si necessitas ipsa ferat", Gegenwehr rechtmäßig ist. Erneut ist vom Vaterland die Rede, dessen Frieden verteidigt werden müsse.1\3 Nach all dem erscheint es als nur folgerichtig, daß der Wolgaster Ständekonvent im Mai 1643 für die Delegation auf dem Friedenskongreß in Osnabrück ,,Landespatrioteit" bzw. ,,sympatrioten" auswählte. 1l4 In den Verhandlungen der pommerschen Landstände mit Schweden in den 1650er Jahren waren das lutherische Bekenntnis, die "lex fundamentalis patriae", ,Jex fundamentalis pomeraniae", "unsers geliebten Vaterlandes Freyheit" und die "Pommersche Nation" unauflösbar mit den Privilegien und Rechten des Landes und besonders dem lutherischen Bekenntnisstand verknüpft, die gegen die neuen Landesherren gesichert werden mußten. 115 Die Herrschaft verbriefter Rechte auch gegenüber den eigenen Territorialherren hatte sich, so hat es den Anschein, auf territorialer Ebene mit Elementen regionaler Identität verbunden. 1l6 Das Naturrecht der Notwehr kam in diesem Rahmen vor allem dem Gemeinwesen als Ganzem und als Herrschaft des Rechts 113 Vgl. Wolfram Schulze, Ein Gutachten der Stettiner Theologen zum schwedisch pommerschen Bündnis von 1630, in: Blätter für Kirchengeschichte Pommerns 10 (1932), S.3-18. 114 Herbert Langer. Die pommerschen Landstände und der Westfälische Friedenskongreß, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie - politische Zäsur - kulturelles Umfeld - Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 485-499, hier S. 487; Peter Baumgart, Kurbrandenburgs Kongreßdiplomatie und ihre Ergebnisse, in: ebd., S. 469-484, hier S. 470f. l1S Pär-Erik Back, Herzog und Landschaft. Politische Ideen und Verfassungsprogramme in Schwedisch Pommern um die Mitte des 17. Jahrhunderts, Lund 1955, S. 149, 187, 290. 116 Vgl. Schorn-Schütte, Identite regionale.
Ir. Widerstandsrecht und Notwehrrecht (1614-1664)
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zu, dessen "salus et interitus Patriae" von den Ständen, und nicht vom Fürst allein, zu definieren war. 117 Unter den Bedingungen der Territorialisierung der Konfessionsfrage war es im Reich zu einer Bändigung der Notwehrproblematik gekommen, die einen Weg zwischen der Scylla einer völligen Unterwerfung unter die Rechte des Kaisers oder der Reichsstände und der Charybdis eines perpetuierten Notwehrzustandes bot. Den Untertanen in den Terntorien blieb ein Recht der Notwehr zur Selbstverteidigung von Leib und Leben gegenüber unmittelbaren unrechtmäßigen Angriffen auf die eigene Person. Ein Widerstandsrecht gegen den höchsten Magistrat blieb, in unterschiedlicher Ausformung und Begründung, überwiegend den Reichsständen vorbehalten. Den Terntorien blieb als Bekenntnisgemeinschaften, nicht einfach als Herrschaftsbezirke der Fürsten, ein Recht der Selbstverteidigung gegen Angriffe auf ihr Recht und ihr Bekenntnis. Diese Dreiteilung für den äußersten Notfall reflektierte die Verteidigung des Bekenntnisstandes während der Wirren und inneren Konflikte zwischen dem Waffenstillstand zwischen Österreich und der Pforte 1606 und dem Westfalischen Frieden. Thr trat die Bindung der Reichsstände zum Schutz der reichsrechtlich anerkannten Konfessionen unter den 1648 ausgehandelten Bedingungen zur Seite.
117
Fabricius, S. 342.
7 v. Friedeburg
C. Notwehr und Widerstands recht in den Königreichen England und Schottland, 1553-1669 I. Notwehr und Gemeiner Mann in den englischen Konfessionskonflikten, 1553-1657 Sowohl das Magdeburger Bekenntnis als einzelne Schrift als auch das Konzept der Notwehr des Gemeinwesens und die Handhabung dieser Notwehr durch niedere Magistrate, die Stände des Gemeinwesens, sollten einen weit über das Reich hinausreichenden Einfluß ausüben, in dessen Rahmen wenigstens bis in die 1660er Jahre immer wieder auf Argumente rekurriert wurde, die im Zusammenhang mit den Konflikten im Reich entstanden waren. Nur sollte sich zeigen, daß die Territorialisierung des Konfessionskonflikts im Rahmen der entstehenden Reichsverfassung, und damit die Zuordnung verschiedener Formen von Widerstand, Gegenwehr und Notwehr auf Reichsstände, Territorien und den einzelnen Untertanen, in denjenigen Gemeinwesen kein gangbarer Weg war, in denen der Rekurs auf Stände nicht in vergleichbarer Weise möglich war. Das Konzept der Notwehr ließ sich dann, wie wir sehen werden, nicht in vergleichbarer Weise rechtlich einbinden. In den ständisch erheblich weniger differenzierten englischen und schottischen Gemeinwesen führte die Argumentation mit der Notwehr daher zu anderen Ergebnissen. Die Arnisaeus -Rezeption in England 1630 und die Althusius-Rezeption im Königreich Schottland in den 1660er Jahren sollte das besonders deutlich zeigen. Hundert Jahre zuvor, in den 1560er Jahren, stellte sich dieser fundamentale Unterschied zwischen der Instrumentalisierung des Notwehrrechts im Reich und außerhalb des Reiches freilich noch nicht so deutlich dar. In seinem 1568 verbreiteten und bereits erwähnten "Bekenntnis sampt Defension und Nothwehr wider des Duca de Alba Unchristliche und unerhoerte Verfolgung gegen alle Stände der Niederlande" ging Wilhelm von Oranien auf die von Alba begangenen Rechtsbrüche und die Rechtsmittelverweigerung des Herzogs von Alba, der ,,fieyen Zutritt zu der königlichen Majestät versperret", ein. Die "unerhörten inuiriies", und "Tyrannei und Verfolgung", seien "Ursache vorgenommener Defension, Gegenwehr und Rettung wider des Duca de Alba seinen Anhang und bluttdürstiger Rou", durch die Wilhelm und seine Anhänger "genottdränget" seien, "billiche, christliche, zulässige und unumbgängliche Defension, Nothwehr und Rettung" zu üben. Diese Rechtsbrüche seien ,,Nun mehr durch kein ander Mittel und Wege dan die in allen Rechten erlaubte Defension und Gegenwehr zu steuern". Im Mittelpunkt der Schrift stehen zum einen die ,,Freyheiten, Privilegien, Contracten, Ordnungen und Satzungen, so ihre Majestät selbst bestätigt", das geltende Recht. Auf die Umdeutung dieser Privilegien im Verlauf der Auseinandersetzung in den Nieder-
I. Notwehr in England
99
landen in Verfassungsgrundsätze ist die Forschung ausführlich eingegangen.\ Sie entsprach der Umdeutung der Verträge zwischen Reichsständen und Kaiser in Reichsgesetze und Reichsverfassung. Zum anderen wurde, wie bereits erwähnt, ausführlich auf den Bruch dieser Privilegien und Rechte und die Verweigerung von Rechtsmitteln eingegangen. Notwehr und Defension ergaben sich als Resultat dieser Feststellungen und werden ausdrücklich scharf vom "unbillichen Verdacht der Rebellion" abgegrenzt. Die Handhabung des so deduzierten Notwehrrechts obliegt in dieser Argumentation Wilhelm als Reichsstand. Wilhelm bezeichnete seine "gegenwärtige Defension [als] christlich und billich... als einem angebomen Standt unnd Gliedmassen des Heiligen Römischen Reichs auß christlichem Mitleiden, somit den Armen bedrängten und verfolgten Christen natürliche schuldige Pflicht nach billich zu haben ist".2 Eine Problematisierung des Gemeinen Mannes und seiner Rechte blieb unnötig, da die Stände der Niederlande als angegriffene Partei und Repräsentanten des Gemeinwesens und Wilhelm von Oranien als Stand des Reiches Opfer bzw. Inhaber der Rechtsmittel waren, um Schutz zu leisten. Was aber, wenn die Stände mit dem Tyrannen kooperierten? Was, wenn das Gemeinwesen zu wenig ständisch differenziert war, um den Personenkreis der niederen Magistrate unzweideutig verorten zu können? Die Auseinandersetzung um Natur und Reichweite rechtmäßiger Gewaltanwendung gegen den rechtmäßigen Monarchen wurde auch in den Königreichen Schottland und England geführt. Die Ereignisse auf dem Kontinent und die Kampfschriften der Kontrahenten wurden gelesen und verwendet. Das gilt vom Magdeburger Bekenntnis bis zur Politica des Althusius. 3 Es liegt daher nahe, vergleichend fragen, wie in den vermeintlich revolutionäreren Königreichen der britischen Hauptinsel, die in der Anklage und Hinrichtung des rechtmäßigen Monarchen wegen Hochverrat einen in der Tat revolutionären Höhepunkt fanden, Notwehr, Gegenwehr und ständischer Widerstand diskutiert wurden und welche Rolle dem Gemeinen Mann dabei zugemessen wurde. Das methodische Herzstück dieses Vergleichs wird dabei immer wieder die Frage sein, wie im Reich entstandene Argumente in Schottland und England rezipiert und uminterpretiert wurden, um durch diese Texte ein tertium comparationis zu gewinnen. Die Reformation in England war zunächst kein von einer Massenpublikation reformatorischen Schrifttums wie im Reich begleiteter und getriebener Akt, der
I Vgl. Hans Biom, The Great Privilege (1477) as "Code of Dutch Freedom": The Politica! Role of Privileges in the Dutch Revolt and after, in: Barbara DölemeyerlHeinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Frankfurt 1997, S. 233-248. 2 Wilhelm von Oranien, Bekenntis samt Defension und Nothwehr wider das Duca de Alba Unchristliche und unerhörte Verfolgung gegen alle Stände der Niederlande, 1568. 3 Vgl. schon J. H. M. Salm on, The French Religious Wars in English Politica! Thought, Oxford 1959; Andrew Pettegree, Marian Protestantism. Six Studies, Aldershot 1996.
7'
100
C. Notwehr und Widerstandsrecht in England und Schottland
durch Ereignisse wie den Bauernkrieg oder Münster zusätzliche Dynamik erhalten hätte. Sie wurde zunächst von der Krone und vom Hof aus in Gang gesetzt. Es ist daher bis heute umstritten, in welchem Maße die breite Bevölkerung Englands bis zum Regierungsantritt von Königin Maria I. im Jahre 1553, die das Land erneut der römisch-katholischen Kirche zuführte, von den reformatorischen Bemühungen bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt beeinflußt worden war. Während an der Effektivität und Durchsetzung der politischen Reformen der Finanzen und des Gemeinwesens verhältnismäßig wenig Zweifel besteht4 , ist der Zeitpunkt und die Durchsetzung der protestantischen Reformation in EQgland, ja ihr Begriff als solcher, umstritten. Auf der einen Seite steht das Bild einer reformierten Amtskirche, der eine in weiten Teilen altgläubigen Traditionen verhaftete Bevölkerung gegenüberstand: "The political Reformations had succeeded in driving Catholic public worship from the churches; but the Protestant Reformation did not destroy essentially Catholic views of Christian life and eternal salvation".s Auf der anderen Seite steht das Bild einer Reformation, die vielleicht in der ersten Jahrhunderthälfte nicht dieselbe Massenmobilisierung auslöste wie im Reich, die aber bis zum Ende des zweiten Drittels des 16. Jahrhundert eine breite Verwurzelung in der Bevölkerung besaß - allerdings um den Preis der Verständigung darüber, was genau der Charakter und Inhalt des Glaubens und der Kirche sein sollte.6 Bis zum Regierungsantritt der katholischen Königin Maria im Jahre 1553 war jedoch in jedem Falle eine kleine evangelische Minderheit nicht zuletzt unter denjenigen entstanden, die auf dem Höhepunkt der Reformbemühungen der Kirche von England während der Regierungszeit Edwards VI (1547-1553) Bischofsämter innegehabt hatten und seit der Rücknahme der Edwardianischen Re-
4 G. REIton, The Tudor Revolution in Govemment (1953), Cambridge 1969; ders., Policy and Police. The Enforcement of the Reformation in the Age of Thomas CromweIl, Cambridge 1972; ders., Reform and Renewal. Thomas Cromwell and the Common WeaI, Cambridge 1973; ders., Reform and Reformation, England 1509-1558, London 1977; zur Kritik an Eltons Konzept vgl. David Starkey (Hg.), The English Court from the Wars ofthe Roses to the Civil War, London 1987; Christopher Coleman/David Starkey (Hg.), Revolution Reassessed. Revisions in the History of Tudor Government and Administration, Oxford 1986; G. REIton, Tudor Govemment, in: HistoricaI Journal 31 (1988), S.425-434; David Starkey, A Reply: Tudor Government: the Facts?, in: ebd., S. 921-31; jüngere Abwägungen: John Guy, Tudor England, Oxford 1988, S. 89-177; ders., ,,Imperial Monarchy and the State in the Sixteenth Century: England, Scotland and France (unveröff. Papier der Tagung ,,Epochs of British History in a European Context", Oktober 1995. 5 Christopher Haigh, English Reformations. Religion, Politics and Society under the Tudors,Oxford 1993, S. 289. 6 Patrick Col/inson, The Birthpangs of Protestant England. Religion and Cultural Change in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, New York 1988; ders., The "Second Reformation" in an English context; unveröff. Papier der Konferenz ,,Epochs of British History in a European Context: The Sixteenth Century"; Patrick Collinson, The Cohabitation of the Faithful with the Unfaithful, in: OIe Peter Grell/Jonathan I. IsraellNicholas Tyacke (ed.), From Persecution to Toleration, Oxford 1991,51-76; Patrick Collinson, From IconocIasm to Iconophobia: The CulturaI Impact of the Second Reformation, Reading 1986.
I. Notwehr in England
101
fonnen durch Maria in England verfolgt wurden oder sich der Verfolgung durch Aucht auf den Kontinent entzogen hatten. Sie wurden durch Verteidiger der alten Kirche ersetzt, die ihrerseits bereits gegen Heinrich VIII. opponiert hatten. 7 Konzentrieren wir uns aber auf die pro-protestantischen Argumente gegen die katholische Maria Tudor. Selbst wo die Gruppe protestantischer Exulanten bisher noch nicht mit dem Argumentationsreservoir der evangelischen Stände im Reich in Berührung gekommen war, in der Auseinandersetzung mit der katholischen Tyrannin nahm sie deren Ideen auf. Sie wandte sich dabei sowohl in Lateinisch an ihre Glaubensbrüder auf dem Kontinent als auch in englischer Sprache an das englische Gemeinwesen und bezog sich dabei explizit auf Luther. John Bale, Bischof während der Regierungszeit Edwards, übersetzte in seiner ,,faithful admonition of a certain true Pastor" Luthers "Warnung an seine lieben Deutschen" mit dem Vorwort von Melanchthon. Bale nahm in seiner Übersetzung besonders das Thema der Rechtmäßigkeit der Notwehr auf. s Bales Hauptpunkt bildete das Argument, Personen, die "bend themselves against God and bis word and to the subversion of their natural country,,9, seien keine Magistrate mehr. Ihrer Befehlsgewalt verlustig, sei Notwehr bei einem Angriff von ihrer Seite statthaft und nicht rechtswidrig. Er nahm jedoch auch das Thema der Bedrohung eines Gemeinwesens von außen auf. Maria war schließlich noch im November 1553 eigens vom Parlament gebeten worden, nicht außerhalb des Königreiches zu heiraten, schloß aber im Januar 1554 einen Heiratsvertrag mit dem katholischen König Philipp von Spanien. Bale erfaBte mit dem Thema der venneintlichen Bedrohung der englischen Unabhängigkeit gegenüber Spanien zwar nicht nur die Bedrohung des Glaubens, sondern auch die Bedrohung der englischen Rechte und Freiheiten und erweiterte insofern den Rahmen rechtmäßiger Notwehr gegenüber seiner Vorlage. \0 Wir haben jedoch bereits gesehen, daB die Rechte und Freiheiten des Reiches und ihr Schutz vor Rechtsbrüchen bereits einen Themenkomplex der evangelischen Schriften bis 1547 bildeten. Nach der Heirat Marias mit Pbilipp wiesen eine Reihe protestantischer Pamphlete auf
7 Zum Problem des Widerstandes gegen Heinrich Vill. vgl. T F. Mayer, Nursery ofResistance: Reginald Pole and his friends, in: ders./Paul A. Fideler (Hg.), Political Thought and the Tudor Commonwealth, London 1992, S. 50-74.
8 Vgl. Marvin W Anderson, Word and Spirit in Exile (1542-1561): The Biblical Writings of Peter Martyr Verrnigli, in: Journal of Ecclesiastical History 21 (1979); Andrew Pettegree, The Latin Polemic ofthe Marian Exiles, in: ders., Marian Protestantism, S. 118128; Gerry Bowler, Marian Protestants and the Idea of Violent Resistance to Tyranny, in: Peter Lake! Maria Dowling (Hg.), Protestantism and the National Church in Sixteenth Century England, London 1987, S. 124-143, hier S. 124-127 zu John Bale, A faithful admonition of a certain true Pastor, LondonlStraßburg 1554. 9
Bale, Faithful Admonition, zit. nach Bowler, S. 127.
10
Bowler, S. 126.
102
C. Notwehr und Widerstandsrecht in England und Schottland
die Bedrohung Englands durch eine fremde, die spanische Monarchie hin, an die England durch die Heirat seiner Königin, vermeintlich rechtswidrig, gelangt sei. 11 Peter Martyr Vermigli fügte diesem Notwehrargument das Argument der besonderen Rechte niederer Magistrate in seinem "Treatise of the cohabitation of the faithful with the unfaithful" in seinen Straßburger Vorlesungen bei, die 1555 herausgegeben wurden. Während dem Gemeinen Mann nur die Verweigerung von Befehlen gegen Gottes Gesetze, die Flucht oder das Märtyrium bliebe, besäßen niedere Magistraten ein Recht, den Herrscher, sei er nicht zum Verzicht auf den Rechtsbruch zu bewegen, an der Durchsetzung von Häresien mit Waffengewalt zu hindern. 12 Eine besonders einflußreiche, zugleich aber auch radikale und in zweierlei Hinsicht symptomatische Schrift war diejenige von Christopher Goodmann. Goodman bezog sich in seiner 1558 gedruckten und ursprünglich als Predigt in Genf entstandenen Schrift ,,How superiour powers ought to be obeyed of their subjects,,\3 allein auf die Heilige Schrift. Passiver Ungehorsam sei gegenüber Befehlen, die Gottes Wort entgegenständen, nicht genug. Die Pflicht zum Widerstand liege allerdings bei den niederen Magistraten. Sie seien - angefangen beim Adel bis hin zu den ,,Justices likewise in Townes and Cities, as Maieres, Shryffs, Bayliffs, Constables and all such inferiour officers,,14 jedoch allesamt "ordayned in their realrns to stande in defence of trewe religion, lawes and welth of their nation, and to be a shyld against their enemies in tyme of warre" .15 In England seien sie dieser Aufgabe, nämlich "to defende the simple and innocent, and to punish all transgressors and malefactors, blasphemous of God's Holy name, violent oppressors of innocentes, as be the bloodthirsty papists", nicht nachgekommen, sondern "are now become ministers of injustice, and tyranny, made tormentours of their owne naturall Countryemen, most blouddie butchers of their brethren, and merciless murtherers of the childe of God".16 Die Verpflichtung zur Durchsetzung von Gottes Geboten bliebe jedoch bestehen. Gehorsam gegenüber den Gott ungehorsamen Magistraten sei Ungehorsam gegen Gott, denn auch die höchsten irdischen Magistrate seien Gottes Untertanen. ,,He that commandeth the contrarie [zu Gottes Gesetzen, R.v.F.], is arebell. And
11
Ebd., S. 129-30.
12 Ebd., S. 130. \3 Christopher Goodmann, How superiour powers ought to be obeyed of their subjects and wherein they may lawfully by Gods Word be disobeyed and resisted, Genf 1558; vgl. Andrew Pettegree, The Marian Exiles and the Elizabethan settlement, in: ders., Marian Protestantism, S. 129-50, hier S. 146-9. 14 Goodmann, S. 35f. 15 Ebd., S. 35. 16 Ebd., S. 36.
I. Notwehr in England
103
he that obeyeth, likewise".17 In diesem Falle besäße das Volk keine Magistrate und müsse nach dem Vorbild des Volkes Israel handeln, welches ebenfalls, auch ohne Magistrate zu besitzen, an die Befolgung der Gebote Gottes gebunden gewesen sei und daher, wie im Buch der Richter 19-20 berichtet, "at what tyme they had no lawful Magistrate in all IsraelI notwithstanding rose up whollie together against the Tribe of Benjamin in Gabaa... and sayed or agreed amongest thernselves, that none should departe to their houses of tentes, before they were revenged of their owne brethren the Beniamites... not knowing when they came to the field who shulde be their govemor to leade the and geve the onset, before they had consulted with God, who appointed unto them Iuda. Here we do see the eleven tribes, to whom the Levite made his complaynt, in seniding ot every Tribe a portion of his wisse, did not excuse thernselves to shew justice, because they wanted a lawful magistrate to govem them, nor thought thernselves discharged for what were as sheep without a pastor: except they did thus arme thernselves againste the sonnes of Belial the ungoldy Beniamites to see the Iudgments of God executed according to his law to cut the evil from among thernselves." Ein Gemeinwesen unter einem Herrscher, der Gottes Gesetze breche, sei ohne jede Herrschaft. 18 Denn wer die Gesetze Gottes breche, sei kein Magistrat mehr und zu bestrafen wie jede "private person". 19 Goodman fixierte bei seiner Behandlung niederer Magistrate nicht nur Amtsträger, die wie beispielsweise die Constable in einer Landgemeinde, auch aus den ärmeren Schichten der Bevölkerung rekturiert wurden. Er nahm darüberhinaus eine ununterbrochene Befehlskette gegenüber dem Schöpfer an, die im Falle des Rechtsbruchs durch höhere und niedere Magistrate die Menschen zum Eintreten für Gott verpflichte und zu gewaltsamen Widerstand berechtige. Dieser vergleichsweise radikale Standpunkt ergab sich aus zwei Gründen, die zugleich zwei fundamentale Probleme der Notwehrargumenation in England im Vergleich zum Reich dokumentieren. Zum einen spiegelten zeitgenössische Beschreibungen der englischen Gesellschaft die Tatsache wider, daß sie im engeren Sinne kaum rechts- und herrschaftsständisch differenziert war. Einen eigenen Rechts- und Herrschaftsstand bildeten nur die Peers, der Hochadel (nobilitas maior), in dem sie als eigene Gruppe im Parlament als dem höchsten Gericht vertreten waren. Daneben gab es nur mehr die Commons, die Gemeinen, zu denen auch die nobilitas rninor zählte. Sir Thomas Srnith, Priester in der Kirche von England, Mitglied des Rates der Krone unter König Edward, wegen seiner Heirat durch Königin Maria seiner Ämter entkleidet, wurde 1562-66 Botschafter von Elisabeth in Frankreich und schrieb in dieser Zeit sein ,,oe Republica Anglorum. A
17
Ebd. S. 38,42, Zitat S. 44.
18
Ebd., S. 186-187.
19
Ebd., S. 188.
104
C. Notwehr und Widerstandsrecht in England und Schottland
discourse on the Commonwealth of England". Zurück in England wurde er erneut Mitglied des Kronrats und als Vertreter der Grafschaft Essex Mitglied des Parlaments. 20 In seiner Beschreibung Englands wandte er sich im ersten Buch der "division of the parts and persons" des Gemeinwesens zu. Dazu zählten zum einen die im House of Lords vertretenen Peers als nobilitas maior. Zum anderen waren das die Ritter und Besitzer von Herrenhäusern als nobilitas minor, die "Citizens and Burgesses" der Städte und die "Yeomen", Freibauern mit Lehnsbesitz direkt von der Krone. Adel, Freibauern und Stadtbürger waren im Parlament vertreten21 und wurden daher von Smith zu denjenigen "sorts of people" gezählt, die vermittelt am Regiment beteiligt seien. Die verbleibenden "capite censii proletariie or operae, day laborers, poore husbandman, yea marchantes or retailers which have no free land, copiholders and all artificers ... have no voice nor authoritie in our common wealth, and no account is made of them but onelie to be ruled, not to rule other." Freilich mußte Smith sogleich konzedieren, daß selbst diese Gruppe, dort wo keine Mitglieder der anderen Gruppen zur Verfügung ständen, das Amt des Constables, also eines niederen Magistrates, ausübe, obwohl es sich um die "fourth sort of men which doe not rule" handele?2 In dieser im Hinblick auf Besitz und Prestige hochdifferenzierten, aber rechtsund herrschaftsständisch kaum differenzierten englischen Gesellschaft gab es nicht die Möglichkeit, die Rede von ,,niederen Magistraten" in einem eingeschränkteren Sinne zu gebrauchen. Im Reich konnten damit Reichsstände gemeint sein, ohne Landstände mit einzubeziehen. Es konnten Landstände gemeint sein, ohne städtische Magistrate zu bezeichnen. Es konnte die Rede von städtischen Magistraten sein, ohne jeden Greben in einem Dorf zu benennen. Das Amt des Constables konnte in England jedoch, von Ort zu Ort verschieden, in der Tat jeder erwachsene und unbescholtene Haushaltsvorstand ausüben. Es mußte sich dabei nicht einmal um besonders wohlhabende Personen oder um Bauern mitfreehold - Landbesitz handeln?3
20 V gl. F. W Maitland, Preface, in: L. Alston (Hg.), Thornas Smith, De Republica Anglorum (1583), Cambridge 1906; vgl. auch Neal Wood, Foundation of Politiea! Economy: the New mora! philosophy of Sir Thornas Smith, in: Paul A. Fidelerff.F. Mayer (Hg.), Politica! Thought and the Tudor Commonwealth, London 1992, S. 140-168. 21 Zum Problem der Genese des Parlaments G. R. Elton, The Body of the Whole Realm: Parliament and Representation in Medieva! and Tudor England, in: ders., Studies in Tudor and Stuart Politics and Govemment Bd. 2, Cambridge 1974, S. 19-61; ders., Parliament in the Sixteenth Century: Functions and Fortunes, in: ders., Studies in Tudor and Stuart Polities and Govemment, Bd. 3, Cambridge, S. 156-182.
22
Smith, S. 28-46, Zitat S. 46.
Joan Kent, The English Village Constable, 1580-1642. A Socia! and Administrative Study, Oxford 1986; dies., The English Village Constable 1580-1642, in: Journal of British Studies 20 (1981), 26-49. 23
I. Notwehr in England
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Damit ist nicht die Tatsache einer schroffen sozialen Hierarchie in England geleugnet, an deren Spitze die Peers standen, in der alle Zeitgenossen peinlich genau auf "degrees" und soziale Abstände achteten und in der die Herrschaftspositionen der Krone, vom Dorfgreben bis zum Mitglied des Kronrates, nur Personen von entsprechendem "degree" zukommen durften. 24 Aber dabei handelte es sich nicht um Geburts- und Herrschaftsstände, in die der einzelne hineingeboren wurde und die mit rechtlich klar fixierten Herrschaftsprivilegien versehen waren. Nur einige wenige, unter besonderen Bedingungen äußerster Bedrohung zustandegekommene lutherische Argumente, in denen das Argument vom "Hausmannstand" im Rahmen der lutherischen Ständelehre entwickelt worden war, hatten auch dem Hausvater ein Notwehrrecht zugestanden. In England führte die geringe rechtsund herrschaftsständische Differenzierung der Gesellschaft dazu, daß schnell breiten Teilen der Bevölkerung ein Notwehrrecht zugebilligt werden mußte, wenn man ein solches überhaupt konzedieren wollte. Zum anderen standen die englischen Exulanten vor dem Problem, daß Krone und Parlament in England die katholische Restauration gemeinsam durchgeführt hatten und von ständischen Organen oder niederen Magistraten keine Hilfe für den Glauben zu erwarten war. Selbst für eine Tolerierung von Protestanten, so wie sie auch unter den Bedingungen des Augsburger Interrnims nicht völlig ausgeschlossen gewesen war - in Pommern war es beispielsweise nach 1547 daher zu Diskussionen über die Frage gekommen, ob man das Interim nicht annehmen könne war in England kein Platz. Märtyrium oder Flucht waren in der Tat die einzigen Alternativen zur Einordnung in die neue kirchliche Ordnung. Aus dieser Tatsache erklärt sich auch die Radikalität, mit der die Exulanten sich gegen höhere und niedere Magistrate wandten und bereit waren, ein Handeln des Volkes nach biblischem Vorbild ins Auge zu fassen. Diese Argumentation ergab sich als Ergebnis der verzweifelten politischen Lage im Kampf gegen Maria und gegen Rom, in der sich die englischen Protestanten befanden, nicht als positive Zueignung politischer Rechte an den Gemeinen Mann. Von dessen Rechten war im Einzelnen bei Goodman ja auch nicht die Rede. Eine weitere einflußreiche Variante der Argumentationen der Exulanten war der "Short Treatise of politic power and of the true Obedience which Subjects owe to Kings and other civil Governors with an exhortation to all true natural Englishmen" von lohn Ponet. Ponet war während der Regierungszeit Edward VI. (15471553) Bischof von Winchester geworden. Seine 1556 veröffentlichte Schrift war die elaborierteste Argumentation ihrer Art. Ponet ließ sich zunächst über die Ursprünge des weltlichen Gemeinwesens aus, dessen Ämter von Gott eingesetzt sei-
24 Vgl. Keith Wrightson, Aspects of Social Differentiation in Rural England., c. 1580-1660, in: Journal of Peasant Studies 5 (1978), 533-547; ders., The Social Order of Early Modem England: Three Approaches, in: Uoyd Bonfield (Hg.), The World We Have Gained: Histories ofPopulation and Social Structure, Oxford 1986, S. 177-202.
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en. Die als Magistrate handelnden Personen seien an die Göttlichen Gesetze und das Naturrecht gebunden. Diese Überlegungen verband er mit der älteren Vorstellung, England sei eine res publica mixta?5 Diese von Sir John Fortescue, seit 1442 für zwei Jahrzehnte oberster Richter des höchsten Common Law Gerichtes in England nach dem Parlament, der "Kings Bench", in seinem "The Governance of England" und "Oe Laudibus legum Angliae" fonnulierte These entstand im Zusammenhang mit der Krise der Lancaster-Monarchie in den 1440er Jahren. Fortescue verstand das Amt des Monarchen als öffentliches Amt, dessen Rechte jedoch zugleich als "dominium", als Eigentum, vererbbar sein könnten. Bei einer reinen Erbmonarchie handele es sich um ein politicum regale. Fortescue unterschied davon das dominium politicum, beispielsweise in den italienischen Stadtstaaten seiner eigenen Gegenwart. In England handele es sich aber um eine Mischfonn, eben ein dominium politicum et regale. Die Herrschaft der Könige in England sei ein dominium regale, weil strikt erblich. In England ließ sich daher an Argumentationsfiguren wie im Reich, die auf die Wahl des Monarchen und die bei der Wahl von ihm gemachten Versprechungen, die Wahlkapitualitionen, abhoben, nicht anknüpfen. Fortescue schloß demgegenüber möglicherweise an Argumente von Thomas von Aquin in den Summa Theologiae über die Unterscheidung des despoticus principatus - dessen Untertanen nichts ihr eigen nennen können - und des principatus politicus et regalis - dessen Untertanen selbst etwas rechtmäßig besitzen und auch verteidigen können, an. So sehr die königliche Herrschaft auch als erbliches dominium als privater Besitz zu verstehen sei, bei der Ausübung der königlichen Herrschaft komme eine größere Personenzahl in Betracht. Insbesondere bei der Steuererhebung, die schließlich den Besitz der Untertanen beträfe, und der Gesetzgebung sei das der Fall. Im dominium regale regiere der Monarch nach den von ihm gegebenen Gesetzen, im dominium politicum nach von den Bürgern gemachten Gesetzen. Fortescue sprach in diesem Zusammenhang von "cives" und dominium civile. Im Zusammenhang mit dem dominium politicum et regale spricht er statt dessen wieder von subditi, die als Teil der Korporation Gemeinwesen unter deren Haupt stehen, deren "primum vivens" gleichwohl die "intencio populi", deren Zweck die "provisionem politicam utilitatis populi" sei. Der König besitze die Macht, die Untertanen zu schützen, und er habe sie von den Untertanen zu diesem Zweck erhalten. 26 Solche Überlegungen waren in England trotz des Prestige- und Machtgewinns der Krone im Verlauf der Reformation nie völlig verlorengegangen. Eine Übersetzung von Marsilius von Paduas ,,Defensor Pacis" durch den englischen Humanisten William Marshall von 1535 parallelisierte das Königreich England an vielen Stellen mit den Verhältnissen eines Stadtstaates und folgerte, "The lawemaker or
25 Vgl. J. H Bums, Lordship, Kingship, and Empire. The Idea of Monarchy, 1400-1525,Oxford 1992, S. 59-70. 26
Ebd., S. 66-69.
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cheyfe and propre cause effectyue of the lawe is the people or the hole multytyde of cytezens inhabytauntes or elles the byggest parte of the sayde multytude, by theyr eleccyon oe wyll by wordes expressed in the general congegacyon parlymente or assembloe of the communes".27 Wo Marsilius in erster Linie nur dem "valentior pars" allgemein das Gesetzgebungsrecht eingeräumt hatte, übersetzte Marshali, "the human auctoryte of makynge lawes appertayn to the hole multytude of cytezens or communers or else to the bygger parte of them assembled in parlyment".28 Marshali betonte in seiner Übersetzung andererseits, daß das Parlament vom König einberufen und auch wieder entlassen werde und übertrug ihm eine Reihe weiterer Rechte?9 Mit seinem Hinweis auf die gesetzgeberische Vollmacht des Parlamentes, das seinerseits aber von der Krone durch deren Recht zur Einberufung und Auflösung abhängig blieb, reflektierte Marshali das komplexe Verhältnis zwischen Krone und Ständen, das sich mit der Reformation herausbildete, und in dem die Frage des genauen Umfangs der gesetzgeberischen Vollmacht der Krone bzw. der Stände bis in die 1560er Jahre keineswegs eindeutig beantwortet worden war?O Einerseits hatte die Krone durch die Reformation als neues Haupt der Kirche in England an Autorität und Einfluß gewonnen, andererseits war eben diese Reformation durch Statuten gesetzmäßig geworden, die das Parlament beschlossen hatte?1 Eine Auseinandersetzung zwischen Krone und Parlament lag nicht in der Perspektive Marshalls, sondern sein "concept of the common weal is that of an
27 William MarshalI, The Defence of Peace lately translated out of laten in to englysshe, 1535, fo!. 27v-28, zit. nach Shelley Lockwood, Marsilius of Padua and the Case for the Royal Ecc1esiastical Supremacy, in: Transactions of the Royal Historical Society I (1991), 89-119, S. 95. Zum Humanismus der politischen Ideen im England dieser Zeit vgl. Paul A. FidelerlTF. Mayer (Hg.), Political Thought and the Tudor Commonwealth, London 1992; Thomas F. Mayer, Thomas Starkey and the Commonweal. Humanist Politics and religion in the reign ofHenry VIII., Cambridge 1989. 28 MarshalI, fo!. 28, zit. nach Lockwood, S. 96. Bei Marsilius ist nur von ,,Legum lationis auctoritatem humanam ad solam civium universitatem aut eius valentiorem parem pertinere" die Rede, vg!. A. Gewirth, Marsilius of Padua: The Defender of the Peace [1324], New York 1951, S.46; vg!. zur kontroversen Deutung der Formulierung "valentior pars" Jürgen Lutz, Zur Struktur der Staatslehre des Marsilius von Padua im ersten Teil des Defensor Pacis, in: Zeitschrift rur historische Forschung 22 (1995), S. 371-86, hier S. 376-78; Cary J. Neder1l}an, Character and Community in the Defensor Pacis: Marsiglio of Padua's Adaption of Aristotelian Moral Psychology, in: History of Political Thought 13 (1992), S.377-390. 29
Vgl. MarshalI, fo!. 34v-35; Lockwood, S. 97,109.
Vgl. Robert v. Friedeburg, Die "Ordnungsgesetzgebung" Englands im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: M. Sto).leis (Hg.), Policey im Europa der FlÜhen Neuzeit (Sonderhefte der Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 83), Frankfurt 1996,575-603. 30
31
Vgl. Lockwood, S. 92.
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ordered hierarchical society in which ruler, officers and people must play their own part within limits set bay the law".32 Ponet nahm die Begrifflichkeit der res publica mixta wieder auf, um die Grenzen rechtmäßiger monarchischer Herrschaft in England zu bestimmen und von daher die Notwehrrnöglichkeiten auszuloten. "The one, who maye make positive lawes, because the hole state and body of their countrey have give, and resigned to them their authoritie so to doo: which nevetheless is rather to be compted a tiranne than a king ... And thother be suche, unto whom the people have not given suche authoritie but kepe it themselves: as we have before said cocerning the mixte state".33 Daraus folgte jedoch für Ponet noch nicht ein allgemeines Mitwirkungsrecht der Stände. Eine solche Diskussion sollte erst viel später beginnen. Im Hinblick auf "things indifferent" gestand er dem Monarchen sogar die Gesetzgebung aus eigener Machtvollkommenheit zu. "But in matters not indifferent, but godly and profitably ordayned" seien die Fürsten an ihre Pflicht gebunden, ihr Amt "to doo good" auszuüben. 34 Bräche der Fürst aber die Gesetze Gottes, werde er zum Tyrannen. Ponet unterschied dabei nicht zwischen dem Usurpator und dem rechtmäßigen Monarchen. 35 Der "evil governor" mache aus der Bevölkerung seine Beute und sei ein ,,monstre and cruel beast covered with the shape of a man .• .36 Das "law of nature to depose and punishe wicked gouvernors" sei sowohl in der Kirche als auch in "politike maters" in der Vergangenheit immer wieder zur Anwendung gekommen. Das Naturrecht erlaube die Vertreibung des Tyrannen vom Thron. Da dies durch die Kirche gegen tyrannische Päpste geschehen sei, müsse es auch für weltliche Gemeinwesen recht und billig sein. 37 Die Fürsten besäßen ihre Rechte vom Volk. Würden dieseRechte verletzt, erlaube "the law of nature ... to cutte away an incurable membre, which being suffred would destroy the whole body,,?8 Ein Recht der Selbstverteidigung des Einzelnen komme in der Regel nicht in Betracht. Gleichwohl konzedierte er, jedermann möge einen direkten göttlichen Befehl zur Gewaltanwendung erhalten haben, der diese rechtfertige, und erwähnte in diesem Zusammenhang den biblischen Phineas, der uns bereits bei Johannes Wiek begegnet ist und in der schottischen Debatte um ein Recht der Notwehr nach 1660 erneut in Erscheinung treten sollte. ,J think it cannot be maintained by GodS W ord that any private man may kill, except (where execution of just punishment upon tiranes, idolators and traitorous governors is either by the whole state utterly ne-
32
Lockwood, S. 92.
John Ponet, A shorte Treatise of Politike power, and of the true obedience with subjects owe to kings and other civil governors, Straßburg 1556, fol. BV-v. 34 Ebd. 33
35
Ebd., fol G I.
36
Ebd., G iii.
37 G iiii-v. 38
Ebd., G vff.
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glected, or the prince with the nobility and council conspire the subversion or alteration of their country and people) any private man may have some special commandment or surely proved motion of God: as moses had to kill the Egyptian, Phineas the Lecherous, and Abu, King Eglon, with such like: or be otherwise".39 Mit dem Regierungsantritt von Königin Elisabeth und dem ,,settlement" von 1559 kehrten die meisten protestantischen Exulanten zurück, um sich aktiv an der Gestaltung der neuen Kirche zu beteiligen. Nun war jedoch eine völlig neue Konstellation eingetreten. Königin Elisabeth betrachtete manche der Exulanten im Spiegel ihrer Schriften zum Widerstandsrecht, so neben John Knox auch Christopher Goodman, als gefährliche Glaubensgenossen. Ähnlich wie John Knox mit seinem ,,First Blast of Trumpet against the Monstrous Regiment of Women" von 155840 hatte Goodmann das monarchische Regiment von Frauen schlechthin angegriffen, um die Legitimität der katholischen Maria als Monarchin im Besonderen zu verunglimpfen. Frauen seien ,,not permitted by Civil policies in inferiour offices", und der Leser möge selbst entscheiden, ob sie dann als Monarchen taugen könnten. 41 Vor allem aber erschienen ihr Goodmans Ausführungen zur Berechtigung organisierter Gewaltanwendung einfacher Untertanen gegen ihre Obrigkeit als gefährlich. Robert Cecil meinte im Oktober 1559, "Of all others Knox's name, if it be not Goodman's, is most odious here". Goodmans Buch hatte schließlich zugleich alle Protestanten verunglimpft, die versucht hatten, unter Marias Herrschaft zu leben. Sein enger Kontakt zu Genf war überdies nur zu deutlich, nicht zuletzt weil seine Schrift dort publiziert worden war. Der Text des Buches war zunächst als Predigt in Genf gehalten worden. Weder Goodman noch andere Exulanten, die zum Umkreis von Genf und Goodman gezählt wurden, sollten Ämter in der Kirche von England erhalten. Der Name Calvin wurde in England bald mit Lehren identifiziert, die als in erster Linie gemeingefährlich für jedes Gemeinwesen verstanden wurden, auch und gerade für ein protestantisches Gemeinwesen. Andrew Pettegree hat diese Entwicklung als Mißverständnis bezeichnet, denn Calvin war keineswegs der Monarchomaeh, als der er in England aufgrund der spezifischen Angriffe auf Königin Maria von Genf aus durch Elisabeth verstanden wurde.42 Die Bereitschaft von Goodman und Ponet, die Möglichkeit eines völligen Fehlens von Magistraten und daher die Legitimität individueller Notwehr der Untertanen ins Auge zu fassen und die biblischen Beispiele für diese Situation - Phineas bei Ponet, das führerlose Volk Israel im Buch der Richter bei Goodman - reflektierten das weitgehende Fehlen von Appellationsinstanzen im Verlauf der Kon-
39
Ebd., G viii
40
James H Bums, The True Law ofMonarchy, Oxford 1996, S. 128-141.
41
Goodmann, S. 50.
Andrew Pettegree, The Marian Exiles and the Elizabethan settlement, in: ders., Marian Protestantism, S. 129-50, hier S. 146-9, Zitat S. 146. 42
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flikte um die Deutung des Bekenntnisses der Kirche von England. Diese Argumente mußten vielen Augen und Ohren jedoch gemeingefahrlieh erscheinen. Zum einen war Elisabeth selbst alles andere als der Meinung, ihre Herrschaft in England mit den Ständen teilen zu müssen - das Imperium war ihrer Meinung nach in ihrem alleinigen Besitz.43 Einzelne pro-protestantische Würdenträger wie Thomas Cartwright verteidigten zwar nach wie vor die res publica mixta als beste Form des Gemeinwesens. 44 Aber nachdem einmal der Verdacht der Beziehung solcher Behauptungen zur presbyterianischen Kritik an der Kirche hergestellt war, stellten sich die Proponenten der Kirche und des settlement gegen jede Relativierung des status quo und der Monarchie. 45 Zum anderen erschien die These des Handlungs- und Bestrafungsrechts auch durch das einfache Volk für Magistrate, die gegen Gottes Wort verstießen, selbst für kontinentale Verhältnisse vergleichsweise radikal und entsprach Außenseitern wie Wick aus Münster aus den frühen 1530er Jahren. Diese vermeintliche Radikalität ergab sich46 direkt aus der Lage der englischen Exulanten um die Mitte der 1550er Jahre. In der Tat gab es für sie in England keine niederen Magistrate, an die sie sich hätten wenden können, denn die englischen Stände kooperierten insgesamt mit Maria - ebenso wie sie mit Elisabeth kooperierten. Eine erfolgversprechende Fixierung eines ständischen Widerstandsrechts oder eines Notwehrrechts der Territorien kam für England nicht in Frage, weil es dort zum einen keine Territorien gab, zum anderen die Stände Englands mit dem Monarchen zusammenarbeiteten. Beide Problemkornplexe zusammengenommen, die Qualifizierung Englands als res publica mixta bzw. die Frage der Bedeutung dieser Formel bzw. der genauen Abgrenzung der monarchischen Gewalt und das Problem des Fehlens niederer Magistrate im Sinne der Reichsfürsten im Reich sollten das Problem des Widerstandsrechts in England entscheidend mit formen. In England leitete der Versuch, den Konfessionskonflikt auf dem Kontinent durch ein breites, vermittelndes Bekenntnis der Kirche von England zu beenden, in eine lang andauernde innerkirchliche Auseinandersetzung über die Natur der Kirche, des Bekenntnisses, der Organisation der Kirche, der Liturgie und der Verbindlichkeit bestimmter besonders kontroverser konfessioneller Themen, wie des Abendmahls und der Rechtfertigungslehre. Das Maß, in dem sich die Kirche von England tatsächlich als protestantisch, und sofern als protestantisch, dann in welchem Sinne, verstand, ist bis heute umstritten.47 Selbst wenn man davon ausgeht, 43 John Guy (Hg.), The Reign of Elizabeth I: Court and Culture in the Last Decade, Cambridge 1995. 44 V gl. Peter Lake, Anglicans or Puritans, London 1988, S. 55-56. 45 Vgl. zu Whitgift ebd., S. 62-64. 46 Vgl. hierzu Bowler, S. 135. 47 Nicholas Tyacke, Arrniniarism and English Culture, in: Duke, A.Cffamse, C.A. (Hg.), Britain and the Netherlands, vol. VII: Church and State since the Reformation. Den
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daß die Teilnahme offizieller Vertreter der Kirche von England an der Synode von Dordrecht in den Niederlanden ihre Zugehörigkeit zum reformierten Lager kennzeichnete, ist mit dieser Feststellung wenig gewonnen, denn es wurde gerade ein Signum der Konflikte um die Deutung des Bekenntnisses der Kirche in England, daß die sich herausbildende presbyterianische Reformgruppe innerhalb der Kirche, die eine Vollendung der Reformation in England durch die völlige Abschüttelung der in ihren Augen verbliebenen römisch-katholischen Merkmale der Kirche forderte, ihre Gegner als Papisten bekämpfte. Bis zu den 1580er Jahren, also unter dem Eindruck der unmittelbaren Bedrohung durch eine mögliche katholische Monarchie in England bei einem Thronantritt durch Maria Stuart von Schottland als legitimer Nachfolgerin von Elisabeth, blieb das Verhältnis zwischen den Verteidigern des "settlement" von 1559 und der Gruppe derjenigen, die nach einer Vollendung der Reform der Kirche riefen, gespannt, schlug aber noch nicht in offene Feindseligkeiten um. Nach 1588 zerschlug Elisabeth jedoch die presbyterianische Opposition. Statt dessen entwickelte sich in Dorf und Stadt eine teils geduldete, teils bereits verfolgte Subkultur der Frömmigkeit in den Zirkeln derer, die mit den gegebenen kirchlichen Verhältnissen nicht zufrieden waren. Je nach der Natur der religiösen Anschauungen lokaler und regionaler Magnaten mochten Städte und Gemeinden dabei völlig unter den Einfluß dieser Reformbewegung geraten, die eine "Reformation of Manners" und der Kirche in ihrem Einflußbereich, wenn schon nicht für ganz England, durchzusetzen suchte. Der verbliebene Konsens zwischen Reformern und Verteidigern der Kirche erodierte durch die Rezeption kontinentaler Konfessionskonflikte schließlich völlig. Besonders der holländische Theologe Arminius, selbst ein reformierter Protestant, aber im Zuge der Konflikte in den Niederlanden der Heterodoxie angeklagt und verurteilt, wurde bis zum Ende des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts in den Augen der Reformer zum Symbol gefährlicher Entwicklungen in der Kirche. Während sich der Protestantismus im Hinblick auf die reformierte Rechtfertigungslehre bis zum Ende des 16. Jahrhunderts weitgehend durchgesetzt hatte, blieben insbesondere spätere Entwicklungen der sogenannten Prädestinationslehre, so wie sie Beza im Anschluß an Calvin weiter formulierte, umstritten. In der Folge entwickelten sich daher innerhalb der einen Kirche von England einander zunehmend feindlich
Haag 1981,94-117; ders., Anti-Calvinists: The Rise of Anninianism, 1590-1640. Oxford 1987; Peter Lake, Presbyterianism, the Idea of aNational Church and the Argument from Divine Right, in: Lake, PeterlDowling, Mary (Hg.), Protestantism and the National Church in Sixteenth Century England, London 1987, 193-231; Bernard, George W, The Church ofEngiand c.1529-1642, in: History 75 (1990),185-206; Stephen Brachlow, The Communion of the Saints. Radical Puritan and Separatist Ecclesiology 1570-1625, Oxford 1988; Julian Davies, The Caroline Captivity of the English Church: Charles I. and the remoulding of Anglicanism 1625-1641, Oxford 1992; Peter Lake, Anglicans and Puritans? Presbyterianism and English Conformist Thought from Whitgift to Hooker, London 1988; Peter White, Predestination, Policy and Polemic. Conflict and Consensus in the English Church from the Reformation to the Civil War, Cambridge 1992.
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gegenüberstehende Frömmigkeitskulturen, die das Bekenntnis der Kirche unterschiedlich auslegten, sich gegenseitig mit Schimpfnamen wie "Puritaner" - für die Reformbewegung - oder ,,Anninianer" - für die vermeintlichen Anhänger von Arminius - befehdeten und deren Anhänger sich in Städten und Dörfern erbitterte Auseinandersetzungen um die Form der Gottesdienste, die Liturgie, die Kleidung der Priester der Kirche und die Form der Heiligung des Sonntags, um nur einige Konfliktfelder zu nennen, lieferten. 48 Gegen die vermeintlichen oder tatsächlichen Änderungen in der Kirchenpolitik vor allem unter König Karl I. (1625-49), besonders mit seiner Einsetzung von William Laud zum Bischof von London 1628 und dann zum Erzbischof von Canterbury 1633, begann die kirchengerichtliche Verfolgung derjenigen Prediger, die in vielen Gemeinden dem Wunsch der Gemeindeangehörigen nach mehr Predigt und weniger Liturgie entsprochen hatten. Zwischen den 1560er Jahren und dem Generalangriff von Erzbischof Laud auf seine puritanischen Gegner hatte sich eine, z.T. von der Führung der Kirche von England geduldete, Frömmigkeitskultur in Land und Stadt entwickelt, die es einerseits auf erbitterte Konflikte mit ihren Nachbarn um die Regelung des kirchlichen Lebens ankommen ließ, andererseits aber Unterstützung in allen Teilen der Bevölkerung, auch bei Adel und Gentry, fand. Lauds Angriff auf diese Kultur und sein Versuch einer Wiedervereinheitlichung der Frömmigkeitspraxen der Kirche - und dazu mußte auch die Verfolgung der puritanischen Prediger gehören - war in den Augen der ,,Puritaner" das Signal zur vermeintlichen Rekatholisierung der Kirche. Sie sahen sich einer apokalyptischen Bedrohung gegenüber, an der, wenn schon nicht der Monarch selbst, so doch seine katholische Gemahlin und zahlreiche Berater des Monarchen, so William Laud, Anteil hatten. Sie sahen sich ohne Rechtsbehelf dem Konfessionsgegner ausgeliefert. 49
48 V gl. zu dieser gesellschaftsgeschichtlichen Wende der englischen Kirchengeschichte Peter Lake, ,,A charitable Christian Hatred": The Godly and their enernies in the 1630s, in: Christopher DurstonlJaqueline Eales (Hg.), The Culture of English Puritanism, 1560-1700, London 1996, S. 145-183;, Patrick Col/inson, The Birthpangs of Protestant England. Religion and Cultural Change in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, New York 1988; ders., The "Second Reformation" in an English context, unpubl. ms., University of Cambridge October 2nd 1995, für die Tagung ,,Epochs of British History in a European Context: The Sixteenth Century"; ders., The Cohabitation of the Faithful with the Unfaithful, in: Oie Peter Grell/Jonathan I. IsraellNicholas Tyacke (Hg.), From Persecution to Toleration, Oxford 1991, S. 51-76; ders., Prom Iconoclasm to Iconophobia: The Cultural Impact of the Second Reformation, Reading 1986; Cust, Richard, Anti-Puritanism and Urban Polities: Charles I. and Great Yarmouth, in: Historieal Journal 35 (1992), 1-26; Foster, Stephen, The Long Argument: English Puritanism and the Shaping of New England Culture 1570-1700. Chapel Hill 1991; Robert v. Friedeburg, Sündenzucht und sozialer Wandel, Stuttgart 1993. 49 Vgl. entsprechend zum Aufbruch der Puritaner gegen diese Bedrohung seit den späten 1630er Jahren Wil/iam Hunt, The Puritan Moment. The Corning of Revolution in an English County. Cambridge (Mass.) 1983; Wil/iam M Lamont, The Puritan Revolution: a
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Dieser bis zu den späten 1630er Jahren polarisierte Konfessionskonflikt innerhalb der Kirche muß vor dem Hintergrund der englischen Verfassungslage verstanden werden. Die Kooperation der Stände bei der Reformation, der Marianischen Restauration und bei dem Elizabethan Settlement führte nicht zuletzt dazu, daß das Common Law, nach dem das Parlament die verschiedenen Schritte in der Veränderung der Kirche von England billigte, zum entscheidenden Recht in England wurde. 50 Damit geriet in die Auseinandersetzungen um die Natur der Kirche von England und ihr Bekenntnis die Frage nach den Organen, welche Statuten im Common Law rechtmäßig beschließen konnten, nach Personengruppen neben der Person des Monarchen, die rechtmäßig auch an ihrer statt handeln könnten und damit nach der Natur der gemischten Verfassung Englands. Diese für die Verfassungsgeschichte Englands klassische Frage ist lange im Hinblick darauf diskutiert worden, ob sich in England eine absolute Monarchie entwickelt habe oder nicht, die bis heute andauert. 51 Einig ist sich jedoch die Forschung, daß Elisabeths Position, Imperium alleine zu besitzen, nicht grundsätzlich der Tatsache widersprach, daß das Parlament zur Gesetzgebung und Besteuerung herangezogen wurde. Ohne deswegen am Ort der Majestätsrechte bei der Königin allein zu zweifeln, war es doch möglich, das Herrschaftshandeln als gebunden an bestimmte Kanäle, beispielsweise das Parlament, und gebunden an das Common Law zu begreifen. Kaum jemand hätte bezweifelt, daß der Monarch der Beratung bedurfte, offen war freilich, wer zu dieser Beratung bei welcher Gelegenheit und mit weIchen Verpflichtungen herangezogen werden sollte.52 Das Nachdenken über beratende Gremien neben dem Monarchen, die gegebenenfalls an seiner statt rechtmäßig handeln könnten - ein Kern der Problematik niederer Magistrate und ihrer Rechte - wurde bereits in der Krise der Jahre 1584/85 akut. Angesichts der Krankheit der protestantischen Monarchin und der vermeintlichen Pläne von katholischer Seite, Elisabeth zu ermorden - Wilhelm von Oranien war 1584 gerade erst nach zahlreichen gescheiterten Versuchen von einem katholischen Attentäter ermordet worden - planten die engsten Berater von Elisabeth, im Falle ihres Todes nicht auseinanderzutreten - wie es beim Tode des Monarchen bis zum Antritt des neuen Monarchen zu geschehen pflegte - sondern
historiographical essay, in: J. G. A. Pocock (ed.), The varieties of British political thought, 1500-1800, Cambridge 1993, S. 119-145. 50 G.R. E/ton, Lex Terrae Victix: The triumph of Parliament in the sixteenth century, in: D. M. Dean, N. L. Jones, Parliaments ofElizabethan England, Oxford 1990, 15-36. 51 Vgl. R W K Hinton, English Constitutional Theories from Sir John Fortescue to Sir John Eliot, in: English Historical Review LXXV (1960), S.41O-425; Corinne Comstock Weston, The Theory of Mixed Monarchy under Charles I and after, in: ebd., 426-43; Conrad RusseI/, The Theory ofTreason in the Trial of Strafford, in: ebd. LXXX (1965), S. 3048; Johann P. Sommervi//e, The Royal Suprernacy and Episcopacy 'Jure Divino' 16031640, in: Journal ofEcclesiastical History Bd. 34 (1983); G/enn Burgess, Absolute Monarchy and the Stuart Constitution, New Haven 1996. 52
Vgl. bereits Russel/, Treason, S. 37.
8 v. Friedeburg
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im Amt zu bleiben und mit dem Parlament die protestantische Erbfolge - auch gegen die Ansprüche der katholischen Maria von Schottland - durchzusetzen. Ihre Berater gingen dabei von einem "council of state", "great council" oder "grand council" aus, das die Regierungsgeschäfte auch nach dem Tode des Monarchen weiterführen könne. 53 Im Zusammenhang mit solchen Überlegungen wurde seit den 1580er Jahren zunehmend von einem englischen ,,state" oder "government" gesprochen, welches unabhängig von der Person des Monarchen existiere. Das Verhältnis zwischen der Person des Monarchen und den Ständen wurde seit dem Regierungsantritt Jakobs I. auch deswegen kontrovers diskutiert, weil König Jakob 1598, also noch vor seiner Übernahme des englischen Throns und mit Bezug auf die schottischen, nicht die englischen Verhältnisse, eine der bekanntesten Rechtfertigungsschriften absoluter Monarchie veröffentlicht hatte - also einer Monarchie, die wohl göttlichem und natürlichem Recht, nicht aber den Ständen verantwortlich sein sollte.54 Vor dem Hintergrund seiner schottischen Probleme, auf die unten weiter eingegangen wird, formulierte er die Idee einer von ständischer Kontrolle freien Monarchie. Übersetzt auf englische Verhältnisse konnte man das als Forderung nach der Be~ freiung der Monarchie von den unterschiedlich gewichteten und interpretierbaren Bahnen, in denen vom englischen Monarchen, selbst wenn er wie Elisabeth das Imperium allein für sich beanspruchte, erwartet wurde zu regieren, verstehen. Das mußte in England auf Verständnisprobleme stoßen.55 Gleichwohl darf deswegen nicht von einer tiefen politischen ideologischen Kluft zwischen König und Ständen ausgegangen werden. Wohl entwickelten sich aber seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts möglicherweise verschiedene Sprachen politisch-sozialer Kommunikation nebeneinander her, die, so lange jeweils an bestimmten Stellen gebraucht oder vermieden, in ihren Konzeptualisierungen monarchischer Macht wohl unterschiedliche Akzente setzten, aber keine unausräumbaren Differenzen zwischen Ständen und Krone oder gar Parlamentariern und Befiirwortern einer absoluten Monarchie spiegelten. 56 Diese Möglichkeit der Koexistenz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen in der Deutung des Verhältnisses zwischen Monarch und Ständen ergab sich nicht
53 Patrick Collinson, The Monarchical Republic of Queen Elisabeth I, in: Bulletin of the John Rylands Library 69 (1987), S. 394-424. S4 Jenny Wormald, James VI and I, Basilikon Doron and the Trew Law ofFree Monarchies: The Scottish Context and the English Translation, in: Linda Levy Peck (Hg.), The Mental World of the Jacobean Court, Cambridge 1991, S. 36-54. S5 ZU Schottland siehe weiter unten. Vgl. Wormald, James VI. S6 Vgl. Glenn Burgess, The Politics of the Ancient Constitution. An Introduction to English Political Thought, 1603-1642, London 1992; RonaldAsch, Das Common Law als Sprache und Nonn der politischen Kommunikation in England ca. 1590-1640, in: Heinz DuchhardtiGert Melville (Hg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln 1997, S. 103-136.
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zuletzt auch dadurch, daß die Unabhängigkeit der Monarchie nach außen und die Verteidigung der Unantastbarkeit des Monarchen und seiner persönlichen Sicherheit angesichts der Bedrohungen von außen ein wichtiges Ziel aller englischen Protestanten bleiben mußte. Angesichts vermeintlicher und tatsächlicher katholischer Attentatspläne - Jakob entging 1605 nur knapp einem Anschlag, in Frankreich gelang nur wenige Jahre später das Attentat auf den protestantenfreundlichen Monarchen Heinrich IV. - lag den Protestanten im Königreich.der Schutz des Lebens des Monarchen. - wie schon bei Elisabeth - und die Sicherung einer protestantischen Erbfolge am Herzen, nicht Theorien oder Begründungen, die das eine oder andere Ziel in irgendeiner Form gefaluden könnten. 57
Im Verlauf des persönlichen Regimentes Karls I. in den 1630er Jahren geriet jedoch nicht nur die königliche Kirchenpolitik, sondern seine Handhabung des Regimentes insgesamt in den Ruch, Englands Gesetzen zu widersprechen. Und bereits zu Beginn der Auseinandersetzungen um Karls Politik stellte sich heraus, wie schwierig die Rezeption deutscher Lösungen für die englischen Probleme sein sollte. Der englische Parlamentsabgeordnete Sir John Eliot stand zwischen 1626 und 1629 immer wieder im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen im Parlament und wurde schließlich zu einem Führer der Opposition gegen den Herzog von Buckingham, den Vertrauten Karls I. den dieser mit der Führung der englischen Politik beauftragt hatte. Im Verlauf einer besonders stünnischen Sitzung des Unterhauses, in der nicht zuletzt über das Recht des Monarchen zur Erhebung von Abgaben und die vermeintlich gefahrliche Rolle von Buckingham und Weston als Beratern des Monarchen gestritten wurde, hielten zwei Mitglieder des Unterhauses schließlich den Sprecher mit Gewalt auf seinem Stuhl fest. um die Fortsetzung der Sitzung zu ermöglichen. Eliot erschien erneut als Sprachrohr der Kritik an den Beratern des Königs und wurde in der Folge verhaftet. Da er sich weigerte, dem Privy Council Rede und Antwort zu stehen, weil seiner Ansicht nach allein das Parlament von ihm Rechenschaft verlangen könne, verblieb er bis zu seinem Tode im Jahre 1632 im Tower. 58 Während die ältere Forschung Eliot als Märtyrer des entstehenden Parlamentarismus und als Führer einer parlamentarischen Opposition mit dem Ziel der Durchsetzung parlamentarischer Souveränität deutete, hat die jüngere Forschung überzeugend nachgewiesen, daß es ihm nicht um eine Kritik an der Monarchie als Regimentsform oder an der Person des Monarchen ging, sondern tatsächlich um den Versuch, einzelne Berater des Monarchen zum Wohl der
57 Vgl. zur Diskussion der Zeit um den oath of allegiance Ronald G. Asch, No Bishop No King oder Cuius Regio Eius Religio. Die Deutung und Legitimation des fürstlichen Kirchenregimentes und ihre Implikationen für die Genese des ,,Absolutismus" in England und im Protestantischen Deutschland, in: Ronald G. AschlHeinz Duchhardt (Hg.), Der Absolutismus - ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550-17(0), Köln 1996, S. 79-123. 58
381. 8'
Vgl. Harold Hulme, The Life ofSir John Eliot (1592-1632), London 1957, S. 294-
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Monarchie und des Gemeinwesens zu entfernen, ein Versuch, der auch vor dem Hintergrund sich gegenseitig bekämpfender Faktionen in der Umgebung des Königs verstanden werden muß. 59 Das Interesse der historischen Forschung gewann Eliot aber nicht zuletzt dadurch, daß er während seiner Gefangenschaft eine Reihe staatstheoretischer Schriften verfaßte, die tatsächlich oder vermeintlich seine politischen Überzeugungen in allgemeiner Form wiedergaben. Für die Forschung blieb es daher, bedenkt man seine Rolle in den Auseinandersetzungen der späten 1620er Jahre, selbst wenn diese Rolle vor dem Hintergrund der jüngeren Forschung beurteilt wird, bis heute schwer verständlich, wie seine intensive Beschäftigung ausgerechnet mit Henning Amisaeus, dem ausgesprochenen Vertreter des Territorialabsolutismus im Reich, zu verstehen ist, dessen Werk "Oe Jure Maiestatis" Eliot verkürzt ins Englische übersetzte. In erster Linie ging es ihm wohl um den Versuch der Reflexion des Scheiterns seiner Bemühungen, den König von schlechtem Einfluß zu befreien, und um den Versuch, das bröckelnde englische Verfassungsgefüge von Grund auf zu begreifen, um seinem eigenen Scheitern nachzuspüren. Seit nach der Schlacht am Weißen Berge im Jahre 1620 das Schicksal der deutschen Protestanten zu einem der bedeutendsten Themen der englischen Politik und der Auseinandersetzungen um die Gestalt der Außenpolitik geworden war, kursierten Texte aus dem Reich ohnehin allerorten. Von Interesse muß hier jedoch in erster Linie sein, wie Eliot Amisaeus' Behandlung der Verteidigung des Vaterlandes übersetzte. 6O Die rund vierzig Seiten des fünften Kapitels im ersten Buch von Amisaeus' Abhandlung verkürzte Eliot, wie alle anderen Passagen, in der Abfolge der Argumente zwar im Wesentlichen dem Original folgend, auf knapp die Hälfte, Erläuterungen und Auseinandersetzungen Amisaeus' mit der gelehrten Diskussion weglassend. 61 Vor allem fehlte Eliotjedoch völlig das Bezugsraster von Amisaeus, der unter den Vasallen seines Kapitels in erster Linie die deutschen Reichsfürsten verstand und die Frage ihrer Treuepflicht gegenüber dem Kaiser als Lehensherren erörterte. Indem dieser Kontext bei Eliot wegfiel, zerbrach auch das kunstvolle Ar-
59 Vgl. noch den Untertitel der Biographie Hulmes "Struggle for Parliamentary Freedom". Zur Kritik an der Deutung Eliots als Vertreter parlamentarischer Souveränität vgl. bereits Charles Mcllwain, Whig Sovereignty and Real Sovereignty, in: ders., Constitutionalism and the changing world. Collected papers, Cambridge 1939, S. 61-85. Zur Bedeutung sich bekämpfender Faktionen vgl. J N. Ball, Sir John Eliot and Parliament 1624-1629, in: Kevin Sharpe (Hg.), Faction and Parliament, Oxford 1978, S. 173-207. 60 Vgl. hierzu beschreibend Hulme, Eliot, S. 374-380; McIlwain, Whig Sovereignty, S. 78f. wies als erster daraufhin, es handle sich um eine Übersetzung von Amisaeus. 61 Ich danke an dieser Stelle John Morrill und Jonathan Scott, Cambridge, für Anregungen und Kritik zur Frage der Amisaeus-Rezeption von Eliot. Die Frage, in welchem Maß nicht nur die divergierende verfassungsrechtliche und erfahrungsgeschichtliche Ausgangslage zu diesem Ergebnis führte, sondern auch die Hinzufügung von Verweisen auf Cicero, der für Eliot eine maßgebende Autorität für die politische Ethik dargstellte, kann hier nicht erörtert werden.
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gumentationsgefüge von Arnisaeus. Ihm war es in diesem fünften Kapitel zu denjenigen, "qui feuda a manu Domini recipiunt" nicht zuletzt darum gegangen, mit der Formel ,,Patria praefertur patri" die Pflichten der Vasallen ihrem Vaterland gegenüber noch über die Treuepflichten gegenüber dem Lehensherren, also dem Kaiser, zu stellen. An einen Widerstand der Repräsentanten des Gemeinwesens als gegenüber dem Fürsten handlungsflihige Vertreter einer von ihm unabhängig gedachten Herrschaftsordnung, wie etwa bei Althusius, war dabei gerade nicht gedacht. 62 In der Übersetzung von Eliot wird aus der Pflicht der Vasallen, also bei Arnisaeus der Reichsfürsten gegenüber ihren Vaterländern, also ihren Territorien, jedoch die Pflicht aller Bürger gegenüber ihrem Vaterland. ,,An Oath of a vassall to his Lord doth not binde him against conscience, Religion, his Countrey or himself' faßte Eliot Amisaeus' Argumentation stark raffend zusanunen und schrieb weiter: ,,Noe fidelity by covenant can be so sacred that it should be preferred before the piety that is due to ones Countrey ... and a Vasall may in many cases renounce his lord; but a subject may never forsake his country which we must love above parents and ourselves.,,63 Aus den Fürsten als Vasallen gegenüber dem Kaiser waren die Untertanen als dem Monarchen verpflichteter Personenkreis geworden - möglicherweise hatte Eliot die Debatte um den Oath of Allegiance gegenüber Jakob I. im Auge, als er Amisaeus' Passagen las - , aus der Abwägung der Treuepflicht der Reichsfürsten gegenüber dem Kaiser als Lehensherren im Reich und ihrer Pflicht gegenüber ihrem Vaterland als einem von vielen Territorien im Reich war eine Abwägung der Pflichten der Untertanen gegenüber dem Fürsten selbst geworden. Amisaeus' Argumentation war, wenn auch verkürzend und z.T. mißverständlich, insgesamt aber durchaus um richtiges Verstehen bemüht übersetzt worden. Aufgrund der Verpflanzung in einen ganz anderen verfassungsrechtlichen Kontext und die Hinzufügung von Hinweisen auf Cicero, wo bei Arnisaeus keine gewesen waren, war sie jedoch ihrem Sinn nach in ihr Gegenteil verkehrt worden. In England ließ sich, im Gegensatz zum Reich, eine eigene Ebene territorialer Loyalität zur Bändigung der Gefahren des Widerstandsrechts eben nicht einziehen. Das sollte sich auch während der Verschärfung der Konflikte mit Kari!. bis in die 1640er Jahre hinein zeigen. Es kann hier nicht der Ort sein, die komplexe Verlaufsgeschichte bis zur Einberufung der Milizen durch das Parlament und dem Beginn des Bürgerkrieges 1642
62 Arnisaeus, De Jure Maiestatis, c. V; vgl. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus, S. 340-344.
63 Sir John Eliot, De Jure Maiestatis: or Political Treatise of Government (16281630), hrsg. und eingeleitet v. Alexander Balloch Grosart, London 1882, S. 44. Ich danke Angus Stewart, National Library, Edinburgh, Scotland, Keeper of the Library, für seine Unterstützung bei der Beschaffung des in England Werkes von Arnisaeus und von Eliot zur vergleichenden Bearbeitung.
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nachzuerzählen. 64 Karll. beendete die Auseinandersetzungen mit seinen Ständen, die im Konflikt mit Eliot einen Höhepunkt gefunden hatten, indem er während der 1630er Jahre versuchte, ohne erneute Einberufung des Parlaments zu regieren. Die militärischen Siege der Schotten in ihrem Widerstand gegen die Kirchenpolitik Karls I. in den Jahren 1639 und 1640 zwangen Karl zur Wiedereinberufung des Parlamentes. Er hatte es nach der ersten Niederlage gegen die Schotten bereits im April 1640 einberufen, aufgrund der Forderungen des Parlamentes, nicht zuletzt in der Kirchenpolitik, aber bereits im Mai desselben Jahres wieder entlassen. Das neUe Lange Parlament versteifte sich jedoch auf die älteren Forderungen und erweiterte seinen Forderungskatalog sogar beträchtlich. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Karll. und diesem Lang Parliament beschloß das Parlament zunächst die Anklage gegen Berater des Königs, die für die im Königreich zwischen Monarch und Volk bestehenden Unstimmigkeiten verantwortlich seien, indem sie Monarch und Bevölkerung, repräsentiert durch die Stände, versucht hätten, gegeneinander aufzubringen. Im Mai 1641 wurden Sir Thomas Wentworth, Earl of Strafford, und im Januar 1645, bereits nach Ausbruch des Bürgerkrieges, William Laud, der frühere Erzbischof von Canterbury und vermeintliche Hauptinitiator der von Schotten und englischer Opposition so erbittert bekämpften Kirchenpolitik65 , zwei der wichtigsten Berater des Königs, hingerichtet. 66 Auch im Reich konnte es, jedenfalls in Ausnahmesituationen, zu vergleichbaren Strafmaßnahmen gegen die Berater des Fürsten kommen. Die Stände in der Landgrafschaft Hessen-Kassel warfen dem Kanzler des Landgrafen Moritz, Dr. Günther, vor, den Fürsten hintergangen und Unfrieden im Land gesäht zu haben. Ähnlich wie dem englischen Parlament die Siege der Schotten gegen den König sie zwangen erst zu seiner wiederholten Einberufung - zur Hilfe kamen, profitierten die hessischen Stände von der Niederlage von Moritz gegen die Liga unter Tilly. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen um die Reichweite und den offensiven Charakter der von Moritz geführte Außenpolitik und um die von ihm 1605
64 Forschungsüberblicke John Morrill, The Nature of the English Revolution, London 1993; Hugh Trevor Roper (Lord Dacre ofGlanton), The Continuity of the English Revolution, in: Transactions ofthe Royal Historical Society, sixth series, I (1991), S.121-135; Conrad Russel/, The Causes of the English Civil War, Oxford 1990; Ann Hughes, The Causes ofthe English Civil War, London 1991; deutsche Forschungsüberblicke bei Ronald G. Asch, Triumph des Revisionismus oder Rückkehr zum Paradigma der bürgerlichen Revolution?, in: Zeitschrift für historische Forschung 22 (1995), S. 523-540; Eckhart Hellmuth, Die englische Revolution in revisionistischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 441-454; Peter Wende, Probleme der englischen Revolution, Darmstadt 1980.
65 Vgl. H.R. McAdoo, The Structure of Caroline Moral Theology, London 1949; vgl. zu Jakob Kenneth FinchamlPeter Lake, The Ecclesiastical Policy of King James 1., in: Journal of British Studies 24 (1985), S. 169-207; Julian Davies, The Caroline Captivity of the English Church. Charles I and the Remoulding of Anglicanism 1625-1641, Oxford 1992. 66
RusselI, Treason, S. 33.
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vor allem gegen den Widerstand des Adels in Ober- und Osthessen erzwungene Zweite Reformation der Landgrafschaft fand Tilly Landgraf und Stände als erbitterte Gegner vor. Bereits zwischen 1623 und 1625 verhandelten die Stände unabhängig von dem Landgrafen mit Tilly. Nach dem Abzug Tillys fiel Moritz noch einmal für kurze Zeit die Entscheidungsgewalt im Lande zu. Der Konflikt mit dem Adel verschärfte sich. Die erneute Besetzung Hessens durch die Truppen der Liga nach dem Sieg Tillys bei Lutter 1626 zwang Moritz dann zum Rücktritt und zur Übergabe des Regiments an seinen Sohn Wilhe1m. Mit Kanzler Günther, dem Exponenten der in den Augen der Stände verfehlten offensiven Außen- und teuren Militärpolitik von Landgraf Moritz, rechneten die Stände unmittelbar nach dem Verzicht von Moritz 1627/28 ab. Sie machten ihm den Prozeß, richteten ihn hin und besiegelten damit ihren Sieg über die von ihnen längst abgelehnte Politik des alten Landgrafen. Die konfessionellen Auseinandersetzungen und die Konflikte um die Prägung der Außenpolitik zwischen Ständen und Fürst wurden also nicht zuletzt als Kritik an den Beratern des Fürsten geführt. Die Besetzung des Landes durch Tilly und der Verzicht Moritz' enthob den Adel weiterer Überlegungen, wie gegen Moritz vorgegangen werden müsse. Der Gemeine Mann kam daher nur im Rahmen der Rhetorik vom Vaterland und der Notwendigkeit seiner Verteidigung vor. Noch nach dem Sieg Tillys bei Lutter versuchte Moritz 1626, die Untertanen zum Widerstand gegen die Truppen der Liga aufzurufen. Die hessischen Ritter bezogen sich in ihren Eingaben auf den Grundsatz, "salus populi supremo lex esto" und suchten sich damit gegen die in ihren Augen das Land nur in Kriegswirren stürzende verfehlte Politik Moritz zu wehren. Es wäre ein Desiderat der Forschung, nach den verfassungsrechtlichen Vorstellungen zu fragen, die den Adel dazu führten, auf eigene Faust und an dem Fürsten vorbei mit Tilly zu beraten, ein Verhalten, das Günther dem Adel als Hochverrat vorwarf - ein Vorwurf, der ihm in seinem Prozeß die Anklage einbrachte, das Verhältnis von Volk und Fürst untergraben zu haben. 67 Sowohl Hintergrund als auch unmittelbarer Ausgangspunkt der Enwicklung zum Bürgerkrieg in England markierten ebenfalls Bedrohungen von außen, durch die der Fürst unter finanziellen und machtpolitischen Druck geriet. Das waren der erfolgreiche Widerstand gegyn seine Kirchenpolitik in Schottland seit der Mitte der 1630er Jahre, kulminierend im erfolgreichen militärischen Widerstand der
67 Volker Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567-1655), in: Walter Heinemeyer (Hg.), Das Werden Hessens, Marburg 1986, S. 267-331; W Grotefend, Der Prozeß des Landgräflichen Raths Dr. Wolfgang Günther (1627-1628), in: Hessenland 12 (1898), S.226-8, 270-2, 288-90, 298-301; Holger Thomas Gräf, Konfession und internationales System. Die Außenpolitik Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter, Darmstadt 1993; Gunter Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung. Das Landesdefensionswerk in Hessen-Kassel unter Landgraf Moritz (1592-1627), Darmstadt 1973; W L. Keim, Wilhelm von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolph 1631, in: Hessisches Jahrbuch fur Landesgeschichte 12 (1962), S. 130-210; 13 (1963), S. 141-210.
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Schotten der Jahre 1639-40, und der Aufstand in Irland, von dem seit Herbst 1641 Greuelnachrichten in London eintrafen. Mit den Schotten standen Mitglieder der Opposition im Parlament auf eigene Faust in Verbindung, gegen die Bedrohung aus Irland sollte das Parlament schließlich auf eigene Faust handeln. Zu einer erneuten Auflösung des Parlamentes durch den König kam es auch aufgrund der Kämpfe in Irland nicht. Nachdem auch der Versuch der Säuberung des Parlamentes von oppositionellen Mitgliedern Anfang Januar 1642 gescheitert war, verließ der König im selben Monat London. Die Verfechter einer energischen Politik gegen König Karll. griffen nun auf Argumente zurück, die, wie schon 1584/85, um die Rechte von Beratern der Krone kreisten, an Stelle des Königs rechtmäßig handeln zu können, wenn eine besondere Notsituation sofortiges Handeln erfordere, der Monarch dazu aber nicht in der Lage sei. Das Parlament verstand sich nun als der große Rat der Krone - im Gegensatz zum Privy Council der Krone - der im Falle einer Krankheit, Abwesenheit oder sonstigen Verhinderung des Monarchen die Regierungsgeschäfte, gerade auch in einer akuten Bedrohungssituation, fortzuführen habe. Die akute Bedrohung lag wegen der Kampfhandlungen nicht zuletzt in Irland, den vermeintlichen Massakern an den dort lebenden protestantischen Engländern und der vermeintlichen Gefahr einer Landung der katholischen Iren in England. 68 Die ersten Befehle zur Aushebung von Milizen - zur Bekämpfung der Anhänger Karls I. - wurden als Befehle des Großen Rates des Königs ausgegeben. Das dazu verwendete Instrument der ordinance bedurfte nicht des großen königlichen Siegels. Die parlamentarische Konstruktion ruhte auf der Verteidigung des Gemeinwesens in einem unmittelbaren, akuten Notfall, in dem der Monarch, aus welchem Grund auch immer, nicht sofort selbst zum Schutz des Gemeinwesens eingreifen könne. Freilich, selbst wenn dem Parlament diese Rolle zugekommen wäre, zum Zeitpunkt der Aufnahme der Kampfhandlungen war ein großer Teil der Mitglieder der Lords und der Commons auf die Seite der Krone gewechselt, die in London verbliebenen Mitglieder des Parlamentes repräsentierten also kaum mehr Lords und Commons, geschweige wären sie im Rahmen des gegebenen Rechts zur Führung von Krieg im Namen des Gemeinwesens berechtigt gewesen. Die Notwehr des Gemeinwesens und die Fiktion des Parlamentes als großem Rat des Königs machten eine Theorie des ständischen Widerstands im Rahmen einer ständischen Teilhabe am Imperium zunächst überflüssig. Die Argumentationsfigur mit dem besonderen und akuten Notfall, der zur Verteidigung des gegebenen Rechts besondere Maßnahmen rechtfertige, war das Fundament der Argumentati-
68 Nicholas Canny, The Attempted Anglicisation of Ireland in the Seventeenth Century: An Exemplar ofBritish History, in: Ronald G. Asch (Hg.), Three Nations - A Common History, Bochum 1993, S. 49-82.
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on des Parlamentes. 69 Sofern sich die in London verbleibenden Mitglieder des Parlamentes, die dieses nach wie vor zu repräsentieren vorgaben, eines ständischen Widerstandsrechts bedienten, richtete sich dieses gegen tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen des Gemeinwesens - beispielsweise durch den irischen Aufstand - und nicht gegen die Person des Monarchen. Diese Notstandsargumentation des Parlamentes leitete in den "parlamentarischen Absolutismus" des Bürgerkriegs über, mit dem das Parlament, oder was von ihm übrig geblieben war, sich über zahlreiche der Beschränkungen der Regierung des Landes, die zuvor als Teil der alten Verfassung Englands zum verteidigungswerten Gut erklärt worden waren, hinwegsetzte, um den Bürgerkrieg führen zu können. 7o In der pamphletistischen Auseinandersetzung zwischen Monarch und Parlament in London bemühte sich Karl., diese Vorgehensweise selbst bei großzügigster Auslegung der englischen Verfassung als res publica mixta als Verfassungsbruch zu entlarven. In seiner Antwort auf die "nineteen propositions" des Parlamentes stellte er sich, die Lords und die Commons gleichberechtigt nebeneinander anstatt, wie bisher üblich, den Monarchen deutlich über die beiden anderen Stände zu heben. Selbst unter dieser Voraussetzung sei ein einseitiges Handeins von Lords und Commons ohne seine Zustimmung jedoch ein Bruch der alten Verfassung Englands. Auf der Seite des Parlamentes ließ sich dem schlechterdings nichts entgegenhalten außer der im Verlauf der Krieges an Glaubwürdigkeit verlierenden Doktrin, daß das Parlament den Krieg nicht gegen den König, sondern im Namen des Königs zur Verteidigung des Gemeinwesens fiihre. 71 Es bestand jedoch weder eine legitime Alternative zur Monarchie noch, schlimmer für die Gegner von Charles, eine legitime Alternative zur Person des Monarchen als Anwärter auf den Thron, denn sein Titel auf diesen Thron war schlechterdings unbestreitbar. Die Auseinandersetzungen nicht erst nach 1642, sondern bereits seit den 1620er Jahren und Eliots wütenden Angriffen auf Bukkingham, waren daher zwar letztlich ein Kampf um die Bekenntnisse der Kirche von England und Schottland, unmittelbar aber auch ein Streit um den Zugang und die Kontrolle des Monarchen, dessen Rolle als Haupt des Gemeinwesens, wie 69 Zur Ubiquität der Rede von Notwehr und Selbstverteidigung vgl. Margaret Samson, Laxity and Uberty in Seventeenth Century English Thought, in: E. Leites (Hg.), Conscience and Casuistry in Early Modem Europe, Cambridge 1988, S.72-118, hier 106-14; Condren, Uberty ofOffice, 475-81. 70 Michael Mendle, The Great Council of Parliament and the First Ordinances: The Constitutional Theory of the Civil War, in: Journal of British Studies 31 (1992), S. 133162; ders., Parliamentary Sovereignty: a very English absolutism, in: Nicholas PhillipsonlQuentin Skinner (Hg.), Political Discourse in Early Modem Europe, Cambridge 1993, S. 97-119; ConradRussell, The Causes ofthe English Civil War, Oxford 1990, S. 130-3. 71 Hans Werner Lohneis, Necessity und die ererbte Verfassung: Der Spielraum konservativer Ideen in der englischen Revolution bis 1649, Nürnberg 1969; Richard Tuck, Philosophy and Govemment, 1572-1651, Carnbridge 1993; David L. Smith, Constitutional Royalism and the Search for Settlement, c. 1640-1649, Cambridge 1994, S. 2-11.
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C. Notwehr und Widerstandsrecht in England und Schottland
immer auch definiert, nicht erschüttert werden konnte und sollte. Der Bürgerkrieg wurde daher auch um die Säuberung des Hofes des Monarchen von vermeintlich schlechten Beratern geführt. Solche Ziele mündeten schließlich in Pläne eines vom Parlament kontrollierten Hofes, in dem, je problematischer das Verhältnis zu Charles wurde, dem König kaum ein eigener Handlungsspielraum bleiben konnte. 72
In diesen Zusammenhang gehörte auch die wütende Kritik an seiner katholischen Frau. Erst nachdem der Briefwechsel Karls mit ausländischen Mächten und seine darin geäußerten Bitten um Unterstützung von außen nach der Niederlage bei Naseby am 14. Juni 1645 in die Hand seiner Gegner fielen, begann sich die Pamphletistik des Parlamentes auch direkt gegen den König zu wenden. 73 Der Prozeß wegen Hochverrat gegen ihn und seine Hinrichtung blieben aber das Werk einer kleinen Minderheit. 74 Der Bürgerkrieg kennzeichnete das Scheitern der Verrechtlichung des Konfliktes um die Bekenntnissse der Kirche in England und Schottland und den Versuch, das Übereinkommen zwischen Monarch und Ständen letztlich auf Konsens zu gründen. Die Rückkehr zur Monarchie der Stuarts 1660 kennzeichnete das Scheitern der Resultate dieses ersten Scheitems7s , nicht unbedingt den Sieg einer bestimmten ideologischen Position über eine andere. Zwar fand sich in den Pamphleten zur Verteidigung des Parlaments zwischen 1642 und 1645 die Behauptung, die Souveränitätsrechte lägen letztlich beim Gemeinwesen und nicht bei der Person des Monarchen. Daraus leitete sich schließlich auch das vermeintliche Recht des Parlamentes ab, in besonderen Situationen auch an Stelle des Monarchen zu handeln. 76 Die Charakterisierung der parlamentarischen Seite als Umstürzler mit religiösen Vorwänden und geHihrlichen Ideen über die Herleitung aller souveränen Macht beim Gemeinwesen war andererseits ein zentraler Zug der
72 Vgl. Ronald G. Asch, The Politics of Access. Hofstruktur und Herrschaft in England unter den flühen Stuarts, 1603-1642, in: Wemer Paravicini (Hg.), Alltag bei Hofe, Sigmaringen 1995, S. 243-266. 73
Char/es Carlton, Charles I. The Personal Monarch, London 1983, S. 289.
J.G.A. Pocock, Interregnum and Restoration, in: ders. (Hg.), The varieties of British political thoughts, 1500-1800, S. 146-179, Cambridge 1993; zur Differenzierung der Hinrichtung des Königs als Bestrafung eines Tyrannen - ohne notwendig die Überlegenheit der Regierungsform eines Freistaates über die einer Monarchie zu implizieren - und der Theorie eines Freistaates als besserer Alternative zur Monarchie schlechthin vgl. Sarah Barber, Regicide and Republicanism. Politics and Ethics in the English Revolution, 1646-1659, Edinburgh 1998. 74
75 Zum Problem der Qualifizierung der Monarchie als Erb- oder Wahlmonarchie vgl. Howard Nenner, The Right to Be King. The Succession to the Crown of England 16031714, London 1995, S. 95f. zur Festigung des Prinzips der Erbmonarchie in England.
76 lohn Sanderson, 'But the Peoples Creatures'. The Philosophical Basis of the English Civil War, Manchester 1989; ders., Conrad Russell's Ideas, in: History of Political Thought XIV (1993), S. 85-102.
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royalistischen Gegenpropaganda. In der "I..arge Declaration concerning the late Tumults in Scotland" von 1639 wurde von Charles die Vorstellung, daß "all sovereign power was originally in the collective Body of the people" als ein Ursprung des Zwists im Gemeinwesen angegriffen. Und in der Tat zeigte sich darin für Charles die bereits von seinem Vater während seiner Regierungszeit in Schottland, nachdem seine Mutter von den Anhängern der presbyterianischen Kirche aus Schottland vertrieben worden und er als Kind zum Spielball adliger Cliquen geworden war, angegriffene Doktrin, daß die souveränen Rechte ursprünglich beim Volke lägen. 77 Jakob selbst hatte sich mit seinem "True Law of Free Monarchies" von 1598 und seinem eigens für seinen Sohn Henry - den älteren und dann verstorbenen Bruder von Charles - geschriebenen Lehrbuch Basilikon Doron von 1599 gegen die in seinen Augen verderblichen Folgen solcher Theorien gewandt, wie sie ihm gegenüber durch den von den Ständen zu seinem Lehrer bestimmten Monarchomachen James Buchanan vertreten worden waren?8 Es gab also bestimmte Punkte, an denen parlamentarische und royalistische Propaganda bei der Situierung der Souveränitätsrechte unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Aber selbst wo James Buchanan die Absetzung der Mutter von Jakob und Großmutter von Charles, der schottischen Königin Maria, gefordert und begründet hatte, sein Werk war keine Theorie einer Alternative zur monarchischen Herrschaftsordnung im Allgemeinen oder zur Legitimität der Erbmonarchie in Schottland oder England im Besonderen.79 Jakobs schottische und Charles schottische und englische Gegner mochten die Souveränitätsrechte zwar letztlich beim Gemeinwesen situieren, um damit in Not- und Ausnahrnesituationen eine Handhabe der Repräsentanten des Gemeinwesens - neben dem Monarchen auch die Stände zu konstruieren und besonders in den Konfessionskonflikten der Zeit den wahren Glauben zu verteidigen. 8o Sie der Propagierung einer Alternative zur Monarchie oder gar der Unterwühlung der Herrschaftsordnung zu bezichtigen, war jedoch in erster Linie politische Propaganda - wenn auch eine Propaganda, an die Jakob und Charles, schon angesichts der dramatischen Erfahrungen des Sturzes von Maria und des Bürgerkrieges aus je eigenen Gründen, selbst geglaubt haben dürften. 81
77 Vgl. Sanderson, Russells Ideas, S. 98. 78 Vgl. Wormald, James VI and I. 79 Vgl. James Henderson Bums, The True Law of Kingship. Concepts of Monarchy in Early Modem ScotIand, Oxford 1996, S. 128. 80 Zum Zusammenhang zwischen dem Repräsentativcharakter des Parlamentes für das Gemeinwesen und dem Handlungsrecht im Notfall schon Margaret A. Judson, The Crisis ofthe Constitution, New Brunswick 1949, S. 226. 81 Vgl. zur schottischen Situation und zum schottischen Widerstandsrecht unten und weiter Robert v. Friedeburg, From collective representation to the right of individual defence: James Steuart's Ius Populi Vindicatum and the use of Johannes Althusius' Politica in Restoration ScotIand, in: History of European Ideas, 24 (1998), 19-42; ders., Reichsverfassung und der Wandel des Widerstandsrechts vom reichsständischen Privileg zum Natur-
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Bezeichnend für die Situation in England und Schottland war jedoch weniger die Hilfskonstruktion der Souveränitätsrechte beim Gemeinwesen, sondern daß im selben Jahrzehnt, in dem sich in Brandenburg der Kurfürst mit dem Hinweis auf die necessitas und die Bedrohung von außen - durch die Schweden in Pommern gegen die Stände in der Frage des Truppenerhalts und ihrer Geldleistungen durchsetzte82 , necessitas in England zum Argumentationshaushalt der Stände wurde. Strukturell lag dieser Entwicklung die Entpersönlichung des Amtes der Krone zugrunde. Im Krieg der Pamphlete spiegelte sie den Zwang, ohne einen Angriff auf die Monarchie oder den Monarchen die Verteidigung oder Durchsetzung bestimmter kirchenpolitischer Ziele auch gegen den Fürst durchzusetzen. Allein die Argumentation mit der Notwehr, vor allem gegen einen vermeintlichen äußeren Feind, ermöglichte es, ohne in Fragestellung der Stellung des Monarchen die organisierte Gewaltansendung gegen ihn in der Praxis gegenüber der Bevölkerung zu begründen. 83 Diese Verbindung von Notwehrargument und Repräsentation des Gemeinwesens durch das Parlament wurde bereits im Verlauf der Anklagen gegen Strafford formuliert84 und durch Henry Parker, einen der wichtigsten Pamphletisten auf parlamentarischer Seite, theoretisch ausformuliert. 85 Henry Parkers "Observations" vom Juli 1642 befaßten sich mit der Antwort von Charles auf die Nineteen Propositions und mußten es sich zur Aufgabe machen, die Position des Parlamentes, ohne die Mitwirkung des Monarchen rechtmäßige Handlungsfähigkeit zu beanspruchen, zu verteidigen, nachdem Charles mit seiner Antwort auf die Nineteen Propositions zum eigentlichen Vertreter der Gesetze des Landes und besonders der Idee der res publica mixta geworden war. Der König sei "singulis maior", aber "universis minor". Die Souveränitätsrechte lägen zunächst beim Gemeinwesen und seien an die Magistrate nur delegiert. Der König habe sich insbesondere durch seinen Krönungseid auf den Schutz des Gemeinwesens verpflichtet. Das Wohl des Gemeinwesens, "salus populi", sei zugleich das höchste Gesetz jedes Gemeinwesens. Die Sorge um dieses Wohlergehen sei dem König aufgetragen, zugleich jedoch dem Parlament, das nicht zu beraten, sondern auch zuzustimmen habe. "We say here that to consent is more than
recht des Individuums: Die Politica des Johannes Althusius und ihre schottische Rezeption, in: Luise Schom-Schütte (Hg.), Strukturen des politischen Denkens in der Frühen Neuzeit (Beihefte der Historischen Zeitschrift), München 1999. 82 Christoph Fürbringer , Necessitas und Libertas. Staatsbildung und Landstände im 17. Jahrhundert in Brandenburg, Frankfurt 1985.
83 Zur Zurückhaltung gegenüber der Person des Monarchen vgl. besonders John Morrill, Charles I, Tyranny and the English Civil War, in: ders., The Nature ofthe English Revolution, London 1993, S. 285-306. 84
Lohneis, Necessity, S. 160.
Vgl. Henry Parker, Observations upon some of his rnajesties Late Answers and Expresses, in: Howard Erskine-Hill, Graham Storey (Hg.), Revolutionary Prose of the English Civil War, Cambridge 1983, S. 35-63; vgl. Mendle, Parker, S. 71-136. 85
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to counsel, and not yet always as much as to command and control". In vielen Gemeinwesen gäbe es ,.Ephori, Tribuni, curatores ... to poise against the scale of sovereignty ... That princes rnay not be now beyond all limits and Laws, nor left to be tried upon those limits and Laws by any private parties, the whole community in its underived majesty shall convene to do justice, and that this convention may not be without intelligence, certain times and places and forms shall be appointed for its reglement...by virtue of election and representation, a few shall act for many, the wise shall consenst for the sirnple ... and the prudence of some shall redound to all. ,,86 Parkers Hinweis auf die formalen Voraussetzung dieser das Gemeinwesen repräsentierenden Versammlung kennzeichnen die Form der Repräsentation deutlich als die der Identitätsrepräsentation. 87 Unter bestimmten formalen Voraussetzungen ihrer Versammlung konnte eine kleine Gruppe das Gemeinwesen als Ganzes vorstellen, eS sein, und damit auch über dem höchsten Magistrat stehen, auch Wenn dieser nach wie vor über jedem einzelnen Mitglied des Gemeinwesens - bzw. jedem einzelnen Mitglied der Versammlung - stand. Parker kombinierte diese Vorstellung vom Parlament - ohne König - als Gemeinwesen mit dem Naturrecht der Notwehr, das sogar jedem "private man" zustehe. 88 Wo dieser flüchten könne, habe ein Gemeinwesen diese Möglichkeit nicht. In Anbetracht der Bedrohung durch die "bloody hands as have done such diabolical exploits in Ireland" bleibe dem Parlament kein Weg als sein Naturrecht der Notwehr zu gebrauchen. 89 Parker verteidigte sich explizit gegen den Vorwurf Charles, die einseitIge Handlungsweise des Parlamentes liefere das Land demselben Chaos aus, wie es die Stadt Münster durch die Täufer erlebt habe. 90 Parker ist für dieses Argument durchaus empfänglich, denn er hielt den Gedanken der Notwendigkeit einer Herrschaftsordnung aufrecht. 91 Der Vorwurf prallte aber an seiner Vorstellung der Identitätsrepresentation des Gemeinwesens durch das Parlament ab. Das Gemeinwesen gehöre sich selbst und habe Autorität über sich selbst so wie jedermann sich selbst gehöre und über sich Macht habe. Nur wenn die Macht des Gemeinwesens
86
Parker, Observations, in: ebd., S. 37,38,41,46,47.
Hasso Hofmann, Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: Der Staat 27 (1988), S. 523-45. 87
88
Parker, Observations, S. 48.
89
Ebd., S. 48-49.
90
Ebd., S. 56.
Ebd., S. 45: "Without society men could not live, and without laws men could not be sociable, and without authority somewhere invested, to judge according to Law, and execute according to judgement, Law was a vain and void thing ...Man being depraved by the fall of Adam grew so untame and uncivil a creature, that the law of God written in his breast was not sufficient to restain him from mischief..., and therefore without some rnagistracy to provide new orders, and to judge of old, and to execute according to justice, no society could be upheld." 91
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über sich einem oder wenigen anvertraut sei. herrsche Gefahr. Aber "Parliament is neither one nor few. it is indeed the state itself'. also das zur Herrschaftsordnung inkorporierte Gemeinwesen. 92 Mit dem Argument der Identitätsrepräsentation war jedoch nur der .. vermeintliche - Nachweis der Rechtmäßigkeit der Selbstverteidigung des englischen Gemeinwesens durch die Londoner Versammlung im Notwehrfall erbracht. Reichweite und Anwendung dieses Notwehrfalls. vor allem im Hinblick auf die geltenden Gesetze. waren nicht disb.tiert. Nachdem Anhänger Karls I. Henry Parker der Verteidigung der Rechtsbruche des Parlamentes beschuldigt hatten. da er die Kriegfiihrung des Parlamentes in London ohne Zustimmung des Monarchen zu verteidigen gesucht hatte. antwortete Parker im Januar 1643 mit einer de facto Verteidigung der parlamentarischen Herrschaft als über dem Recht stehender Notstandsdiktatur. deren Räson er in der Verteidigung des Staates sah. Die Staatsräson breche jedes Recht. In seinem "Contra Replicant. his Complaint to His Majestie" vom Januar 1643 behauptete er. weder König noch Parlament seien an Gesetze und Präzedenzfalle in jedem Fall gebunden .• ,But both have better Rules if they will not deceive them, which are. to direct all by the interest of State (which is never accusable of Injustice) and by Equitie...Laws ayme at Justice. Reason of state airnes at safety; Law secures one subject from another. Laws protect subjects from insolence of Princes. and the Prince trom sedition of Subjects ... ; but Reason of State goes beyond all particular forms and pacts. and looks rather to the being. than well being of a state.... by Emergent Counsels. and unwritten resolutions. Reason of State is something more sublime and imperiali than Law: It may be rightly said. that the statesman begins where the Lawyer ceaseth. for when warre has silenced Law. as it often does; Policy is to be observed as the only true Law. a kind of dictatorial power ist to be allowed to her; whatsoever has any right to defend itself in time of danger is to resort to policy instead of Law. To deny to Parliament recourse to reason of state in these miserable times of warre and danger. is to deny them self defence. ,,93 Parker schrieb der Ständeversammlung in London. oder vielmehr. was davon übriggeblieben war. die Ausübung des Notwehrrechts der Selbstverteidigung zu. das andere Rechte breche. In der Auseinandersetzung zwischen dem Landgrafen Moritz von Hessen Kassel und seinen Rittern beanspruchten diese die Deutung des Grundsatzes "salus populi sumpremum lex esto" ebenfalls für sich. Aber in den Verhandlungen zwischen den Ständen der Mark Brandenburg und dem Kurfürsten
92
Ebd .• S. 56.
93 Henry Parker. "Contra Replicant. bis Complaint to His Majestie". zit. nach Margaret Atwood Judson. Henry Parker and the Theory of Parliarnentary Sovereignty. in: Essays in History and Political Theory in Honour of Charles Howard Mcllwain. Cambridge 1936. S. 138-67. hier S. 156f.
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war es der Fürst, der für sich rechtmäßige Herrschaftsausübung im Notstand für den "status publicus" beanspruchte. 94 Aufgrund der kontroversen Publizität seiner Thesen und Parkers Versuch, die Maßnahmen des Parlamentes im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Gemeinwesens zu rechtfertigen, eignen sich seine Ausführungen von 1642/43 auf den ersten Blick zu einem direkten Vergleich mit Althusius' Politica von 1614, also nach ihrer mehrfachen Überarbeitung während der Auseinandersetzung zwischen Emden und seinem Landesherren·. Dabei fällt jedoch nicht nur der erheblich gelehrtere Duktus von Althusius auf. Die Souveränitätsrechte lagen ebenso wie bei Althusius beim zur Herrschaftsordnung inkorporierten Gemeinwesen, das durch eingerichtete Gremien, sofern sie unter bestimmten Bedingungen handelten, vertreten und verteidigt werden konnte. Diese Verteidigung war bei Althusius jedoch als Teil der Rechtsordnung des Gemeinwesens konzipiert. In diese Rechtsordnung waren die Ephoren von vorneherein eingebaut. Althusius weist an den entsprechenden Stellen explizit darauf hin, dabei handele es sich im Reich um die Reichsstände, besonders die Kurfürsten. Bei Parker bleibt die Bestimmung, wer genau unter weIchen Bedingungen das Parlament sei, was das Wohl des Volkes sei und wann sich ein Notzustand ergebe, der die Verteidigung des Gemeinwesens erzwinge und es erlaube, das Recht zu brechen, erheblich unklarer als bei Althusius. Während Althusius durch seine genaueren Ausführungen den Notfall - nämlich den Verlust des höchsten Magistrats - als Möglichkeit in das geltende Recht im Rahmen der Rechte der Ephoren einbaute, dadurch bändigte und die Herrschaft der Gesetze gegen ihre Außerkraftsetzung im Notfall rettete, blieb der Notfall bei Parker ein nicht eingegrenzter Zustand, in dem alle regulären verfassungsrechtIichen Mechanismen, so auch die Teilung der Souveränitätsrechte in der res publica mixta, aufgehoben werden und an das Gemeinwesen zurückfallen. Im Notstand übt das Gemeinwesen daher wieder alle Gewalt, die es vor der Übergabe von Rechten an Magistrate besaß, selbst - und das heißt, angesichts von Parkers eindeutigem Ausschluß der Handlungsfähigkeit einzelner Untertanen - durch das Parlament als Gemeinwesen aus. Im Gegensatz zu Althusius' Ephoren - also vor allem den Reichsständen - als Organ des Gemeinwesens im Rahmen seines geltenden Rechts spricht Parker dem Parlament als Gemeinwesen ein Notwehrrecht als Naturrecht zu und sucht sich damit gegen den Vorwurf zu wehren, das Parlament sei ohne den König handlungsunfähig. Das alte Recht ist damit als Argumentationsgrundlage verlassen. Die Verteidigung des salus populi erlaube laut Parker auch die Übertretung der geltenden Rechte, denn die seien nicht für den Notfall geschrieben. 95 Althusius hatte sich in seiner Politica um die Zähmung des
94 Christoph Fürbringer, Necessitas und Libertas. Staatsbildung und Landstände im 17. lahrhundertin Brandenburg, Frankfurt 1985, S. 118-22, S. 16lf. 95 Vgl. auch Lohneis, S. 90; zur korrespondierenden Entwicklung des Begriffs des "Tyrannen" in der englischen Diskussion vgl. Peter Glenn Burgess. Usurpers, Tyrants, and the
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Notfalls zugunsten einer Herrschaft des Rechts bemüht. Bei Parker ließ die Notstandsdiskussion jede Rücksicht auf das alte Recht fahren. Für die theoretische Konzeptualisierung der neuen Lage wurde überdies die prekäre Rolle des Parlamentes zu einem immer größeren Problem. Der Presbyterianer George Lawson übernahm in seiner 1657 geschriebenen und 1660 veröffentlichten Politica Sacra et Civilis die Unterscheidung von maiestas personalis und maiestas realis aus der deutschen Diskussion, um die Rechte von Gemeinwesen und Magistraten abzugrenzen. Das Gemeinwesen setze ein Regiment ein, seine Mitglieder seien diesem Regiment jedoch als Untertanen unterworfen. 96 Er schloß ebenso wie der schottische Theoretiker Samuel Rutherford ein Handeln einzelner aus. 97 George Lawson geriet jedoch in konzeptionelle Probleme bei der Unterscheidung des Parlamentes als Repräsentant des Gemeinwesens im Sinne der Identitätsrepräsentation und seiner Einordnung als Magistratur im Rahmen der gemischten Verfassung Englands, die im Verlauf der Kämpfe untergegangen war. Das "ambivalent understanding of representation", das Conal Condren in Lawsons Behandlung der Problematik von maiestas rea/is und maiestas persona/is feststellte98, folgt aus dem Problem, wer das Gemeinwesen in seiner Rolle als Inhaber der maiestas rea/is repräsentiere. Für Lawson war die maiestas rea/is im Besitz der "whoie community,,99, die "personal majesty... [sei]. .. fixed in some persons who are trusted with the exercise of it", wie beispielsweise das Parlament. 1OO An anderer Stelle identifizierte er jedoch das Parlament, wie zuvor Parker, mit dem Gemeinwesen selbst, "the people [making use] of such an assembly as a parliament, to alter the former government...".IOI Lawson besaß keine klare Unterscheidung des Parlamentes als Identitätsrepresentation des Gemeinwesens und des Parlaments als oberster Magistratur im Sinne der representatio potestatis in der gemischten Verfassung Englands, in der in der Tat das Parlament als Versammlung von Ständen und Monarch als höchster Magistrat verstanden werden konnte.
Problem of Resistance and Obedience: Some Aspects of the Theory of Tyranny in England 1642-1656, M.A. Dissertation, Victoria-Universitaet, Neuseeland, 1984.. 96 George Lawson, Politica Sacra et Civilis (1657/60), hrsg. von Conal Con