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German Pages 202 [204] Year 1996
»Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land«
zeithorizonte Studien zu Theorien und Perspektiven der Europäischen Ethnologie Schriften des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin Herausgegeben von Wolfgang Kaschuba, Rolf Lindner, Peter Niedermüller
Der Herausgeber Rolf Lindner, Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Arbeitsschwerpunkte: Alltags- und Subkulturforschung, Stadtethnologie, Cultural Studies. Projektgruppe Ruth Alexander, Alexa Färber, Sonja Finkbeiner, Alexa Geisthövel, Victoria Hegner, Elke Hetscher, Susanne Kühne, Rolf Lindner, Esther Sabelus, Jens Schley, Ute Siebert, Norbert Steigerwald, Anette Vogelsberg, Katharina Weber, Antonia Weisz.
Rolf Lindner (Hg.)
»Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land« Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik
Ruth Alexander, Alexa Färber, Sonja Finkbeiner, Alexa Geisthövel, Victoria Hegner, Elke Hetscher, Rolf Lindner, Esther Sabelus, Ute Siebert, Norbert Steigerwald, Anette Vogelsberg, Katharina Weber, Antonia Weisz
Akademie Verlag
D e r Haupttitel ist ein Zitat von Maria Sicgmund-Schultze
Die Deutsche Bibliothek - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e »Wer in den O s t e n geht, geht in ein anderes Land« : die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich u n d Weimarer Republik / hrsg. von Rolf Lindner. Berlin : Akad. Verl., 1997 (Zeithorizonte) I S B N 3-05-003065-8 N E : Lindner, Rolf [Hrsg.]
© Akademie Verlag G m b H , Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen N o r m A N S I Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen N o r m ISO T C 46. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner F o r m - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Redaktion: Alexa Färber, Esther Sabelus, Berlin Satz: Christian Rüter, Berlin Belichtung und Repro: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin D r u c k : G A M Media G m b H , Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai G m b H , Berlin Umschlaggestaltung: H a n s Herschelmann, Berlin Printed in the Federal Republic of G e r m a n y
Inhalt
Einleitung
I.
Besucher, Bote, Nachbar Zur Geschichte der Liebesarbeit aus dem Geiste der Mission Vom Besucher zum Nachbarn Eine kurze Passage durch die Geschichte der Liebesarbeit Rolf Lindner
„Menschenfischer" Uber die Parallelen von innerer und äußerer Mission um 1900 Alexa Geisthövel / Ute Siebert / Sonja Finkbeiner
II. Settlements als Außenposten der Zivilisation Toynbee Hall in London Katharina Weber
Hull-House in Chicago Ruth Alexander
III. „Im dunklen Berlin" Arbeit und Leben in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost Die Anfänge der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost Rolf Lindner
6
Inhalt
Gefahr und Gefährdung Arbeiterjugendliche um 1900 im Blick bürgerlicher Jugenderzieher
95
Esther Sabelus
Der Knabenklub oder „Wenn wir wirklich die Führung des Lebens dieser Jungen in die Hand bekommen [...] wollen, dann müssen wir unsere Vereine so organisieren, wie es die Jungen selbst tun würden." 109 Victoria Hegner
Vergnügen versus Freude? Die Suche nach einer gemeinsamen Festkultur
129
Alexa Färber
Die Suche nach der Metapher
149
Victoria Hegner
Großstadtdrama Die S A G und das Kino
153
Antonia Weisz
Wenzel Holek
161
Annette Vogelsberg
Die Kaffeeklappe der S A G
179
Elke Hetscher / Norbert Steigerwald
Quellen- und Literaturnachweis
193
Dank
Die Rekonstruktion des Innenlebens von Institutionen ist auf die Zeugenschaft von Zeitgenossen angewiesen. Daher sind wir Frau Kühnemann, Frau Mintier und Herrn Schön besonders dankbar, daß sie ihre Erinnerungen an die Zeit als Klubmitglieder der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost mit uns geteilt haben. Zu danken haben wir auch den Mitarbeitern des Evangelischen Zentralarchivs, Herrn Grundhoff, Herrn Dr. Künzel und Frau Mokroß, für ihre Hilfe, ihr Verständnis und ihr Geduld. Das gilt, last not least, auch für den Leiter des Archivs, Herrn Dr. Sander, der uns die Abdruckerlaubnis für Dokumente und Abbildungen gegeben hat, die diese Studie entscheidend bereichern.
Berliner Jungens. o j .
Einleitung
Berlin-Friedrichshain um 1911. Eine Gegend, die dem Fremden wenig Interessantes bietet, wie es im Reiseführer heißt, eine Gegend geprägt von Mietshäusern und Industriebauten. Brauereien, Gas- und Glühlampenproduzenten, Maschinenfabriken haben hier ihren Platz, am Rande des Bezirks ist der zentrale Vieh- und Schlachthof gelegen. Eine Drehscheibe des Verkehrs bildet der Schlesische Bahnhof, dessen N a m e bereits verrät, woher die Reisenden kommen und wohin die Reise geht. Vornehmlich ärmliche und bedürftige Reisende, die die N o t nach Berlin treibt. Landarbeiter, die ihr Glück in der Fabrik versuchen; Auswanderer, die in Berlin Station machen und häufig hängenbleiben; Saisonkräfte aus Polen für die mecklenburgischen und pommerschen Güter; junge Frauen und Mädchen, die eine Anstellung als Dienstmädchen suchen; politische Flüchtlinge. In diese Gegend ziehen im Oktober 1911 ein Pfarrer mit seiner Frau und seiner Schwester sowie einer kleinen Gruppe von Studenten, um „im dunkelsten Berlin" ihr „ L a g e r " aufzuschlagen, wie es 1912 in einem ersten Bericht in der Zeitschrift „Die innere Mission im evangelischen Deutschland" heißt. Diese „Avantgarde" bildet den Kern des Settlements, einer „Niederlassung Gebildeter inmitten der armen und arbeitenden Bevölkerung", wie die zeitgenössische Umschreibung der englischen Bezeichnung lautet. Damit wird ein sozialpolitisches Modell aus dem Viktorianischen England auf das Wilhelminische Deutschland übertragen, das eine sich räumlich ausformende gesellschaftliche Kluft zur Voraussetzung hat, die sich in der geläufi-
gen Rede von zwei Nationen/zwei Völkern innerhalb einer Nation/eines Volkes wiederfindet. Dessen selbstgestellte Aufgaben bestanden darin, die Verhältnisse der armen und arbeitenden Klassen zu studieren, soziale Hilfsdienste zu leisten und vor allem durch Teilnahme am Leben der Armen die Klassengegensätze zu überbrücken. Auf den ersten Blick scheint das Settlementwesen als Thema der Europäischen Ethnologie ein wenig spröde und, durchaus im doppelten Wortsinne, abwegig zu sein. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, daß sich schwerlich ein Thema finden läßt, das derart unmittelbar ins Herz eines sich der vergleichenden Untersuchung von Kulturen in modernen Gesellschaften widmenden Faches führt, als die Betrachtung einer Institution, die ihre Besonderheit daraus zieht, daß sie einen Kulturkontakt zwischen „ H o c h " und „Niedrig", „Besitzenden" und „Besitzlosen", „Gebildeten" und „Ungebildeten" herzustellen sucht. Wie in einem Labor - und als ein solches soziales ist das Settlement ja durchaus zu begreifen - treffen die Kulturen aufeinander und lösen Reaktionen der Zuordnung und Abgrenzung, der Zustimmung und Ablehnung aus, ein Katalysator auch von Affekten und Emotionen, von Anschauungsweisen und Weltbildern. In einem solchen Feld verdichten sich zentrale Fragestellungen der Europäischen Ethnologie: das Verhältnis von politischer Geschichte und Alltagsgeschichte, die Auseinandersetzung zwischen Bildungskultur und Popularkultur, Kulturkontakt und Kulturwandel, Kultivierung als Missionierung und die Kolonisierung von Lebenswelten. Diese und viele andere Themen lassen
10 sich anhand einer historischen Anthropologie des Settlementwesens auf anschauliche und exemplarische Weise erörtern. Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines mehrsemestrigen Studienprojekts am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Ausgangspunkt des Projekts war die Tatsache, daß die „Soziale Arbeitsgemeinschaft BerlinO s t " (SAG), wie die Bezeichnung des Berliner Settlements lautete, ihr Lager zunächst in der Friedenstraße im Bezirk Friedrichshain aufgeschlagen hatte, eben dort, wo auch unser Institut bis vor knapp einem Jahr zuhause war. Die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte und Alltagsrealität einer Institution, die in Deutschland erstaunlich wenig bekannt ist, konnte so aufs glücklichste mit einem traditionellen Aufgabengebiet der Volkskunde, der Heimatkunde, verbunden werden. Die ethnographische Erkundung des Kiezes ging mit der archivalischen und biographischen Rekonstruktion einer Institution einher, die in besonderer Weise die räumliche und geistige Trennung der sozialen Klassen gerade durch den Versuch ihrer Uberwindung zum Ausdruck bringt. Dabei interessierte uns vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die S A G in der Zeit des Wilhelminischen Berlins, gewissermaßen die Aufbruch- und Aufbauphase des Settlements, weil hier, im Erstkontakt der Kulturen, die unterschiedlichen Anschauungsweisen und Verhaltensmuster, Haltungen und Werte, Interessen und Vorstellungen deutlich hervortreten und zum Problem werden. In dieser Phase ist auch noch ein relativ ungebrochener ,Missionierungsgeist' auf seiten der SAG-Mitarbeiter spürbar, der in der Weimarer Zeit zunehmend einer pragmatischen Einstellung, die Settlementtätigkeit als Sozialarbeit zu begreifen, oder aber einer explizit politischen Haltung wich. Die H o f f n u n g jedenfalls, daß das Settlement den Keim einer „Volksgemeinschaft ohne Klassenhaß" bilden könnte, erwies sich mehr und mehr als illusorisch. Es liegt auf der Hand, daß eine Einrichtung wie die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost nur vor dem Hintergrund ihrer historischen Wurzeln und im Vergleich mit verwandten Bestrebungen und Institutionen in ihrer Besonderheit verstanden wer-
Einleitung den kann. Im 19. Jahrhundert dominierte ein Diskurs über die „innere Barbarei", die innerhalb der unteren Stände herrscht. N o c h 1896, im Angesicht der „Existenz und weite[n] Herrschaft der Socialdemokratie", schlug der Soziologe und Ethnologe Alfred Vierkandt in seiner Abhandlung „Naturvölker und Kulturvölker" die „unteren Stände der Volkskultur" aufgrund der ihnen angeblich eigenen Sorglosigkeit, inneren Unstetigkeit und Zusammenhanglosigkeit des ganzen Lebens, inklusive des „üppigen Fortwuchern[s] der Generationen außerhalb und vor der Ehe", auf die Seite der Naturvölker. Gerade vom Standpunkt der Ethnologie erschien es uns als nützlich, einen wenn auch notwendigerweise knappen Vergleich zwischen äußerer (oder: Heiden-) und innerer Mission im 19. Jahrhundert anzustellen. Daraus wurde deutlich, daß der koloniale Diskurs über den ,Wilden' im Viktorianischen England nicht zu trennen ist von der binnenkolonialen Rede von den armen und arbeitenden Klassen: Das „dunkelste L o n d o n " figuriert als eine heimische Variante des „dunkelsten Afrika". Entdeckungsreisenden gleich, begaben sich die Emissäre bürgerlicher Kultur in die Dickichte der Städte, um Außenposten der Zivilisation zu errichten; der Titel unserer Studie „Wer in den Osten geht, geht in ein anderes L a n d " , den wir einem Arbeitsprotokoll der S A G entnommen haben, spiegelt diese Perspektive wider. Zwei der berühmtesten Außenposten stellen wir hier vor, um einen interkulturellen Vergleich zu ermöglichen: Toynbee Hall in London, 1884 gegründet und damit das älteste Settlement der Welt, und Hull H o u s e in Chicago, 1889 gegründet von Jane Addams, der Friedensnobelpreisträgerin von 1931. Den Mittelpunkt unserer Arbeit bildet freilich die Darstellung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, dem ersten (und mit einer gewissen Berechtigung auch einzigen) Settlement in Deutschland. Damit wird ein faszinierendes, bislang wenig bekanntes Kapitel der Kulturgeschichte Berlins aufgeschlagen. Der Leser gewinnt einen sinnlichen Eindruck von der räumlichen und gedanklichen Separation der sozialen Klassen im Wilhelminischen Berlin. Er kann sich hineinversetzen in die Siedler, die sich, Entdekkungsreisenden gleich, ins „dunkelste Berlin" bege-
Einleitung ben, um durch ihr Beispiel zur Versöhnung z w i schen den antagonistischen sozialen Klassen beizutragen. Er lernt die Deutungsmuster und Vorstellungsbilder der ,Missionare' kennen, die sich zur geistigen und moralischen Führung des proletarischen Ostens berufen fühlen, zugleich aber selber ,Suchende' sind, die ihre bürgerliche Begrenztheit verspüren. Und er gewinnt einen Eindruck von den unterschiedlichen Vorstellungen, die Siedler einerseits und ,Indigene' andererseits von Gemeinschaft und Solidarität ebenso wie von Spaß und Vergnügen hegen. Den Kern der Settlementtätigkeit bildete das sogenannte Klubwesen, das deshalb auch in unserer Darstellung im Mittelpunkt steht. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wurde in Form von Klubs durchgeführt, da darin eine altersadäquate, quasi natürliche Gesellungseinheit gesehen wurde. In dieser Organisationsform deutet sich ein grundlegendes Prinzip der zivilisierenden' Tätigkeit der Settlementmitarbeiter an: das Prinzip der Substitution bzw. des Surrogats. Generell wurde, und darin ist das besondere Zivilisierungskonzept der SAG zu sehen, an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen angeknüpft und ein Ersatz für die „richtige" Sache geboten: statt ,Bande' ,Klub', statt ,Schundhefte' ,Abenteuerliteratur', statt ,Rummelplatz' ,Volksfest', statt ,Tanzboden' ,Volkstanzkreis', statt ,Kneipe' ,Kaffeeklappe'. N u r für das ,Kino' scheint es keinen rechten Ersatz gege-
11 ben zu haben. Daß sich gerade in dem Surrogatcharakter des Angebots die Crux des ganzen Unternehmens offenbarte, zeigt sich daran, daß es zum entscheidenden Filter hinsichtlich des Adressatenkreises wurde. Erreicht wurden die, die erreicht werden wollten, bzw. jene, denen die Teilnahme durch die Eltern nahegelegt wurde. Diesen zum Teil sehr treuen Klubmitgliedern hat die Zeit in der SAG viel gegeben und Perspektiven kultureller wie sozialer Art eröffnet, die ihnen sonst wohl verschlossen geblieben wären. Jene aber, die über das Settlement eigentlich erreicht werden sollten, entzogen sich ihm. Der Klub war in erster Linie Hort des ehrbaren und aufstrebenden, nicht aber des oppositionellen Proletariats. In der Idee der „Volksgemeinschaft" schlägt sich das auf die Gesellschaft übertragene Ideal des „Ganzen Hauses" nieder. Angestrebt wurde eine „Werkgemeinschaft" von „Hoch" und „Niedrig", bei der der Hohe allen Hochmut fahren läßt und der Niedrige seinen Haß. Nicht zufällig stammte eine große Anzahl der Freunde und Förderer der SAG von den Landgütern Pommerns, diente doch die aufgeklärte' Gutsherrschaft als soziales Modell. Ersehnt wurde ein Zurück zu organischen Gemeinschaftsbeziehungen, die in der widernatürlichen' Großstadt Berlin verlorengegangen waren. In dieser Hinsicht steht die SAG in der Tradition eines romantischen Antikapitalismus, bei dem Agrarromantik mit Großstadtfeindschaft einhergeht.
I. Besucher, Bote, Nachbar Zur Geschichte der Liebesarbeit aus dem Geiste der Mission
Vom Besucher zum Nachbarn Eine kurze Passage durch die Geschichte der Liebesarbeit Rolf Lindner
1. „Bethnal Green East - die Straßen sind halbdunkel, nur an den Knotenpunkten die Fleisch- und Fruchtläden sind grell; und an den Ecken der engen Straßen sind auch Türen, aus denen Lichtschein auf die schmutzige Gasse fällt - von grossen Schatten unterbrochen und belebt; drin lärmt es; dann und wann tritt ein Weib heraus, mit offenem Haar und glänzenden Augen - mehr sieht man nicht, weil man gegen das Licht sieht - und kreischt: ,Courage in bottle; Mut im Saufen!' Ab und zu kommt ein Mann heraus, um lärmend zur nächsten Ecke zu wanken; dann und wann ein Weib, mit grossen, schweren Schritten, aber schnellen Bewegungen der Arme, krampfhaft die Hand um die Flasche, und obschon die Hand nicht mehr finden will zum Mund, Zug um Zug schlürfend. Jetzt kommt eine andere. Sie kreischt, sie trinkt selbst nicht mehr, aber sie führt die Öffnung der Flasche dem kleinen Mädchen in den Mund, das mit roten Augen zu weinen scheint und doch dies blöde Lachen um den M u n d hat. Ein alter Mann mit weissem Bart kommt die Straße entlang, von einer Seite zur anderen. N u n kommt er zur Hauptstraße. - Eine johlende Gruppe von boys empfängt ihn und heult hinter ihm her. Er greift nach den girls, die neben ihm herlaufen. Wenn er eine beim Hut zu fassen bekommt oder greift, dann lärmen die anderen". 1
Diese Szene, die sich wie ein Skript für ein ,soziales Drama' liest, stammt aus dem Reisetagebuch, das der junge Adjunkt am Königlichen Domstift zu Berlin, Friedrich Siegmund-Schultze, im Frühjahr 1908 auf seiner sozialen Bildungsreise in den Londoner Osten geführt hat. In modifizierter Form geht diese Schilderung, die durch dramatisierende Attribute besticht, in den Reisebericht ein, den Siegmund-Schultze 1909 unter dem Titel „Eine Nacht im Osten von London" im Blatt der „Inneren Mission im Evangelischen Deutschland" veröffentlicht. Der Bericht mutet uns heute seltsam an. Vor allem die Schilderung der Evangelisationsversammlung in Whitechapel, bei der sich junge Siedler als Jünger
Jesu imaginieren, erscheint aus heutiger Sicht befremdlich. Aber eben diese Schilderung mag dem Adjunkten des Oberhofpredigers, läßt sich mit einigem Recht vermuten, besonders am Herzen gelegen haben, weil es möglicherweise die Erfahrung in OstLondon war, die ihn dazu bewog, sich bei seiner späteren Tätigkeit im Berliner Osten „vom eigentlichen Evangelisieren [...] fernzuhalten", wie es in einem an seinen kirchlichen Vorgesetzten, Konsistorialrat Dr. von Rhoden, gerichteten Schreiben vom 18. 01. 1911 heißt, in dem er erläutert, warum er „seine glänzende Pfarrstelle" aufzugeben plant, um „in den dunkelsten Teil des Berliner Ostens zu ziehen" 2 . Friedrich Siegmund-Schultze, 1885 als Sohn eines Pfarrers der Altpreußischen Union in Görlitz (Schlesien) geboren, Lizentiat der Theologie 1908 in Marburg (wo er u.a. bei Paul Natorp 3 studierte), hatte, als er diesen Bericht veröffentlichte, in der Tat eine vielversprechende kirchliche Laufbahn vor sich, wurde er doch 1909 als Pfarrer an die Kirche des Hofes, die Friedenskirche in Potsdam gerufen. Daß einer solchen Karriere eine soziale Bildungsrei1 EZA 626/14,12 2 Ernst Bornemann: Prof. Dr. Friedrich Siegmund-Schultze 80 Jahre alt. Ein Lebensbild. In: Soziale Welt. 16 (1965), S.86. 3 Der Philosoph und Pädagoge Paul Natorp (1854-1924), der aus einer protestantischen Familie stammte, die über Generationen hinweg viele Pfarrer und Prediger hervorbrachte hatte, hatte mit seiner auf dem Gemeinschaftsgedanken aufruhenden Sozialethik einen großen Einfluß auf Siegmund Schultze und die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost. Vgl. Norbert Jegelka: Paul Natorp. W ü r z b u r g 1992.
A u s z u g aus d e m Reisetagebuch Friedrich Siegmund-Schultzes. 1908.
17
Vom Besucher zum Nachbarn se ins „dunkle L o n d o n " durchaus förderlich sein konnte, läßt sich angesichts des Stellenwerts der sozialen Frage kaum bestreiten, zeugte sie doch von einem Engagement, das auch vor der persönlichen „Fühlungnahme", wie der zeitgenössische Ausdruck lautete, nicht zurückschreckte. Aus ethnographischer Sicht, die für uns hier in erster Linie bestimmend sein soll, zeugt der Reisebericht aber auch von einer Darstellungsweise des „dunklen L o n d o n " , die ganz den Konventionen der Zeit entspricht. „Eine Nacht im Osten von L o n don" - dieser Titel steht für ein besonderes Genre der Reiseliteratur, der „Travels into the Poor Man's C o u n t r y " , um es mit dem Titel einer Monographie über die Arbeit des Pioniers sozialer Reisewerke, H e n r y Mayhew, auszudrücken. 4 Siegmund-Schultze ist sich durchaus bewußt, daß diese Art Literatur zu seiner Zeit bereits zu einem eigenen Genre mit einer eigenen Nachfrageklientel geworden war, wie seine partielle Distanzierung von zwei paradigmatischen Vertretern der Gattung in der Eingangspassage seines Berichtes zeigt: „ U b e r den O s t e n L o n d o n s ist schon viel gelogen worden. A u c h die B ü c h e r von D i c k e n s tragen dazu bei, die Gefahren zu übertreiben, die dem Fremden in diesem Rinnstein der Welt drohen. E b e n s o hat William B o o t h , der General der Heilsarmee, in seinem B u c h über das dunkelste England das D u n k l e noch schwärzer gemalt, als es ist. A b e r trotz aller Ü b e r t r e i b u n g e n in R o m a n e n und Beschreibungen - es ist schlimmer, als man es sich im Tiergartenviertel träumen
läßt."5
Bemerkenswert ist vor allem, daß Siegmund-Schultze hier „ R o m a n " und „Beschreibung" Seite an Seite stellt. In der Tat ist, wie Keating festgestellt hat, das Vorstellungsbild von East London am Ausgang des 19. Jahrhunderts ein Fakten und Fiktionen dauerhaft miteinander vermischendes kollektives Produkt, dessen Autorenschaft sowohl Samuel Barnett (der Gründer von Toynbee Hall) wie Walter Besant (ein bekannter zeitgenössischer Journalist und Sozialreformer), Charles B o o t h (der Begründer des survey) wie Arthur Morrison (Autor des East E n d - R o mans „A Child of the J a g o " ) und, nicht zuletzt, Jack the Ripper einschließt. 6
2. D a ß Soziales räumlich gedacht wird, hat seinen Grund in der Segregation der sozialen Klassen, wie sie sich in der Großstadt des 19. Jahrhunderts vollzieht. Als eines ihrer Charakteristika wird angesehen, daß es in ihr, wie es die Großstadtsoziologin Elisabeth Pfeil formuliert hat, zur „räumlichen Konfiguration der Gesellschaft" kommt; diese nimmt in den meisten westeuropäischen Großstädten den - metereologisch begründeten - Ost-WestGegensatz an: Im Westen liegt meist das ,feine' Wohnviertel, im Osten die Massenquartiere der Arbeiter und Pauperschichten. Im London der Viktorianischen Ära gewinnt dieser Gegensatz seine wohl krasseste Ausprägung; Gareth Stedman Jones hat dies in seiner Studie „Outcast L o n d o n " zum Thema gemacht. E r gilt aber auch, wenngleich in anderer Form, für Berlin. Trotz der vom Berliner Baurat James Hobrecht angestrebten Vermengung der sozialen Klassen im Mietskasernensystem kommt es zum „Zug nach dem Westen" - „von dem arbeitsamen und erwerbenden nach dem genießenden und ausgebenden Berlin" - , und gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind „auch in Berlin, wie in London, gewisse Stadtteile ganz den Arbeitern ausgeliefert", wie es Werner Hegemann in seiner Abhandlung „Das steinerne Berlin" ausdrückt. 7 Es ist diese räumliche Scheidung, die zunächst einmal den Anlaß zur Reise gibt; ihre besondere Form aber gewinnt sie dadurch, daß die geographische Trennung die Distrikte der arbeitenden und armen Klassen, wie Stedman Jones betont, zu einer immensen terra incognita und ihre Bewohner zu ei4 A n n e H u m p h e r y s : Travels Into the P o o r M a n ' s Country. Firle, Sussex 1978. 5 Friedrich Siegmund-Schultze: E i n e N a c h t im O s t e n von L o n d o n . In: D i e Innere Mission im Evangelischen Deutschland. 4 (1909), S.210. 6 P.J. Keating: Fact and Fiction in the East E n d . In: T h e Victorian City. Images and Realities. Vol.2. Hgg. von H . J . D y o s , Michael Wolff. L o n d o n , B o s t o n 1973, S.586. 7 Werner Hegemann: Das steinerne Berlin. G e s c h i c h t e der größten Mietskasernenstadt der Welt. Braunschweig 1979 (3. Auflage), S.240.
18 ner unbekannten species macht. „Es gibt Gegenden in Berlin", schreibt 1912 Günther Dehn, ein Amtsbruder von Siegmund-Schultze und Mitarbeiter der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft B e r l i n - O s t " , „die kennt man einfach nicht. Wann kommt der normal Gebildete, der im bayerischen Viertel in Schöneberg wohnt und tagtäglich in die Leipziger Straße fährt, wo sein Bureau liegt - wann kommt der einmal nach Neukölln oder Lichtenberg, oder in die riesigen Arbeiterviertel des Nordens? Die Wahrscheinlichkeit, daß er einmal nach Spanien oder Afrika kommt, ist vielleicht größer, als die, daß er mit eigenen Augen sieht, wie eine Stunde weiter östlich oder nördlich seine Mitbürger durch das Leben kommen." 8 Vor diesem Hintergrund erscheint die Expedition als die angemessene Form der Reise; programmatisch kommt dies im Titel des Boothschen Sozialplans „In Darkest England and the Way O u t " (1890) zur Geltung, der bewußt dem Expeditionsbericht „In Darkest Africa and the Way O u t " von Henry Morton Stanley nachempfunden ist. Zweifellos schlägt sich hier der durch den Kolonialismus bedingte Aufschwung des Reisegenres nieder. Auf den Appetit auf abenteuerliche Reiseberichte wird mit Erfolg spekuliert; B o o t h ' Bericht erlebt in kürzester Frist mehrere Auflagen. Gerade aber am Genre der kolonialistischen Reisewerke gemessen, gilt es, die Ferne des Nahen hervorzuheben, um dem Expeditionscharakter der Reise Glaubwürdigkeit zu verleihen. Jack London gelingt dies in seiner Sozialreportage „The People of the Abyss" dadurch, daß er die Agentur C o o k & Son als Reiseführer anzuheuern vorgibt: „ A b e r H e r r O . C o o k , in Firma O . T h o m a s C o o k & Son, Pfadfinder und Reiseführer, dieses lebende Adressbuch für die ganze Welt, der H e l f e r aller verirrten Reisenden erster Klasse, der mich ohne Bedenken im Augenblick mit Leichtigkeit und Geschwindigkeit nach dem dunkelsten Afrika und ins innerste T i b e t ' hätte schicken können, H e r r O . C o o k kannte nicht den Weg nach dem L o n d o n e r East E n d , das nur einen Steinwurf v o m Ludgate R o n d a l i entfernt liegt." 1 0
Durch die überspitzte Darstellung dessen, was die Reiseagentur C o o k & Son „ohne Bedenken im Augenblick mit Leichtigkeit" vermag, signalisiert L o n don nicht nur die Kühnheit seines Vorhabens, es soll
Rolf Lindner dem Leser auch verdeutlicht werden, daß um die Jahrhundertwende weiße Flecken nur noch auf der Landkarte des Großstadtdschungels existieren.
3. Trotz der kritischen Eingangspassage folgt der Bericht von Siegmund-Schultze den Konventionen des Genre. Als sei der Osten von London noch immer eine terra incognita (und nicht eher, wie es Keating ausmalt, ein Tummelplatz für Heilsarmisten, Siedler und Sozialforscher, Menschenfreunde, Journalisten und Voyeure), wird die Unbekanntheit der nahen Ferne („eine Meile weiter östlich") beschworen, die es überhaupt erst zu erreichen gilt. Kein Wunder, daß auch Siegmund-Schultze, wie alle Forschungsreisenden vor ihm, eine Verkleidung anlegt: .„Ziehen Sie sich Ihren schlechtesten Anzug an', sagt er [der Führer, ein junger Ministerialbeamter, R . L . ] , und nehmen Sie so wenig wie möglich mit, damit wir besser d u r c h k o m m e n ! ' Ich tat wie befohlen; die K r e m p e eines breitrandigen Strohhuts b o g ich nach unten; einen Knüppel besorgte ich mir. Mit einem kleinen Bündel in der H a n d trat ich an dem verabredeten N a c h m i t t a g am Treffpunkt bei B a h n h o f Liverpool Street an.""
Erst der Treffpunkt - Liverpool Station - erinnert uns daran, daß wir uns in einer modernen Weltstadt mit einem hochentwickelten Verkehrssystem befinden. Diese heute wie eine Karikatur wirkende Darstellung (die aber, bis in die Verkleidungssequenz hinein, völlig den Konventionen der Zeit entspricht) gibt nicht nur Auskunft über die soziale und kulturelle Kluft, die Forscher und zu Erforschende voneinander trennen, sie zeugt auch und vor allem von der Kraft der Imagination, von dem Bild, das sich der Forscher von dem Gegenstand seiner Forschung macht: "Schließlich wählte ich derbe, aber stark ab8
G ü n t h e r D e h n : Berliner Jungen. In: D i e Innere Mission im Evangelischen Deutschland. 7 (1912), S.97. 9 J a c k L o n d o n paraphrasiert hier offensichtlich die Titel der Reisewerke von H e n r y M o r t o n Stanley und Sven H e din. 10 J a c k L o n d o n : In den Slums. M ü n c h e n 1976, S.12. 11 Siegmund-Schultze: Eine N a c h t im O s t e n , S.210.
Vom Besucher zum Nachbarn getragene Hosen, eine verschlissene Jacke, an der nur noch ein Knopf saß, ein Paar derbe Stiefel, die offenbar beim Kohlenlöschen getragen worden waren, einen Lederriemen und eine sehr schmutzige Sportmütze", lautet die entsprechende Verkleidungspassage bei Jack London.' 2 In dieser Passage ist offensichtlich nicht nur von einem „Kostüm" die Rede, in das der Autor zu schlüpfen beabsichtigt, um sich „gemein" zu machen 13 , sondern von dem „Anderen", der nur als leibgewordene Antithese des bürgerlichen Beobachters, als Kohlenträger, Müllmann, Straßenreiniger, imaginiert werden kann. Diese Verbindung von Topografie („Osten"), äußerer Erscheinunng („Schmutz") und Moral durchzieht auch Siegmund-Schultzes Schilderung, die überdies eine durchaus irritierende - kann man schon sagen: antisemitische? - Akzentuierung in der Beschreibung des Treibens in Whitechapel aufweist." Auch bei Siegmund-Schultze „[starrt] alles von Schmutz", die Bücher ebensogut wie die Menschen, die „schmutziger [sind] als alle, die ich bisher sah." 1 5 Implizit werden hier Schmutz und Sauberkeit, Unreinheit und Reinheit, letztlich: Heidentum und Christentum gegenübergestellt. U n d doch ist dem Besucher, in der widersprüchlichen, aber charakteristischen Verbindung von Faszination und Abscheu, alles nur ein Schauspiel, in dem es „spaßige Kinderbilder neben greulichem Schmutz und häßlichen Szenen" gibt: „[...] alles zieht wie ein Panorama vorüber." 1 6 Hier wird das Dach des Busses, in dem Siegmund-Schultze Whitechapel durchquert, zum Zentralturm des Panoptikums, der erlaubt, alles zu sehen, ohne gesehen zu werden.
4. „Indessen, ein paar Leute gibt es im gebildeten England, die sehen sich den Osten nicht nur, sondern sie siedeln sich dort sogar an, um mit seinen Bewohnern in die allerengste Berührung zu kommen." 1 7
Was Siegmund-Schultze hier als das Prinzip einer die räumliche Trennung überwindenden Begegnung von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen bezeichnet, entspricht, bis in den Ton hinein, der
19 Epistemologie der Feldforschung („Der ganze U n terschied besteht zwischen dem sporadischen Eintauchen in die Gesellschaft der Eingeborenen und dem wirklichen Kontakt mit ihnen" 1 8 ). Ahnlich wie die „Veranda-Ethnologie" im kolonialistischen Kontext von der auf der teilnehmenden Beobachtung beruhenden Ethnologie abgelöst wird, so der Sozialtourismus durch die (zeitweise) Ansiedelung. Mit diesem Satz sind aber zugleich, und das ist mir in unserem Zusammenhang wichtiger, die wesentlichen Etappen der offensiven Liebesarbeit benannt: vom, immer noch auf Distanz bedachten, Besucher zum Nachbarn, der eben diese Distanz zu überwinden trachtet. Mit dem Wunsch, mit den Bewohnern des Ostens „in die allerengste Berührung zu k o m men", wird jene Trennung zwischen Beobachtung und Berührung aufgehoben, die für Peter Stallybrass und Allon White 1 9 Ausdruck der ambivalenten, zwischen Faszination und Abscheu schwankenden bürgerlichen Haltung gegenüber den unteren Klassen ist. „In die allerengste Berührung zu kommen" ist als Programm keineswegs nur metaphorisch zu verstehen. Hier wird in der Tat ein Kontakt gesucht, der auch vor dem körperlichen, als ,anstekkend' perhorreszierten nicht zurückschreckt. In der Geschichte der Armenpflege wird in der Regel auf den schottischen Puritaner Thomas Chalmers verwiesen, wenn es darum geht, ein Datum für den Beginn des Besuchsprinzips zu setzen. Unterstreicht man den methodischen Charakter, den das „Visiting" bei Chalmers gewinnt, läßt sich ein solcher hi-
12 London: In den Slums, S. 11. 13 Obwohl gerade in der äußerlichen Travestie der Lebensformen ein wichtiges Motive solcher Erkundungsreisen verborgen sein kann. Vgl. Karl-Heinz Kohl: Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt a.M., New York 1987, S.7-38. 14 Vgl. Siegmund-Schultze: Eine Nacht im Osten, S.211. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., S.210. 18 Bronislaw Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifik. Frankfurt a.M. 1979, S.29. 19 Peter Stallybrass, Allan White: The Politics and Poetics of Transgression. London 1986.
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Rolf Lindner
JJn Iftatnburgs «ElcnDsuurteln. 33oc mefir als l>unbcrt Jahren war's, ba fdjritt ein junget, (planier 3ITenfd> bucrf) ben ierrufenjlen, gefährlichen unb fcfymu$ig|len ©tabtteil Don Hamburg. ßntfe|i flauten (eine ¡¡Ingen all bas (Slenb, all bie iOerfommeniieit, all bie ©ünbe. Er ijatte gemußt, bafj es fdjlimm (lanb um biefe Oegeub ber großen £anbels(labt, aber fo, nein, fo (»alte et ficf) bas ©enb nic^i oor< gefMt. Sr ließ fic$ aber nidjt abgreifen, tro|bem es i^m fölaflofe iftadjfe bereitete. Gr famroieber!Sr rebete mit ben 3ITenfcf>en, bie ifjnraigtruuifif)Befrachteten, er ging in bie Käufer, er nafjm bie Äinber bei ber §anb! 3I;mroar,alsroenner alles, DlTenfcfjen, @[enb, itjre ©ünbe unb iOerioramettl;eif an (ein §erj, in (eine 2lrme nehmen müßte. 23on ©djmuJ unb Uitgejiefer flarrenb, fjietf ein ((eines 3Iiäb= djen (eine §anb fefl unbroolltefie nimmec laffen. (Sin Heiner 3unge, ber an einer 3K5ur(lt;auf Iutföte, bie er irgenbroo gefunben, gab if)tn einen Sufjfrift, als ber junge MTann (eine jjanb auf ben oerfiljtenfiocfenfopflegte. Sasroarein Äinb bon fünf 3af>ren, bas feine Slfern f)alte unb nur bon bem lebte,reades fanb ober flel;len fonnfe! 211« ber junge DTCannroiebevfara,lief if>m bas Kinb mit offenen 2lrmcfyen entgegen. Sie Äinber, bie Äinber berjlanben if»i ¡uerfl, ben jungen, ern(len 9Ttenfd;en, fie füllten bas iperj, bas ifmeu in tjeifjem Erbarmen entgegenfcfjlug! Äinber, oiele Kinber, förper= iid) etenb, geizig minberroertig ober aushungert, biebifd), t>er= logen, jittticf) oerroaf)tlof}, mißfianbelt, fleine Verbrecher, bie |ic$ Sag unb jia(ce 5ub«aommltec request tbe pleasure ot gour compans at tbc ©penino »ecUttfl of tbe tTofinbec Xfterarg association, to be belb at tîoçnbee DaIt. on Cuesbaß, October I2tb. 1897. when Mr. J. C. BAILEY will beUver an abbress on "SIR
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to be followeb bg aonfls anb recitations from bis worhe, öiven b» frienbs of tbe Basoctatfon. fUfrcebmenU. 8 pm . HMrcs«, 8.30 p.m. Bona», (te* t p.in. f U T U R f i R S!me by Member* of Ney. gtb.--" ShTaokyenspbeeeareS"hA HRvA eN nlO njE f.M PU roN grT am .. C. iUvw*«», liai. S/t Dec, uth,- Sodai livening.skcjpeare SocietyA alrtüiitüii
Einladung nach Toynbee Hall. Wintersemester 1896.
velli. In der „Antiquarian Society" hörte man auch Vorlesungen und besuchte Sehenswürdigkeiten in London (z.B. den Tower of London). Die Dramen und Komödien Shakespeares wurden in der „Toynbee Shakespeare Society" wöchentlich gelesen und für Theatervorführungen einstudiert. Im Rahmen der „Toynbee Students Union", an der alle Studenten unter den Residents teilnahmen, wurden bedeutende Gebäude in London besichtigt und einzelne Institutionen besucht. An Sonntagen fanden Wanderungen oder Stadtspaziergänge statt. Die „Toynbee Natural History Society" (TNHS) war einer der ältesten Klubs Toynbee Halls. Hier
wurden monatliche Vorlesungen über die Naturgeschichte veranstaltet und Wochenendausflüge innerhalb Londons unternommen, zum Beispiel zum Botanischen Museum. Für keine dieser Veranstaltungen war ein besonderes Vorwissen erforderlich, lediglich Interesse und regelmäßige Teilnahme waren erwünscht. Themen der T N H S waren unter anderem: „Colour in the plants world" und „A mushroom and its relations". Ein weiterer Klub waren die „Toynbee Rambiers", die gemeinsam mit Canon Barnett sonntags Ausflüge in die nähere Umgebung unternahmen.
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Katharina Weber
Herkunft der Teilnehmer an den Men's Evening classes (Statistik von 1 9 0 5 - 1 9 0 8 ) Ost-London Nord-Ost-London Süd-London ohne Angabe
347 71 6 16
Alle zwei Wochen donnerstags abends wurden „Smoking Debates" organisiert, in denen über gesellschaftspolitische und historische Themen diskutiert wurde. Die Vorträge wurden oft von den Residents gehalten, es wurden aber auch Gastredner eingeladen. In den „Populär Lectures" wurden Vorträge allgemeiner Art gehört, u.a. Reise- und Länderberichte. Schließlich gab es noch die „Sunday Evenings Discussion", in denen es um religiöse Themen ging. D e r interessierte Arbeiter konnte sich hier in vielfältigster Weise fortbilden. Das Angebot umfasste unter anderem Sprachkurse, Konzertbesuche, Gesangsgruppen, Kunst- und Literaturzirkel, Kurse für Erste Hilfe und für Heimhygiene, Schachklubs und Rechtshilfe. Gemeinsam mit der Charity Organisation Society wurde Armenpflege betrieben. Im Rahmen der „Toynbee Guild of Compassion" wurden Arme nach Toynbee Hall eingeladen. Für Jugendliche und Kinder wurden Erholungsheime auf dem Land geschaffen, in denen sie die ,Heilkraft der Natur' erfahren sollten („Childrens Country Holiday Fund"). In Toynbee Hall nahm man sich auch der geistig und körperlich Behinderten und der psychisch Kranken an. Jedoch schrieb Walter Picht, daß man es vermied, allzu viele Alte und Kranke nach Toynbee Hall zu holen, um nicht die Gesunden abzuschrecken. Auf das Betreiben des Ehepaars Barnett, das an den guten Einfluß der Kunst auf die Arbeiterklasse glaubte, wurde die „Whitechapel Art Gallery" eröffnet. In ihr wurden Leihgaben wohlhabender U n terstützer Toynbee Halls ausgestellt. N e b e n der Erwachsenenbildung nahmen sich die
Siedler auch der männlichen Jugendlichen an, galt doch die Arbeit mit Heranwachsenden als die vielversprechendste. Die Bildung und Förderung von Mädchen spielte im Gegensatz dazu in Toynbee Hall keine Rolle. Es existierte lediglich eine Art Klub für Fabrikmädchen, der von Mrs. Barnett gegründet worden war, um den jungen Mädchen einen O r t des ungezwungenen Zusammenseins zu bieten. Erzieherische Zwecke wurden hier jedoch nicht verfolgt. Die „Boy's clubs" bildeten sich zuerst aus dem Wunsch, die Jugendlichen den schlechten Einflüssen der Straße zu entziehen und ihnen Möglichkeiten zum Spielen zu bieten. Später entwickelte man ein vielfältiges Erziehungssystem, in dessen Mittelpunkt Sport und Spiele standen, in denen die Kinder zu ,fair play' erzogen werden sollten. D e m Sport wurde eine besondere soziale Bedeutung beigemessen. Sportliche Betätigungen waren Ringen, Boxen (welches der deutsche Settlementbeobachter Werner Picht mit leichtem Naserümpfen als ,englische' Eigenart betrachtete), Fechten, Kricket und Fußball. Gespielt wurden Billard, Schach, Dame und D o m i no. Kartenspiele waren in der Regel verboten, lediglich Whist und Cribbage waren gestattet. Durch das Spielen sollten die Kinder Ruhe und Ordnung lernen. In den B o y ' s Clubs sollten den Jungen auf unaufdringliche Weise moralische und christliche Werte vermittelt werden, ohne jedoch die Stellung der Eltern zu beeinträchtigen. D e n Leitern lag daran, den Familiensinn zu stärken und durch die Kinder auch die Erwachsenen zu erreichen. Ein zu Beginn existierender „Cadet-Corps", welcher dem Kriegsministerium unterstand und als Schule für künftige Soldaten gedacht war, mußte wieder aufgelöst werden, da der im Corps praktizierte Drill die Jugendlichen zu sehr abschreckte. Die B o y ' s Brigade-Kompanien waren eine Art Bibelklasse mit militärischer Ausbildung. Ihr Ziel war „die Förderung des Reiches Christi unter den Knaben und die Erziehung zu Gehorsam, Ehrfurcht, Disziplin, Selbstachtung und zu allem, was zu wahrer christlicher Mannhaftigkeit gehört" 6 . Diese B o y ' s Brigade-Kompanien verloren später je6 Picht: T o y n b e e Hall, S.63.
Toynbee Hall in London
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federation
of Residential
AND
CAMBRIDGE
OXFORD
December,
Subject:
W. M c G . E A G A R
" Education." LYTTEl.TOW M.A., D.D., D.C.L.
(President).
SATURDAY, December 12th. " Housing." 10.0am. to ».opm
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(a) " M y work as a School Medical Ofiicer." Dw. I.. 11 A D E N CUT.ST, M P. (6) " My work as a Sanitnrv Inspector." T. 11. H. H A N C O C K . (r) " M y work as a Settlement Resident in connection with Housing." Miss C A T H E R I N E T O W E R S ( C a n n i n g T o w n W o m e n ' s Settlement). '-. .sits t o bad areas in I.irnehouse and new schemes at Beacontree, etc.
SUNDAY, December 13th, 8.30 a.m. Morning.
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MONDAY, December 14th.
Assemble at Toynbe»- H;ill. Dinner. Address by Rd)entlubs Im »et goti se iteti ffllnfer. Soimtag
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Suaflbge. i-YÜ(Sefclllges Ätub ber 10-12Selfam. iÄ&rifl'rtn(Tifeln ber 18 Selterln: bis 20f ir- 93!. Gä>nt rigen.
3)ienstog SMtttDod) Ztonnerstafl Srreliaii 4—7: V,9—1(,8: 0—8: Älub bei fllub ber Klub „melile" 12—14' 1 0 - 1 2 . (Abrlgen. tAIiriecn. « bis 14 ßeiterin: fielterln: Wütige) 5. Tttiälg. |errat
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Menschen und Masken
Der Bär von Baskenille
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P r o g r a m m z e t t e l . 1915. M o t o r e n d e r Lokomotiven, Zweiräder, A u t o m o b i l e u n d F l u g m a s c h i n e n , deren sich der H e l d fast pausenlos bedient, u m damit seiner L u s t a m T e m p o zu f r ö n e n . " 9
Großstadt, T e m p o und Technik waren neben Liebe, Leidenschaft und sozialem D r a m a die Ingredienzen des populären Films.
In seiner bedingungslosen Modernität, was Maschinen und Technik angeht, und im Aufgreifen aller Elemente des Großstadtlebens ist der G r u n d für die Faszination zu sehen, die der Sensationsfilm gerade auf das junge proletarische Publikum ausstrahlte. Deutlich wird die kulturelle H o m o l o g i e von Mediu m und Ort, von Film und Großstadt:
„ W o der Kulturbegriff hohe Geistigkeit forderte, boten die K i n o d r a m e n d e r b e S i n n l i c h k e i t u n d z u m Teil p l e b e j i s c h e , a u toritäre Perspektiven. Statt im Sinn ästhetischer Volkserziehung z u den , H ö h e n der K u n s t ' z u führen, paßte sich das K i n o alltäglichen M a s s e n b e d ü r f n i s s e n und verbreiteten Phant a s i e w e r t e n a n . K u r z , es p r ä s e n t i e r t e s i c h als p o p u l ä r e I n s t i t u -
„ D i e m e c h a n i s c h d a h i n f l u t e n d e n Bilder, die Fülle der Schlag auf S c h l a g g e b o t e n e n R e i z e b r a c h t e m a n g e r n m i t d e r R e i z i n t e n s i t ä t d e r e b e n f a l l s n o c h j u n g e n G r o ß s t ä d t e in V e r b i n dung."10
E b d . , S.81. 9 10 J ö r g S c h w e i n i t z : P r o l o g v o r d e m F i l m . N a c h d e n k e n ü b e r ein n e u e s M e d i u m 1 9 0 9 - 1 9 1 4 . L e i p z i g 1 9 9 2 , S . 3 f . 11
E b d . , S.6.
Antonia Weisz
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K i n o im Berliner O s t e n . U m 1916. I m G r u n d e unterscheidet sich das Vorstadtkino von dem des C e n t r u m s und des Berliner Westens als auch von dem der Provinzstadt nur durch die äußere Ausstattung und durch das geistige Niveau ihrer Besucher. Dieselbe Tendenz liegt den Vorführungen aller Lichtbildtheater zu Grunde, sei es, daß die fein behandschuhte D a m e des Westens im bequemen „Fauteuil" eines Riesenlichtbildpalastes ein wenig Zerstreuung sucht, oder der junge Arbeiter im Werktagskittel um 9 U h r in den Kientopp geht und in dumpfer Luft sich auf den H o l z b ä n k e n eines „ H o f t h e a t e r s " rekelt. U n b e w u ß t wird uns die Empfindungswelt eine andere, je nachdem die F o r m der dargebotenen Dinge wechselt. Im Westen ist der K i n o nur eine unter den vielen anderen Zerstreuungsmöglichkeiten. Theater, K o n z e r t e , Vorträge sind jedem dort leichter zugänglich, schon deshalb, weil die allgemeine Lebenshaltung dort eine höhere ist als im O s t e n , eine gewisse geistige K u l t u r auch die mittleren und unteren Schichten in nähere B e r ü h r u n g mit solchen Veranstaltungen bringt und in den S o m m e r m o n a t e n wiederum mehr G e l d zu Ausflügen in die U m g e b u n g Berlins zur Verfügung steht. D e m B e w o h n e r des O s t e n s ersetzt der K i n o Ausflüge, N a t u r g e n u ß , geistige Zerstreuung. E r bietet die Welt, die ausserhalb der Mietshäuser und lärmenden Straßen sich abspielt, er führt das L e b e n im bewußten Wechsel in das graue Einerlei des Alltags hinein. Man wende nicht ein, daß T h e a t e r und O p e r dies vielleicht in demselben M a ß e könnten. U n s e r Kunstleben, wie es im T h e a t e r zur Geltung k o m m t , hat fast völlig den Zusammenhang mit dem eigentlichen Volksleben verloren. Es wendet sich an eine geistige Elite, die imstande ist, die psychologischen Bedingungen einer dargestellten Handlung zu empfinden und aufzulösen. Das Volk aber will Handlung, will Stellungnahme zu den Tatsachen der Gegenwart. N i c h t umsonst empfindet es die soziale Frage als seine eigenste, verlangt es nach realistischer W i r k l i c h k e i t ^ ) in allen Darstellungen. D r u m k ö n n e n auch die billigen Klassikervorstellungen ihm nicht genügen. D e n meisten Angehörigen der unteren Schichten ist es aus ihrer Erziehung oder vielmehr N i c h t - E r z i e h u n g heraus unmöglich, sich in die Empfindungswelt eines klassischen Helden hineinzuversetzen. N u r das romantische E l e m e n t findet Verständnis, vielleicht aus der Sehnsucht des modernen G r o ß s t a d t m e n s c h e n heraus geboren, und daher ist die O p e r und das Musikdrama Wagners das, was den weiterstrebenden Arbeiter heute das T h e a t e r repräsentiert. Weil leichter zugänglich aber als die O p e r mit ihren meist unerschwinglichen Preisen ist der K i n o , dessen Besuch an keine eng begränzte(!) Zeit gebunden ist und neben dem niedrigen Eintrittspreis ein beliebiges K o m m e n und G e h e n zuläßt, außerdem auch weit mehr dem realistischen Empfinden entgegenkommt, als eine Theatervorführung vermag. So tritt denn im O s t e n der K i n o durchaus in den Vordergrund aller Vergnügungsmöglichkeiten und schon dies allein ist der G r u n d , daß gewisse Abschnitte der Frankfurterstraße wie übersät mit Kinos erscheinen, ebenso wie der Alexanderplatz und die anschliessenden östlichen Straßen... D i e Besucherzahl schwankt etwas nach den Wochentagen, nach der Jahreszeit und nach dem jeweiligen Wetter. Dienstags und Freitags herrscht infolge des Programmwechsels ein stärkerer Andrang, der Zahltag k o m m t auch dem K i n o zugute. Sonntags steigt der Besuch auf seinen H ö h e p u n k t : man verfügt über genügend freie Zeit und will sein Sonntagsvergnügen haben; auch kann man sich im „guten" A n z u g überall sehen lassen. Ist das Wetter trist und regnerisch, so hilft der K i n o über langweilige Stunden hinweg. D i e Hauptgeschäftszeit sind aber die langen W i n t e r a b ende... D e m G e s c h m a c k des O s t e n s k o m m t vor allem das D r a m a entgegen. Es beherrscht den Film fast ausschließlich. D i e H u m o r e s k e , einst so beliebt, muß zurücktreten. W a r man endlich müde geworde,n die tollen Verfolgungsszenen und die über alles Lebende und L e b l o s e sich ergießenden Wasserfluten in immer neuen Wiederholungen zu sehen? Fast scheint es so. D o c h was eingetauscht wurde, ist schlimmer; denn nun nehmen die albernsten Liebespossen unter den Lustspielen die erste Stelle ein und finden, nach dem G e k i c h e r der Zuschauer zu urteilen, guten Anklang. Glücklicherweise sind diese Lustspiele mit ihren unerträglichen Blödsinnigkeiten nicht der bestimmende F a k t o r im A b e n d p r o gramm. D e r bleibt wohl noch auf lange hinaus das D r a m a , und zwar die soziale Tragödie. Seitdem eine dänische F i r m a das Sensationsdrama „Die weiße Sklavin" zur Darstellung brachte und damit das soziale E l e m e n t in die Kinoliteratur einführte, hat sich das Interesse gerade für solche Darstellungen menschlichen Lebens wachgehalten und ist so bestimmend für die weitere E n t w i c k l u n g geworden, daß das Schlagwort „sozial" noch heute die beliebteste K i n o r e k l a me ist. A u c h hier herrscht ein ganz bestimmter Typ. Im Mittelpunkt der H a n d l u n g steht das M ä d c h e n aus dem Volke, liebenswert, hübsch, elegant, trotz aller A r m u t . Zwei Möglichkeiten stehen ihm offen: auf der einen Seite das D i r n e n tum, auf der anderen die E h e an der Seite eines geliebten Mannes, meist höheren Standes... N e b e n den sozialen D r a m e n , die also unmittelbar in die Lebenssphäre des O s t e n s führen, stehen aber andere, die gerade den Luxus und das b e q u e m e L e b e n der Besitzenden zur Darstellung bringen. D e r Verführer, der H o c h s t a p l e r sind meistens diesen Schichten e n t n o m m e n . E i n beliebter Typ der begüterten Jugend ist auch der junge Mediziner, dem sein R e i c h t u m eine Befriedigung aller Launen gestattet. In bunter Folge reihen sich an diese D r a m e n alle jene aufregenden Detektiv-, Seeräuber- und Indianergeschichten, die an grellen E f f e k t e n noch die Taten des N i c k C a r t e r
Großstadtdrama
und Buffalo Bill hinter sich lassen, und der Kriegszeit entsprechend nun auch das Kriegsstück. Es ist ein Jammer zu sehen, wie das Große, Wichtige und Bleibende, was der Krieg auch dem Kino hätte bringen können, so gänzlich mißverstanden und vergeben worden ist... Wer aber sind diese Besucher des Kinos? Was lockt sie am Kino? Welche Wirkung hat es auf sie?... Der nicht organisierte Arbeiter, die große Zahl der ungelernten und Gelegenheitsarbeiter, die Frauen und Mädchen der Proletarierkreise, die kleinen kaufmännischen Angestellten männlichen und weiblichen Geschlechts bilden die Mehrzahl der Besucher. Stellen die jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen die eigentlichen Kinoenthusiasten, suchen Schlafburschen und Schlafmädchen die Kinos auf, weil ihnen vor 1 U h r abend kein U n t e r k o m men zur Verfügung steht, so geht die höhere soziale Schicht „aus Langeweile", „um die Zeit totzuschlagen" ins Kino. Für den Jungen der Fortbildungsschule w i r d Wildwest, der Detektiv, der wagemutige Verbrecher das Lebensideal. Er baut sich seine Vorstellungen vom Leben in der Welt auf aus der Moral der Verbrecherkeller, der Unerschrokkenheit der Apachen, und der Kino mit seinen aufpeitschenden Sensationen gewinnt bestimmenden Einfluß auf den unbefestigten Charakter. Draußen ist der graue Alltag mit dem öden Einerlei der täglichen Beschäftigung. Im Kino lebt die bunte, sinnenverwirrende Welt. Ihren Helden gleichzutun! Einmal versuchen, was ihnen so glänzend gelingt! Es ist kein weiter Schritt vom Kinoerlebnis zur Zwangsvorstellung und dann zur Straftat.
Elisabeth Bengier. EZA 626/11 29,8.
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Wenzel Holek A n n e t t e Vogelsberg
„ O h n e Schnupfen, F o r d und G o e t h e , W ü ß t ich nicht was H o l e k täte. Trillerpfeife, Knute, Kraft ihm Autorität verschafft."
Die Zeilen dieses Fastnachtreimes von 1926 entwerfen uns zunächst ein Bild von diesem Mann, welches aber nicht so recht in das gefühlvolle, liebesbetonte Erziehungskonzept der S A G zu passen scheint. U n d das, obwohl sich in den Akten und Aufzeichnungen immer wieder andeutet, daß Wenzel H o l e k auf die praktischen Erziehungsmaßstäbe der S A G starken Einfluß gehabt haben muß. E r hat nicht nur auf Kinder, sondern auch auf Erwachsene durch seine Autorität gewirkt. Holek nahm oft eine Mittlerrolle zwischen den einzelnen Mitarbeitern ein, vor allem zwischen U n ten und O b e n . Es gelang ihm, eigene Meinungen scheinbar unvermittelt durchzusetzen, ohne auf die persönlichen Belange anderer Rücksicht zu nehmen. Woher rührte diese Autorität? War sie nur seinem Wesen geschuldet, das uns als verhärtet und k o m promißlos dargestellt wird? E r sagte immerhin über dieses Wesen selbst: „Leugnen möchte ich durchaus nicht, daß ich wohl hier und da durch meine ungehobelte Natur die Herrschaften in ihrer Auffassung von guter Sitte kränkte." 1 In der S A G wertet man das Ungehobelte recht würdevoll: „Güte aber keine Verzärtelung, Konsequenz, Wahrhaftigkeit im U m gang [...] waren sein Handwerkszeug." 2 In Arbeitssitzungen, von denen uns in den Protokollen nur seine oft stechenden Bemerkungen erhalten geblieben sind, soll er still zugehört haben, „aber wenn er
etwas sprach", so heißt es, „sagte er irgend etwas ganz entscheidendes" 3 . Was Holek von sich selbst behauptet, daß er ein gewisses Vaterrecht hatte, welches in vielen Entscheidungsfragen seine Zustimmung erforderlich machte, wird wohl wahr gewesen sein, wie sich aus der Vielzahl seiner Anmerkungen und Schriften schließen läßt. Was jedoch den D a n k und die besondere Anerkennung ausmacht, die ihm die Gemeinschaft später entgegenbrachte, erklärt sich nicht aus seinem der Praxis zugewandtem Wirken. U m seine ambivalente Sonderstellung in der S A G klären zu können, muß man tiefer eindringen in die Strukturen seines Wirkens und auch seines persönlichen Werdeganges.
Seine Herkunft In nichts unterscheiden sich die ersten Kapitel in Holeks Autobiographie zunächst von den Begebenheiten, die in jedem beliebigen Arbeiterleben hätten stattfinden können. Vorgezeichnet schien ein Lebensweg, der den schicksalhaften Vorbestimmungen eines Arbeiterlebens in der Mitte des 19 Jahrhunderts entsprach. E r wurde 1864 in eine Zeit geboren, in der sich das Bewußtsein der Arbeiter klassenmäßig formierte und in der sich sozialreformerische Ideen langsam zu entfalten begannen. 1 Wenzel H o l e k : V o m Handarbeiter zum Jugenderzieher. J e n a 1921, S.165. 2 Wenzel H o l e k zum Gedächtnis. In: Mitteilungen aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft. ( M S A G ) . (1935)95, o.S. 3 Ebd.
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Annette Vogelsberg
W e n z e l H o l e k mit einem K n a b e n k l u b in Stettin (?).
Wenzel Holek, der als Sohn einer auf dem Land lebende Handarbeiterfamilie geboren wurde, stand von der Herkunft eher am Rand der sich emanzipierenden Arbeiterklasse. Seine Kindheit ist bestimmt durch die materielle und (wie er seiner Beschreibung nach schon früh empfindet) geistige Not, in der Wenzels Eltern, wie viele andere Handarbeiter auf dem Land, leben mußten. Er war dadurch frühzeitig gezwungen, für den Unterhalt der Familie, die sich rasch und andauernd vergrößerte, mit aufzukommen. Wehmütig beschreibt er in seiner Autobiographie, wie es ihm durch seine Lebensumstände immer wieder unmöglich gemacht wird, eine Schule zu besuchen. Er ist sich der Tragik seines Schicksals
durchaus bewußt, wenn er stets betont, wie schwer es ihm fiel, statt zur Schule in die Ziegelei, mit dem Vater auf die Abraumhalde oder mit der Harmonika in der Nachbarschaft betteln gehen mußte. So kann er in dem Alter, in dem er von der Schule entbunden ist, nur wenig lesen und schreiben. Die Not der Kindheit, das karge Leben der Eltern setzten sich fort in seinem eigenen Leben. Er ist jedoch überzeugt davon, daß er es durch strebsames Arbeiten schaffen kann, der Existenznot zu entfliehen. Wenzel Holek meinte bereits mit 21 Jahren, die Gefahren des Arbeiterlebens zu kennen und macht, sich eine eigene Betrachtungsweise zu eigen. Als Ursachen für das Elend der Arbeiter sieht er deren
Wenzel Holek niedrigen Bildungsstand, ihre geringe Sittlichkeit' und den Alkoholismus. Einen Kausalzusammenhang meint er zwischen der geringen Bildung und den Lebensumständen auszumachen. Unmoral jedoch erscheint ihm als unentschuldbares Vergehen der Arbeiter selbst. Es scheint, als idealisierte er schon in seinen jungen Jahren eine Art ,sittliches Leben', wie er es später in den bürgerlichen und den Idealen der SAG finden sollte. Sein Wille zum sozialen Aufstieg, den er mittels seines unermüdlichen Schaffens und seinem Drang nach Bildung durchzusetzen sucht, bricht immer wieder an der gesellschaftlichen Realität. Er selbst beschreitet zwar zunächst die durch seine Herkunft vorbestimmten Wege, betont aber immer wieder, daß er sich und sein Streben nicht als exemplarisch empfindet, sondern sich zu ,Höherem' berufen fühlt. Seinen vorgezeichneten Weg versucht er bald, wenn schon nicht materiell, so doch zumindest durch die Überschreitung ideeller, geistiger Grenzen zu durchbrechen und so eine neue, wenn auch noch nicht bestimmbare Neuzuordnung zu erreichen. Er sucht einen Ausweg aus der ihm unerträglich erscheinenden Lage als Arbeiter. Wenzel Holek schafft sich Kontakte zu sozialistisch denkenden Arbeitern, weil er sich diesen nicht nur durch die Ideen, sondern auch durch das Streben nach Bildung verbunden fühlt. Er fängt an zu lesen und sich so das ihm anscheinend verlorene Wissen zu erobern. In seiner Jugend bekennt er sich emphatisch zu den sozialdemokratischen Ideen. Er war Mitglied in Arbeitervereinen und auch Mitbegründer eines Vereins sozialistischer Arbeiter. Er hielt Vorträge im Arbeiterverein, obgleich es für ihn ungemein mühselig war, sich das Wissen hierfür neben dem täglichen Broterwerb anzueignen. Auch als er wegen materieller Not teilweise das Vereinsleben aussetzen mußte, nutzte er die Zeit, um sich nach der anstrengenden körperlichen Arbeit weiterzubilden. Er nimmt für seine politischen und privaten Ziele wahrhafte Sisyphusarbeit auf sich. Das Durchsetzen seiner Ideale bringt seine Familie des öfteren wieder in Not. So beschreibt er schon im ersten Band seiner Autobiographie, wie er nach einem Redebeitrag zum l . M a i seine Arbeit verliert, wegen
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seiner sozialdemokratischen Haltung auf gering bezahlte Arbeitsstellen geschoben wird oder, um seiner eigenen Ideen willen, besser bezahlten Posten verliert. Sein Bildungshunger ist sprichwörtlich und klingt in seiner ersten Autobiographie für uns teilweise recht hart an - über den Notverkauf seiner kleinen sozialistischen Bibliothek schreibt er: „Ich mußte das, was mich am meisten freute, opfern. Wenn mir ein Kind starb, fühlte ich mich nicht so schmerzlich getroffen als damals, w o ich die Bücher aus dem Hause tragen mußte." 4
Diese Sätze deuten nicht nur auf sein vehementes Bildungsstreben hin, das für ihn die einzige Möglichkeit des Aufstiegs in ein ,menschenwürdiges', ein ethisch ,reines', sittliches Dasein symbolisiert, sondern zeigt zugleich auch die besondere Bedeutung der Bildung in diesen Volksschichten. Bildung kann hier nur im Kampf erworben werden und besitzt Seltenheitswert. Die Gründung von Arbeiterbildungsvereinen hatte, wie er schreibt, vor allem das Ziel, durch eine bessere Bildung den Grundstein für eine sozialistische Gesinnung zu legen. Wenzel Holeks Weg wird bestimmt durch seinen enormen Ehrgeiz. Er besitzt eine Persönlichkeitsstruktur, die ein Höchstmaß an Eigenständigkeit verlangt. Kompromisse scheint er seiner Selbstdarstellung nach genauso wenig zu kennen wie Demut vor Vorgesetzten. Gerade diese Eigenschaften sind es, die dazu führen, daß er die Grenzen seiner Klasse überschreitet und die ihn letztendlich zu einem kulturellen Randseiter machen. Es ist nicht nur die Vielzahl persönlicher und gesellschaftlicher U m stände, die ihn an die Grenzen seiner Klasse vordringen lassen, vielmehr erzeugt er diesen marginalen Zustand selbst. In seinem Arbeiterleben ist er nicht nur Handarbeiter in Ziegeleien und Zuckerfabriken, sondern auch Redakteur des tschechischen Arbeiterblattes ,Eintracht', Einzelhändler, Handelsvertreter, Händler in einer Konsumgenossenschaft, Vorarbeiter in verschiedenen Ziegeleien, Kohlenschieber in Glasfabriken. 4 Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Jena 1909, S.324.
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Wahrscheinlich ist es auch diese Vielzahl von Erfahrungen, die er teils durch die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen seiner Familie, teilweise aber auch durch die Beschaffenheit seiner Persönlichkeit macht, welche ihn von Grund auf in einer Randexistenz halten. Betrachtet er die durch Schwerstarbeit geprägten Menschen des eigenen Standes, schreibt er: „Kein Wunder, wenn sie dann für etwas geistig H ö h e r e s , Schönes und das Menschenleben veredelnde keinen Sinn hatten. U n d ich, der ich so voll Sehnsucht nach alle dem war, ich m u ß t e nun meine Tage unter ihnen verbringen, m u ß t e auf alle geistige Beschäftigung verzichten. J e n e aber fühlten sich zufrieden. Ihr einziges Bestreben war, recht viel Geld nach H a u se schicken zu k ö n n e n . " '
Es ist eine Distanzhaltung gegenüber den Standesgenossen zu spüren, die sich mit seiner wachsenden Bildung noch verstärkt. Es ist anzunehmen, daß er auch nach außen mehr und mehr als verhärtete Persönlichkeit aufgetreten ist. Seine immer wieder fehlschlagenden Pläne und die Wahrnehmung der Tatsache, daß die sozialdemokratischen Ideale oftmals an dem Stoizismus der Genossen scheitern, lassen darauf schließen. Die Hoffnungen seiner Klassengenossen beschreibt er so: „Viele wandten sich von den Christlichen und ihrem Versprechen, der Erlösung nach dem Tod, ab und warfen sich auf die H o f f n u n g , daß die Erlösung aus ihrem Jammertale nun noch während ihres Lebens durch den Sozialismus k o m m e n werde."6
Wahrscheinlich ist es eine Art Fremdheit unter Gleichen, die der Grund für die Entfernung von den Arbeiterorganisationen ist und die seinem Leben eine bestimmende Wendung gibt. Eine Grenze, die von ihm selbst produziert wird und die sich so schnell nicht in einer neuen Zugehörigkeitsdefinition niederschlagen konnte. O b w o h l er in seinen Bestrebungen unermüdlich war, schrieb er über seinen Ehrgeiz in der Arbeiterbewegung, daß dieser bald gebrochen war. Persönliche Mißerfolge hatten ihn im Laufe der Zeit mehr und mehr aus dieser Arbeit zurücktreten lassen. Die durch das Christentum implizierte Passivität den neuen Idee gegenüber enttäuschte ihn bald. In seiner Jugend bezieht er kaum Stellung zu Fragen der Reli-
Annette Vogelsberg giosität. Religion und die Befindlichkeit, die sie hervorbringt, erscheint ihm mehr als Abfallprodukt einer durch Klassenbarrieren getrennten Gesellschaft, welche es zu überwinden gilt. Die Religion beschreibt er, ganz den Marxschen Gedanken verhaftet, als Opium für das Volk. An Gesinnung und geistiger Durchdringung im sozialdemokratischen Sinn scheint es den Genossen zu fehlen. Sie würden schnellen sozialen Aufschwung erwarten, wären aber im Gegenzug nicht opferbereit. Holeks Einstellung zu den Werten der christlichen Religion sollten sich mit seinen späteren Kontakten stark modifizieren. Zunächst, da er seine sittlichen Ideale nicht in der Arbeiterbewegung findet, vor allem meint, daß sie an der zu geringen ethischen und an der ungenügenden Bildung allgemein zu scheitern droht, entfernt er sich von seinen aktiven Amtern, bleibt aber der Bewegung bis zu seinem Lebensende als Mitglied erhalten. Zu welch eigentümlicher Verbindung von sozialdemokratischen und religiösen Ideen es kommen wird, werden wir noch sehen. H o l e k sagt sich nie von der selbstgestellten Aufgabe los, Bildung als Grundlage allen ethisch-moralischen Handelns in die Arbeiterbewegung hineinzutragen. Das Halten von Vorträgen in Arbeiterbildungsvereinen oder ähnlichen Veranstaltungen wird zu seinem persönlichen ,Kampfprogramm'. Dazu muß er sich das Wissen Bruchstück um Bruchstück selbst aneignen. Die Wahl der Werke, die er studiert, gibt Aufschluß über die Quellen, aus denen er seine Weltanschauung bezieht. „Von sämtlichen Wissenschaften war ich für die Volkswirtschaftslehre und die G e s c h i c h t e am meisten eingenommen, o b w o h l ich alles las, was mir zugänglich war, wenn ich nur freie Zeit dazu hatte. A m schwersten kam mir immer A s t r o nomie und M a t h e m a t i k an." 7
Von der Beschäftigung mit diesen Dingen schrieb er nicht nur im ersten Band seiner Biographie. Wir finden Bemerkungen dieser Art fortlaufend durch seinen gesamten Lebensbericht: an verschiedenen Stel5 E b d . , S.280. 6 E b d . , S.250. 7 H o l e k : Lebensgang eines deutsch-tschechischen, S.310.
Wenzel Holek len seiner ersten Biographie und in Briefen an Siegmund-Schultze, ganze dreißig Jahre später verfaßt. Trotz aller Wandlungen besteht hier ein Leitgedanke seines Lebens, der ihm zu Kontinuität verhalf und der ihn letztlich dazu brachte, ein Grenzgänger zu werden. E r verstand das Interesse, das ihm nach der Veröffentlichung seiner ersten Biographie entgegengebracht wurde, zu nutzen. Er hatte dieses Buch auf Anregung eines bürgerlichen Freundes, des Schweizers Theodor Greyerz, den er in einem Dresdener Arbeiterbildungsverein kennengelernt hatte, geschrieben. Das Suchen nach Verbindungen zu bürgerlichen Schichten ist nicht zu verstehen als Abkehr von sozialdemokratischen Ideen, vielmehr deutet sich darin eine Neuordnung von Holeks sozialen Utopien an, die im Folgenden näher erläutert werden soll. Wenzel H o l e k entwickelt sich fort, vom bloß um Bildung Ringenden, zu einem um Weltanschauung Kämpfenden. „Meine Anschauung hatte sich durch das Studium der Weltanschauungsfragen, durch Erkenntnis anderer M e n s c h e n und durch den tieferen E i n b l i c k in das Seelenleben derer, die ich um mich hatte, gegen früher etwas geändert." 8
Nach dem Erscheinen seiner ersten Biographie kam es zu Hilfeleistungen finanzieller Art, die es ihm noch, in seinen vierziger Lebensjahren erlaubten, eine einjährige Lehrzeit anzufangen. E r beschäftigt sich während dieses Jahres vor allem mit der Sprachlehre, der Literatur, mit Volksbildung und Jugendpflege. Danach schreibt er, daß er an seinen Kollegen ein starkes psychisches Interesse hätte, welches aus der Lektüre einer Abhandlung von Löwenstein resultiert. E r versucht, wie er schreibt, das Seelenleben der Arbeiter tiefer zu ergründen, weil er jetzt einen anderen Einblick in das Leben hatte als vorher. 9 Vermittelt über seinen ,anderen' (randständigen) Einblick und die Lektüre bürgerlicher Arbeiterforschung, beginnt er, Aufsätze zu Themen wie: „Die geistige Lage der Arbeiter" 1 0 zu schreiben. Intensiv bemüht er sich um das geistige F o r t kommen seiner eigenen Standesgenossen. D o c h seine Aufsätze und Vorträge bringen ihm unter den Angehörigen der eigenen Klasse oft nur Argwohn
165 ein. Ihm wurde vorgeworfen, er hätte mit seinen Aufsatz über „Die geistige Lage der Arbeiter", dieselben vor der bürgerlichen Klasse bloßgestellt. E r schreibt selbst, daß er wegen seiner in vielen Dingen abweichenden Ansichten und seiner Tätigkeit im Bürgerverein als ,fertiger Revisionist' galt. Diese Vorwürfe lassen ihn seine ,höheren geistigen Interessen' jedoch nicht zurückstellen. E r setzt sich, motiviert durch die Kenntnisse der unterschiedlichen Denkwelten, über die eigene materiell bestimmte Klassenlage hinweg und hört somit real auf, ein Bestandteil der Arbeiterklasse zu sein. Es wird notwendig, den eigenen Gesamtkontext neu zu ergründen und nach Verbundenheiten im höherem Sinn zu forschen. E r ist gezwungen, für sich nach einer Art „Urgrund alles W i s s e n s " " zu suchen, um die eigene Verbundenheit neu bestimmen zu können, so daß ihn sein Bildungsstreben auch dazu führt, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Die Frage der Religion war im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland keine an die Institution Kirche gebundene mehr, sondern entwickelte sich seit der Aufklärung immer mehr zu einer Frage persönlicher Weltanschauung, die insbesondere getragen wurde vom Geist der deutschen Philosophie, in der die Offenbarungen des Christentums unterschwellig fortwirkten. Stolz gibt er über die wesentlichen Stücke, die zu seiner Ausbildung von Weltsicht und einem Blick auf eine gesellschaftliche Gesamtheit Aufschluß gaben, Auskunft. E r las Marx' „Das Elend der Philosophie", Nietzsches „Und also sprach Zarathustra", Schopenhauer und Kant. Das Resultat dieser Lektüre beschreibt er folgendermaßen: „ D e r Materialismus und die philosophisch geistige A n s c h a u ung kämpften miteinander wie die Schwalbe mit dem Sperling um ihr N e s t , bis die Vernunft dann doch entschied, daß eins
8 H o l e k : V o m Handarbeiter, S. 140. 9 Ebd. 10 Das Manuskript des Aufsatzes „Die geistige Lage der Arbeiter" befindet sich im E Z A 6 2 6 / II 28,6. 11 H o l e k : Vom Handarbeiter, S.103. E r verwendet die pathetisch anmutenden Worte „Urgrund des W i s s e n s " um auf die Bedeutung seiner Beschäftigung und die Dinge, die er anstrebt, hinzuweisen.
166 ohne das andere nicht sein könne, und beide sich versöhnten. Wie dem Arbeiter, der die härteste Schule des Lebens durchmachen mußte, beim Eintritt in die philosophischen Betrachtungen des Lebens zumute sein mußte, das zu beschreiben, ist völlig unmöglich, das kann ihm auch keiner nachfühlen, wenn er es selber nicht erlebt hat."' 2
In den Naturwissenschaften und auch in der Philosophie findet er nicht „den letzten Grund des Lebens", sondern läuft vielmehr in jene ideelle Leere, die die geistige Situation des deutschen Bürgertums seit den Entwicklungen im 19. Jahrhundert ausmachten. Er meint jedoch Richtlinien zu finden: „ D e r Gottesglaube war nicht das H e m m n i s des menschlichen Fortschritts; Religion enthielt so viele Wahrheiten, daß die Menschen bloß nach diesen zu handeln brauchten, um zufrieden und glücklich zu sein. Die Ursachen des H e m m n i s s e s lagen in den Menschen selbst und in den sozialen Verhältnissen. Christlich Denken und sozial Handeln ward mein Grundsatz. Dieser verdirbt die Gesinnung für Recht nicht, mochte man einer Partei angehören, welcher man wollte." 1 3
Holeks neu erworbene Religiosität steht in der Mitte privater bürgerlicher ,christlicher Weltanschauung und jener durch Gesellschaftsutopien unbewußt vermittelten Christlichkeit, in der immer noch der Glaube an die Erlösung zum zentralen, wenn auch innerweltlichen Endzweck wird. Sein Bekenntnis zeigt deutlich die fortlaufende Entwicklung, die sich seit seinen Bekenntnissen zur Arbeiterklasse in seiner Jugend vollzogen hat. Identifikationsmotiv ist nun nicht mehr eine Klasse in ihren vor allem materiell gesetzten Grenzen, für die Religion höchstens die Funktion des sprichwörtlichen ,Opiums' besitzt, wie er sich in der ersten Biographie äußert. D a er seinen sozialen Ideen immer noch treu und mit der Ausbildung einer neuen Gesellschaftsutopie befaßt ist, sucht er Wege, die zu einer sozial gerechten Bestimmung von Gesellschaft führen können. Die sozialreformerischen Projekte, zu denen er sich gesellt, wie zu der Gartenstadt in Hellerau, kranken seiner Auffassung nach immer wieder eben am geistigen Niveau der Arbeiter, dem fehlenden Gemeinschaftssinn, am nicht vorhandenem Wissen und dem immer wieder durchschlagenden weltlichen Egoismus. Die Organisation wird in der Arbeiterbewe-
Annette Vogelsberg gung seiner Meinung nach völlig überbetont, so daß es den Arbeitern an Bewußtsein für die Aufnahme geistiger Werte, die den Reichtum und die Bestimmtheit einer Gesellschaft ausmachen, mangelt. Zugehörigkeiten werden in seinen Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft nicht mehr über Klassen, sondern über ethische, sittliche und moralische Modi bestimmt, das letztlich entscheidende ist die geistige Verbundenheit, die sich ganz seinen Erfahrungen entsprechend nicht innerhalb der Klassengrenzen aufhält. Worum Holek kämpft, ist die ,Eingliederung in die moderne Kulturgemeinschaft' und die Kulturteilnahme derer, die sich durch ihre n a türliche' oder ,von Gott gegebene' 14 Grundkonstitution dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen dürfen. Eine Zuordnung, die weit über den materiellen Klassenmodellen liegt und die elitentheoretischen Ansätze nicht verkennen läßt. Schon hier setzt nicht das Streben nach gemeinem irdischem Glück an, sondern ganz im Sinne der protestantischen Ethik ist der Erlösergedanke involviert. Zu erreichen gilt es ein „ethisch-soziales Ideal" 1 5 , es ginge darum, auf die Verwirklichung der praktischen Ziele zum N u t zen aller hinzuarbeiten. Eine Forderung, die eine den christlichen Werten nahe liegende altruistische Lebenseinstellung voraussetzt. Logisch erscheint, daß sich Holek mit dieser inneren Grundeinstellung auf die Jugend besinnt. 1912 nimmt er, vermittelt durch die Kontakte, die er durch seine schriftstellerische Tätigkeit zum Bildungsbürgertum hat, seine erste Stelle als Jugendpfleger an. Die Anschauungen über die Bestimmung der Stände in einer Volksgemeinschaft sollte er erst während seines Wirkens in der S A G zu einer Theorie ausformen. Im Manuskript zu seiner dritten Biographie schreibt er:
12 Holek: Vom Handarbeiter, S.103. 13 Ebd., S.104. 14 H o l e k entwickelt in dieser Zeit erste Ansätze einer symbiotischen Betrachtung von materieller Evolutionstheorie und einer durch göttliches Wesen implizierten Geistigkeit. 15 Holek: Vom Handarbeiter, S.142.
Wenzel Holek „[...], daß die Begabungen der Menschen so verschieden seien, so daß, wenn das Elternhaus zielbewußt erziehen, und die Schule zielbewußt schulen, die Berufsberatung und die psychotechnische Prüfungsstelle so rationell Berufswahl durchführen würde, daß jeder Mensch auf den Posten gestellt werden könnte, dem seine Kräfte entsprächen, daß es auch dann noch Menschen gäbe, die die Arbeit von Straßenfegern u.s.w. verrichten müßten, und auch solche, die Ministerposten begleiten." 1 6
Er weist schon in seiner ersten Autobiographie beständig darauf hin, daß er, als ,Kulturmensch', sich an die verkehrte Stelle in der Gesellschaft gesetzt fühlte. Sein Weg bis zur SAG ist an Etappen reich und einer eigenen Betrachtung wert. Worauf es bis hierhin hinzuweisen galt, war die Grundeinstellung und der markante Charakter des Menschen Wenzel Holek, die ihn aus seiner Lebenssituation ausbrechen ließ. Das Reflektieren über das eigene Leben brachte ihn dazu, in vollstem Bewußtsein ein Exempel zu statuieren, ohne als Arbeiter selbst exemplarisch zu sein.
Wenzel Holek und die S A G Als Wenzel Holek am 10. Mai 1916 zur SAG kommt, ahnt er noch nicht, in welcher Weise hier seine eigenen Ideen und Lebensmaximen zu ihrer Verwirklichung streben. Aus Leipzig kommend, w o er Berater in Jugendpflegefragen war, hatte er bereits seine, wie er schreibt, „brauchbare Methode" 1 7 zur Jugendpflege entwickelt. Die Ausarbeitung seiner Methode beruhte auf einer strikten Verbindung zwischen Theorien und eigenen Erfahrungen, b e obachten und zielstrebig moralische Grundsätze herausarbeiten', könnte seine Devise gelautet haben. So schreibt er beispielsweise vom guten Gelingen des Vorgehens nach Försters Jugendlehre 18 , nach der er im Volksheim von Thekla versuchte, Gesinnungslehre zu betreiben „und zwar systematisch" 19 . „Der Versuch gelang so gut, daß ich den Erfolg, dessen ich mich später mit meinen Mitarbeitern erfreuen durfte, nur diesen ethischen Anstrengungen zuschreiben möchte."
Er war immerhin der Ansicht, „daß eine gute Gesinnung die Voraussetzung der guten Zucht ist" 20 . Der
167 Begriff Zucht ist nicht als Eintrichtern stumpfer Disziplinierungsübungen zu verstehen; vielmehr versucht er, sich ganz im Sinne der SAGler der jugendlichen ,Seelenstimmung' anzunähern. Seine Prinzipien beschreibt er so: „Nicht in Vortragsweise reden sondern, wie es ein Freund tut. Das habe ich eben gesehen, erlebt und als Freund muß ich davon reden und meine kleinen unerfahrenen Freunde warnen, belehren, damit auch sie nicht den selben Schaden erleiden, wie der, von dem ich eben erzählte." 21
Für ihn steht das Wirken nicht als Autorität, sondern als Vertrauensperson im Vordergrund. In Berlin übernimmt er die Leitung von Knabenklubs, die sich weder in Form noch Inhalt wesentlich von den Klubs im Leipziger Volksheim oder im Vorort Thekla unterscheiden. Es ist aber die SAG, in der er nicht nur Verbündete in der Arbeit, sondern auch ideelle Gemeinsamkeit findet, die ihm endlich dazu verhelfen wird, sein Vorgehen zu einem Prinzip und seine Ansichten zu einer eigenen Philosophie zusammenzufügen. Zum ersten Mal steht er nicht mehr als Arbeiter den Vertretern der bürgerlichen Kultur gegenüber, sondern avanciert selbst zum Vertreter einer kulturellen Botschaft. Er kann sich als Teil dessen wahrnehmen, was er ,Kulturgesellschaft' nennt. Schon 1912 vertritt er die Ansicht: „Was sich die Menschheit in mühevollem Aufstieg errang, was in unseren Sittengesetzen, in den Werken der Kunst und Wissenschaft, in der Forschungsarbeit an innerem und äußeren Leben, an der Hinterlassenschaft der großen Geister unseres Volkes aufgespeichert ist, dies in vereinigendem Streben uns zu erhalten und ganz zu eigen zu machen, ist jedes Menschen Pflicht. Vor allem sind es die grundlegenden Fragen der Erziehung, persönlicher Bildung und Gesittung, die nur im Zusammenwirken aller sonst getrennten Kräfte gefördert werden können." 2 2
Doch von der direkten Umsetzung der höchsten Ideale kann in Berlin zunächst nicht die Rede sein. 16 Wenzel Holek: Manuskript der Biographie, Teil 3, S.102. EZA 626/ II 28,8. 17 Ebd., S.169. 18 Friedrich W. Förster: Jugendlehre. Berlin 1906. 19 Holek: Vom Handarbeiter, S.157. 20 Ebd. 21 Ebd., S.141. 22 Ebd., S.145.
168 Berlin, die Großstadt, stellt zunächst eine neue Herausforderung dar. Von den Grundideen der S A G durchaus angezogen, sich, wie er es später ausdrückt, als Pionier dieser Idee verstehend, stellt er doch fest, daß die Leitung der Jugendlichen besonders in zwei Klubs schwieriger ist als in Leipzig. Die Großstadt Berlin führt bei den Jugendlichen zu spezifische Erfahrungen. Die Urbanen Lebensbedingungen erfordern zwar ein Höchstmaß an Einund Unterordnung, verhindern aber eine sogenannte ,Verinnerlichung', was für Wenzel Holek als Fehlen an moralischen Grundsätzen und mangelnder geistiger Lebenswille zutage tritt. So nennt er es Lebenskunde, was er den ,Großstadtjugendlichen' beizubringen versucht. Auf Schlagworte wie Moral, Sittlichkeit, wirtschaftliches und politisches Verständnis beruft er sich in seiner Arbeit immer wieder gern. Moralisiert wird anhand praktischer Beispiele aus dem Erfahrungsbereich der Jugendlichen, weil, so stellt er bald zu seinem Argwohn fest, bloße Abhandlungen bei den Jungen keinen Erfolg haben. So ist das Angebot an Diskussionsthemen in den Klubs reichhaltig und im weitesten Sinne von den Jugendlichen selbst bestimmt, wenngleich die Hinführung auf moralisch, ethisch reine Anschauungen nie vernachlässigt wird. Bevor er daran geht, die Jugendlichen nach seinem Bilde zu formen, die Eigenschaften, mit denen sich die Jungen in der Großstadt durchschlagen, unterdrückt oder besser vernichtet werden müssen. E r nennt es Klugheit, Schlauheit, Pfiffigkeit, womit seinem Verständnis nach Mißbrauch getrieben wird. Die Jungen besitzen trotz ihrer Mundfertigkeit wenig solide Kenntnisse, sind mit Kultur geschwängert, hochentwickelte Technik ist ihnen selbstverständlich, Natur hingegen fremd 23 , wie es ein Student beschreibt. U m an Stelle dieser Eigenschaften Charakterkräfte und Disziplin treten zu lassen, ist er darauf angewiesen, Beschäftigungen zu ersinnen, die den Großstadtgören genügend Abenteuer und Abwechslung bieten. E r muß auch der größeren Selbständigkeit der Berliner Jungen Rechnung tragen, denn diese akzeptieren Autoritäten nur schwerlich. „Sich von der Kirche schlechthin etwas vorschreiben lassen, dazu sind sie zu gescheit und
Annette Vogelsberg zu groß." 2 4 Hier zeichnet sich ein entscheidender Unterschied gegenüber seinen bisherigen Erfahrungen mit Jugendlichen ab. Die Jugend der Metropole ist individualisierter und läßt sich weder moralisch noch materiell in die Abhängigkeit von Institutionen zwingen. Will man sie ansprechen, muß man ihren individuellen Interessen entgegenkommen. G e meinschaftsgesinnung muß hier grundlegender erzeugt werden. So entwickelt er eigene Richtlinien: „ D e s h a l b nie Autorität anpredigen, überzeugen, daß religiöse G ü t e r und sittliche Forderungen ihrem eigenen besseren Ich entsprechen. [...] So wird es möglich sein, das schwierige M a terial der Berliner Jungens durch genaues Kennenlernen und durch allmähliche m e h r indirekte Beeinflussung z u m G u t e n und H o h e n zu führen." 2 5
Gemeinsam mit Prof. Siegmund-Schultze ersinnt er ausgeklügelte Erziehungsmethoden. Bei ihnen hat bald jeder Witz einen lehrreichen Hintergrund. Wenzel Holek begründet den Erfolg, den er in der Arbeit mit den Jungen zu verzeichnen hat, damit, daß er die Jugendlichen innerlich erfaßt. Es ist zu vermuten, daß es nicht nur die Suche nach der inneren Nähe zu den Schützlingen war, die Siegmund-Schultze dazu veranlaßte, gerade Wenzel Holek mit der Aufgabe der Führung der Kaffeeklappe zu betrauen. N o c h 1916 übernimmt er die Hausverwaltung und die Kaffeeklappe am Ostbahnhof 17. Die Kaffeeklappe sollte auch für Mitarbeiter Gelegenheit bieten, mit Menschen des fünften Standes in spontanen Kontakt zu treten, Einblick in die „tiefsten Abgründe des Volkslebens zu bekommen" und vielleicht „Rettungsarbeit zu versuchen" 2 6 . H o lek ist durch seine Herkunft für die S A G geradezu dafür prädestiniert, eben diese Kontakte ins Leben zu rufen. E r ist nicht wie die SAGler ein Fremdling, der sich in jeder Handlung verraten würde. E r spricht noch die Sprache der Arbeiter und besitzt Vertrautheit mit diesem Milieu. Holek ist „jemand, [...] der in zwei Gesellschaften und in zwei nicht nur verschiedenen, sondern 23 24 25 26
Aus den B e r i c h t e n eines Studenten. E Z A 6 2 6 11/28. H o l e k : Manuskript der Biographie, S.15. E b d . , S.26. Siehe A n m . 1 0 .
169
Wenzel Holek antagonistischen Kulturen lebt". 27 Er selbst sieht sich als „statusinkonsistente" Persönlichkeit. 28 Das durch seine Herkunft vorbestimmte Handeln ist ihm nicht nur schlichtweg zuwider, vielmehr versucht er durch die Art seiner Lebens- und Wertegestaltung, die an ihn gestellten Erwartungen zu durchbrechen. Die empfundene Ungleichheit zwischen sozialem und geistigem Rang ist es, die er so aufzulösen versucht. Holek ist es nicht mehr möglich, eine vollständige Identifikation mit einer der beiden sich in der SAG-Arbeit gegenüber stehenden Gruppen zu erreichen. Weder ist er Arbeiter in der ursprünglichen Bestimmung, noch kann er die Integration in der Schicht des Bildungsbürgertums vollständig erreichen. Der Mangel an wirksamer Identifikation scheint unüberwindbar, erzeugt aber gerade neue Möglichkeiten und Energien, die in beide Richtungen produktiv wirken können. Es ist nicht verwunderlich, daß Wenzel Holek zu einer Gemeinschaft stößt, die ihrerseits am Rand ihrer Kultur und ihrer Klasse steht. Die Mitarbeiter der SAG betraten mit dem Terrain des Berliner Ostens in gleicher Weise wie er kulturelles Neuland, für das es Handlungsrichtlinien zu erforschen galt. Wenzel Holek war an dieser Stelle vergleichbar mit einem ,Eingeborenen', der, im übertragenen wie im konkreten Sinn, die Sprache der ,Urbevölkerung' spricht und zu vermitteln versteht. Die sich so gegenüber stehenden Positionen bedingen nicht nur optimale ,Übersetzungsmöglichkeiten'. Es entspricht dem Charakter der Situation, daß der Weg über die Grenze innovativ wirken kann und muß.
Verbindung Wenzel Holeks mit der SAG ist die durch ihn ermöglichte, dringend notwendige tiefe Verbindung mit der Arbeiterschicht selbst.
Holek ist Träger von Wissen, das der anderen Gruppe in jedem Fall unzugänglich bleiben müßte, gelänge es nicht über ihn, den ,Marginal man', das andere, das Fremde zu erschließen. Die Erfahrung eigener Veränderung befähigen ihn für diese ,Dolmetscherfunktion' besonders. Er sieht sich in die Lage versetzt, wechselseitigen Austausch in Bewegung zu setzen und zu fördern, denn er steht im Zentrum der kulturellen Fusion. Es ist gerade Wenzel Holek, der im allgemeinen, wie auch in krisenhaften Situationen immer wieder zu problemlösenden Initiativen treibt, innovativ wirkt und ein Höchstmaß an Energie einbringt. Wesentlich an der
27 V g l . a u c h M i c h a e l M a k r o p o u l u s : D e r M a n n auf der G r e n ze. R o b e r t E z r a P a r k u n d die C h a n c e n einer h e t e r o g e n e n G e s e l l s c h a f t . In: Freibeuter. (1988)35, S . 8 - 2 2 . 28 E r w a r t u n g s d e f i n i t i o n d e r S t a t u s i n k o n s i s t e n z : Siehe T h o m a s B a r g a t z k y : D a s „ M a r g i n a l M a n " K o n z e p t : Ein U b e r blick. In: S o z i o l o g u s . 31(1981). „Einer Person w i r d eine u m so h ö h e r e S t a t u s i n k o n s i s t e n z z u g e s c h r i e b e n , je m e h r d i e M e r k m a l s a u s p r ä g u n g e n dieser P e r s o n v o n den E r w a r t u n g e n a b w e i c h e n , die die I n t e r a k t i o n s p a r t n e r b e z ü g l i c h d e r A u s p r ä g u n g h a b e n . " Ebd., S.146. M a r g i n a l i t ä t liegt d a n n vor, w e n n das Verhalten einer P e r s o n als z u m i n d e s t zwei durchaus verschiedenen Rollen zugehörig perzipiert wird.
.Vater H o l e k . 1919".
Annette Vogelsberg
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Entsprechend sind die ersten A u f g a b e n Wenzel H o l e k s als Leiter der Kaffeeklappe am Ostbahnhof zu verstehen. Wenzel H o l e k , der von sich selbst behauptete, immer noch die Sprache der Arbeiter am besten zu verstehen, schien als Kontaktperson besonders geeignet. Galt es doch die Jugendlichen des fünften Standes zaghaft an die anderen Ideen und an die neue Gemeinschaft heranzuführen. D i e Klassen müssen sich einander nähern, u m später in einem langwierigen Prozeß von einander lernen zu können. D o c h dieses Ziel sieht H o l e k schon bald in der Kaffeeklappe, die ja ein Treffpunkt der Klassen z u m Z w e c k e der Annäherung sein sollte, gescheitert. Von den Mitarbeitern bemüht sich k a u m einer in diese Einrichtung, ihnen war es oft zu schmutzig, und die Jungen, die sich am Ostbahnhof sammeln, u m in der Kaffeeklappe ihre freie Zeit zu verbringen, bezeichnet H o l e k als „ s p r ö d e s " Material, als nur begrenzt ,kultivierungsfähig'. O f t regt er sich über die Arbeitsscheuheit dieses „Gesindels" 2 9 und über die losen Sitten auf. D i e Bemerkung, daß er das Lumpenproletariat zur G e n ü g e kennengelernt hätte, macht seine innere Distanziertheit und seine Hoffnungslosigkeit dieser G r u p p e gegenüber deutlich. In seiner dritten Biographie liefert er manche Beschreibung der oftmals straffällig werdenden Schützlinge.
raktere führen würde. D u r c h Läuterung gelte es, den Selbständigkeits- und Freiheitsdrang in richtige Bahnen zu lenken. Wenn er davon spricht, die J u gendlichen vor Verzärtelung zu schützen, ist zu fragen, w o und in welcher F o r m der Großstadtjugendliche diese Art Erfahrung überhaupt machen konnte. D i e Schule war mehr ein O r t strengster U m g a n g s f o r m e n , und im Leben der Arbeiterfamilien blieb nach dem harten Alltag nur wenig Zeit und Sinn für milde U m g a n g s f o r m e n . Ein Verein wie die S A G , der den üblichen Methoden der Erziehung J u gendlicher eher entgegen wirken wollte, mußte sich darauf einrichten, daß christliche G ü t e bei den J u gendlichen in vielerlei Hinsicht zu Problemen führte. D a ß H o l e k s strenge Erziehungsmethoden als richtungsweisend verstanden werden konnten und für die mit bürgerlichen Erziehungsidealen ausgestatteten, christliche Nächstenliebe interpretierenden Mitarbeiter zur richtigen Zeit wertvolle Unterstützung gewesen sein mögen, wird glaubhaft, wenn man den folgenden A u s s p r u c h eines Mitarbeiters als eine von vielen Erfahrungen dieser Art rezipiert:
Als Angehöriger der Arbeiterklasse kann er es sich erlauben, gegen manchen U b e r m u t in dieser Stube das „ K a r w a t s c h " 3 0 wirken zu lassen. D a , wo Worte nichts halfen, mußte zur Bewahrung der R u h e psychische Gewalt angewandt werden. Die folgenden Worte können uns seine Erziehungsauffassungen diesbezüglich deutlicher machen:
H o l e k , der bereits Erfahrungen mit dieser „ R a u b tiernatur" hatte, konnte seine beispielgebenden Methoden zur Bändigung mit weniger Berührungsängsten als bürgerlich geprägte Mitarbeiter durchsetzen. Er selbst schätzt seinen U m g a n g mit den jungen Männern als väterlich ein. Sein individueller Gerechtigkeitssinn diente, wie sich andeutet, als Maßstab. Was zur B e f ü r w o r t u n g einer streng verstandenen Disziplinanwendung führte, war wahrscheinlich die Berufung auf die selbst durchlebten
„ N a c h solchen Unterbrechungen walteten die Höflichkeit und Liebe ihres Amtes weiter, aber Liebe, die streng und unnachsichtig ist gegen alles Unrechte. [...] Ihre Handlungsweise wurde immer in meiner Schreibstube unter vier Augen ausgetragen, so daß mancher mit Tränen in den Augen vor mir stand, indem ich ihn in väterlicher Weise die ganze Situation, in der er nun lebte zum Bewußtsein brachte, bis sie einwilligten, eine dauerhafte Arbeit anzunehmen." 3 1
Erziehung, so meint er, ist vor allem die Verhinderung „affiger Schwelgerei in Liebe und Zärtlichkeit", die nur zur Verweichlichung der jungen C h a -
„Überhaupt geht es nicht immer glatt ab. Wenn man die Leute noch nicht näher kennt, könnte man ungemütliche Empfindungen haben, etwa wie ein Tierbändiger, der jeden Augenblick einen Ausbruch der Raubtiernatur bei seinen Zöglingen zu erwarten hat." 3 2
29
Holek: Manuskript der Biographie, S.36-40. Die hervorgehobenen Begriffe entsprechen H o l e k s Formulierungen. 30 Bezeichnung des aus Leder selbstgebauten Instruments, welches H o l e k einsetzte, um in der Kaffeeklappe Tumult beizulegen. Ebd., S.36. 31 Ebd., S.40f. 32 Beschreibung eines Turnabends von F. Bredt. E Z A 626 / II 27,7.
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Wenzel Holek bitteren Erfahrungen, die er als positiv prägend für seine Persönlichkeitsentwicklung anerkannte. Wenzel Holek betreibt in den ersten Jahren in der S A G überwiegend eine lockere F o r m der Sozialarbeit, die es leicht möglich macht, auch Einblick in die familiäre Situation der Jugend zu gewinnen. In Holeks Äußerungen wird eine Einteilung der Menschen in ,sittliche Güteklassen' immer wieder erkennbar. Es ist auffällig, daß sein ,Blick von innen' wesentlich differenzierter auf die Arbeiterschichten schaut. Er nimmt die Arbeiterklasse nicht als ,Masse' wahr, sondern unterscheidet tendenziell, nimmt auch seine persönlichen Antipathien weniger zurück und gewinnt somit einen individuelleren Zugang, der sich auf das zwischen beiden Seiten entwickelnde Vertrauensverhältnis positiv auswirkt. Trotz Holeks einzelgängerischem Engagement wird die Kaffeeklappe 1916 geschlossen, weil ihre Arbeit nicht den erhofften Erfolg bringen konnte. Wenzel Holek wendet sich jetzt hauptamtlich der Arbeit in den Knabenklubs zu und rückt somit näher an das Zentrum der S A G . Ein Schritt, der es ihm ermöglicht mit kritischem Blick an der theoretischen Manifestierung der S A G Gedanken mitzuwirken.
Die Intellektuellen und die Arbeiter Was sich im Scheitern des Kaffeeklappenprojektes schon andeutete, tritt in der täglichen Klubarbeit mit den Studenten erst recht zutage. Die Zusammenführung von Arbeitern und Bürgerlichen zu einer Gemeinschaft scheitert an der noch immer tiefen Kluft. Holek ist in der Lage, stets einen Finger auf der Wunde zu halten. Sein eigenes Verhältnis zu akademisch gebildeten Menschen ist durchaus ambivalent; einerseits ist sein Werdegang bestimmt durch positive Einflüsse einzelner Freunde und Gönner aus dem Bildungsbürgertum, zu denen er hochachtungsvolle und freundschaftliche Verhältnisse aufrecht erhält, andererseits beschreibt er, nachdem derartige Kontakte längst zur Normalität geworden sein dürften, immer noch Berührungsängste, die den meisten Angehörigen seiner Klasse
geläufig sein müßten. So äußert er, daß Gelehrte hochnäsig und dünkelhaft seien. Gleichzeitig gibt er zu, daß ein Gelehrter, der ihn nicht mit seiner Bildung überschüttet und keine politischen Bekenntnisse von ihm fordert, enttäuschend wirkt. Wenzel Holek, der sich seine Bildung Zeit seines Lebens autodidaktisch angeeignet hatte, besaß ein eigenes Bild vom Kulturmenschen. Die S A G war für ihn die erste Möglichkeit, einen tatsächlichen, umfangreichen Einblick in das Leben der seit langem bewunderten Menschen zu gewinnen: „ N u n hatte ich Gelegenheit genug, auch bei der akademischen Jugend die Gradverschiedenheit in ihrer Begabung und Kulturfähigkeit und außer der formalen Bildung auch den p o sitiven Wert der Universitätsbildung, wahrzunehmen. Ich fand, daß auch die akademische Jugend nicht begabter ist, als die andere Jugend, daß sie das, was sie geworden ist, nur den günstigen Verhältnissen ihrer Eltern zu verdanken haben." 3 3
Die Statuierung genuiner Gleichheit der Klassen täuscht jedoch nicht über die kulturellen Distanzen hinweg. Die Studenten versuchen aus ihrer Unerfahrenheit heraus oftmals die Klassenunterschiede zu übergehen und lassen sich unbefangen auf soziale Experimente ein. H o l e k klagt in den Versammlungen, wie auch in seiner Autobiographie beständig über den fehlenden innerlichen wie äußerlichen Kontakt zwischen Arbeitern und geistiger Elite. O f t ist dieser gar nicht möglich, da die Helfer nur kurze Zeit in den Klubs bleiben und auf ihr eigenes F o r t kommen bedacht sind. In den von Studenten geleiteten Klubs scheinen ihm die Erziehungsziele abhanden zu gehen; es fehle der Kontakt, die Zucht und Ordnung. Die Möglichkeiten der Einblicknahme in das Leben des Arbeiters, die ja einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen darstellt, werde nicht genutzt. Eigen sei allen, klagt er, „daß sie das Volksleben, in dem sie wurzeln und es später zu gestalten haben, wenig kennen" 3 4 . Die Studenten vertrauten auf die Erfahrungen, die aus der eigenen Erziehung stammen und gingen so von falschen Grundlagen aus. D e r Arbeiter lebt nicht in solcher Atmosphäre, wo zu Hause noch die ,geistigen
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H o l e k : Manuskript der Biographie, S.100. Siehe A n m . 10.
172 Früchte' gepflegt werden könnten. Das in der S A G erfahrene fällt außerhalb nur allzu schnell der proletarischen Alltäglichkeit zum Opfer. Deshalb müssen die feineren Ziele in lebenspraktische Formen verpackt bleiben. N u r geistig interessierte Helfer würden es nicht vermögen, allzuviele Jungen heranzuholen und zu begeistern, den geistig nicht interessierten falle dann die Konzentration schwer, und sie würden schon nach kurzer Zeit nicht mehr kommen. Gegen die liberalen offenen Erziehungsmaßstäbe der Akademiker, die in seinen Augen oft nur ein „Drunter und D r ü b e r " erzeugen, sucht er Disziplin und ein bestimmtes Auftreten zu setzen, welches für die Jungen einen größeren Orientierungswert besitzen soll. Was in den Manifesten der S A G verankert scheint, sucht Holek in die Tat umzusetzen und nimmt die Rolle der Kontrollinstanz wie eine Selbstverständlichkeit auf sich. An SiegmundSchultze schreibt er 1923: „Ich will keine andere Rolle in der S A G haben, als die, die Verbindung zwischen Akademikern und Arbeitern aufrecht zu erhalten." 3 5 U m seine Anschauungen durchzusetzen, drohte er sogar mit dem Austritt aus der S A G . O b seine Ziele wirklich nur in der Durchsetzung der akademischen Verantwortungsbereitschaft lagen, ist zu bezweifeln. Seine Austrittsdrohung läßt allerdings erkennen, wie elementar die Durchsetzung dieses Zieles für ihn schien. Zugleich zeigt die Möglichkeit einer solchen Drohung auch die Position an, die ein Mann wie Wenzel H o l e k für die S A G hatte und die er mit der standhaften eigenen Art auszufüllen vermochte. Es gelingt ihm tatsächlich, die Verantwortungsbereitschaft der Akademiker für die Klubs zu aktivieren. Gleichzeitig bleibt es immer ein Wirken, das, subjektiv bestimmt, auf die Erreichung seiner Gesellschaftsutopie gerichtet ist. Was er heranbilden will, ist ein Typus von Erziehern, die im lebenspraktischen, wie im geistigen Sinn über ein hohes Maß an Kenntnissen und Erfahrungen verfügen: „Erst wenn sie das Pauken auf der Universität losgeworden sind, ist ihnen Gelegenheit geboten, sich weiterzubilden und etwas tüchtiges zu leisten." 3 6 Im direkten Kontakt zum sozialen Elend soll eine Annäherung an die Arbeiterklasse entstehen,
Annette Vogelsberg die ihrerseits bestrebt sein sollte, die geistig kulturellen Güter der Gesellschaft zu den ihren zu machen. N u r so und nicht anders soll und kann die geistige Verbundenheit erreicht werden, die in eine modernere sozial gerechte Kulturgesellschaft führt. Hier drückt sich die Bejahung des eigenen Lernprinzips aus. Holek sucht, nicht zuletzt um seine eigene Stellung zu legitimieren, allgemeine Prinzipien, auf deren Grundlage jener neue erstrebte Volkskörper entwickelt werden könnte, der in seinem und im Sinn der S A G steht. Die Einblicke, die er in seiner Arbeit auf beiden Seiten gewinnt, scheinen ihm Studienmaterial für die umfassende Ausarbeitung der Handlungsrichtlinien zu liefern: „Ich fasse Theoretisieren so auf, daß das D e n k e n der Praxis vorausgehen muß, indem man die Fehler in der A r b e i t erfährt und nachdenkt, wie sie zu beheben wären. Wenn aber manche von den jungen Mitarbeitern schon am dritten Tag alles Bestehende in G r u n d und B o d e n kritisieren, also noch bevor sie es gekannt haben, dann ist es eben Leichtsinn der daraus spricht. M a n kann auch nicht sagen, daß das, was gestern noch gegolten hat, auch heute noch gilt, oder daß dieselbe M e t h o d e bei allen M e n s c h e n anwendbar s e i . " 3 '
Voran stellt er die Kenntnisse über die Umgebung der Menschen „an denen man zu arbeiten hat". 3 8 Denn gerade im Leben der Arbeiterschaft sieht H o lek den Anfangspunkt aller Kultur; von hier aus nimmt der gesellschaftliche Reichtum, auf dessen Grundlage die Entfaltung der schöpferischen Kräfte eines Volkes erst möglich wird, seinen Anfang. Zugleich sind die Lebensbereiche der Arbeiter am trostlosesten und der Kultur nicht erschlossen. U m die Differenzen zwischen ideellen Ansprüchen der S A G - A r b e i t und praktischer Verwirklichung festzuhalten, greift Wenzel H o l e k immer wieder zur Feder. In seinem Aufsatz über die „Intellektuellen und die Arbeiter" 3 9 zeigt er die eigenen Erfahrungen auf, indem er weitläufig auf die Bedeutung des Kulturkontaktes in seinem eigenen Leben und in der S A G eingeht. Direkte Kontaktaufnahme, ein prakti35 36 37 38 39
Brief. E Z A 5 1 / I I 17. H o l e k : Manuskript der Biographie, S.100. E b d . , S.126. Ebd. Siehe A n m . 1 0 .
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Wenzel Holek sches Studium der geistigen und kulturellen Lage der Arbeiter sollen, und hier deutet sich eine neue Spezifik des in der S A G ausgebildeten Holekschen Denkens schon an, zu dem Ziel führen, „der Arbeiterklasse zu dienen" 4 0 . H o l e k wünscht sich von den zur S A G kommenden bürgerlichen jungen Leuten natürlich vor allem eine Art gegenseitige sittliche Befruchtung. „Der Arbeiter kann den Gebildeten belehren, der in den Lebensfragen des Arbeiters naiv sein kann." 4 1 E r erkennt einen wesentlichen Unterschied zwischen denjenigen, die aus einem sozialen Schuldbewußtsein heraus zur S A G kommen, und denen, die ohne soziale Gesinnung und ohne Vorkenntnisse zu der Gemeinschaft stoßen. Die Wirkung der bloß akademisch Gebildeten sieht er als fatal an. Diese Leute müßten in den Fehler verfallen, den Arbeitern nach dem Munde zu reden, oder sie würfen Ideen unter die Massen, für die die Arbeiter nicht reif seien und deren Auffassungsvermögen überstiegen. Des öfteren führt Holek die allgemeinen Schwierigkeiten an, die Intellektuelle damit haben, den geistigen Stand der Arbeiter und deren Reife einzuschätzen. E r betont, daß die auch in seinen Augen sittlich hoch stehenden Ideale nur von einer Minorität in der Arbeiterbewegung getragen werden. Die meisten schließen sich der Arbeiterbewegung mehr aus Freude an Aktionen an. D e r bürgerliche Jugendliche hingegen, hätte die Anbindung an das ethisch hochstehende Ziel einer besseren Gesellschaft größtenteils nicht, er würde dem geistigen wie auch dem materiellen Erbe der Väter zustreben. H o l e k findet in den Ursprungsgedanken der S A G Anhaltspunkte, die ihn bei der Ausarbeitung seines Gesellschaftskonzepts weiterführen. Die Formulierung des Schuldbewußtseins und des sozialen Gewissens wird in seinen Anschauungen bald zur Bedingung für die Arbeit der S A G , ohne das jegliches Bemühen zum Scheitern verurteilt ist. „Dies besagt schon, daß das soziale Schuldgefühl die Voraussetzung für jeden, der in die S A G geht, sein muß. Die Tatsache, daß er dann an der praktischen A r b e i t teilnimmt, einen K l u b leitet, mit Arbeitern verkehrt, dem oder jenen Arbeitsfreund hilft, ist nur die F o l g e dieser Einstellung." 4 2
D e r Verweis auf die Schuld als Grundlage sozialer Arbeit ist in diesem Zusammenhang nicht neu, die entscheidende Differenz liegt vielmehr in der Tatsache, daß es ein Arbeiter ist, der diese Rückführung begreift, anerkennt und durch eigene Erfahrungen zu bestätigen und zu belegen weiß. Holeks Leben ist geradezu ein Produkt gegenseitiger Grenzüberschreitung. So ist H o l e k selbst ein Exempel und kann als Symbol stehen. O b w o h l die von Wenzel Holek getroffenen Äußerungen sich durchaus kritisch gegen die anderen Klassen wenden, ist seine Grundeinstellung dem Bürgertum gegenüber positiv. E r meint, daß er die geistigen Gewinne, die er verzeichnen kann, vorrangig dem Kontakt zum Bürgertum und zur S A G verdankt. E r schreibt: „Meine einseitige Einstellung auf den wissenschaftlichen S o zialismus als verstandesmäßiges Mittel zur Erreichung gerechter Zustände für die Arbeiterklasse traten infolge des Verkehrs mit Angehörigen aus anderen Ständen und oft mit weiterem B l i c k immer mehr zurück. Es leuchtete mir ein, daß die Verwirklichung des Sozialismus nicht allein von der wissenschaftlichen Begründung und seiner A n e r k e n n u n g abhängt, sondern auch von der U m w a n d l u n g der sittlichen G e s i n nung." 4 3
Die Religion Wie zu erkennen ist, hat sich Holeks Intention, eine sozial gerechte Gesellschaft zu erreichen, nicht grundlegend überholt, sondern nur auf die Verwirklichung anderer Grundvoraussetzungen gerichtet. N o c h immer nennt er als erstrebenswertes Ziel den Sozialismus. Wie paßt sich nun aber diese, im wesentlichen schon vor dem Eintritt in die S A G vorhandene Utopie in das Gesellschaftsbild der S A G ? H o l e k empfindet die Interessen von Arbeitern, Intellektuellen und Bürgertum durchaus nicht als gegensätzlich. Auch der Bürgerliche hat, nicht zuletzt aus seiner Existenz als Christenmensch heraus, ein Interesse an gerechten Verhältnissen in der Welt. 40 41 42 43
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
174 Klassenkampf wird für Holek sowie für die anderen Mitglieder der S A G nur zum Zeugnis der gegenseitigen Schuld. Vortragsthemen wie „War Jesus K o m munist?" deuten daraufhin, daß Gesellschaftsutopie hier zum Erlösungskonzept gerinnt und die tiefe Verfangenheit, die im Schuldprinzip der protestantisch christlichen Religion liegt, zur hauptsächlichen Motivationsquelle wird. Zugleich glaubt man unterschwellig, im mangelnden Schuldbewußtsein der Deutschen die für das zerworfene Nationalgefühl verantwortliche Instanz zu erkennen. Die Verdrängung des von Holek als Gesetz verstandenen christlichen Schuldgefühls sei, was es dem deutschen Volk unmöglich machte, zu einer wahren Einheit zusammenzuwachsen. Eben diese Einheit, die sich aus der Entwicklung des „Höheren aus dem Niederen" 4 4 erkläre, gelte es, zu einer Gesundung der Nation und der Findung einer gesellschaftlich höher angelegten Sinnhaftigkeit wieder herzustellen. In der Einheit liegt für Deutschland, vor allem aber für die S A G , die neue Heilserwartung eines gesellschaftlichen Ganzen. Holeks Erklärung des nicht vorhandenen Einheitsgefühls, die er aus der Verbundenheit mit den Ideen der S A G heraus entwickelt, erscheint jedoch verblüffend simpel. Wie Siegmund-Schultze sieht er einen Mangel an Verantwortung, welche tief im Charakter des deutschen Volkes liegen soll, als verantwortlich für die fehlende Einheit im deutschen Volk . Mit der Anerkennung der Schuld würde die Voraussetzung für das Zusammenwachsen zu einer Volksgemeinschaft geschaffen werden. N u r derjenige würde sein Vaterland am tiefsten lieben, der bei sich selbst die tiefsten Mängel findet, nur der ein Patriot sein, der bei sich selbst die tiefsten Mängel abstellt, um der Allgemeinheit zu dienen. Letztendlich wird Deutschtum an dem Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung und gemeinsamer Schuld gemessen. Holek, der das Hauptziel seiner Klubarbeit darin sah, das soziale Pflichtgefühl und den Gemeinsinn zu wecken, wird zur idealen Instanz dieser SAG-eigenen Auffassungen. Wer sollte den Mangel an Einheit tiefer empfinden als der Wanderarbeiter, der die Gespaltenheit am eigenen Leib erfahren, geradezu durchlitten hat. 45 Die Anerkennung des Schuldge-
Annette Vogelsberg fühls paßt sich als Ausgangspunkt hervorragend in Holeks Gesellschaftskonstruktionen ein. Er ist aber hierdurch auch veranlaßt, ein neues Verhältnis zur Religion aufzubauen, mit dessen Hilfe er es schafft, das leidige Problem der scheinbar mangelnden Verwurzelung der Arbeiter in der Religion theoretisch zu lösen. Er zieht den Gedanken der Einheitsbildung über die Erklärung einer gemeinschaftlichen Schuld als Naturgesetz vom abstrakt geistigen (geistlichen) in den weltlich, materiellen Bereich hinein und macht ihn somit für den Arbeiter zugänglich. 46 Die Kritik an der Institution Kirche scheint als vertrauensbildende Maßnahme in einer Organisation wie der S A G dringend notwendig. Kirchenstatistiken belegten schließlich schon lange, daß das evangelische Kirchenwesen im Volk keine besondere Vertrauensstellung mehr einnahm. Holek hatte zu diesem Kirchenwesen ein äußerst gespaltenes Verhältnis. Er wirft der Institution vor, daß sie die Zeichen der Zeit seit langem nicht mehr beachte. D a s Verhältnis zur lutherischen Kirche offenbart sich in der Tatsache, daß sich der Glaube nicht mehr an der Institution festmacht, sondern sich auf die Verwirklichung innerweltlicher Ziele bezieht. H o lek erscheint als Ideal, um auf die Zeichen der Zeit hinzuweisen und eben ganz weltlich in die Belange einzugreifen. 44 Anspielung auf die wirkenden evolutionstheoretischen Ansätze, die sich seit dem 19. Jahrhundert durchsetzten und vor allem durch das romantische Denken vermittelt waren. Bei Holek wird der Einfluß rezipierter Darwinscher Schriften immer wieder sichtbar. 45 Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache, daß Holek als Tscheche in Deutschland auch nationale Grenzen nicht ohne Spuren überschritten hatte. 46 Wenzel Holek: Uber die Aufgaben und Ziele der Settlements. E Z A 626/6,2. Er interpretiert die Ausbildung des Schuldgefühls auf die Trieblehre zurückgreifend. „Auf der einen Seite wirken immer die sittlichen Kräfte wie Gerechtigkeitsgefühl, Mitleid, Liebe und ästhetischer Sinn zusammen gegen die niedrigen Triebe wie Egoismus, Herrschsucht, Gewalt, Gewissenlosigkeit. Diejenigen, die sich durch das erstgenannte Triebleben auszeichnen, sind eben das zum Guten mahnende und ausgleichend wirkende gesellschaftliche Gewissen, [...] das wir als Schuldgefühl oder Gewissen von unserer Kindheit an in unserem Unbewußten tragen." Ebd., S.3.
Wenzel Holek Im Jahr 1928 gibt es einen Skandal, weil Holek mit einem Gemeindediakon über seine sozialdemokratischen Ansichten in Streit geraten und deshalb aus der Kirche ausgetreten war.47 Der Kirchenaustritt sollte als demonstrative Geste gegen eine Kirche gerichtet sein, in der ein christlicher, der Allgemeinheit dienender Urgedanke nicht mehr vertreten wird. Was mit den Sozialutopien der Arbeiterbewegung vereinbar wäre, ist eine Kirche, die im weltlichen Bereich zur Heranbildung sittlicher Momente bereit ist, zugleich aber genügend Spielraum für selbstbestimmtes Handeln gibt. Holek unternimmt eigene Versuche, um die Gemeinschaft in der SAG auf ihre Religiosität hin zu prüfen und zu führen. Um die Jahre 1919/20 herum, als in Deutschland eine Vielzahl religiöser Sekten und Gruppierungen auftauchen, findet er Ansätze, die geeignet sein könnten und mehr Erfolg versprachen, als die kleinen konventionellen Bibelkränzchen, die in der SAG Tradition waren und die wenig Zulauf fanden. Holek schreibt über seine Bemühungen: „daß ich sehen wollte, ob die Meinungen, daß die Arbeiter aus der Religion entwurzelt seien, richtig sind." Zu diesem Zweck nimmt er sich die Art des amerikanischen Religionsphilosophen Ralf Waldo Trine vor, der die Vorstellungen von einem persönlichen Gott ablehnt und in Jesu nicht den gesandten Sohn Gottes mit einem Erlösungsplan sieht, sondern nur einen sittlich hervorragenden Menschen. In der Religionsphilosophie Trines sind materialistische und vernunftbetonte Ansätze nicht mehr ausgeschlossen, was sie Holek als geeignet erscheinen läßt. „Gott ist etwas, das größer sei als die Welt, ein Wesen, das hinter allem steht und in allem wirkt und die Menschen mitwirken." Hier wird sich der Ausspruch Jesu erklären: „Gott wirkt in mir und ich wirke mit." 48 So sei es nicht entscheidend, ob man dieses Wesen Gott, Leben oder Liebe nennen würde. Der Hauptanspruch Trines liegt darauf, und das ist ein wesentlicher Punkt, in dem Holek ihm nahe steht, daß sich die Religiosität im sozialen Leben auswirkt. Aus seinem eigenen Leben schöpfte H o lek die Erfahrung, daß die Vorstellung von einer höheren sittlichen Instanz ein wirksames Pendant zu
175 revolutionären Sozialutopien liefern mußte. Der Arbeiter, der sich besonders in der Großstadt seiner Selbst bewußt geworden war und protestantische Aktivität für sein Leben aufbrachte, hatte sich schon längst von höheren Mächten befreit und die eigene Kraft im Lebensprozess ausgeformt. Die Kraft, die gerade in der Großstadt wild und ungebändig wucherte und sich von den sittlichen Instanzen befreit hatte, galt es zu kanalisieren und für den ursprünglichen49 Erlösungsgedanken, einem über den Klassenschranken stehenden, neu zu gewinnen. Holek, der diese Synthese aus Religion und Sozialutopie in sich durch die SAG schon vereinigt hatte, wußte, wie man derartige Verbindungen dem Arbeiter näher bringen kann. Er wählt in seinen Diskussionsrunden nicht die Predigt, sondern die vertraueneinflößende Gesprächsform. Konkrete grundlegende Fragen, wie: „Was ist wahres Christentum?" und „Was ist Gott?" stellen die Arbeiter vor Entscheidungsfragen, fordern heraus und bewegen tiefer zum Nachdenken als die Predigt, weil sie direkter ansprechen. Jedoch betont Holek, wie wichtig es ist, bei derartigen Diskussionen ,die Zügel' fest in der Hand zu behalten, da die Leute dem Volksglauben immer noch genug verhaftet sind, um schnell in abergläubische Schwelgerei zu verfallen. Holeks Vorstellungen sind (wie sich zeigen wird) auch von spirituellen Momenten nicht frei, er meint, gerade die Vernunft, derer sich der Mensch durch den Verstand bedient, als wesentlichen Wegbereiter sittlichen Denkens und Handelns, als vermittelnde Instanz voraussetzen zu müssen. Holeks Schweben zwischen verweltlichtem, rationalem Denken, das durch Vernunft erschaubare Erklärungsmuster sucht und sein letztendliches Hingezogensein zu Vorstellungen, denen eine gewisse geistige Tiefe und Frömmigkeit nicht abgeht, scheinen, nimmt man Plessners 50 Wort von der Weltfrömmigkeit, symptomatisch für den deutschen Zustand schlechthin. 47 Vgl. z u m Kirchenaustritt Wenzel H o l e k s : E Z A 51/ II 15. 48 H o l e k : M a n u s k r i p t der Biographie, S.131. 49 Ursprünglich bezieht sich auf die D e f i n i t i o n der S A G . 50 Vgl. H e l m u t Plessner: Die verspätete N a t i o n . F r a n k f u r t a.M. 1974.
Annette Vogelsberg
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Indirekt wird bei Holek auch auf das poröse Kulturgefühl verwiesen, welches die Deutschen in sich tragen. Die Begriffe der sittlichen Gesinnung, der Volksgemeinschaft und des wahren Kulturlebens verschmelzen in diesem Sinne miteinander zu einer Heilserwartung. Denn das Wort Kultur, genauso wie die Worte Geist, Volk, Leben 5 1 bewahren im Deutschen einen religiösen Untergrund. U n d so verweisen auch die von H o l e k angeführten Kernbegriffe der S A G auf die Bruchstellen deutschen Selbstverständnisses. Hier soll sich zusammenfügen, was zusammen bisher nicht wachsen konnte. Gesinnung, Gemeinschaft, Kulturleben sind chronologisch die Schritte, welche letztendlich auf die S A G spezifische Erlösung hinführen sollen. Die Erschaffung eines wahren Kulturlebens steht im Zentrum, zu welchem die Stufen Gesinnung als erste und gegenwärtige sowie die tatsächlich über die Eroberung von Gesinnung als der ,inneren Kraft' entstehende Gemeinschaft Vorstufen sind. In der Gemeinschaft etabliert sich nur jener ethisch und moralisch reine Mensch H o l e k wird im Laufe seiner S A G - A r b e i t in vielfältiger Hinsicht zum Symbol. Es scheint, als würde sein Denken von den Ideen der S A G vollständig absorbiert und er zur personifizierten Bestätigung der kulturellen Werte und Ziele der S A G . Welche immense Bedeutung Wenzel Holek für die Mitarbeiter und Anhänger der S A G hatte, drückt sich insbesondere in dem emphatischen Nachruf aus, der heute durch die Art seiner Metaphorik überrascht. Am Ende ist es gerade das Widersprüchliche seines Wirkens und seiner Person, welches seine Bedeutung ausmacht. Sein einstmals loses Verhältnis zur Religion wird durch seinen Werdegang und seine letzten Bekenntnisse entschuldigt. Der Nachruf erscheint nicht wie ein einfacher Redebeitrag, der für einen treuen, doch beliebigen Mitarbeiter der großen Sache geschrieben wurde. Man hat vielmehr den Eindruck, als entspinne sich hier erst das Finale seines Wirkens. Schade nur, daß H o l e k nicht mehr teilhaben konnte, als man seinem meist so weltlichen, der Praxis zugewandtem Tun einen göttlich erhabenen Schein verlieh. So wird sein Wirken im Nachruf insgesamt an keinem gerin-
geren als an Jesus selbst gemessen. Es lag schließlich auch im Wesen der Sache, daß ein Mann, der übergreifend an Problemlösungen beteiligt war, auch Heilserwartungen wecken mußte. Es ward ihm am Ende alles verziehen, da ja sein Weg, an Irrtümern reich, doch am richtigen Ziel endete, am Bekenntnis zum christlichen Glauben. Was konnte man zur Bestätigung Besseres sprechen lassen als seine Bekenntnisse. In seinem Nachruf wird zitiert: „Das es auf das Tun und nicht auf das R e d e n a n k o m m t , dass Jesus selbst jene verwarf, die nur , H e r r H e r r ' sagen, das hat mich das harte L e b e n gelehrt, das ich durchmachen mußte. D a s hat auch meine religiöse E n t w i c k l u n g bestimmt, und durch stete K ä m p f e , durch unermüdliches Suchen und nicht zuletzt durch das Bekanntwerden mit Menschen, die ernst machen mit ihrem C h r i s t e n t u m , durch all das wurde ich bestimmt, zu G o t t hinzustreben und Jesus zu verehren und nach Kräften zu versuchen, dass die L e h r e des grossen Meisters in meinem eigenen L e b e n Tat und Wirklichkeit wurde. D u r c h Jesus zurück zu G o t t . " 5 2
H o l e k unternimmt somit die praktische Rückführung des in der Arbeiterschaft herrschenden Geistes auf die christlichen Werte und enthebt alle sozialen Tagesforderungen ihrer Grundlage, denn „nur wer Recht tut [,] ist der Richtige" 5 3 , der in den Reihen der von sozialer Schuld Befreiten stehen wird. Würde die Lehre Jesus praktiziert werden, bliebe Klassenkampf ganz und gar überflüssig, meint er. E r erhebt die Motivationen der an der S A G Mitwirkenden in die absoluten ,Urgründe' und gibt ihnen die erhabenste Bedeutung, die im protestantischen Verständnis möglich ist. Ruth von Kleist-Retzow, eine Freundin der S A G , beschreibt ihn in ihrem persönlichen Nachruf als einen Menschen mit einem reichen Leben, „weil er beschienen war von dem A b glanz göttlicher Liebe. [...] Woher hätte er die Kraft genommen, die ihn vor hunderten Auszeichnete, die Herzensgüte, mit der er das Verlorene suchte?" 5 4 Holek hatte Gutes getan, und so galt es das Selbstwertgefühl, welches er durch seine Bekennt-
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Vgl. ebd. Wenzel H o l e k zum Gedächtnis, o.S. Ebd. Ebd.
Wenzel Holek
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A u s der Serie „Idealismus a u s g e s t o r b e n ? " . Originaltitel: „Prof. S i e g m u n d - S c h u l t z e v e r s a m m e l t m e h r m a l s in der W o c h e im N o r d e n Berlins M e n s c h e n aus allen Kreisen der B e v ö l k e r u n g u m sich u n d hält mit ihnen D i s k u s s i o n s a b e n d e ab. Alles, w a s M e n s c h e n bedrückt, u n d alles, w a s M e n s c h e n fördern kann, alle sozialen N ö t e , Fragen und P r o b l e m e w e r d e n hier z u r A u s s p r a che gebracht. A b e r es w i r d hier nicht n u r diskutiert, es w i r d hier auch w i r k l i c h geholfen." Friedrich S i e g m u n d - S c h u l t z e , links neben i h m Wenzel H o l e k . U m 1926.
nisse in die Gemeinschaft trug, zu würdigen. Es bleibt nicht verwunderlich, daß man ihn am Ende seiner Tage metaphorisch mit dem Heiland selbst verglich und ihn damit, da sein schwieriges Wesen
nicht mehr präsent war, zum Heilbringer der SAG erkor. Durch seine am Ende versöhnenden Worte stand er für die Befreiung von der sozialen Schuld und für die private ,Erlösung' der SAG- Mitarbeiter.
Die Kaffeeklappe der SAG E l k e H e t s c h e r / N o r b e r t Steigerwald
Zur klassenspezifischen Bedeutung von Kaffeehaus und Kneipe Seit der Reformation waren Nüchternheit, Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit zu Leitbildern des Bürgertums geworden, die dessen Geschäftssinn und Arbeitsethik entsprachen. Man verinnerlichte diese bürgerlichen Tugenden nicht allein durch Erziehung und Ideologie, sondern wähnte sich mit dem im 17. Jahrhundert neu aufgekommenen Getränk Kaffee nunmehr auch in der Lage, auf physiologischem Weg diese zu stabilisieren; im bürgerlichen Bewußtsein ,verstofflichte' der Kaffee gewissermaßen diese Tugenden: „Die Tassen, die aufmuntern, aber nicht berauschen." 1 Mit der vermeintlich ernüchternden Wirkung des Kaffees sollten hinderliche körperliche und sinnliche Regungen im menschlichen Organismus verdrängt und die Verstandestätigkeit geschärft werden. 2 Ebenso wie der Kaffee als der große „Ernüchterer" erhielt auch der O r t seines Konsums, das Kaffeehaus, eine zentrale Bedeutung für das zur gesellschaftspolitischen Kraft erstarkenden Bürgertum. 3 Wolfgang Schivelbusch nannte es „die ernüchternde Nachfolgerin der Schänke" 4 . Als solche konstituierte es neue soziale Verkehrsformen, insbesondere eine „gehobene und gesittete Geselligkeitsform", die sich ganz wesentlich vom alkoholgestützten Interaktionsstil in der Kneipe absetzte. Zugleich institutionalisierte es eine diskursive literarische und politische Öffentlichkeit. Damit verbunden zeigt sich die Metapher vom bürgerlichen Kaffeehaus als eine „anregende Brutstätte des Geistes" 5 , wo ,Philiosophien' entwickelt und, wie Kurt W. Back und D o n na Polisar es allgemeiner ausdrücken, neue und unkonventionelle Ideen in einer solidarischen A t m o -
sphäre formuliert wurden. 6 Entsprechend war das Kaffeehaus ein O r t , an dem sich das kulturelle Selbstverständnis der Bourgeoisie bilden konnte, aber auch eine Stätte politischer Aktivität, denn „einige Kaffehäuser lancierten Revolutionäre und brüteten die Revolution aus" 7 . Von nicht minderer Bedeutung war das Kaffeehaus für die bürgerliche Geschäftswelt, entsprach doch scheinbar die dort anzutreffende Atmosphäre Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit bürgerlicher U n ternehmer. 8 Daneben war es auch ein möglicher Treffpunkt für Fremde und insbesondere ein Zufluchtsort der Boheme vor schlechten Wohnverhältnissen und Kälte - hier zeigt sich übrigens eine Schnittstelle zur Arbeiterkneipe, wie gleich gezeigt wird. Als letzte1 Zit. nach Kurt W. B a c k , D o n n a Polisar: Salons und Kaffeehäuser. in: K ö l n e r Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. ( 1 9 8 3 ) Suppl. 25, S.279. 2 Zu diesem Abschnitt und der R o l l e des Kaffees hinsichtlich der protestantischen E t h i k im Sinne Max Webers siehe ausführlicher: Wolfgang Schivelbusch: D e r Kaffee als bürgerliche Produktivkraft. In: Ästhetik und K o m m u n i k a t i o n . ( 1 9 7 8 ) 33, S . 8 - 2 0 . 3 Das Kaffeehaus im 17./18. Jahrhundert gilt zusammen mit dem Salon als die früheste Institution bürgerlicher Ö f f e n t lichkeit. 4 Schivelbusch: D e r Kaffee als bürgerliche Produktivkraft, S.8. 5 Bernd Müller: I m Cafehaus. Berlin 1984, S.7. 6 B a c k , Polisar: Salons und Kaffehäuser, S.276. 7 E b d . , S.280. 8 D o n n a Polisar und K u r t B a c k nennen das Kaffeehaus u.a. im K o n t e x t mit der G r ü n d u n g einer Versicherungsgesellschaft. B a c k , Polisar: Salons und Kaffeehäuser, S.280.
180 res kristallisierte sich das Kaffeehaus zu einem Zentrum geistiger und künstlerischer Bewegungen heraus. Gerade das Kaffeehaus im Berlin der zwanziger Jahre gilt als Treffpunkt der Avantgarde. 9 Entsprechend entstand das Bild vom Kaffeehaus als ,Kulturwerkstatt', das noch in heutigen Vorstellungen von Künstler und Literatencafes fortlebt. Gegenüber diesem hier skizzierten Bild des Kaffeehauses, das als ein idealtypisches zum Symbol bürgerlicher Kultur und protestantischer Ethik geronnen war 10 , standen Wirtshaus und Branntweinschänke für proletarische Geselligkeit und Freizeitverhalten. Die Kneipe war eine der ersten Freizeiteinrichtungen für Arbeiter." Ebenso wie der Kaffee als „Klassengetränk" 12 in die bürgerliche Welt waren alkoholische Getränke ins Alltagsleben der Arbeiterschaft integriert. Biertrinken war gewissermaßen Symbol einer spezifischen sozialen Zugehörigkeit. Der hohe Stellenwert der Kneipe im Arbeiterleben erklärt sich nicht zuletzt aus den beengten Wohnverhältnissen, die dem Bedürfnis nach Geselligkeit und Erholung von schwerer körperlicher Arbeit nicht genügen konnten. So stellte sie gewissermaßen einen Ersatz für die Wohnstube dar. Als Wärmeraum, Aufenthaltsort, Speiseraum, aber auch als Zufluchtsort vor den Lebensverhältnissen bot sie die Möglichkeit der zwanglosen Kommunikation und des Erfahrungsaustausches. Uber dieses informelle Beisammensein hinaus gewährte sie als Anlaufstelle für Neuankömmlinge in der Stadt zugleich deren soziale Integration, war aber auch Arbeitsvermittlungsstelle und Ort der Lohnauszahlung. Mit dem nach 1890 aufblühenden Vereinsleben wurde ihre Bedeutung für die Gestaltung der arbeitsfreien Zeit verstärkt. Als Versammlungs- und Veranstaltungsort wurde sie von den zahllosen Gesangs-, Sport- und Bildungsvereinen wie auch für Tanz und Theater genutzt. Selbst die Alkoholgegner fanden sich hier zusammen. Ebenso wie das Kaffeehaus in seinen Anfängen nicht nur ein Ort der Kultur, sondern auch der Politik war, erhielt auch die Kneipe insbesondere zur Zeit der Sozialistengesetze (1878-90) politischen Charakter in ihrer Funktion als Versammlungsraum der organisierten Arbeiterbewegung, w o auch der nichtorganisierte Arbeiter
Elke Hetscher / Norbert Steigerwald erreicht wurde. Hier wurden Beiträge und Spenden kassiert, Mitglieder geworben und Aktionen vorbereitet. Ihre Bedeutung als politisches Forum für die Sozialdemokraten erhellt sich besonders in den Ausführungen Karl Kautskys über den Stellenwert der Kneipe im Arbeiterleben. Der Arbeiter, so Kautsky, „hat keinen Salon zur Verfügung, er kann seine Freunde und Genossen nicht in seiner Stube empfangen; will er mit ihnen zusammenkommen, will er mit ihnen die Angelegenheiten besprechen, die sie gemeinsam berühren, dann muß er ins Wirtshaus. Die Politik der Bourgeoisie kann desselben entbehren, nicht aber die Politik des Proletariats - wenigstens in Deutschland." 1 3 Die Kneipe bezeichnete er dabei als „das einzige Bollwerk der politischen Freiheit des Proletariers" und als das einzige Lokal, „in dem die niederen Volksklassen frei zusammenkommen und ihre gemeinsamen Angelegenheiten besprechen können. Ohne Wirtshaus giebt es für den deutschen Proletarier nicht blos kein geselliges, sondern auch kein politisches Leben." 14 Die Kneipe erhielt also teilweise eine analoge Bedeutungsfunktion für die Arbeiterklasse wie das Kaffeehaus einst für das Bürgertum.
Die Kaffeeklappen Die proletarische Kaffeestube ermangelt bislang einer eingehenden Untersuchung zu ausschließlich aht sich die Forschung auf das bürgerliche Kaffeehaus, insbesondere auf die Literaten- und Künstlercafes sowie die Nobeletablissements der gehobenen 9 Hier sei insbesondere an das Romanische Kaffee erinnert. Uber den Zusammenhang von Kaffeehaus und Pariser Boheme siehe: Ebd., S.281. 10 Zu den ,Schattenseiten' des Kaffeehauses siehe: Ebd. 11 Manfred Hübner: Zwischen Alkohol und Abstinenz. Trinksitten und Alkoholfrage im deutschen Proletariat bis 1914. Berlin 1988, S.109. 12 Ebd., S.15. 13 Karl Kautsky: Der Alkoholismus und seine Bekämpfung. In: Die Neue Zeit. (1890)30, S.106. 14 Ebd., S.107f.
Die Kaffeeklappe der SAG Mittelschicht einerseits und andererseits auf dessen Pendant die Arbeiterkneipe konzentriert. Gewissermaßen als Pendant zum bürgerlichen Kaffeehauses wird die private Kaffeestube seit der Mitte des 19.Jahrhunderts zu einer weiteren Domäne des Proletariats. In ihrer äußeren Erscheinung den Kneipen und Destillen aufs engste verwandt, unterscheiden sie sich von diesen lediglich dadurch, daß sie keine Schankgenehmigung besaßen. Aus diesem Grund boten sie „Kaffee, Tee, Schokolade und einen kleinen Imbiß bis in die frühen Morgenstunden" 1 5 an. „Mit echt Berliner Sarkasmus", so Ulla Heise, „wurden sie Kaffeeklappen genannt" 16 . Vor allem Angehörige bestimmter Dienstleistungsberufe scheinen Kaffeestuben besucht zu haben. Hans Fechner alias Spreehanns schrieb um die Jahrhundertwende: ,,[S]o n a n n t e m a n d a m a l s die meist guten, a b e r b i l l i g e n W i r t schaften, die ü b e r das g a n z e B e r l i n verstreut w a r e n . Sie lagen z u m Teil u n t e r d e m S t r a ß e n n i v e a u , so d a ß m a n n u r d u r c h ein paar a b w ä r t s f ü h r e n d e S t u f e n h i n e i n g e l a n g e n k o n n t e . H i e r v e r s a m m e l t e n sich g e w ö h n l i c h die D r o s c h k e n k u t s c h e r , überh a u p t W a g e n f ü h r e r aller A r t , bis h i n a b z u m besser s i t u i e r t e n Hundefuhrwerksbesitzer. Dienstmänner und Marktweiber e r g ä n z t e n h ä u f i g das b u n t e B i l d der Besucher. O b w o h l a u c h ein R u m o d e r ein , N o r d l i c h t mit L u f t ' , ein G i l k a , zu h a b e n w a r e n , so b i l d e t e n der Kaffee, gute M i l c h u n d eine e i g e n a r t i g e S c h o k o l a d e d a s H a u p t g e t r ä n k der K a f f e e k l a p p e n b e s u c h e r w ä h r e n d der k ä l t e r e n J a h r e s z e i t . " 1 7
Die mannigfaltigen Gesichter der Kaffeeklappe skizzierte zu Anfang unseres Jahrhunderts Hans Ostwald. Als den ursprünglichen Typus nannte er die bereits von Hans Fechner beschriebene, im Keller befindlichen Räumlichkeiten. Daneben variierte das Erscheinungsbild, die Ausstattung der Kaffeeklappen, je nach Stadtviertel und den Bedürfnissen der sie frequentierenden Gäste. „In der Nähe der großen Kaufhäuser und Engrosgeschäfte", so Hans Ostwald, ist das Interieur freundlich und familiär und wirkt „ein bischen kleinbürgerlich". 1 8 In dieser Art von Kaffeeklappe sucht das Publikum, u.a. vom Einkauf ermüdet und abgehetzt, Erholung und Erfrischung bei einfacher Verpflegung. Sie wird in den Arbeitspausen zur Anlaufstätte einfacher Händler und Arbeitnehmer, zugleich aber auch für Arbeitsuchende. Daneben gibt es die ausgesprochene Ar-
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„Arbeitslos. In der Kaffeestube hinter der P i ß b u d e . " A l f r e d Ahner, 1925.
beitslosenkaffeestube. Ein prägnantes Bild von der dort herrschenden resignativen Stimmung hielt Alfred Ahner in seiner Kohlezeichnung „Arbeitslos. In der Kaffeestube hinter der Pißbude" von 1925 fest. In der Reichweite der Tragik dieser Lebensumstände befindet sich das Publikum der „Lumpenbörse", einer Kaffeeklappe, die Hans Ostwald ebenfalls beschrieben hat und die Absatzstelle und Tauschort für Erbetteltes war. Etwa vierzig Jahre früher charakterisierte bereits Gustav Rasch einen Typ von Kaffeeklappe als Heimstätte der Halbwelt: „Die k a r g e A u s s t a t t u n g d e r K a f f e e k l a p p e b e s t a n d aus e i n i g e n l a n g e n H o l z t i s c h e n , S c h e m e l n u n d S t ü h l e n . A n den W ä n d e n b e f a n d e n sich auf einer h ö l z e r n e n Etagere Bierseidel, B r a n n t w e i n g l ä s e r u n d S c h n a p s f l a s c h e n , also n u r das A l l e r n o t w e n digste. D e r gelb (in a n d e r e n Fällen g r a u ) g e s t r i c h e n e n i e d r i g e R a u m w u r d e v o n z w e i G a s f l a m m e n s p ä r l i c h erleuchtet. G e gen z w e i U h r m o r g e n s h e r r s c h t e H o c h b e t r i e b . D a s P u b l i k u m
15 P a u l T h i e l : L o k a l - T e r m i n in A l t - B e r l i n . Ein S t r e i f z u g durch Kneipen, Kaffeehäuser und Gartenrestaurants. B e r l i n 1988, S.90. 16 U l l a H e i s e : Kaffee u n d Kaffeehäuser. Eine K u l t u r g e schichte. H i l d e s h e i m , Z ü r i c h , N e w Y o r k 1987, S.209. 17 H a n s F e c h n e r : Eine J u g e n d g e s c h i c h t e aus d e m v o r i g e n J a h r h u n d e r t . B e r l i n 1911, S.182. 18 H a n s O s t w a l d : B e r l i n e r K a f f e e h ä u s e r (= G r o ß s t a d t d o k u mente, B d . 7). Berlin, L e i p z i g o. J., S.66f.
Elke Hetscher
182 setzte sich aus Taschendieben und ihren Hehlern, Bauernfängern, Prostituierten und deren A n h a n g zusammen. H i e r wurden die E r l ö s e der vorangegangenen Diebeszüge diskutiert, Beute verteilt, neue Projekte b e s p r o c h e n . " "
Ahnlich vernimmt sich die Kündigung des Pachtvertrages für eine Kaffeeklappe, die die Vermieterin an den Betreiber ausspricht: „ D i e Wirtschaft im Keller gefällt mir nicht und verschimpfiert mir mein Haus. Ich bin eine anständige Frau und darum kann ich es nicht zugeben, daß sie hier unter meinen Augen eine solche Kaffeeklappe halten, w o das liederliche Gesindel, Herumtreiber, Bauernfänger verkehren. D i e ganze N a c h t durch wird gejubelt, getrunken, gespielt und gottloses Zeug getrieben. Das will ich nicht länger dulden." 2 0
D e facto unterschied sich diese Art von Kaffeeklappe bezüglich der dort anzutreffenden Trinksitten und -gewohnheiten nicht von den üblichen Arbeiterkneipen und Destillen und war ebenfalls wie jene aus puritanischer Sicht des Bürgertums ein Symbol für Trunkenheit, Unsitte und Unmoral.
Alkoholgegnerischer Kulturkampf Alkoholdebatte und Diskurs der „sozialen Frage" Im Jahre 1912, also etwa zu der Zeit, als die S A G ihre Arbeit im Osten Berlins aufnahm, gab es in Deutschland 119 Abstinenz- und Temperenzverbände sowie 65 Abstinenz- und 9 Temperenzzeitschriften. 21 N e b e n einer vorbeugenden, die Öffentlichkeit belehrenden und aufklärenden Tätigkeit (die sowohl den familienfeindlichen Charakter der Kneipe betonte als auch auf die gesundheitlichen Schäden des Alkoholmißbrauchs hinwies und die wirtschaftlichen und sittlich-moralische Folgen für den einzelnen wie auch [die] Gesellschaft hervorhob) gab es rein karitative Hilfsmaßnahmen wie etwa die „Trinkerrettungsbrigaden" der Heilsarmee oder das Aufsuchen von Trinkern und Trinkerfamilien durch den Blau-Kreuz-Verein. 2 2 Mäßigkeitsbemühungen wie auch die Forderung nach strikter Abstinenz durch zahlreiche Enthaltsamkeitsvereine zielten darüber hinaus auf einen restriktiven staatlichen Eingriff,
/ Norbert Steigerwald
beispielsweise durch Reformierung der Gesetzgebung 23 , vor allem auf eine Gasthausreform 2 4 . Diese auf breiter Front von bürgerlichen Alkoholgegnern 25 geführte Antialkoholkampagne richtete sich primär gegen die Trinkgewohnheiten der unteren Bevölkerungsschichten. Wenngleich dabei auch auf die gesundheitlichen Schäden wie auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des A l k o h o l mißbrauchs' sowohl für den einzelnen als auch für die Volksgemeinschaft hingewiesen wurde, so galt die Kritik doch weniger dem Alkoholkonsum an sich als vielmehr den proletarischen Trinksitten bzw., aus bürgerlichem Objektiv, ,Trinkunsitten', die als bewußte Abgrenzung der Arbeiterklasse von den kulturellen Praktiken des Bürgertums empfunden wurden. 2 6 Als Projektionsfläche dieser Kritik diente dabei primär die Kneipe, deren eigentlicher Daseinsgrund auf den Alkoholausschank reduziert wurde. Aus der Sichtweise bürgerlicher Kreise war sie der vermeintliche, zudem öffentliche O r t proletarischer Trunkenheit und Quelle sittlichen und moralischen Verfalls. Als Ideal galt das Kaffeehaus, wobei dessen ,Schattenseiten', wie beispielsweise die heimliche Prostitution, negiert wurden. Wie das fol19 20 21 22
23 24
Gustav Rasch: Berlin bei N a c h t . Culturbilder von Gustav Rasch. Berlin 1871, S.55ff. M a x Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder. Leipzig, Berlin 1982, S.307. H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , S.144. Magnus Hirschfeld: D i e Gurgel von Berlin ( = G r o ß s t a d t dokumente, Bd. 41). Hgg. von H a n s O s t w a l d . Berlin, Leipzig o.J, S.108f. Vgl. hierzu H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , S.154. G r ü n d u n g des Deutschen Vereins für Gasthausreform im J a h r e 1902 durch den D e u t s c h e n Verein gegen den M i ß brauch geistiger Getränke. Bis 1911 richtete dieser fünfzig Gaststätten ein, bei denen der Wirt nicht mehr am U m s a t z beteiligt war. D a h i n t e r stand die Kritik am vermeintlichen Trinkzwang alkoholischer G e t r ä n k e in den h e r k ö m m l i c h e n Kneipen. Vorläufer dieser Gasthäuser waren die sogenannten Volkskaffeehallen. Vgl. hierzu H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , S.155.
25
Siehe hierzu Manfred H ü b n e r : Zwischen Vereinskneipe und Sportarena. Proletarische Geselligkeit, Arbeiterverein und kommerzielles Massenangebot. In: M K F (Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung). ( 1 9 9 2 ) 3 0 , S.137.
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Vgl. hierzu H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , S.143.
Die Kaffeeklappc der SAG gende Zitat zeigt, kam in diesem Zusammenhang den bürgerlichen Kategorien von Familie 2 7 und Bildung eine zentrale Bedeutung zu: „ D i e Kneipe ist aber nicht nur ein R a u b an der Häuslichkeit, sondern ebenso auch an allen Stätten der Bildung, der edlen, erhabenen Unterhaltung und des Menschheits- und G o t t e s dienstes." 2 8
Damit verband sich eine generelle Ablehnung von Vergnügung und Geselligkeit im Arbeiterleben vor dem Hintergrund einer ethisch motivierten und bildungsorientierten Kulturauffassung, unabhängig vom politischen Standort der Alkoholgegner. 2 9 D a sich proletarisches Freizeitverhalten aber gerade über die Kneipe institutionalisierte, verwundert es nicht, daß diese im Brennpunkt des bürgerlichen Kulturkampfes gegen Alkohol stand. Diese kneipenfeindliche Haltung fand sich auch bei sozialdemokratischen Alkoholgegnern 3 0 , wenngleich deren Polemik gegen die Kneipe unter ganz anderen Vorzeichen stand: Gemütlichkeit und Genügsamkeit der Kneipengeselligkeit wurden als Hindernis im Klassenkampf angesehen. 31 Das Nüchternheitspostulat bzw. die Alkoholund Kneipenkritik war in. direktem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Diskurs der „sozialen Frage" als ein sittlich-moralisches Problem gestellt. 32 Alkoholismus galt in diesem Kontext als Hindernis bei der Besserung der sozialen Lage der Arbeiter, Abstinenz bzw. Nüchternheit war nunmehr nicht allein eine bürgerliche Tugend, sondern wurde gewissermaßen zur Kardinaltugend des i n ständigen' Arbeiters erhoben. Auf der anderen Seite, gemeint sind hier die Stimmen aus den Reihen der sozialdemokratischen Partei, wurde sie zur Grundvoraussetzung für den Klassenkampf erklärt. Allgemeinhin wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen sozialer Situation, insbesondere die engen Wohnverhältnisse, Kneipengeselligkeit als Folge und schließlich Flucht in den Alkohol hergestellt. „Namentlich in den G r o ß s t ä d t e n genügen selbst bessere Arbeiterwohnungen nicht mehr für den geselligen Verkehr der I n w o h n e r aus. H a t der M a n n aus dem Volke aber gar eine schäbige und unbehagliche W o h n u n g , oder lebt er als Unverheirateter als Schlafbursche, dann läuft er in die Kneipe und
183 damit dem A l k o h o l in die A r m e . [...] Einen warmen R a u m , einen gewissen K o m f o r t und einen neutralen B o d e n für den ungenierten Verkehr mit den Kameraden, alle diese A n n e h m lichkeiten gewährt ihnen das Wirtshaus in höherem M a ß e als die W o h n u n g . Es kann also nicht überraschen, daß die Kneipe dem Aufenthalt im Kreise der Familie vorgezogen wird. [...] Gleichzeitig ist das Wirtshaus aber manchmal auch die Stätte, w o der Mäßige das Trinken lernt, der Unschuldige der Verführung erliegt, der Gewissenhafte leichtsinnig wird, der Friedliche zu toben anfängt, w o der letzte Pfennig draufgeht und das Familienglück begraben wird. D e r Weg aus dem Wirtshaus führt den einen zurück in ein glückliches H e i m , zu nützlicher Arbeit, den anderen zum Pfandhaus, zum G e f ä n g nis, z u m Armenhaus, zum Bordell, zum Irrenhaus, z u m Krankenhaus je nachdem. Das Wirtshaus kann gemeinnützig sein und ist von Hause aus eine gemeinnützige Anstalt; es kann aber mitunter gemeinschädlich werden und ist es jetzt auch in vielen Fällen. Deswegen strebe man dahin, an Stelle gemeinschädlicher Kneipen Erfrischungsstätten ohne A l k o holtrinkzwang zu gründen [ . . . ] . " "
Bereits die sogenannten Volkskaffeehallen, die für das ,ärmere Volk' gedacht waren, stellten einen frühen bürgerlichen Versuch dar, mittels Substitution 27
D e r A l k o h o l wurde immer wieder als U r s a c h e für ein zerstörtes Familienleben genannt und der familienfeindliche C h a r a k t e r der Kneipe hervorgehoben. W i e H ü b n e r sagt, konstituierte die Kneipe eine spezifische, „halboffene" Familienstruktur, „die dem bürgerlichen Ideal einer abgeschirmten Häuslichkeit regelrecht entgegenstand". H ü b ner: Zwischen A l k o h o l , S.109.
28
W i l h e l m Bode: D i e deutsche Alkoholfrage. o . O . 1892, S.43. Vgl. hierzu H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , S.186f. G e m e i n t ist hier der von sozialdemokratischen Mitgliedern gegründete Arbeiter-Abstinentenbund. Dabei wurde, wie Manfred H ü b n e r feststellte, von nicht wenigen gefordert, sich von bürgerlichen Alkoholgegnern stärker abzugrenzen. Hinsichtlich der unterschiedlichen Positionen und der kontroversen Diskussion zur Alkoholfrage innerhalb der sozialdemokratischen Partei sei hier auf das entsprechende Kapitel bei Manfred H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , hingewiesen.
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Siehe hierzu u.a. V i k t o r Adler: N i e d e r mit der G e m ü t lichkeit. In: V i k t o r Adlers gesammelte R e d e n und Schriften zur Alkoholfrage. Wien 1902. Insbes. auch H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l . U.a. in: Kaffeeschänken, ihr Bau und ihre soziale Bedeutung. Ein Ratgeber für Stadtverwaltungen, Vereinsvorstände und Volksfreunde. Hgg. von Kathreiners Malzkaff e e - F a b r i k e n anläßlich der Internationalen H y g i e n e - A u s stellung in Dresden 1911, S.l 1. Ebd., S.19-21.
184 dem ,Alkoholmißbrauch' proletarischer Schichten zu begegnen. Diese Volkskaffeehallen wurden seit 1876 häufig vom „Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke" getragen, in großer Anzahl insbesondere in den Arbeitervierteln als Alternative zu den Branntwein- und Eckkneipen eingerichtet. Die berauschende Wirkung alkoholischer Getränke sollte hier durch den Genuß von Kaffee ersetzt werden. Diese autoritär-moralisierende Intention zeigt sich besonders scharf in der Polemik christlicher Kaffeehäuser: Kaffeehaus gleich Gotteshaus, Branntweinschänke gleich Teufelstränke. 34 Daß in einigen der Volkskaffeehallen sogar Theater gespielt und Bildungsvorträge gehalten wurden, zeigt, wiewohl gleichfalls das erhobene Nüchternheitspostulat mit der Vorstellung einer Volksbildung gekoppelt war, worunter man die Wissens- und Bildungsvermittlung an Arbeiter verstand. Der bürgerliche Bildungsbegriff als ein zentraler Leitgedanke bei dem Versuch, die „soziale Frage" zu lösen, gestaltet sich besonders plastisch in folgendem Beispiel, bei dem es um einen Reformvorschlag für öffentliche Kaffeestuben anläßlich der Hygieneausstellung 1911 in Dresden ging. Darüber hinaus können die dortigen Ausführungen zum Alkoholmißbrauch und dessen Folgen sowie über die Rolle der Kneipen im Arbeiterleben exemplarisch für die oben kurz skizzierte Alkoholdebatte stehen. Auf der Grundlage einer vorangegangenen Untersuchung der bestehenden Volkskaffeehallen kam der Herausgeber einer die Ausstellung begleitenden Broschüre zu dem Fazit, jene hätten ihre ursprüngliche Absicht, ein Kampfmittel gegen den Alkoholismus35 zu sein und dem ,anständigen', aber in elenden Wohnverhältnissen lebenden Arbeiter eine Möglichkeit der geselligen Zusammenkunft zu bieten, verfehlt, und konstatierte, daß sie „sich zu einer Art Wärmestube" entwickelt hätten. Zudem fände man dort auch manchmal Alkoholausschank. 36 „Vor allem w i r d d e m Besucher s o f o r t klar, daß diese R ä u m e weniger den breiten Schichten des Volkes z u g u t e k o m m e n , als vielmehr ein ständiger A u f e n t h a l t f ü r Arbeitslose, Arbeitsscheue u n d häufig sogar f ü r verbrecherisches Gesindel sind. D e m e n t s p r e c h e n d ist auch das ganze Milieu u n d die Einricht u n g . Arbeiter, H a n d l u n g s g e h i l f e n u n d ähnliche Kreise meid e n diese Lokale. Sie suchen sie höchstens d a n n auf, w e n n sie
Elke Hetscher / Norbert Steigerwald im L e b e n S c h i f f b r u c h gelitten haben u n d sich auf der schiefen E b e n e befinden." 3 7 „Wer [...] eine Volkskaffeehalle betritt, auch w e n n er nicht gerade in sehr guten Verhältnissen lebt, hat dabei ein gewisses u n a n g e n e h m e s G e f ü h l , ähnlich wie beim ersten Besuch eines Asyls f ü r O b d a c h l o s e o d e r dergl. Anstalten." 3 8
Zu gleicher Zeit äußerte auch Hans Ostwald Kritik an den „zu massig, zu kasernenmäßig angelegten]" öffentlichen Volkskaffeehallen und verweist auf die privaten Kaffeeklappen, die hinsichtlich ihrer liebevollen und einer Wohnstube gleichenden Ausstattung vorbildhafte Funktion für jene haben sollten.39 Wie die neue Kaffeehalle aussehen sollte, zeigen die in Dresden vorgestellten Modellentwürfe und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen der N u t zung. Dabei wollte man sich ausdrücklich nicht an den luxuriösen bürgerlichen Kaffeehäusern orientieren, sondern der erklärten Absicht folgen, ein gediegenes und einfaches Kaffeehaus einzurichten, eben ,,,nur' ein Volkscafe", das jedoch auch den Geboten der Schönheit und Behaglichkeit Rechnung tragen sollte.40 Was man aber tatsächlich unter dem volkstümlichen Charakter des neuen Kaffeehauses verstand, wird anhand der Beschreibung des auf der Hygieneausstellung aufgebauten Musterkaffeehauses deutlich. Dieses ist freistehend, von einem kleinen Garten umgeben, in dem sich weiß lackierte Gartenmöbel befinden und im Innern „atmet alles E i n f a c h h e i t u n d wohlgefällige R u h e . In b l e n d e n d e m Weiß e r s c h i m m e r n die frisch gescheuerten Tische. (Breite Bänke u n d b e q u e m e Stühle laden z u m Verweilen.) A n der 34 Vgl.: Heise: Kaffee u n d Kaffehäuser, S.225. 35 In diesem Z u s a m m e n h a n g standen auch die Volksbild u n g s v e r s u c h e der Volksheime. Als „Stätten der U n t e r haltung u n d B e l e h r u n g " seien diese, so M a g n u s H i r s c h feld, „eines der wichtigsten Mittel gegen das K n e i p e n t u m " . Vgl. hierzu: Hirschfeld: Die Gurgel v o n Berlin, S.130. 36 Kaffeeschänken, ihr Bau u n d ihre soziale B e d e u t u n g , S.15. 37 Ebd., S.17. 38 Ebd., S.19. 39 O s t w a l d : Berliner Kaffehäuser, S.64ff. 40 Kaffeeschänken, ihr Bau u n d ihre soziale B e d e u t u n g , S.23f.
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Die Kaffeeklappe der SAG
Innenansicht des Musterkaffeehauses, Hygieneausstellung, Dresden 1911
Wand tickt die Uhr. (Alles gediegen und gefällig, aber nirgends Luxus; für das Volk das Beste, was man leisten konnte.^..]) Im oberen Stockwerk liegt ein größerer zweiter Sitzraum. [...] Die Wände des Gastraumes schmücken hier Fabrikansichten der Firma." 4 1
Ganz offensichtlich steht dahinter ein bürgerlicher Wertekanon, der sich zum einen in Vorstellungen von Sauberkeit und Sparsamkeit und zum anderen in Kategorien wie Zeiteinteilung und Arbeitsgehorsam, also einem gewissen Arbeitsethos widerspiegelt und den es galt institutionell, d.h. über das Kaffeehaus, zu vermitteln und im Arbeiterleben zu verorten. Entsprechend läßt sich der Begriff ,volkstümlich' als gesellschaftliche Verallgemeinerung dieser bürgerlichen ,Tugenden' bzw. Normen verstehen. Kritik richtete sich insbesondere an die schlechten Trinksitten', die sich mit der Absicht verband, proletarische Geselligkeit in den Kneipen nach dem Vorbild bürgerlicher Kaffeehauskultur zu reglementieren.
„In solchen Kaffeeschänken fallen eben alle Versuchungen fort, die den Aufenthalt in der Kneipe so teuer und zeitraubend machen, insbesondere die Unsitte des Zumbestengebens und die Sucht, sich im Trinken vor anderen hervorzutun. Mancher Arbeiter zieht es vor, sich dem in seinen Kreisen für standesgemäß gehaltenen Schnaps- oder Alkoholkonsum seiner Kollegen anzuschließen, um nicht von seinen Genossen geringer geachtet zu werden." 4 2
Analog zu bürgerlichen Kaffeehäusern sollte neben geselligen Beisammensitzen nun auch die Beschäftigung mit Briefeschreiben und Lektüre treten. „Man wird Zeitungen und Adreßbücher auslegen und den Gästen für wenige Pfennige auch Schreibgelegenheit zur Verfügung stellen." 43 „Die oberen Räume kann man abends an kleine Vereine als Versammlungsstätte oder für Vorträge abgeben. [...] Mancherorts hält man in ähnlichen Räumen Flick- und Nähkurse, Schnittzeichenstunden etc. ab, die von Bureaugehilfinnen, Büglerinnen, Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen mei41 Ebd., S.23f. 42 Ebd., S.28-29. 43 Ebd., S.33.
186 stens gern besucht werden. M a n veranstaltet Stenographiekurse und volkstümliche fremdsprachliche Unterhaltungszirkel für Handlungsbeflissene, die sich im G e b r a u c h e der englischen und französischen Sprache zu vervollkommnen beabsichtigen. < M 4
Hinter der erklärten „Fürsorge für die durch den Schnaps am meisten bedrohten arbeitenden Klassen" 4 5 und der an anderer Stelle der Alkoholdebatte geäußerten Absicht, die Arbeiter „zu einer gesunderen und wertvolleren Ausfüllung ihrer Feierstunden anzuregen, sie den öden Biertischunterhaltungen in dem ungesunden Dunstkreis der Schankstuben zu entziehen und sie für edlere Genüsse empfänglich und begehrlich zu machen" 4 6 , verbarg sich de facto eine an bürgerlichen Wertevorstellungen orientierte Erziehungshaltung, die u.a. als „kulturelle Veredlung", „Emporbildung" der Arbeiter oder „Hebung des Standes der Schaffenden" verbrämt war und zum Ziel hatte, das seit der Separierung der Klassen im großstädtischen Raum der sozialen Kontrolle verlorengegangene Proletariat zu zivilisieren und „von oben in die bürgerliche Gesellschaft [zu] integrieren". 4 7 Dabei war, wie Hübner sagt, deren Trinkverhalten als entscheidendes Hindernis „für eine ,ordentliche' Sozialisation von Arbeiterindividuen betrachtet worden [...]". Die „Nüchternheit der Arbeiter ist die Grundvoraussetzung für deren ,Kulturfähigkeit'". 4 8 Diese Erziehungshaltung findet sich, wie zuvor schon erwähnt, in analoger Weise auch bei den der SPD angehörenden Arbeiter-Abstinentenbund. Aufs engste verwandt zeigen sich die sprachlichen Bilder von „Versittlichung" und „Vermenschlichung" der proletarischen Lebensweise und „ethisch geistiger H e b u n g " , wenngleich sich damit eine ganz andere Programmatik verband. Während die Ernüchterung und Bildung der Arbeiterschaft auf der einen Seite als die Mittel verstanden wurden, den Klassengegensatz zu entschärfen und zu harmonisieren, um den gesellschaftlichen Status quo unberührt zu lassen, dienten sie auf sozialdemokratischer Seite im Gegensatz dazu als Waffe bzw. Vorraussetzung für einen erfolgreichen Klassenkampf, indem sie den Klassengegensatz schärfer hervortreten lassen sollten. 49
Elke Hetscher / Norbert Steigerwald
Die Kaffeeklappe der SAG Im folgenden soll nun dieser ,Verbürgerlichungsthese' anhand der Rolle der SAG-Kaffeeklappe bzw. der ihr dann folgenden Gastwirtschaft als Sozialisationsinstrument nachgegangen und damit der Versuch unternommen werden, die Position der S A G innerhalb dieses Diskurses zu bestimmen. Bereits 1912 formulierte Siegmund-Schultze, der Begründer der Sozialen Arbeitsgemeinschaft BerlinOst, die mit deren praktischen Arbeit verbundene erzieherische Absicht, „das Leben der anderen zu erneuern" 5 0 und „an der Hebung der umwohnenden Bevölkerung [zu] arbeiten". 5 1 Schon an dieser Stelle fallen die analogen Wortbilder auf. Zentraler Gedanke hierbei war die persönliche Berührung der Mitarbeiter mit den umwohnenden Arbeitern. Wie Siegmund-Schultze formulierte, „kann nur durch einen persönlichen Verkehr, w o möglich durch täglichen Umgang und weitgehendes Zusammenleben eine Beeinflussung erreicht werden" 5 2 . In diesem Kontext stand auch die Kaffeeklappe und in deren Nachfolge die spätere Gastwirtschaft der S A G . Bereits in den Vorüberlegungen zu den Tätigkeitsbereichen der S A G findet sich „ein Kaffeehaus, um der Trunksucht der Erwachsenen entgegenzuwirken" 5 3 . Ausschlaggebend hierfür war gewiß folgende Beobachtung Siegmund-Schultzes: „Wenn man bedenkt, wieviel H u n d e r t e von B e t r u n k e n e n allein auf der einen Straße, die unser H a u s mit dem Schlesischen 44 45 46 47 48 49 50
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E b d . , S.33f. E b d . , S.5. Zit. nach H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , S.145. F r a n z D r ö g e , T h o m a s K r ä m e r - B a d o n i : D i e Kneipe. Zur Soziologie einer K u l t u r f o r m . Frankfurt a.M. 1987, S.18. H ü b n e r : Zwischen Vereinskneipe und Sportarena, S.137. Siehe hierzu H ü b n e r : Zwischen A l k o h o l , S.185. Friedrich Siegmund-Schultze: Ein praktischer Versuch zur Lösung des sozialen Problems. Seperatdruck aus: D i e innere Mission im evangelischen Deutschland. 7(1912), S.2. E b d . , S.3. E b d . , S.2. F r a n z - J a c o b G e r t h : Bahnbrechendes Modell einer neuen Gesellschaft. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft B e r l i n - O s t 1 9 1 1 - 1 9 4 0 . H a m b u r g 1975, S.26.
D i e K a f f e e k l a p p e der S A G Bahnhof verbindet, an jedem Abend gezählt werden müssen auf dieser Straße haben w i r 61 Destillen - so ergibt sich mit Leichtigkeit, daß auf dem vorhin genannten Wege der BlauKreuz-Vereine und ähnlicher Veranstaltungen gegenüber der Riesennot nur ein unendlich geringes M a ß von Hilfsarbeit geleistet werden kann. Es ist zu bedenken, daß die 61 Destillen fast durchweg nur für Getränke, und wiederum fast nur für Schnaps, in Betracht kommen. [...] Die Straße, auf der sich unsere Arbeitszentrale selbst befindet, ist in einem vornehmeren Stil gehalten, weil das ,Fehlen eines Vis-ä-vis' die Wohnungen hebt: d.h. das Gegenüber der Kirchhöfe veranlaßt höhere Preise und infolgedessen auch ,gehobene Kneipen'. Trotzdem sind auf dieser Straße, die in ihrer Länge nicht fünf Minuten zählt, d.h. auf dem Stück von der Gr. Frankfurterstraße, der Hauptstraße des Ostens, bis z u m Landsbergerplatz, w o mit dem Friedrichshain die bessere Gegend beginnt, 42 Kneipen zu zählen. Der Straßenabschnitt, an dem unser Haus steht, enthält nur vier Häuser, in denen sich keine Destille befindet. Unter diesen Verhältnissen versteht sich von selbst, daß Mittel und Wege gefunden werden müssen, die viel tiefer in das Leben der betreffenden Straße, ja des betreffenden Hauses eingreifen, in dem die Destille ihre unglücklichen Opfer anzieht, als nur verlachte Vereine. [...] es müssen sich Menschen finden, die imstande sind, mit den Besuchern der Kneipen in nähere Beziehung zu treten. [...] erst bei näherer persönlicher Bekanntschaft läßt sich etwas erreichen. [...] Eine viel intimere Beeinflussung der unglücklichen Existenzen, die im Hause Logis finden, eine viel engere Berührung anständiger Männer mit diesen Verkommenen w ü r d e dazu gehören, ihnen zu einer Umgestaltung ihres Lebens zu verhelfen." 5 4 „Diese Leute müssen an jedem Abend wissen, wohin sie gehen können, um vor sich selbst beschützt zu werden." 5 5 I m K o n t e x t h i e r z u s t e h e n die v o n d e n s t u d e n t i s c h e n M i t a r b e i t e r n d e r S A G in d e r F o l g e z e i t a n g e l e g t e n L a n g z e i t s t u d i e n ü b e r d e n A l k o h o l i s m u s im A r b e i terviertel am Schlesischen Bahnhof. Zunächst n o c h u n t e r B e t e i l i g u n g v o n S i e g m u n d - S c h u l t z e selbst w u r d e n die u m l i e g e n d e n K n e i p e n a u f g e s u c h t u n d i n eigens a n g e l e g t e n „ K a r t e n s k i z z e n " die g a s t r o n o m i s c h e n L o k a l t y p e n s o w i e die s o z i a l e Z u s a m m e n s e t z u n g des d o r t a n z u t r e f f e n d e n P u b l i k u m s f e s t g e h a l ten. D i e s e E r h e b u n g s a r b e i t im V i e r t e l , die i m R a h m e n des S e t t l e m e n t s a u c h in L o n d o n u n d C h i c a g o d u r c h g e f ü h r t w u r d e , s t e h t in d e r T r a d i t i o n des „ S o cial s u r v e y " , e i n e r E n d e des v e r g a n g e n e n J a h r h u n derts v o n dem Sozialforscher Charles B o o t h beg r ü n d e t e n U b e r b l i c k s s t u d i e , bei d e r es w o h l n i c h t p r i m ä r u m e i n e K n e i p e n u n t e r s u c h u n g ging, s o n d e r n u m die E r s t e l l u n g v o n L a g e p l ä n e n ü b e r die s o z i a l e und ethnische Zusammensetzung der einzelnen
187 L o n d o n e r S t a d t b e z i r k e , d e n s o g e n a n n t e n „ m a p s of London".56 Dieses zunächst bloße Kartographieren ihres sozialethnischen H i n t e r g r u n d e s w u r d e sehr schnell m i t e i n e r s o z i a l a r b e i t e r i s c h e n T ä t i g k e i t v e r b u n d e n ; z u e r s t im R a h m e n des S e t t l e m e n t s . D e s w e i t e r e n b e o b a c h t e t e n die S A G l e r in d e r G e g e n d u m d e n S c h l e s i s c h e n B a h n h o f die z a h l l o s e n jungen, zumeist arbeitslosen Arbeiter. „Viele dieser jungen Burschen lungerten nicht nur den Tag über beschäftigungslos herum, sondern hatten überhaupt kein Zuhause. Das Elternhaus fehlte oft; ein Zimmer, eine eigene ,Bude' hatte keiner. Wovon hätte er sie bezahlen sollen? In der .Schlafstelle' durfte er sich erst abends einfinden und mußte früh das Feld räumen, wenn er nicht überhaupt nur für eine ,Schicht', d.h. für 8 Stunden, das für den Tag dreifach vermietete Bett aufsuchen durfte. Nicht zu reden von denen, die nicht einmal ein Bett zur Verfügung hatten, sondern in irgendeinem Winckel einer Massenunterkunft oder sonstwo die Nacht zubringen mußten. Zuerst mußte also einmal ein wenn auch noch so bescheidenes Eckchen gefunden werden, in dem sie sich trocken und w a r m ein wenig behaglich und unbehelligt aufhalten konnten." 5 7 A u f g r u n d dieser e m p i r i s c h e n F e s t s t e l l u n g u n d e n t sprechend der erklärten Absicht Siegmund-Schultzes, seine T ä t i g k e i t s o l l e „ P r o p h y l a x e d e r s c h e i n b a r n o c h G e s u n d e n " 5 8 sein, w u r d e w o h l 1 9 1 2 / 1 3 in ei-
54 Friedrich Siegmund-Schultze: Aus der sozialen Studentenarbeit. Sonderabdruck aus dem Bericht über die 8. Christliche Studenten-Konferenz in Freudenstadt 1912, S.5-7. 55 Ebd., S.4. 56 Siehe hierzu: ,London 1899-1900' im letzten Band von Charles Booth „Life and Labour of the People in London" 1903, so angegeben bei Brian Harrison: Pubs. In: The Victorian City. Images and Realities. Hgg. von H.J.Dyos und Michael Wolff. B d . l . London, Boston 1973, S.161-190; bei diesem finden sich Abbildungen einiger der Kneipenkarten Booth'. Siehe auch Hirschfeld: Die Gurgel von Berlin, S.10. Dieser nennt Statistiken aus dem Zeitraum von 1885-1905, die auf der Grundlage von Kneipenenqueten in Berlin erhoben wurden und zusammen mit anderen Erhebungen in dem vom Magistrat der Stadt 1905 herausgegebenen „Statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin" erschienen sind. 57 Erich Gramm: Bilder aus der Arbeit. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost. In: Lebendige Ökumene. Festschrift für Friedrich Siegmund-Schultze zum 80. Geburtstag. Witten 1965, S.92. 58 Siegmund-Schultze: A u s der sozialen Studentenarbeit, S.4.
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Elke Hetscher / Norbert Steigerwald
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