Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik [1 ed.] 9783428585267, 9783428185269

Die Verhältnisse in Preußen, dem größten Gliedstaat der Weimarer Republik, waren für das Gedeihen der ersten deutschen D

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German Pages 392 Year 2022

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Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik [1 ed.]
 9783428585267, 9783428185269

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NEUE FOLGE

Beiheft 17

Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik

Duncker & Humblot · Berlin

Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik

FORSCHUNGEN ZUR BRANDENBURGISCHEN UND PREUSSISCHEN GESCHICHTE NEUE FOLGE

Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz von Ulrike Höroldt, Hans-Christof Kraus und Frank-Lothar Kroll

Beiheft 17

Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik

Herausgegeben von Manfred Kittel Gabriele Schneider Thomas Simon

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0940-1644 ISBN 978-3-428-18526-9 (Print) ISBN 978-3-428-58526-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einführung Von Manfred Kittel, Berlin/Regensburg, Gabriele Schneider, Wien, und Thomas Simon, Wien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Preußen und die Weimarer Republik Von Horst Möller, München  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Verfassung Preußen in der Weimarer Republik – Ein Forschungsbericht Von Christoph Gusy, Bielefeld  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Streit um das preußische Wesen: Neuerfindungen eines Staates, 1910–1932 Von Georg Eckert, Wuppertal/Potsdam  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Preußens Ende  – Weimars Untergang? Der „Preußenschlag“ (20.  Juli  1932) Von Wolf Nitschke, Winsen an der Aller  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Politik Von Lasalle bis Löbe. Das „rote Schlesien“: Ein Stammland der Sozialdemokratie? Von Winfrid Halder, Düsseldorf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Die „republikanischste“ aller preußischen Provinzen? Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933 Von Guido Hitze, Düsseldorf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Eine „deutsche Vendée“ gegen Weimar? Junker, Landbund und Deutschnationale in der politischen Lanschaft Pommerns (1918–1933) Von Manfred Kittel, Berlin/Regensburg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Ostpreußen 1918 bis 1933. Von einer bunten Parteienlandschaft zur späten Dominanz der ­NSDAP Von Ralf Meindl, Olsztyn (Allenstein)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Carl Friedrich Goerdeler in Königsberg: Anmerkungen zu einem deutschnationalen Kommunalpolitiker der Weimarer Republik Von Desiderius Meier, Passau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

VI Inhaltsverzeichnis Epigonen des Reiches? Die Parteienlandschaft der Freien Stadt Danzig in den zwanziger Jahren Von Stefan Samerski, Berlin/München  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 III. Baukultur Idealstädte am Epochenende  – Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften in Ostpreußen nach 1914 Von Nils Aschenbeck, Bad Kissingen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Neues Bauen, die Weimarer Republik und Preußen: Zwischenkriegsarchitektur im Osten Von Ingo Sommer, Kleinmachnow bei Berlin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Die Autoren und Herausgeber des Bandes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

Einführung Von Manfred Kittel, Berlin/Regensburg, Gabriele Schneider, Wien, und Thomas Simon, Wien Im April 1929 beschließt das Reichskabinett der Weimarer Republik (neue) Richtlinien für den Grenz- und Landesschutz. Als „bedrohte Grenzgebiete“ werden in den Richtlinien genannt: Ostpreußen, das Pommern „ostwärts der Oder“, die Grenzmark (Posen-Westpreußen), Oberund Niederschlesien sowie der Regierungsbezirk Frankfurt/Oder, also das östliche Brandenburg.1 Es ist die letzte lupenrein parlamentarische Weimarer Regierung unter dem SPD-Kanzler Hermann Müller-Franken, die solches beschließt. Die als „bedroht“ wahrgenommenen preußischdeutschen Grenzgebiete sind nahezu deckungsgleich mit jenen Gebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich von Deutschland abgetrennt werden sollten – wenn auch keineswegs in erster Linie, weil die polnische Exilregierung das so anstrebte, sondern vor allem in der Konsequenz stalinistisch-sowjetischer Expansionspolitik, der die westlichen Siegermächte nach dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus in Abwägung mit anderen politischen Interessen im Kontext der anstehenden Neuordnung Europas weiter nachgaben, als es nicht zuletzt für das deutsch-polnische Verhältnis nach 1945 gut war. Das militärische Gefährdungsgefühl in der Weimarer Republik war bekanntlich eng verknüpft gewesen mit Sorgen um die wirtschaftlich-soziale Entwicklung der preußischen Ostgebiete. Sie wuchsen, spätestens seit dem Beginn der großen Agrarkrise Anfang 1928, dramatisch, um bald  – unter den Stichworten Überschuldung und Osthilfe – zu kulminieren. Es ging dabei, wie der pommersche Reichskommissar für Osthilfe, Hans Schlange-Schöningen, formulierte, um nicht weniger als „die Rettung

1  Rüdiger Bergien, Staat im Staate? Zur Kooperation von Reichswehr und Republik in der Frage des Grenz- und Landesschutzes, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), 643–678, hier 660. Auch ein untadeliger Demokrat wie der preußische SPD-Ministerpräsident Otto Braun teilte – etwa in einer Landtagsrede am 23. März 1926 – voll die Befürchtung, Warschau wolle über die Gebietsgewinne von 1919 hinaus „weitere deutsche Gebiete unter polnische Herrschaft … bringen“; Hans Schlange-Schöningen, Am Tage danach, Hamburg 1946, 53.

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des rechten preußischen Lungenflügels“.2 Die Gründe, ein besonderes Augenmerk auf diesen „rechten preußischen Lungenflügel“ zu richten, liegen auf der Hand, wurde bzw. wird Ostelbien mit seinen legendenumwobenen Junkern und Magnaten ja lange, und teilweise bis heute, eine entscheidende Rolle für das Ende der Weimarer Republik zugeschrieben. Auch darüber hinaus aber waren die preußischen Verhältnisse – im größten Gliedstaat des Reiches  – für die innen- und gesellschaftspolitische Entwicklung der Weimar Republik insgesamt von herausragender Bedeutung. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, dass sich die Preußische Historische Kommission im hundertsten Jahr nach den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung mit Verfassung, Politik und Kultur Preußens in den Jahren der ersten deutschen Demokratie befasst und dabei auch ein besonderes Augenmerk auf die inneren Verhältnisse der Ostprovinzen gerichtet hat. Deren außenpolitische Dimensionen wären gewiss eine eigene Betrachtung wert. Von den ebenfalls ein eigenes Buch verdienenden zahlreichen Feldern kultureller Art werden exemplarisch zumindest einige Aspekte der politiknahen Baukultur beleuchtet. Bei den Beiträgen des Sammelbandes handelt es sich um die schriftliche Ausarbeitung von ­Vorträgen auf einer Tagung der Kommission im November 2019 in Berlin. Sie wurde eröffnet von einem „Altmeister“ der Preußenforschung, Horst Möller, der bei seiner Einordnung der Landesgeschichte in die Reichsgeschichte (unter der Überschrift „Preußen und die Weimarer Republik“) vom Alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25.  Februar 1947 ausging. An dem berühmten Satz, der Staat Preußen, „seit jeher der ­Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“, habe zu bestehen aufgehört, sei außer der Feststellung des Endes preußischer Staatlichkeit „alles falsch“. Für die Weimarer Jahre erläuterte Möller dies eindrucksvoll anhand der politischen und verfassungsrechtlichen Ent­ wicklungen. In Preußen sei vor allem ein konsequent parlamentarisches Regierungssystem eingeführt worden und nicht wie im Reich ein semiparlamentarisches. Auch habe es anders als im Reich keine vorzeitigen Parlamentsauflösungen, im Landtag weniger Parteien (im Höchstfall 8, statt 14 im Reichstag), von 1919 bis 1932 stabile demokratische Mehrheiten, von Beginn an 4 verfassungstreue Parteien und insgesamt nur 7 Regierungen (im Reich 21) und 4 Ministerpräsidenten gegeben. Zudem agierte die von 1919 bis 1932 stärkste Partei, die SPD, in Preußen „deutlich gouvernementaler und kompromissfähiger als im Reich“, und sie sei

2  Schlange-Schöningen,

Am Tage danach (Anm. 1).

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„nicht allein regierungswillig“, sondern mit Otto Braun an der Spitze „auch regierungsfähig“ gewesen. Auf die Frage, weshalb die Weimarer Demokratie scheiterte, obgleich sie in ihren drei preußischen Fünfteln leidlich gut funktionierte, nannte Möller vor allem „strukturelle Gründe, … die nicht in der Geschichte Preußens“ lagen. Zum einen trafen alle ökonomischen und allgemeinpolitischen Ursachen für den Untergang der Weimarer Republik, darunter Finanzkrise und Arbeitslosigkeit, Preußen als größten Staat besonders schwer. Hinzu kam aber gerade beim Reichspräsidenten Hindenburg und seiner Entourage der Ärger über das unter maßgeblicher Beteiligung der SPD funktionstüchtige neue Preußen, was Reichsreformdiskussionen anheizte, die sowohl die Legitimität der Weimarer Verfassungsordnung als auch die Existenz Preußens gefährdeten. Immerhin jedoch, so schloss Möller, habe Preußen sein „positives verfassungspolitisches Erbe“ aus der Weimarer Zeit im Grundgesetz an die Bundesrepublik weitergeben können. Die folgenden Beiträge dieses Bandes knüpfen zum Teil  an Möllers Überlegungen an. Sie kreisen zunächst vertiefend um die Frage, wie der Übergang zur republikanischen Staatsform 1918 in Preußen vor allem auch verfassungsrechtlich über die Bühne ging und wie dieser – für viele bis dahin schlechterdings unvorstellbare – Wandel reflektiert wurde. Vielen schien eine „Republik Preußen“ schlichtweg eine contradictio in adiecto, wurzelte doch Preußen in besonderer Weise in der Tradition einer dynastischen Länderverbindung, dessen Zusammenhalt im Wesent­ lichen „auf seiner dynastisch obrigkeitlichen Struktur beruhte“. Gewiss, das sehr kritische Statement des Liberalen Hugo Preuß war auf alle Länder des Reiches gemünzt: Preuß sah in den Ländern „samt und sonders lediglich Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik, die fast überall die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stämme willkürlich durchschneiden, Zusammengehöriges trennen und Unzusammenhängendes verbinden“. So hat er es in seinem „Entwurf der künftigen Reichsverfassung“ formuliert,3 um damit den Umbau des Deutschen Reiches zu einem viel stärker einheitsstaatlich konzipierten Gemeinwesen zu rechtfertigen. Aber diese Kritik schien eben doch in besonderer Weise für Preußen zuzutreffen, das schon von seiner schieren Ausdehnung her die breiteste Vielfalt der unterschiedlichsten Länder und Territorien zusammenschloss, hierin der Donaumonarchie nicht ganz unähnlich. Bis ins

3  Zit. in Georg Eckert, Streit um das preußische Wesen: Neuerfindung eines Staates (in diesem Heft), bei Fn. 52.

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19. Jahrhundert hinein war daher vielfach von den „Preußischen Staaten“ die Rede, wenn die preußische Monarchie als ganzes gemeint war, und in der provinzialen Selbstverwaltung mit den Provinziallandtagen als deren institutionellem Herzstück lebte die vormalige Eigenständigkeit dieser „Staaten“ (im Sinne des 18. Jahrhunderts) in durchaus kräftiger Weise weiter. Im Vergleich hierzu waren die süddeutschen Staaten ohne Zweifel wesentlich stärker in einem einheitsstaatlichen Sinne integriert mit frühen gesamtstaatlichen Parlamenten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die die Einheit aller bayerischen, württembergischen und badischen Staatsbürger repräsentierten. Demzufolge stand die Einheit des preußischen Staates auch sofort zur Disposition, als die Krone als der traditionelle, einheitsstiftende und integrierende Faktor wegfiel. Preußen drohte 1918 nicht nur, wie es allen Ländern des Deutschen Reiches insbesondere in den frühen Verfassungsplänen von Preuß drohte, die Degradierung zu bloßen autonomen Selbstverwaltungseinheiten, also zu einer Art „Kommunalverband“. Preußen drohte darüber hinaus die gänzliche Auflösung, zumindest der Verlust ökonomisch wichtiger Gebietsteile ganz im Westen, nämlich des Rheinlandes durch den „Rheinischen Separatismus“, sowie an der südöstlichen Peripherie in Oberschlesien, wo nach dem Ersten Weltkrieg ein starker, nicht zuletzt konfessionell getragener „Separatismus“ aufkam, der einem eigenständigen Land „Oberschlesien“ innerhalb des Reiches anhing. Der „Freistaat“ Preußen, eine „Republik Preußen“, musste also in gewisser Weise erst neu erfunden werden; es bedurfte eines neuen – sozialistischen  – „republikanischen Narrativs“, das seine Existenzberechtigung unabhängig von dem bis dato entscheidenden Legitimationsfaktor der Krone begründen konnte. Dies in zwei Richtungen: Zum einen in Relation zum Reich. Denn über die Krone war das Königreich Preußen in besonderer Weise mit dem Reich verbunden gewesen. Der preußische König war nach der Reichsverfassung zugleich Deutscher Kaiser. Wie aber sollte das Verhältnis von Preußen zum Reich in einer republikanischen Föderativordnung aussehen? Entschied man sich für die gänzlich institutionelle Abschichtung Preußens vom Reich (wie sie dann ja auch tatsächlich durchgeführt wurde), entkam man dabei noch nicht dem zweiten Problem: Was für ein Bundesstaat soll das denn sein, in dem ein einziges Land weit mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Bundesstaates abdeckt und fast alle ökonomisch entscheidenden großen Industriereviere einschließlich der Reichshauptstadt umschließt, während der „Rest“ der Föderation auf eine große Zahl von Mittel-, Klein- und Kleinststaaten aufgeteilt ist? Auch wenn sich im Zuge der Verfassungsberatungen rasch gezeigt hat, dass sich an der alten Ländereinteilung, von Ausnahmen wie Thüringen abgesehen, nichts ändern würde, so blieb doch die

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Reform des bundesstaatlichen Konstrukts der Weimarer Reichsverfassung ein verfassungspolitisches Dauerproblem. Unverkennbar ist jedenfalls, dass der „Freistaat Preußen“ einem signifikant erhöhten Legitimierungsdruck ausgesetzt war. Dies wird aus den ersten beiden Aufsätzen dieses Bandes ersichtlich. Zunächst widmet sich Christoph Gusy in seinem Beitrag (Preußen in der Weimarer Republik. Ein Forschungsbericht) dem verfassungspolitischen Übergang zur republikanischen Staatsform in Preußen, den Verfassungsdiskussionen im „Freistaat“ und dem Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben von Seiten des Reiches, an die die preußische Landesversammlung als Kon­ stituante 1918/19 bei der Verfassungsgestaltung gebunden war. Signifikanterweise war es dabei „die Frage nach Zentralisierung bzw. Dezentralisierung des Landes“, also der „Grad der Autonomie seiner Provinzen“, die einen wesentlichen Problempunkt bei den Diskussionen um die Ausgestaltung der republikanischen Landesverfassung Preußens bildete, wie Gusy konstatiert. Unter den deutschen Ländern hatte Preußen die am stärksten ausgeprägte föderale Binnengliederung. Diese hatte natürlich nichts mit einem „Bundesstaat“ zu tun, sondern sie wurzelte, auch hierin ganz in Entsprechung zum altösterreichischen Föderalismus, in der Tradition vormoderner „zusammengesetzter Staatlichkeit“,4 d. h. in der Tradition einer dynastischen Länderverbindung. Es liegt nahe, dass mit dem Wegfall der Dynastie das Verhältnis zwischen dem preußischen Staat und seinen Teilen, den „Provinzen“, neu definiert werden musste. Unverkennbar wurde in der republikanischen Verfassung Preußens das Gewicht der Provinzen als autonome Selbstverwaltungskörper erhöht, denn sie erhielten jetzt in Gestalt des Staatsrates wie in einem Bundesstaat eine eigene Vertretung, die als „zweite Kammer“, als eine Art „Länderkammer“ also, auf die Gesetzgebung des preußischen Staates direkten Einfluss nehmen konnte. Im folgenden Beitrag von Georg Eckert (Streit um das preußische Wesen: Neuerfindungen eines Staates, 1910–1930) steht dann der „Versuch einer Neuerfindung Preußens“ im Mittelpunkt: Wie sehen nach dem Wegfall der Dynastie als einem entscheidenden Legitimations- und Integrationsfaktor die „zeitgenössischen Perzeptionen“ dessen aus, „was Preußen ‚eigentlich‘ ausmache“? Eckert verweist hier auf drei Motive: Zum einen Preußen als spezifischer Militärstaat, als „Bastion des Militarismus“ wie es von linker und liberaler Seite hieß, eine Bastion, die es aus dieser Sicht „zu schleifen galt“, umgekehrt als Hort deutscher Wehrhaf4  Eingehend hierzu Thomas Simon, Vom „zusammengesetzten Staat“ zum „Dezentralisierten Einheitsstaat“. Dezentralisierung und (Provinzial-)Landtage in Preußen und Österreich-Cisleithanien, in: FBPG N.F. 29 (2019), 29–79.

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tigkeit, wie man das von rechts-konservativer Warte aus sah, ein Hort, den es zu bewahren lohnte. Zum zweiten war die Rolle Preußens für Deutschland als Ganzes neu zu bestimmen; das knüpfte an das alte Motiv vom „deutschen Beruf“ Preußens an. Schließlich das Motiv spezifisch „preußischer Tugenden“; dieses Motiv konnte „sowohl zu rechten als auch zu linken politischen Zwecken genutzt werden“, nicht zuletzt zu einer „Umdeutung“ Preußens „vom vielkritisierten Obrigkeitsstaat in ein demokratisches Gemeinwesen“ (Eckert), ja weitergehend noch: in ein „Bollwerk“ der Demokratie, das auch noch Bestand hatte, als Demokratie und Parlamentarismus auf Reichsebene schon geschleift waren. Wolf Nitschke zeigt schließlich, wie dieses „Bollwerk“ dann mit dem von Seiten des Reiches geführten „Preußenschlag“ sein Ende fand (Preußens Ende – Weimars Untergang? Der „Preußenschlag“ am 20. Juli 1932). Angesichts einer schwierigen Quellenlage stützt er sich unter anderem auf eine Auswertung der jungkonservativen Monatsschrift „DIE TAT“, deren Redaktion mit dem einflussreichen Strippenzieher Kurt von Schleicher in Verbindung stand: Die Geschichte des „Preußenschlags“ sei „auch eine Geschichte der sogenannten ‚Konservativen Revolution‘  “. Eine Reichsreform verfolgten der TAT-Kreis und Schleicher zwar ebenso wie Reichskanzler Papen, doch nicht wie dieser mit dem Ziel eines vor allem arbeitgeberfreundlichen „Großpreußen“, sondern mit Blick auf ein auch für die Gewerkschaften akzeptables „organisches Bündnis gleicher Gliedstaaten“. Die Lehre des 20. Juli 1932 sei nicht zuletzt, so Nitschke, „dass die Schwächung des Föderalismus in Deutschland fatalste Folgen haben kann“. In den folgenden Aufsätzen zur regionalen Politikgeschichte werden weite Teile von „Preußens Osten“ in den Blick genommen: Schlesien, Ostpreußen und Pommern. Ein Beitrag zur „Freien Stadt Danzig“ und ihrem Umland, die ganz zu Beginn der Weimarer Jahre noch zu Preußen gehörten und dann durch den Versailler Vertrag abgetrennt und zu einem unabhängigen Stadtstaat unter Völkerbundaufsicht gemacht worden waren, ergänzt das Bild. Hier, in den Gebieten östlich von Oder und Lausitzer Neiße, waren die Probleme am drückendsten, die zu bewältigenden politischen Herausforderungen am größten, hier war aber wohl auch die Fundamentalopposition gegen die Republik am ausgeprägtesten. Insbesondere Ostpreußen lag nach den massiven Kriegszerstörungen und der durch Versailles bewirkten Isolierung der Provinz vom preußischen Kerngebiet wirtschaftlich darnieder, und im preußisch gebliebenen Teil Oberschlesiens um Gleiwitz und Beuthen ergab sich aus der Teilung des ­Industriereviers in zwei miteinander konkurrierende Standorte und dem starken Zustrom von Deutschen aus dem 1922 polnisch gewordenen Teil der Region eine besonders zugespitzte Krisensituation.

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Die Aufsätze zu „Preußens Osten“ sind in erster Linie der jeweiligen parteipolitischen Verortung der Ostprovinzen gewidmet. Winfrid Halder (Von Lassalle bis Löbe. Das „rote Schlesien“: Ein Stammland der Sozialdemokratie?) und Guido Hitze (Die „republikanischste“ aller preußischen Provinzen? Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933) sondieren die Bedeutung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und des politischen Katholizismus in der Provinz Schlesien, insbesondere in deren „oberschlesischem“ Teil  mit seinem vergleichsweise hohen Anteil polnischsprachiger Bevölkerung und starkem Einfluss der katholischen Kirche. Diese hatte hier nicht nur gegen den Bismarck’schen „Kulturkampf“ opponiert, sondern auch der schroffen Germanisierungspolitik der preußischen Regierung Widerstand entgegengesetzt. Dem Zentrum bzw. dessen spezifisch oberschlesischer und „separatistisch“ gesinnter Abspaltung, der „Katholischen Volkspartei“, kam deshalb in Oberschlesien eine politische Schlüsselstellung zu; der Einfluss der nationalpolnischen „Katolik“-Partei blieb dagegen immer begrenzt. Auch die „Katholische Volkspartei“ war allerdings unter ihrem Vorsitzenden Ulitzka insofern „separatistisch“ orientiert, als sie eine Ausgliederung Oberschlesiens nicht nur aus der Provinz Schlesien, sondern auch aus dem „Freistaat“ Preußen und die Statuierung eines eigenständigen Landes „Oberschlesien“ betrieb. Das mündete dann schließlich in so etwas wie einen „historischen Kompromiss“, nämlich die Begründung zumindest einer eigenständigen Provinz Oberschlesien innerhalb des preußischen Staatsverbandes. Guido Hitze arbeitet heraus, dass diese jüngste Provinz Preußens „nicht nur auf das Engste mit dem Schicksal Preußens in der Weimarer Republik verknüpft“ war, sondern bis heute auch als die „kleine“, die „unterschätzte“, die „vergessene“ Provinz gelten kann. Mit Blick auf Schlesien insgesamt wundert sich Winfrid Halder insbesondere darüber, dass die Heimat von Ferdinand Lassalle und Paul Löbe bis heute nicht mehr Platz in der sozialdemokratischen Parteiengeschichte gefunden hat. Bei unlängst von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgewählten „Erinnerungsorten“ sozialdemokratischer Geschichte seien außer Willy Brandts Warschauer Kniefall „überhaupt keine solchen berücksichtigt wurden, die östlich der heutigen Grenze der Bundesrepublik Deutschland zu Polen“ lägen. Ähnlich wie in den Beiträgen zu Schlesien wird auch in dem Pommern betreffenden Aufsatz von Manfred Kittel (Eine „deutsche Vendée“ gegen Weimar? Junker, Landbund und Deutschnationale in der politischen Landschaft Pommerns) die Parteiengeschichte zum Medium der Sozialgeschichte und der politischen Ideengeschichte. Der Autor geht hier der Frage nach, wie man sich das Phänomen einer in Pommern geradezu als

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„Milieupartei“ verankerten DNVP erklären kann. Er weist zunächst darauf hin, dass man in der DNVP nicht einfach nur eine konservative Partei im Vorkriegssinn unter neuer Bezeichnung sehen darf. Denn sie vermochte teilweise auch im bäuerlichen Milieu, ja sogar unter den Landarbeitern Anhänger und Wähler für ein konservatives Politikprogramm zu gewinnen und überwölbte so in einer höchst erstaunlichen Weise einen geradezu klassischen Interessenantagonismus: Auf der einen Seite der zu großen Teilen eben immer noch adelige Großgrundbesitz, in dem die eingesessenen alten Geschlechter weiterhin eine nicht unbedeutende Rolle spielten, auf der anderen Seite die gewiss nicht nur lohn-, sondern auch in manch anderer Hinsicht vom Gutsherrn abhängigen Landarbeiter. Kittel zeigt die dahinterstehende politische Ideenwelt: Sie war im Kern getragen von der Vorstellung, durch berufsständische Modelle die im 19. Jahrhundert aufgebrochenen Klassengegensätze überwinden zu können. „Berufsstand“ ist hier die „Landwirtschaft“, sei es Großgrundbesitz, bäuerlicher Mittelstand oder Landarbeiter, deren gemeinsame Interessen als Angehörige ein und desselben Erwerbszweiges betont wurden. Das Ganze war „als Gegenpol zum Klassenkampfgedanken der Arbeiter­ bewegung“ gedacht; Lohnfragen sollten demgemäß möglichst innerhalb des „Berufsstandes“ geklärt werden, um „Lohnkämpfe“ zu vermeiden. Solche berufsständisch-korporatistischen Modelle waren in der Zwischenkriegszeit insbesondere auf konservativer Seite und im politischen Katholizismus geradezu omnipräsent; in Österreich wurden sie zur Zeit des sog. „autoritären Ständestaates“ (1933–38) unter Dollfuß und Schuschnigg sogar zum offiziellen Regierungsprogramm erklärt. Im Beitrag von Desiderius Meier (Carl Friedrich Goerdeler in Königsberg: Anmerkungen zu einem deutschnationalen Kommunalpolitiker in der Weimarer Republik) wird dann exemplarisch ein Mann aus dem deutschnationalen Lager herausgegriffen, der später zum konservativen Widerstand gestoßen ist. Goerdelers früheren Lebensabschnitten war bislang leider recht wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Meier zeigt nun anhand der beruflichen Karriere Goerdelers als Kommunal­ politiker in Ostpreußen die für die DNVP – jedenfalls vor der „Übernahme“ durch Hugenberg  – typische Spannungslage: zwischen grundsätz­ licher fundamentaler Systemkritik einerseits und pragmatischer politischer Kooperation im republikanisch gewordenen Preußen andererseits. Vor allem die reichsweiten und überparteilichen kommunalpolitischen Netzwerke Goerdelers sollten, so Meiers Appell, von einer bislang „weithin vernachlässigte[n] ostpreußische[n] Landesgeschichte“ künftig noch gründlicher untersucht werden; schon deshalb, weil die Kontakte aus der Zeit vor 1933 eine wichtige Rolle bei Goerdelers späteren Bemühungen spielten, den Kreis der Opposition gegen Hitler zu erweitern.

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Die östlichste Provinz Deutschlands wird im vorliegenden Band nicht nur in biographischer Form thematisiert, sondern von Ralf Meindl (Ostpreußen 1918 bis 1933. Von einer bunten Parteienlandschaft zur späten Dominanz der NSDAP) auch aus der Perspektive einer Parteien- und Wähleranalyse. Meindl möchte das Bild von Ostpreußen als einer „exzep­ tionelle[n] Hochburg des Nationalsozialismus“ zurechtrücken. Er zeigt „die politischen Milieus Ostpreußens und die Geschichte der Parteien“ dort zwischen 1918 und 1933 und konstatiert dabei vor allem „relativ geschlossene und in der Regel wenig miteinander kommunizierende Mi­ lieus“. Dabei bezieht er sich vor allem auf den auch im Wählerverhalten ausgeprägten Stadt-Land-Gegensatz, der in Ostpreußen besonders scharf ausfiel, da die Urbanisierung dort ausgesprochen schwach war und die ländliche Welt Ostpreußens von den „Entwicklungen der industriellen Moderne“ vielfach „erst spät“ erreicht wurde, so dass jedenfalls das ländlich-agrarische Ostpreußen „im Durchschnitt wesentlich konservativer geprägt war“ als die meisten anderen Regionen Preußens. Neben dem Stadt-Land-Gegensatz betont Meindl allerdings auch die besondere Sozialstruktur und das besondere Milieu Masurens und des Ermlandes. Beide Regionen wurden nicht wie die übrigen Teile Ostpreußens von den teils riesigen und meist adeligen Gutsherrschaften und Domänen geprägt, sondern es gab hier einen beträchtlichen bäuerlichen Mittelstand. Im Falle des Ermlandes wurde der Gegensatz noch gesteigert durch den katholischen Charakter dieses Gebietes. Unter dem Strich führte diese regionale Differenzierung zu einer Parteienlandschaft, die gar nicht so weit von den generellen Trends in Preußen wie im Reich entfernt war. Natürlich war Ostpreußen wie Pommern eine Hochburg des Konservativismus und der DNVP, aber dem stand im katholischen Ermland ein vergleichsweise starkes Zentrum gegenüber; und die SPD  – in erster Linie verankert in den großen Städten  – konnte immerhin stabil rund 20 % der Stimmen für sich gewinnen. Freilich: Anfang der 30er Jahre „mutierte“ Ostpreußen „von einer konservativen Provinz zu einer Hochburg der Nationalsozialisten“, begleitet vom raschen Niedergang der DNVP, der die NSDAP einen Großteil der Wähler abnehmen konnte. Auch dies ist allerdings kein singulärer Befund, wenn man zum Vergleich etwa auf Hessen blickt, wo sich – vor allem in den protestantischen Gebieten  – ebenfalls „teils extrem hohe NSDAP-Wahlergebnisse auf dem flachen Land“ einstellten, nur dass diese hier stärker durch die Ergebnisse in den städtischen Wahlkreisen relativiert wurden, als dies in dem viel mehr ländlich geprägten Ostpreußen der Fall war. Mit der „Freien Stadt Danzig“ kommt schließlich im Aufsatz von Stefan Samerski (Epigonen des Reiches? Die Parteienlandschaft der Freien Stadt Danzig in den zwanziger Jahren) eine ganz spezifische Vergleichs-

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größe zu den bislang behandelten preußischen „Ostprovinzen“ in den Blick: Danzig und sein Umland, der Weichselwerder, waren zwar auf Grund des Versailler Vertrages von Preußen abgetrennt worden, wurden aber nicht wie die allermeisten im Osten abgetretenen Gebiete an Polen angegliedert, sondern zu einem unabhängigen Stadtstaat unter dem Schutz des Völkerbundes umgestaltet. Wie entwickelte sich die Parteienlandschaft im Danziger Stadtstaat bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, die auch hier – erstaunlich genug! – unter den Augen des Völkerbundkommissars und augenscheinlich mit Duldung Polens seit 1933 über die Bühne gehen konnte? In Beantwortung dieser Frage zeichnet Samerski die Entwicklungs­ linien der Parteien in der Freien Stadt nach und setzt sie „in Beziehung zu ihren Mutterorganisationen in der Weimarer Republik“. Wie weitgehend waren hier die Entsprechungen zur Parteiengeschichte und zum Wahlverhalten im Deutschen Reich, insbesondere in Preußen? War das politische Geschöpf der Versailler Nachkriegsordnung lediglich „ein ‚Mikrokosmos‘ des Deutschen Reichs“, in dem sich im Kleinen die politische Geschichte Deutschlands wiederspiegelte? Samerski arbeitet in seinem Beitrag mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede heraus: „Das Wählerverhalten bei den Parlamentswahlen entwickelte sich in Danzig grosso modo ähnlich wie in Deutschland.“ Auch „der Siegeslauf der NSDAP“ war, so Samerski, „chronologisch wie quantitativ nahezu deckungsgleich“ mit dem Aufstieg dieser Partei im Reich. Im abschließenden baukulturgeschichtlichen Teil  des Bandes widmet sich Nils Aschenbeck (Idealstädte am Epochenende. Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften in Ostpreußen nach 1914) zunächst den Anfängen eines heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Kapitels deutscher ­Architekturhistorie. Er zeigt, wie eine breite gesellschaftliche Reformbewegung des Lebensstils zwischen 1900 und 1914 auch die Baukultur erfasste und wie sich eine neue Architektur dann besonders intensiv ausgerechnet in Ostpreußen beim Wiederaufbau der vom Krieg teilweise zerstörten Provinz zwischen 1915 und 1925 durchsetzen konnte. Die Idealstädte der Reform sollten nach den Vorstellungen ihrer Protagonisten „Beispielstädte für die zukünftige städtebauliche und architektonische Entwicklung des Reichs sein“. So wie die Städte Ostpreußens  – unter gleichsam „idealen“ Nachkriegsbedingungen – wiederaufgebaut wurden, sollten auch die Städte weiter westlich allmählich reformiert werden: Ostpreußen als Modell für Deutschland und darüber hinaus. Den Wiederaufbauleistungen hing nur der Makel an, ein Architekturprojekt des versunkenen Kaiserreichs zu sein. Dennoch, so Aschenbeck, schuf die Reformarchitektur zwischen 1900 und 1925 wesentliche Voraussetzungen für das Mitte der 1920er Jahre einsetzende Neue Bauen, das unsere Vor-



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stellung von Architektur mit ihrer Grundidee eines „einfachen, undekorierten und möglichst gesund machenden“ Bauens bis heute prägt. Im Anschluss daran plädiert Ingo Sommer (Neues Bauen, die Weimarer Republik und Preußen: Zwischenkriegsarchitektur im Osten) für eine (Wieder-)entdeckung des lange unbeachtet gebliebenen Neuen Bauens im Freistaat Preußen: „Einmal in Beziehung zum mythisierten Bauhaus, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zu weltumspannender Bedeutung stilisiert wurde. Zum anderen in Beziehung zu den nach wie vor beliebten späthistoristischen und traditionellen Baustilen.“ Nach Sommer gab es in Preußen moderne Architekturschulen, die der Kunstschule Bauhaus sogar überlegen waren. Nicht das thüringische Weimar oder das anhaltinische Dessau seien Hauptstadt des Neuen Bauens geworden, sondern die Kulturmetropole des preußischen Berlin. Die „Preußische Moderne“, von der man mit Sommer sprechen darf, strahlte auch in östliche Richtung aus und erneuerte dort vor allem die urbane Architektur: „manchmal mehr (Brandenburg, Schlesien), manchmal weniger (Ostpreußen, Pommern, Danzig)“. Die neue Baukunst im Freistaat Preußen entsprach dabei ganz und gar nicht den „Klischees von rechteckigen Kasernenhöfen“, „schnurgraden Aufmarschfronten“ oder „verstaubte[r] Dekorationsverliebtheit“. Sie war nach Sommer auch kein Sonderweg, sondern wies in ihrer Entwicklung viele Gemeinsamkeiten mit der Klassischen Moderne im westlichen Europa auf: „Sie ist weder gescheitert, noch bereitete sie der NS-Architektur den Weg.“ Als Resümee der Tagung lässt sich vor allem eines nur abermals dick unterstreichen: Gemessen an seiner Bedeutung ist zu Weimar-Preußen nach wie vor erstaunlich wenig geforscht worden. Sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil es Preußen als Staat nicht mehr gibt, sondern nur noch als Erinnerung. Dass ein Bundesland Preußen heute fehlt, erklärt immerhin zu einem Teil die Größe mancher Forschungslücken zu preußischen Themen von der Verfassungs- über die Politik- bis zur Kulturgeschichte. Für die 1945 von Preußen/Deutschland abgetrennten Gebiete jenseits von Oder und Neiße gilt das erst recht. Insofern besteht die Hoffnung, dass von den hier vorliegenden Befunden der Tagung auch Impulse zur weiteren Forschung ausgehen mögen. Gerade in Zeiten wachsender Gefährdung der westlichen Demokratien von innen und von außen wäre es gar nicht gut, wenn eine bitter-ironische Bemerkung des Eröffnungsredners der Tagung mit Blick auf die Erinnerungskultur in unserem Lande Gültigkeit behielte: „Es könne ­ manchmal fast den Anschein haben, die Deutschen liebten ihre Diktaturen mehr als ihre Demokratien.“

Preußen und die Weimarer Republik Von Horst Möller, München I. Das Thema ‚Preußen und die Weimarer Republik‘ hätte viele Preußenhistoriker früherer Generationen irritiert, weil für sie Preußen in einer unauflöslichen Symbiose mit der Hohenzollerndynastie steht. Nicht einmal alle hielten das Preußen des Bismarckreiches noch für den wirklichen preußischen Staat, dessen Ende sie mit der Reichsgründung gekommen sahen. Die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hingegen lösten Preußen mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25.  Februar 1947 auf. In dem Gesetz hieß es: „Der Staat Preußen, der seit jeher der Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört.“ Außer der Feststellung seines Endes, das sich bereits aus der Zugehörigkeit ehemaliger preußischer Provinzen zu unterschiedlichen Besatzungszonen ergab, war alles an diesem Satz falsch. Unsere erste Frage lautet also: „Wann endete die Geschichte Preußens? 1871, 1918, 1947?“ Keines der drei Daten triff die Realität. –  Preußen mit der Reichsgründung enden zu lassen, ist schon deshalb unangemessen, weil Preußen der Hegemonialstaat des Deutschen Kaiserreichs wurde, zahlreiche Sonderrechte genoss und viele zentrale Ämter und Behörden in Personalunion fungierten. Im Übrigen war das Reich staatsrechtlich gesehen ein Fürstenbund. – Das Ende Preußens auf 1918 zu datieren, verkennt die Bedeutung des mit Abstand größten und bedeutendsten Landes der Weimarer Republik, seine weitgehende territoriale Integrität, die Identität seines Staatsvolkes und vor allem Preußens Rang in der deutschen Demokratiegeschichte, die auch die Alliierten ignorierten. Auch hieße diese Deutung, die Geschichte Bayerns und der anderen deutschen Länder einfach enden zu lassen, weil die Dynastien gefallen waren. Richtig allerdings ist: Seit der Revolution 1918/19 konnte Preußen nur als demokratische Republik überleben oder untergehen. –  Preußen als einen Staat anzusehen, der bis 1947 bestand, unterstellt fälschlich, dass die Staatlichkeit Preußens in der NS-Diktatur sowie

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nach Ende des Deutschen Reiches 1945 noch irgendeine politische Bedeutung gehabt hätte. Tatsächlich aber wurde der Föderalismus während der NS-Diktatur beseitigt: Diese zwölf Jahre waren die einzige unitarische Phase in der tausendjährigen deutschen Geschichte, da 1933/34 die Länder gleichgeschaltet und der Reichsrat abgeschafft wurden (Gesetze vom 31.3. bzw. 7.4.1933, 30. 1. bzw. 14.2.1934). Das alliierte KontrollratsGesetz von 1947 ist etwa so ignorant wie manche heutigen einseitig-kritischen Beiträge zur Hohenzollern-Debatte. Wenn also keines der drei Daten zutrifft, welches ist dann korrekt? Tatsächlich endete die Geschichte Preußens als politisch eigenständiges Bundesland am 20.  Juli 1932 mit dem sog. Preußenschlag des Reichskanzlers Franz von Papen aufgrund einer durch Reichspräsident von Hindenburg genehmigten Notverordnung. Die formelle Wiedereinsetzung der Koalitionsregierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun durch einen Beschluss des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 25.  Oktober 1932 gab ihr nur begrenzte Rechte zurück und ließ die Reichskommissare weiter amtieren. II. Das Tagungsthema lautet: ‚Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik‘. So bedeutsam dieses Thema ist, sinnvoll wäre auch die Ergänzung ‚Preußen und sein Westen …‘ Wer heute außer den Historikern überhaupt noch eine Vorstellung vom Territorium Preußens hat, denkt meist an das ostelbische Preußen einschließlich der 1945 verlorenen Ostgebiete. Die westliche Ausdehnung des preußischen Staatsgebiets ist in der Regel aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Tatsächlich reichte es von Ostpreußen mit Königsberg und Schlesien mit Breslau bis zum Rheinland, von Schleswig-Holstein bis nach Hessen: Köln, Düsseldorf, Aachen und Trier, Frankfurt/Main waren ebenso preußische Städte wie Kiel, Hannover und Kassel  – um nur diese zu nennen. Außer Brandenburg und Berlin zählten weitere mitteldeutsche G ­ ebiete zu Preußen, etwa das heutige Sachsen-Anhalt mit den Städten Halle/Saale und Magdeburg. Das Weimarer Preußen hatte zwar bereits wichtige Regionen verloren, den sog. Korridor, Posen, oberschlesische Gebiete  – teilweise durch völkerrechtswidrig ausgelegte Abstimmungen, in denen die Mehrheit für den Verbleib bei Deutschland gestimmt hatte. Trotzdem war das Weimarer Preußen nicht sehr viel kleiner als das heutige Deutschland. Mit einer Fläche von 298.000 qkm umfasste der Freistaat Preußen etwa zwei Drittel des gesamten damaligen Reichsterrito­riums, auf dem mit ungefähr 37 Millionen Einwohnern drei Fünftel der Reichsbevölkerung lebten. Das



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in der Weimarer Republik zweitgrößte deutsche Land, Bayern, umfasste nur ein Viertel des preußischen Territoriums. Die Größe Preußens war neben den Zielen prinzipieller Unitarier, wie sie mehrheitlich bei den Sozialdemokraten und Liberalen verfolgt wurden, einer der Gründe, die der Hauptautor der Weimarer Verfassung, der Berliner Staatsrechtler Hugo Preuß, für die Zerschlagung Preußens anführte: Ein übergroßer Einheitsstaat in einem föderativen Gesamtstaat könne nicht funktionieren. Um diese Frage wurde im Revolutionswinter 1918/19 heftig gestritten, am Ende setzten sich nicht politische und staatsrechtliche Konzeptionen durch, sondern das Schwergewicht der faktisch vollzogenen Entscheidungen: Und siehe da: Unitarier wurden umgehend zu Föderalisten, sobald sie staatliche Spitzenämter in den ehemaligen Einzelstaaten innehatten. Das traf sogar auf den kurzzeitigen linkssozialistischen Ministerpräsidenten Bayerns, Kurt Eisner, zu. In der Revolution 1918/19 waren es tatsächlich nicht die Konservativen, nicht die Deutschnationalen, und schon gar nicht die Hohenzollern, die Preußens Staatlichkeit retteten, sondern die sozialdemokratische Revolutionsregierung. Später wurde der aus Königsberg stammende langjährige Ministerpräsident Otto Braun, durch und durch ein überzeugter preußischer Pflichtmensch und Bewunderer seines Landsmannes Immanuel Kant, schließlich als „Roter Zar von Preußen“ bezeichnet – etwas ‚Monarchisches‘ musste dann doch erhalten werden. III. Dennoch musste das Weimarer Preußen verfassungspolitisch Federn lassen, es sollte deutlich geschwächt werden, hegemoniale Vorrechte verlieren und wie die anderen Länder auch durch die Erzbergersche Finanzreform ‚Kostgänger des Reiches‘ werden: Diese Finanzverfassung der Weimarer Republik kehrte die Bismarcksche Regelung um. Eine nur für Preußen gültige spezifische Schwächung wurde jedoch für die preußische Vertretung im Reichsrat installiert. Da der Reichsrat (RR) in der Weimarer Verfassung (WV) bedeutende Rechte erhielt, war die Minderung der preußischen Rolle dort keineswegs marginal.Im RR berieten und entschieden die Vertreter der Länderregierungen gemäß der jeweiligen Bevölkerungsgröße, Preußen hätte also drei Fünftel der Sitze haben müssen, erhielt jedoch nur zwei Fünftel. Hinzu kam eine zweite Benachteiligung: Während die anderen Vertreter im RR von den Länderregierungen allein Weisungen erhielten, verfügte das Preußische Staatsministerium nur über die Hälfte der Stimmen, die andere Hälfte wurden von den preußischen Provinzen instruiert. Das Preußen der Weimarer Republik war kein

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unitarisches Land, sondern besaß seinerseits eine quasi-föderative Struktur mit gewählten Provinziallandtagen, Oberpräsidenten und seit 1921 einem Preußischen Staatsrat, dessen langjähriger Präsident der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (Zentrum) war. Die RR-Regelung der WV schwächte also die preußische Staatsregierung auf doppelte Weise, was sich politisch deshalb negativ auswirkte, weil nicht in allen preußischen Provinzen verfassungstreue demokratische Mehrheiten bestanden. Die 12 preußischen Provinzen spiegelten die ökonomische, gesellschaftliche, konfessionelle und kulturelle Heterogenität Preußens wider, die sich in einem ausgesprochenen agrarischen Schwerpunkt im Osten sowie einem dezidiert industriellen im Ruhrgebiet, in Oberschlesien und den sächsischen Gebieten konzentrierte. Neben metropolitanen Ballungsräumen in Berlin, den rheinischen Großstädten, dem Rhein-Main-Gebiet standen weite ländliche Gebiete ohne größere Städte. Die drei östlichen preußischen Provinzen Ostpreußen, Grenzmark Posen-Westpreußen und Pommern umfassten mit derjenigen Bayerns 31,5 % der deutschen Landbevölkerung: Zusammen erbrachten diese Regionen den größten Teil der deutschen Agrarproduktion. Nimmt man die anderen Provinzen, beispielsweise Westfalen und Teile des heutigen Niedersachsens hinzu, lebten im Weimarer Preußen 51,25 der deutschen Landbevölkerung. Doch lebten auch insgesamt 55 % der deutschen Gewerbe- und Industrie-Bevölkerung in ausgeprägten „Industrialisierungskernen“ (Knut Borchardt) Preußens. Neben der protestantischen Mehrheit in alt-preußischen Provinzen, gab es überwiegend katholische Regionen im Rheinland, Westfalen und Schlesien. Diese Unterschiedlichkeit bewirkte, dass die politischen Parteien ausgesprochene regionale Schwerpunkte besaßen: In einigen Landstrichen oder Städten konnte eine Partei die stärkste Kraft sein, in anderen aber eine Splittergruppe bleiben. Die föderative Struktur Preußens ließ jedenfalls Raum für diese Differenzen. IV. Die Preußische Verfassung vom 30.  November 1920 wies einige markante Unterschiede zur Reichverfassung auf, Unterschiede, die die politische Stabilität Preußens in der WR förderten. In Preußen wurde ein konsequent parlamentarisches Regierungssystem eingeführt und nicht wie im Reich ein semi-parlamentarisches. Die wesentliche Voraussetzung dafür war der Wegfall des ursprünglich geplanten Amtes eines eigenen Staatspräsidenten. Diese Lösung widersprach der verfehlten zeitgenössischen Einschätzung von Staatsrechtlern und Politikern, das Parlament bedürfe eines verfassungspolitischen Gegengewichts, um einen ‚Parla-



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mentsabsolutismus‘ zu verhindern. Da aber die damals stärkste politische Persönlichkeit, Friedrich Ebert, sich für das Amt des Reichspräsidenten und nicht des Reichskanzlers entschieden hatte, übte er auch in Preußen maßgeblichen Einfluss auf seine dortigen Parteigenossen aus. Eberts zutreffende Einschätzung lautete: Es werfe Probleme auf, wenn in Berlin zwei Staatsoberhäupter nebeneinander amtieren würden, eins für drei Fünftel der deutschen Bevölkerung, eins für fünf Fünftel. Friedrich Eberts für Preußen durchaus positiver Widerstand gegen das Amt eines preußischen Staatspräsidenten zwang zu konstruktiven Lösungen: Die für den Staatspräsidenten vorgesehenen Befugnisse wurden auf andere Verfassungsorgane verteilt, der Landtag und der Ministerpräsident wurden erheblich gestärkt, verfassungspolitische Inkonsequenzen wie im Reich vermieden. Der Vergleich ist aussagekräftig: Gemäß der WV besaß der Reichspräsident ein materielles Ernennungsrecht für den Reichskanzler (Art. 54), ohne dass dieser eine parlamentarische Mehrheit benötigte. Der direkt gewählte Reichspräsident besaß ein Auflösungsrecht für den Reichstag (Art. 25) und das Recht zur Reichsexekution bzw. zu gesetzesvertretenden Notverordnungen. Mit dieser Kombination konnten die Kompetenzen des Reichstages zeitweise ausgehebelt werden. Ein verheerendes Beispiel bildet die Ernennung und Amtszeit Franz von Papens, der kaum zehn Prozent der Reichstagsabgeordneten hinter sich hatte.Das preußische Notverordnungsrecht zeichnete sich dadurch aus, dass anders als im Reich, das Parlament nicht bei Seite geschoben werden konnte: Notverordnungen waren nur unter Mitwirkung des Ständigen Ausschusses des Landtags möglich, er repräsentierte die Mehrheit des Parlaments (Art. 55 PrV). Im Übrigen besaß der Landtag ein Selbstversammlungsrecht, er konnte also nicht wie der Reichstag über einen längeren Zeitraum ausgeschaltet werden. Für den Zusammentritt reichte das Votum von mindestens einem Fünftel der Abgeordneten oder der Wunsch des Staatsministeriums. In Preußen wählte der Landtag ohne Aussprache gemäß Art. 45 der Preußischen Verfassung (PrV) mit absoluter Mehrheit den Ministerpräsidenten, es kam also kein Regierungschef ins Amt, der nicht zumindest anfangs den notwendigen parlamentarischen Rückhalt besaß. Für seine Amtsführung bedurfte er analog zur WV des Vertrauens des Landtags. Diese Regelungen bedeuteten einen heilsamen Zwang zur Mehrheitsbildung und zum parlamentarischen Kompromiss, ein Ausweichen auf instabile Minderheitsregierungen wurde so vermieden. Die Auflösung des Landtags war nicht durch ein Staatsoberhaupt möglich, sondern auf drei Wegen: 1. des Volksbegehrens und Volksentscheids  – was 1931 scheiterte –, 2. einer Mehrheitsentscheidung des Landtags selbst sowie 3. den Beschluss des sog. Drei-Männer-Kollegiums aus Ministerpräsidenten, Prä-

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sidenten des Landtags und des Preußischen Staatsrats. Die Hürde für einen entsprechenden Volksentscheid war hoch: Die Mehrheit der Stimmberechtigten (!) musste zustimmen. Als die NSDP als stärkste Fraktion seit April 1932 den Landtagspräsidenten stellte (Hanns Kerrl) und über das Drei-Männer-Kollegium im Februar 1933 die Auflösung versuchte, wurde Kerrl von Otto Braun und Konrad Adenauer überstimmt. Mit anderen Worten: Der Ministerpräsident konnte nur schwer gestürzt, die Befugnisse des Landtags nicht durch ein anderes Verfassungsorgan über Monate hinweg suspendiert werden. Durch eine Änderung der Geschäftsordnung des Preußischen Landtags 1932 wurde sichergestellt, dass eine Regierung nach einer Wahl so lange geschäftsführend im Amt blieb, bis ein neuer Ministerpräsident gewählt wurde: Da nach der Landtagswahl vom 24. April 1932 keine demokratische Mehrheitsbildung mehr möglich war, aber eine Obstruktionsmehrheit von NSDAP (36,3 %), KPD (12,8 %) und DNVP (6,9 %) bestand, wirkte diese Geschäftsordnungsänderung, wie später das konstruktive Misstrauensvotum des Bonner Grundgesetzes, stabilisierend – NSDAP, KPD und gegen Ende der Republik auch die DNVP stimmten regelmäßig gemeinsam gegen die Demokraten, aber auf einen Regierungschef konnten sie sich aufgrund wechselseitiger Feindschaft nicht verständigen. In Preußen gab es anders als im Reich keine vorzeitigen Parlamentsauflösungen, im Landtag weniger Parteien (im Höchstfall 8, statt 14 im Reichstag), von 1919 bis 1932 stabile demokratische Mehrheiten, von Beginn an vier verfassungstreue Parteien, insgesamt nur 7 Regierungen (im Reich 21). Etwa neuneinhalb Jahre regierte die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP allein, dreieinhalb weitere Jahre gemeinsam mit der DVP. Die Zentrumspartei war in Preußen, anders als im Reich, nicht durch eine Abspaltung geschwächt: Dort bildete der ehemals bayerische Teil der Zentrumspartei nun eine eigene Partei, die Bayerische Volkspartei (BVP), die beispielsweise 1925 zur Wahl Hindenburgs und nicht des Zentrumskandidaten Marx aufrief. Die Zentrumspartei blieb in Preußen ein stabilisierender Faktor, durch ihre lange Zugehörigkeit zu den meisten Reichsregierungen sorgte sie zusätzlich für die Koordination mit der Reichs­ politik. Die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) war in Preußen längere Zeit deutlich stärker als im Reich. V. Die größere politische Stabilität ist allein an den führenden Politikern erkennbar: Es gab nur vier Ministerpräsidenten, darunter nur kurzzeitig den Sozialdemokraten Paul Hirsch (1918/20) sowie die Zentrumspolitiker Adam Stegerwald (April bis November 1921) und Wilhelm Marx (Fe-



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bruar bis April 1925). Der Sozialdemokrat Otto Braun regierte von 1921 bis 1924 sowie 1925 bis 1933 und blieb insgesamt zwölf Jahre Regierungschef  – auf Reichsebene eine schier unvorstellbare Amtsdauer und Stabilität. Von kurzen Unterbrechungen abgesehen, gelang es in Preußen den Sozialdemokraten, der Zentrumspartei und der DDP eine Regierung zu bilden, zwischen 1921 und 1924 gemeinsam mit Gustav Stresemanns Deutscher Volkspartei (DVP). Anders als im Falle der Weimarer Verfassung 1919 hatte die DVP der Preußischen Verfassung von 1920 zugestimmt, was von Beginn an ihr prinzipielles Einverständnis mit dem neuen Preußen signalisierte. Die von 1919 bis 1932 stärkste Partei, die SPD, agierte in Preußen deutlich gouvernementaler und kompromissfähiger als im Reich. Die damalige (preußische) SPD war nicht allein regierungswillig, sondern auch regierungsfähig. Das lag zum einen an den vergleichsweise pragmatischen Führungspersönlichkeiten wie den beiden Ministerpräsidenten Hirsch und Braun, aber auch an mehreren längerfristig amtierenden Ministern wie den Innenministern Carl Severing und Albert Grzesinski sowie dem langjährigen Fraktionsvorsitzenden Ernst Heilmann, der 1940 im KZ Buchenwald ermordet wurde. Auch bei den anderen Koalitionspartnern fanden sich starke Persönlichkeiten, darunter bei der Zentrumspartei die schon erwähnten zeitweiligen Ministerpräsidenten Adam Stegerwald und Wilhelm Marx (der mehrfach Reichskanzler sowie Gegenkandidat Hindenburgs bei der Reichspräsidentenwahl 1925 war), der Justizminister Hugo am Zehnhoff, der Wohlfahrtsminister Heinrich Hirtsiefer sowie die Fraktionsvorsitzenden Felix Porsch und Joseph Heß sowie Konrad Adenauer. Bei der DDP sind unter anderen zu nennen: Kultusminister Carl Heinrich Becker, Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff, Handelsminister Walther ­ Schreiber, bei der DVP der zeitweilige Finanzminister (bzw. Oberpräsident der Provinz Hannover) Ernst von Richter, der frühere Regierungspräsident und nunmehrige Landtagsabgeordnete Rudolf von Campe und der Kultusminister Otto Boelitz. VI. Nicht allein die politische Führungsebene identifizierte sich mit dem neuen Preußen, sondern ebenso eine in die gesellschaftliche Breite gehende politische Schicht aus Landtagskandidaten, Mitgliedern von Provinziallandtagen, Kreistagen und kommunalen Körperschaften sowie zum erheblichen Teil politische Beamte wie Oberpräsidenten, Landräte und Kommunalpolitiker. Diese breiteren Schichten standen zwar nicht im Rampenlicht, bildeten aber ein personelles Reservoir und banden eine große Zahl von Bürgern an das neue demokratische Preußen. Das gilt für

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alle drei bzw. vier Weimarer Regierungsparteien in Preußen, ganz besonders aber für die SPD, die diesen Aspekt sogar stolz für Wahlkämpfe herausstellte: So gingen beispielsweise die zwischen 1921 und 1933 gewählten 459 sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten aus insgesamt 1276 Kandidaten hervor. Die SPD verkündete in den Wahlen stolz die Zahl ihrer Reichstags-, Landtags- und Provinziallandtagsabgeordneten (419). Nimmt man auf Reichsebene alle Mandate der SPD von der Reichsebene bis zu den Kommunalvertretungen zusammen, handelt es sich um 54.556 politisch aktive Personen, davon der mit Abstand größte Teil in Preußen. Diese Identifizierung ist angesichts der revolutionären Erschütterungen, des Wandels der Staatsform und des Regierungssystems kaum zu überschätzen, weil das republikanische Preußen und sein demokratisches Regierungssystem erst eine loyale politische Elite entwickeln mussten. Dies gelang in Preußen vergleichsweise weitgehend, weil sich die Regierungskoalition bereits 1921 darauf verständigte, Beamte auf einen „aktiven Verfassungsschutz“ zu verpflichten. Deshalb erfolgte  – zumal bei politischen Beamten – in Preußen, anders als im Reich, auch eine gezielte Demokratisierungspolitik, die schon deshalb sehr viel besser gelang, weil in Preußen, nur fünf (mit einer sechsmonatigen Ausnahme) sozialdemokratische  – zeitweise besonders zielgerichtet arbeitende  – Innenminister amtierten, im Reich aber 14 aus fünf verschiedenen Parteien, darunter drei deutschnationale. Da das demokratische Preußen der zentrale Verwaltungsstaat des Reiches war, der zum erheblichen Teil  auch dessen Auftragsverwaltung durchführte, spielte die auf Verfassungstreue setzende Personalpolitik eine entscheidende Rolle. Es erwies sich als vorteilhaft, dass Preußen weiterhin überwiegend Beamte rekrutierte, deren Einstellung an bestimmte Laufbahnvoraussetzungen gebunden war. Demgegenüber konnten Angestellte leichter aus parteipolitischen Motiven eingestellt werden, wozu Teile der SPD neigten, weil sie anfangs kaum Verwaltungsjuristen in ihren Reihen hatten. Prinzipiell konnten Beamte einfacher auf Verfassungstreue verpflichtet werden, wenngleich das auch bei ihnen nicht zwangsläufig gelang. Im Jahr 1929 beschäftigte der Freistaat Preußen 143.000 Beamte sowie 32.000 Angestellte.Gerade am Beispiel Preußens lässt sich zeigen, welche Bedeutung der Bürokratie im Beziehungsgeflecht Parlament, Regierung, Verwaltung für die politische Stabilität zukommt. Und kein Zufall war es auch, dass die preußische Polizei in der Weimarer Republik mit etwa 100.000 Beamten insgesamt als verfassungstreu betrachtet werden konnte – was für die personell etwa gleichstarke Reichswehr nicht uneingeschränkt galt. In Preußen wurde konsequenter als im Reich der politische Extremismus von NSDAP und KPD bekämpft, was sich



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insbesondere in der Auflösungsphase der Weimarer Republik 1930 bis 1932 zeigte, als die preußische Regierung sich für das Verbot der SA und der NSDAP einsetzte, doch durch die in Abhängigkeit vom Reichspräsidenten stehende Präsidialregierung Brüning unter dem Druck Hindenburgs gebremst wurde. VII. Die beachtlichen Leistungen von Landtag und Staatsministerium während der Weimarer Jahre können hier nicht dargestellt werden, doch aufgrund vieler verkürzender Urteile über die Geschichte Preußens soll doch darauf hingewiesen werden: Keineswegs nur, aber gerade auch für die Weimarer Zeit spielen die zivilen Leistungen eine unverzichtbare Rolle, will man die preußische Geschichte angemessen beurteilen. Das Preußen der Weimarer Republik war nicht zuletzt ein herausragender Kulturstaat, wofür in erster Linie die Hauptstadt Berlin – damals nach London und New York mit etwa 4,5 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt  – stand. Hier waren zwar auch die Halbwelt und die Vergnügungssucht unübersehbar, aber eben keineswegs nur oder in erster Linie „Babylon Berlin“, sondern ebenfalls die Hochkultur in Literatur, Musik, Kunst, Theater, Universitäten, Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Verlagswesen. Und allein die Zahl der Zeitungen von Rang in der „Zeitungsstadt Berlin“ (Peter de Mendelssohn) überstieg in Zahl und Niveau die Zeitungswelt, die heute ganz Deutschland zu bieten hat. Doch auch viele weitere preußische Städte wie Köln, Frankfurt und andere hatten dank des kulturellen Pluralismus und Föderalismus in Deutschland und gezielter Kulturpolitik, wie derjenigen Konrad Adenauers in Köln, viel zu bieten. Und nicht zu vergessen: Der planvolle städtebauliche Siedlungsbau der 1920er Jahre in Berlin mit gelungener Architektur, hohem Wohnwert und vielen Grünanlagen war vorbildhaft. Hinzu kam dort die heute fehlende unideologische, zweckrationale Verkehrserschließung. VIII. Das Preußen der Weimarer Republik galt als „Bollwerk der Demokratie“, das war vielleicht etwas übertrieben, aber nicht falsch. Warum scheiterte also die Weimarer Demokratie, obgleich sie in drei Fünfteln funk­ tionierte? In erster Linie waren dafür strukturelle Gründe maßgebend, die nicht in der Geschichte Preußens lagen. Alle Länder waren finanziell vom

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Reich abhängig. Außerdem fielen mangels Zuständigkeit für die Länder einige zentrale Konfliktfelder weg, die auf Reichsebene Kompromisse erschwerten. Diese ‚Erleichterung‘ betraf vor allem die Außenpolitik und die wirtschaftlich, vor allem aber politisch und psychologisch, stark belastenden Folgen des von links bis rechts als „Diktatfrieden“ beurteilten Vertrags von Versailles. Zwar waren die territorialen Verluste und der Ruhrkampf 1923 in erster Linie von Preußen zu verkraften, doch galten diese Probleme als reichspolitisch, da nicht die preußische, sondern die Reichsregierung den Vertrag hatte unterschreiben müssen. Für Militär­ politik und Reichswehr waren die Länder ebenfalls nicht entscheidungsrelevant. In Bezug auf die innere Widerstandsfähigkeit gilt: Seit Jahren wurden Reichsreformpläne diskutiert, die nicht allein die Legitimität der Weimarer Verfassungsordnung untergruben, sondern auch die Existenz Preußens gefährdeten. Dahinter stand bei zahlreichen Projekteschmieden und beim Reichspräsidenten der Ärger über das demokratisch unter Beteiligung der SPD funktionstüchtige neue Preußen. Alle ökonomischen und allgemeinpolitischen Ursachen für den Untergang der Weimarer Repu­ blik trafen Preußen als größten Staat besonders schwer, darunter Finanzkrise und Arbeitslosigkeit. Und nach den Wahlen vom 24. April 1932 bestand auch in Preußen keine demokratische Mehrheit mehr. In einer stabilen Verfassungsordnung kann eine solche Entwicklung eine Zeitlang verkraftet werden, aber gerade in einer Demokratie nicht dauerhaft. Immerhin bestand die demokratische Republik in Preußen mehr als zwei Jahre länger als im Reich. Zerstört wurde sie durch das Reich mit dem Preußenschlag, also gewissermaßen von außen. Die Frage, ob man die preußische Polizei gegen den Reichspräsidenten bzw. die Reichswehr hätte mobilisieren können, war damals umstritten und blieb es auch bei späteren Historikern. Doch zu bedenken ist die große Popularität Hindenburgs und offen die Frage, wohin ein dann unausweichlicher Bürgerkrieg geführt hätte. Ohne Zweifel aber tragen der Reichspräsident und seine altpreußische Kamarilla, die schon im Ersten Weltkrieg und an seinem Ende schmählich versagt hatten, eine ausschlaggebende Verantwortung für den Untergang Preußens. In einigen Grundzügen führte das Weimarer Preußen rationale Reformtraditionen des 18. Jahrhunderts und der mit Friedrich dem Großen beginnenden Rechtsstaatlichkeit sowie Prinzipien der Reformzeit des frühen Jahrhunderts fort. Seit 1919 führte es das bereits demokratische Wahlrecht des Bismarck-Reichs in erweiterter und zum Verhältniswahlrecht modifizierter Form endlich in Preußen ein. Im Selbstverständnis der neuen demokratischen Elite stand auch das republikanische Preußen in zeitgemäßer Form in der preußischen Staatstradition. Mit anderen



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Charakteristika gab es ein positives verfassungspolitisches Erbe an die Bundesrepublik weiter: Die Verfassungsordnung des Bonner Grundgesetzes ähnelt sehr viel stärker der preußischen als der Reichsverfassung: Die Stärkung von Parlament und Regierung, das konstruktive Misstrauensvotum, die Schwächung des Präsidenten, die Entschärfung plebiszitärer Elemente haben damals zur Stabilität des demokratischen Parlamentarismus beigetragen und tun es noch heute.1

1  Auf Verweise, Quellen- und Literaturangaben verzichte ich hier, sie finden sich in meinen Darstellungen:Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985; Preußen von 1918 bis 1947: Weimarer Republik, Preußen und der Na­ tionalsozialismus, in: Handbuch der Preußischen Geschichte. Hrsg. von Wolfgang Neugebauer, Bd. III, Berlin/New York  – 2001, 149–316; Die Weimarer Republik. Demokratie in der Krise, 12. überarb. Aufl. München 2018; Die preußischen Oberpräsidenten der Weimarer Republik als Verwaltungselite, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30 (1982), 1–26; zuletzt: Föderalismus in der Weimarer Republik, in: Dietmar Willoweit (Hg.), Föderalismus in Deutschland, Wien/Köln/Weimar 2019, 337–358; Kontinuität und Bruch in Preußen nach 1918: Das „eiserne“ Königreich ohne König, in: Holger Afflerbach/Ulrich Lappenküper (Hg.), 1918 – das Ende des Bismarck-Reiches? Leiden-Paderborn 2021, 59–76.

I. Verfassung

Preußen in der Weimarer Republik Ein Forschungsbericht Von Christoph Gusy1, Bielefeld I. Prolog: Forschungsbericht als Zwischenbilanz und Forschungsauftrag Die demokratische Republik von 1918–1933 war in der preußischen Geschichte nur eine kurze Episode. Was historisch als „preußisch“ begriffen wurde, war bei ihrem Beginn längst definiert. Und bald nach dem Ende der Republik endete auch die staatliche Existenz des größten deutschen Einzelstaats. Aus der Sicht dessen, was man lange Zeit hindurch als „preußisch“ begriff, zählte und zählt die Zwischenkriegszeit zur Niedergangsgeschichte.2 Passen also das, was man als „Weimarer Republik“ begreift, und das, was man als „preußisch“ zusammenfasst, nicht zusammen? Es gibt aber auch ein anderes Narrativ, das seinen Ausgangspunkt nicht an Preußens (vergangener?) Größe, sondern bei der Republik und ihrer Verfassung selbst nimmt. Wer „Weimar Prussia“ aus seiner Zeit betrachtete, neigte bisweilen dazu, den Einzelstaat als „Bollwerk der Demokratie“ zu charakterisieren.3 Er sei derjenige gewesen, in welchem die

1  Für die recht aufwändigen Recherchearbeiten danke ich Frau Alina Kulle und Frau Merle Fock. 2  Besonders deutlich bei Christopher M. Clark, Preußen: Aufstieg und Niedergang, 1600–1947, 1. Aufl. München 2007, 704, wo die Demokratische Republik in dem Schlusskapitel „Das Ende“ steht. Weniger pessimistisch getönt Monika Wienfort, Geschichte Preußens, 2. Aufl. München 2015, Kapitel V. Anders James Hawes, Die kürzeste Geschichte Deutschlands, 1. Aufl. Berlin 2019, 211 ff., der Preußen und preußische Traditionen als eine Ursache des Scheiterns der Republik sieht. Aufschlussreicher Rechtsvergleich mit Österreich bei Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), Auf dem Weg in den Verfassungsstaat: Preußen und Österreich im Vergleich, 1740–1947, Berlin 2018. 3  Dietrich Orlow, Weimar Prussia 1918–1925: the unlikely rock of democracy, Pittsburgh 1986; ders., Weimar Prussia 1925–1933, Pittsburgh 1991, 1191 (mit dem treffenden Untertitel „The illusion of strength“). Eher kritisch getönter Überblick bei Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen?: Preußen-Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928–1932, Bonn/Bad Godesberg 1975.

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Werte der demokratischen Republik am längsten und stärksten verteidigt werden konnten und verteidigt wurden. Erst als das „Bollwerk“ geschleift war, war die Republik am Ende. Und diese Schleifung geschah nicht von innen, sondern von außen. Die Frage nach dem Zugang zu unserem Thema erscheint also am ehesten als eine solche nach der Auswahl der Perspektive, aus welcher man sich ihm nähert. War die Republik Schlussstein oder Totengräber der preußischen Geschichte? Die Wirklichkeit lag und liegt meist zwischen solchen Typisierungen. Der Zugang wird in unserem Fall dadurch erschwert, dass die Verfassungsgeschichte des größten deutschen Einzelstaates bislang wenig erforscht ist und am ehesten aus einzelnen, allerdings maßstabbildenden Studien, die zu speziellen Gegenständen geschrieben sind, rekonstruiert werden muss. Wo die (zumeist etwas ältere) Geschichtswissenschaft vielfach schon da ist, müssen Rechts- und Ver­ fassungsgeschichte noch ankommen. Ein Forschungsbericht wird daher teilweise auf weiße Flecken, manchmal auf überprüfungsbedürftige Erkenntnisse stoßen. II. Vorbedingungen und Ausgangslage Dass die Vergangenheit Entstehungsbedingungen und Schicksal der Republik wesentlich mitbestimmen sollte, ist längst Gemeingut. Das galt selbstverständlich nicht nur für „Weimar“ als Ganzes, sondern auch für die Einzelstaaten. Dass dies für das Schicksal des größten Landes, welches zudem mit dem Gesamtstaat besonders verwoben gewesen war, auch in Zukunft gelten würde, lag besonders nahe. Nahezu alle Vorbelastungen und Herausforderungen, welche sich für die Republik stellten,4 sollten sich hier auch auswirken. Hinzu traten einzelne landesspezifische Besonderheiten, welche modifizierend wirken konnten, ohne aber die Gesamtlage wesentlich zu verändern. Aus preußischer Sicht lassen sich Vorbedingungen und Vorentscheidungen knapp umreißen: 1. Vorbedingungen Zwar war der 1.  Weltkrieg kein spezifisch preußischer gewesen, doch hatte die nationale Mobilisierung seit dem späten 19. Jahrhundert gerade hier gewirkt: Hier waren lange Außengrenzen zu späteren Kriegsgegnern; hier lag die deutsche Flotte; hier wurde der Großteil der Streitkräf-

4  Zu ihnen Überblick bei Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, 17 ff. (Nachw.).



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te des Reichs gestellt; und hier hatten Kaiser und Reichsregierung ihren Sitz. Reich und Preußen waren aneinander gekettet; was im Reich gegessen werden sollte, wurde zumeist in Preußen gekocht. Das galt auch für die politischen Umschwünge im Krieg. Die fundamentale Fragmentierung des Volkes (kaum zugespitzt formuliert: Welcher Teil des Volkes darf andere Teile des Volkes in Krieg und Tod schicken?) war hier mindestens genau so stark wie in ganz Deutschland. Sie sollte ein prägendes Element auch der preußischen Politik bleiben.5 Preußen als größter deutscher Einzelstaat ging als Kriegsverlierer aus dem Weltkrieg hervor. Der Vertrag von Versailles führte zu Gebiets- und Bevölkerungsverlusten Deutschlands, welche praktisch allein Preußen betrafen. Dadurch wurde das Land homogener, es sollte seine größte (polnische) Minderheit verlieren, deutschstämmige Preußen wurden nun zur Minderheit im Ausland. Das schaffte zukunftsträchtige Probleme: Bewaffnete Grenz- und Abstimmungskämpfe, Austrittsdrohungen und daraus resultierende Unruhen auch durch die Bemühungen ihrer Bekämpfung (Stichworte: Bürgerwehren, Freikorps, „Schwarze Reichs­ wehr“)6 fanden sich wesentlich in Preußen. Die unsichere Lage in den östlichen Provinzen endete mit den Gebietsabtretungen nicht, sondern sollte sich unter anderen Prämissen fortsetzen. Und dass Preußen an den Reparationen wesentlich mittragen würde, lag nahe. Hier war das Land in einer ungünstigeren Position als andere Länder: Während diese mit Separatismusdrohungen versuchen konnten, bei der innerdeutschen Lastenverteilung glimpflicher davon zu kommen, war ein Austritt Preußens aus Deutschland schlichterdings undenkbar. Durch die Gebietsabtretungen im Osten veränderte sich die Bevölkerungsverteilung leicht. Da die Bevölkerungsverluste überwiegend im Osten lagen, wurde das Land etwas westlicher und etwas städtischer.7 Wesentliche Unterschiede blieben: Die konfessionelle Spaltung war auch fortan eine regionale zwischen Nordost einerseits sowie Südost und West andererseits; zwischen alten und neueren preußischen Gebieten. Hier 5  Grundlegend Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora, 4. Aufl. München 2014, 997 ff., 1000 ff.; zur Republik ebd., 939 ff., 997 ff.; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933: Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, 285 ff. Zu Freund und Feind Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1932, 36 ff., 28 ff., 79 ff. 6  Dazu Horst G. W. Nusser, Konservative Wehrverbände in Bayern, Preußen und Österreich: 1918–1933, Stuttgart 1973. 7  Näher (o. Namen), Rheinland, Westfalen und Preußen in der Weimarer Repu­ blik, 2016. Siehe auch Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen, Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789–1947, Münster 2008. Zum folgenden Horst Dreier, Kirche ohne König, Tübingen 2020.

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sollten die evangelischen Kirchen ihren wie auch immer zu definierenden Status als Staatskirchen einbüßen (Art. 137 Abs. 1 WRV). Zudem sollte Art. 136 WRV die religiöse Gleichberechtigung garantieren, die nicht mehr unter Rückgriff auf „nationale“ Vorwände umgangen werden konnte. Infolge der Parteipolitisierung jener konfessionellen Differenzen war dies auch eine Frage nach Stärke und Integration des Zentrums in die politische Landschaft der Republik. Dass dieses an allen republikanischen Regierungen beteiligt war, hat Stabilität und Integration des Landes gewiss gefördert. 2. Vorentscheidungen Die Revolution von 1918 war von Preußen ausgegangen. Und sie hat letztlich auch in Preußen gesiegt. Das Land hatte sich bis in den Oktober hinein den immer dringlicher geforderten staatsrechtlichen Neuregelungen – Parlamentarisierung der Regierung, Wahlrechtsgleichheit u. a. – widersetzt. Seine Reformunwilligkeit bzw. -unfähigkeit hatte wesentliche Ursachen für den Sturz der Monarchie geliefert. Diese Bremse für Neuerungen war mit der Revolution beseitigt. Deren Durchsetzung im größten Einzelstaat war eine wesentliche Bedingung für die mühsame Stabilisierung der neuen Ordnung. Der Kaiser hatte zunächst als Kaiser, Ende November auch als preußischer König abgedankt.8 Die staatsrechtliche Klammer zwischen Preußen und dem Reich war damit gelöst. Das war die Grundlage einer Trennung und Verselbständigung der beiden Regierungen. Was für das Reich am 9.11.1918 vollzogen worden war, geschah kurz darauf in Preußen. Am gleichen Tag wurde (im Auftrag Eberts) die Notstandsgewalt, am 12.11.1918 die Landesregierung von den revolu­ tionstragenden Parteien übernommen. Fortan amtierten zwei politisch gleich zusammengesetzte Regierungen in Berlin. Dieser Dualismus sollte sich verfassungsrechtlich verfestigen.9 Zwar war die implizite Grundannahme der RV 1871, wonach das Reich von Preußen mitregiert werden würde, schon in der Monarchie zeitweise und zuletzt unter Reichskanzler Max von Baden nicht mehr gegeben. Die staatsrechtliche Konsequenz daraus wurde in der Republik gezogen: Die Ebenentrennung zwischen Republik und Einzelstaaten sollte sich fortan als institutionelle und personelle Trennung der beiden Regierungen vollziehen. Darin konnte ein Gewinn an Eigenständigkeit beider Ebenen gesehen werden. Dass damit zugleich eine Neutarierung der politischen 8  Lothar

Machtan, Die Abdankung, München 2016, 263 ff. Kersten Rosenau, Hegemonie und Dualismus: Preußens staatsrechtliche Stellung im Deutschen Reich, Regensburg 1986. 9  Ausführlich



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Einflusssphären notwendig wurde, die in der Republik zu Rivalitäten führen würde, lag auf der Hand. Das „Problem Preußen“ wandelte sich, wurde aber auch durch die Revolution weder beendet noch gelöst. Elementarster Ausdruck dieser Verschiebung war von Anfang an die Sicherheitslage. Zwar hatten die Volksbeauftragten am 12.11.1918 den Belagerungszustand aufgehoben. Rein faktisch änderte sich an der Militarisierung der inneren Sicherheit auch in Preußen zunächst nichts. Eine der Säulen preußischer Eigenständigkeit, die Zivilisierung der Polizei und ihre Zuordnung zu den Ländern, war in der Zeit ihrer größten Herausforderung unwirksam geblieben. Die Notstandsgewalt blieb zunächst militärisch, und sie blieb zunächst in den Händen des Reichs. Neben der Größe der Herausforderungen und den Nachwirkungen des Kriegszustands lag dies gewiss auch an der Unzuverlässigkeit der Berliner Polizeiführung in den Jahren 1918/19. Gerade hier hatte eine der zentralen Leistungen des größten Einzelstaates gelegen, und sie war eine selbstverständliche Grundlage des Reichs gewesen. Ihre Wiedergewinnung sollte erst nach dem Kapp-Putsch einsetzen. Dass dieses temporäre „Staatsversagen“ den Einfluss des Landes in der Phase der staatsrechtlichen ­Erneuerung nicht gerade stärken würde, lag auf der Hand. Noch vor der Verfassunggebung wurde dieser Zustand durch die Finanzreform von 1919 verrechtlicht. Ihr maßgeblicher Anlass war die Mobilisierung der deutschen Staatseinnahmen für die Bewältigung der Kriegsfolgen. Dies geschah wesentlich auf Kosten der Kommunen und der Länder. Die rechtlichen Folgen wirkten bis in die WRV hinein. War bislang das Reich (auch) auf Beiträge der Länder angewiesen gewesen, so kehrte das neue Recht die Verhältnisse geradezu um. Die Republik war Gläubigerin der wichtigsten Steuern; und sie erlangte die Gesetzgebungskompetenz nicht nur für diese, sondern auch für Abgaben, welche teilweise den Ländern zufielen. Da diese Steuer die aufkommensstärksten waren, wurden in der Logik des tradierten Bildes die Länder zu Kostgängern der Republik. In der Folgezeit allgegenwärtiger Finanzknappheit, Sparzwänge und Wirtschaftskrisen sollte das Verhältnis untereinander nicht zuletzt durch Verteilungskämpfe geprägt werden, welche auch die Legitimation des Föderalismus insgesamt beschädigten.10 Bekanntlich gingen die Sorgen um die preußische Eigenständigkeit damals noch weiter. Die allerersten Verfassungspläne von Hugo Preuß sahen eine Länderneuordnung vor, welche für den größten Einzelstaat die Existenzfrage gestellt hätte. Einen Moment lang schien dessen Bestand

10  Nachgezeichnet bei Gusy, Reichsverfassung (Anm. 4), 224  ff., 243 ff., 266 ff. (Nachw.).

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offen. Die Selbsterhaltung gelang namentlich dadurch, dass die Träger der Revolutionen und Revolutiönchen in den deutschen Einzelstaaten ihre eigene Fortexistenz an den Fortbestand des Bundesstaates und das Ausbleiben einer durchgreifenden Länderneugliederung geknüpft sahen. Hier gelang es, Verbündete zu finden nicht nur gegen die Separatismusgefahr an den Rändern, sondern auch für den Bundesstaat, und damit auch den preußischen Staat („Bayern rettet Preußen“). Dessen Integrität wurde allerdings zunächst weiterhin von separatistischen Tendenzen namentlich im Rheinland bedroht. Das Land war also gerade in der  Neuordnungsphase sehr mit sich selbst und der Erhaltung seiner Existenz beschäftigt. Dieser Zustand überschattete auch die Verfassunggebung. Nicht mehr die Länder setzten den staatsrechtlichen Rahmen. An die Stelle der Bundesfürsten trat das Deutsche Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt. Für die Einzelstaaten galt eine neue und recht allgemein gefasste Homogenitätsklausel (Art. 17 WRV), welche Republik, Demokratie, Wahlrechtsgleichheit und Parlamentarisierung der Regierungen vorschrieb.11 Das war genau dasjenige, wogegen sich das alte Preußen bis zuletzt gewehrt hatte. Diese Klausel band die Verfassunggebung der Einzelstaaten, wirkte aber in Anbetracht der politischen Vorentscheidungen eher symbolisch. Nicht die Länder prägten die Grundlage der gesamtstaatlichen Verfassung  – fortan sollte es genau umgekehrt verlaufen. Ihre Verfassungsautonomie sollte eine abgeleitete werden. Für Preußen kamen weitere symbolische Zurücksetzungen hinzu: Die neue Verfassung war keine „Berliner“, sondern die „Weimarer Verfassung“ und so mit einem außerpreußischen Ort verknüpft.12 Ein Staatsoberhaupt war in Preußen nicht mehr vorgesehen. Und das Verhältnis zwischen Reichs- und Landesverfassung sollte sich wandeln: War bis 1918 die PrVerf. von 1850 eine Vollverfassung13 und die RV 1871 ein bloßes Organisationsstatut gewesen, so 11  Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen der WRV eingehend Fabian Wittreck, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hrsg.), Weimars Verfassung: Eine Bilanz nach 100 Jahren, Göttingen 2020, 87. 12  Zu den Gründen dafür Heiko Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam, Köln 2018. 13  Sie erging als Revision der oktroyierten Verfassung von 1848. Nach der Niederlage der Revolution von 1848 vereinigte sie in sich wesentliche Elemente hochkonstitutionellen Denkens und gilt als eines der maßgeblichen Dokumente dieses Verfassungstyps. Für das Land Preußen insgesamt war sie ohne Vorbild gewesen, hier war Verfassunggebung vor 1848 allein auf Provinzebene möglich gewesen. Charakteristisch war ein für die damalige Zeit weit ausgebauter Grundrechtskatalog, ein elaboriertes Zweikammer-System, welches sowohl bürgerliche Mitwirkung als auch eine Zementierung tradierter Vor- und Sonderrechte garantierte; schließlich das Drei-Klassen-Wahlrecht, welches in der Entstehungszeit gegen-



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kehrte sich das Verhältnis nun um: In der Republik war die WRV die Vollverfassung  – namentlich mit ausgebautem Grundrechtskatalog  –, die PrVerf. 1920 nahm eher Züge eines Organisationsstatuts ein. Es mag am ehesten die Summe dieser Entwicklungen sein, welche Republikanisierung und Republik aus der Sicht mancher Autoren Preußen eher auf der Verlustseite erscheinen ließen – und für manche noch lassen. Alle diese Vorbedingungen und Vorentscheidungen entstanden unabhängig von der republikanischen Verfassunggebung in Preußen: Teils gingen sie ihr voraus, teils lagen sie ihr zugrunde. Teils fanden sie unabhängig von Landesinstanzen statt, teils konnten sie von diesen eher defensiv abgemildert als autonom mitgestaltet werden. Jedenfalls waren sie eingetreten, als die Verfassunggebung im Land begann. III. Republikanische Verfassunggebung in Preußen 1. Verfassunggebende Landesversammlung Der Weg zur Neukonstituierung der Republik Preußen verlief recht parallel zur Entwicklung auf der Zentralebene. Hier mögen die räumliche Nähe der entscheidenden Organe, die parteipolitischen Parallelen bei ihrer Zusammensetzung und die persönliche Kenntnis der handelnden Personen untereinander ausschlaggebend gewesen sein. So konnten Ereignisse und Krisen auf der einen Ebene unmittelbar auf die andere hinüberwirken, wie etwa die Vorgänge um den Berliner Polizeipräsidenten zeigten. Wo im Land die neue Regierung tätig wurde, zeigte sie eine punktuelle Entschlossenheit zur Durchsetzung der neuen Ziele mit etwas höherem Symbolgehalt, zugleich aber auch geringerem Bemühen um Akzeptanz und Legitimationsbeschaffung. Ersichtlich war anfangs die Durchsetzungsfähigkeit der neuen Staatsspitze gegenüber den etablierten Exekutivinstanzen in Preußen etwas geringer als in der Republik. Dann musste die höhere Ebene einspringen  – auch hinsichtlich der dadurch entstehenden politischen Kosten. über älteren Zensuswahlrechten als relativ modern, seit der Statuierung des gleichen (Männer-)Wahlrechts in der RV 1871 jedoch zunehmend als rückständig und 1918 als vollständig diskreditiert angesehen wurde. Wichtig die zahlreichen Kommentare zur Verfassung von Ludwig von Rönne, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Jan. 1850, 3. Aufl. Berlin 1859; E. Schwartz, Die Verfassungsurkunde für den preussischen Staat vom 31.  Januar  1850, 2. Aufl. Breslau 1898; Adolf Arndt, Allgemeines Berggesetz für die Preußischen Staaten in seiner jetzigen Fassung nebst kurzgefasstem vollständigen Kommentar, 7. Aufl. Leipzig 1911; Gerhard Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, Bd. 1, Berlin 1912.

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Auch in Preußen verlief der Weg zur verfassunggebenden Nationalversammlung in den neuen Staatsorganen recht gradlinig.14 Die Alternative der Räte war zwar präsent, blieb aber auch hier eine Minderheitenidee und wurde am ehesten von Randgruppen teils mit bewaffneten Methoden vorgetragen. Im Zentrum der Verfassungskämpfe stand jedoch die gleichzeitig stattfindende Verfassunggebung in der Republik: Die Debatten in Preußen segelten eher in deren Windschatten. Die äußeren Ereignisse ähnelten sich jedoch: In den von MSPD und Gewerkschaften dominierten Regierungen fand sich eine breite Mehrheit für verfassunggebende Versammlungen. Darüber zerbrach Anfang 1919 auch im Land die Koalition aus MSPD und USPD, welche die Ministerien paritätisch besetzt hatten. Fortan amtierte eine SPD-geführte Regierung unter Ministerpräsident Hirsch. Auch die Grundsätze der Wahl für die verfassunggebende Landesversammlung waren vorgegeben. Der Rat der Volksbeauftragten (RdVB) hatte am 12.11.1918 das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das Frauen- und Verhältniswahlrecht, für alle Ebenen zwingend vorgeschrieben. Dieses neue Wahlrecht fand auch für die Preußische Konstituante Anwendung. Mit der bisherigen Privilegierung des Landes gegenüber der Stadt, der oberen gegenüber den unteren Schichten und der Mittel- und Konservativen Parteien gegenüber ihrer Konkurrenz war es fortan vorbei. Es waren gerade die Missstände in Preußen gewesen, auf welche die Volksbeauftragten mit ihrer Neuordnung der Wahlvorgänge reagierten. Durch die zwingend vorgeschriebene Geheimheit der Stimmabgabe war eine gleiche Repräsentation aller politischen Anschauungen im Volk auch in seiner Vertretung gewährleistet. Der eine Woche nach den Wahlen zur Nationalversammlung stattfindende Wahlgang zur Landesversammlung (26.1.1919) erbrachte erwartungsgemäß keine wesentlichen Abweichungen vom Ergebnis der Vorwoche. Keine Mehrheit der Revolutionsparteien USPD und MSPD, stattdessen eine stabile Zwei-Drittel-Mehrheit der Weimarer Koalition.15 Die Landesversammlung war ebenso wie ihre Weimarer Schwester nicht bloß Konstituante, sondern nahm in der Nachfolge des ehemaligen Landtags auch die regulären Parlamentsfunktionen wahr: Wahl-, Gesetzgebungs-, Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktionen. Ihre Arbeit verlief in 14  Ereignisgeschichte bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte  V, Stuttgart 1978, 1002 ff.; ders., ebd. VI, 1981, 744 ff. Zur parallelen Entwicklung auf der Zentralebene Christoph Gusy, Die verdrängte Revolution, in: Recht und Politik 2018, 135. 15  Zum Zentrum Herbert Hömig, Das preußische Zentrum in der Weimarer Republik, Mainz 1979. Zur DDP Joachim Stang, Die DDP in Preußen 1918–1933, Düsseldorf 1992.



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Berlin – entgegen vereinzelten anderslautenden Erwartungen – von äußeren Einflüssen störungsfrei. Auch in Zukunft sollten die engen parteipolitischen und personellen Verknüpfungen beider Ebenen bestehen bleiben. Dies zeigte sich sowohl in offensichtlich abgestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen, aber auch in einzelnen Versuchen, auf die andere Ebene überzugreifen bzw. solche Übergriffsversuche abzuwehren – etwa bei Koalitionsfragen. Die Trennung der Ebenen und die Konsolidierung der jeweiligen Selbstverständnisse waren noch zu leisten. Die Arbeit der Landesversammlung16 ist wenig erforscht.17 Dies geschah fast allein unter dem Aspekt von Spezialforschungen, etwa zur Entwicklung des Preußischen Parlamentarismus18 oder zum Wirken von Hugo Preuß auch auf der Landesebene,19 weniger im Kontext der Politik des späteren Ministerpräsidenten Otto Braun;20 in Einzelfällen bei der Erforschung der Entstehungsgeschichte einzelner Regelungskomplexe oder Einzelbestimmungen. Diskussionen und Forschung waren und sind stark auf die Weimarer Ereignisse fokussiert. Und da es das Land Preußen nicht mehr gibt, ist in der Gegenwart für eine landeshistorische Forschung niemand mehr zuständig.21 Verfassungsfragen stellten sich damals in allen Einzelstaaten und auf der zentralen Ebene.22 Allzu stark 16  Verhandlungen der verfassunggebenden Landesversammlung, 15 Bände, 1919 ff. Darstellung bei Heinz-Dieter Bayer, Der Staatsrat des Freistaates Preußen, Berlin 1992, 12 ff. (Nachw.). Teilveröffentlichung: August Hermann LeugersScherzberg/Wilfried Loth, Die Zentrumsfraktion in der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung, Düsseldorf 1994. Zeitgenössische Berichte von Werner Hempfing, Umschau: Preußische Verwaltungsblätter (PrVBl) 1920, Berlin 266; 366; 507; ders., ebd., September 1920, 6; ders., ebd., Dezember 1920, 174. 17  Berichte über die Entstehung der Verfassung bei Ludwig Waldecker, Die Verfassung des Freistaats Preußen, Berlin 1921, 9 ff.; Friedrich Giese/Ernst Volkmann, Die Preußische Verfassung, 2. Aufl. Berlin 1926, 24 ff. Historisch ausführlich Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, 32 ff.; Fabian Wittreck, Verfassunggebende Landesversammlung und Preußische Verfassung von 1920, in: Detlef Lehnert (Hrsg.), Hugo Preuß 1860–1925, Köln 2011, 317. 18  Möller, Parlamentarismus (Anm. 18). 19  Michael Dreyer, Hugo Preuß, Stuttgart 2018, 420 ff. 20  Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt am Main 1981. 21  Desiderat ist auch ein Band zum größten Einzelstaat in der Reihe „Schriften zum Landesverfassungsrecht“ (hrsg. v. Peter Huber/Fabian Wittreck). Eine umfangreiche Literaturliste auch zur Dissertationsliteratur findet sich bei Fabian Wittreck, Weimarer Landesverfassungen: die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918–1933, Tübingen 2004, 495 ff. Komparatistische Bestandsaufnahme zum Länderverfassungsrecht bei Christoph Gusy, Verfassunggebung in den Ländern, in: Journal für Juristische Zeitgeschichte 2019, 47. 22  Zur preußischen Verfassung Hugo Preuß, Verfassung des Freistaates Preussen vom 30.  November  1920, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts (JöR), Tübingen

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war damals die Aufmerksamkeit fokussiert auf die grundlegenden Entscheidungen in Weimar über den Friedensvertrag von Versailles, die WRV und die Grundfragen zur Wirtschafts- und Sozialordnung. Eher schon relevant für die Landesebene waren die alltäglichen Versorgungseng­ pässe, die Hungersnot und die Bekämpfung der ausbrechenden Seuchen, also eher praktische Fragen der Verwaltung als solche der Verfassung. 2. Verfassungsarbeit Die Vorarbeiten zur neuen Verfassung begannen, bevor die Landesversammlung zusammentrat. Und sie verliefen außerhalb der Konstituante. Der maßgebliche Unterschied zur Republik lag in dem Umstand: Es gab bei der Verfassungsvorbereitung keinen Preuß; genauer: keine Persönlichkeit außerhalb der (fort-)bestehenden Staatsorganisation, welche die Entwurfsarbeiten auf sich fokussierte und dabei (tradierte) Wissenschaft und (neue) Politik, staatliches Herkommen und revolutionäre Ansprüche, Bestehendes und Wünschbares zusammenführte. Im Gegenteil: Mit seinen anfänglichen Überlegungen zur Auflösung des größten Einzelstaats, die mit den Parteien nicht abgestimmt waren, hatte der „Vater der Reichsverfassung“ im Land und bei seiner Partei, der DDP, viel Kredit eingebüßt. Und es war offenbar niemand da, der im Land eine vergleichbare Funktion hätte wahrnehmen können. Was für seine Person galt – er sollte erst in der Landesversammlung eine aktive Rolle übernehmen  –, galt ebenso für den starken südwestdeutschen Einfluss, der in den anfänglichen Vorarbeiten zur WRV spürbar war: Die Heidelberger Verfassungsexperten Gerhard Anschütz und Max Weber, die Volksbeauftragten unter ihrem Vorsitzenden Ebert: Alles dies fehlte in Preußen. Auch die zeitgenössische Verfassungsdiskussion war von den Weimarer Ereignissen offenbar absorbiert. Für Preußen finden sich nur vereinzelte Beiträge, die oft eher berichtenden Charakter aufweisen.23 Das gilt auch 1921, 223; Robert Piloty, Die neue preußische Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 1921, 87. Vergleichende Berichte in: JöR 1921. Hans Gmelin, Das Staatsrecht der Einzelstaaten, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts (HDStR) I, Tübingen 1930, § 8; Otto Koellreutter, Die neuen Landesverfassungen, ebd., § 13. Zur Kompetenzverteilung in der Republik Gerhard Anschütz u. a. ebd., §§ 26 ff.; zum Landesverfassungsrecht querschnittartig Max Wenzel u. a. ebd., §§ 52 ff. (ohne gesonderten Beitrag zu Preußen). 23  Noch aus der Monarchie Erich Kaufmann, Zu den preußischen Verfassungsvorlagen, Deutsche Juristenzeitung (DJZ) Berlin 1918, 12; Conrad Bornhak, Die Umgestaltung der preußischen Verfassung, in: DJZ 1918, 726; Holtz, Zum Entwurf einer Verfassung für Preußen, in: DJZ 1918, 333; Berichte bei Karl Hempfing, Umschau, PrVBl 1918, 513; 1920, 266; 366; 507; ders., Umschau ebd. September 1920,



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für die SPD-Mitgliederzeitschrift „Vorwärts“, die zwar berichtend begleitete, aber keine Verfassungsprogramme oder -forderungen aufstellte oder diskutierte.24 Naheliegender Weise sind auch sie ganz überwiegend von Autoren aus Preußen. Die anderen waren offenbar eher mit der WRV oder parallelen Verfassungsfragen ihrer jeweiligen Herkunfts- oder Arbeitsorte befasst, soweit sie sich überhaupt an der Diskussion beteiligten. Die Diskussionen waren introvertierter, traditionsnäher, fast möchte man sagen „preußischer“. Vorherrschend war ein gewisser Pragmatismus, es fehlten weitgehende, erst recht revolutionäre Umgestaltungsvorschläge. Die Verfassungsarbeit war unter diesen Rahmenbedingungen  – wie in den meisten anderen Ländern auch – exekutivlastig.25 Die Entwürfe entstammten von Juristen aus Ministerien bzw. Verwaltungen. Sie waren aus der Monarchie übernommen und zeigten eine gewisse Zurückhaltung darin, die Errungenschaften der Revolution in Rechtsnormen umzusetzen. Mindestens ebenso sehr waren sie damit befasst, die Verfassunggebung zum Anlass zu nehmen, ungelöste Rechtsfragen der Vergangenheit aufzuarbeiten und nachträglich zu lösen. Eine gewisse retrospektive Tendenz war ihren Vorarbeiten daher nicht abzusprechen. Dies wird dann einer der Umstände sein, welche die Verfassungsarbeit verzögern und erschweren sollten. Die Abstimmung der immerhin inzwischen parlamentarisierten Regierung einerseits und den in der Landesversammlung agierenden und beschließenden Parteien andererseits fand sich erst spät und punktuell, als es besonders strittige Einzelfragen zu klären galt.26 Dabei wäre dafür durchaus Zeit gewesen. Im Unterschied zu den Weimarer Arbeiten war Zeitdruck jedenfalls kein prägendes Element der Berliner Verfassungsberatungen. Die Republik sah sich anfangs vor der Notwendigkeit, für ihre erhoffte Mitwirkung an den Friedensverhandlungen eine vorzeigbare republikanisch-demokratische Verfassung vor6; ders., ebd., Dezember 1920, 174; Hugo Preuß, Die Verfassung des Freistaates Preußen, DJZ 1920, 793. Zu Fragen der Landesverfassung im Vergleich zur WRV auch Heinrich von Friedberg, Zur Verfassungsfrage. Preußen in dem Entwurf der künftigen Reichsverfassung, in: DJZ 1919, 193; Adolf Weißler, Einheitsstaat und Einheitsrecht, in: DJZ 1919, 296; Holtz, Zum Entwurfe einer Verfassung für Preußen, DJZ 1920, 333. Private Verfassungsentwürfe u. ä. hat es soweit ersichtlich nicht gegeben. 24  Vorwärts v. 22.2.1920, Nr. 97, 13; v. 28.2.1920, Nr. 108, 2; v. 23.6.1920, Nr. 315, 1; v. 29.10.1920, Nr. 534, 7; v. 26.11.1920, Nr. 581, 2; v. 1.12.1920, Nr. 589, 1. 25  Nach Waldecker, Verfassung (Anm. 18), 18, war der preußische Karrierebe­ amte und nunmehrige Staatssekretär im Preußischen Innenministerium Friedrich Freund die Zentralfigur der Vorarbeiten. Er habe sich auch im Zuge der weiteren Verfassungsberatungen „stark engagiert“. Zu ihm Huber, Verfassungsgeschichte V (Anm. 14), 1133. 26  Erwähnt bei Giese/Volkmann, Preußische Verfassung (Anm. 18), 25.

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weisen zu können. Später ging es darum, die junge Verfassung möglichst wenig mit „Versailles“ zu belasten. Das ist bekanntlich kaum gelungen: Die „Dolchstoßlegende“ wurde zur Hypothek nicht nur der Verfassungsberatungen, sondern auch der Republik. In Preußen sah man sich von solchen äußeren Zwängen eher frei. Hier ging die Neukonstituierung vergleichsweise ruhig, um nicht zu sagen schleppend voran. Offenbar sahen Regierungen und Abgeordnete die praktischen Aufgaben als vordring­ licher an. Dies ließ Zeit für gründliche Vorbereitung, politische Abstimmungen mit den Kolleginnen und Kollegen in Weimar und anderen Ländern sowie das Abwarten von Vorentscheidungen und Rahmenbedingungen der Zentralebene. Bei der Verfassunggebung war Preußen kein Vorreiter: Bayern, Baden, Hessen und Württemberg waren vorangegangen. Dabei zeigte das formale Vorgehen eine gewisse Parallele zur Republik. Am Anfang stand das Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt,27 welches einen Monat nach dem entsprechenden Gesetz der Republik auch im Land das staatsrechtliche Vakuum beendete. Hier wurden wichtige Grundlagen gelegt: Landesversammlung (auch) als Legislative, Demokratisierung der Staatsgewalt, Verantwortlichkeit der Regierung, Aufhebung des staatlichen Kirchenregimes, Fortgeltung alten verfas­ sungsgemäßen Rechts. Damit waren wichtige Weichen gestellt. Auf der Grundlage dieser vorläufigen Regelungen wurde wenige Tage später eine parlamentarische Koalitionsregierung gebildet. Für sie und die Landesversammlung standen nun offenbar andere Aufgaben im Vordergrund. Die Verfassunggebung zählte dazu ersichtlich nicht; sie wurde erst ein Jahr später, über sechs Monate nach dem Inkrafttreten der WRV, wiederaufgenommen. 3. Vom Regierungsentwurf zur Landesverfassung – Verfassungsarbeit der Landesversammlung Der Verfassungsentwurf zählte zum gouvernementalen Typ:28 Von der Exekutive vorbereitet, weitgehend ohne Hinzuziehung externer Exper­ tise und erst recht spät mit den Parteien abgestimmt. Seine Einbringung in die Landesversammlung verzögerte sich durch den Kapp-Putsch, der in Preußen eine veritable Staats- und Regierungskrise auslöste. Hier war er entstanden, hier hatte er stattgefunden und hier hatten die zuständi27  Gesetz

v. 20.3.1919, GS 1919, 53. Verh. der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Drs. 2000. Zu den verschiedenen Typen der Landesverfassunggebung in der Republik Gusy, Verfassunggebung (Anm. 22), 47. 28  Entwurf:



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gen Regierungsorgane die erkennbaren Vorbereitungen teils ignoriert, teils unterschätzt und teils nicht bekämpft. Die Verfassungsdebatte fand also im Zeichen einer schweren Staatskrise statt. Das war gewiss auch ein Grund dafür, dass der neue Innenminister Severing den Entwurf seines Vorgängers so distanziert kommentierte, wie er es tat. Manche Kritik der Abgeordneten war gewiss nicht nur dem Entwurf und seiner recht späten Abstimmung mit den Parteien, sondern auch dem eklatanten Versagen der Regierung Hirsch geschuldet. Im Zentrum stand ersichtlich die Frage nach Zentralisierung bzw. Dezentralisierung des Landes, also dem Grad der Autonomie seiner Provinzen. Die Koalitionsparteien in der Landesversammlung waren interessiert, das Verfassungswerk vor dem Hintergrund der WRV und der erreichten staatlichen Umwälzung in Angriff zu nehmen. Auffällig ist dabei, dass in der Landesversammlung zwar einzelne, aber doch nur wenige Verfassungsexperten wirkten, welche der Exekutive auf Augenhöhe begegnen konnten. Einer der wenigen war Preuß,29 der nach Verabschiedung der WRV und seiner Nichtberücksichtigung bei der Reichstagswahl das Zentrum seines Wirkens in die Landespolitik verlegte. Als verfassungspolitischer Sprecher der DDP agierte er in vorderster Front, allerdings von der eigenen Partei nicht stets unterstützt. So wirkten manche Debatten wie ein Nachhall der Weimarer Nationalversammlung mit dem Unterschied, dass dort die maßgeblichen Entscheidungen gefallen waren  – und in Preußen eben nicht mehr: Krieg, Kriegsschuld, Friedensvertrag, Gebietsabtretungen. Die Arbeit der Versammlung war in hohem Maße parlamentarisiert. Die Fraktionen zeigten einerseits ein recht hohes Maß an Geschlossenheit, andererseits ein notwendiges Maß an Kompromissbereitschaft. Sie organisierten auch die verfassungspolitischen Interessen: Regionale bzw. sonstige Sonderbelange wurden relevant, wenn, wo und wie sie durch die Parteien in die Verfassunggebung eingeführt wurden. Und dort wurden sie nach der Logik des Parteienstaates abgearbeitet. Wo es um konkrete Fragen der Verfassungsarbeit im Land ging, war die Arbeit ersichtlich konstruktiv und erstaunlich konsensual. Die massive Kritik an dem Entwurf führte nicht zu einem völligen Neubeginn der Debatten, sondern eher zu konkreten Änderungen an der Vorlage, wobei – mit aller Vorsicht gesprochen – die WRV eine gewisse Vorbild- und Maßstabsfunktion einnahm. Damit fanden sich auf der Landesebene auch die Oppositionsparteien ab: Da hier die DVP alsbald keine Fundamentalopposition betrieb,

29  Zu seinem Wirken Dreyer, Preuß (Anm. 20), 420 ff. Zu anderen Experten im Verfassungsausschuss Bayer, Staatsrat (Anm. 17), 26.

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sondern auf dem Boden des erreichten Standes der Verfassunggebung konstruktiv im Sinne der Verfolgung eigener politischer Ziele und Interessen mitwirkte, beschränkte sich die Ablehnung des eingeschlagenen Weges auf DNVP und USPD. Daran änderte auch die Niederlage der Weimarer Koalitionsparteien in den Reichstagswahlen von 1920 nichts. Die breite Mehrheit konnte sich auf ebenso breite Kompromisse einigen. Die 22 Sitzungen des Verfassungsausschusses verliefen sachorientiert und straff, politisch potentiell kontroverse Themen konnten gleich zu Beginn entschärft werden: Landesfarben, deren politische Symbolkraft im Land deutlich geringer war als in der Republik; Ablehnung eines eigenen Staatspräsidenten30 – hier setzte sich die auch in Weimar geäußerte Kritik der SPD durch; Einführung von Volksabstimmungen; Annäherung der Regelungen über die Verfassungsänderung an das Weimarer Vorbild. Einigkeit bestand auch darin, keinen Grundrechtsteil aufzunehmen (und die Beratungen so von den entsprechenden Debatten der Nationalversammlung zu entlasten).31 Und es gab ersichtlich auch keine Tendenz, den großen Schwung des staatsrechtlichen Neubeginns in starke Verfassungsworte zu fassen. Das passte nicht zur Tonlage des Gesamtwerks, und der revolutionäre Neuanfang lag schon etwas länger zurück. Hauptstreitpunkt war die Binnengliederung des größten Landes, also die Rechte der Provinzen, ihre Vertretung in einer zweiten Kammer und die Berücksichtigung ihrer Belange im Gesamtstaat. Dass hier regionale und konfessionelle Besonderheiten sowie eine kritische Retrospektive auf die massive territoriale Vergrößerung Preußens im 19. Jahrhundert im Raum standen, lag nahe. Doch waren solche Fragen, die an das Selbstverständnis des Gesamtstaates hätten rühren können, eher Hintergrundmusik als zentrale Verfassungsfragen. Näher lagen konkrete Regelungsbedürfnisse: Der möglichst weitgehende Erhalt Preußens als Prämisse und Klammer auch in seiner neuen staatsrechtlichen Form; Zusammenhalt der nach dem Versailler Vertrag verbliebenen Teile Preußens als handlungsfähige Einheit; Verhinderung von Separatismus an den Rändern und von Provinzialismus und Kleinstaaterei. Aufschlussreich ist nicht nur, wie solche Fragen eingeführt wurden, sondern zumindest ebenso, wie sie abgearbeitet wurden. Dies folgte der Logik des demokratischen Parteienstaates. Konkret ging es bei Fragen des Selbstverwaltungsrechts, der Mitwirkung der Provinzen in der 2. Kammer und deren Kompetenzumfang darum, Vetopositionen einzelner Parteien in regionaler

30  Näher

Bayer, Staatsrat (Anm. 17), 23. Karl-Ludwig Backsmann, Das Asylrecht in Preußen zur Zeit der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung der Preußischen Ausländerpolizeiverordnung vom 27. April 1932, Bonn 2000. 31  Einzelheit:



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Einkleidung zu begrenzen. So entstand ein Kompromisspaket: Die Provinzen wurden garantiert, ihre Aufgaben aber dem Gesetzgeber vorbehalten (Art. 71 PrVerf.). Ein Zwei-Kammer-System aus Landtag und Staatsrat sollte Mehrheitspositionen im Land einerseits und Sonderinteressen regionaler Majoritäten in den Regionen andererseits ausgleichen. Dazu wurde der Staatsrat grundsätzlich anerkannt, zugleich aber seine Rechtspositionen eng gezogen. Echte Vetorechte standen ihm nur in Haushalts- und Finanzangelegenheiten zu; im Übrigen war er auf Einspruchsrechte beschränkt (Art. 42 PrVerf.), die allerdings vom Landtag nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit zurückgewiesen werden konnten. Das waren weitergehende Rechte als diejenigen des Reichsrats. Und sie waren auf Kompromissfindung angelegt und verwiesen. Am Ende wurde die neue Verfassung mit breiter Mehrheit (280:60) verabschiedet. Sie unterschied sich von den frühen Entwürfen weniger, als es die aufgeregten Debatten bei ihrer Einbringung nahegelegt hätten. In ihrem Text waren Anleihen bei der PrVerf. 1850 nur vereinzelt feststellbar: Allzu unterschiedlich waren die Gegenstände, die Traditionen und die Regelungsbedürfnisse. Auch Rückgriffe auf die RV 1871 finden sich allenfalls in Spurenelementen. Eher finden sich Parallelen zu den Regelungen der WRV. Überhaupt war die Rücksichtnahme auf sie sehr ­weitgehend: Was in der WRV geregelt war, fand sich in Preußen nicht, und zwar auch dann nicht, wenn es sich um originäre Landesangelegenheiten handelte, wie etwa Schul- (Art. 143 ff. WRV) oder Kirchenfragen (Art. 136  ff. WRV; siehe nur Art. 76, 82 Abs. 2 PrVerf.). Durchgängig herrschte im Land ein gewisser Verfassungsminimalismus. Im Unterschied zur WRV war sie kaum von einer Rhetorik des Neuanfangs, des Aufbruchs und der Zukunftsorientierung bestimmt. Das Republikprinzip fand sich nur in der Überschrift („Verfassung des Freistaats Preußen“) und in Art. 1 PrVerf. erwähnt, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, soziale Garantien oder politische Leitbilder fanden sich gar nicht. Stattdessen war die demokratische Selbstbestimmung des Volkes breit ausgebaut und garantiert: Hier sollten die politischen Grundentscheidungen fallen; das Volk als Verfassunggeber verwies auf sich selbst als oberstes demokratisches Staatsorgan (Art. 2 PrVerf.). Auffällig ist schließlich das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die  – anders als in der Mehrheit der damaligen Länder  – daher vom Staatsgerichtshof (StGH) der Republik wahrgenommen wurde (Art. 19 WRV; 87 PrVerf.). Die neue Verfassung war fast ausschließlich Organisationsstatut im besten Sinne. Hier wurde nüchtern Zwischenbilanz des erreichten Standes der Neukonstituierung der Republik gezogen: Gründlich, in eher bürokratischem Ton, regelungstechnisch auf hohem Niveau; also viel von dem, was mancherorts als typisch „preußisch“ angesehen wurde und wird. Die

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Verfassung trat am 30.11.1920 in Kraft.32 Sie ist in der Republik nur einmal geringfügig geändert worden. In der Rechtswissenschaft ist sie mehrfach kommentiert worden, alle Werke stammen aus der ersten Hälfte der Republik und sind von verfassungsloyalen Autoren verfasst.33 IV. Vorentscheidungen und Ausbau der Preußischen Verfassung Dass die Erneuerung des Länderrechts angesichts der Revolution von 1918 ein schrittweiser und bisweilen langwieriger Prozess war, ist jüngst für Bayern,34 bislang nicht für Preußen untersucht.35 Doch spricht nichts dagegen, dass es auch hier so war. 1. Die parlamentarische Republik: Gemischte Demokratie und ein handlungsfähiger Landtag Art. 1 PrVerf. definierte Preußen als Republik und nahm damit die Überschrift „Freistaat Preußen“ wieder auf. Noch stärker als in der WRV blieb dieses Bekenntnis aber bloß antithetisch gegen die Monarchie. Da ein eigener Staatspräsident fehlte, erschöpfte sich der juristische Bedeutungsgehalt der Vorschrift in jenem Bekenntnis. Durchgängig prägend war dagegen der demokratische Parlamentarismus. Das Volk als Träger der Staatsgewalt war im Land das oberste ­Organ und äußerte sich in Volksbegehren, -abstimmungen und Wahlen (Art. 3 PrVerf.). Da das allgemeine Frauen- und das Verhältniswahlrecht bereits durch Art. 17 WRV vorgegeben waren (siehe auch Art. 9 PrVerf.), 32  PrGS

1920, 543. Peters, in: Robert Achill Friedrich Hermann Graf Hue de Grais/Peters, Handbuch der Verfassung und Verwaltung, Berlin 1930, 71; Adolf Arndt, Die Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920, Berlin 1921; Giese/Volkmann, Preußische Verfassung (Anm. 18); Waldecker, Verfassung (Anm. 18); Fritz Stier-Somlo, Kommentar zur Verfassung des Freistaats Preußen, Berlin 1921; Ju­ lius Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Berlin 1922. 34  Kai von Lewinski, Das Ende der Monarchie im einfachen Recht – Fragen der Praxis beim Übergang zur Republik, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), München 2018, 3357; ders., Übergänge von der Monarchie zur Republik in Bayern – Dammbruch und Zusammenfließen dreier Verfassungsströme, in: Bayerische Verwaltungsblätter (BayVBl), München 2019, 1. 35  Zeitgenössische Berichte: Hans Helfritz, Die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Preußen seit Inkrafttreten der neuen Verfassung, in: JöR 1926, 232; Arnold Köttgen, Die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Preußen vom 1. März 1926 bis zum 1. Mai 1930, in: JöR 1930, 1; ders. Die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Preußen vom 1. Mai 1930 bis zum 1. November 1934, in: JöR 1935, 273. 33  Hans



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beschränkte sich das Land auf konkrete Ausführungsbestimmungen. Zwar standen zu Beginn der Regelungen zum gemischten Demokratieprinzip Bestimmungen über Plebiszite, welche auf Verfassungsänderung, Gesetzeserlass oder Auflösung des Landtags gerichtet sein konnten. Doch waren sie ersichtlich primär als Korrektive des parlamentarischen Prinzips konzipiert. Dafür sprach schon das Erfordernis eines Teilnahmequorums von 50 Prozent der Stimmberechtigten36 (Art. 5 Abs. 4 PrVerf.). Sie haben daher auch in der Verfassungspraxis nur eine Nebenrolle gespielt.37 Strikt durchgeführt war demgegenüber das parlamentarische Prinzip. Der Landtag vereinigte unmittelbare demokratische Legitimation mit politischer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Einzelne konstitu­ tionelle Überreste im Verfassungstext (Art. 17 Abs. 1–3; 19; 26; 55; 62 Abs. 2 PrVerf.) blieben wirkungslos und unbeachtet. Mangels Gegengewichten – das plebiszitär handelnde Volk (Art. 6 PrVerf.) blieb randständig, ein Staatsoberhaupt war nicht vorhanden  – war der Landtag der zentrale Ort der politischen Willensbildung und -betätigung im Land. Er wählte den Ministerpräsidenten (Art. 45 PrVerf.), erließ unter Mitwirkung des Staatsrats die Gesetze (Art. 29 PrVerf.), kontrollierte die vollziehende Gewalt38 und bildete das Forum des Öffentlichen im Land. Seine Rechtsstellung war stärker als diejenige des Reichstags: Mitwirkungsrechte anderer Stellen bei der Bestimmung des Ministerpräsidenten waren nicht vorgesehen. Dieser vereinigte die Aufgaben, welche in der Republik von Präsident und Kanzler wahrgenommen wurden. Ein Auflösungsrecht kam ihm gegenüber dem Landtag nicht zu. Diesem stand ein Selbstauflösungsrecht zu;39 im Übrigen konnte er allein durch Volksabstimmung oder einen Dreierausschuss aus Ministerpräsident, Landtagspräsident und Präsident des Staatsrats aufgelöst werden.40 Anders als in der späten Republik kontrollierte der Landtag die Landesregierung, nicht hingegen umgekehrt. Von daher hing die Stabilität des Parlamentarismus im Land von derjenigen des Landtags ab. 36  Daran sollte die von den linken und rechten Flügelparteien betriebene Auflösung des Landtags 1931 scheitern; dazu Huber, Verfassungsgeschichte  VI (Anm.  14), 757 ff. 37  Möller, Parlamentarismus (Anm.  18), 133 ff., 315 ff. 38  Zu den Untersuchungsausschüssen des Landtags Winfried Steffani, Die Untersuchungsausschüsse des Preußischen Landtages zur Zeit der Weimarer Repu­ blik, Düsseldorf 1960, 71 ff., 125 ff., 291 ff. 39  Dies geschah einstimmig im Oktober 1924, um die Landtagswahlen gemeinsam mit den anstehenden Reichstagswahlen durchzuführen. 40  Anderslautende Vorschläge aus den Verfassungsentwürfen waren früh abgelehnt worden; dazu Bayer, Staatsrat (Anm. 17), 22.

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Sie sollte wesentlich größer sein als in der Republik.41 Zwar schlugen die politischen Großtrends der Zeit auch auf das größte Land durch. Der anfängliche rasche Vertrauensverlust der Weimarer Koalitionsparteien 1921, eine gewisse Zersplitterung in der mittleren Phase und die negativen Mehrheiten der Schlussphase seit 1932 fanden sich im größten Einzelstaat auch.42 Und dennoch waren die Verhältnisse günstiger. Bis 1932 fanden sich stets Koalitionsmehrheiten aus republikbejahenden Parteien. Zu diesen zählte im Land rascher als in der Republik auch die DVP, welche als verfassungsloyale Oppositionspartei im Landtag wirkte und als Koalitionspartnerin schon 1921 in Betracht gezogen wurde. So war die Basis republikanischen Regierens breiter. Und zwischen den Koalitionsparteien gab es Alternativen. Die fünf Kabinette zwischen 1920 und 1932 wurden ganz überwiegend durch Ministerpräsident Braun (SPD), kurzzeitig durch die Zentrumskanzler Stegerwald und Marx geführt. Sie waren für ihre Amtsführung auf die Unterstützung des Landtags angewiesen. Er musste den Ministerpräsidenten wählen und konnte ihn nur unter einschränkenden prozeduralen Bedingungen mit der Mehrheit seiner Mitglieder stürzen (Art. 57 PrVerf.). Hierzu kam es jedoch nicht. Die Gründe hierfür waren mannigfaltig: Vielleicht waren die politischen Grundsatzkontroversen zwischen den regierungstragenden Parteien im Land geringer als in der Republik. Gewiss bildete sich im Land eine höhere parlamentarische Kultur heraus als im Reichstag.43 Und das Bewusstsein, auch im Krisenfall nicht auf Reserveorgane, etwa ein Staatsoberhaupt, zurückgreifen zu können, stärkte zwangsläufig das Verantwortungsbewusstsein der Parlamentarier. Auffällig war auch, dass die Staatsregierung  – im Unterschied zur Reichsregierung  – nach einzelnen Abstimmungsniederlagen im Landtag nicht zurücktrat, sondern über den Einzelfall hinaus nach Gemeinsamkeiten suchte und sie auch fand.44 Es war wohl das Zusammenwirken aller dieser Faktoren, welches in Preußen zu einem stabilen parlamentarischen Regieren führte, wie es auch die WRV intendierte. Doch was in der Republik kaum gelang, fand sich auf der Landesebene: Verhältniswahl und parlamentarisches Regieren schlossen sich auch unter den Bedingungen der Republik nicht zwangsläufig aus. 41  Grundlegend

Möller, Parlamentarismus (Anm. 18). letzteren Florian Stadel, Die Reichstagswahlen von 1930 und 1932 im Spiegel der überregionalen deutschen Tagespresse, Bonn 1993. 43  Möller, Parlamentarismus (Anm. 18), 577 ff. Zur parlamentarischen Kultur im Reichstag Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik, Düsseldorf 2002. Zum Vergleich: Michael Braun, Der Badische Landtag 1918– 1933, Düsseldorf 2009; Timo Leimbach, Landtag von Thüringen, Düsseldorf 2016. 44  Zur Parlamentspraxis Stang, DDP (Anm. 16), 143 ff. 42  Zu



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Hier fanden sich auch zukunftweisende Ansätze einer rechtlichen Selbststabilisierung des Parlamentarismus. In der Spätzeit der Republik gelangen wahlrechtliche Vorkehrungen gegen Splitterparteien als Vorläufer von Sperrklauseln, welche die Billigung des bis dahin stets ablehnenden StGH fanden.45 Sie sollten zu spät kommen: Die Parlamente in der Republik sollten nicht an einer Vielzahl kleiner, sondern an wenigen großen Oppositionsparteien scheitern – auch in Preußen. Und nachwirkend war auch die Geschäftsordnungsänderung des Landtags vom 12.4.1932, durch welche das konstruktive Misstrauensvotum unterhalb der Verfassung gleichsam durch die Hintertür eingeführt wurde.46 Juristisch wegweisend, doch politisch damals wenig effektiv: Die Regierung des Ministerpräsidenten Otto Braun war zu diesem Zeitpunkt wenig handlungs­ fähig, der Ministerpräsident schwer krank, einzelne Ministerposten nicht besetzt. Sie sollte im Preußenschlag drei Monate später gestürzt werden. Aus der schwachen Vorstellung der Staatsregierung im Preußenschlag kann allerdings nicht auf ihre Stabilität und Handlungsfähigkeit zu anderen Zeiten geschlossen werden. 2. Gegengewichte und destabilisierende Faktoren Die Stabilität des parlamentarischen Regierungssystems im Land wird nicht selten auf einzelne herausragende Abgeordnete zurückgeführt: Namentlich die Fraktionsvorsitzenden Heilmann (SPD) und Hess (Zentrum) haben danach jenes Verantwortungsbewusstsein gelebt, welches für die Funktionsfähigkeit einer parlamentarischen Republik konstituierend gewesen sei. Das war gewiss zutreffend, und sie waren im Land nicht die einzigen Persönlichkeiten, welche so handelten. Doch dürfen daneben institutionelle Faktoren nicht vernachlässigt werden. Jene Stabilität bezog sich nämlich nicht allein auf den Landtag, und sie endete auch nicht mit seinen Zuständigkeiten. Namentlich der in den Verfassungsberatungen umstrittene Staatsrat erwies sich weniger als Gegen-, eher als Mitspieler.47 Sein Andenken ist ex post durch den Namen des späteren Staatsrats Carl Schmitt über45  StGH, bei Hans-Heinrich Lammers/Walter Simons (Hrsg.), Die Rechtsprechung des StGH für das Deutsche Reich, Bd. IV, Berlin 1932, 131, 136 ff.; 147, 152 ff. 46  Juliane Hoffmann, Die Änderung parlamentarischer Geschäftsordnungen im Vorgriff auf politische Konflikte, Berlin 2018. 47  Umfassend dazu Bayer, Staatsrat (Anm. 17). Zu seiner Mitwirkung an der Legislative näher ebd., 63 ff. Biografisch Joachim Lilla, Der Preußische Staatsrat 1921–1933, Düsseldorf 2005.

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schattet. Dabei hatte das Organ seine Kompetenzen längst eingebüßt, als sein prominentes Mitglied hinzukam. In der Republik war die Zweite Kammer politisch durchaus anders zusammengesetzt als der Landtag: Offenkundig war hier etwa die enge organisatorische Verzahnung von DVP und DNVP. Zudem war der Staatsrat von durchaus selbstbewussten Regional- und Lokalpolitikern besetzt, welche auch im Verhältnis zur Landesregierung ihre eigenen Anliegen einzubringen und zu wahren wussten. Daraus konnten auch Spannungen entstehen: Das bekanntermaßen wenig gute Verhältnis zwischen den beiden vielleicht überragenden Politikern im Land, dem langjährigen Ministerpräsidenten Otto Braun und dem langjährigen Staatsratspräsidenten Konrad Adenauer,48 führte aber nicht in eine Selbstblockade des politischen Systems. Im Gegenteil: Einsprüche konnten zwar nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Landtag zurückgewiesen werden (Art. 42 PrVerf.), doch kam es zu einer derartigen Konfliktsituation oder gar Blockadesituationen nur selten. Die Zahl der Einsprüche wie auch der Zustimmungsverweigerungen blieb gering. Da dies weder durch Interessenhomogenität in beiden Häusern noch durch parteipolitische Homogenität noch durch mangelndes Selbstbewusstsein in der Zweiten Kammer erklärt werden kann, müssen hier andere Faktoren der politischen Koordination maßgeblich gewesen sein: frühzeitige Abstimmung schon bei Gesetzgebungsprojekten, Ko­ ordination der Exekutiven im Verfahren, Konsultationen zwischen führenden Politikern aus Regierung, Landtag und Staatsrat, vermittelt gewiss auch durch Parteien: Hier wirkten informale Elemente unterhalb der verfassungsrechtlichen Regelungen, welche Selbstblockaden verhinderten. In einer solchen institutions- und parteiübergreifenden Koalition waren die Mechanismen der Koordination offen und stark genug, um auch personale Spannungen zu überwinden bzw. zu neutralisieren. Gewiss war dies nicht immer einfach, und es führte zu Vorauskompromissen und antizipierter Rücksichtnahme des einen auf das andere Organ sowie einer retardierenden Wirkung des Staatsrats gegenüber Ideen aus Regierung und Landtag. Aber zur Konfrontation wie etwa zwischen Landtag und Herrenhaus in der Monarchie, welche zu einer Selbstblockade geführt hatte, kam es in der Republik nicht. Hier wurden demokratische Tugenden wie Koordination, Absprachen und Kompromisse nicht nur gefordert, sondern ansatzweise gelebt. Der Preis mag in Einzelfällen geringe Transparenz und übergroße Rücksichtnahme auf Minderheitenbelange gewesen sein. Wo führende Politiker die neuen Formen und Institutionen verantwortungsbewusst nutzten, waren auch unter den Bedingungen der

48  Dazu

Schulze, Braun (Anm. 21), 440 ff.



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Republik partei- und institutionsübergreifende Koalitionen, Koopera­ tionsbeziehungen und Kompromisse möglich.49 Destabilisierende Einflüsse zeigten sich hingegen eher von einer anderen Seite. Nicht alle Politiker und Beamten hatten die seit 1919 vorgeschriebene Zweiteilung der Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Republik und Land in vollem Umfang verinnerlicht. Hier kam es nicht stets zu einem Mit-, sondern auch zu einem Gegeneinander. Die spannungsreiche Geschichte zwischen beiden Seiten, welche namentlich auf finanziellem Gebiet zu existenziellen Zerwürfnissen und Krisen führen sollte, kann hier nicht nachgezeichnet werden. In unserem Kontext wichtiger waren die Bemühungen der Berliner Parteipolitiker, Koalitions- und Kooperationsfragen einer Ebene auf die andere zu übertragen. In solchen Fällen wurde dann Koalitionsbereitschaft im Land von einer entsprechenden Koalition in der Republik oder umgekehrt abhängig gemacht. Derartige Bemühungen fanden sich insbesondere auf der Zentralebene und hier bei den bürgerlichen Parteien, welche ihren Einfluss in der Republik auch auf das Land erweitern wollten. Dies führte nicht zu einer Stabilisierung der Reichsregierung, sondern tendenziell eher zu einer Destabilisierung im Land. Offenbar waren die in Preußen vorhandenen Mechanismen der Politikverflechtung und Selbstkoordination nicht Ebenen übergreifend, die preußischen Politiker in der Republik zu wenig integriert  – trotz Mitgliedschaft führender Landespolitiker im Reichstag – und die Landesebene nicht selbständig genug. Zwar gelang es, solche Interventionsbemühungen letztlich abzuwenden. Aber sie brachten in die Landespolitik ein destabilisierendes Element. Die Krisenhaftigkeit der Entwicklung in der Republik schlug so mehr als zwingend nötig auf die Landesebene durch. Solche Verflechtungsformen können Verfassungsnormen schwer steuern. Am Ende war jedenfalls die Idee des Föderalismus Weimarer Prägung weithin diskreditiert.50 Das hier nur angedeutete Gesamtbild mag durch die Notwendigkeit der Abkürzung leicht verzerrt aussehen. Keineswegs war in der Republik alles schlecht und im Land alles gut. Es geht nicht um ein Gegeneinander, sondern eher um eine skalare Deutung: Manches, was von der krisenhaften Republik gefordert wurde, fand sich in Preußen eher und besser. Preußen war kein Idealtyp, kein Leuchtturm oder kein Fels der Weimarer Demokratie. Doch was man von der WRV erwartet hatte, war hier in manchem eher verwirklicht oder weiterentwickelt als damals in 49  Das ist namentlich das Fazit der Untersuchung von Möller, Parlamentarismus (Anm. 18). 50  Almut Neumann, Preußen zwischen Hegemonie und Preußenschlag, Tübingen 2019.

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Reichstag und Reichsregierung. Und das größte Land macht deutlich: Auch unter den Bedingungen der Weimarer Verhältnisse und der Weimarer Verfassungen war eine funktionsfähige Demokratie möglich. Das parlamentarische System, das in der WRV angestrebt war, wurde in Preußen ansatzweise gelebt. 3. Republikanisches Verfassungsleben in Preußen Die Geschichte des republikanischen „Weimar Prussia“ ist bislang allenfalls in Ansätzen geschrieben.51 Schon damals lag ein Schwerpunkt der Länderaufgaben auf dem Gebiet der Verwaltung:52 Mehr noch als in der Bundesrepublik waren sie der Ort, an dem sich Staatsgewalt und Bürger unmittelbar begegneten. Und wie die öffentliche Gewalt bei den Betroffenen ankam, entschied sich in den Ländern. Die bisweilen zu personalisierenden Perspektiven neigende Landesgeschichtsschreibung53 hat manchmal dazu tendiert, die Besonderheiten auf das Wirken einzelner besonderer Persönlichkeiten zurückzuführen: Otto Braun, Konrad Adenauer, Carl Severing,54 Carl Heinrich Becker u. a. Doch war dies gewiss nur ein Faktor. Andere lagen in der vergleichsweise hohen Stabilität der Institutionen: Im Landtag fand sich von 1921–1932 stets eine repu­ blikanische Mehrheit (einschließlich der DVP) mit koalitionsbereiten Politikern. Die nur fünf Kabinette seit Erlass der PrVerf. standen über 10  Jahre lang unter der Leitung desselben Ministerpräsidenten (Braun). Auch einzelne Minister zeichneten sich durch langjährige Amtszeiten aus. Dies ermöglichte es ihnen als Spitzen der Exekutiven, hier eigene Strategien, Politikentwürfe und Durchsetzungsmacht zu entwickeln: Im Unterschied zu manchen Reichsministerien konnte so das exekutive ­Eigenleben der „Häuser“ stärker politisch kontrolliert werden. Es war namentlich Ministerpräsident Braun, der hierauf besonderen Wert legte. 51  Skizze bei Karl Dietrich Bracher, in: Manfred Schlenke u. a. (Hrsg.), Preußen – Beiträge zu einer politischen Kultur, Reinbek 1981, 295 ff. 52  Überblick zur Organisation der Landesverwaltung bei Horst Möller, Preußen, in: Kurt G. A. Jeserich u. a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte IV, Stuttgart 1985, 540. Zu den einzelnen Agenden Reinhard Mußgnug/Philipp Eggers u. a., ebd., 330, 349, 397, 421, 435, 488. 53  Angeführt von Schulze, Braun (Anm. 20). Dessen Memoiren (Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, 3. Aufl. Hamburg 1949), sind eine wichtige Quelle zur preußischen Politik und Verfassung in der Republik. Die Biografie Schulzes ist eine herausragende Quelle nicht nur zum Ministerpräsidenten, sondern auch zu Landespolitik und Landesrecht. 54  Zu ihm Thomas Alexander, Carl Severing  – Sozialdemokrat aus Westfalen mit preussischen Tugenden, Bielefeld 1992. Siehe auch Carl Severing, Mein Lebensweg, Köln 1950.



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In der Republik war das Land je nach politischer Couleur der Beobachter hierfür teils berühmt, teils berüchtigt („System Severing“). Hier können nur einige Grundlinien angedeutet werden. a) Administrative Selbsterneuerung Dass eine Erneuerung der Administration im republikanischen Sinne notwendig war, war in den Verfassungsberatungen namentlich in Weimar Gemeingut gewesen. Als ein Zankapfel erwies sich dabei die umfassende Kommunalisierung: Mit der Abschaffung der Vorrechte des Adels hatten auf dem Lande die Gutsbezirke auch den letzten Anschein ihrer Berechtigung verloren. Ihre Abschaffung wurde in Weimar diskutiert, aber nicht in die Verfassung aufgenommen, da die Abgeordneten fälschlicherweise davon ausgingen, die Aufhebung sei bereits erfolgt.55 So fand sich ein Verfassungsgebot weder in der WRV noch in der PrVerf. Und es sollte bis 1927 dauern, bis die Aufhebung gesetzlich statuiert war; die Umsetzung war 1930 noch nicht abgeschlossen. Die von der WRV vorausgesetzte Erneuerung kam langsam und spät. Das war nicht nur einer gewissen Durchsetzungsschwäche der Republik auf dem Lande, sondern auch der Stärke der Widerstände und ihrer Verbindungen in die Administration geschuldet. Die Republik und Preußen hatten ihre Mitarbeiter nahezu vollständig aus der Monarchie übernommen. Ihre Loyalität gegenüber der neuen Verfassung war 1919/20 nicht näher problematisiert worden. Im Gegenteil: Art. 129 WRV garantierte ihre „wohlerworbenen Rechte“ auch über den Staatsformwandel hinaus. Auch ihre Grundrechte waren in Art. 130 Abs. 2 WRV ausdrücklich garantiert. Hingegen kam das vorgeschriebene neue Beamtengesetz der Republik bis 1933 nicht zustande. Die Rechtsstellung des öffentlichen Dienstes in der Republik blieb so auf das vorkonstitutionelle Recht verwiesen. Daran änderten punktuelle Neuerungen etwa durch das Republikschutzgesetz von 1922 wenig. Die Mitar­ beiter waren auf die WRV (Art. 176 WRV) und in Preußen auf die Landesverfassung (Art. 78 PrVerf.) zu vereidigen. Die Bedeutung dieses „politischen Eides“ war in der Republik sehr umstritten.56 Die Instrumente zur Operationalisierung der neuen Verfassungstreuepflicht orien55  Gusy, Reichsverfassung (Anm. 4), 232 (Nachw.). Aufhebung durch Gesetz vom 27.1.1927, PrGS 211. Dazu auch StGH, bei Lammers/Simons, Rechtsprechung Bd. I (Anm. 46) Berlin 1929, 417; Bd. II (Anm. 46), Berlin 1930, 109. Zur Entstehung Möller, Parlamentarismus (Anm. 18), 473 ff.; zur Umsetzung Köttgen, Entwicklung 1930 (Anm. 36), 83 f. 56  Ernst Friesenhahn, Der politische Eid, Bonn 1928.

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tierten sich hingegen in Republik und Preußen weiterhin am alten Recht.57 Für die Erneuerung standen drei Instrumente zur Verfügung: Neubesetzungen von Positionen ausscheidender Mitarbeiter, Versetzungen oder Umsetzungen von Personal auf exponierten Positionen und disziplinarrechtliche Maßnahmen gegen einzelne Beamte. Dabei konnte die Republikanisierung nur gelingen, wenn verfassungsloyales Personal zur Verfügung stand. Längst ist geklärt: In Republik und Ländern sind diese Instrumente recht unterschiedlich genutzt worden. Maßgeblich war nicht zuletzt der politische Wille zur Erneuerung, welcher dort, wo stabile Regierungen der Weimarer Koalition amtierten, stärker ausgeprägt war als andernorts. Und gleichfalls steht fest: In Preußen wurde der Weg der Erneuerung besonders konsequent beschritten. Bei der fälligen Auswechslung des Spitzenpersonals  – Ober-, Regierungspräsidenten, Polizeiführung  – wurde auf Verfassungsloyalität der neuen Amtsinhaber geachtet. Bei exponierten nachrangigen Beamten  – etwa Landräten, Spitzenpersonal in Ministerien – verlief der Erneuerungsprozess eher reaktiv bei wahrnehmbaren Loyalitätsverstößen. Dagegen blieben disziplinarische Ahndungen gegenüber nachgeordneten, weniger exponierten Beamten die Ausnahme. Sie waren nicht zuletzt von der Unterstützung vorgesetzter Stellen abhängig. Die Bewertung dieser Aktivitäten war damals politisch und später historisch umstritten. Mit aller Vorsicht lässt sich konstatieren: Die republikanische Erneuerung ist in Preußen konsequenter erfolgt als in anderen Ländern. Dabei blieb sie im Rahmen des geltenden Rechts. Als hinderlich erwiesen sich einzelne Rahmenbedingungen: Insbesondere bei Versetzungen mussten verfassungsilloyale Mitarbeiter auf andere Stellen gesetzt werden, welche sodann für eine Erneuerung nicht in Betracht kamen. Und qualifizierter, republiktreuer Nachwuchs stand nicht überall bereit. Dass dabei Parteizugehörigkeiten oder -loyalitäten als Indikator herangezogen wurden, machte die getroffenen Maßnahmen als „Ämterpatronage“ angreifbar. Das gegen heftigen Widerstand der großen Beamtenverbände praktizierte „System Severing“ blieb nicht ohne Folgen: In den 20er Jahren waren alle Ober- und Regierungspräsidenten und ein erheblicher Anteil der Landräte im republiktreuen Sinne ausgewechselt. In der Polizei waren die Mitarbeiter jedenfalls dann verfassungsloyal, wenn dies auch die Vorgesetzten waren. Und bei der Berliner Polizei gelang dies in weitem Sinne. Nur so konnte überhaupt die Idee aufkommen, gegen den „Preußenschlag“ auch mit polizeilichen Mitteln vorzuge57  Zusammenfassend historisch Stang, DDP (Anm. 16), 328 ff. (mit Übersichten); verfassungshistorisch Hermann-Josef Schmahl, Disziplinarrecht und politische Betätigung der Beamten in der Weimarer Republik, Berlin 1977.



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hen. Die preußische Beamtenpolitik beruhte so auf einem Kompromiss zwischen altem Beamtenrecht und neuen beamtenpolitischen Anforderungen. Auch wenn ihr Elan in der zweiten Hälfte der Republik stark abnahm: Hier war Preußen im Vergleich zur Republik und anderen Ländern in der Spitzengruppe. b) Innere Sicherheit Vergleichbare Prozesse fanden sich auch bei der Neuorganisation der Inneren Sicherheit in Preußen. Vordringlich war hier die Wiedererlangung des Primats der Polizeigewalt für die Polizei selbst und deren Entmilitarisierung. Sie begann ebenso wie die Erneuerung des öffentlichen Diensts mit dem Amtsantritt der Regierung Braun und Innenminister Severings als Reaktion auf den Kapp-Putsch.58 Grundelemente waren die Auswechslung im republikanischen Sinne unzuverlässigen Führungspersonals, die Schaffung geschlossener Polizeiverbände für Großeinsätze und die Aktivierung der politischen Polizei für die Bedrohungen der Republik von links und rechts. Die Herausforderungen waren groß, die Erfolge der Reform aber auch ansehnlich: Der Einsatz der Reichswehr im größten Land war fortan nicht mehr nötig. Erst 1932 wurde sie erneut eingesetzt  – gegen die republikanische Staatsregierung. Als Störfaktor erwiesen sich Umtriebe von Freikorps und Schwarzer Reichswehr, denen infolge ihrer Unterstützung durch Armee und Reichspräsidenten (seit 1925) mit polizeilichen Mitteln nicht beizukommen war. Wesentlich besser gelang die systematische Erfassung und Beobachtung extremistischer Parteien von links und rechts. Nicht nur die KPD, sondern auch die NSDAP wurde kontinuierlich überwacht.59 Ihre Gefährlichkeit wurde ­ schon damals in amtlichen Denkschriften herausgestellt.60 Bemühungen um ein aktives Einschreiten stießen allerdings auf Widerstand nicht nur Bayerns, wo die Parteizentrale saß, sondern auch in der Reichsregierung bis 1928 und nach 1930. Von hier aus wurden auch Bemühungen, des wiedereinsetzenden Bürgerkriegs ab 1931 mit polizeilichen Mitteln Herr zu werden, Steine in den Weg gelegt. Während der „Berliner Blutsonntag“ 1929 ein einzigartiger Fehlgriff einer überforderten Polizeileitung war, 58  Grundlegend Peter Leßmann, Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2012; ders., in: Peter Nitschke (Hrsg.), Die deutsche Polizei und ihre Geschichte, Hilden 1996, 119; vergleichend Christoph Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, Tübingen 1991, 267 ff. 59  Carsten Dams, Staatsschutz in der Weimarer Republik: Die Überwachung und Bekämpfung der NSDAP durch die preußische Polizei von 1928–1932, Marburg 2002. 60  Robert M. W. Kempner, Der verpasste Nazi-Stopp, Frankfurt 1983.

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gingen dem „Altonaer Blutsonntag“ 1932 Notverordnungen der Reichsregierung voraus, welche ein entschlossenes Einschreiten untersagten. Gewiss: Die Aktivität der Staatsregierung hatte zu diesem Zeitpunkt ihren Zenit überschritten, aber die republikanische Polizeiführung blieb bis zum Preußenschlag intakt. Dass es überhaupt erforderlich erschien, vor der Auslieferung der Republik an die NSADAP die republikanische Regierung Preußens zu stürzen, zeigt bereits: Offenbar waren dessen Bemühungen um Republikanisierung seiner Sicherheitspolitik nicht wirkungslos geblieben. Dass der Widerstand des Landes gegen die Regierung von Papen ausblieb, hat in der Retrospektive das Bild von jenen Maßnahmen zu Unrecht überschattet. c) Bildungspolitik Bildungs- und Wissenschaftsfragen nahmen in der WRV einen breiten Raum ein (Art. 142 ff. WRV). Diese sollten sich allerdings zentral in den Ländern auswirken, welche die Kulturhoheit besaßen, zumal das anfangs angestrebte Reichsschulgesetz nie zustande kam. Dass die Materie für die junge Republik eine große Rolle spielen sollte, zeigten bereits Regelungen wie Art. 143 WRV (Bildung als öffentliche Aufgabe), Art. 144 (staatliches Schulwesen) und Art. 148 WRV (staatsbürgerliche Bildung). Jeder Schüler sollte zum Schulabschluss ein Exemplar der Verfassung erhalten (Art. 148 Abs. 3 S. 2 WRV). Umgekehrt waren die Schulregelungen kompromisshaft ausgestaltet: Allzu heterogen waren die Interessen von Politik, Schulträgern, Eltern, Schülern und Kirchen. Ein solcher Kompromiss bot Chancen und Risiken: Erneuerung war möglich, aber zugleich an hohe materielle und vor allem formelle Hürden geknüpft. Aus der Rückschau besteht Einigkeit: Die Aufträge der WRV sind allenfalls zum Teil  umgesetzt worden. Auch wo die Länder Reformbestrebungen unternahmen, waren politische Widerstände und Trägheiten des Systems, namentlich der aus der Monarchie übernommenen Lehrkräfte, schwer überwindbar.61 Zugleich öffnete jene Kompromisshaftigkeit aber auch Gestaltungsmöglichkeiten: Die Gesetzgeber waren auf kein einheitliches Schul- oder Bildungssystem festgelegt. Die intensive reformpädagogische Debatte erreichte damals die Unterrichtswirklichkeit allerdings

61  Zur Schulpolitik in der Republik Wolfgang W. Wittwer, Die sozialdemokratische Schulpolitik in der Weimarer Republik, Berlin 1980. Siehe auch Hans-Christoph Laubach, Die Politik des Philologenverbandes im Deutschen Reich und in Preußen während der Weimarer Republik, Frankfurt 1986. Gesetzgebungsvergleichend Philipp Eggers, in: Jeserich u. a., Verwaltungsgeschichte (Anm. 53) IV, Stuttgart 1991, 351.



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kaum: Dafür dauerte die Republik zu kurz und waren die Blockademächte zu stark. In Preußen hatte die Schulpolitik schon vor der Verfassunggebung eingesetzt, als Kultusminister Hoffmanns Entkonfessionalisierungspolitik mit Parteien und Betroffenen nicht abgestimmt war und zu erheblichen Verstimmungen führen sollte.62 In der Republik bemühte sich das Land um die Umsetzung der Weimarer Vorgaben. Während die Reste der kirchlichen Schulaufsicht rasch beseitigt waren, galt in der WRV die Gemeinschaftsschule als Regelschule. Doch blieb sie faktisch gerade im größten Land vielfach durchbrochen, weil das vorgesehene Reichsgesetz über die Bekenntnisschulen nicht zustande kam und die fortdauernde Rechtslage als Bestandsgarantie für die vorhandenen Schulen dieser Form verstanden wurde (Art. 174 WRV). Diese Vorschrift galt über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus in zahlreichen Schulfragen als Reformbremse. Faktisch herrschte Mangel an gemeinschafts- und bekenntnisfreien Schulen, welcher teils durch Sammelklassen, teils durch Sammelschulen zu überbrücken versucht wurde. An allen Schulen galt der Religionsunterricht als Pflichtfach (Art. 149 Abs. 1 WRV), was zu faktischen Benachteiligungen konfessionsloser Lehrer führte, die nicht zu dessen Erteilung verpflichtet waren. Die Rechtsstellung der Lehrer änderte sich nur wenig: Beamte waren damals ganz überwiegend nur Lehrer der weiterführenden Schulen, während die Volksschullehrer keine Beamten waren, aber deren Rechte und Pflichten hatten (Art. 143 Abs. 3 WRV). Dazu zählte auch die Verfassungstreuepflicht.63 Die Ausweitung des unentgeltlichen Unterrichts scheiterte an Finanzmangel und Sparnotwendigkeiten. Stärker war der preußische Reformimpuls bei der Lehrerbildung (Art. 143 Abs. 2 WRV), die sukzessive vereinheitlicht und verwissenschaftlicht wurde. Die Reformen wurden erst gegen Ende der Republik wirksam, blieben allerdings vorbildlich bis in die Bundesrepublik hinein.64 Und an preußischen Universitäten kam es vereinzelt zur Berufung verfassungs­ loyaler Professoren auch gegen den Widerstand der Fakultäten. Insgesamt zeigt sich hier ein ambivalentes Bild. Auch in Preußen überwogen die Beharrungskräfte. Im Vergleich war es jedoch immerhin ein Land, in welchem die Verfassungsziele von Säkularisierung, Vereinheit­

62  Schulze,

Braun (Anm. 21), 234 f. oben a). 64  Zum ganzen Nachweis bei Christoph Worms/Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung als Auftrag und Grundlage demokratischen Handelns, in: Peter Fauser/Wolfgang Beutel/Jürgen John (Hrsg.), Pädagogische Reform: Anspruch  – Geschichte – Aktualität, Seelze 2013, 149. 63  Siehe

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lichung und Verwissenschaftlichung des Schulwesens ernsthaft angegangen worden sind. Das war gewiss wenig, aber mehr als nichts. d) Symbolpolitik Die Symbolpolitik in der Republik ist auch im Nachhinein kontrovers beurteilt worden. In Preußen gab es keinen Flaggenstreit wie in der Republik: Schwarz-Weiß war nahezu unumstritten, politisch damals offenbar weniger aufgeladen als schwarz-weiß-rot oder schwarz-rot-gold.65 Durchsetzungsschwierigkeiten hatten die neuen Reichsfarben aber auch im größten Einzelstaat. Auch hier verhielten sich Behörden und Gemeinden unterschiedlich: Einige zeigten die Farben der Republik, andere die alten Farben, angeblich um ihre besondere Verbindung mit dem Handel zu demonstrieren. Noch 1922/23 besaßen manche Kreise und viele Gemeinden keine neue Flagge. Da hierfür auch finanzielle Aspekte geltend gemacht wurden, suchte dem die Landesregierung mithilfe eines besonderen Fonds entgegenzuwirken. Eine Verordnung des Landes, welche die Kommunen verpflichtete, am Verfassungstag schwarz-rot-gold zu zeigen, wurde vom OVG als unzulässiger Eingriff in die Selbstverwaltungs­ garantie aufgehoben, eine ähnliche Notverordnung vom StGH mangels Dringlichkeit für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin erging im Jahr 1929 trotz kompetenzrechtlicher Bedenken eine landesgesetzliche Regelung. Auf schleppende Umsetzung stieß die Symbolpolitik auch andernorts: Noch anfangs der 20er Jahre wurden von einzelnen Behörden Formulare mit der Aufschrift „Königlich …“ verwendet, auf Gebäuden wurden solche Inschriften noch im Jahr 1927 angetroffen. Auch hier wurden oftmals Sparsamkeitsaspekte angeführt. Die Bilanz ist ambivalent: Einerseits zeigen sich kontinuierliches Bemühen der Staatsregierung, die Durchsetzung der neuen Farben zu fördern; andererseits ebenso kontinuierliche Widerstände von Kreisen und Gemeinden, wohl namentlich in Ostelbien. Weniger eindeutig ist die Bilanz zum Verfassungstag. Dass der 11. August auf Durchsetzungsschwierigkeiten stieß, war auch in Preußen zu bemerken. Dies galt umso mehr, als es der Republik anfangs nicht gelang, ein eigenes Zeremoniell zu entwickeln. Die übereinstimmenden Beschreibungen von O. Braun66 und V. Klemperer, wonach die amtlichen Verfassungsfeiern eine „befohlene frostige Angelegenheit“ gewesen seien, galt als Gemeingut. Ob damit allerdings wirklich die gesamte Praxis gemeint 65  Zum Flaggenstreit in der Republik jüngst Verena Wirtz, in: Michael Dreyer/ Andreas Braune (Hrsg.), Republikanischer Alltag, Stuttgart 2017, 51. 66  Braun, Von Weimar (Anm. 54), 332.



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war oder eben nur dienstliche Feiern in Behörden, bedarf weiterer Klärung. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass es auch anders ging, wo Parteien, Gewerkschaften oder später das Reichsbanner den Feiern einen fest­ lichen Rahmen verliehen und so an einer neuen republikanischen Festkultur mitwirkten.67 Zur Symbolpolitik im weiteren Sinne zählte auch die schleppende Auflösung der Gutsbezirke,68 welche eine weitgehend flächendeckende Mitwirkung der dort wohnenden Bürgerinnen und Bürger an der kommunalen Selbstverwaltung überhaupt erst ermöglichte. Insgesamt zeigt der kursorische Überblick zur Republikanisierung ein differenziertes Bild. Auf der Ebene der Staatsregierung, die durchgängig von den republiktragenden Parteien gebildet wurde, zeigten sich kontinuierliche Bemühungen im Hinblick auf eine Annäherung des Landes an die Ideale und Leitbilder der WRV. Sie stießen in Behörden, Selbstverwaltungskörperschaften und bei Mitarbeitern auf unterschiedliche Aufnahme. Teils wurden sie mitgetragen, teils verzögert, teils unterlaufen. Die Vermutung liegt nahe, dass dabei ein gewisses West-Ost- und ein gewisses Stadt-Land-Gefälle zu beobachten war. Doch blieben die Defizite nicht allein: Republikanische Politiker bemühten sich an unterschied­ lichen Stellen und in unterschiedlichen Formen, ihnen entgegenzuwirken. Dass ihre Bemühungen auch von der Rechtsprechung nicht stets unterstützt wurden, hat die Republikanisierung gewiss nicht einfacher gemacht. Wir finden ein Wechselspiel von Reformanläufen und -bremsen, von Erneuerung und Rückwärtsgewandtheit, republikanischem und antirepublikanischem Gedankengut, welches sich sach-, materie- und ressortspezifisch unterschiedlich auswirken sollte. In manchen Bereichen ging es weiter voran als in anderen. Doch ist eine solche Verlustliste nur eine Hälfte der Wahrheit. Die andere liegt darin, dass mit diesen Zuständen Preußen in der Spitzengruppe der Länder lag. Nur in wenigen anderen Einzelstaaten waren vergleichbare Teilerfolge zu verzeichnen. Der Ausbau der Verfassung und die Annäherung des Landes an die Ideen der Verfassungen von 1919/20 kamen schrittweise und manchmal langsam voran  – aber sie kamen voran. Dass diese bisweilen auf geringe Unterstützung oder sogar hinhaltende Widerstände von Reichspräsident und Reichsregierung stießen, lässt die Bilanz der Teilerfolge in einem günstigeren Licht erscheinen. Das Land suchte seinen Platz in der neuen Staatsform – und zu einem nicht unerheblichen Teil hat es ihn auch gefunden.

67  Zuletzt 68  Siehe

Sebastian Elsbach, in: Dreyer/Braune, Alltag (Anm. 66), 203. oben a).

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V. „Preußens republikanisch-demokratische Sendung“ Im Rückblick mag am meisten überraschen: Der preußische König war gegangen, aber Preußen blieb bestehen. Offenbar war das Land mehr als eine Ansammlung von Territorien, welche in der Vergangenheit durch Eroberungspolitik erworben worden waren und in manchen Beschreibungen allein vom Haus Hohenzollern zusammengehalten zu sein schienen. Das Land hat den Abgang der Dynastie überdauert, die zentrifugalen Kräfte waren auch unter äußerstem Druck von Kriegsniederlage, Separatismus und Abstimmungskämpfen nicht stärker gewesen. In diesem Sinne war Preußen offenbar grundsätzlich zukunftsfähig gewesen. Und in diesem Sinne stand die preußische Entwicklung auch nicht bloß auf der dunklen Seite der Konstitutionalisierung von Freiheit und Demokratie. Das lag nicht nur an äußeren Faktoren. Der demografische und soziale Wandel im Land69 war eine Folge der Expansionspolitik gewesen, welche nicht zugleich in der Lage gewesen war, die Verhältnisse im Osten auf die neuen Provinzen zu übertragen. Auf diese Weise hatte sich die Basis für staatsrechtliche Neuerungen gebildet, welche durch den Kriegsausgang eine weitere Verstärkung erfuhren. Diese Schichten bildeten eine Unterstützergruppe für die neue Staatsform, welche sich in der Republik als temporär tragfähig erweisen sollte. Insoweit ist das „alte“ Preußen auch an seinem eigenen Erfolg „gescheitert“. An seine Stelle sollten in der ­Verfassunggebung des Jahres 1920 Ideen eines reformfähigen und reformierten Staatsgedankens treten, der ein neues zukunftsfähiges Modell Preußen hätte abgeben können. Wie gespalten das Staatsvolk aber auch im größten Einzelstaat war, sollte sich daran zeigen, dass die Republik wesentlich an Widerständen im Land selbst, namentlich im Osten, gescheitert ist. Das war allerdings kein Aufstand des „alten“ gegen das „neue“ Preußen mit dem Ziel einer Wiedererrichtung der früheren Verhältnisse. Vielmehr war es ein anderer Weg, an dessen Ende größere Katastrophen als das Ende Preußens stehen sollten. Preußen hat seine Chance über die Monarchie hinaus gehabt. Es war kein „Bollwerk“ der Demokratie. Seiner Rolle wird die Formulierung von der „demokratischen Sendung“ (Schulze) eher gerecht. Das heißt nicht, dass nun alles schön gezeichnet werden müsste, was früher schwarzgemalt worden ist. Auch in Preußen war nicht alles anders, als es die klassische Geschichtsschreibung beschrieben hat. Aber neben den dunklen gab es eben auch helle Seiten. Wie überall war die Republik

69  Siehe

oben II. 1.



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nicht nur Risiko, sondern auch Chance. Und sie ist in Preußen auch in überdurchschnittlichem Maße als Chance gelebt und erlebt worden. Die Republik war also nicht „das Ende“, sondern Chance und Auftrag zur Erneuerung und Neuerfindung Preußens, zur Annäherung seiner Verfassung und Staatsform an die gewandelten demografischen und sozialen  Verhältnisse. Das Ende kam nicht, als die Republik kam. Sie war mehr und anderes als bloßes Vorspiel zum Schweigen, sie war die unter den damaligen historischen Bedingungen beste Chance der überfälligen Erneuerung. Das Ende kam, als die WRV und ihre Republik – auch – in Preußen aufgekündigt wurden. Übrigens: Die PrVerf. 1920 ist in ihrer Grundkonzeption wie auch in zahlreichen Einzelregelungen Vorbild für Länderverfassungen70 in der Bundesrepublik geworden.

70  Am Beispiel Nordrhein-Westfalens Fabian Wittreck, „Preußen im Westen“  – Vom Verfassungsobjekt zum heimlichen Nachfolgestaat, in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter, Sonderheft Stuttgart Juni 2020, 9.

Streit um das preußische Wesen: Neuerfindungen eines Staates, 1910–19321 Von Georg Eckert, Wuppertal/Potsdam Noch immer bewegt die Debatte über das vermeintliche preußische Wesen so manche Zeitgenossen: heuer zum hundertjährigen Jubiläum der Gründung eines preußischen Freistaates, das mit den Restitutionsforderungen der Hohenzollern jüngst eine unerwartete geschichtspolitische Dimension erreicht hat, aber auch schon vor vierzig Jahren. Im Jahre 1979 erschienen gleich zwei populäre Bücher, die eine Neuentdeckung Preußens beanspruchten, verfasst von Autoren, die sogar noch als Preußen geboren waren: Sebastian Haffners „Preußen ohne Legende“, das sich dem streitlustigen Publizisten laut einer Kapitelüberschrift als der „rauhe Vernunftstaat“ zeigte,2 und Bernt Engelmanns „Preußen: Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, das Fragezeichen hinter viele bis heute übliche Deutungen setzte: „Ein europäisches Gemeinwesen wie manches andere? Eine als Staat organisierte Kaserne? Ein als Kaserne organisierter Staat? Eine Ordnungsmacht im wahren Sinne des Wortes? Ein Anachronismus? Ein Alptraum? Ein Lebensstil? Vielleicht auch nur eine Fiktion?“3

Diese Versuche, das seit dem Jahre 1945 weitgehend verstoßene Preußen neu zu entdecken, standen auch im Rahmen des deutsch-deutschen Systemgegensatzes. Hatte man unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eher darum konkurriert, welcher Teil Deutschlands anti-preußischer sei, schlug das Pendel der Erinnerungspolitik nun in die andere Richtung

1  Für die Drucklegung wurde die Vortragsfassung weitgehend beibehalten. Denn auch auf die Wissenschaft hat sich die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 ausgewirkt, wochenlange Bibliotheksschließungen haben den Zugang zu Quellen und weiterer Literatur zwischenzeitlich unmöglich gemacht. So ist aus dem geplanten Aufsatz ein wagender Essay geworden. 2  Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, München 1981 [Taschenbuchaus­ gabe], 77 ff. 3  Bernt Engelmann, Preußen. Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Frankfurt am Main 1980, 7. Dass dieses Buch auch bei der Büchergilde Gutenberg erschien, verdeutlicht seine Publikumsorientierung, ebenso wie die Taschenbuchausgabe von Haffners reich bebildertem Werk.

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aus, beiderseits der Mauer.4 Mit der Wiederaufstellung des Rauch’schen Reiterstandbilds Friedrichs des Großen im Jahr 1980 beanspruchte nun auch Erich Honecker für die DDR das auf einmal nicht mehr als reak­ tionär ausgeschlagene Erbe Preußens  – das zugleich im westlichen Teil Berlins in der lange vorbereiten Ausstellung „Preußen  – Versuch einer ­Bilanz“ auf neue Weise präsentiert wurde. Die jeweiligen Bestrebungen, die preußische Geschichte neu zu deuten, folgten politischen und wissenschaftlichen Konjunkturen. Die DDR-Historikerin Ingrid Mittenzwei wendete in ihrer ebenfalls im Jahre 1979 ­erschienenen  – und schon im Genre selbst aussagestarken  – Biographie Friedrich den Großen dialektisch, wie es sich im Marxismus-Leninismus nun einmal gehörte, als Unterdrücker wie eben als Großen, indes auf seine Weise auch Theodor Schieder, der im Jahre 1983 das „Königtum der Widersprüche“5 desselben Herrschers schilderte. Beide Bücher verband der Anspruch, anhand einer Herrscherbiographie ein Gesamtbild Preußens und dessen, was Preußen repräsentiere, zu skizzieren. Dieses Gesamtbild ganz anders zu zeichnen als üblich, war unterdessen Hagen Schulze auf spektakuläre Weise gelungen, wiederum mit einer Biographie, doch eben aus einer anderen Zeit. Seine herausragende Studie „­Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung“ hatte pointiert gegen die dominierende These von einem deutschen, genauer: preußischen Sonderweg angeschrieben. Was damals als Frage nach dem objektiven preußischen Wesen gestellt wurde, lässt sich heute anders wenden: zur kulturhistorischen Frage danach, was Zeitgenossen subjektiv jeweils für das preußische Wesen gehalten haben, ja ob sie überhaupt so etwas wie ein spezifisch preußisches Wesen kannten respektive postulierten. So widmet sich dieser Essay zeitgenössischen Perzeptionen dessen, was Preußen „eigentlich“ ausmache – freilich nicht in den späten 1970er Jahren, sondern in jener großen Transformationsperiode zwischen den Jahren 1910 und 1932, in denen bis zum „Preußenschlag“ ein teils vehementer Streit darum tobte, was preußisch sei und ob es das Preußische überhaupt brauche. Ganz neu war diese Debatte allerdings nicht, schließlich hatte sie sich paradigmatisch bereits im Deutschen Dualismus seit dem späten 18. Jahrhundert entfaltet: einem Hegemonialkampf zunächst einmal zweier Dynastien, der schon in 4  Eine pointierte Einordnung bei: Frank-Lothar Kroll, Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn 2001, 241–251. 5  Auf das „Miteinander“ gegenläufiger Bestrebungen wies bereits in einem erstmals im Jahre 1980 gedruckten Aufsatz programmatisch hin: Otto Büsch, Aspekte des Preußenbildes und ihre Rezeption, in: Otto Büsch: Zur Rezeption und Revision der preußisch-deutschen Geschichte. Ausgewählte sozialhistorische Beiträge, Berlin 1988, 33–43, 35.



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den Zeiten Friedrichs des Großen und Kaiser Josephs II. auch mit publizistischen Versuchen verbunden war, die Politik der Hohenzollern respektive der Habsburger als eine besonders „deutsche“ darzustellen  – perfektioniert später in der Borussischen Schule, deren Protagonisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts wirkungsmächtig den „deutschen Beruf“ Preußens ausriefen, niemand überzeugungsstärker als Heinrich von Treitschke. Doch die bis heute in vielen Schulbüchern zitierte, vordergründig emphatische, indes aus der tagespolitischen Not geborene Parole, „Preußen geht fortan in Deutschland auf“, die Friedrich Wilhelm  IV. zur Vermeidung einer wirklichen Revolution am 21.  März des Jahres 1848 proklamiert hatte, machte insbesondere seinem Bruder und Nachfolger mehr Sorge als Freude. Am Vorabend der Kaiserproklamation im Januar des Jahres 1871 soll der zu Bekrönende geseufzt haben: „Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens! Da tragen wir das preußische Königtum zu Grab“.6 Verifizieren lässt sich dieses immer wieder präsentierte Zitat nicht, wohl aber Wilhelms Befürchtung, ihm sei in der neuen politischen Ordnung lediglich die undankbare Rolle eines „Charaktermajors“ zugedacht; ganz offenkundig bedurfte es eines geraumen Begründungsaufwands, das Kaisertum so konservativ zu präsentieren, wie es der borussische König wünschte – angestrebt hatte er nämlich ein preußisches Kaisertum, keines von Gnaden einer höherstehenden deutschen Nation.7 Symbolisch drückte sich dieser Vorbehalt in seiner Weigerung aus, den 18. Januar zum deutschen Nationalfeiertag zu machen, der vielmehr exklusiv Jahrestag der ersten preußischen Königskrönung bleiben sollte.8 Dass das Preußische im Deutschen (und nicht zuletzt: in der vergleichsweise liberalen Verfassung des Kaiserreiches) untergehe, beklagten preußische Konservative immer mehr – erst recht seit die Regierung Bethmann Hollweg im Jahre 1910 einen vieldiskutierten Reformentwurf des ungleichen Preußischen Dreiklassenwahlrechts eingebracht hatte. Diese zunächst ergebnislose Debatte, die mit der kaiserlichen „Osterbot6  Für das besagte, in dieser Gestalt wohl erfundene Zitat gibt es diverse Varianten, aber allesamt ohne Beleg – von der Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/ Wilhelm_I._(Deutsches_Reich), Stand: 2.  August  2020) bis hinein in die wissenschaftliche Literatur. 7  Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871– 1918, München 1969, 73 f. 8  Karl Erich Born, Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Führungsmacht des Reiches und Aufgehen im Reich, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, hrsg. v. Wolfgang Neugebauer, Berlin/New York 2001, 15–148, 36 f.

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schaft“ des Jahres 1917, mit der daraus resultierenden Reformdebatte insbesondere im Reichstag und mit den Revolutionen bei Kriegsende im Reich wie in Preußen eine Fortsetzung fand, markiert den Anfangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Denn beim Systemwechsel in die ungeschmälerte parlamentarische Demokratie fragten sich die Zeitgenossen umso mehr, was eigentlich preußisch sei. Geradezu spektakulär mutet die Wende an, die etwa in der „Germania“ zu fassen ist, dem Parteiblatt des katholischen Zentrums, das in Bismarck-Zeiten noch als staatsgefährdend gegolten und im „Kulturkampf“ gegen einen diskriminierenden preußischen Staat angekämpft hatte. Es hatte sich umorientiert und lobte Preußen im Jahre 1924 nach dem großen Krisenjahr der Weimarer Republik zum mustergültigen demokratischen Staatswesen aus: „[…] es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß Preußen einzig und allein dank der großen Koalition zur wahren Ordnungszelle Deutschlands geworden ist“9  – zur demokratischen „Ordnungszelle“, während vor allem Bayern als autoritäre galt. Ausgerechnet das bislang als obrigkeitsstaatlich verschrieene Preußen galt nunmehr als wichtigste Stütze der Republik, und das ausgerechnet denjenigen, denen preußischen Regierungen und Eliten bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das Odiums des Staatsfeindes anzuheften versucht hatten: das Zentrum, aber auch Linksliberale sowie Sozialdemokraten, der größte Partner in jener Weimarer Koalition, die in Preußen wesentlich länger hielt als im Reich. Auf dem Weg in eine demokratische Normalität suchten Zeitgenossen fortan nach Anschlussmöglichkeiten an das ältere Preußen, bis hin zum Versuch, gar die Novemberrevolution als eine urpreußische zu verkaufen. Wie deutungsoffen Preußentum in jenen Jahren geriet, wie die Zeitgenossen bis ans Ende der Zwanziger Jahre ein breites Potential ganz unterschiedlicher Neuerfindungen Preußen aktualisierten, vielfach im Modus des Experimentierens, lohnt eine Erkundung – auslaufend im Jahr 1930, in dem der Verfassungsausschuss seine Gutachten zur Änderung der Weimarer Verfassung vorlegte und in dem sich ein neuer konstitutioneller Dualismus ergab, freilich unter umgekehrten Vorzeichen: Mit dem Beginn der Präsidialkabinette war nun ausgerechnet Preußen zum leuchtenden demokratischen Gegenmodell eines düster aufziehenden autoritären Reiches geworden und blieb es bis zum „Preußenschlag“ am 20. Juli 1932. Selbst in diesem Coup drückte sich wiederum auch eine spezifische Vorstellung aus, was Preußen eigentlich bedeute.

9  Zitiert nach: Horst Möller, Preußen von 1918 bis 1947. Weimarer Republik, Preußen und der Nationalsozialismus, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3 (Anm. 8), 149–316, 247.



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Die folgende Skizze gilt also einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, auszugsweise dargestellt hier anhand dreier Phänomene – die in ihrer paradigmatischen Bedeutung vorzustellen sind, nicht als repräsentativ für das zeitgenössische Meinungsspektrum: schon die „Pluralität von Geschichtsbildern im alten Preußen“, deren Breite insbesondere in publizistischen Quellen zu fassen ist10 und die eng mit dem Versuch einer Neuerfindung Preußens verbunden waren, erzwingt die Reduktion auf einige Grundlinien. Sie konvergierten auf bisweilen erstaunliche Weise, etwa darin, dass der rechte und der linke Rand des politischen Spek­ trums sich bereits im Kaiserreich bei gegenläufiger Bewertung gleichwohl auf eine gemeinsame Definition Preußens verständigt hatten: als Bastion des Militarismus, die es aus Sicht der ersteren zu festigen, aus Sicht der letzteren zu schleifen galt. Sodann lotet sie einige zeitgenössische Versuche aus, die historische Eigenart Preußens zu erkunden  – ob Preußen einen „deutschen“ oder aber einen „preußischen“ Beruf habe, wurde nach der Reichsgründung noch viel intensiver diskutiert als zuvor, ungleich intensiver jedoch in den Reformdebatten rund um die kaiserliche Osterbotschaft des Jahres 1917. Genau aus diesem argumentativen Reservoir schöpften sodann diejenigen, die sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs an einer Umdeutung Preußens versuchten, vom vielkritisierten Obrigkeitsstaat in ein demokratisches Gemeinwesen und wieder zurück: indem sie „preußische Tugenden“ erfanden, die sowohl zu rechten als auch zu linken politischen Zwecken genutzt werden konnten. I. Preußen als Bastion des Militarismus: Die Erzählung von den Rändern Das Verdikt des Alliierten Kontrollrats aus dem Jahre 1947, der in seinem Gesetz Nr. 46 den preußischen Staat mitsamt aller zugehörigen Behörden auflöste, hallt bis heute nach: „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört“.11 Es drückte nicht nur einen Minimalkonsens aus, auf den sich die bereits reichlich zerstrittenen Alliierten damals noch verständigen konnten, sondern zugleich eine Entlastungsformel, mit der neue deutsche Staatlichkeit ohne Preußen zu legitimieren war. Seine enorme Wirksamkeit verdankt sich der Tatsache, dass eine Definition Preußens aus seinem militärischen Wesen heraus einen 10  Jürgen Mirow, Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild seit der Reichsgründung, Berlin 1981, 320. 11  Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947, in: Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente der Gegenwart (1919–1951), hrsg. v. Ernst Rudolf Huber, Tübingen 1951, 648.

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längst etablierten Resonanzraum ausfüllte  – geschaffen bereits im 18. Jahrhundert, als Selbstbild ebenso wie als Fremdbild. Meist war es das Preußen ab 1740, vorbereitet vom Großen Kurfürsten und dem Soldatenkönig, das solchen erinnerungspolitischen Zwecken diente. In jene Zeit fallen nicht von ungefähr die ersten Rühmungen Preußens, die nicht mehr allein an die Herrscher gebunden waren. Der Offizier Ewald Christian von Kleist, an den Folgen einer in der Schlacht von Kunersdorf erlittenen Verwundung verstorben, dichtete inmitten des Siebenjährigen Krieges eine „Ode an die preußische Armee“ (1759), die von besonderer kriegerischer Wehrhaftigkeit schwärmte: „Unüberwundnes Heer, mit dem Tod und Verderben / In Legionen Feinde dringt, / Um das der frohe Sieg die güld’nen Flügel schwingt, / O Heer, bereit zum Siegen oder Sterben! […] Die Nachwelt wird auf Dich als auf ein Muster sehen; / Die künft’gen Helden ehren Dich, / Zieh’n Dich den Römern vor, dem Cäsar Friederich, / Und Böhmens Felsen sind Dir ewige Trophäen.“12

Solchen Gesängen entsprach auf seine Weise das nüchterne zeitgenössische Bonmot, das meist dem Grafen Mirabeau zugeschrieben wird: „Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt.“ Nachweisen lässt es sich freilich nicht, womöglich handelt es sich um die Erfindung einer Tradition, deren Festigung man im 19. Jahrhundert beobachten kann  – in den „Befreiungskriegen“ und sodann in der Erinnerung daran. Bismarck zufolge brauchte es bekanntlich „Blut und Eisen“, um später in den Einigungskriegen einen deutschen Nationalstaat zu erzwingen; daraus entwickelte sich schließlich ein Konsensnarrativ,13 das bis hin zu Liberalen reichte, die am Ende auf eine gewaltsame Erzwingung eines kleindeutschen Reiches setzten. Im entsprechenden Band der dritten Auflage des Rotteck-Welcker’schen Staatslexikons, der im Jahre 1865 erschien, wurde Preußen seit alters her und affirmativ die Absicht zugeschrieben, „das Deutsche Reich gegen Norden und Osten zu verteidigen“, und die „Consequenz des Gedankens“ gerühmt, „der vormals zur Begründung der Mark geführt hatte, dem des Gegensatzes gegen den Slawismus“.14 Dafür brauchte man ein starkes Militär, glaubten nunmehr selbst die plötzlich regierungsloyalen Natio12  Ewald Christian von Kleist, Ode an die preußische Armee, in: Ewald von Kleist’s Werke, hrsg. v. August Sauer, Berlin 1881, 100–101, 100. 13  Wie umstritten die diversen Praktiken der Erinnerung waren, hat zuletzt deutlich gemacht: Karen Hagemann, Umkämpftes Gedächtnis. Die Antinapoleonischen Kriege in der deutschen Erinnerung, Paderborn 2019. 14  J. B. Hassel, Preußen (Staats- und Verfassungsgeschichte; jetzige Verfassung und Verwaltung des Staats; Staatsrecht), in: Das Staats-Lexicon. Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. In Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 12, hrsg. v. Karl von Rotteck/ Karl Welcker, 3. Aufl. Leipzig 1865, 1–71, 1.



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nalliberalen, wiewohl sie noch im Verfassungskonflikt der 1860er Jahre danach gestrebt hatten, Militär und Regierung und Monarchen einzuhegen. Die Protagonisten dieses Konflikts erblickten – auf beiden Seiten – einen Nexus zwischen militärischer Prägung des Staates und unparlamentarischer Regierungsweise; der spätere Kaiser Wilhelm  I. hatte als Kronprinz seinen Bruder und König schon im Jahre 1843 gewarnt: „Alle constitutionellen Kammern, haben nach u [sic!] nach die Armée Budgets so beschnitten, daß überall die einjährige Dienstzeit eingeführt ist, u damit ist die Zucht u der militairische Geist, nicht mehr zu erzielen u zu erziehen. Das wollten auch die Kammern, weil das Militair noch der Theil ist, auf welchen die Souveraine, en temps et lieu, rechnen konnten. Daher mußte zu antiSouverainen Zwecken, dem Militair der Geist entzogen werden, der Gehorsam u Unterwürfigkeit lehrt, ein Geist, der sich nicht ins Blut überführen läßt, wenn er nicht eine geraume Zeit, geübt worden ist.“15

Dass die Armee die Herrschaft des Königs und adeliger Eliten stützte, war keineswegs nur Imagination – aber eben auch. Zahlreiche Zeitgenossen des Kaiserreiches attestieren Preußen einen zutiefst militärischen Charakter, im Zentrum der Monarchie, noch mehr aber an den politischen Rändern. Stärkten nach der Reichsgründung insbesondere die Konservativen, die ihre Machtstellung innerhalb Preußens zu erhalten strebten und eine Ausweitung des allgemeinen Reichstags-Wahlrechts auf das preußische Abgeordnetenhaus zu vermeiden suchten, ein militärisches Preußen-Narrativ, so bekräftigte es auf ihre Weise ebenso die Opposition auf der Linken, nur eben unter umgekehrten Vorzeichen. Sozialisten kritisierten das von der Rechten stets gelobte Übergewicht der Armee, das sie in der preußischen Geschichte ebenso erblickten (besonderes prominent in Franz Mehrings Publizistik)16 wie in der kaiserzeitlichen Gegenwart. Sie griffen das konservative Selbst- und Staatsverständnis geradezu mit Wonne auf, zumal August Bebel mit seiner wiederholt im Reichstag vorgetragenen Kritik an Soldatenmisshandlungen  – so wuchtig, dass sich der preußische Bundesrats-Bevollmächtigte, Kriegsminister und General der Infanterie Hans von Kaltenborn-Stachau in einer Ple­ nardebatte am 10. März 1893 gar dazu bemüßigt sah, gegenüber Bebel zu thematisieren, worum es eigentlich ging: „Ich kann nur wiederholen: die Art und Weise, wie die Angriffe hier geführt worden sind, drücken einen Haß aus der Führer der Sozialdemokratie gegen die Armee, den ich allerdings vollständig begreiflich finde. (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Die Armee wird eben von Ihnen betrachtet und mit Recht 15  Wilhelm an Friedrich Wilhelm  IV., Berlin, 6.  April  1843, in: König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I.: Briefwechsel 1840–1858, hrsg. v. Winfried Baumgart, Paderborn 2013, 83. 16  Mirow, Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild (Anm. 10), 99.

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betrachtet als der Damm, der sich Ihren Bestrebungen entgegenstellt. (Bravo! rechts. Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Das Bewußtsein, dieser Damm zu sein, ist auch voll und lebendig bei der Armee, und ich kann Ihnen die Versicherung geben: Sie werden Ihren Zweck, diesen Damm zu unterwühlen und zu zerstören, nicht erreichen.“17

Definierten Konservative ihr Preußen durch das Militär, in der Staatstheorie wie in der politisch-sozialen Praxis, so die radikale Linke nicht minder, wiewohl nicht affirmativ, sondern als scharfe Systemkritik, in der später etwa auch Rosa Luxemburg das Militär einem imperialistischen Unterdrückungsapparat gleich demjenigen in anderen Staaten zurechnete: „Auch bei den preußischen Wahlrechtsdemonstrationen war Militär in Bereitschaft, um die Polizei zu unterstützen“,18 kritisierte sie im Jahre 1911. Auf diese Weise festigte sie die Assoziation des preußischen Staates mit dem Militär, hier gebunden an den Vorwurf, Wehrpflichtige würden in der vielzitierten „Schule der Nation“ zum Teil einer Unterdrückungsmaschine gemacht. Nicht nur die politische, sondern auch eine kulturelle Opposition verstand Preußen als militärischen Zwangsstaat; die borussische Lesart der Geschichte war keineswegs alternativlos, selbst Gustav Freytags ansonsten eher staatstragend konturierte „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ aus der Kaiserzeit setzten die rigide Disziplin des preußischen Staates in eine durchaus düstere Szenerie der Unterdrückung.19 Ähnlich ambivalent las sich, was der Historiker Erich Marcks noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg konstatierte: Wenn er sich auf die „militärische Struktur unseres Reiches“ bezog, postulierte er eine Kontinuitätslinie aus altpreußischer Zeit, deren Stärken er indes ebenso anzeichnete wie ihre Schwächen.20 Wesentlich dunkler war das Preußenbild naturgemäß in anderen Deutungen gehalten, vor allem bei den Verlierern der kleindeutschen Na­ tionsgründung. Der zuvor seiner anti-preußischen Haltung wegen nach Hannover berufene Historiker Onno Klopp, der unermüdlich gegen eine borussische Geschichtsdeutung anschrieb, hatte unmittelbar nach seiner Flucht infolge des Deutsch-Deutschen Krieges von 1866 nach Wien eine populär gehaltene Broschüre über „Die preussische Politik des Fridericia­ nismus nach Friedrich  II.“ veröffentlicht. Die expansive Dynamik Preu17  Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. VIII.  Legislaturperiode. II. Session 1892/93, Bd. 3: Von der 61. Sitzung am 8. März 1893 bis zur 91. Sitzung am 6. Mai 1893, Berlin 1893, 1562. 18  Rosa Luxemburg, Dem Weltkrieg entgegen. Rede am 7. Oktober 1911 in Stuttgart, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3: Juli 1911 bis Juli 1914, Berlin 1973, 8–65, 63. 19  Mirow, Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild (Anm. 10), 88. 20  Ebd., 53.



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ßens, seine hegemonialen Absichten hatte Klopp attackiert und sich dagegen verwahrt, Preußen mit Deutschland zu verwechseln; er hatte es gar eine „Schmarotzerpflanze“ genannt, ebenso offensiv, wie er auf Bismarck anspielte: „Der Baum des deutschen Lebens ist reich an Früchten aller menschlichen Cultur. Die Blüthen und die Früchte der Schmarotzerpflanze erfreuen nicht. Die Cultur des Staates der Hohenzollern gipfelt in dem Commandorufe und der Kaserne. Der Zweck des menschlichen Daseins in diesem Staate der Hohenzollern ist nur der Eine, direct oder indirect als Material zu dienen für den Molochdienst von Eisen und Blut“.21

Im Ton etwas moderater, in der Sache aber ähnlich argumentierte wenig später der Publizist Constantin Frantz, der zugunsten eines romantischen Föderativprojektes nicht nur gegen einen kleindeutschen, sondern auch gegen einen großdeutschen Nationalstaat argumentierte; in Berlin, so führte Frantz aus, war es „zunächst nicht das Bürgerthum, sondern der Hof, das Militär und das Beamtenthum, welches dem Berliner Leben sein Gepräge gab“, und es konnte ihm „wirklich als charakteristisch gelten, daß einer der vornehmsten Plätze Berlins der Gensdarmen-Markt heißt, und eben auf diesen Gensdarmen-Markte neuerdings die Schillerstatue errichtet wurde. […] Kurz: der schillersche Idealismus auf einmal in den handgreiflichsten Realismus übersetzt, und freilich auch dadurch erst der heutigen Aera congenial gemacht, wo in der Metropole der Intelligenz eben alles realpolitisch sein muß.“22

Auch wenn solche kritischen Betrachtungen im Laufe der Kaiserzeit eher in ein Konsensnarrativ mündeten,23 bleibt doch zweierlei bemerkenswert. Die Vorzeichen mochten sich ändern, doch die dominante Diagnose eines militärisch besonders handlungsfähigen, autoritären, diszi­ plinierten Preußen blieb bestehen – nicht nur im Inland. Auch das Ausland (ob man Österreich nun im engeren Sinne dazu zählen sollte, just darum stritten damals so manche) nahm Preußen vielfach substantiell als Militärstaat war, mit verhängnisvollen Konsequenzen. Derart erfolgreich war die Selbstvermarktung militärstolzer altpreußischer Eliten, dass die Propaganda der Entente diese Erzählung alsbald nur zu gerne aufgriff. Denn das Narrativ eines besonders militärischen Preußen verdichtete sich im Ersten Weltkrieg, im Inland wie im Ausland: neuerlich als Konsensnarrativ, gleichwohl wiederum unter wechselnden Auspizien. Weil das preußische Heer den größten Teil der Reichsarmee stellte, geriet 21  Onno Klopp, Die preussische Politik des Fridericianismus nach Friedrich II., Schaffhausen 1867, XIII f. 22  Constantin Frantz, Die preußische Intelligenz und ihre Grenzen, München 1874, 21 f. [Hervorhebung im Original]. 23  Mirow, Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild (Anm. 10), 85.

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Abbildung 1: Unverkennbar preußisch zeichnete Harry Hopps im Jahre 1917 den Kriegsgegner. Das Untier mit militaristischer Pickelhaube, das hier die „Kultur“-Keule schwang, sollte junge US-Amerikaner motivieren, sich als Kriegsfreiwillige zu melden. Quelle: Destroy this mad brute, Wikipedia via: https://de.wikipedia.org/wiki/Des troy_This_Mad_Brute_%E2%80%93_Enlist#/media/Datei:Harry_R._Hopps,_Destroy _this_mad_brute_Enlist_-_U.S._Army,_03216u_edit.jpg [Stand: 16. Oktober 2021].

die Pickelhaube zum positiven Identifikationsmerkmal eines wehrhaften Militärstaates – und zugleich zu einem negativen, dessen sich die alliierte Propa­ganda immer wieder bediente. Harry Hopps berühmtes Werbeplakat, das amerikanische Männer im Jahre 1917 zum freiwilligen Eintritt in die Armee bringen sollte, konstruierte ein menschenaffenartiges Monster – das für die weniger kundigen Betrachter einfach nur als Monster erschien, für die etwas kundigeren Betrachter hingegen eher als preußisches denn als deutsches zu dechiffrieren war. Es trug einen Schnurrbart der Art, wie er von Kaiser Wilhelm II. bekannt war, vor allem aber eine Pickelhaube, auf der in großen Lettern „MILITARISM“ stand.



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Der Weltkrieg hatte kurzfristig ein militaristisches Wahrnehmungsmuster verfestigt, das schon langfristig angelegt war;24 wie tief es wurzelte, zeigt noch der Zweite Weltkrieg. Hielt Samuel D. Stirk in seiner im Jahre 1941 erschienenen Studie über den „Prussian Spirit“ den Nationalsozialismus für „a continuation, a new form, an intensification of ‚Prus­ sianism‘  “,25 nicht anders als Churchill und andere, die bei „Preußen“ an hackenknallende Militaristen dachten,26 so sorgte sich Charles de Gaulle in einer Rede vor der Assemblée Consultative Provisoire am 22. November 1944 weiterhin ausdrücklich um eine preußische Dominanz, die aufgehoben werden müsse, um ein friedliches Nachkriegsdeutschland zu schaffen.27 In diese Stimmung fand sich auch Konrad Adenauer ein, als er in der „Welt“ im November des Jahres 1946 bekundete: „Wir im Westen lehnen vieles, was gemeinhin ‚preußischer Geist‘ genannt wird, ab.“28 Immerhin lag es nach den diversen Kriegen, an deren Ende die Gründung des deutschen Nationalstaates unter preußischer Führung gestanden hatte, einigermaßen nahe, die politische Vormacht des Kaiserreiches vor allem als Militärmacht zu sehen – in Italien und Frankreich galt Preußen im späten 19. Jahrhundert als große, gewaltbereite Kaserne.29 Das war nicht länger als Kompliment gemeint. Denn Ordnung und Disziplin konnte man einerseits bewundern, andererseits als Kontrast zu einer freiheitlichen politischen Ordnung schildern: So schickte etwa der Ver­leger der Daily Mail im Jahre 1897 seinen besten Reporter auf die Reise nach Deutschland, dessen Berichte das Kaiserreich als „perfekt geölte Militärmaschine und Kasernenhofstaat unter der Führung eines gefühlskalten Despoten“ darstellten.30 Derlei ließ sich im Krieg leicht aktualisieren. Als 24  Für einen Überblick: Joachim Kuropka, „Militarismus“ und das „Andere Deutschland“. Zur Entstehung eines Musters britischer Deutschlandinterpreta­ tion, in: Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Bernd Jürgen Wendt, Bochum 1984, 103–124. 25  Samuel D. Stirk, The Prussian Spirit. A Survey of German Literature and Pol­itics, 1914–1940, London 1941, 159. 26  Ute Frevert, Der preußische Militärstaat und seine Feinde, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), 23–36, 34. 27  John Zimmermann, „Seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“. Das Bild von Preußen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Preußendämmerung. Die Abdankung der Hohenzollern und das Ende Preußens, hrsg. v. Thomas Biskup/Truc Vu Minh/Jürgen Luh, Heidelberg 2019, 107–125, 119 f. 28  Zitiert nach: Arnulf Baring, Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München/Wien 1969, 371 [Endnote 50]. 29  Frevert, Der preußische Militärstaat und seine Feinde (Anm. 26), 30. 30  Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912), München 2007, 302 f.

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Abbildung 2: Aus dem Jahr 1915 datiert dieses britische Propagandaposter. Es zeigt einen „preußischen Kraken“ der seine Tentakel erst über Deutschland und dann über Europa ausbreitet. Nachdem er u. a. Schlesien „erobert“, Polens „gestohlen“, Hannover „annektiert“, Elsaß-Lothringen „entrissen“ und Belgien „besetzt“ hat, bedrängt er mit seinem Fangarm nunmehr selbst den verbündeten österreichisch-ungarischen Kraken, der seinerseits bereits Serbien und Montenegro „verwüstet“ hat. Die Bildlegende greift ironisch eine Äußerung des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg aus dem Jahre 1915 auf, man bedrohe keine kleinen Nationen. Quelle: Museum of New Zealand. Te Papa Tongarewa via: https://collections. tepapa.govt.nz/object/1028329 [Stand: 16. Oktober 2021].

Schatzkanzler David Lloyd George im September des Jahres 1914 in einer Rede die britischen Kriegsziele vorstellte, konstruierte er einen signifikanten Unterschied zwischen dem deutschen Volk und den Herrschern des dezidiert preußischen Kriegsgegners, insbesondere Kaiser Wilhelm II., den er mit Zitaten als besonders kriegslüstern darstellte: „Have you followed the Prussian Junker and his doings? We are not fighting the German people. The German people are under the heel of this military caste, and it will be the day of rejoicing for the German peasant, artisan and trader when the military caste is broken“.31 31  The Great War. Speech Delivered by the Rt. Hon. David Lloyd George, M. P. (Chancellor of the Exchequer) at the Queen’s Hall, London, on September 19th, 1914, London [ohne Jahr], 13.



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Abbildung 3: Die Kriegspropaganda des Empire war auch darauf kalkuliert, die Vereinigten Staaten von Amerika als Bündnispartner zu gewinnen: erst recht nach Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Krieges am 01. Februar 1917. Diese Karikatur personifizierte Kaiser Wilhelm II. als „Bedrohung unter Wasser“: einen hinterlistigen Kraken, den „John Bull“ hier auf den Tod zu bekämpfen hat. Erstmals im gleichnamigen Satiremagazin publiziert, wurde sie in vielen, nicht nur britischen Zeitungen reproduziert – beispielsweise im „Star“ aus dem neuseeländischen Christchurch und am 01. April 1917 eben auch in der „Port of Spain Gazette“, die in der Hauptstadt der damaligen britischen Kolonie Trinidad und Tobago erschien. Quelle: Port of Spain Gazette, 01. April 1917, S. 5, University of Florida Digital Collection via: https://ufdc.ufl.edu/UF00094730/04830/5 [Stand: 16. Oktober 2021].

Als der mittlerweile zum Premierminister avancierte Lloyd George im Januar 1918 in einer Rede vor der britischen Trades Union Conference über die britischen Kriegsziele wortreich die Bedrohung durch die „pernicious m ­ ilitary autocracy of Prussia that uses the resources of its allies for the furtherance of its own sinister purposes“32 umriss, druckte sogar 32  Lloyd George Restates Britain’s War Aims; With France To Death For AlsaceLorraine; Does Not Insist On German Democratization, in: The New York Times, 6. Januar 1918, 1–2, 1.

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die New York Times auch diese Zeilen ab. Überhaupt bemühte gerade die britische Propaganda immer wieder eine klischeehafte Unterscheidung zwischen einem guten Deutschland und einem bösen Preußen, etwa in einer Karikatur, der den „Prussian Devil-fish“ als Kraken zeigte, der neutrale Schiffe in die Tiefe zieht.33 Auch innenpolitisch geriet die enge Verbindung Preußens mit dem Militärischen, die gerade zu Kriegsbeginn noch als Evokation der eigenen Stärke gedient hatte, nunmehr wieder in die Kritik – jedenfalls mit längerer Dauer des ebenso verlustreichen wie erfolgsarmen Krieges. An dessen Beginn hatte sich auch ein liberaler Historiker wie Otto Hintze affirmativ auf den preußischen Militarismus bezogen,34 Thomas Mann hatte ebenfalls zur großangelegten Verteidigung eines als positiv empfundenen, insbesondere von der britischen Propaganda hingegen als negativ dargestellten Militarismus35 angesetzt. Das zum preußischen Wesensmerkmal erhobene militärische Element mochte anfänglich noch integrativ wirken. Bald allerdings begann es zu polarisieren, wie unter anderem an der Osterbotschaft Kaiser Wilhelms II. abzulesen ist. Sie kündigte im Jahre 1917 die Abschaffung des politisch längst nicht mehr haltbaren Dreiklassenwahlrechts an, das in Preußen immer noch unverändert fortbestand. Schließlich galt das gleiche Wahlrecht mittlerweile weithin als Wehrsold, der an die Schützengrabengesellschaft auszuzahlen war, im Grunde schon seit Kriegsausbruch, genauer seit dem Burgfrieden des Jahres 1914, dessen stillschweigende Voraussetzung in der weiteren Parlamentarisierung auch der preußischen Politik bestand.36 Wie es Friedrich Ebert in einer Reichstagsrede am 5. April des Jahres 1916 in Erneuerung seiner Forderung einer Wahlrechtsreform ausgedrückt hatte: „Meine Herren, dieses neue Schützengrabengeschlecht, das in langen Monaten in Kampf und Gefahr gemeinsam dem Tode ins Auge geschaut hat, dem Tode, der keine Klassen und keine Ausnahmen kannte,  – dieses neue Schützengrabengeschlecht läßt sein politisches Leben nicht wieder in die Drahtverhaue des Dreiklassensystems hineinzwingen.“37

33  Jost Rebentisch, Die vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm  II. in der deutschen und britischen Karikatur (1888–1918), Berlin 2000, 209 (Abb. 387). 34  Mirow, Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild (Anm. 10), 135. 35  Frevert, Der preußische Militärstaat und seine Feinde (Anm. 26), 32 f. 36  Werner Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms  II.. Joseph Lortz in Verehrung zum 70. Geburtstag, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 113 (1957), 721–746, 743. 37  Verhandlungen des Reichstags. XIII.  Legislaturperiode. II.  Session, Bd. 307: Stenographische Berichte. Von der 35. Sitzung am 22. März 1916 bis zur 60. Sitzung am 6. Juni 1916, Berlin 1916, 860.



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Die Reichsregierung unter Kanzler Bethmann Hollweg betrieb diesen Wandel, und so griff Wilhelm II. in seiner Osterbotschaft die älteren Reformdebatten wieder auf. Dass er das tat, ist in diesem Kontext weniger relevant als die Frage, wie  – nämlich indem er seine Personalunion als König von Preußen und als Deutscher Kaiser differenzierte. Seine „preußischen“ wie „deutschen“ Aufgaben bezog er auf spezifische Wesensmerkmale: „Ich bin Mir bewußt, dabei in den Bahnen Meines Großvaters, des Begründers des Reichs, zu bleiben, der als König von Preußen mit der Militärorganisation und als Deutscher Kaiser mit der Sozialreform monarchische Pflichten vorbildlich erfüllte“.38

Deutschland blieb also an das Soziale gebunden, Preußen an das Militär, in der Fremdsicht wie in der Selbstsicht. Wie fest diese essentialistisch aufgeladene Aufgabenteilung in den Gedanken des ins Exil flüchtenden Kaisers wurzelte, belegt seine Abdankungsurkunde  – „Ich bin und bleibe König von Preußen und werde das Heer nicht verlassen“39  – und bestätigen seine Memoiren. In der Not des 9. November 1918, so berichtete Wilhelm II. nachmals, habe er seinem Volke einen Bürgerkrieg ersparen wollen: „Falls meine Abdankung tatsächlich das einzige Mittel war, um Blutvergießen zu verhindern, so wollte ich der Kaiserwürde entsagen, nicht aber als König von Preußen abdanken, sondern als solcher bei meinen Truppen bleiben.“40

So manche Politiker, die sich in dieser Debatte engagierten, nahmen den Kaiser beim Wort. Vor allem in den Reichstagsdebatten, die nun um das Dreiklassenwahlrecht geführt wurden, machten sie konkurrierende Lesarten eines militärisch konturierten Preußen geltend. Offenkundig galten solche Erzählungen als besonders wirkungsmächtig, wie insbesondere liberale Versuche bezeugen, sie umzuwenden. In der hitzigen Reichstagsdebatte des 29.  März  1917  – vordergründig mit dem Kriegshaushalt befasst, aber eigentlich der Zukunft des politischen Systems gewidmet – suchte der linksliberale Abgeordnete Ernst Müller aus Meinin-

38  Die kaiserliche Osterbotschaft vom 7.  April  1917. Kaiser Wilhelm  II. an Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd. 1: Die Wende des ersten Weltkriegs und der Beginn der innerpolitischen Wandlung 1916/1917, hrsg. v. Herbert Michaelis/Ernst Schraepler, Berlin 1959, 318–320, 319. 39  Zitiert nach: Born, Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918 (Anm. 8), 174. 40  Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918, Leipzig/Berlin 1922, 243 [Hervorhebung im Original].

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gen, Preußen gerade auf Egalität zu verpflichten. Er nahm den Jubel vorweg, der durch das ganze Volk gehen müsse, „wenn der König von Preußen erklärte: ich kenne keine politische Degradierung des preußischen Volkes mehr; ich kenne nur noch politische gleichberechtigte preußische und deutsche Staatsbürger.“41

Vor allem aber wandte sich Müller-Meiningen gegen die konservative Behauptung, „militärischer Absolutismus in des Wortes eigentlicher und guter Bedeutung ist doch dasjenige, was Preußen und was Deutschland groß gemacht hat“, so wie es der preußische Landwirtschaftsminister in einer Sitzung des preußischen Parlaments am 15. März 1917 vorgebracht hatte. Müller hingegen leitete die Größe aus einer anderen Quelle her: „Nein, sie täuschen sich, meine Herren, nicht der militärische Absolutismus hat Preußen und Deutschland errettet  – der militärische Absolutismus ist die Macht, die Willkür, die Negation jedes Rechts und der Verfassung  –, sondern die organisierte Volkskraft, die deutsche Volkskraft hat Deutschland und Preußen gerettet. Ich frage Sie aber: welche Wirkung müssen derartige Äußerungen im Auslande auslösen; wie muß das wirken, wenn hier selbst eine große Partei derartige Dinge noch unterstreicht? Diese Aussprüche über den militärischen Absolutismus erscheinen geradezu wie eine Bestätigung der Sprüche der Herrn Asquith und Lloyd George, der Sasonow, Briand und Konsorten. Auch sie geben vor, die Freiheit der Welt müßte gegen den deutschen Militärabsolutismus erkämpft werden. Nein, ich wiederhole noch einmal, nicht der Absolutismus, der uns ungeheuer geschadet hat in der ganzen Welt, sondern einzig und allein die allgemeine Wehrpflicht als die organisierte deutsche Volkskraft haben Preußen und Deutschland gerettet.“42

Müllers Nachredner, der nationalliberale Gustav Stresemann, hieb in dieselbe Kerbe. Auch er appellierte an die Wehrpflicht, die er statt für ein militärisches für ein freiheitliches Deutschland vereinnahmte. Die aktuelle Verfassungsfrage setzte er analog mit einer anderen Zeit, „in der ein großer Krieg zu Ende ging und in der das preußische und deutsche Volk von diesem Kriege nicht nur die Befreiung von fremden Joch, sondern auch eine Erneuerung seines eigenen politischen und geistigen Lebens erwartete, das waren die Freiheitskriege von 1813 und 1815.“

Stresemann zog eine Parallele zwischen der kaiserlichen Osterbotschaft und dem nicht eingehaltenen Verfassungsversprechen König Friedrich Wilhelms  III., ostentativ distanzierte er sich von der Debatte im Preußischen Herrenhaus, in der just am Vortage konservative Adelige den preußischen Militärstaat gepriesen hatten: 41  Verhandlungen des Reichstags. XIII.  Legislaturperiode. II.  Session, Bd. 309: Stenographische Berichte. Von der 81.  Sitzung am 22.  Februar  1917 bis zur 101. Sitzung am 5. Mai 1917, Berlin 1917, 2847. 42  Ebd., 2848 [Hervorhebung im Original].



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„Es ist vorhin von seiten der Herren Kollegen von der äußersten Rechten mit ‚Sehr richtig‘ unterstrichen worden, daß doch schließlich der militärische Absolutismus Preußen und Deutschland groß gemacht hätte. Ich weiß nicht, worin die Geschichte dieser Auffassung begründet.“

Stresemann hielt sich nämlich an den Freiherrn vom Stein und an Scharnhorst, der seinem König damals „‘die Liebe eines für König und Vaterland begeisterten Volkes‘ “ als größte Macht geschildert habe: „Das war der Mann der damals das preußische Heer in eine ganz andere Form gebracht hat, der ganz aufgeräumt hat mit den Ideen, die doch vielleicht militärischer Absolutismus waren.“43

So band Stresemann die militärische Schlagkraft Preußens gerade an eine liberale politische Ordnung. Auf diese Weise vermochte er auch die konservative Erzählung, die sich affirmativ-trotzig gerade auf den besagten „Absolutismus“ berief, zu attackieren: „Aber lassen Sie uns doch die Augen davor nicht verschließen, daß es die Abwendung von dem früheren Charakter des preußischen Militarismus war, der doch unzweifelhaft die Erfolge der Kämpfe von 1813 bis 1815 mit entschieden hat“.

Also suchte er Preußen nicht länger über das Militär zu definieren, sondern vielmehr über den Liberalismus der Militärreformen, des Freiherrn vom Stein und vieler anderer: „[…] wenn Sie daran denken, wie damals Gneisenau und Fichte sprachen, so muß ich sagen, es ist doch betrüblich, wenn 100 Jahre seitdem in die Welt gegangen sind und heute aus den Kreisen des preußischen Adels Töne klingen, als wenn diese ganze Zeit an ihnen vorbeigegangen wäre.“44

Es war ein wesenhaft gewandeltes, neues Preußen, auf das Stresemann seine liberalen Hoffnungen projizierte: „Ja, sollen wir denn blind vorbeigehen an all der großen wirtschaftlichen Entwicklung, die seitdem vor sich gegangen ist, blind daran vorbeigehen, daß die Wirtschaftskräfte dieses Preußens heute ganz andere sind als die rein landwirtschaftlichen? Sollen wir denn daran vorbeigehen, daß nun diese große, mächtige Arbeiterbewegung eingesetzt hat, daß sie dank der Erziehung durch diesen Weltkrieg doch ein Fundament unseres Volkslebens gewesen ist, an dem zu rütteln heute bedeutet, diesen ganzen Staat mit in Gefahr zu bringen?“

Auf diese rhetorische Frage wusste Stresemann selbstredend sogleich eine konstitutionell-konkrete Antwort: „[…] das Volk liebt das Heer und vergöttert seine siegreichen Heerführer, will aber nichts von militärischem Absolutismus wissen“.45 43  Ebd.,

2852 [Hervorhebung im Original]. 2852. 45  Ebd., 2853. 44  Ebd.,

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II. Deutscher Beruf oder preußischer Beruf? Auseinandersetzungen um den Staat der Hohenzollern Eine eingehende Untersuchung dieser Versuche, Preußen neu zu definieren, steht noch aus. Sie dürfte sich lohnen, auch deshalb, weil sich gerade nach dem erschütternden Ende des Ersten Weltkrieges die außenmit der innenpolitischen Dimension verknüpfen ließ. Als der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer am 1.  Februar  1919 in Köln eine Ansprache vor linksrheinischen Abgeordneten zur Nationalversammlung und zur preußischen Landesversammlung sowie Oberbürgermeistern der besetzten rheinischen Städte hielt, machte er sich gerade Preußen-Vorstellungen der Entente zunutze. Diese Anleihen bei den Besatzungsmächten dienten der Begründung, weshalb just die damals diskutierte Schaffung einer im Reichsverband verbleibenden Rheinischen Republik kein separatistischer, sondern vielmehr ein patriotischer Akt sei  – Adenauer betrieb die Lösung des Rheinlandes vom Preußen, indem er sie als Notwendigkeit beschrieb, nicht länger dem negativen Preußenbild der Alliierten ausgeliefert zu sein. Dieses rhetorische Spiel war ein doppelbödiges, denn Adenauer machte keine besonderen Anstalten, das besagte Preußenbild der Alliierten als Fehlwahrnehmung zu widerlegen: „In der Auffassung unserer Gegner ist Preußen der böse Geist Europas, Preußen ist in ihren Augen der Hort des kulturfeindlichen, angriffslustigen Militarismus, Preußen ist dasjenige Land gewesen, das zu diesem Kriege getrieben hat  – ich betone nochmals, damit kein Mißverständnis entsteht, ich spreche aus dem Gedankengang unserer Gegner heraus  –, Preußen wurde nach ihrer Meinung von einer kriegslüsternen, gewissenlosen, militärischen Kaste und dem Junkertum beherrscht, und Preußen beherrschte Deutschland.“46

Tatsächlich hatte Adenauer ein gutes Gespür für die Öffentlichkeiten der Entente-Mächte, die er hier eben auch ansprach. In der Mantelnote, in der die Alliierten wenige Monate später auf die deutschen Proteste gegen die harten Bedingungen des Versailler Vertrags reagierten, betrieben sie just eine solche Schuldzuweisung. Sie machten weniger Deutschland als Preußen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich: „Während langer Jahre haben die Regierenden Deutschlands, getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt. Sie haben sich nicht mit dem wachsenden Gedeihen und Einfluß begnügt, nach welchem zu streben 46  Rede Konrad Adenauers. Versammlung der linksrheinischen Abgeordneten zur Nationalversammlung und zur preußischen Landesversammlung sowie der Oberbürgermeister der besetzten rheinischen Städte in Köln am 1. Februar 1919, in: Karl Dietrich Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1966, 212–234, 221.



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Deutschland berechtigt war, und welche alle übrigen Nationen bereit waren, ihm in der Gesellschaft der freien und gleichen Völker zuzugestehen. Sie haben getrachtet, sich dazu fähig zu machen, ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren, so wie sie ein unterjochtes Deutschland beherrschten und tyrannisierten.“47

Solche Vorbehalte nutzte Adenauer, um für eine Aufteilung des auch im geschlagenen Reich noch übermächtigen Preußen zu plädieren – in einer offenen, ja gefährlich offenen Situation: Während das von den Alliierten zumindest an strategisch bedeutsamen Punkten besetzte Rheinland eine Annexion durch Frankreich fürchtete und ihr durch eine Abspaltung von Preußen zu entkommen suchte, gab es in der Weimarer Nationalversammlung nicht wenige Stimmen, die eine Eingliederung Preußens (und der anderen, wesentlich kleineren Länder aus der Konkursmasse des Kaiserreichs) in einen unitarischen deutschen Staat befürworteten, die Sozialdemokraten zumal. Adenauer hingegen blieb einem Föderalismus verpflichtet, von dem er sich mildernde Wirkungen auf die Politik der Alliierten versprach: Mit einer „Westdeutschen Republik“ würde „die Beherrschung Deutschlands durch ein vom Geiste des Ostens, vom Militarismus beherrschtes Preußen unmöglich gemacht, der beherrschende Einfluß derjenigen Kreise, die bis zur Revolution Preußen und damit Deutschland beherrscht haben, wäre endgültig, auch für den Fall, daß sie sich von der Revolution wieder erholten, ausgeschaltet“.48

Adenauer, dem solches Agieren das lebenslang anhaftende Odium eines rheinischen Separatisten einbrachte, ging indes noch einen Schritt weiter. Alliierter Zuschreibungen eines preußischen Wesens bediente er sich zwar, bestritt aber letztlich eine preußische Eigenart überhaupt. Er löste die Annahme eines preußischen Wesens gänzlich auf, um das Rheinland aus einem ihm fremden Staatswesen herausführen zu können. Seine Argumentation zugunsten einer Zergliederung Preußens war einerseits auf das politische Übergewicht dieses Bundesstaates auch in einem verkleinerten Deutschen Reich bezogen, andererseits präsentierte sie sich nicht als ahistorisch, sondern vielmehr als historisch im höchsten Sinne. Dass ein derart großer Staat nicht harmonisch in eine föderale deutsche Republik einzugliedern sei, war längst nicht alles – Adenauer bestritt ein spezifisch preußisches Wesen, das es nach der Abdankung der Hohenzollern gar nicht mehr geben könne:

47  Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinland­ statut sowie Mantelnote und deutsche Ausführungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30.  August  1924 revidierten Fassung, Berlin 1924, 1 f. 48  Rede Konrad Adenauers (Anm. 46), 221 f.

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„Es kommt hinzu, daß das hauptsächlichste Band, das bisher Preußen zusammengehalten hat, die Dynastie, nicht mehr besteht. Preußen ist ein Staatswesen, das aus ganz verschiedenen Stämmen und Wirtschaftsgebieten besteht. Ostpreußen und Rheinland sind so verschieden wie Ostpreußen und Bayern.“49

Nicht wesentlich anders hörte sich an, was unterdessen der linksliberale Hugo Preuß artikulierte, und zwar in der offiziellen, vom Reichsamt des Innern – dem Preuß damals vorstand – herausgegebenen Verfassungsdenkschrift für die Weimarer Beratungen. Denn auch Preuß hob auf das Übergewicht Preußens im Reich ab, das seiner Ansicht nach nur durch einen unitarischen Staat aufzuheben war; er sah in Preußen vor allem einen Machtstaat, den niemand auszutarieren vermochte hatte. „Die Bismarcksche Reichsverfassung war aus der auswärtigen Politik Preußens hervorgegangen und hat die Kennzeichen dieses Ursprungs trotz aller inzwischen vollzogenen Wandlungen niemals abstreifen können“, 50

argumentierte Preuß und bestritt nicht allein Preußen, sondern letztlich allen deutschen Bundesstaaten ein eigenes Wesen: „Es gibt so wenig eine preußische oder bayerische, wie eine lippische oder reußische Nation; es gibt nur eine deutsche Nation, die sich in der deutschen demokratischen Republik ihre politische Lebensform gestalten soll.“51

Preuß schlug gewissermaßen den Historismus der Gründerzeit mit dessen eigenen Waffen. Preußen ebenso wie alle anderen Einzelstaaten besaßen seiner Meinung nach kein Eigenwesen, sie seien „samt und sonders lediglich Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik, die fast überall die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stämme willkürlich durchschneiden, Zusammengehöriges trennen und Unzusammenhängendes verbinden.“52

Preuß suchte gar die kleindeutsche Reichseinigung rückgängig zu machen, indem er für eine Integration Deutschösterreichs plädierte.53 Das immerhin war konsensfähig, die Weimarer Verfassung beinhaltete tatsächlich eine durch die Pariser Vorortverträge unwirksam gemachte Klausel über die Integration (Artikel 61), nachdem das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich vom 12. November 1919 Deutschösterreich als „Bestandteil der Deutschen Republik“ definiert hatte. Auch den rheinischen Rand versuchte Preuß an einen neuen Zentralstaat zu binden, indem er die Auflösung Preußens und die Demokratisierung Deutschlands für identisch erklärte: 49  Ebd.,

220. Preuß,] Entwurf der künftigen Reichsverfassung (allgemeiner Teil) herausgegeben im Auftrage des Reichsamts des Innern, Berlin [1919], 3. 51  Ebd., 6. 52  Ebd., 8. 53  Ebd., 14. 50  [Hugo



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„Daß der Zusammenhalt Preußens wesentlich auf seiner dynastisch obrigkeitlichen Struktur beruhte, zeigte sich sofort nach deren Zusammenbruch in dem starken Hervortreten separatistischer Neigungen“.54

Ähnlich wie Adenauer erblickte Preuß in den diversen Novemberrevolutionen die Gelegenheit, eine Staatsordnung aufzuheben, die ihm allein als historisch bedingt, unter neuen historischen Umständen mithin obsolet galt. Nutzen ließ sie sich allerdings nicht, die schiere Fortexistenz ­eines preußischen Staates sollte rasch eine am Ende auch von Preuß registrierte normative Kraft entfalten55  – allerdings mit einer doppelten föderalen Komponente in Preußen selbst: Die Hälfte der preußischen Mitglieder im Reichsrat der Weimarer Republik wurde von den preußischen Provinzen entsandt, die zudem auch den preußischen Staatsrat beschickten, als dessen Präsident zwischen 1932 und 1933 wiederum der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer amtierte. So bestanden am Ende des Weltkriegs mehrere Möglichkeiten, mit Preußen umzugehen. Ob man nun ein „preußisches“ Wesen postulierte oder auch nicht, ob man dieses preußische Wesen affirmativ oder pejorativ behandelte – in einer Spannung stand es so oder so, nämlich in seiner schwierigen Abgrenzung zu einem „deutschen“ Wesen: Teil der chronisch problematischen Frage, „was schon, was im Kern und was noch ‚preußische‘ Geschichte sei“56. Dieses Problem hatte schon Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts bewegt, in dem ein „deutscher“ Nationalismus bereits einen „preußischen“ überwölbte (und bis heute überwölbt, jedenfalls insofern, als die Forschung den schließlich hegemonialen deutschen Nationalismus ungleich intensiver erforscht hat als den verdrängten preußischen). Insbesondere Friedrich der Große inszenierte sich mindestens so sehr als eigentlicher Wahrer des Alten Reiches wie als preußischer König, gipfelnd in der Gründung des Fürstenbundes im Jahre 1785, der Kaiser Joseph II. gerade vorwarf, sich primär um seine Hausmacht und erst sekundär um das Reich zu kümmern. Friedrich Wilhelm II. setzte diese Politik fort, ­etwa indem er Preußen im Lütticher Aufstand als großen Mediator jenseits einer für unzureichend befundenen Reichsverfassung in Stellung brachte,57 letztlich also in einer Rolle, die von alters her am ehesten dem Kaiser zustand. Friedrich Wilhelm  III. sodann inszenierte die „Befreiungskriege“ als preußisches Engagement für die deutsche Na-

54  Ebd.,

12. Preußen von 1918 bis 1947 (Anm. 9), 196. 56  Büsch, Aspekte des Preußenbildes und ihre Rezeption (Anm. 5), 35 [Hervorhebungen im Original]. 57  Simon Reuter, Revolution und Reaktion im Reich. Die Intervention im Hochstift Lüttich 1789–1791, Münster 2019, 415. 55  Möller,

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tion, Friedrich Wilhelm IV. postulierte bekanntlich in der Revolution von 1848, Preußen gehe fortan in Deutschland auf. Daraus ergab sich eine große borussische Geschichtserzählung, der zufolge sich der preußische Staat für die Entstehung eines deutschen Natio­ nalstaates geopfert habe: das Narrativ vom „deutschen Beruf“  – das in diversen Varianten bestand,58 schließlich pflegten neben den Hohenzollern im frühen 19. Jahrhundert auch Habsburger, Wittelsbacher, Wettiner und Württemberger einen innerdeutschen Führungsanspruch zu erheben. Mit der Reichsgründung war diese Debatte vorläufig beendet, doch mit der Auflösung des Kaiserreiches am Ende des Ersten Weltkriegs begann sie neu – nunmehr losgelöst von den allerorten von der Macht vertriebenen Dynastien. Gerade die intensiven konstitutionellen Diskussionen von der Entstehung der Weimarer Verfassung bis zur ihrer großangelegten Überprüfung in den anschließenden Reformbemühungen kreisten immer wieder um die Frage nach einer Eigentümlichkeit Preußens und seiner historischen Mission: ob Preußen nur protodeutsch sei, eine Vorstufe des Deutschen, oder aber ein Prototypus eigener Art und eigenen Rechts, wurde in den Zwanziger Jahren vielfach diskutiert. Auf welche Weise, war untrennbar an spezifische Interessen gebunden. Wenigstens zwei Momente gab es, an denen die staatliche Zukunft Preußens grundsätzlich in Frage gestellt wurde: einerseits unmittelbar nach der Novemberrevolution, denn insbesondere die Linke arbeitete seit ­langem auf einen Einheitsstaat hin. Er bot die Gelegenheit, die Fundamente dynastischer Fürstenherrschaft endlich zu sprengen. Karl Liebknecht erklärte nicht umsonst die „Beseitigung des preußischen Partikularismus“ zu einer zentralen demokratischen Aufgabe.59 Doch insbesondere die ­Sozialdemokraten erkannten rasch, dass sie ihre Macht gerade in den ­ eigentlich zur Auflösung vorgesehenen Bundesstaaten trefflich konsolidieren konnten, weitergehende Pläne ließen sie noch im November des Jahres 1918 fallen. Mit den diversen Kontinuitätserlassen seit dem 12. November 1918 wurde aus der preußischen Monarchie ein „Freistaat“, aus dem „Rat der Volksbeauftragten“ prompt die „Preußische Regierung“.60 Auch Hugo Preuß, der Vater der Weimarer Verfassung, hätte den deutschen Föderalismus am liebsten beendet. Indes kam es nicht zur Auflösung alter Bundesstaaten, sondern vielmehr zur Gründung neuer – Thüringen namentlich entstand aus sechs kleineren Freistaaten, während der 58  Mirow,

Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild (Anm. 10), 55–59. Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt am Main 1981, 225. 60  Möller, Preußen von 1918 bis 1947 (Anm. 9), 179. 59  Hagen



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Freistaat Coburg in den bayerischen integriert wurde. Die Weltwirtschaftskrise schuf eine neue konstitutionelle Dynamik: Der schon zuvor finanziell kaum überlebensfähige verbliebene Freistaat Waldeck wurde im Jahre 1929 ein Teil des preußischen Freistaates. Der preußische Ministerpräsident Otto Braun hatte schon im Februar des Jahres 1927 in einem Vortrag vor sozialdemokratischen Studenten in Berlin weitere Eingliederungen erwartet, ja erhofft, vor allem aus ökonomischen Gründen; er rechnete vor, dass man sich in der Krise „eine so unrationelle Staatswirtschaft“ wie die föderale, deren immense Kosten er tabellenförmig auflistete, keineswegs leisten könne, schon gar nicht,61 wenn sich die anderen Länder als Kostgänger des Braun zufolge im Bundesstaat unterrepräsentierten preußischen Volkes gerierten. Tatsächlich hatte ein starkes Preußen im Gesamtstaat immer wieder für die schwächeren Länder einzustehen,62 mithin Braun gute Gründe, ein starkes Preußen zu fordern, weil „Deutschland nie aus der elenden Kleinstaaterei und der sich daraus ergebenden wirtschafts- und machtpolitischen Ohnmacht des vorigen Jahrhunderts herausgekommen wäre, ohne die Entwicklung Preußens zum Großstaat“.63 Preußen zunächst zu erhalten, galt Braun als schiere Frage praktischer Staatsraison, doch die Gelegenheit für eine grundlegende Revision der föderalen Ordnung schien günstig. Braun plädierte für eine dauerhafte Neugliederung des Reiches ohne Länder, in der zentralen Annahme, „daß in dem großen Einheitsstaat Preußen, der in seiner landsmannschaft­ lichen, wirtschaftlichen und kulturellen Struktur die größten, sich allerdings glücklich ergänzenden Verschiedenheiten aufweist, alle diese Probleme, die von den Föderalisten in den Vordergrund gerückt werden, ausgezeichnet gelöst sind. Überhaupt kann ich nicht zugestehen, daß zwischen der Bevölkerung der einzelnen deutschen Länder so überaus große landsmannschaftliche und kulturelle Verschiedenheiten bestehen.“64

Von einer preußischen Identität, gar von einem preußischen „Wesen“ ging Braun aber ebensowenig aus wie viele andere. Am Ende der 1920er Jahre wurde bereits eine Personalunion von preußischen und Reichsministern diskutiert, unter anderem vom Historiker Friedrich Meinecke. Im Jahre 1930 bot Reichskanzler Brüning dem preußischen Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff ganz konkret an, zugleich das preußische Finanzministerium zu leiten wie dasjenige des Reiches, und machte später 61  Otto

Braun, Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem?, Berlin 1927, 29. Möller, Das demokratische Preußen, in: Das Preussenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions, hrsg. v. Otto Büsch, Berlin/New York 1981, 291. 63  Braun, Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem (Anm. 61), 9. 64  Ebd., 30. 62  Horst

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Carl Goerdeler die Offerte, zugleich als Reichssparkommissar wie als Ministerpräsident zu amtieren65. Gegenstimmen kamen aus Süddeutschland, wo man hinter der Idee eines deutschen Einheitsstaates naheliegenderweise den Versuch witterte, die Interessen der übermächtigen preußischen Bevölkerung durchzusetzen; gerade in den turbulenten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erhoben etwa so manche Bayern den Vorwurf, Preußen habe ihr Land erst in den Abgrund gezogen.66 Hier saßen die größten Preußen-Skeptiker, im 19. Jahrhundert wie auch in den späten 1920er Jahren, in denen die Verfassungsordnung der Weimarer Republik noch einmal verhandelt wurde67  – mit höchst unterschiedlichen Interessen, zu denen bei manchen auch gehörte, im Zuge einer umfassenden Reichsreform die parlamentarische Regierungsweise wieder aufzuheben: „Nur eine solche wechselnden Parteimehrheiten unabhängige [sic!] Regierung wird imstande sein, die im Anfang besonders schwierigen Aufgaben der zusammengefaßten Reichs- und preußischen Staatsgewalt zu erfüllen“,

argumentierte beispielsweise der damalige Greifswalder Landgerichtsrat und Privatdozent Heinrich Herrfahrdt.68 Die sogenannte Länderkonferenz richtete im Januar des Jahres 1928 einen eigenen Verfassungsausschuss ein, beschickt von je zehn Vertretern der Reichsregierung und der Landesregierungen – den die preußische Regierung symbolisch degradierte, indem sie nur einen Ministerialbeamten zu den Sitzungen dieses Gremiums schickte. Aus Sicht der kleineren Länder stellte diese Maßnahme nur einen weiteren Beweis jener Arroganz der Macht dar, deretwegen man ernsthaft über eine Aufteilung Preußens nachdenken müsse. Der bayerische Ministerpräsident Heinrich Held sah sich in einer Sitzung der Länderkonferenz vom 18.  November 1929 veranlasst, vor einer preußischen Hegemonie zu warnen; eine solche drohte seiner Einschätzung nach, wenn man Vorschläge zur Umwandlung der Weimarer Republik in einen Einheitsstaat nicht zurückwies. In der anhebenden Weltwirtschaftskrise war es schließlich höchst überzeugungsträchtig, Effizienzvorteile eines Zentralstaates ohne kostspielige föderale Institutionen herauszustellen. Dem setzte Held einiges entgegen 65  Ludwig Biewer, Einleitung, in: Preußen in der Weimarer Republik. Eine Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1982, 9–30, 24–26. 66  Frevert, Der preußische Militärstaat und seine Feinde (Anm. 26), 25 f. 67  Dazu grundlegend: Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. ­Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919–1930, Berlin 1963. 68  Heinrich Herrfahrdt, Reich und Preußen. Vorschläge zur Verfassungsreform, Greifswald 1928, 6.



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und attackierte die preußische Regierung frontal, die „in diesem Augenblick nicht durch seinen Ministerpräsidenten selbst hier vertreten ist“, anders als die anderen neun Länder.69 Schließlich stand die Zukunft Preußens und Deutschlands zur Debatte, aus Helds Sicht gleichwohl keineswegs eine Auflösung der Länder. Aus seiner Sicht war Preußens vielbeschworene „historische Mission“ letztlich „in erster Linie eine preußische Mission. Nicht daß der deutsche Gedanke gefehlt hätte. Aber das primäre war der preußische Gedanke. Zweimal brach der Gedanke einer deutschen Mission stark hervor, zum erstenmal in den Jahren der Befreiungskriege, getragen von Männern des Geistes und von Staatsmännern wie dem Reichsfreiherrn vom Stein, Hardenberg, Scharnhorst u. a., die übrigens keine Preußen von Geburt waren.“70

Das zweite Exempel erblickte der bayerische Ministerpräsident in der Revolution von 1848, mitnichten in der Gründung des Kaiserreichs. Nun witterte er die neuerliche Gefahr einer feindlichen Übernahme der deutschen Länder durch Preußen. Nicht zwischen Preußen und Reich vermutete er den eigentlichen Konflikt, sondern zwischen Föderalismus und Unitarismus. „So aber wird unter Führung maßgebender preußischer Kreise die Beseitigung des Dualismus, d. h. mit anderen Worten der Unitarismus, nicht nur im Verhältnis Preußen und Reich, also ‚isoliert für sich‘, sondern auch im Verhältnis zwischen dem Reich und den anderen deutschen Ländern gefordert.“71

Diese Warnungen kulminierten in Helds Horrorvision eines zentralisierten Einheitsstaates. Vor allem aber verknüpften sie eine normative mit einer deskriptiven Skepsis: eine negative Bewertung Preußens mit der Frage, ob es so etwas wie Preußen überhaupt gegeben habe respektive noch gebe respektive, was das „wahre“ Preußen ausmache. Antworten darauf gaben unterdessen nicht nur Politik oder Geschichtsschreibung, sondern auch Belletristik und Film: Selbst die berühmten „Fridericus Rex“-Verfilmungen mit dem Hauptdarsteller Otto Gebühr setzten sich auf ihre Weise damit auseinander. Ohne die Hohenzollern, deren Reta­ blierung schwer denkbar war, ließ sich Preußen nunmehr anders denken als noch in Otto Hintzes großer Darstellung aus der Vorkriegszeit. Zum Jubiläum der Herrschaftsübernahme in der Mark Brandenburg war im Jahre 1915 „Die Hohenzollern und ihr Werk: Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte“ erschienen. Der bereits tobende Weltkrieg hinter69  Heinrich Held, Das preußisch-deutsche Problem. Erklärungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Heinrich Held. Sitzung des Unterausschusses II der Länderkonferenz vom 18. November 1929, München/Berlin/Leipzig 1929, 5. 70  Held, Das preußisch-deutsche Problem (Anm. 69), 10 [Hervorhebung im Original]. 71  Ebd., 26.

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ließ in der Rahmung des Buches bereits Spuren, Hintze bezog sich affirmativ auf die „politische Eigenart unseres Volkes, die straffe militärisch-monarchische Zucht, die Preußen und Deutschland allein befähigt hat, in der Mitte des europäischen Festlandes, umdrängt von starken und oft mißgünstigen Nachbarn, sich ein selbständiges Dasein zu erringen und dem deutschen Namen Achtung in der Welt zu verschaffen“.72

Freilich täuschten die Wucht dieser Formulierung und der offiziöse Charakter des Werkes darüber hinweg, dass Hintze im eigentlichen Text wesentlich differenzierter argumentierte. Je weiter er in die Vergangenheit zurückblickte, desto schwerer fiel es ihm, überhaupt eine historische Kontinuität der Staatlichkeit zu entdecken: „Die Mark Brandenburg kann zwar als das eigentliche Kernland der hohenzollerischen Staatsbildung betrachtet werden, und in mancher Hinsicht kann man ihr dabei das alte preußische Ordensland an die Seite stellen; aber nicht aus der Natur dieser Landschaften und ihrer Bewohner entsprang jener Ausdehnungstrieb, der den preußischen Staat geschaffen hat, sondern aus dem dynastischen Ehrgeiz des Fürstenhauses“.73

Der Dreißigjährige Krieg wurde in Hintzes Darstellung zum großen Wendepunkt auf dem Weg zu einem preußischen Staat im engeren Sinne. Er sei „für das Haus Brandenburg die große Schule geworden, in der es den Wert und die Unentbehrlichkeit der politischen Macht für alle Zwecke des öffentlichen Lebens kennen und schätzen gelernt hat. Und es hat in dieser Schule zugleich auch das Hauptmittel kennen gelernt, das nach der damaligen Weltlage allein tauglich war, zu solcher Macht den Weg zu bahnen: den miles perpetuus, das stehende Heer.“74

Folgerichtig verdiente der Soldatenkönig fortan Hintzes besondere Aufmerksamkeit, machte er doch die Armee „vollends zum Rückgrat der ganzen Staatsverwaltung, die auf das militärische Bedürfnis zugeschnitten und von militärischem Geist erfüllt war“.75 So erschien Friedrich Wilhelm I. als „der eigentliche Begründer der altpreußischen Staatsordnung mit ihrer straffen Zucht und ihrer einseitigen, aber großartigen Richtung auf das, was als Grundlage militärisch-politischer Macht dienen kann.“76

72  Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 1915, VI. 73  Ebd., 1. 74  Ebd., 203. 75  Ebd., 287. 76  Ebd., 317.



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Denn Hintzes Preußen begann eigentlich erst im 18. Jahrhundert, noch den Großen Kurfürsten empfand der Historiker als schwachen Herrscher, eingehegt von mächtigen Ständen in disparaten Territorien. „Aber der Wille zur Macht, den er seinem Staate eingepflanzt hat, und die Werkzeuge zur Verwirklichung dieser Machtbestrebungen, Heer und Finanzverwaltung, drängte zur einheitlichen Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel, die in den einzelnen Landen vorhanden waren. Aus diesem Streben nach einer machtvollen staatlichen Einheit ist in Brandenburg-Preußen der Absolutismus hervorgegangen.77

Dass unter solchen Vorzeichen sodann Friedrich Wilhelm I. in Hintzes Argumentation besondere Berücksichtigung fand, kann nicht überraschen. Der Soldatenkönig wurde sein Heros: „Seine Gewissenhaftigkeit, sein Pflichtgefühl, sein unbestechlicher Wirklichkeitssinn, sein Hang zum Soliden und Tüchtigen, seine Verachtung von Prunk und Schein haben den Charakter des Staatswesens, das er geschaffen hat, auf das nachhaltigste beeinflußt; und der echt preußische Grundsatz, daß jeder alle Kräfte zusammennehmen müsse, um seine ‚verfluchte Pflicht und Schuldigkeit‘ zu tun, geht auf diesen rauhen, aber von gesunden Instinkten geleiteten Volkserzieher zurück.“78

Gleichwohl dachte Hintze, dessen Betrachtungsweise vornehmlich an Strukturen orientiert war, Preußen als etwas historisch Gewordenes, seine Tugenden nicht etwa essentialistisch. Als künstliches Gebilde stellte er diesen Staat heraus, als Werkzeug seiner Herrscher; noch Friedrich Wilhelm  III. präsentierte Hintze als einen preußischen Partikularisten  – er „urteilte ausschließlich nach dem preußischen Gesichtspunkt, und dieser verband sich bei ihm, wie es natürlich war, mit dynastischen Interessen seines Hauses“.79 In dieser Hinsicht ähnlich las sich, was Otto Hintze einst in Gustav Schmollers Vorlesungen notiert hatte. Just aus seiner Mitschrift war ja die „Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte“ entstan­ den,80 die Karl Rathgen im Jahre 1921 neu auflegte, der Schwager des im Jahre 1917 verstorbenen Schmoller. Rathgen hoffte in seinem Vorwort, „daß unsere Jugend an dem Rückblick sich im Glauben auf eine bessere Zukunft stärke, die nur auf hingebender Pflichttreue und sachlicher Arbeit be77  Ebd., 203. An anderer Stelle schob Hintze den Hinweis ein, man dürfe „nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß der Große Kurfürst schon in der Idee eines modernen Einheitsstaates gelebt habe; sonst würde die Folgerung kaum abzuweisen sein, daß er mit diesen Bestimmungen sein eigenes Lebenswerk, die Staatseinheit, wieder zerstört habe“. – Ebd., 251. 78  Ebd., 317. 79  Ebd., 467. 80  Gustav Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte, Berlin 1921, 6.

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ruhen kann. Über die äußeren Formen, die vergänglich sind, hinweg muß unser Blick auf das Bleibende, auf den Geist altpreußischer, nüchterner, harter Arbeit gerichtet bleiben“.81

Auch diese zeitbedingte Eröffnung passte nicht recht zum eigentlichen Text, das Postulat eines preußischen Wesens löste die Darstellung schließlich kaum ein. Schmoller erzählte nun eine bemerkenswert un-hagiographische Niedergangsgeschichte bis zur Reformation,82 ehe er den Großen Kurfürsten und vor allem Friedrich Wilhelm I. als dynamische Modernisierer würdigte: „Er schuf aus dem Konglomerat von Provinzen und lokalen Korporationen einen durchaus modernen, rationalistischen Beamten- und Militärstaat; er gab dem Preußischen Staat ein in sich befestigtes Dasein, ein eigenartiges Gepräge; er schuf eine absolute Staatsgewalt, eine Ausdehnung der Staatshoheitsrechte, wie sie in Deutschland noch nicht existiert hatte.“83

Freilich deutete auch Schmoller derlei als Machtpolitik, betrachtete er Preußen doch als Kunststaat unter einer fremden Dynastie, die ihrem neuen Territorium selbst lange fremd geblieben sei: „Es ist nicht verwunderlich, daß die Hohenzollern noch hundert Jahre, nachdem sie in die Mark gekommen, sich nach dem schönen Frankenlande zurückgesehnt haben und sich zum Teil  nicht einmal in Berlin begraben lassen wollten“.84

Von einem preußischen Wesen blieb hier wenig mehr übrig als nackte Strukturen der Machtpolitik, ähnlich wie bei Schmollers einstigem Hörer Felix Rachfahl. Der Historiker Rachfahl, als Schlesier immerhin ein gebürtiger Preuße, indes eben ein katholischer, hatte als Freiburger Ordinarius im Jahre 1919 einen kritischen Blick auf das gewonnen, was er gleichwohl als preußische Leistungen anerkannte. Er lobt die fast schon kanonisch gewordene Trias aus Großem Kurfürsten, Soldatenkönig und Friedrich dem Großen, denn „damals bildeten und bewährten sich zum ersten Male diejenigen Tugenden, die fortan die spezifisch-preußische Eigenart ausmachen sollte; die Anstrengung aller materiellen, geistigen und sittlichen Kräfte zur Rettung und Größe des Vaterlandes, die unverbrüchliche und alles aufopfernde Hingabe an das große Ganze, die altpreußische Zucht, Strenge und Ordnung, der Geist einer selbstlosen, scharfäugigen und umsichtigen, auf das Wohl ihrer Pflegebefoh­ 81  Karl Rathgen, Vorwort, in: Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungsund Finanzgeschichte, 5–6, 6. 82  Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte (Anm. 80), 27. 83  Ebd., 127. 84  Ebd., 14 f.



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lenen bedachten und unparteiischen Verwaltung, preußische Wehrkraft und Wehrhaftigkeit, preußische Staatsgesinnung und Staatstradition, gipfelnd in einem unvergleichlich stark ausgeprägten Staats- und Machtgefühl“.85

Den Hohenzollern schrieb Rachfahl mit den genannten „Tugenden“ durchaus große Verdienste zu: „Sie verstanden es, die inneren Verhältnisse des Landes zu befestigen, es zu einem der bestverwalteten Territorien Deutschlands zu machen“.86 Doch auf den von vielen anderen bemühten Zweck einer deutschen Mission bezog er die Herrscher keineswegs, sondern auf eine „ganz robuste Machtpolitik, die von egoistisch-dynastischen Gesichtspunkten getragen war.“87 Einerseits erzählte der Freiburger Geschichtsprofessor eine Erfolgsgeschichte: „Nicht Preußen war (das war das Endergebnis des Einheitsprozesses) in Deutschland aufgegangen; sondern Preußen hatte Deutschland an sich herangezogen. Gerade deshalb schien diese Lösung eine so überaus glückliche, weil sie, wie man meinte, die Gewähr dafür bot, daß die großen Tugenden, denen Preußen sein Emporsteigen von der Stufe einer deutschen Macht zum Gipfel der deutschen Macht schlechthin verdankte, wie wir schon früher aufzählten, altpreußisches Staats- und Machtgefühl, altpreußische Wehrkraft und Wehrhaftigkeit, die bedingungslose, aufopfernde und uneigennützige Hingabe und Unterordnung, der selbstverständliche Respekt vor der Autorität, dem neuen Reiche mitgeteilt, fest in ihm verankert und für alle Zukunft nutzbar gemacht werden könnte“.88

Andererseits: „Der Bogen ward überspannt“, urteilte Rachfahl pointiert. „Die ehrwürdigen althergebrachten Begriffe von Treue, Pflicht, Arbeit und Zucht gerieten in’s Wanken“.89 Ohnehin hatte Preußen mit der Reichsgründung anscheinend seine Schuldigkeit getan, Preußen konnte nunmehr gehen, wie Rachfahls pointierte Suggestivfrage nahelegte: „Lebt jetzt in den großen Massen überhaupt noch ein spezifisch preußisches Staatsgefühl? Und insoweit es noch vorhanden ist, ist es jetzt untrennbar mit dem deutschen Nationalgefühl verschmolzen, stellt es sich höchstens als eine besonders gefärbte Nuance eben dieser Empfindung dar: Preußisches und deutsches Wesen sind jetzt eins geworden.“90

Solche historiographische Publizistik war höchst politisch, die Politik umgekehrt höchst geschichtsbewusst. Nach der Osterbotschaft hatte Ernst von Heydebrand, Vorsitzender der deutsch-konservativen Fraktion, dem Reichskanzler und zugleich preußischen Ministerpräsidenten Beth85  Felix

Rachfahl, Preußen und Deutschland, Tübingen 1919, 15. 9. 87  Ebd., 11. 88  Ebd., 23. 89  Ebd., 24. 90  Ebd., 42. 86  Ebd.,

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mann Hollweg in einer Debatte im Preußischen Abgeordnetenhaus vorgeworfen, seine eigenen Vorsätze und vor allem Preußen selbst zu verraten: „[…] wenn es auf dem Wege weitergeht, dann dauert es nicht lange, dann haben wir den deutschen Einheitsstaat, dann gibt es kein Preußen mehr, dann gibt es keine moralische Gewalt mehr, dann gibt es am letzten Ende die Republik“91

Das war beileibe keine Einzelmeinung. Nach der Konkretisierung der Osterbotschaft durch einen Erlass zur Wahlrechtsreform erklärte die Konservative Partei in ihrem Organ, der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), kurzerhand: „Das gleiche Wahlrecht entspricht nicht der Eigenart und der historischen Vergangenheit des preußischen Staates und nicht den der preußischen Gesetzgebung vorbehaltenen gesetzgeberischen und sonstigen Aufgaben. Es ist vielmehr geeignet, das feste Gefüge Preußens zu erschüttern und auch diesen Staat der völligen Demokratisierung auszuliefern.“92

Schon die Ernennung eines Bayern zum Reichskanzler, nämlich Graf Hertlings, veranlasste Heydebrand später zum Ausruf, er fühle sich „als Preuße verraten und verkauft“,93 und noch im Frühjahr 1918 sollte er flammende Reden gegen eine Beteiligung der Volksmassen an der Politik vortragen, um so die preußische Monarchie zu erhalten.94 III. Die Erfindung der preußischen Tugenden: Die Transformation alter Ideale in neue Ordnungen Die „moralische Gewalt“, an die Heydebrand appellierte, ließ sich getrost von der Monarchie lösen – und überhaupt von der preußischen Geschichte. Gegen einen auch in vielen politischen Debatten spürbaren Historismus in seinen verschiedenen Facetten, die oftmals einen Übergang des Preußischen ins Deutsche zeigen sollten, wandten sich indes andere Zeitgenossen. Zwei von ihnen gewannen besondere Wirkungsmacht: Arthur Moeller van den Bruck und Oswald Spengler, deren radikale Ge91  Auszug aus einer Rede Heydebrands im Preußischen Abgeordnetenhaus am 17. Mai 1917, in: Ursachen und Folgen (Anm. 38), 322. 92  Erklärung der Konservativen Partei in der Kreuzzeitung, 12.  Juli  1917, in: Ursachen und Folgen (Anm. 38), 325. 93  Zitiert nach: Siegfried Heimann, Der Preußische Landtag 1899–1947. Eine politische Geschichte, Berlin 2011. 94  Sven Oliver Müller, Die umkämpfte Nation. Legitimationsprobleme im kriegführenden Kaiserreich, in: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960, hrsg. v. Jörg Echternkamp/Sven Oliver Müller, München 2002, 149–172, 168.



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generzählungen Preußen als eigenen, keineswegs in Deutschland aufgehenden Prototyp darstellten  – durchaus mit historischen Argumenten, aber in einem ahistorischen Sinne. Die Jungkonservativen insbesondere konstruierten ein abstraktes „Preußentum“,95 für das Traditionslinien bedeutsam, aber eben keineswegs konstitutiv waren. Denn sie verstanden Preußentum als eine Frage weniger der Herkunft als vielmehr der Haltung, als eine Seinsart – aus Tugenden, die sie nunmehr systematisch als preußische apostrophierten. So hielt denn auch Hans Schwarz, der im Jahre 1931 eine Neuauflage von Moller van den Brucks erstmals im Jahre 1916 erschienenem „Der preußische Stil“ besorgte, in seinem Vorwort fest: „Preußen war beinahe geschichtslos entstanden“.96 Geschichte bedrohte den „preußischen Stil“ vielmehr, wie Moeller van den Bruck argumentierte. Im Kaiserreich habe sich dieser verloren – einerseits. Andererseits schöpfte Moeller van den Bruck mitten im Weltkrieg geraume Hoffnung aus der Annahme, dass er sich wiederfinden lasse: „Gleichwohl bleibt auch jetzt noch Preußen der Staat, Preußen das Land, Preußen das Volkstum. Es ist aus Deutschland nicht wegzudenken, und was unverlierbar an Preußen ist, die besonderen Tugenden und Fähigkeiten, die mit seinem Namen verbunden sind, der Ernst, die Umsicht, die Willigkeit seiner Menschen, samt jener größten der Aufopferungsfähigkeit  – dies alles gehört freilich längst den übrigen deutschen Stämmen mit an“.97

Tagesaktualität klang durch, nur folgerichtigerweise, war der Autor doch in der Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung tätig, genauer in der Pressestelle des Auswärtigen Amtes, in der auch andere Jungkonservative deutsche Propaganda gestalteten. Die „Ideen von 1914“ grundierten Moeller van den Brucks idealisiertes Borussentum, das den Sieg im Weltkrieg bewirken sollte: „Das Preußentum war der Geist, der in Deutschland die Schwärmerei durch den Willen, den Schein durch die Sache und Sachlichkeit ablöste und unter uns wieder die Sendung zur Tat übernahm. Dieses Preußentum, das nicht Vernünftigkeit, sondern Klarheit wollte, erhob zum ersten Male den Dualismus zum System und zur Praxis in Einem und lehrte uns denken und handeln zugleich“.98

Moeller van den Brucks Preußen, das er mit einem spezifischen Architekturstil identifizierte, war freilich keineswegs bloß historisch zu fassen, schon gar nicht als Vorstufe eines deutschen Wesens – ganz im Gegenteil: 95  Mirow,

Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild (Anm. 10), 152. Schwarz, Vorwort, in: Arthur Moeller van den Bruck, Der Preußische Stil. Mit einem Vorwort von Hans Schwarz, Neue Fassung, Breslau 1931, 7–12, 8. 97  Moeller van den Bruck, Der Preußische Stil (Anm. 96), 200. 98  Ebd., 21. 96  Hans

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„Preußentum ist ein Prinzip in der Welt. […] Ganz Grundsatz dagegen war Preußen: mit den Entschiedenheiten einer Lebensauffassung, die wir bis dahin in Deutschland nicht besessen hatten.“

Solches Preußentum verkörperte aus dieser Warte keineswegs das Deutsche schlechthin, sondern unterschied sich gerade wesentlich von ihm: „Dazu mußte das Preußentum auf dem kolonialen Boden, auf den es von den deutschen Volksstämmen gestellt wurde, sich gerade von dem Deutschesten scheiden, von Sehnsucht und Versonnenheit, von Verschwendung und Träumerei, aber auch von dem sicheren Heimatsgefühle eines gesetzten Lebens.“99

Als spezifisch preußisch galt Moeller van den Bruck namentlich die Absonderung von allem Romantischen, das andere gerne als deutsches Spezifikum schilderten, die Fundierung in der materiellen Wirklichkeit: „Durch das Preußische bestätigten wir, daß es noch Männer unter uns gab, die willens waren, sich in das Leben tätig einzustellen und Werke und Werte des Wirklichen auf sich zu nehmen.“100

Gleichwohl war diese aktionistische Deutung keineswegs eine isolierte, keine ex­klusive Domäne der Jungkonservativen. Der Nationalbolschewist Ernst Niekisch setzte das Preußentum noch am Anfang der 1930er Jahre in einen welthistorischen Gegensatz zu westlichen Überzeugungen, indem er Preußentum als dienende, sich selbst gegenüber unbarmherzige Haltung entwarf.101 Solche Gedanken hatten auch Arthur Moeller van den Bruck bewegt, Zisterzienser und Deutschritter als exemplarische Vorbilder bestimmend: „Strenge der Organisation war Wesen des Preußentums. Strenge Organisa­ toren gaben dem Preußischen schon früh die Form und die Farbe, die es vom Deutschen unterschieden“.102

Was Moeller van den Bruck hier umriss, bedeutete nicht weniger als die Erfindung preußischer Tugenden – jedenfalls insofern, als er sie nicht vom Charakter einzelner Herrschergestalten ableitete, sondern sie zum Wesen des Preußischen schlechthin machte: „Preußentum: das ist der Wille zum Staate, und die Erkenntnis des geschichtlichen Lebens als eines politischen Lebens, in dem wir als politische Menschen handeln müssen. Preußen muß sein.“103

99  Ebd.,

15 f. 16. 101  Hans Buchheim, Ernst Niekischs Ideologie des Widerstands, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5 (1957), 334–361, 348 f. 102  Moeller van den Bruck, Der Preußische Stil (Anm. 96), 17. 103  Ebd., 202. 100  Ebd.,



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Einen ähnlichen Denkweg schlug auch Oswald Spengler ein, als er aus seinem „Untergang des Abendlandes“ ein Nebenprodukt gewann: nämlich sein provokatives Buch „Preußentum und Sozialismus“, erschienen im Jahre 1919. Dieser Traktat, den auch Arthur Moeller van den Bruck in seinem „Das Recht der jungen Völker“ rezipierte,104 löste Preußen ebenfalls von den Hohenzollern. Spenglers „sozialistische Revolution“ war allerdings nicht diejenige des Kriegsendes, die er als Niedergang „zu einer Reihe schmutziger Lohnerpressungen ohne Gegenleistung“ deutete,105 sondern diejenige des Kriegsbeginns, nicht der Novembertumult des Jahres 1918, sondern das Augusterlebnis des Jahres 1914: „Sie vollzog sich in legitimen und militärischen Formen“.106 Aus Spenglers Sicht machte Preußentum mitnichten die Frage aus, ob man eine Pickelhaube trug, sondern bestand in einer Wertegemeinschaft: „Zur preußischen Art gehört es, daß der Einzelwille im Gesamtwillen aufgeht. Das Offizierskorps, das Beamtentum, die Arbeiterschaft Bebels, endlich ‚das‘ Volk von 1813, 1870, 1914 fühlen, wollen, handeln als überpersönliche Einheit.“107

So nahm sich Spengler die Versöhnung zweier vorgeblicher Gegensätze vor, eben Preußentum und Sozialismus: „Wir Deutsche sind Sozialisten, auch wenn niemals davon geredet worden wäre. Die andern können es gar nicht sein […] Altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem Hasse von Brüdern hassen, sind ein und dasselbe“.108

Diese Gedankenfigur war weitaus weniger verschroben, als sie heute scheinen mag; als H. G. Atkins noch mitten im Zweiten Weltkrieg Sa­muel D. Stirks Buch „The Prussian Spirit“ rezensierte, pflichtete er dem Autor ausdrücklich in der Annahme bei, dass die Übernahme des „Sozialismus“ durch die Nationalsozialisten „one of the elements of strength taken over from Prussianism“ darstelle.109 Preußentum und Sozialismus zu harmonisieren, fügte sich trefflich in die „Ideen von 1914“, standen bei Spengler „Preußentum und Sozialismus“ doch „gemeinsam gegen das innere England, gegen die Weltanschauung, welche unser ganzes Leben als Volk durchdringt, lähmt und entseelt. Die Gefahr ist 104  Volker Weiß, Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn 2012, 190. 105  Oswald Spengler, Preussentum und Sozialismus, München 1920, 13. 106  Ebd., 12. 107  Ebd., 37. 108  Ebd., 4. 109  H. G. Atkins, Rezension zu: The Prussian Spirit. A Survey of German Literature and Politics 1914–1940 by S. D. Stirk, in: The Modern Language Review 37 (1942), 399–401, 400.

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ungeheuer. Wehe denen, die in dieser Stunde aus Eigennutz und Unverstand fehlen! Sie werden andre und sich selbst verderben. Die Vereinigung bedeutet die Erfüllung des Hohenzollerngedankens und zugleich die Erlösung der Arbeiterschaft. Es gibt eine Rettung nur für beide oder keinen.“110

Dabei bestimmte Spengler die Unterordnung unter ein gemeinsames Ziel zum Proprium seines preußischen Sozialismus. Er eignete sich in besonderer Weise, um Merkmale des borussischen Wesens abzuleiten: „Die deutsche Revolution aber ist aus einer Theorie hervorgegangen. Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt.“111

Doch Spengler nutzte diese historische Deutung, um sein Preußen vielmehr zu enthistorisieren. Er formte es zu einem normativen Ideal, das letztlich gar keiner Zugehörigkeit zu einem preußischen Staatswesen mehr bedurfte: „Preußen ist ein Lebensgefühl, ein Instinkt, ein Nichtanderskönnen; es ist ein Inbegriff von seelischen, geistigen und deshalb zuletzt doch auch leiblichen Eigenschaften […]. Es gibt echt preußische Naturen überall in Deutschland  – ich denke da an Friedrich List, an Hegel, an manchen großen Ingenieur, Organisator, Erfinder, Gelehrten, vor allem auch an einen Typus des deutschen Arbeiters – und es gibt seit Roßbach und Leuthen unzählige Deutsche, die tief in ihrer Seele ein Stückchen Preußentum besitzen, eine stets bereite Möglichkeit, die sich in großen Augenblicken der Geschichte plötzlich meldet.“112

Daraus folgte die besondere Bedeutung, die Spengler dem „Dienst“ attestierte: „[…] hier liegt das Gewaltige im kaum bewußten Wirken der großen Hohenzollern, den Erben der ostmärkischen Ritteridee“.113 Preußentum wurde hier konturiert als spezifische Variante des Kollektivismus, den Spengler gegen den Individualismus des Westens geltend machte: „Statt dessen hat der preußische Stil das ebenso starke und tiefe Standesbewußtsein gezüchtet, ein Gemeingefühl nicht des Ruhens, sondern der Arbeit, die Klasse als Berufsgemeinschaft und zwar des Berufs mit dem Bewußtsein, für alle, für das Ganze, für den Staat wirksam zu sein: den Offizier, den Beamten, nicht zuletzt die Schöpfung Bebels, den klassenbewußten Arbeiter.“114

110  Spengler, Preussentum und Sozialismus (Anm. 105), 97 f. [Hervorhebungen im Original]. 111  Ebd., 15 [Hervorhebungen im Original]. 112  Ebd., 29 [Hervorhebungen im Original]. 113  Ebd., 40 f. 114  Ebd., 36 [Hervorhebungen im Original].



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Der Erste Weltkrieg half also, die vermeintlich alten preußischen Tugenden erst zu erfinden: präsentiert als Traditionen, die einem neu definierten preußischen „Wesen“ eingeschrieben wurden. Die vorgestellten und viele weitere Varianten, Preußen neu zu bestimmen und zu bewerten, verdienen weitaus mehr Raum, als dieser Essay einnehmen kann. Er soll eine andere Pointe setzen, nämlich diejenige, wie die eben vorgestellten „preußischen Tugenden“ vom rechten an den linken Rand des politischen Spektrums gelangten, wie insbesondere preußische Sozialdemokraten alles darauf setzten, dem politischen Gegner gar nicht erst zu gestatten, dieses normative Vokabular für sich zu vereinnahmen. Vielmehr stilisierten sie Preußen zum Hort der Demokratie, schlugen also bereits in der November­revolution des Jahres 1918 den kurzen Weg nach Weimar ein – er führte letztlich über eine rasche Umdeutung des Preußentums zum Ziel, als Konsensnarrativ, das eine breite Koalition tragen konnte. Denn spätestens, als das radikale Ziel der insbesondere auf der Linken erhofften Zerschlagung respektive Aufhebung Preußens nicht mehr zu verwirklichen schien, galt es nun, ein demokratisches Preußen zu legitimieren. Mit Disziplin, Ordnung, Gemeinsinn und anderen Tugenden ließ sich nach einem hierarchischen auch ein egalitäres Staatswesen begründen, so sehr, dass Preußen in den Zwanziger Jahren vielen politischen Akteuren gar als die stabilere Demokratie galt, verglichen mit der Weimarer. Gustav Stresemann bezeichnete Preußen gar als „Bollwerk der Demo­ kratie“,115 selbst die radikalen Publizisten der „Deutschen Zeitung“ am rechten Ende des politischen Spektrums zollten Preußen als „Bollwerk des Novembersystems“116 widerwilligen Respekt  – also ausgerechnet dem Staat, in dem es bis zum Kriegsende nicht gelungen war, die bereits im Jahre 1910 angekündigte Aufhebung des diskriminierenden Dreiklassenwahlrechts endlich umzusetzen. Diese Entwicklung war kurzfristig, sie ergab sich im politischen Tagesgeschehen nach der Abdankung des Kaisers und Königs. Folgerichtig war sie auf gewisse Weise durchaus: Im neuen Preußen regierten nun auf einmal diejenigen, die im alten systematisch von der Regierung ausgeschlossen worden waren  – eine Koalition aus Sozialdemokratie, Links­ liberalismus und Zentrum.117 Geradezu paradigmatischen Charakter hatte Otto Brauns Begründungsumkehr, warum man das zuvor als militärisch gebrandmarkte Preußen nun plötzlich nicht mehr von der politischen Landkarte nehmen dürfe: „Das Neue, das demokratische Preußen

115  Schulze,

Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung (Anm. 59), 446. 659. 117  Möller, Das demokratische Preußen (Anm. 62), 231–245, 234. 116  Ebd.,

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soll man nicht zerschlagen“,118 so lautete das machtpolitische Kalkül, wie Braun es am 23. Januar 1919 in der Sitzung des Zentralrats und der Preußischen Regierung vor der Wahl zur verfassungsgebenden Landesversammlung vortrug.119 Eine ganz ähnliche Diktion wählte wenig ­später der erste Ministerpräsident des preußischen Freistaats, der Sozialdemokrat Paul Hirsch, bei der Eröffnung der verfassungsgebenden Landesversammlung, am 26.  Januar  1919 nicht mehr nach dem Dreiklassenwahlrecht, sondern eben bereits nach gleichem Wahlrecht für Männer und Frauen gewählt, ebenso wie eine Woche zuvor die in Weimar tagende verfassungsgebende Nationalversammlung. In seiner Rede reklamierte Hirsch ein besonderes Preußen für den demokratischen Zweck: „Preußens Aufgaben sind noch nicht erfüllt. Auf den Geist der Freiheit, der Ordnung und der Arbeit gestützt, soll es noch einmal der deutschen Nation und ihrer künftigen friedlichen Größe dienen. Preußens beste Eigenschaften, Arbeitsamkeit und Pflichttreue, braucht auch das Deutsche Reich zum Wieder­ aufbau“.120

Als er am 25. März 1919 seine Regierungserklärung abgab, blieb Hirsch dieser Strategie treu. Er reklamierte das preußische Wesen für die Demokratie. Namentlich „Freiheit und Ordnung“ gleichermaßen galten ihm als Grundpfeiler, „auf denen sich das neue Preußen aufzubauen hat. Aus dem alten Preußen, das für alle Zeiten dahin ist, wollen wir in die Zukunft hinübernehmen das, was gut an ihm war: den schlichten Geist ernster Pflichterfüllung und den Geist der nüchternen Sachlichkeit“.121

Wie sehr die Berufung auf Ordnung, Disziplin und ähnliche „Tugenden“, die nunmehr als „preußische“ codiert waren, zu einem politischen Argumentationsstandard wurden, zeigte sich noch im Umfeld des „Preußenschlags“ vom 20.  Juli  1932. Berief sich Reichskanzler Franz von Papen bei seiner Entmachtung der preußischen Regierung darauf, dass selbige die öffentliche Ordnung nicht gewährleisten könne und deshalb der Reichspräsident von seinem Notverordnungsrecht gemäß Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung Gebrauch machen müsse, verstanden sich die preußischen Minister als Wahrer der preußischen Tugenden. Geradezu als Musterborusse agierte der preußische Innenminister Carl Severing (SPD), der sich bei der entscheidenden Besprechung am Morgen des 20.  Juli  1932 in der Reichskanzlei in Abwesenheit des depressiven Otto Braun in aller Entschiedenheit gegen Papens Attacke verwahrte. Die 118  Zitiert

nach: Möller, Das demokratische Preußen (Anm. 62), 194. Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung (Anm. 59), 254. 120  Zitiert nach: Heimann, Der Preußische Landtag 1899–1947 (Anm. 93), 179. 121  Zitiert nach: Möller, Das demokratische Preußen (Anm. 62), 207. 119  Schulze,



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Mitschrift des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt Heinrich Hirtsiefer (Zentrum) besagte: „Der Herr Preußische Innenminister erklärte ihm aber, alles Zureden habe keinen Zweck; es würde jetzt Weltgeschichte geschrieben in diesen Tagen, und da sollte es nicht heißen, daß ein republikanischer Minister mit dem Odium der Desertion seinen Posten verlassen habe. Er würde seinen Posten nur der Gewalt weichend verlassen. Ich selbst bat dann ums Wort und habe dem Herrn Reichskanzler gesagt, daß ich dieses ganze Vorgehen so unerhört fände, daß ich dafür in der Geschichte kein Beispiel wüßte“.122

Die Nationalsozialisten freilich, deren Wahlerfolg in den Landtagswahlen am 24.  April  1932 am Ende den Preußenschlag herbeigeführt hatte, hantierten mit dem Preußischen als einem „beliebig verwendbaren Versatzstück“, machten es am Ende des Krieges zu einem „Synonym für Durchhaltevermögen“.123 Zuvor indes reklamierten sie ein konsensfähiges Preußen für ihre Zwecke, so etwa der Berliner Gauleiter Joseph Goeb­ bels, der bezeichnenderweise vor den preußischen Landtagswahlen eine Broschüre mit dem Titel hatte drucken lassen: „Preußen muß wieder preußisch werden“. Ihr zufolge waren die Nationalsozialisten „heute die Preußen, und unsere Idee, die wir tragen und die uns trägt, ist preußisch“: „Pflichterfüllung“ gehörte unter anderem dazu, der „Geist der Disziplin“, „Sozialismus“ im Sinne der „Volksgemeinschaft“, „Dienen“, „Ehre“, „Gerechtigkeit“, „Einfachheit“, die Maxime „Jedem das Seine“ (später am Haupttor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht), „Mehr sein als scheinen!“, „Preußisches Beamtentum“.124 Ein derlei entkerntes und gerade deshalb in fast alle Richtungen anschlussfähiges „Preußentum“ war nach der Machtübernahme rasch wieder verzichtbar.125 122  Aufzeichnungen der preußischen Staatsminister Hirtsiefer und Severing über eine Besprechung in der Reichskanzlei am 20.  Juli  1932, 10 Uhr, in: Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik – Das Kabinett von Papen, Bd. 1, bearb. v. Karl-Hein Minuth, Boppard am Rhein 1989, 259–262, 260. 123  Manfred Schlenke, Nationalsozialismus und Preußen/Preußentum, in: Büsch (Hrsg.), Das Preussenbild in der Geschichte, 247–264, 255. 124  Zitiert nach: Mirow, Das alte Preussen im deutschen Geschichtsbild (Anm.  10), 200 f. 125  Bezeichnenderweise sprach Hitler am „Tag von Potsdam“ allein vom „deutschen“ Volk und von „Deutschland“, ohne in seiner Rede während des Festaktes in der Garnisonkirche auch nur auf Preußen anzuspielen – nachdem Hindenburg in seiner Begrüßungsansprache immerhin einen Rückblick angemahnt hatte „auf das alte Preußen, das in Gottesfurcht durch pflichttreue Arbeit, nie verzagenden Mut und hingebende Vaterlandsliebe groß geworden ist und auf dieser Grundlage die deutschen Stämme geeint hat“: Der Staatsakt in Potsdam. Blätter der Erinnerung an die feierliche Eröffnung des Reichstags am 21. März 1933, in: Verhandlungen des Reichstags. VIII. Wahlperiode 1933, Bd. 457: Stenographische Berichte. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Sach- und Sprechregister, Berlin 1934, 1–14, 5.

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IV. Fazit So werden gegensätzliche Nutzungsstrategien eines Sets an Begriffen deutlich, das insbesondere seit dem Ende des Ersten Weltkriegs immer mehr mit „Preußen“ assoziiert wurde. Erst an der Wende zu den Zwanziger Jahren wurden die „preußischen Tugenden“ im engeren Sinne erfunden, imaginiert als uralte Traditionen. Je ostentativer die Behauptung der Kontinuität, desto frappierender zeigen sich indes auch Brüche und Bruchlinien, gerade beim „Preußischen“. Infolge der Reichsgründung, die als Fixpunkt der zahlreichen borussischen Geschichtserzählungen diente, hoben intensive Debatten um ein preußisches Wesen an, das von einem ebenfalls postulierten deutschen Wesen gerade zu unterscheiden sei; zunächst waren sich altpreußische Konservative und neuerungswillige ­Sozialisten bei gegensätzlichen Interessen darin einig, dass Preußen vor ­allem ein Militärstaat sei, stritten aber darum, ob dieser nun zu stärken oder aber zu schwächen sei. Reformdebatten um das preußische Wahlrecht trieben etwa seit 1910 den Streit darum an, was Preußen wesenhaft ausmache, vor allem im Ersten Weltkrieg, in dem die vehemente EntentePropaganda gegen einen gewalttätigen preußischen Staat nicht nur Jungkonservative zu affirmativen Neuentwürfen des Preußentums motivierte, die sich bis ans Ende der Zwanziger Jahre fortsetzten. Das preußische „Wesen“ wurde auf allen Seiten zum Medium der politischen Auseinandersetzung. Eine wichtige Funktion erfüllten dabei meist Geschichtsbilder, oft à la carte gewählt: fragmentarisch aneinandergefügt, wie es die Gegenwartsinteressen und Zukunftspläne geboten, miteinander konkurrierend als wichtige Instanz gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, wie etwa noch an den Reformdebatten um die Weimarer Verfassung am Ende der Zwanziger Jahre ersichtlich. Ob es ein preußisches Wesen gebe, wie es beschaffen sei, ob man es verdammen oder rühmen, stärken oder schwächen solle, all diese Erwägungen begleiteten politische Auseinandersetzungen nach der Novemberrevolution und bis in die Dreißiger Jahre hinein. Dass Sozialdemokraten wie Paul Hirsch oder Otto Braun sich die „preußischen Tugenden“ aneigneten, wie sie Arthur Moeller van den Bruck und andere Akteure vom rechten Rand postulierten, und sie der Demokratie statt einer autoritären Staatsform andienten, gehört zu den aufschlussreichen diskursiven Strategien jener Jahre. Sie gelangen zeitweise, ehe es zu einer autoritären Rückeroberung des Preußischen in den frühen 1930er Jahren kam. Diese frappierenden semantischen Verschiebungen lohnen weitere Untersuchung: Preußen scheint gewissermaßen erst erfunden worden zu sein, als es gar nicht mehr bestand.

Preußens Ende – Weimars Untergang? Der „Preußenschlag“ (20. Juli 1932) Von Wolf Nitschke, Winsen an der Aller I. Einleitung Der bewusst durchgeführte „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932 bedeutete nicht nur das Ende der Geschichte des selbständigen Staates Preußen. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern „das Ende der ‚Ordnungszelle Preußen‘ “1 den Untergang der ersten deutschen Demokratie insgesamt einleitete, also maßgeblich zur Errichtung der NS-Diktatur beitrug. Arnold Brecht, Ministerialdirektor und Vertreter Preußens im Reichsrat, fällte 1967 ein vernichtendes, auch nach 35 Jahren von Fassungslosigkeit geprägtes Urteil über Reichspräsident Hindenburg und seinen „Lieblings-Reichskanzler“ Franz v. Papen: „Mit den demokratisch wertlosen Unterschriften dieses ‚Herrenreiters‘ löste Hindenburg den Reichstag auf, nur um in den Neuwahlen vom 31.  Juli einen noch viel schlechteren Reichstag zu bekommen, ließ er am 14.  Juni die Sturmtruppen der Nationalsozialisten wieder zu, nur um dafür mit einer Serie der schwersten Gewalttaten bedankt zu werden, jagte er am 20.  Juli den preußischen Ministerpräsidenten mit Schimpf und Schande aus seinem mehr als zwölf Jahre lang geführten Amte  – und brachte so die Lawine ins Rollen, die schließlich das anständige Deutschland für zwölf  Jahre unter sich begrub.“2

Es wäre allerdings fahrlässig, die Weimarer Republik ausschließlich von ihrem Ende her zu bewerten und demzufolge als „gescheiterte Demokratie“ zu kritisieren. Im Folgenden soll auch der Versuch unternommen werden zu zeigen, dass Hitlers Aufstieg zur Macht alles andere als zwangsläufig war, dass es auch noch im Jahr 1932 Alternativen gab. Wolfram Pyta empfahl diesbezüglich bereits 1998, man müsse bei der Suche „nach den wirklich aussichtsreichen Alternativen zu Hitler“ das

1  Gerd Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, 2. Aufl. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1984, 490. 2  Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen 1927–1967, Stuttgart 1967, 161.

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„Hauptaugenmerk auf solche Bestrebungen aus den Kreisen der anti­ parlamentarischen, aber eben auch antinationalsozialistischen Rechten rich­ten“3. Zu der Frage, ob die NS-Diktatur hätte verhindert werden können, lohnt sich auch ein Blick über Deutschland hinaus: In vielen Ländern Europas wurde in der sog. „Zwischenkriegszeit“ (1919–1939) die Demokratie durch ein autoritäres System ersetzt. In Österreich war dabei der sog. „Austrofaschismus“ kein Faschismus, sondern vielmehr der zumindest einige Jahre lang erfolgreiche Versuch, eine NS-Machtergreifung zu verhindern4. Insofern lohnt es zu fragen, ob eine ähnliche Lösung auch im Deutschen Reich Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Konkret stellt sich die Frage, ob der sogenannte „Querfrontplan“ des Generals Kurt von Schleicher im 21. Jahrhundert differenzierter bewertet werden muss5, oder ob es diesen Plan doch gar nicht gab6, Schleicher also lediglich ein „Totengräber“ der Republik war7. Laut Strenge, die Schleichers Wirken zuletzt ausführlich untersuchte, folgte dieser jedenfalls dem Leitstern, Hitler, die NSDAP und die SA unschädlich zu machen8. Ihre Auffassung knüpft an älteren Erkenntnissen an: Schon Gordon Craig hielt Schleicher für Hitlers fähigsten Geg3  Wolfram Pyta, Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zum Fernhalten Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis ­Januar 1933, in: Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, hrsg. v. Wolfram Pyta/Ludwig Richter (Historische Forschungen, 63), Berlin 1998, 173–197, hier 174. 4  Vgl. zu Österreich in den 1930er Jahren u. a. Ulrich Kluge, Der österreichische Ständestaat 1934–1938. Entstehung und Scheitern, München 1984; Manfred Rauchensteiner, Unter Beobachtung. Österreich seit 1918, Wien/Köln/Weimar 2017, 109–164; Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Österreich 1933–1938 (Politik und Zeitgeschichte, 10), Wien 2017. 5  Vgl. Ulrike Hörster-Philipps, Konservative Politik in der Endphase der Weimarer Republik. Die Regierung Franz von Papen (Pahl Rugenstein Hochschulschriften, 102), Köln 1982; Axel Schildt, Militärdiktatur mit Massenbasis? Die Querfrontkonzeption der Reichswehrführung um General von Schleicher am Ende der Weimarer Republik (Campus Forschungen, 225), Frankfurt am Main/ New York 1981; siehe auch Friedrich-Karl von Plehwe, Reichskanzler Kurt von Schleicher. Weimars letzte Chance gegen Hitler, Esslingen 1983; Pyta, Verfassungsumbau (Anm. 3); Thilo Vogelsang/Kurt von Schleicher, Ein General als Politiker, Frankfurt/Zürich 1965. 6  Vgl. Henry Ashby Turner Jr., Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1996, 40. 7  Vgl. Rüdiger Barth, Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Demokratie, Frankfurt am Main 2018. 8  Vgl. Irene Strenge, Kurt von Schleicher. Politik im Reichswehrministerium am Ende der Weimarer Republik, Berlin 2006, 13.



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ner9, und auch Turner lobte an Schleicher dessen Fähigkeit, „andere auf seine Seite zu ziehen, vor allem im Gespräch unter vier Augen“10. Keinesfalls war er nur ein skrupelloser Intrigant, sondern ein sozial denkender Politiker mit großem Verantwortungsbewusstsein11. Etliche Vordenker der „Konservativen Revolution“, insbesondere Oswald Spengler, redeten zwar von einem „wahren“ Sozialismus, verbanden damit aber lediglich recht nebulöse sozialpolitische Vorstellungen, ohne ihn programmatisch wirklich zu wollen12. Schleicher dagegen verfolgte mit seinem „Querfrontplan“, den Günther Gereke 1932 entwickelte und den Schleicher umzusetzen versuchte13, ein klares Alternativkonzept zum marxistischen Sozialismus, wie es etwa auch Eduard Stadtler vertrat14. Die Ereignisgeschichte des 20. Juli 1932 ist seit vielen Jahren geklärt, die Bewertung bleibt auch heute umstritten15. Das Problem ist dabei die schwierige Quellenlage, wie Joachim Petzold 1995 feststellte: „Offensichtlich gibt es vieles, was keinen Niederschlag in den Archiven gefunden hat oder irgendwann beseitigt wurde, um Spuren zu verwischen. So sind beispielsweise die Geheimgespräche zwischen Schleicher und Papen sowie ihren Abgesandten einerseits mit Hitler und Göring andererseits 9  „Von allen Widersachern, mit denen Hitler es in den letzten Monaten vor seiner Machtübernahme zu tun hatte, war Kurt von Schleicher der fähigste und der gefährlichste.“ [Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches, München 1980, 491.] Ebenso urteilte Pyta: „Dieser politisierende General war im fraglichen Zeitraum der wohl entschiedenste und taktisch beschlagendste Gegenspieler Hitlers aus dem antiparlamentarischen Lager der ‚nationalen Rechten‘.“ [Pyta, Verfassungsumbau (Anm. 3), 174.] 10  Turner, Hitlers Weg (Anm. 6), 34. 11  Vgl. zu diesen Vorwürfen auch Werner Freiherr v. Rheinbaben, Kaiser, Kanzler, Präsidenten. „Wie ich sie erlebte“, 1895/1934, 2. Aufl. Mainz 1968, 253 f. 12  Vgl. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920, passim; siehe dazu Hörster-Philipps, Konservative Politik (Anm. 5), 58–64; zuletzt auch Alexander Demandt, Untergänge des Abendlandes. Studien zu Oswald Spengler, Köln 2017. 13  Vgl. [Paul] Niemetz /[Rudolf] Grünewald (Hrsg.), Das Sofortprogramm des Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung. Mit einem einleitenden Vorwort von Reichskommissar Dr. Dr. Gereke, Berlin 1933; siehe auch Strenge, Kurt von Schleicher (Anm. 8), 179. 14  Vgl. u. a. Eduard Stadtler, Der Bolschewismus und seine Überwindung (mehrere Auflagen mit leicht geänderten Titeln), Berlin 1919; ders., Der einzige Weg zum Weltfrieden, Berlin 1919; ders., Die Diktatur der Sozialen Revolution, Leipzig 1920; ders., Weltkrieg und soziale Frage, 2. Aufl. Berlin 1926; ders., Seldte, Hitler, Hugenberg! Die Front der Freiheitsbewegung, 2. Aufl. Berlin 1930; siehe dazu Hörster-Philipps, Konservative Politik (Anm. 5), 59 f. 15  Vgl. Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, 570.

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im Frühjahr und Frühsommer 1932 nicht oder nur völlig unzulänglich dokumentiert.“16 Es hat sich darum als fruchtbar erwiesen, auch Zeitungen und Broschüren der Zeit auszuwerten und dabei den Blick nicht nur auf die Hauptakteure zu legen, sondern auch auf Stichwortgeber aus den Reihen der „Jungkonservativen“ bzw. des TAT-Kreises um Hans Zehrer. Nicht zuletzt ist die Geschichte des „Preußenschlags“ auch eine Geschichte der sogenannten „Konservativen Revolution“17. Gerade die Auswertung der TAT, mit deren Redakteur Wilhelm von Oertzen Schleicher seit 1927 in Kontakt stand18, hat interessante Aufschlüsse (besonders aus der Feder Hans Zehrers) ergeben, die deshalb bedeutend sind, weil die TAT von Schleicher und seinen Mitarbeitern regelmäßig gelesen wurde19. Dabei ist zu beachten, dass die TAT ab 1929 „ein Sammelplatz der jüngeren nationalen Bewegung geworden“ war20, sie nahm auf junge Menschen enormen Einfluss, ja inzwischen einen größeren als die „Jugendbewegung“, der sie entstammte21. Besonders deswegen stand die TAT auch in Opposition zum jungkonservativen Ring-Kreis, mit dem Franz v. Papen eng verbunden war, so dass dessen Entlassung im November 1932 auch als Entmachtung des Ring-Kreises zugunsten des TAT-Kreises gedeutet werden kann22.

16  Joachim Petzold, Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis, München/Berlin 1995, 92. Memoiren, u. a. die von Papen und Brüning, sind häufig leider ziemlich wertlos; vgl. dazu Frank Müller, Die „Brüning Papers“. Der letzte Zentrumskanzler im Spiegel seiner Selbstzeugnisse, Frankfurt am Main 1993, bes. 123–161. 17  Vgl. Armin Mohler/Karlheinz Weißmann, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 5. Aufl. Graz 2005, bes. 87–97. Der Begriff selbst ist ebenso umstritten wie etliche ihrer Ideen; vgl. dazu Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, bes. 180–202. 18  Vgl. Ebbo Demant, Hans Zehrer als politischer Publizist (Diss. FU 1970), Mainz 1971, 85. 19  Vgl. Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP. Beiträge zur deutschen Geschichte 1930–1932 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 11), Stuttgart 1962, 269. 20  Vgl. Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin 1932, 36; siehe dazu Demant, Hans Zehrer (Anm. 18), 71. 21  Vgl. Stefan Breuer, Grundpositionen der deutschen Rechten 1876–1945 (Historische Einführungen, 2), Tübingen 1999, 117–120; Klemens von Klemperer, Konservative Bewegungen. Zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München/ Wien 1957, 141–145. 22  Vgl. Yuji Ishida, Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928–1933 (Europäische Hochschulschriften, III/346), Frankfurt am Main u. a. 1988, 224 f. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, das Verhältnis der verschiedenen konservativen Gruppierungen und Zeitschriften in der Endphase der Weimarer Republik zueinander und zu den politischen Ereignissen zu bewerten.



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II. Ursachen des „Preußenschlags“ Der Preußenschlag fußte auf drei unterschiedlichen Faktorenbündeln. Nur wer zwischen diesen unterscheidet, kann das Handeln der beteiligten Akteure und insbesondere der SPD-geführten preußischen Regierung verstehen. Der Preußenschlag wurde von der Reichsregierung in erster Linie mit der Durchführung einer Reichsreform legitimiert. Dieses zentrale Problem der ersten deutschen Demokratie wurde schon vor der Gründung der Weimarer Republik geschaffen, als am 26. Februar 1919 eine Neugliederung des Reiches durch Zerlegung Preußens in ausbalancierte Provinzen verworfen wurde, wie sie Hugo Preuß in seinem Vorentwurf zur Reichsverfassung gefordert hatte23, um auf das Wegfallen der Personalunion zwischen Preußischer und Reichsregierung zu reagieren. Diese Entscheidung erwies sich als „schwere Belastung der demokratischen Entwick­ lung“24. Nicht zuletzt war der Dualismus sehr zeitraubend (und damit in einer Zeit leerer Kassen äußerst kostenintensiv): „So gab es in Berlin zwei Zentralen, eine für fünf Fünftel, eine für drei Fünftel. Die Reibungen zwischen den Ministerien und den Behörden des Reichs und Preußens nahmen … ein Drittel der Arbeitskraft jedes Ministeriums und jeder Behörde in Anspruch. Bei den sehr häufig nötigen gemeinsamen Sitzungen von an einem Problem beteiligten Behörden des Reichs und Preußens konnte es vorkommen, dass bei einer Sitzungsdauer von sechs Stunden fünf benötigt wurden, um die Zuständigkeiten zu klären.“25

Deshalb stand eine Reichsreform bereits in den Krisenjahren 1919 bis 1923 immer wieder auf der politischen Agenda26. Dieser Dualismus verschärfte sich in dem Augenblick enorm, als auf Reichsebene ein deut­ 23  Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Aufl. Düsseldorf 1984, 491; Helmut Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Repu­ blik in Politik und Verwaltung, Mönchengladbach 2006, 22–35. 24  Bracher, Auflösung (Anm. 23), 22. 25  Ludwig Biewer, Der Preußenschlag vom 20. Juli 1932. Ursachen, Ereignisse, Folgen und Wertung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 119 (1983), 159– 172, hier 160; vgl. dazu ders., Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Repu­ blik. Fragen zur Funktionalreform und zur Neugliederung des Deutschen Reiches (Europäische Hochschulschriften III, 118), Frankfurt am Main u.a 1980, 36 (mit Anm. 71 und 72). 26  Vgl. Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919–1930 (Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik I), 2. Aufl. Berlin/New York 1987, bes. 215–449. Die Debatten wurden auch 1924–1930 fortgeführt; vgl. ebd., 453–612.

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licher Rechtsruck eintrat: Die Weimarer Reichsverfassung hatte „dem Reichstag die unbestrittene Führung in der Gestaltung der Politik eingeräumt“27, um den Wilhelminischen Obrigkeitsstaat zu überwinden. Allerdings zeigten sich die gemäßigten Parteien, nicht zuletzt das Zentrum, das von 1919 bis 1932 an allen Regierungen beteiligt war, als unfähig, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Die Schwäche der Legislative führte zu raschen Regierungswechseln, Minderheitsregierungen und in den Krisenmonaten 1923/24 schon unter Reichspräsident Ebert erstmals zur Praxis des Regierens mit Notverordnungen gemäß Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV)28. Ab 1930 entwickelte sich unter Eberts Nachfolger Hindenburg ein Regierungssystem der Präsidialkabinette, welches zunehmend autoritäre Züge annahm, wobei der Reichspräsident „Hüter der Verfassung“ wurde und Aufgaben der Legislative übernahm29. Gesetze wurden nun meist per Notverordnung gemäß Art. 48 der Verfassung in Kraft gesetzt30; der Reichstag tolerierte diese zwar mehrheitlich, doch mussten die Abgeordneten, besonders die der SPD, die dennoch von der KPD massiv unter Druck gesetzt wurden, auf diese Weise nicht die volle Verantwortung für unpopuläre Sparmaßnahmen übernehmen. Enormen Machtzuwachs erlangte dabei auch der politische General Kurt von Schleicher31. Ganz anders als auf der Reichsebene sah es zunächst in Preußen aus: Von 1928 bis April 1932 regierte in Preußen nach einem deutlichen Wahl-

27  Bracher,

Auflösung (Anm. 23), 27; das Folgende ebd., 32 f. Ulrich Scheuner, Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hrsg. v. Ferdinand A. Hermens/Theodor Schieder, Berlin 1967, 249–286, hier 257–266. 29  Vgl. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung (Beiträge zum Öffentlichen Recht der Gegenwart, 1), Tübingen 1931, 132–159. 30  „Der berühmte Artikel 48 knüpfte an Traditionen der Belagerungs- und Kriegszustandsgesetzgebung an.“ [Bracher, Auflösung (Anm. 23), 47.] Carl Schmitt bemerkte hierzu 1932: „Nicht der geschriebene Wortlaut der Weimarer Verfassung, wohl aber die Praxis von Reichspräsident und Reichsregierung hat, unter Duldung des Reichstags und unter Anerkennung der Staatsrechtslehre und einer legitimierenden Gerichtspraxis, während des letzten Jahrzehntes noch einen dritten außerordentlichen Gesetzgeber im Staatsleben des Deutschen Reiches durchgesetzt: den nach Art. 48 Abs. 2 RV. Verordnungen erlassenden Reichspräsidenten.“ [Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Berlin 1932, 70; siehe auch ebd., 70–87, sowie ders., Der Begriff des Politischen, München  – Leipzig 1932.] Carl Schmitt äußerte sich 1932 anders als zuvor; vgl. ders., Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsdenkens bis zum proletarischen Klassenkampf (1. Aufl. 1924, 2. Aufl. 1927), 3. Aufl. Berlin 1963. 31  Vgl. Strenge, Kurt von Schleicher (Anm. 8), bes. 36–56. 28  Vgl.



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sieg der SPD bei den Landtagswahlen eine „Weimarer Koalition“ (aus SPD, linksliberaler DDP und katholischem Zentrum) unter Otto Braun32. Im Frühjahr 1932 standen sich also eine nach rechts strebende Reichsregierung und eine sozialdemokratisch geprägte preußische Landesregierung gegenüber, weshalb eine Kamarilla um Hindenburg beschloss, die SPD aus ihrer preußischen Bastion zu vertreiben. Ein zentrales Instrument dafür aber sollte eine umfassende Reichsreform sein, wobei ein in der Tat seit 1919 ungelöstes Problem geschickt instrumentalisiert werden konnte. Neben der Notwendigkeit einer Reichsreform wurde der Preußenschlag mit dem Ergebnis der Landtagswahlen vom 24.  April  1932 begründet, bei denen es (nur zwei Wochen nach dem Achtungserfolg Hitlers bei der Reichspräsidentenwahl) zu einem enormen Rechtsruck kam: Es gelang der NSDAP, die Zahl ihrer Mandate von 9 auf 162 zu erhöhen, während die drei Parteien der Weimarer Koalition zusammen nur noch auf 163 Mandate kamen (SPD 94, Zentrum 67, DDP-Staatspartei 2)33. Zusammen mit der SPD verlor auch die DNVP die Wahlen (nunmehr 31 statt zuvor 71 Mandate), was der ignorante „Parteiführer“ der DNVP Hugenberg in seiner Zeitung „Der TAG“ allerdings dreist als „Sieg des nationalen Protestes“ – nicht etwa des nationalsozialistischen – verkaufte34. Da die NSDAP nun zusammen mit der KPD (57 Mandate) eine negative Mehrheit besaß, befand sich Preußen in einer Sackgasse, zumal es – anders als auf Reichsebene – keinen preußischen Staatspräsidenten und somit auch keine „präsidentielle Reserveverfassung“35 als „Hilfsmittel gegen eine Parlaments- oder Staatskrise“36 gab. Theoretisch hätte die NSDAP zusammen mit der DNVP eine (Minderheits-)Regierung bilden können, wenn nicht in der letzten Sitzung des 32  Vgl. Siegfried Heimann, Der „Preußenputsch“ im Juli 1932 und die Regierung Otto Braun, in: Preußen zwischen Demokratie und Diktatur. Der Freistaat, das Ende der Weimarer Republik und die Errichtung der NS-Herrschaft 1932– 1934, Berlin 2018, 105–128, hier 105 f.; Horst Möller, Preußen von 1918 bis 1947: Weimarer Republik, Preußen und der Nationalsozialismus, in: Handbuch der Preußischen Geschichte III, hrsg. v. Wolfgang Neugebauer, Berlin/New York 2001, 149–316, hier 240–252. 33  Vgl. Biewer, Preußenschlag (Anm.  25), 163; Möller, Parlamentarismus (Anm. 15), 555–569; ders., Preußen (Anm. 32), 300; siehe dazu auch Florian Stadel, Die Reichstagswahlen von 1930 und 1932 und die Wahl zum preußischen Landtag 1932 im Spiegel der überregionalen deutschen Tagespresse (Diss.), Bonn 1993, bes. 92–146. 34  Zitiert nach Stadel, Reichstagswahlen (Anm. 33), 137. 35  Möller, Parlamentarismus (Anm. 15), 573. 36  Vgl. Scheuner, Anwendung (Anm. 28), 275.

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alten Landtags durch eine ebenso simple wie geniale Änderung der Geschäftsordnung festgelegt worden wäre, dass eine absolute statt einer relativen Mehrheit für die Wahl des Ministerpräsidenten erforderlich war, was vorerst die Abwahl der Regierung Braun verhinderte, die geschäftsführend im Amt blieb – 1932 wurde also auch die Bedeutung der „Kanzlermehrheit“ entdeckt. Die preußische Regierung war nicht nur bei der Wahl geschwächt worden: Ministerpräsident Otto Braun hatte eine schwere Grippe verschleppt, kurz vor der Wahl einen Zusammenbruch erlitten und konnte seitdem das Bett nur gelegentlich verlassen37. Hellsichtig rechnete er mit einer Reichsexekution gegen Preußen38, und in der Tat bereitete schon die Regierung Brüning ein Maßnahmenpaket vor, das die Kontrolle der preußischen Polizei und Justiz durch die Reichsregierung, die Drosselung der finanziellen Unterstützung Preußens und die Einsetzung eines Reichskommissars zur Überwachung der preußischen Verwaltung und Finanzen (wegen der nach kurzer Zeit eintretenden Zahlungsunfähigkeit) vorsah39. Wenn die Regierung Braun in der Folgezeit wenig Energie und Tatendrang an den Tag legte, so lag dies auch daran, dass Braun es versäumt hatte, beizeiten einen Nachfolger aufzubauen, nun komplett ausfiel und sein (nur geschäftsführend ausgeübtes) Amt nicht übergeben konnte. So machte sich im abgewählten preußischen Kabinett Resignation breit: Zwischen dem 29. April und dem 7. Juni 1932 trat es zu keiner einzigen Sitzung zusammen40. Die Regierung Braun glich „einer belagerten Festung, ohne Hoffnung auf Entsatz“, und ohne eine Mehrheit herrschte im Landtag ein „Hexensabbat der Kompromiss-Unfähigkeiten“41. Die folgenden Sitzungen des Preußischen Landtags bestätigten die völlige Handlungsunfähigkeit des Parlaments42: In der 2. Sitzung des Landtags am 25. Mai kam es sogar zu einer Schlägerei zwischen Abgeordneten von NSDAP und KPD und 37  Vgl. Eberhard Kolb, 20.  Juli  1932: Reichsexekution gegen Preußen, in: Ein Staatsstreich? Die Reichsexekution gegen Preußen. Darstellungen und Dokumente, hrsg. v. Gerhard Weiduschat, Berlin 2007, 9–28, hier 13; Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977, 729–733. 38  Vgl. Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 731. 39  Vgl. Heinrich Brüning, Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970, 569  f.; siehe dazu Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 732. 40  Vgl. Joachim Lilla, Der Reichskommissar für Preußen, in: FBPG FF 19 (2009), 91–118, hier 91. 41  Heinrich, Geschichte Preußens (Anm. 1), 494. 42  Vgl. Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 112.



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zum Abbruch der Sitzung43, und in den folgenden 14 Sitzungen bis zum 8.  Juli wurde kein einziges Gesetz verabschiedet. Nach der vorerst letzten Landtagssitzung ließ der Nationalsozialist Hanns Kerrl den Landtag sogar formlos auf unbestimmte Zeit auseinandergehen44. Am gleichen Tage wurde der Haushalt für 1932 (sic!) vom Staatsministerium per Verordnung in Kraft gesetzt45. Diese Situation nutzte Papen dazu, ein konservativ-revolutionäres Programm umzusetzen. Der eigentliche Grund für den Preußenschlag ergab sich allerdings aus der Zusammensetzung des Kabinetts Papen. Nach dem Sturz des Reichskanzlers Heinrich Brüning am 30. Mai 1932 sollte der ehemalige DNVPVorsitzende Kuno Graf v. Westarp von den Volkskonservativen Reichskanzler werden46. Erst als dieser ablehnte, und da Hindenburg weder den „böhmischen Gefreiten“ Hitler noch den „Oberlehrer“ Hugenberg wollte47, überredete General Schleicher Hindenburg dazu, Franz von Papen (wie Brüning vom Zentrum) damit zu beauftragen, eine „verstärkte staatskonservative Regierung“, eine sog. „Regierung der nationalen Konzentration“48 zu bilden, unterstützt durch den Deutschen Herren43  Vgl. Möller, Parlamentarismus (Anm. 15), 557. Goebbels kommentierte dies zynisch: „Ein Kommunist schlägt einen Parteigenossen mitten ins Gesicht. Das ist das Signal zur Abrechnung. Sie ist kurz, aber bündig, und wird mit Tintenfässern und Stühlen ausgefochten. In 3 Minuten sind wir allein im Saal. Die Kommunisten sind herausgeprügelt, während die Mittelparteien in der vorzeitigen Flucht ihr Heil gesucht haben. Unsere Fraktion singt das Horst-Wessel-Lied. 8 Schwerverletzte aus verschiedenen Parteien. Das war ein warnendes Beispiel. So allein kann man sich Respekt verschaffen. Das Plenum bietet den Anblick einer grandiosen Verwüstung. Wir stehen als Sieger auf den Trümmern.“ [Josef Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern (vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933), 2. Aufl. München 1937, 101.] 44  Vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 506. 45  Vgl. Möller, Parlamentarismus (Anm. 15), 558–561. 46  Vgl. Rheinbaben, Kaiser (Anm. 11), 270; siehe dazu Herbert Hömig, Brüning, Kanzler in der Krise. Eine Weimarer Biographie, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, 568 f.; Vogelsang, Reichswehr (Anm. 19), 203–221; Peer Oliver Volkmann, Heinrich Brüning (1885–1970): Nationalist ohne Heimat, Düsseldorf 2007, 227. 47  Vgl. Otto Heinrich von der Gablentz, Vom Patriotismus zum Nationalismus, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hrsg. v. Ferdinand A. Hermens und Theodor Schieder, Berlin 1967, 3–21, hier 19; siehe auch Alfred Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890–1939, Wiesbaden 1954, 176. 48  „Das einzig denkbare Mittel zur Eindämmung der hereinbrechenden Flut war nach dem Urteil der damals in der Verantwortung Stehenden der Versuch, durch eine verstärkte staatskonservative Regierung eine Brücke nach rechts zu schlagen, um die entfesselten Massenbewegungen zumindest teilweise in die Bindung an den Staat zurückzuführen.“ [Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungs-

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club sowie zahlreiche Jungkonservative wie Edgar Julius Jung49. Die Ernennung Papens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn dieser war fest entschlossen, neue Wege zu gehen, auch über die Schranken der Weimarer Reichsverfassung hinaus, und ein autoritäres Regime zu errichten50. Während der Herrenklub zu triumphieren schien, blieb der konkurrierende jungkonservative TAT-Kreis von Anfang an skeptisch: „Dieses Kabinett hängt von zwei Voraussetzungen ab, einmal dass sich im neuen Reichstag überhaupt eine Mehrheit ergibt, die man als „nationale Konzentration’ im engeren Sinne bezeichnen kann, und weiter davon, dass sich diese Mehrheit aktiv hinter das Kabinett Papen stellt oder es passiv duldet. Beide Voraussetzungen sind sehr gewagt.“51 Als erster Schritt zur endgültigen Ausschaltung der SPD und zur Etablierung einer rechten Mehrheit wurde eine Absprache mit der NSDAP getroffen: Hitler versprach die Tolerierung der neuen Regierung, im Gegenzug sollte der Reichstag vorzeitig aufgelöst, das SA-Verbot aufgehoben werden52. Darüber hinaus wurde auch ein Preußenschlag vereinbart53. geschichte seit 1789, Bd. VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart et  al. 1984, 976.] Das zweite Zitat in: Frankfurter Zeitung vom 1.6.1932, zitiert nach Vogelsang, Reichswehr (Anm. 19), 206. In der Tat ähnelte die Regierung Papen dem Staatskonservativismus der Regierung Manteuffel (1850– 1858); vgl. dazu Wolf Nitschke, Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenburg (1803– 1868), Berlin 2004, 320–338. 49    Vgl. Hörster-Philipps, Konservative Politik (Anm. 5), 31–92. Damit wurde der in der Öffentlichkeit wenig beachtete Ring-Kreis „zu einem halboffiziösen Wortführer der amtierenden Regierung“; vgl. Ishida Jungkonservative (Anm. 22), 192; Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, Berlin 2000, 257–273; André Postert, Von der Kritik der Parteien zur außerparlamentarischen Opposi­ tion. Die jungkonservative Klub-Bewegung in der Weimarer Republik und ihre Auflösung im Nationalsozialismus, Baden-Baden 2014, 400–418; Manfred ­Schoeps, Der Deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservativismus in der Weimarer Republik (Diss.), Erlangen-Nürnberg 1974. 50  Vgl. Scheuner, Anwendung (Anm. 28), 281. 51  Hans Zehrer, Revolution oder Restauration? Die drei Elemente des Staats, in: DIE TAT 5/24 (1932), 353–393, hier 369. 52  Strenge spricht von einem „Schleicher-Hitler-Pakt“; vgl. Strenge, Kurt von Schleicher (Anm. 8), 95–104. Sie ignoriert dabei, dass auch der neue Innenminister Freiherr v. Gayl für eine Kooperation mit der NSDAP eintrat; vgl. Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 736. 53  Der sozialdemokratische „Vorwärts“ enthüllte am 1.  Juli, die Regierung Papen wolle offenbar der NSDAP „die Länder überlassen, und es bestehen auch wegen Preußen Abmachungen, d. h. über die Einsetzung eines bewährten Mannes als Ministerpräsidenten oder als Reichskommissar.“ [„Umorganisation der inneren



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Kurz nach der Ernennung Papens an Stelle Brünings zum Reichskanzler am 1. Juni beurlaubte Otto Braun sich selbst auf unbestimmte Zeit54. In der Absicht, nicht wieder ins Amt zurückzukehren55, räumte er demonstrativ sein Arbeitszimmer leer und zog sich in sein Haus in Zehlendorf zurück56, was auch in der eigenen Partei äußerst kritisch gesehen wurde57. In der Öffentlichkeit stieß dieses durch Depressionen verursachte Verhalten auf absolutes Unverständnis und verschärfte die Krise Preußens weiter. Braun selbst war dabei kein Vorwurf zu machen, denn nach Aussage eines Mitarbeiters war er „völlig abgekämpft, sehnte sich nur noch nach dem Otium in der Schweiz, gleichgültig ob mit oder ohne Dignitate, und hatte der weiteren Entwicklung gegenüber nur Gedanken wie der König von Sachsen, das heißt, die Rechte solle ihren Dreck ­alleene machen.“58 Die Papen-Regierung jedoch trat gemäß der Absprachen mit Hitler in Vorleistung: Nach der Auflösung des Reichstages am 4. Juni wurden Gespräche mit Hugenberg (DNVP) sowie Hanns Kerrl und Wilhelm Kube (NSDAP) über die Bildung einer Koalition aus NSDAP, DNVP und Zentrum in Preußen geführt59. Am 16.  Juni folgte die Aufhebung des ­ Verwaltung unter starker Mitwirkung der nationalsozialistischen Kräfte.“ Rundschreiben Heinrich von Gleichens, in: Vorwärts Nr. 305 vom 1.7.1932, zitiert nach Strenge, Kurt von Schleicher (Anm. 8), 103.] Die Echtheit wurde vom Verfasser vor dem Staatsgerichtshof bestätigt; vgl. Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932, mit einem Vorwort von Ministerialdirektor Dr. Brecht, Berlin 1933, 38. Auch hier scheint Gayl die treibende Kraft gewesen zu sein; vgl. Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 735 f. Auf Grund dieser Enthüllungen, die ihm eine Mitschuld am Elend der kleinen Leute gaben, trat Hitler stillschweigend von dem Abkommen zurück. Über die Frage, ob Hitler eine Tolerierung versprochen habe, gibt es erstaunlicherweise Unklarheiten, als ob nicht das Wort eines notorischen Lügners wie Hitler ohne Bedeutung wäre, während Heinrich von Gleichen, der Vorsitzende des Herrenklubs, die NS-Tolerierung in einem internen Rundschreiben als gesichert ansah; vgl. Strenge, Kurt von Schleicher (Anm. 8), 103; Volkmann, Heinrich Brüning (Anm. 46), 228. 54  Vgl. Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 112; Möller, Preußen (Anm. 32), 562. 55  Vgl. Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, Hamburg 1949, 245 f. 56  Vgl. Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 733. 57  Vgl. Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 127. 58  Fritz Tejessy am 30.01.1935 an Stampfer, zitiert nach Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 734. 59  Vgl. Henning Grund, „Preußenschlag“ und Staatsgerichtshof im Jahre 1932 (Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit 5), Baden-Baden 1976, 56; Möller, Preußen (Anm. 32), 566. Das Werben um preußische Zentrumspolitiker war aber nicht ganz ernst gemeint; vgl. Möller, Preußen (Anm. 32), 566 f.; Gerhard Schulz, Von Brüning zu Hitler. Der Wandel des politischen Systems in Deutsch-

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­ A-Verbotes, worauf die SA unter dem Deckmantel des Wahlkampfes eiS nen unglaublichen Terror entfaltete60, den dann die Regierung als Vorwand für ihr Eingreifen in Preußen instrumentalisieren konnte. Daraufhin nahm der Staatssekretär im preußischen Innenministerium Dr.  Wilhelm Abegg vertraulich Kontakt zu den kommunistischen Abgeordneten Torgler und Kasper auf, um die KPD zur Beendigung der Straßenkämpfe und zur Duldung der Regierung Braun zu bewegen61. Sein Ziel war es, eine Reichsexekution gegen Preußen zu verhindern. Obwohl die KPD sich dem verweigerte, gelang es der Regierung Papen, den angeblich bevorstehenden Zugriff der KPD auf die preußische Polizei zu dramatisieren und so den Reichspräsidenten Hindenburg am 11. Juli zur Einsetzung eines Reichskommissars in Preußen zu überreden62, die auf den 20. Juli 1932 terminiert wurde63. Für diese „Endlösung für das preußische Problem“64 stellte Hindenburg an 14. Juli auf Gut Neudeck (fernab von Berlin) eine juristisch äußerst fragwürdige „Blankovollmacht“ aus65. Dass Preußens Innenminister Severing einen Erlass herausgab, der die Regierungspräsidenten zu schärfster Prüfung der Anmeldung von Versammlungen unter freiem Himmel anhielt, untergrub Papens Pläne land 1930–1933 (Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik III), Berlin/New York 1992, 923 (mit Anm. 125). 60  Vgl. Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, hrsg. v. Cuno Horkenbach, Bd. III, Berlin 1932, 246 f.; Sven Felix Kellerhoff, Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder, Stuttgart 2017, 247–249. 61  Vgl. Rudolf Morsey, Papens Sprung nach Preußen  – eine folgenschwere Reichsexekution, in: Ein Staatsstreich? Die Reichsexekution gegen Preußen. Darstellungen und Dokumente, hrsg. v. Gerhard Weduschat, Berlin 2008, 40; Vogelsang, Reichswehr (Anm. 19), 237. 62  Protokoll der Ministerbesprechung vom 11.7.1932, in: Das Kabinett von Papen. 1.  Juni bis 3.  Dezember 1932, Bd. I: Juni bis September 1932, hrsg. v. KarlHeinz Minuth, Boppard am Rhein 1989, 204–208; vgl. Schulze, Otto Braun (Anm.  37), 740 f.; Vogelsang, Reichswehr (Anm. 19), 240 f.. 63  Protokoll der Ministerbesprechung vom 12.7.1932, in: Das Kabinett von Papen (Anm. 62), 209–213. Hier ist allerdings zu beachten, dass dieses Protokoll wohl nachträglich redigiert wurde; vgl. Schulz, Von Brüning zu Hitler (Anm. 59), 924 mit Anm. 128). Zwei Tage zuvor hatten dies bereits Papen, Gayl und Schleicher konzipiert; vgl. Morsey, Papens „Sprung nach Preußen“ (Anm. 61), 39. 64  Heimann, „Preußenputsch“ (Anm.  32), 114; vgl. dazu Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2006, 732. 65  Protokoll der Ministerbesprechung vom 16.7.1932, in: Das Kabinett von Papen (Anm. 62), 237–240, hier 240; vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 509; Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 114; Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, 712 f. Am 16.7.1932 folgte die Verordnung über den freiwilligen Arbeitsdienst; vgl. Das Deutsche Reich von 1918 bis heute Bd. III (Anm. 60), 245 f.



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zwar, konnte den „Sprung nach Preußen“66, d. h. die beschlossene Reichsexekution aber nicht aufschieben67. Der folgende „Altonaer Blutsonntag“ vom 17. Juli lieferte der Regierung also lediglich einen willkommenen Vorwand für den Preußenschlag68. Innenminister Gayl hielt die Vorbereitungen zunächst streng geheim. Die Entwürfe der Verordnung ließ er in seiner Wohnung „von einer sicheren Verwandten schreiben“. „Das zur Herstellung der Durchschläge notwendige Kohlepapier vernichtete ich eigenhändig. Die Reinschrift und einen Durchschlag trug ich am Leibe, den zweiten Durchschlag der Ministerialdirektor Gottbeiner. Bis zur Vorlage beim Reichspräsidenten hatten nur sechs Augen den Inhalt der Verordnung gesehen“69.

Insofern lag die Hauptverantwortung für den folgenden Preußenschlag bei Reichsinnenminister Freiherr von Gayl70, einem Mitglied des jungkonservativen Ring-Kreises, während die Rolle des Generals Kurt v. Schleicher, der als heimlicher Drahtzieher galt, bis heute ungeklärt ist71.

66  Reichsjustizminister Gürtner, zitiert nach Morsey, Papens „Sprung nach Preußen“ (Anm. 61), 39. 67  „Die verfassungswidrigen Absichten der Reichsregierung, die immer noch keinen passenden Anlaß für die Intervention in Preußen gefunden hatte, konnten nicht deutlicher dokumentiert werden.“ [Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 741.] Zudem wurde durch diese hinterhältige Aktion gegen Otto Braun, zu dem bisher Hindenburg ein recht gutes Verhältnis gehabt hatte, deutlich, „daß Illoyalität zu den hervorstechendsten Charaktereigenschaften Hindenburgs gehörte.“ [Möller, Preußen (Anm. 32), 302.] 68  Vgl. Biewer, Preußenschlag (Anm. 25), 163 f.; Möller, Preußen (Anm. 32), 301; Vogelsang, Reichswehr (Anm. 19), 244. Auch die Bitte des Landtagspräsidenten Kerrl (NSDAP) um ein Eingreifen des Reichspräsidenten in Preußen auf der Grundlage des Art. 48 war nur ein fadenscheiniger Vorwand; vgl. Möller, Preußen (Anm. 32), 569; Kolb, 20. Juli 1932 (Anm. 37), 18. 69  Persönliche Aufzeichnungen Gayls, zitiert nach: Schulz, Von Brüning zu Hitler (Anm. 59), 928, Anm. 135; vgl. dazu Kolb, 20.  Juli  1932 (Anm. 37), 18 f.; Lilla, Reichskommissar (Anm. 40), 93; Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 742. Die Eingeweihten waren Gayl, sein Mitarbeiter Gotteiner und seine Tochter, jedoch nicht einmal Papen und Schleicher. Trotz der Geheimniskrämerei sickerte die Information übrigens überraschend schnell an die Presse durch; vgl. Jürgen Bay, Der Preußenkonflikt 1932 f. Ein Kapitel aus der Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik (Diss.), Erlangen 1965, 109 f.; Kolb, 20. Juli 1932 (Anm. 37), 18 f.; Schulz, Von Brüning zu Hitler (Anm. 59), 930. 70  Vgl. Petzinna, Erziehung (Anm. 49), 266. 71  Vgl. Biewer, Preußenschlag (Anm. 25), 165.

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III. Die Ereignisse des 20. Juli72 Am Morgen des 20.  Juli  1932 ließ Reichskanzler Papen, obwohl das Reichskabinett am 16. Juli das letzte Mal getagt und die Altonaer Ereignisse gar nicht besprochen hatte73, dem beurlaubten Ministerpräsidenten Braun in dessen Privatwohnung ein Schreiben zustellen, mit dem er ihn mit dürren Worten des Amtes enthob74. Zudem hatte Papen die preußischen Minister Hirtsiefer, Severing und Klepper unter Verschleierung seiner wahren Absichten in die Reichskanzlei gebeten75, wo er ihnen den Text der Notverordnung vorlas76, ergänzt um den Hinweis, er habe Otto Braun und Innenminister Severing ihrer Ämter enthoben, sich selbst zum Ministerpräsidenten und den Essener Oberbürgermeister Franz Bracht zu seinem Stellvertreter und ­ Innenminister ernannt77. Besonders empörend war dabei der Vorwurf, die Regierung Braun habe ihre Pflichten grob verletzt, weshalb ein Eingreifen der Reichsregierung zur „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ notwendig sei78, hatte doch Papen selbst bürger­ kriegs­ähnliche Zustände heraufbeschworen. Als Innenminister Severing das Vorgehen für verfassungswidrig erklärte und hinzufügte, dass er nur der Gewalt weichen werde79, wurde 72  Vgl.

dazu Bay, Preußenkonflikt (Anm. 69), bes. 5–16. Schulz, Von Brüning zu Hitler (Anm. 59), 930. 74  Schreiben Reichskanzler v. Papens an Otto Braun vom 20.07.1932, in: Das Kabinett von Papen (Anm. 62), 257; vgl. dazu Joachim Lilla, Der „Preußenschlag“. Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Amtsenthebung der preußischen Regierung, in: Otto Braun. Ein preußischer Demokrat, hrsg. v. Manfred Görtemaker, Berlin 2014, 103–117, hier 103 f. 75  Vgl. Kolb, 20. Juli 1932 (Anm. 37), 19. 76  Text der 1.  Verordnung des Reichspräsidenten vom 20.7.1932 in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, hrsg. v. Herbert Michaelis/Ernst Schraepler, Bd. 8: Die Weimarer Republik. Das Ende des parlamentarischen Systems. Brüning – Papen – Schleicher, Berlin o. J., 570; Protokoll der „Besprechung“ vom 20.7.1932, in: Das Kabinett von Papen (Anm. 62), 257–259; siehe auch ebd., 259–262. 77  Vgl. Lilla, Preußenschlag (Anm. 74), 104 f. 78  Verordnung des Reichspräsidenten v. Hindenburg betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen, abgedruckt in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4: Deutsche Verfassungsdokumente 1919–1933, hrsg. v. Ernst Rudolf Huber, Stuttgart/Berlin/ Köln (3) 1961, 560; siehe dazu Scheuner, Anwendung (Anm. 28), 283. 79  Protokoll der „Besprechung“ vom 20.07.1932, in: Das Kabinett von Papen (Anm. 62), 257–259, hier 258. Papens Vorgehen war in der Tat verfassungswidrig; vgl. Scheuner, Anwendung (Anm. 28), 284. 73  Vgl.



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mit einer (vorbereiteten) Zweiten  Notverordnung der Ausnahmezustand in Groß-Berlin und Brandenburg verkündet80, die vollziehende Gewalt ging auf Generalleutnant von Rundstedt über81. Der weitere Verlauf des Tages glich einem Possenspiel: Kommissar Papen berief als neuer Ministerpräsident eine Sitzung der Staatsregierung ein. Als wie erwartet niemand erschien, entließ Papen auch die übrigen preußischen Minister82. Auch vier Staatssekretäre wurden entlassen83. Bracht erschien am Nachmittag im Dienstzimmer Severings. Der weigerte sich (wie angekündigt) die Geschäfte zu übergeben, Bracht holte einen Polizeioffizier und Severing wich in der Tat symbolisch nur der Gewalt84. Die Führung der preußischen Polizei (Polizeipräsident Albert Grzesinski85, sein Vertreter Bernhard Weiß und Magnus Heimannsberg, der Kommandeur der Berliner Schutzpolizei) wurde vorübergehend verhaftet, die preußische Polizei als eigenständiger politischer Faktor ausgeschaltet86. An den wichtigsten Punkten Berlins zogen bewaffnete Soldaten auf87. Während der Reichstags-Wahlkampf bisher mit erbitterter Härte geführt worden war, blieb es am 20. Juli geradezu erstaunlich ruhig: Es gab 80  Text der 2.  Verordnung des Reichspräsidenten vom 20.7.1932 in: Ursachen und Folgen Bd. 8 (Anm. 76), 570 f.; vgl. Biewer, Preußenschlag (Anm. 25), 165. 81  Vgl. Brecht, Mit der Kraft (Anm. 2), 174; anders Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 114, der behauptet, Schleicher sei mit der vollziehenden Gewalt betraut worden. Severing selbst wurde wegen einer angeblichen Besprechung mit Hindenburg hingehalten, um ihn an energischen Gegenmaßnahmen zu hindern; vgl. Wilhelm Gerwiens, Der 20. Juli 1932 in Wahrheit und Dichtung (Schriften zur Zeit), Bielefeld o. J. [1947], 29; siehe dazu auch die ansonsten weitgehend unbrauchbare Darstellung von Franz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, 220. 82  Vgl. Lilla, Preußenschlag (Anm.  74), 105–107; Petzold, Franz von Papen (Anm. 16), 93. 83  Vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 516. Entlassen wurden Abegg, Krüger, Staudinger und Weismann. 84  Vgl. die Aufzeichnungen vom 20.7.1932, in: Das Kabinett von Papen (Anm. 62), 267–272, hier 271; außerdem Carl Severing, Mein Lebensweg, Bd. II: Im Auf und Ab der Republik, Köln 1950, 352. 85  Vgl. Albrecht Grzesinski, Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, hrsg. von Eberhard Kolb (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte 9), München 2001; siehe dazu Thomas Albrecht, Für eine wehrhafte Demokratie. Albrecht Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, 51), Bonn 1999, 313. 86  Vgl. Hsi-Huey Liang, Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik (Ver­ öffentlichungen der Berliner Historischen Kommission, 47), Berlin/New York 1977, 128. 87  Vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 513.

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in Berlin „keine Massenkundgebungen, keine Streikaktionen, kein Blutvergießen; es waren an diesem Tag weder Tote noch Verletzte zu verzeichnen, Reichswehr und Polizei brauchten nicht einzugreifen.“88 Mit einem stärkeren Widerstand wäre die Papen-Regierung auch kaum fertig geworden, da sich „ein Großteil der in und um Berlin stationierten Truppen im Urlaub bzw. auf Übungsplätzen befand“89. Am Abend des 20. Juli 1932 verbreitete Franz von Papen im Rundfunk dann das Märchen von der drohenden Gefahr eines kurz bevorstehenden kommunistischen Umsturzes90. Er spielte dabei auf eine Denunziation des späteren GeStaPo-Chefs Rudolf Diels an, der das ohne Wissen des Ministers geführte, also rein informelle und zudem folgenlose Gespräch Wilhelm Abeggs mit den zwei KPD-Abgeordneten stark aufgebauscht hatte, obwohl Papen seit dem 19.  Juli wusste, dass Diels Behauptungen nicht den Tatsachen entsprachen91. Der Landtag versammelte sich erst wieder am 30.  August, also sechs Wochen später. Zwar hätte die Weimarer Koalition mehr als genug Mandate besessen, um das durch die Verfassung garantierte Selbstversammlungsrecht des Landtags zu praktizieren92, doch waren offenbar auch die 88  Kolb,

20. Juli 1932 (Anm. 37), 21. Demokratie ohne Demokraten? Die Innenpolitik der Weimarer Republik (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert 6), Berlin 2008, 160. 90  Rede Papens vom 20.07.1932, in: Ursachen und Folgen Bd. 8 (Anm. 76), 574– 576; vgl. dazu Bracher, Auflösung (Anm. 23), 516 f.; Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 116; Lilla, Reichskommissar (Anm. 40), 102 f.; Petzold, Franz von Papen (Anm. 16), 96. 91  Vgl. Schulz, Von Brüning zu Hitler (Anm. 59), 928, Anm. 132. Dennoch wurde auch in Hugenbergs Zeitung „Der Tag“ am nächsten Tag wahrheitswidrig behauptet, die Reichsregierung habe „die entscheidenden Maßnahmen getroffen, um die völlig unhaltbar gewordenen Zustände in Preußen zu beseitigen und in dem größten deutschen Lande die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen“ [Der Tag Nr. 174, Do. 21.7.1932, 1. Das folgende Zitat ebd.] Und in einem Kommentar wurde von Regierung ein „rücksichtsloses und unbedenkliches Handeln“ verlangt, damit „jeder Staatsbürger im Lande Preußen die eingetretene grundsätzliche Änderung merkt, gegen die mit Agitation und zersetzender Pressepolemik nicht mehr angegangen werden kann, weil das die Staatsautorität verbietet. Nur zögernde Haltung der verantwortlichen Männer könnte der Linken noch den Mut geben, die begonnene Entwicklung zur Gesundung von Staat und Nation zu sabotieren. In der Erkenntnis, einem eisernen und unabänderlichen Willen der Staatsautorität gegenüberzustehen, werden sich die Linkselemente schnell und bescheiden fügen und sich damit abzufinden wissen, daß die Zeit ihres unberechtigten zum Schaden von Volk und Staat ausgeübten Herrschaftsanspruches vorüber ist.“ [Ebd.] 92  Art. 13 bestimmte: „Der Präsident des Landtags muß ihn früher einberufen, wenn es das Staatsministerium oder mindestens 1/5 der Landtagsabgeordneten verlangt.“ [Fr. Ehringhaus, Die Preußische Verfassung und die Wahlgesetze zum 89  Hendrik Thoß,



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demokratischen Abgeordneten in Schockstarre verfallen93. Das lag auch daran, dass die Kommunisten die SPD für den Preußenschlag mitverantwortlich machten, dass also die linken Gegner der Papen-Regierung tief zerspalten waren – und bis 1933 blieben. Während die Rechte triumphierte, rief die Regierung Braun umgehend den Staatsgerichtshof an. Dieser lehnte es jedoch nach zweitägiger Beratung am 25.  Juli ab, eine einstweilige Verfügung zu erlassen94, und ließ sich auch mit der Hauptverhandlung (10. bis 25. Oktober) Zeit95. Inzwischen verlor die SPD die Reichstagswahl vom 31.  Juli  1932, von der sie sich gerade jetzt einiges erhofft hatte96, worauf es auch auf Reichsebene zu einer negativen Mehrheit aus NSDAP und KPD kam. IV. Reichsreformbestrebungen von Papens, Gayls und des Ringkreises Der Versuch einer Reichsreform beherrschte die Geschichte der Republik; „[…] er beschränkte sich keineswegs auf die Gegner der parlamentarischen Demokratie, ging vielmehr quer durch die politischen Fronten und war ein wichtiges Symptom für das Misslingen der Kompromissordnung, der die Weimarer Verfassung Raum schaffen wollte.“97

Deshalb nutzte Papen auch dieses Thema zur Rechtfertigung seines Griffs nach der Macht. Mit dem „Preußen-Staatsstreich“98 wurden wie geplant das Reichskabinett und das Preußische Staatsministerium miteinander verbunden99, denn „auf dem Weg zum ‚starken‘ Reich im jungkonservativen Sinne war die Unterordnung Preußens unter die Zentralgewalt des Reiches ein unerlässlicher Schritt“100. Dabei wurde nicht nur Preußischen Landtage, zu den Provinziallandtagen und den Kreistagen von 1920. Eine Einführung mit dem genauen Wortlaut aller vier Gesetze und einem Sachverzeichnis, Göttingen 1921, 6.] 93  Vgl. Möller, Parlamentarismus (Anm. 15), 574. 94  Vgl. Brecht, Mit der Kraft (Anm. 2), 178; Lilla, Preußenschlag (Anm. 74), 108. 95  Vgl. Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 116. 96  Vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 519. Die SPD (21,6 %) verlor 2,9 %, während die NSDAP (37,3 %) 19 % hinzugewann. Verlierer waren auch die DNVP (-1,1 % auf 5,9 %) und die DVP (-3,3 % auf 1,2 %), welche die Regierung Papen unterstützt hatten. 97  Bracher, Auflösung (Anm. 23), 492. 98  Hörster-Philipps, Konservative Politik (Anm. 5), 273–287; siehe auch Huber, Verfassungsgeschichte VII (Anm. 48), 1019. 99  Vgl. Lilla, Reichskommissar (Anm. 40), 92–106. 100  Vgl. Hörster-Philipps, Konservative Politik (Anm. 5), 96; siehe auch ebd., 94– 97.

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offensichtlich die Verfassung verletzt, sondern auch die demokratische Verfassungsordnung der Weimarer Republik insgesamt in Frage gestellt101, und zwar noch bevor sich die Mehrheit der Wähler bei der Reichstagswahl elf Tage später mit ihrer Stimmabgabe faktisch gegen diese ausgesprochen hatte. Das empörende Vorgehen der Regierung Papen am 20.  Juli ist nur zu verstehen, wenn auch nicht zu rechtfertigen, wenn man es als Versuch begreift, Ideen der „Jungkonservativen“ in die Tat umzusetzen102. Deshalb behauptete Heinrich von Gleichen in der jungkonservativen Zeitschrift „Der Ring“ auch, mit der Regierung Papen sei die Bahn frei „für ein neues Reich, das in sich stabil ist und sich in die europäische Konstellation elastisch einfügt.“103 Zugleich sollte der Preußenschlag, zusammen mit der Aufhebung des SA-Verbotes und der vorzeitigen Auflösung des Reichstages, der Regierung Papen die Tolerierung durch die NSDAP erkaufen und somit zu einer parlamentarischen (Duldungs-)Mehrheit verhelfen.104 Dieser Deal platzte jedoch, als ein internes Schreiben Heinrich von Gleichens an den „Demokratischen Zeitungsdienst“ gelangte und im sozialdemokratischen „Vorwärts“ abgedruckt wurde, denn die NSDAP widersprach sofort energisch dem Vorwurf, einen „volksverräterischen Pakt mit dem Herrenklub“ geschlossen zu haben105. Nach Innenminister Gayls Plänen sollte die Aktion zum Ausgangspunkt einer umfassenden Reichsreform mit dem Ziel einer Liquidation

101  Vgl. 102  Vgl.

Möller, Preußen (Anm. 32), 302. dazu Petzinna, Erziehung (Anm. 49), 257–273; Postert, Kritik (Anm. 49),

400–418. 103  Heinrich v. Gleichen, Reich und Reichsführung, in: Der Ring 5 (1932), zitiert nach Postert, Kritik (Anm. 37), 402. Schon am 7. Juni 1932 schlug Hans Bodo v. Alvensleben, der Präsident des Herrenklubs, der Regierung brieflich vor, „das Preußenproblem durch die Einsetzung eines Reichskommissars zu erledigen.“ [zitiert nach Ishida, Jungkonservative (Anm. 22), 211.] Allerdings versuchte der Ringkreis auch etwas seinen Einfluss zu vernebeln, wenn Walther Schotte am 29.07.1932 im „Ring“ schrieb, es gehe Papen nicht um eine Lösung der „preußisch-deutsche(n) Frage“, sondern vor allem um die Bildung einer „ordentlichen Regierung.“ [Ebd., 210.] Schotte wurde laut Schoeps „zum Hofpropagandisten des neuen Kabinetts“ Papen [Schoeps, Herrenklub (Anm. 49), 138]. 104  Vgl. Hörster-Philipps, Konservative Politik (Anm. 5), 279, 287–301; Ishida, Jungkonservative (Anm. 22), 204–206; Heinrich Muth, Carl Schmitt in der deutschen Innenpolitik des Sommers 1932, in: Beiträge zur Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. v. Theodor Schieder (Historische Zeitschrift, Beiheft  1), München 1971, 103; Pyta, Verfassungsumbau (Anm. 3), 178 f. 105  Schoeps, Herrenklub (Anm. 49), 142; das Weitere ebd., 141–151.



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der Weimarer Verfassung werden106. Diese Pläne stellte Gayl am 11. August 1932, dem „Verfassungstag“, der Öffentlichkeit vor107. Es ist zweifellos ein einmaliger Vorgang, dass ein Innenminister, dem der Schutz der Verfassung oblag, ausgerechnet am Verfassungstag für deren Abschaffung plädierte108. Die ideologische Begründung von Gayls Konzept lieferte Walther Schotte, sowohl in einer kleinen Broschüre über das neue Kabinett109 als auch in dem aufwändiger gestalteten Buch „Der neue Staat“110, das in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt wurde, von denen jedoch der größte Teil unverkauft blieb111. Darin hieß es: „Die Frage ist nun, ob dieser Zustand, der heute durch einen Hoheitsakt des Reichspräsidenten gemäß Artikel 48 der Reichsverfassung doch seinem Wesen nach nur auf begrenzte Zeit und verwaltungsmäßig geschaffen ist, ob dieser Zustand auf die Dauer und verfassungsrechtlich durch eine Reichsreform gesichert werden kann.“112

Damit stimmte die Regierung mit dem „sog. „Freiheits-Programm“ der DNVP überein, das forderte: „Reichsregierung und Preußenregierung sind sinnvoll miteinander zu verbinden, wie im Bismarck-Reich. Die Weimarer Verfassung hat uns den unseligen Zwiespalt zwischen Reich und Preußen beschert. Er muss verschwinden.“113 Konkret sollte der Reichskanzler „zugleich Preußischer Ministerpräsident“ werden, auch die jeweiligen Ministerien des Innern sowie für Ernährung und Landwirtschaft sollten vereinigt werden, der Art. 54 der Weimarer Reichsverfas-

106  Strenge spricht von einer „Reichsreform auf kaltem Wege“ [Strenge, Kurt von Schleicher (Anm. 8), 118]; vgl. Papens Rede vom 28.8.1932, in: Ulrich Thürauf (Hrsg.), Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender 1932 (Neue Folge. 48. Jahrgang. Der ganzen Reihe 73. Band), München 1933, 144–149; siehe dazu Eberhard Kolb/Wolfram Pyta, Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Die deutsche Staatskrise 1930–1933, hrsg. v. Heinrich August Winkler, München 1992, 155–181; Muth, Carl Schmitt (Anm. 104), 117–125; Schildt, Militärdiktatur (Anm. 5), 55–57. 107  Vgl. Petzinna, Erziehung (Anm. 49), 266. 108  Vgl. Hörster-Philipps, Konservative Politik (Anm. 5), 327–330. 109  Vgl. Walther Schotte, Das Kabinett Papen Schleicher Gayl (Männer und Mächte), Leipzig 1932, bes. 30–45. 110  Walter Schotte, Der neue Staat. Berlin 1932, bes. 45–76; vgl. dazu auch Heinrich Herrfahrdt, Der Aufbau des neuen Staates. Vorträge zur Verfassungsreform mit einem Plan für die Übergangsregelung im Reich und in Preußen, Berlin 1932. 111  Vgl. Schoeps, Herrenklub (Anm. 38), 148 (mit Anm. 49). 112  Schotte, Der neue Staat (Anm. 110), 51. 113  Vgl. Das Freiheits-Programm der Deutschnationalen Volkspartei. Mit einem Vorwort von Alfred Hugenberg, hrsg. v. R[einhold] G[eorg] Quaatz/P[aul] Bang, Berlin 1932, 8.

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sung sollte wegfallen, damit „die Regierung im Reich und in Preußen vom Willen der Parlamentsmehrheit unabhängig“ würde114. Dabei war Franz v. Papen durch „monarchische Nebenabsichten motiviert“115. Zudem war eine Umformung des Föderalismus angedacht, bei dem das Reich in vermeintlich mittelalterliche „Stämme“ gegliedert werden sollte, um die Länderregierungen auszuschalten.116 Faktisch lief dies auf eine weitgehende Abschaffung des Föderalismus hinaus, so dass es insbesondere von Seiten Bayerns und Badens zu scharfen Protesten kam117. Auch das Zentrum sprach sich (auf Grund der negativen Erfahrungen im Kaiserreich, insbesondere während des „Kulturkampfs“) „gegen jede Erneuerung der preußischen Hegemonie“ aus118. Und nicht zuletzt sollte die SPD in Preußen aus ihrer letzten „Regierungsbastion“ verdrängt, zugleich aber die NSDAP von einem Zugriff auf diese abgehalten werden119. Mit der missbräuchlichen Anwendung des Artikel 48 WRV strebte Papen die Schaffung eines Dritten Reiches an, wie es der Jungkonservative Moeller van den Bruck bereits 1923 beschrieben hatte120, und zwar mit ihm, Franz von Papen, als dem starken Mann an der Spitze.

114  Vgl.

Freiheits-Programm (Anm. 113), 9. Hindenburg (Anm. 65), 112–115. 116  Walther Schotte, Das Reich und die Stämme, in: Reich und Staat 11/1932, 149; siehe auch von dems., Neugliederung des Reiches und föderales Prinzip, in: Reich und Staat 5/1932, 79; Petzinna, Erziehung (Anm. 49), 269. 117  Vgl. Wolfgang Benz, Papens „Preußenschlag“ und die Länder, in: VfZ 18 (1970), 520–538. Bewusst gewollt aber war das Ende Preußens, wie Wilhelm Stapel in seiner Broschüre mit dem irreführenden Titel „Preußen muß sein“ am Ende formulierte: „Wir wissen, daß Preußen nicht unsterblich ist. Einmal wird es sein Gesetz ausgelebt, seine Substanz verbraucht haben, einmal wird die Zeit kommen, da Preußen keine deutsche Aufgabe mehr hat. […] Darum aber müssen wir die Vollendung Preußens und des preußischen Reiches wollen. Erst aus der Voll­ endung Preußens geht das neue Reich hervor.“ [Wilhelm Stapel, Preußen muß sein. Eine Rede für Preußen, 2. Aufl. Hamburg 1932, 46.] 118  Vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 496–500. Schotte betonte in der Tat, man könne „die Reichsreform nicht dadurch erreichen, daß man Preußen im Reich aufgehen läßt.“ [Schotte, Der neue Staat (Anm. 110), 51.] 119  Vgl. Pyta, Hindenburg (Anm. 65), 711–713. 120  Vgl. Artur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, 1. Aufl. Berlin 1923, 2. Aufl. Berlin 1926, 3. Aufl. Hamburg 1931; siehe dazu auch Scheuner, Anwendung (Anm. 28), 281. 115  Pyta,



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V. Otto Brauns Bündnisangebot an Schleicher Im völligen Gegensatz zu Papens Plänen standen Vorstellungen Otto Brauns. Dieser hatte sich 1927 in einem Vortrag vor der sozialdemokratischen Studentenvereinigung eindeutig für den Vorrang Preußens in Deutschland, aber gegen eine Zerschlagung Preußens ausgesprochen121. Zugleich beklagte er, dass die Weimarer Verfassung „alle Zeichen eines wenig befriedigenden Kompromisses“ aufweise, da der gegenwärtige Zustand „überaus unwirtschaftlich und teuer“ sei, weshalb „das Nebeneinander des Großstaates Preußen und des Reichs mit den beiden Regierungen hier in Berlin auf die Dauer unhaltbar“ sei122. Braun forderte darum eine Lösung dieses Problems durch das Reich, allerdings nur durch Ausschöpfung der Möglichkeiten, welche „die Reichsverfassung auf legislativem wie administrativem Gebiete gibt“.123 Die SPD war stets für den „dezentralisierten Einheitsstaat“ eingetreten124. Insbesondere Braun hatte grundsätzlich nichts gegen eine Personalunion zwischen dem Reich und Preußen125. Noch 1932 hieß es darum in einer offiziellen Broschüre des Preußischen Staatsministeriums, dass die Regierung Braun für eine „gesunde Reichsreform eintrete126.

121  „Ich billige damit durchaus nicht all die Methoden, die von Preußen beliebt wurden, wenn ich die geschichtliche Tatsache feststelle, daß erst der von dem erstarkten Preußen ausgehende und durch die wirtschaftlichen Erfordernisse stark unterstützte machtpolitische Druck das Deutsche Reich zu einer realpolitischen Wirklichkeit werden ließ.“ [Otto Braun, Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem? Berlin 1927, 9; siehe dazu auch Erich Kuttner, Otto Braun, Berlin 1931, 92 f.] 122  Vgl. Braun, Deutscher Einheitsstaat (Anm. 121), 15, 27. 123  Vgl. ebd., 34. 124  Bracher, Auflösung (Anm. 23), 497; das folgende Zitat ebd., 498. 125  „Über zehn Jahre habe ich, gerade um die Beeinträchtigung des Reiches durch den Dualismus Reich-Preußen zu mildern, die Reichspolitik ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung der Reichsregierung gestützt; oft auch unter Schädigung der Werbekraft meiner Partei, die im Reichstag Reichsmaßnahmen heftig bekämpfte, die ich im Reichsrat im Interesse der gedeihlichen Zusammenarbeit Reich-Preußen unterstützte.“ [Zitiert nach Biewer, Preußenschlag (Anm. 25), 161; das zweite Zitat ebd., 166; vgl. dazu auch Brecht, Mit der Kraft (Anm. 2), 437–439; Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928–1932 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich Ebert-Stiftung, 111), Bonn/Bad Godesberg 1975, 268–271.] 126  „Die Preußische Regierung hat die Vorarbeiten zur Reichsreform tatkräftig gefördert. Vielfach haben sich die preußischen Staatsminister in Wort und Schrift für eine gesunde Reichsreform eingesetzt, an ihrer Spitze Ministerpräsident Braun.“ [Preußen 1932. Politik in Stichworten, hrsg. v. der Pressestelle des Preußischen Staatsministeriums, Berlin 1932, 112.]

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Auch nach dem 20. Juli 1932 stand für Braun das Wohl des Reiches im Vordergrund. Seine Regierung befürworte weiterhin eine Reform des ­Verhältnisses Preußen-Reich, auch wenn das ehrabschneidende Verhalten der Papen-Regierung sie zutiefst verletzte  – und somit die Verwirklichung ihrer Ideen eines „Neuen Staates“ erschwerte, statt sie zu befördern127. Deshalb traf sich Otto Braun auch nach Papens Sturz am 6.  Januar 1933 mit dem inzwischen zum Reichskanzler ernannten Schleicher128, dem er einen mutigen Plan zur Verhinderung der drohenden Regierung Hitler-Papen vorschlug: „Heben Sie die Verordnung über den Reichskommissar auf. Ich will ohne Rücksicht auf meine Gesundheit die Führung der Staatsgeschäfte wieder fest in die Hand nehmen. Sie lösen den Reichstag auf, ich führe die Auflösung des Landtages herbei. Wir schieben die Wahlen bis weit in das Frühjahr hinaus, regieren inzwischen mit Verordnungen und führen einen einheitlichen nachdrücklichen Kampf gegen die Machtansprüche der Nationalsozialisten. Diese haben bei der Novemberwahl bereits zwei Millionen Stimmen verloren, haben ihren Höhepunkt überschritten und befinden sich im Rückgange. Wir brauchen nur noch nachzustoßen, um ihnen bei Frühjahrswahlen eine vernichtende Niederlage zu bereiten. Denn eine innerlich so hohle, durch Demagogie hochgetriebene, vornehmlich von Desperados und Stellenjägern aller Art geleitete und getragene, aus dunklen Finanzquellen gespeiste Bewegung stürzt ebenso lawinenartig ab, wie sie angeschwollen ist, wenn sie erst rückläufig wird und die Finanzquellen nicht mehr fließen. Ist der nationalsozialistische Spuk zerstoben, dann bekommen wir arbeitsfähige Parlamente und können der schwierigen Probleme Herr werden, um so mehr als auch die Wirtschaftskrise offenbar ihren Höhepunkt überschritten hat und Aussicht auf Besserung der Wirtschaftslage besteht.“129

Braun schlug damit im Grunde genommen die Erneuerung des Bündnisses zwischen Militär und SPD vom November 1918 vor, das zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und zur Abwehr der extremistischen Bestrebungen geschlossen worden war, also eine Erfolg versprechende Lösung der Staatskrise. 127  Vgl.

Bracher, Auflösung (Anm. 23), 527. Ehni, Bollwerk (Anm. 125), 284–287; Huber, Verfassungsgeschichte VII (Anm. 48), 1217–1219; Johann Rudolf Nowak, Kurt von Schleicher  – Soldat zwischen den Fronten. Studien zur Weimarer Republik als Epoche der innenpolitischen Krisen, dargestellt an Leben und Laufbahn des Generals und Reichskanzlers Kurt von Schleicher (Diss.), Würzburg 1969, 1166 f.; Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 773–776; Strenge, Kurt von Schleicher (Anm. 8), 208 f. 129  Zitiert nach Schulze, Otto Braun (Anm. 37), 774; vgl. Biewer, Preußenschlag (Anm.  25), 167 f.; Schildt, Militärdiktatur (Anm. 5), 172; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, 570. 128  Vgl.



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Dieses Bündnis war dem Reichspräsidenten gegenüber jedoch nicht vermittelbar, da es alle Prinzipien eines „Hindenburg-Kabinetts“ verletzte, das antimarxistisch, antiparlamentarisch und gegen den Dualismus Preußen-Reich gerichtet sein sollte130. Dass die SPD wiederum auf der Korrektur des Preußenschlages bestand, ist verständlich, denn die Präsidialregierung Papen glich frappierend der Militärdiktatur der OHL bzw. des Generals Ludendorff ab 1916.131 VI. Schleichers „Querfrontplan“ und der TAT-Kreis General Kurt von Schleicher war Reichswehrminister im Kabinett von Papen. Er hatte ihn zum Kanzler gemacht. Mit ihm verbündet waren die Volkskonservativen, die den Preußenschlag positiv beurteilten132, ebenso der TAT-Kreis um den (zu Unrecht in Vergessenheit geratenen) Publizisten Hans Zehrer133. Wie Papen stilisierte auch Zehrer Hindenburg zum einzigen stabilisierenden Faktor Deutschlands: Deutschland ähnele „völlig einer Monarchie“, deren Souverän der Reichspräsident sei134, wobei beachtet werden müsse, „daß dieser Souverän 85 Jahre alt ist und daß er keinen einzigen Nachfolger haben wird, daß die gesamte Autorität mit ihm zusammenbrechen wird.“ Nach Hindenburgs Tod, so Hans Zehrer prophetisch, werde ein tieferer Einschnitt als 1918 erfolgen: „Eine ganze Generation, die heute noch in der Sonne der Autorität des Präsidenten blüht und sich behauptet, wird mit einem Schlage ausgeschaltet und zur Bedeutungslosigkeit verurteilt werden. Eine andere, zum großen Teil heute noch anonyme Generation wird mit einem Schlage freies Feld vor sich sehen.“ Deshalb sei die entscheidende Frage nicht, „wer kommt nach Papen? Sie lautet: wie sieht Deutschland ohne Hindenburg aus?“

130  Vgl.

Vogelsang, Reichswehr (Anm. 19), 70. De facto-Diktatur hielt nach dem Zurücktreten der kaiserlichen Macht noch die alte Ordnung gegen die immer stärker werdende demokratische und sozialistische Bewegung an der Herrschaft.“ [Bracher, Auflösung (Anm. 23), 11.] 132  Vgl. Erasmus Jonas, Die Volkskonservativen 1928–1933. Entwicklung, Struktur, Standort und staatspolitische Zielsetzung (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 30), Düsseldorf 1965, 125. 133  Vgl. Klaus Fritzsche, Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Das Beispiel des ‚Tat‘-Kreises, Frankfurt am Main 1976, 272 f. 134  Hans Zehrer, Deutschland ohne Hindenburg, in: DIE TAT 9/24 (1932/33), 721–727, hier 725. Der Artikel ist in Anhang 1 vollständig abgedruckt; dort finden sich auch die folgenden Zitate. 131  „Diese

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Wie Papen forderten auch Hans Zehrer und der TAT-Kreis eine umfassende Reichsreform: „Jede wirkliche Arbeit an der Beseitigung der deutschen Krisis muß von einer Reichsreform ausgehen, sie bildet die Grundvoraussetzung für alle weiteren Maßnahmen, da sie lebendige, leistungsfähige Länder schaffen soll, die das Reich entlasten. Die Beseitigung des Dualismus zwischen dem Reich und Preußen ist bereits erfolgt; ebenso gibt die Verwaltungsreform, die heute in Preußen durchgeführt wird, die Grundlage, an die endgültige Neuformung des Reiches heranzugehen.“135

Dies schloss allerdings eine deutliche Kritik der Regierung Papen nicht aus, z. B. durch Hans Zehrer im Juli-Heft der TAT in einer Glosse über „Die neuen Herren“136. Auch General Schleicher sorgte sich bald darüber, dass Papen allzu unpopulär war: „Einer Regierung, deren Vertrauensgrundlage im Volk dauernd abnimmt, deren parlamentarische Basis mit den tatsächlichen Verhältnissen im Volke nicht mehr übereinstimmt, würde auch die Verfügung über die Wehrmacht nichts nützen. Eine dauerhafte und produktive Regierung ist vielmehr nur möglich, wenn sie sich nicht gegen die Strömungen wendet, welche die Massen des Volkes erfüllen, sondern wenn sie es versteht, sich aus den lebendigen und zukunftsvollen Kräften des Volkes eine breite Vertrauensgrundlage zu schaffen.“137

Insofern hatte Schleicher in der Frage der Reichsreform ganz andere Pläne als Papen: Während dieser auf einer arbeitgeberfreundlichen, autoritären Politik beharrte, schwebte Schleicher in Zusammenhang mit Hans Zehrer und seinem TAT-Kreis eine arbeitnehmerfreundliche Querfront vor, die von den sozialistischen Gewerkschaften über die christ­ lichen bis hin zum linken Flügel der NSDAP reichen sollte. Außerdem sollte kein Großpreußen im Sinne Papens und Gayls entstehen. Vielmehr strebte man „ein organisches Bündnis gleicher Gliedstaaten an“138: Die autoritäre Regierung sollte aber nach den Vorstellungen Hans Zehrers nicht zentralistisch oder omnipotent sein, sie sei im Gegenteil dazu gezwungen, „konsequente föderalistische Politik zu treiben, um sich ­ selber aufzulockern, zu entlasten und Aufgaben abschieben zu kön­ ­

135  Hans Zehrer, An der Wende! Die Revolution des Stimmzettels ist beendet, in: DIE TAT 6/24 (1932), 433–451, hier 450. 136  Vgl. H[ans] Z[ehrer], Die neuen Herren, in: DIE TAT 4/24 (1932/33), 341–347; vgl. dazu Fritzsche, Politische Romantik (Anm. 133), 269; Petzinna, Erziehung (Anm. 49), 263. 137  Schleicher im „Vorwärts“, zitiert nach Hans Zehrer, Revolution oder Restauration? Die drei Elemente des Staates, in: Die TAT 5/24 (1932/33), 353–393, 366. 138  Vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 492.



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nen.“139 So solle der Volkswillen besser repräsentiert werden, und zwar durch Gründung eines Großdeutschen Bundes. Darin solle es eine „Organisation der Jugend“ geben, und zwar (konsequent föderalistisch) z. B. eine „Schlesische Jungmannschaft“. Dazu solle z. B. eine „Landesgruppe Schlesien“ für die Erwachsenen kommen und eine dritte Unterorganisation, wo das gleiche föderalistische Prinzip auch „für die Berufsstände jeglicher Richtung einschließlich der Gewerkschaften“ gelte: „Auch diese Berufsstände müssen dadurch, daß man sie zu Körperschaften öffentlichen Rechtes ausbaut und ihren Aufgabenkreis bedeutend erweitert, zur Entlastung des Staates herangezogen werden. Und zwar erfolgt dieser Ausbau nur bei den Berufsverbänden, die sich freiwillig dazu bereitfinden und sich der staatlichen Aufsicht unterordnen.“ Entstehen könne so z. B. eine „schlesische Arbeitsgemeinschaft“, also erneut ein föderalistisch-landsmannschaftliches Organ. Diese Pläne, die den später in Österreich umgesetzten stark ähnelten, boten eine akzeptable Alternative zur drohenden NS-Diktatur. Da selbst in Gewerkschaftskreisen vor allem die Form der Durchführung des Preußenschlags kritisiert140 wurde, nicht aber die Aktion an und für sich, wundert es nicht, dass für Schleicher der Preußenschlag ein großer Erfolg war, denn durch diesen sei es gelungen, „dem unerträglichen Dualismus zwischen Reich und Preußen ein Ende zu machen“141. Auch deshalb gelang es ihm, Franz Bracht auf seine Seite zu ziehen, der als kommissarischer Innenminister Preußens und Stellvertreter Papens de facto an der Spitze des Freistaates Preußen stand142. Als Kurt von Schleicher im Dezember 1932 Reichskanzler (und Reichskommissar für Preußen) geworden war, kam es im Preußischen Landtag am 14. Dezember zu einer letzten kurzen Neuauflage der Weimarer Koalition, schon ganz im Zeichen von Schleichers Querfront-Plan, da etliche Abgeordnete der NSDAP fehlten, der Landtag aber beschlussfähig blieb. Darum konnte (nach der rein destruktiven Papen-Zeit) eine Reihe von Beschlüssen gefasst werden143.

139  Hans Zehrer, An der Wende der Innenpolitik? In: DIE TAT 10/24 (1932/33), 822–828, abgedruckt als Anhang 2; dort auch die folgenden Zitate. Die erste Unterüberschrift lautet: „Es geht nur autoritär“. 140  Vgl. Schildt, Militärdiktatur (Anm. 5), 147 (mit Anm. 355; dort weitere Quellenhinweise). 141  Zitiert nach Hermann Pünder, Politik in der Reichskanzlei. Aufzeichnungen aus den Jahren 1929–1932, hrsg. v. Thilo Vogelsang (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 3), Stuttgart 1961, 149. 142  Vgl. Nowak, Schleicher (Anm. 128), 1084 (mit Anm. 90). 143  Vgl. Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 120.

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Zeitweilig konnte Schleicher hoffen, die NSDAP zu spalten und mit Hilfe von deren linkem Flügel wieder eine regierungsfähige Mehrheit im Reichstag zu erreichen. Ganz in seinem Sinne stellte Rolf Boelcke im Januar-Heft der TAT die berechtigte Frage nach dem künftigen „Weg des Nationalsozialismus“144. Darin warf er Hitler vor, 1932 zweimal versagt zu haben, als eine Regierungsbeteiligung unter Papen und unter Schleicher möglich gewesen sei; seine rein destruktive, egoistische Politik sei zudem undeutsch: „Der Kampf gegen den autoritären Staat, der durch die Zusammenarbeit des Reichspräsidenten mit dem General von Schleicher eine weitere sinnvolle Stabilisierung erfahren hat, läßt immer mehr eine positive, praktisch verwertbare Einstellung zum Volksganzen vermissen.“ Auch Boelcke setzte auf Strasser statt auf Hitler und beklagte „ein überspitztes, jede selbständige Meinungsäußerung ertötendes Führerprinzip“ innerhalb der NSDAP145. Am 6. Januar 1933 kam es zu Otto Brauns Angebot und zur erzwungenen Ablehnung durch Schleicher, weil Reichspräsident Hindenburg die Korrektur des Preußenschlags nie akzeptiert hätte146. Bis zum letzten ­Tage seiner Kanzlerschaft legte Schleicher den Schwerpunkt auf die Sozialpolitik und vor allem auf eine föderalistische Reichsreform. Allerdings sollte, so wie Papen die unverdienten Früchte der Außenpolitik Brünings erntete, Adolf Hitler von den Früchten der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Kurt von Schleichers profitieren. Der Versuch, eine NS-Machtübernahme in Deutschland zu verhindern, war gescheitert, während man in Österreich daraus lernte und somit eine NS-Diktatur (zumindest bis 1938) abwenden konnte. VII. Die Folgen bis zum Ende der Weimarer Republik im Frühjahr 1933 Die SPD verzichtete im Juli 1932 auf einen Generalstreik und nahm damit ihr Verhalten vom Februar 1933 vorweg. Für einen erfolgreichen Widerstand sprachen drei Gründe147: Erstens befanden sich die Reichs-

144  Vgl. Rolf Boelke, Der Weg des Nationalsozialismus, in: DIE TAT 10/24 (1932/33), 876–880; abgedruckt als Anhang 3; dort auch die folgenden Zitate. 145  Noch im Märzheft 1933 der TAT drückte ein Anonymus die Hoffnung aus, dass General Schleicher und Gregor Strasser nur vorübergehend in die „Führerreserve“ getreten seien, und zwar vor allem wegen ihres sozialpolitischen Engagements; vgl. Anonymus, Schleicher und Straßer, in: DIE TAT 12/24 (1932/33), 1067 f.; abgedruckt in Anhang 4. 146  Über die Kanzlerschaft des Generals Schleicher ist ein Aufsatz des Verfassers in Vorbereitung, der in den FBPG erscheinen soll. 147  Vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 521.



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wehr-Einheiten um Berlin zum Großteil im Manöver oder waren beurlaubt. Zweitens standen Innenminister Severing zumindest am Vormittag die preußische Polizei und auch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zur Verfügung. Drittens waren fast alle wesentlichen Schlüsselstellungen in der Verwaltung mit loyalen Männern besetzt. Papens Verfassungsbruch bot also eine gute Gelegenheit zu berechtigtem Widerstand148. Dies sahen nicht zuletzt auch die Feinde der Weimarar Republik so. Schadenfroh notierte Goebbels in sein Tagebuch: „Es laufen zwar Gerüchte von einem bevorstehenden Reichsbanneraufstand um, aber das ist ja alles Kinderei. Die Roten haben ihre große Stunde verpaßt. Die kommt nie wieder.“149 Dass für die SPD ein aktiver Widerstand im Sommer 1932 problemlos möglich war, versuchte Carl Severing bereits unmittelbar nach Kriegsende zu widerlegen150. Und in der Tat hatte die SPD bei der Reichspräsidentenwahl kurz zuvor eindeutig für Hindenburg optiert und scheute sich nun, den Generalstreik auszurufen und damit zugleich dessen Rücktritt zu verlangen151, da dieser die Maßnahmen angeordnet hatte, während Franz v. Papen spätestens seit seinem Ausscheiden aus dem Zen­ trum nur die Marionette Hindenburgs zu sein schien. Anders als beim Kapp-Putsch 1920 ging es gerade nicht darum, die rechtmäßige Regierung zu schützen. Deshalb hatte der SPD-Vorstand schon am 16.  Juli, ­also vier Tage vor dem Preußenschlag, der sich bereits drohend am Horizont abzeichnete, „einmütig“ beschlossen, „bei allem, was kommen möge, die Rechtsgrundlage der Verfassung nicht zu verlassen.“152 Außerdem befürchtete Severing nicht ganz zu Unrecht, „daß der Generalstreik eine sofortige Militärdiktatur bedeuten würde“153, und zwar durch eine Verschiebung der bevorstehenden Reichstagswahlen auf unbestimmte Zeit. Dazu war Otto Braun, der lange in Preußen Garant für Recht und Ordnung gewesen war, die Wandlung vom Beamten zum Widerstandskämpfer unmöglich154: „Ich bin vierzig Jahre lang ein Demokrat gewesen und 148  Vgl.

Bracher, Auflösung (Anm. 23), 523. Kaiserhof (Anm. 43), 133. 150  Vgl. Gerwiens, Der 20. Juli 1932 (Anm. 81), 10–13. 151  Kolb fragte zu Recht: „Was hätte im Juli 1932 die ‚Parole‘ sein können? Rücknahme der Absetzung einer nur noch geschäftsführenden Regierung, die über keine Mehrheit im Landtag verfügte und deren Mitglieder amtsmüde waren, seit Wochen bemüht, sich einen honorigen Abgang zu verschaffen? Oder Absetzung bzw. Rücktritt des erst drei Monate zuvor mit absoluter Mehrheit wiedergewählten Reichspräsidenten?“ [Kolb, 20. Juli 1932 (Anm. 37), 26.] 152  Severing, Mein Lebensweg II (Anm. 84), 347; vgl. dazu Bracher, Auflösung (Anm.  23), 521 f. 153  Zitiert nach Kolb, 20. Juli 1932 (Anm. 37), 22. 154  Vgl. Clark, Preußen (Anm. 64), 734. 149  Goebbels, Vom

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werde jetzt nicht Bandenführer werden.“155 Bereits 1931 hatte Rudolf Hilferding hellsichtig formuliert: „Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die die Demokrate verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt, das ist fast die Lösung der Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe gestellt ist.“156

Statt Widerstand zu leisten, rief die Regierung Braun den Staatsgerichtshof an157, und es bewahrheitete sich die alte Weisheit, dass man vor Gericht nie Recht bekommt, sondern immer nur ein Urteil, mit dem man dann leben muss: Am 25.  Oktober  1932 entschied dieser salomonischfragwürdig, um Hindenburg keinen offenen Verfassungsbruch vorzuwerfen158, da dieser angesichts des handlungsunfähigen Reichstags und des Misstrauensvotums gegen die Papen-Regierung einzig und alleine noch Stabilität zu garantieren schien: Der preußischen Regierung könne keine Pflichtverletzung vorgeworfen werden, und ihr stehe die Vertretung Preußens im Reichsrat zu159, Hindenburg habe aber das Recht gehabt, einen Reichskommissar einzusetzen. Insofern hieß es im Volksmund über den preußischen Vertreter vor dem Staatsgerichtshof Arnold Brecht und Papens Vertreter Franz Bracht: „Brecht hat das Recht, Bracht hat die Macht.“160 Oder anders formuliert: „Die rechtmäßige Regierung Preußens durfte sich weiterhin so nennen, die von der Reichsregierung eingesetzten Kommissare jedoch durften regieren.“161 Papen und Gayl nutzten ihre Macht umfassend aus und führten unter anderem eine umfassende „Säuberung“ der preußischen Verwaltung durch, wobei rigoros Mitglieder bzw. Sympathisanten der Weimarer Koalition, insbesondere der SPD, durch Deutschnationale ersetzt wurden162. 155  Zitiert

nach Heinrich, Geschichte Preußens (Anm. 1), 496. Hilferding, In Krisennot, in: Die Gesellschaft 8/II (1932), 1–8, hier 1; vgl. dazu Wolfgang Wippermann, Falsch gedacht und nicht gehandelt. Der 20. Juli 1932 und das Scheitern des sozialdemokratischen Antifaschismus, in: Berlin 1932. Das letzte Jahr der ersten deutschen Republik. Politik, Symbole, Medien, hrsg. v. Diethart Kerbs/Henrick Stahr, Berlin 1992, 131–142, hier 138. 157  Vgl. Grund, „Preußenschlag“ (Anm. 59), 79–147. 158  Vgl. Möller, Preußen (Anm. 32), 306. 159  Vgl. Lilla, Preußenschlag (Anm. 74), 110. 160  Biewer, Preußenschlag (Anm. 25), 169; Bracher, Auflösung (Anm. 23), 518. 161  Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 116. 162  Vgl. Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 117  f.; Lilla, Reichskommissar (Anm.  40), 103 f.; Möller, Parlamentarismus (Anm.  15), 575; Morsey, Papens „Sprung nach Preußen“ (Anm. 61), 44; Winkler, Weimar (Anm. 129), 503. Insgesamt wurden 94 Beamte zur Disposition gestellt, 11 weitere zwangsweise beurlaubt; vgl. Bracher, Auflösung (Anm. 23), 517 f. 156  Rudolf



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Außerdem wurde ohne Rücksicht auf den Landtag die preußische Verwaltung reformiert163. In Erinnerung blieb das Duo Papen-Bracht jedoch nicht wegen dieser Maßnahmen, da die folgende NS-Machtübernahme ihren Wert ohnehin relativierte, sondern die berühmt-berüchtigte „Zwickelverordnung“ „gegen die Auswüchse im Badeleben“164. Die diktatorischen Maßnahmen Papens waren bereits eine Vorwegnahme der NS-Diktatur bzw. machten das Vorgehen der NSDAP im Frühjahr 1933 salonfähig. Als Schleicher Reichskanzler war, hätte er mit Hilfe der Reichswehr und der preußischen Polizei, und unterstützt durch die Gewerkschaften, Hitlers braune Armee ausschalten können165. Stattdessen kam es zu jenem unheilvollen Bündnis zwischen Hitler und Papen. Das „Ende Preußens“ stellte dann Papens und Hindenburgs zweite Unrechtsmaßnahme dar, als grundlos (!) am 6.  Februar  1933 mit einem „Zweiten Preußenschlag“ der rechtmäßigen preußischen Regierung ihre letzten Rechte genommen wurden166, nur um den preußischen Landtag im Sinne Hitlers auflösen und diesen zusammen mit dem Reichstag am 5. März 1933 neu wählen lassen zu können167. In § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten hieß es lapidar: „Durch das Verhalten des Landes Preußen gegenüber dem Urteil des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 25. Oktober 1932 ist eine Verwirrung im Staatsleben eingetreten, die das Staatswohl gefährdet. Ich übertrage deshalb bis auf weiteres dem Reichskommissar für das Land Preußen und seinen Beauftragten die Befugnisse, die nach dem erwähnten Urteil dem Preußischen Staatsministerium und seinen Mitgliedern zustehen.“168 163  Dabei wurde u. a. Stralsund zum 1. Oktober 1932 der Regierung Stettin angegliedert. Außerdem wurden 105 Landkreise zusammengelegt, wurden 60 der kleinsten Amtsgerichte aufgelöst, fielen die Verwaltungsaufgaben der Oberpräsidenten an die Regierungen und Kreise zurück, was sie wieder zu Aufsichtsbeamten in den Provinzen machte; vgl. das Protokoll der Sitzung des Preußischen Staatsministeriums vom 27.07.1932, in: Das Kabinett von Papen (Anm. 62), 324– 326; siehe dazu Biewer, Preußenschlag (Anm. 25), 171. 164  Vgl. dazu Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 117. 165  Vgl. Bernd Kruppa, Rechtsextreme Wehrverbände in der Weimarer Repu­ blik. Die Entwicklung seit 1918 und ihre Rolle in den politischen Entscheidungen des Jahres 1932, in: Berlin 1932, hrsg. v. Diethart Kerbs und Henrick Stahr (Anm. 156), 115–130, hier 129. 166  Vgl. Bay, Preußenkonflikt (Anm. 69), 267–283. 167  Vgl. Heinz-Dieter Beyer, Der Staatsrat des Freistaates Preußen (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 42), Berlin 1992, 157–159; Die Selbstauflösung hatte der Landtag noch am 04.02.1933 mehrheitlich abgelehnt; vgl. Möller, Parlamentarismus (Anm. 15), 574 f. 168  Verordnung des Reichspräsidenten zur Herstellung geordneter Regierungsverhältnisse in Preußen, in: RGBl. 1933, 43, abgedruckt in: Dokumente zur deut-

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Dies stellte einen eklatanten Bruch der Reichsverfassung dar und leitete nach einer Woche der Kanzlerschaft Hitlers den Beginn der Gleichschaltung ein169. Papen triumphierte, denn er sah seine Macht auch gegenüber Hitler gestärkt. Seine Freude währte jedoch nicht lange, denn nach den Wahlen vom 5.  März  1933, die sowohl im Reich als auch in Preußen stattfanden, wurde Hermann Göring Preußischer Ministerpräsident, worauf Papens Stellung als Kommissar für Preußen entfiel. Den Epilog bildete der Beschluss des neu gewählten Preußischen Landtags in seiner zweiten und letzten Sitzung am 18. Mai 1933 über ein preußisches Ermächtigungsgesetz170. Hermann Göring erklärte dazu großmundig, die „Befreiungstat des 20. Juli 1932“ werde so „in geordnete und verfassungsmäßige Formen“ überführt171. Der „Preußenschlag“ ging so, anders als von Papen und Gayl geplant, nicht als Höhepunkt der Reichsreformbestrebungen, sondern als entscheidender Wendepunkt hin zur Errichtung einer Diktatur in die Geschichte ein172, denn Franz von Papens Intrige im Januar 1933 ermöglichte es Adolf Hitler, das Reich auf eine Art und Weise umzugestalten, wie es niemand je zuvor für möglich gehalten hatte. Die Lehre des 20. Juli  1932 aber ist, dass die Schwächung des Föderalismus in Deutschland fatalste Folgen haben kann, Folgen, die auch am 20.  Juli  1944 nicht behoben werden konnten, als die Reichsreformpläne der Verschwörer scheiterten. Anhang 1: Hans Zehrer, Deutschland ohne Hindenburg173 Die politische Prognose Eines ist merkwürdig in Deutschland: wir haben auf fast allen Gebieten die Methoden der Analyse, der Feststellung dessen, was ist, bis zur Virtuosität ausgebildet; auf dem Gebiet der Politik aber fehlt es daran fast völlig. Wenn ein Mensch heute krank wird, ob physisch oder psychisch ist ganz gleichgültig, die Diagnostik läßt mit einer unheimlichen Exaktheit sofort das Krankheitsbild zutage treten. Wenn wir auf soziale Ereignisse stoßen, die Soziologie deckt sofort die Zusamschen Verfassungsgeschichte IV (Anm. 78), 660; vgl. dazu Bay, Preußenkonflikt (Anm. 69), 275; Biewer, Preußenschlag (Anm. 25), 171  f.; Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 118 f.; Lilla, Reichskommissar (Anm. 40), 114 f. 169  Vgl. Möller, Parlamentarismus (Anm. 15), 573 f. 170  Preußische Gesetz-Sammlung 1933, 198. 171  Heimann, „Preußenputsch“ (Anm. 32), 122. 172  Bracher, Auflösung (Anm. 23), 510. 173  Quelle: DIE TAT. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, 9/24 Dezember 1932, 721–727.



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menhänge auf. Selbst auf dem labilen Gebiet der Wirtschaft gibt es eine Konjunkturforschung, die regelrechte Prognosen stellt, nach denen sich der verantwort­ liche Wirtschafter heute richtet. Auf dem Gebiet der Politik gibt es nichts dergleichen. Die Politik ist heute in ihrer Gesamtheit dem Spiel des Zufalles überlassen. Wir haben weder große Ideen, nach denen wir die Politik, die wir treiben wollen, ausrichten, noch haben wir eine Analytik der innerhalb der Zeit wirksamen Kräfte ausgebildet, um wenigstens die Richtung abstecken zu können, in die wir getrieben werden. Die Politik steht jeden Tag vor uns, zufällig und launenhaft, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, sie treibt uns bald hierhin und bald dorthin. Sie ist ein Glücksspiel geworden, bei dem die Würfel unzählige Möglichkeiten haben, und wir begnügen uns damit, weil wir wohl im Grunde Gefallen an diesem Spiel gefunden haben, weil wir es interessant finden. Daß bei diesem Spiel um unser Schicksal gewürfelt wird, wird wohl den wenigsten klar. Vielleicht liegt das daran, daß sich sehr viele daran gewöhnt haben, ihr Leben wie eine Eintagsfliege zu erleben, daß die meisten in einer Gegenwart leben, die weder Zukunft noch Vergangenheit hat, daß sie also überhaupt kein Verhältnis mehr zum Schicksal haben. In einer Zeit, die über viele objektive Werte verfügt, kann man sich diese Gedankenlosigkeit vielleicht gestatten. Diese Werte sichern ihr ja immer einen gewissen eisernen Bestand und eine Kontinuität, die sich wandeln, die aber so leicht nicht erschüttert werden kann. Eine Zeit aber, die keine objektiven Werte mehr besitzt, und das ist die heutige, die über keine allgemeingültigen Maximen mehr verfügt, die keine Vergangenheit besitzt und infolgedessen bei jedem Schritt, den sie vorwärtsschreitet, in eine dunkle Zukunft gerät, diese Zeit dürfte sich diese Gedankenlosigkeit eigentlich nicht gestatten. Sie müßte ihre gesamten Kräfte zunächst zur Erkenntnis der politischen Wirklichkeit einsetzen, sie müßte eine politische Analytik ausbilden, wie sie sie auf allen anderen Gebieten heute meisterhaft ausgebildet hat. Sie würde damit sofort dazu gezwungen werden, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, Anschluß zu suchen oder sich von ihr abzugrenzen. Sie würde ein Verhältnis zur Geschichte gewinnen und selber Geschichte umdeuten und neuschreiben. Es ist ein peinlicher Zustand, zu sehen, wie wenig Geschichtsdeuter es im heutigen Deutschland gibt, und wie tot und ungehoben die Zeit von 1914 ab noch vor uns liegt. Und sie würde damit durch die analytische Erkenntnis der Gegenwart, über die Deutung und Fixierung der Vergangenheit auch wieder zu einem engeren Verhältnis zur eigenen Zukunft gelangen. Diese politische Zukunft beginnt für uns morgen. Der morgige Tag liegt bereits dunkel und völlig vom Zufall abhängig vor uns. Das wird auf die Dauer nicht erträglich sein. Wir begnügen uns meist mit dem Hinweis auf die Zeit des Wandels und der Umwälzung, in der wir leben. Dieser Hinweis ist falsch, denn er entspringt lediglich dem Widerwillen, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und sich dabei von Illusionen zu trennen, die lieb und wert geworden sind. Er entspringt auch der tiefen Verantwortungsscheu des modernen Menschen, dem interessanten Ablauf zuzusehen, ohne die eigene Verpflichtung zu spüren. Denn die Erkenntnis dessen, was ist, belastet den Erkennenden mit Verantwortung und zwingt ihn, einzugreifen und sich mit dem Schicksal auseinanderzusetzen. Der moderne Mensch scheut aus

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diesem Grunde die Erkenntnis, er begnügt sich mit einer faustdicken Illusion, oder zwingt sich dazu, denn sie gestattet ihm, als unbeteiligter Zuschauer im Parkett zu sitzen und sich das interessante Stück, das auf der Bühne gespielt wird, in aller Ruhe mitanzusehen. Das deutsche Volk macht heute von außen betrachtet den Eindruck, als sei es von Grund auf politisiert. Dieser Eindruck trügt. Es spielt mit der Politik und freut sich der täglichen interessanten Vorgänge und Sensationen, die sie ihm bietet. Aber es nimmt ja diese Politik gar nicht ernst, denn es spürt ja die Verantwortung für die Entwicklung jenes Schauspieles, dem es beiwohnt, nicht selber. Ihm brennt ja diese Politik nicht auf den Nägeln. Scheu und verstohlen, so wie sich jeder hinter den Vorhängen der Wahllokale verbirgt, um dort sein Kreuzchen einzutragen und aus dem Hinterhalt seinen Pfeil abzuschießen, um sich dann bereits am Abend der Spannung der wachsenden Ziffer zu erfreuen, so ist die gesamte deutsche Politik heute. Den meisten ist sie keine Sache des Willens, der Weltanschauung und der Verantwortung, sondern ein interessantes Spiel. Angesichts dieser Situation des modernen Menschen, der nicht sehen will, was ist, der nicht wissen will, was war, der für das, was wird, nicht die eigene Verantwortung spürt, ist es schwierig, Prognosen zu stellen und Analysen zu geben. Denn sie werden ja ebenfalls nur als interessante Möglichkeiten gewertet, ohne Verantwortung und Verpflichtung aufzudrängen. Man entsinnt sich heute der Zeit, als auf den Seiten dieser Zeitschrift auf den Zusammenbruch des Bürgertums, auf den Zerfall der Weltwirtschaft und auf einige Dinge mehr hingewiesen wurde. Der eine wehrte sich gegen die Zerstörung der Illusionen, die ihm lieb waren, der andere gegen den in ihm aufsteigenden Zweifel, der ihn lähmte, andere wieder applaudierten erfreut, weil ihnen der vorausgesagte Zusammenbruch und Zerfall neue interessante Sensationen bescheren würde, nur ganz wenige spürten aber die Verantwortung und den Ruf an sich, sich ernsthaft und aktiv, in welchem Sinne auch immer, einzusetzen. Man hat oft das Gefühl, daß selbst die Voraussage eines Weltunterganges dem überwiegenden geschichts- und schicksalslosen modernen Menschen nur den Kitzel einer Sensation geben würde. Und trotzdem muß der Versuch einer weiteren Bestimmung der deutschen Politik gemacht werden, denn diese Politik nähert sich jetzt einer wirklich entscheidenden Phase, in der sie insofern über die gewohnten Sensationen des Tages hinausgreift, als sie nun wirklich ein recht beträchtliches Stück Zukunft festlegt und bestimmt, das später nicht mehr so leicht zu ändern sein wird. Was wir heute aus Gedankenlosigkeit versäumen, daran werden wir morgen zu leiden haben, und daran werden sich übermorgen unsere Söhne die Schädel einrennen.

Das Bewußtwerden der Wirklichkeit Deutschland befindet sich heute in der Lage eines Landes, dessen innere Wandlung nahezu abgeschlossen ist. Es scheint äußerlich betrachtet anders zu sein. Es scheint eher, als gerieten wir jetzt erst in unsere eigentliche Wandlung hinein. Das ist ein Trugschluß. Diese Wandlung wird uns heute nur erst langsam bewußt. Und was sich heute wandelt, ist lediglich die Folge dieser Bewußtmachung einer praktisch zum größten Teil  abgeschlossenen Entwicklung. Um diesen Unterschied



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ganz deutlich zu machen, ein praktisches Beispiel: wir haben die geistige, politische, wirtschaftliche und soziologische Wandlung der letzten 18 Jahre zwar alle jeden Tag erlebt; wir haben sie aber mit einem Bewußtsein erlebt, das von ganz anderen Vorstellungen beherrscht wurde. Der Industrielle, der seine Maschinen stillegen mußte, der Bankier, der seine Gelder abschrieb, der Bürger, der sich immer deutlicher auf einen proletarischen Lebensstandard heruntergedrückt sah, der Bauer, dem die Schulden über das Dach wuchsen, und der Angestellte und Arbeiter, der auf einen großen Teil seines Lohnes verzichten mußte oder arbeitslos auf der Straße lag, – alle diese Menschen sahen wohl diese tatsächlichen Vorgänge, sie nahmen sie aber nicht als endgültig und gegeben, sondern sie nahmen sie als vorübergehende Krisenerscheinung: sie lebten weiter im Bewußtsein einer vergangenen Zeit, die besser war, und sie klammerten sich an die Illusion, daß es bald wieder so werden würde, wie es gewesen war. Der Wandel wurde wohl gesehen und schmerzlich genug erlebt, er wurde aber nicht begriffen. Die Welt der Tatsachen wandelte sich, die Welt des Bewußtseins aber blieb zunächst die alte. Erst heute beginnen wir, diese Kluft, die zwischen beiden Welten besteht, zu überbrücken. Das Bewußtsein hinkt der tatsächlichen Entwicklung immer nach, und es holt eigentlich erst dann auf, wenn die tatsächliche Entwicklung langsamer fortschreitet und zum Stillstand kommt. In dieser Lage sind wir heute. Der Mensch, in eine neue Wirklichkeit gestellt, die er bisher nur als vorübergehend ansah, beginnt zu ahnen, daß diese Wirklichkeit endgültig ist und daß es ein „zurück“ zur guten alten Zeit nicht geben wird. Und wenn er selber nicht mehr imstande sein sollte, sich mit dieser Ahnung auseinanderzusetzen, so tut es sein Sohn, bei dem das Bewußtsein einer früheren Zeit nicht so stark verankert ist. Dieses langsame Bewußtwerden vollzieht sich nun nicht glatt und reibungslos, sondern der Mensch erlebt jetzt erst die neue Wirklichkeit in ihrer ganzen Bedeutung, er setzt sich jetzt erst wirklich persönlich und seelisch mit ihr auseinander. Und damit beginnt eine sehr bewegte Entwicklung. Die Entwicklung der Tatsachen, die sich heute ihrem Ende nähert, verlief relativ ruhig. Sie wird auch keine plötzlichen und unvorhergesehenen Dinge mehr bringen. Der Zerfall des Bürgertums oder der Weltwirtschaft, die Proletarisierung einer ganzen Nation usw., das alles wird sich mehr oder minder auf dem heutigen Stand halten. Die Wirkungen auf die Menschen aber, denen dieser Zustand heute als endgültig bewußt wird, und die Art und Weise, wie diese Menschen auf diese Erkenntnis reagieren werden, sind weitgehend unberechenbar. Was der Industrielle oder der Bankier, was der Bürger oder der Bauer, was der Angestellte oder der Arbeiter tun wird, wenn er eines Tages vor der Erkenntnis steht: „dies ist nun meine Wirklichkeit, mit der ich mich abfinden soll, die ich als gegeben hinnehmen soll und auf der ich mich einzurichten habe“, das ist nur schwer vorauszusagen. Während bisher die Tatsachen den Gang der Entwicklung bestimmten, Tatsachen, die aus Zahlen und Statistiken weitgehend zu bestimmen waren, schiebt sich heute der Mensch wieder bestimmend in diese Entwicklung ein. Damit erhält diese Entwicklung ein gefährliches, unberechenbares Moment. Es ist gewissermaßen so: eine marschierende Kolonne erhält ein Quartier angewiesen, das sehr schmal und karg ist, von dem man aber glaubt, es sei nur für eine Nacht bestimmt. Niemand kümmert sich ernsthaft um den Platz, auf dem er liegt und um die Stelle, die ihm gehören soll. Es ist ja nur für eine Nacht. Alle

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aber träumen von dem guten Standquartier, das man eben erst verlassen hat, und in das man zurückkehren wird, oder von dem noch besseren, dem man morgen zustreben wird. Nach der ersten oder zweiten Nacht aber wird es plötzlich klar, daß dieses Quartier auf etliche Jahre bestimmt ist. Im gleichen Augenblick ändert sich das Bild. Die soziale Frage taucht auf. Es wird ein Geraufe um die besten Plätze geben. Und der Gemeinschaftsgeist der Kolonne wird vergiftet sein und zu ernsten Zusammenstößen führen, wenn der vorhandene Raum nun nicht gerecht verteilt und geordnet werden sollte. Das ist die Situation, in der wir uns heute befinden. Wir begreifen: diese erbärmliche Wirklichkeit, in der wir uns befinden, sieht erschreckend stabil und endgültig aus; es wird wohl nun eine sehr lange Zeit so bleiben, wie es heute ist; es wird niemals wieder zurückgehen; dort aber, wo es vorwärts geht in eine bessere Wirklichkeit, wird es unendlich langsam und mühevoll gehen. Jeder besieht sich den Platz, den er erhalten und der ihm nun für lange Zeit bleiben soll. Jeder weiß: dieser Platz wird nun einige Jahre vorhalten müssen. Und in diesem Augenblick sieht jeder auf den Platz des Nebenmannes, um festzustellen, ob er nicht der Betrogene ist, ob er nicht schwerere Lasten zu tragen hat, als der Andere, ob der Platz des Nebenmannes nicht größer und bequemer ist. Wir wollen uns nicht darüber täuschen: die soziale Frage wird in Deutschland erst heute wirklich akut und erst heute erhält sie jene tiefe menschliche Spannung, jenseits aller bewußten Ideologien und abstrakten Programme. Es ist sehr zwecklos, angesichts dieser Spannung, sich hinter irgendwelchen Ablenkungsversuchen zu verbergen. Es ist wertlos, dieser Spannung gegenüber das christliche, das kulturelle oder das natio­ nale Moment in den Vordergrund zu schieben, bevor dem tiefen, sozialen Gerechtigkeitswillen des Volkes Genüge getan ist. Man scheue heute die kleinen, taktischen Erfolge gegenüber dieser Spannung, sie werden sich eines Tages rächen! Es ist natürlich, daß sich zunächst diejenigen, die noch relativ große und bequeme Plätze besetzt halten, gegen eine Schmälerung ihrer Basis wehren werden. Diese Menschen sind außerdem, wie man es heute schon staatsrechtlich ausdrückt, „am Zuge“, sie haben mehr Einfluß als die anderen, die irgendwo im Hintergrund liegen. Um ihren Platz zu behaupten, werden sie den Versuch machen, die vorhandenen Spannungen und Gegensätze abzuleiten. So ist es ja unter Papen versucht worden. Großgrundbesitz, Schwerindustrie, Bauern, Handel und die Reste des Großbürgertums versuchten sich zu behaupten. Der Versuch ist fehlgeschlagen. Er wird noch einige Male unternommen werden und wieder fehlschlagen. Er wird aber auf der Gegenseite immer schärferen Widerstand auslösen. Und wenn nicht eines Tages wirklich auf der Basis sozialer Gerechtigkeit durchgegriffen werden wird, wird dieser Widerstand aus der Defensive in die Offensive hinüberwechseln.

Das Zentrum der Autorität Alles das aber spielt sich heute noch gewissermaßen unter der Decke ab, es tritt kaum offen zutage. Die Fronten klären sich auch noch nicht entscheidend, die Gegner stellen sich auch noch nicht offen dar, weil die gesamte Entwicklung in Deutschland noch bestimmt wird durch die Autorität, die der Reichspräsident von



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Hindenburg besitzt. In dieser Autorität ist noch einmal alles, was der Deutsche an dynastischen Resten und an Obrigkeitsbewußtsein besitzt, zusammengefaßt. Der Reichspräsident ist zum Symbol des alten Reiches geworden, dem sich die neue Wirklichkeit noch willig fügt. Im Effekt besitzen wir heute noch die Autorität des alten Kaiserreichs über einer neuen Wirklichkeit, die solange ihre eigene Verantwortlichkeit nicht spürt, solange sie sich im Schutze dieser Autorität weiß. Will man einem Fremden den heutigen Zustand verständlich machen, ob wir nun eine Republik oder eine Demokratie sind, ob wir eine Diktatur oder einen Beamtenstaat haben, so kann man ihm treffend nur folgendes erklären: das heutige Deutschland ähnelt völlig einer Monarchie. Souverän ist der Reichspräsident. Wir befinden uns etwa in der gleichen Situation wie um 1875. Nur, daß dieser Souverän 85 Jahre alt ist und daß er keinen einzigen Nachfolger haben wird, daß die gesamte Autorität mit ihm zusammenbrechen wird. Solange Herr von Hindenburg sein Amt versieht, werden alle Auseinandersetzungen und Gegen-sätze innerhalb Deutschlands nicht ernsthaft zum Austrag kommen, denn alle werden überschattet und verhüllt von seiner Person. Die Armee ist nicht wirklich Armee, denn sie ist ihm unterstellt. Ein Kanzler ist nicht wirklich Kanzler, er ist von ihm abhängig. Lohnkämpfe können nie entscheidende Formen annehmen, denn der Reichspräsident kann ja jeden Augenblick eingreifen. Menschen werden zu Führern durch seine Person, die ohne ihn kaum beachtet würden. Führer aber, die in der Opposition sitzen, haben wenig Chancen sich zu bewähren oder durchzusetzen, da sie immer abhängig von der Person des alten Marschalls sind. Solange der Reichspräsident noch im Amte ist und die Autorität in Deutschland repräsentiert, findet die deutsche Entwicklung gewissermaßen im Saale statt. Diese Situation hat sich allerdings erst in den letzten Jahren herausgestellt. Noch 1925 setzte sich der General von Hindenburg nur mit wenig Vorsprung gegenüber dem Kandidaten des Zentrums, Marx, durch. Neben und hinter ihm aber stand noch eine ganze Reihe von Persönlichkeiten in Reserve, die das Volk zumindest als ebenbürtig gewertet hätte. Diese Reserve ist heute erschöpft. Der alte Marschall hat alle Autorität in sich vereinigt und er schlägt alle, die neben ihm aufstreben, zuletzt noch Adolf Hitler. Diese Stellung ist tatsächlich nur mit derjenigen eines Souveräns zu vergleichen. Deutschland könnte über den sinnvollen Ablauf seiner Entwicklung beruhigt sein, wenn dieser Souverän jünger wäre und wenn er vor allem einen Nachfolger hätte. Hier aber liegt die eigentliche Blöße des gesamten heutigen Systems. Es ist ohne Hindenburg nichts. Der Marschall aber ist in einem Alter, in dem sich die Grenze bereits absehen läßt, und er hat keinen Nachfolger. Diese Autorität läßt sich nicht übertragen. Sie stirbt zusammen mit dem Präsidenten. Und diese Macht hat der Präsident nicht, daß er seine Autorität gewissermaßen durch ein Testament fortsetzen und seinem Nachfolger übertragen kann. Das Deutschland ohne Hindenburg wird sofort etwas ganz anderes sein, als das heutige Deutschland. Der Einschnitt wird tiefer gehen, als jener andere am 9. November  1918. Erst dann wird die Ära Wilhelms  II. wirklich zusammengebrochen sein.

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Man kann sich diesen Umschwung heute nur noch schwer vorstellen. Eine ganze Generation, die heute noch in der Sonne der Autorität des Präsidenten blüht und sich behauptet, wird mit einem Schlage ausgeschaltet und zur Bedeutungs­ losigkeit verurteilt werden. Eine andere, zum großen Teil heute noch anonyme Generation wird mit einem Schlage freies Feld vor sich sehen. Gegensätze, heute verdeckt und gemildert, werden sich plötzlich in aller Schärfe darstellen, und während wir uns heute nur halbernst und immer vom Präsidenten gebändigt gegenüberstehen, werden wir uns dann offen, ernst und auf Hieb und Stich gegenübertreten. Denn wenn die Autorität in Deutschland geschwunden sein wird, wird erbittert um die Macht gerungen werden. Erst dann aber wird auch das soziale Ringen wirklich entscheidende Formen annehmen, das sich heute erst vorbereitet.

Wann kommt die Entscheidung? Es wäre das Gegebene, daß eine vorausschauende Politik sich bereits heute auf diesen Augenblick eines Deutschland ohne Hindenburg einstellt, denn es muß doch bis dahin ein gewisser Boden vorhanden sein, der imstande ist, wenigstens einen Teil  der Führung und der Sammlung zu garantieren. Denn wir wollen uns auch über eines nicht täuschen: Deutschland hat seinen letzten Kampf gegen den Bolschewismus noch nicht bestanden, dieser Kampf steht noch bevor. Er bahnt sich heute bereits an. Wir werden den Kommunismus noch in der gleichen Stärke erleben, über die der Nationalsozialismus verfügte. Und die kleinen wirtschaftlichen und sozialen Konzessionen, durch die man heute den Nationalsozialismus gewinnen zu können glaubt, werden ein Tropfen auf einen heißen Stein sein den Forderungen gegenüber, die dann von sozialer Seite gestellt werden dürften. Was wir heute unter der Autorität Hindenburgs erleben und noch erleben werden, ist nicht so wesentlich, da es ganz von dieser Autorität getragen und verantwortet wird. Wer aber ist imstande, dieses Erbe anzutreten und eine gewisse Kontinuität gegenüber der Entwicklung zu wahren? Ein Einzelner bestimmt nicht. Wo aber ist die unabhängige Schicht, die dann in die Bresche springen, das Vakuum ausfüllen und sich dem sozialen Chaos entgegenwerfen kann? Von dem Bestand oder Nichtbestand dieser Schicht und von ihrem Erfolg hängt es ab, wie lange die deutsche Krise dauern und bis zu welchem Punkt die Radikalisierung der Umwelt fortschreiten wird. Wer aber stellt sich heute in Deutschland wirklich auf diesen Augenblick ein? Vielleicht die Deutschnationalen und Herr Hugenberg, denn sie versuchen, sich heute rechtzeitig auf unparlamentarischem Wege die Schlüsselstellungen zu sichern, um die Macht dann in der Hand zu haben. Gerade diese Kreise aber sind am wenigsten geeignet, eine Revolution zu verhüten, denn sie werden sie nur großzüchten. Vielleicht das Zentrum. Der Vorschlag vom Prälaten Kaas, eine Notgemeinschaft oberhalb aller Parteien zu gründen, schien von der Sorge um diesen Augenblick diktiert. Aber dazu ist es heute doch schon zu spät. Diese Notgemeinschaft würde bereits heute nach kurzer Zeit auseinanderbrechen, um wieviel eher, wenn eines Tages die Autorität des alten Marschalls nicht mehr über ihr thronen würde. Man könnte daran denken, den Boden im Volk selber vorzubereiten. Dazu aber ist es noch zu früh, denn dieses Volk setzt sich ja erst mit der bitteren Er-



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kenntnis seiner Lage auseinander. Man könnte da nur insofern Vorsorge treffen, als man die Kanäle der Arbeitsbeschaffung, des Arbeitsdienstes und vor allem der Siedlung in weit stärkerem Maße, als es heute geschieht, vorbereiten müßte, um wenigstens über eine gewisse praktische Basis zu verfügen. Und man könnte das soziale Ressentiment rechtzeitig entspannen, indem man wirklich den gröb-sten sozialen Ungerechtigkeiten zu Leibe geht. Was soll aber wirklich in dem Augenblick, wo die Autorität des alten Marschalls nicht mehr Land und Volk tragen wird, geschehen? Die Armee wird Sorge dafür tragen müssen, daß ihr Pulver bis dahin trocken bleibt. Die junge Genera­ tion aber, heute noch im Kampf gegen törichte Restaurationsversuche, morgen aber schon im Rücken bedroht von einer kommunistischen Flut, und übermorgen vielleicht in erbittertem Kampf gegen das soziale Chaos, muß rechtzeitig ihre Fronten schließen und sich über den Augenblick ihres Einsatzes klar sein, der erst gekommen sein wird, wenn Deutschland ohne Hindenburg regiert werden muß. Denn wenn die Autorität von uns gewichen sein sollte, wird  – angesichts der heute ungeklärten und verworrenen Lage – nur noch die Macht ausschlaggebend sein. Und auch dieser Einsatz der Macht wird nur dann erfolgreich sein, wenn er sich für ein Ziel einsetzt, von dem die Mehrzahl des deutschen Volkes das Bewußtsein hat, daß es gerecht ist. Vielleicht war das Experiment des Herrn von Papen lehrreich und nützlich, denn es hat den wenigen, die heute noch in Reserve stehen, gezeigt, wie es nicht gemacht werden darf und was das deutsche Volk nicht mehr erträgt. Besser, wir lassen heute noch einmal die blutleeren Gespenster der Monarchie, der Weltwirtschaft, des Abendlandes und des Privatkapitalismus an uns vorüberziehen, als dann, wenn der entscheidende Einsatz erfolgen muß. Die entscheidende Frage lautet heute für die deutsche Politik nicht: wer kommt nach Papen? Sie lautet: wie sieht das Deutschland ohne Hindenburg aus?

Anhang 2: Hans Zehrer, An der Wende der Innenpolitik?174 Es geht nur autoritär Die innenpolitische Situation Deutschlands befindet sich eigentlich schon seit dem Kabinett Brüning an folgendem Punkt der Entwicklung: die völlige Umwälzung, die das Volk erfaßt hat, hat es vorläufig unfähig gemacht, sich selber zu regieren. Es läßt sich ja keine Plattform herstellen, von der aus überhaupt regiert kann. Außerdem ist dieser Prozeß noch lange nicht am Ende, sondern er setzt sich dauernd fort, und kann, wenn er nicht aufgehalten wird, in einer recht gestalt­ losen Revolution enden. Regiert kann nur mehr „von außen“ werden; und es muß regiert werden. Der technische Apparat, von dem heute die Existenz und das Leben jedes Einzelnen abhängen, ist so kunstvoll und kompliziert, daß man ihn nicht ebenfalls versacken lassen kann, weil Millionen von ihm leben. Infolgedes-

174  Quelle: DIE TAT. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, 10/24 Januar 1933, 822–828.

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sen begann bereits unter Brüning das Regieren „von außen“, d. h. auf der Basis der Autorität des Reichspräsidenten und der Notverordnungen. Das Volk kann sich vorläufig nicht mehr selber regieren, der Volkswille ist handlungsunfähig. Es wehrt sich aber dagegen, daß gegen seinen nationalen und sozialen Willen regiert wird. Brüning vermied diese Klippe. Papen stürzte an dem gesamten Widerstand des Volkes. Mit dem General von Schleicher kommt ein Kanzler ans Ruder, der anscheinend wieder mit dem Volkswillen regieren will. Inzwischen sind aber die Dinge in Deutschland soweit gediehen, daß die Handlungsfähigkeit des Volkswillens gänzlich zerstört worden ist. Die großen Partei­ blöcke fallen wieder auseinander (NSDAP und SPD), und wir geraten in eine Zerrissenheit herein, die sich nur noch negativ auswirken kann. Die Regierung steht aber nicht nur vor der Aufgabe, zu regieren, sondern sie muß heute auch gestaltend eingreifen. Brüning konnte noch lavieren. Papen hat viele Brücken abgebrochen. Wenn sich der General von Schleicher behaupten will, so kann er es nur, wenn er zum endgültigen Umbau entschlossen ist, das heißt, wenn er den heute handlungsunfähigen Volkswillen in seinen Staat einbaut. Das ist umso entscheidender, als der General von Schleicher der letzte Mann einer Generation ist, die für eine sinnvolle Überleitung in das Neue in Frage kommt und man heute keinen mehr sieht, der ihn ablösen könnte. Scheitert dieser General, so werden wir höchstwahrscheinlich nach einer kurzen Periode wechselnder Versuche in einen Bürgerkrieg hereinrutschen, der den Bestand des Reiches entscheidend gefährden würde. Es gab folgende Möglichkeiten, in Deutschland zu einer Klärung zu kommen: 1. die parlamentarische. Das würde vorausgesetzt haben, daß sich im Parlament jenseits der alten Gegensätze eine geschlossene, arbeitsfähige Koalition zusammengefunden hätte von der NSDAP bis zum Zentrum. Nach den nächsten Wahlen von der NSDAP bis zur SPD. Eine solche Koalition ist eine Utopie. Prälat Kaas hat verzweifelt den Versuch gemacht, sie als Notgemeinschaft zustandezubringen; er ist daran gescheitert. Damit ist aber jeder parlamentarische Versuch vorläufig und wahrscheinlich auf lange Zeit hinaus gescheitert. 2. die faschistische. Das würde vorausgesetzt haben, daß eine einzelne Partei, die NSDAP, auf legalem oder illegalem Wege an die Macht gelangt und den Staatsapparat besetzt hätte. Diese Möglichkeit scheiterte daran, daß die NSDAP die Macht auf legalem, parlamentarischem Wege nicht erobern konnte, und daß sie den revolutionären Weg des Faschismus nicht beschritt. Im übrigen stand ihr eine gleichstarke, geschlossene proletarische Front gegenüber, an der sie gescheitert wäre. Dieser Weg, der heute nicht mehr existiert, hätte hart an den Rand des Bürgerkrieges geführt. 3. die revolutionäre. Solange keine geschlossene revolutionäre Ideologie und Zielsetzung besteht, scheidet diese Möglichkeit aus. Eine revolutionäre Möglichkeit bestünde, wenn sich die tatsächlichen Gegensätze zwischen NSDAP, SPD und KPD so herabgemindert hätten, daß es nur eines Anstoßes bedürfte, um sie auf ein gemeinschaftliches Ziel auszurichten. Diese Aussicht ist heute weniger denn je gegeben. Ferner bedürfte es einer geschlossenen und geschulten revolutionären Minderheit. Sie ist ebenfalls nicht vorhanden. Und schließlich müßte die Bereitschaft



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des Volkes vorhanden sein. Auch sie existiert nicht. Im Gegenteil sind im Volk tiefgreifende Ermüdungs- und Entspannungssymptome festzustellen. Es bleibt also nur die eine letzte Möglichkeit offen, in Deutschland autoritär zu regieren. Basierend auf den beiden traditionellen Elementen, die sich im deutschen Staatswesen immer behauptet haben: auf dem Obrigkeitsbewußtsein gegenüber dem Souverän und den traditionellen Werten der preußischen Armee. Wenn man heute von der Autorität des Reichspräsidenten und der Neutralität der Armee spricht, knüpft man an diese beiden Elemente des Staates wieder an. Sie bilden die Grundlage jeder autoritären Regierung. Es wird also in Deutschland auf absehbare Zeit autoritär regiert werden! Die parlamentarische, die faschistische und die revolutionäre Lösung scheiden aus. Das ist das Ergebnis, das sich nach der Etappe Brüning und der Episode Papen heute für die Kanzlerschaft des Generals von Schleicher darstellt. Der General hat allerdings nicht mehr die Möglichkeit zu lavieren, wie sie Brüning besaß, er hat auch nicht mehr die Möglichkeit, die Stärke der Staatsgewalt zu erproben, wie es Papen versuchte, sondern er ist zum Handeln gezwungen, wenn er sich behaupten will. Dieses Handeln besteht zunächst darin: die autoritäre Regierungsform für längere Zeit als gegeben anzuerkennen und sie auszubauen und zu stabilisieren.

Der Ausbau der Autorität Vorläufig besteht diese autoritäre Regierungsform lediglich aus der Person des Reichspräsidenten und den Gewehren der Armee. Das ist zwar ein starkes Kraftzentrum, aber es kann sich nur behaupten, wenn es sich verbreitert und die Idee des Staates wieder in Bereiche trägt, die die liberale und parlamentarische Ideologie dem Staat entrissen hat. Das sind in erster Linie die beiden Kräfte der Polizei und der Beamtenschaft. Als dringendste Aufgabe gilt es heute, diese beiden Bereiche den Mächten der Gesellschaft wieder zu entreißen, sie zu neutralisieren und dem reinen Staat wieder einzugliedern. Das dürfte bei der Polizei nicht sehr schwer sein, denn sie ist es heute bereits selber müde, bald nach links und bald nach rechts schielen zu müssen, ihren Kopf hinzuhalten und schließlich von allen Seiten Nackenschläge zu bekommen. Die Neutralisierung und Entpolitisierung der Polizei ist die dringlichste Aufgabe. Ihr äußerliches Zeichen wäre die Aufhebung des Wahlrechtes und eine gewisse Gleichstellung mit der Armee. Die Beamtenschaft befindet sich in der gleichen Lage. Sie ist seit 1919 den Weg durch die liberale Ära mitgegangen, teilweise in bedrohliche Nähe der gesellschaftlichen Mächte gekommen und hat eigentlich auf diesem Wege nur verloren. Der Dualismus der Weimarer Verfassung, der den Beamten auf der einen Seite die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei gestattet, ihnen aber auf der anderen Seite die wohlerworbenen Rechte garantiert, ist für die Sicherheit ihrer Stellung eher schädlich als nützlich gewesen. Denn die Parteien können dem Beamten heute nicht mehr helfen, seine wohlerworbenen Reche aber verlieren mehr und mehr an Sicherheit. Vor die Frage gestellt, welche Rechte ihnen wertvoller sind, wird sich heute das Gros der Beamten sicherlich für die letzteren entscheiden. Das würde auch für die Beamtenschaft eine Hebung und Sicherung ihrer Stellung als

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Diener des Staates bedeuten, dafür aber den Verzicht auf die Parteizugehörigkeit und das Wahlrecht. Der Ausbau des autoritären Blockes wäre damit noch nicht beendet. Es gilt, ihm noch zwei Gebiete anzugliedern, die in der liberalen, parlamentarischen Ära zum Spielball vieler Kräfte und Mächte geworden sind: die Justiz und die Schule. Soweit es sich um die persönlichen und geistigen Rechte des Einzelnen handelt, muß immer ein gewisser Spielraum gelassen werden, den der Staat nicht erfaßt. Aber dieser Spielraum kann niemals so groß sein, daß der Staat sich selber z. B. dem Spruch des Staatsgerichtes unterwirft und sich damit seine politischen ­Entscheidungen vorschreiben läßt, oder daß er es anderen Mächten und Kräften überläßt, den Nachwuchs und die Jugend zu erziehen. Hier muß der Staat einen eigenen obersten Willen haben und ihn auf beiden Gebieten durchsetzen. Der Ausbau der Autorität ist aber hier bereits an eine gewisse Grenze gelangt. Man besitzt damit einen starken Apparat staatlicher Macht, mit dem man arbeiten, man besitzt ein Instrument, mit dem man regieren kann. Die entscheidende Frage ist nunmehr, wie man das Volk zur Mitarbeit heranziehen und wie man sich vor allem von Aufgaben, die die Fähigkeiten des Staates übersteigern würden, entlasten kann. Nehmen wir zunächst das letztere Problem.

Länder und Berufsstände Ein so starkes und autoritäres Zentrum darf nicht in den Fehler des Zentralismus fallen, sondern es muß sich selbstständige, eigenverantwortliche und lebendige Körperschaften schaffen, auf die es sich entlasten kann. Das sind in erster Linie Länder und Landschaften oder Provinzen. Die Idee Papens, die Länder heranzuziehen und von Föderalismus zu reden, war schon richtig, nur war es falsch, sie als Repräsentanten des Volkes zu werten, namentlich dann, wenn es sich z. B. um geschäftsführende Regierungen handelte, und sie als Garanten einer Verfassungsänderung zu nehmen. Eine autoritäre Regierung ist dazu gezwungen, konsequente föderalistische Politik zu treiben, um sich selber aufzulockern, zu entlasten und Aufgaben abschieben zu können. Aus den Ländern selber kann sie sich selbstverständlich auch eine Körperschaft bilden, die mehr oder weniger repräsentativen Charakter hat, aber selten imstande sein wird, den Volkswillen zu repräsentieren, wenn sie nicht durch andere Faktoren ergänzt wird. Das Gleiche gilt für die Berufsstände jeglicher Richtung einschließlich der Gewerkschaften. Auch diese Berufsstände müssen dadurch, daß man sie zu Körperschaften öffentlichen Rechtes ausbaut und ihren Aufgabenkreis bedeutend erweitert, zur Entlastung des Staates herangezogen werden. Und zwar erfolgt dieser Ausbau nur bei den Berufsverbänden, die sich freiwillig dazu bereitfinden und sich der staatlichen Aufsicht unterordnen. Sie würden natürlich im besonderen Maße die staatliche Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen können, während die übrigen Verbände in der bisherigen privatrechtlichen Form weiterbestehen würden. Es wäre dies der erste Schritt zu einer Verbindung der Berufsstände mit dem Staat, bei der diesem ein gewisses Recht der Aufsicht zugebilligt würde,



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während jene, einen Teil  der heute vom Staat geleisteten Aufgaben in Selbstverwaltung überliefert bekämen. Daraus könnte sich langsam die Möglichkeit eines stärkeren, auch politischen Einbaues der Berufsstände in den Staat ergebe, vor allem ein Unterbau für den Sektor staatlicher Planwirtschaft, um den wir heute nicht herumkommen. Beide, Länder sowohl wie Berufsstände, sind aber vorläufig noch nicht imstande, das Volk als solches zu repräsentieren. Sie können sich allmählich dazu entwickeln. Solange aber Wahlen, Parteien und Parlamente in ihrer heutigen Form existieren, sind sie als ebenbürtige Gegenspieler noch nicht geeignet. Eine Regierung, die endgültig davon überzeugt ist, daß die autoritäre Regierungsform für Deutschland auf lange Zeit gegeben ist, kommt nicht mehr darum herum, sich mit den Parteien und dem Reichstag auseinanderzusetzen. Sie kann ihre Basis durch Polizei und Beamtenschaft, Justiz und Schule enorm verbreitern, sie kann in den Ländern und Berufsständen neue Kontrahenten gewinnen, mit denen sie arbeiten kann, sie kommt aber heute um die endgültige Entscheidung gegenüber den liberalen Mitteln und Methoden der Politik, den Wahlen, Parteien und dem Reichstag, nicht mehr herum. Das ist der entscheidende Unterschied der Situation, in der sich der General von Schleicher heute den Parteien und dem Reichstag gegenüber befindet. Brüning entging dieser Zuspitzung. Er regierte autoritär und vermied den offenen Konflikt, persönlich sicherlich überzeugt davon, daß der Parlamentarismus noch nicht am Ende sei, sondern nach einer gewissen Krisenzeit eine neue Blüte erleben würde. Papen geriet in den offenen Konflikt. Er löste zweimal auf und ließ zweimal wählen. Und bevor er gestürzt wurde, hatte er sich und den Präsidenten in eine solche Sackgasse laviert, daß beiden nur noch der Sprung über die Reichsverfassung übrigblieb. Der General von Schleicher hat diesen offenen Konflikt geschmeidig und geschickt vermieden. Aber er hat damit zunächst nicht mehr als eine kurze Spanne Zeit gewonnen. In Kürze wird er vor der gleichen Situation stehen. Er kann auflösen, wieder wählen lassen usw. Aber damit ist nichts gebessert. Sondern es geht heute darum, daß entscheidende Umänderungen dem Reichstag und den Parteien gegenüber erfolgen müssen.

Autoritärer Staat und Volk Die entscheidende Frage jedes autoritären Kabinettes lautet: wie gewinnt es die Mitarbeit des Volkes, welchen Ausdruck soll diese Mitarbeit des Volkes erhalten, und auf welchem Wege kann es wirklich zeigen, daß es einen Teil des Volkes hinter sich hat? Eines ist sofort festzustellen: eine autoritäre Regierung darf nicht wählen, sie darf auch ihre Mitglieder nicht wählen lassen und sie darf sich nicht auf eine Partei stützen. Wer die parlamentarische Basis betritt, unterwirft sich ihren Gesetzen. Das war der große Fehler Papens, der seiner Oberflächlichkeit entsprang, sich einfach von Hugenberg abhängig zu machen, so daß man mit Recht sagen konnte: wer Papen wählen will, muß Hugenberg wählen. Autoritär und parlamentarisch stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser. Die Parole des parlamentarischen Vertreters muß lauten: jeder Mann an die Urne, selbst der Gegner! Die Parole des

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autoritären Vertreters kann nur lauten: jeder, der sich zum Gedanken der Autorität bekennt, muß von der Wahlurne fernbleiben. Die Parole des parlamentarischen Gedankens lautet: Wahlpflicht!, die des autoritären: Wahlenthaltung! Der autoritäre Block beruht ja selber auf dem Gedanken der Parteilosigkeit, mithin konsequenterweise auch auf der Idee der Wahlenthaltung. Genügt es aber, das Volk und die Parteien wählen zu lassen und das Ergebnis dieser Wahl einfach zu ignorieren? Es genügt nicht mehr. Und hier beginnt die Aufgabe, die dem General von Schleicher gestellt ist. Der autoritäre Staat nämlich, der ja schon die Gebiete, die ihm direkt gehörten, wieder an sich heranzieht, Polizei und Beamtenschaft, Schule und Justiz, und der mit den beiden anderen Mächten, den Ländern und Berufsständen, eine gewisse enge Zusammenarbeit anstrebt, die ihn entlastet und die Idee der Selbstverwaltung stärkt, kommt nicht darum herum, nun auch seinerseits den Vorstoß ins Volk zu machen und den Parteien dieses Feld nicht restlos zu überlassen, sondern den Kräften im Volk, die sich für den autoritären Staatsgedanken entscheiden und zu ihm bekennen wollen, die Möglichkeit der Sammlung und Formierung zu geben. Er kommt nicht darum herum, diejenigen Kräfte des Volkes, die ihn unterstützen wollen und die Parteien ablehnen, enger an sich zu fesseln und heranzuziehen und sie autoritär zur formieren. Er kommt nicht darum herum, sich selber eine staatstragende Schicht zu schaffen, auf die er sich in besonderem Maße stützen kann. Es kann sich dabei in keinem Falle um eine Partei handeln. Im Gegenteil muß auch für diese Schicht die Wahlenthaltung maßgebend sein. Es muß sich um eine Organisation handeln, die dadurch, daß sie den totalen Anspruch des Staates verkörpert, den Pluralismus der Parteien und Verbände zerstört. Wo der Parlamentarismus in seiner liberalen Form beseitigt ist, in Rußland und Italien, da existiert eine wohlorganisierte staatstragende Schicht, auf die sich der Staat stützen kann. Eine solche Organisation wird in Deutschland weder faschistische noch bolschewistische Züge tragen, sondern eben deutsche. Sie wird sich in zwei oder drei Gruppen gliedern müssen. 1. In die Organisation der Jugend. Der Staat hat durch Schule, Universität, Arbeitslager und militärische und sportliche Schulung und Erziehung genügend Mittel in der Hand, diese Jugend an sich heranzuziehen. Er muß diese vielen, verstreuten Ansätze nun endlich in ein System bringen. Das heißt einmal: der Weg, den die Jugend durch die Schulen des Staates zu gehen hat, muß einheitlicher festgelegt werden als heute. Die Zeit eines überspitzten Individualismus und des Laissez faire ist vorüber. Als Reaktion auf den dumpfen Kastengeist des bürger­ lichen Wilhelminismus war sie notwendig. Es ist aber heute Zeit, die Zügel wieder etwas straffer zu fassen und dem jungen Menschen eine feste Richtung zu geben. Und das heißt weiter: auch der Pluralismus und die unendliche Vielgestalt der Bünde muß als Kern die Organisation einer Staatsjugend erhalten, die zunächst durchaus freiwillig zusammengesetzt ist und im Gegenteil sehr gesiebt wird, die aber in einem besonders engen Verhältnis zum Staat stehen muß im Gegensatz zu den freien Bünden, die weiterexistieren könnten, aber nicht direkt der Unterstützung des Staates teilhaftig werden. 2. In die Organisation der staatstragenden Schicht selbst. Es kann sich hier um keine neue Partei handeln. Es kann sich nur um eine viel verpflichtendere, ge-



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schlossenere und selber autoritär aufgezogene Organisation handeln, mit der der Staat in den Pluralismus der Parteien und Verbände vorstößt und sie schwächt und zersetzt. Diese Organisation wird z. T. selber aus den Vertretern des autoritären Blockes bestehen. Sie wird aber diejenigen mit einbeziehen, die diesem Block aus dem Volk entgegenwachsen, und diejenigen, die der Organisation der Jugend entwachsen sind. In jedem Kreis, in jeder Stadt und in jeder Gemeinde muß ein Zentrum von Persönlichkeiten existieren, die in besonderem Maße den Staat repräsentieren und von denen man weiß, daß sie die Verantwortung für diesen Staat in besonderem Maße tragen. In jedem gesunden Staatswesen bildet sich ein solches Zentrum von allein heraus und ist überall vorhanden. Angesichts des Trümmerhaufens, den die Korruption des Parlamentarismus mit seiner Herrschaft der Masse hinterlassen hat, muß es heute erst wieder begründet werden, da es von alleine nur langsam wachsen wird. 3. In die Organisation einer geistigen Elite. Der Staat steht in den nächsten Jahrzehnten vor Aufgaben, denen er allein gar nicht gewachsen ist. Er bedarf bestimmter Arbeitskreise, in denen sich die qualifizierten und fachlich geschulten Kräfte sammeln und in denen wirklich theoretische und praktische Vorarbeit geleistet wird. Um welche Aufgaben es sich auch immer handeln wird, es genügt nicht, sich die betreffenden Fachreferenten der Bürokratie kommen zu lassen und sich die Interessenten anzuhören, sondern an Ort und Stelle muß ein Arbeitskreis existieren, der imstande ist, den Umbau und die Reformen, die innerhalb seines Raumes notwendig sind, durch Vorschläge, Vorarbeiten und Programme sinnvoll vorzubereiten. Das klingt zunächst sehr fragwürdig, aber im Grunde ist es doch schon heute vorhanden. In allen Landschaften existieren doch heute bereits solche Arbeitskreise, in denen sich Bürokratie, Fachleute und die geistig interessierten Elemente des Volkes und der Jugend treffen, und in denen praktische Schulungs- und Vorbereitungsarbeit geleistet wird. Der Aufbau dieser Organisation, geteilt in ihre drei Gruppierungen, zeigt etwas: es muß in jedem Falle vermieden werden, den Zentralismus der Parteien nach­ zuahmen. Für den autoritären Weg gelten nur die Begriffe: Föderalismus und Selbstverwaltung. Deshalb muß sich diese Organisation sofort aufgliedern in die einzelnen Raumgemeinschaften der Länder und Landschaften. In ihr müssen die Grundlinien der kommenden Reichsreform bereits vorgezeichnet sein. D. h. sie muß sich in erster Linie auf die bodenständigen Kräfte der Heimats- und Landschaftsbewegung stützen und so den Unterbau für eine kommende Reichsreform praktisch vorbereiten. Praktisch sähe das etwa folgendermaßen aus. Nehmen wir eine Landschaft wie Schlesien oder Ostpreußen heraus. Nennen wir diese Organisation beispielsweise „Großdeutscher Bund“. Dieser Bund würde sich in Schlesien in folgende Gruppen aufgliedern. In die „Schlesische Jungmannschaft“, bestehend aus jungen Menschen etwa bis 25 Jahre, die ihren Weg über Schule, Arbeitslager, Werkjahr, militärische und sportliche Erziehung zu durchlaufen hätten und die die Landschaft Schlesien für Aufgaben ihres Raumes, die gesamtwirtschaftlich und nationalpolitisch wichtig sind, einzusetzen hätte. Daneben existierte die „Landesgruppe Schlesien“ des „Großdeutschen Bundes“, die alle jene Elemente des Volkes umfassen würde, die bereit und fähig sind, sich um den Staat, speziell um die Land-

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schaft Schlesien zu kümmern, die politische Verantwortung auf sich zu nehmen und aktiv am Staate mitzuarbeiten. Und schließlich existierte die „Schlesische Arbeitsgemeinschaft“, in der sich die wirklich fachlich und theoretisch qualifizierten Elemente zusammenfänden und in der an den theoretischen und praktischen Problemen gearbeitet würde. Auf diesem Wege würde zunächst einmal sehr bald der unitarische Zentralismus der heutigen politischen Parteien und Verbände zerschlagen werden. Gleichzeitig würde sich diese Organisation unmittelbar auf die bodenständigen Kräfte der Landschaft stützen, also ein ganz anderes Leben und einen ganz anderen Zusammenhalt bekommen. Und wahrscheinlich würde sie, da sie sich auf der neutralen und parteilosen Ebene des Staates aufbaut, sehr bald die heutigen Schranken der Parteien überbrücken und soviele gute Elemente zu sich herüberziehen, daß die Parteien selber zusammenbrechen werden. Der Angriff auf den heutigen Pluralismus der Parteien muß also von folgenden Seiten aus erfolgen. Zunächst entzieht der Staat jene Bereiche, die ihm gehörten, den Parteien und gliedert sie sich wieder ein. Das sind Bürokratie und Polizei, Justiz und Schule. Dann zieht er die Berufsstände als öffentlich rechtliche Körperschaften näher an sich heran und weist ihnen Aufgaben der Selbstverwaltung zu. Damit spaltet er diese Berufsstände von den Parteien, die sie heute noch zu vertreten vorgeben, mehr und mehr ab. Ebenso bedient er sich der Länder und Landschaften und treibt eine konsequent föderalistische Politik, womit er sich einmal Kontrahenten schafft, mit denen er, abseits der Parteien, verhandeln kann, und lockert den Zentralismus der Parteien damit auf. Und schließlich stößt er mit einer eigenen Organisation direkt in den Pluralismus der Parteien und Verbände vor und schafft sich eine Volksfront, die ihm direkt verpflichtet ist.

Chance und Gefahr Wir stehen heute dicht vor dieser Entscheidung. Es ist nicht zu beurteilen, ob sich der General von Schleicher bewußt ist, welche Entscheidungen auf dem Wege, den er beschritten hat, liegen. Es ist auch nicht zu beurteilen, ob er den genügend zähen und genügend brutalen Willen besitzt, diesen Weg bis zu Ende durchzugehen. Denn die Widerstände werden ungeheuer groß sein und die Zahl der Gegner ebenfalls. Der General wird sämtliche Parteien gegen sich haben. Zunächst die NSDAP, die heute um ihren Bestand kämpft. Viel gefährlicher aber sind das Zentrum und die SPD, die sich bis zuletzt gegen die Ausschaltung wehren werden. Der General wird ferner einen Sturm der Berufsstände erleben, die sich gegen den Einbau in den Staat mindestens ebenso verzweifelt wehren werden wie die Parteien. Der General wird einen Frontalangriff der Bünde abzuwehren haben, die sich gegen den Eingriff des Staates hartnäckig zur Wehr setzen werden. Der Kampf mit den Mächten des heutigen Pluralismus ist der schwerste Kampf, den man sich aufladen kann. Aber er muß geführt werden von jedem, der heute bereit ist, Ordnung zu schaffen und den Staat neu zu fundieren. Es besteht eine große Chance, diesen Kampf zu gewinnen. Es ist zum erstenmal wirklich die Ge-



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legenheit gegeben, diesen Pluralismus zu zerschlagen. Dann aber muß man auch sehen, daß der eigentliche Kampf sich heute hinter den Kulissen scheinbaren Einlenkens und Vertagens erst vorbereitet und daß er von beispielloser Härte sein wird. Wird dieser Kampf von dem, der ihn auf der einen Seite führt, verloren werden, dann gibt es keine Ablösung mehr durch andere Personen oder etwa durch die Parteien. Die Ablösungen, die dann kommen, werden unwesentlich sein. Sondern dann nähert sich jener Weg, auf dem zunächst einmal der Bestand des Reiches gefährdet und in Frage gestellt wäre. Der Aufbau ginge dann nicht planend „von oben“ vor sich, sondern sich entwickelnd „von unten“. Und der Körper dieses Reiches kann zunächst einmal in die Vielzahl seiner Zellen zerfallen, die sich jede für sich regenerieren würden. Die Aufgabe eines neuen Reiches aber ginge damit an unsere Enkel über.

Anhang 3: Rolf Boelke, Der Weg des Nationalsozialismus175 „Vieles fällt und geht zu Grunde, erweist sich also doch nicht zum letzten bestimmt und wenige nur erscheinen zuletzt als auserwählt.“ Hitler: „Mein Kampf II“

Das Jahr 1932 Das Jahr 1932 wird in der deutschen Geschichte von späteren Geschlechtern als sehr beachtlich angesehen werden. Es wird als das Ende eines Gärungsprozesses gewertet werden und als Anfang einer Klärung zu betrachten sein. Es wird für viele das Jahr der Enttäuschung, für noch mehr das Jahr der Erleichterung sein. Das Tempo dieses Jahres ist kein Zeitlupentempo gewesen. Alles wurde wie im Rausch noch einmal auf die Spitze getrieben. Der Parlamentarismus erlebte seine letzte Scheinblüte, eine Wahl jagte die andere, immer wieder wurde das Volk aufgepeitscht, um ihm noch einmal Entscheidungsmöglichkeiten zu geben, das alte Wirtschaftssystem wurde nochmal groß aufgepulvert, privatkapitalistische Ankurbelung wurde das Wort der Stunde, und die Organisation, die seit 1930 im Mittelpunkt des Geschehens stand, um deren Achse sich in Anerkennung oder Abwehr das politische Leben in Deutschland drehte, die NSDAP, erlebte einen Auftrieb, wie er bisher in der politischen Geschichte eines Landes unerreicht war. Dann plötzlich wurde es still, alles hielt den Atem an, die Waffen wurden uninteressant und es standen sich nur noch ein paar Männer gegenüber. Es wurde auf einmal klar, daß der ganze Auftrieb im Grunde nur Krämpfe einer im Todeskampfe liegenden Epoche waren, daß hinter dem lauten Getriebe sich im Stillen etwas Neues, Nüchternes, Sachliches gebildet hatte, zu dem man gezwungen wurde, Stellung zu nehmen, daß plötzlich alle Schlagworte ihrer Würde und Wirkung entkleidet waren. Ein neues Staatsbild meldete seinen Anspruch an, noch unvollkommen und etwas schüchtern, aber doch schon so stabil, daß es ein Ja oder Nein ver175  Quelle: DIE TAT. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, 10/24 Januar 1933, 876–880.

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langen konnte. Aber obwohl dieses neue Staatsbild von allen gewünscht, von allen in den blühendsten Farben als erstrebenswert dem Volke vorgezeichnet worden war, kehrten die Führer der Parteien und Organisationen ihm den Rücken, entweder ließ man die Stellungnahme offen, oder man lehnte es ab. Der herbeigesehnte autoritäre Staat mußte bei seinem ersten Auftreten merken, daß sie alle nur „ihren“ autoritären Staat meinten, bei dem sie, die Führer, die Zügel in der Hand hatten. Und wieder stand auch in dieser Situation die größte politische Organisation im Mittelpunkt der Spannung. Würde sie mithelfen an der Gestaltung des Inhalts der neuen Staatsform? Würde sie ihre Massen, geschult auf den Autoritätsgedanken, auf das Führerprinzip, dem neuen autoritären Staat, der unter viel Qualen der letzten 14 Jahre geboren war, entgegenführen? Würde sie sich der Aufforderung verschließen können, mit Beispiel voranzugehen, für die auch von ihr angestrebte Volksgemeinschaft als die notwendige Basis jeder Autorität den ersten starken Pfeiler zu bilden? Der Führer der NSDAP hat zweimal versagt, und damit seiner Anhängerschar einstweilen die Möglichkeit genommen, an dem Bau des Hauses mitzuarbeiten, in dem auch sie, ob gewollt oder ungewollt, leben muß. Diese Absage Adolf Hitlers ist für das Schicksal der NSDAP entscheidend gewesen. Den, der die Entwicklung der Partei kennt, um ihre inneren Spannungen weiß, hat die Absage nicht überrascht. Schon aus der Kenntnis der Vergangenheit konnte man diesen Ablauf vorherahnen.

Wie es kam Als Adolf Hitler nach dem mißglückten Unternehmen vom 9.  November 1923, das letzten Endes an der Unentschlossenheit, Weichheit und einem erstaunlich großen Mangel an Menschenkenntnis bei der Führung scheiterte, auf der Festung Landsberg den ersten Band seiner Memoiren schrieb, stand die Nationalsozialistische Partei zum erstenmal vor der Frage: was nun? Es wurde damals die grundsätzliche Frage erörtert, welche Stellung zum Parlamentarismus eingenommen werden sollte. Die einzig mögliche Antwort, für die es keine Überlegung gab, weil ihr Wille auf jedem Wege an die Macht zu kommen, den Ausschlag gab, war die, das Parlament mit seinen Vergünstigungen und seiner offiziellen Öffentlichkeit als eine der Möglichkeiten einzusetzen, das Ziel der Machtergreifung in möglichst kurzer Zeit zu erreichen. Die Frage legal oder illegal existierte damals noch nicht. Es war eine Zeit, in der die Einstellung der Partei noch mehr der der Kommunisten glich, die sich darin immer gleich geblieben sind, jede Möglichkeit, parlamentarischer und nichtparlamentarischer, erlaubter und nicht erlaubter Art zur Erreichung ihres Zieles auszunutzen. Das änderte sich, je mehr die NSDAP zunahm, je mehr sie von ihrer taktischen Einstellung zum Parlamentarismus abging bzw. abgedrängt wurde. Als Hitler den Vorwurf der Staatsfeindlichkeit unerträglich empfand und seine legale Haltung ernst nahm und sie noch dazu vor Gericht mit einem Eid bekräftigte, war im Grunde das Schicksal der Partei besiegelt, weil er den Ausgangspunkt, die ursprüngliche Plattform, die eine revolutionäre gewesen war, wenigstens in der im-



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mer wieder von der Führerschaft genährten Vorstellung der Anhänger, verlassen hatte und sich ganz auf die liberale Basis, die er bekämpfen wollte, hatte hinaufziehen lassen. Er selbst hatte früher einmal selbst geschrieben: „Damit ist die Bewegung aber antiparlamentarisch und selbst ihre Beteiligung an einer solchen Institution kann nur den Sinn einer Tätigkeit zu deren Zertrümmerung besitzen, zur Beseitigung einer Einrichtung, in der wir eine der schwersten Verfallserscheinungen der Menschheit zu erblicken haben.“ Aber die Entwicklung war stärker als er. Das Eigenleben und die Dynamik der Parolen, die ursprünglich nur als Taktik gedacht waren, haben auch die NSDAP eingefangen. Und so war mit dem enormen Ansteigen der Partei, das sich in der hohen Abgeordnetenzahl bei den Septemberwahlen des Jahres 1930 zum ersten Male in greifbaren Zahlen ausdrückte, zwar im Sinne der alten politischen Formen ein großer Erfolg erzielt worden, aber in den dazugehörigen Konsequenzen, den meßbaren Prozentsätzen einer Parlamentsarithmetik mit ihren festen Spielregeln lag zugleich die große Gefahr. Denn der Gedanke, welcher der ganzen Taktik notwendigerweise zu Grunde lag, war [sic!] die berühmten 51 Proz. der Wähler. Daß diese bei der Struktur des deutschen Volkes nie zu erreichen waren, daß die Entwicklung nicht nur der NSDAP zu gute kam, sondern auch von ihren vielen Gegnern mit Erfolg für sich eingespannt wurde, mußte bei politischen Menschen als selbstverständliche Erkenntnis vorausgesetzt werden, und sie war auch bei vielen führenden Nationalsozialisten vorhanden. Nur Adolf Hitler verbiß sich immer mehr, innerlich und äußerlich, in den „Alles oder Nichts-Standpunkt“ und wurde immer mehr der Gefangene seiner eigenen Taktik. Die Mauer um ihn herum wurde höher und dicker, das Eigenleben der Partei, besonders in der Führung, immer ausschließlicher. Und so traf die erste notwendige, von vielen vorhergesagte rückläufige Bewegung auf ein bereits erstarrtes Gebilde, dessen Führer mit seinen engsten Vertrauten in einsamer kalter Höhe die Entwicklung im übrigen Deutschland ohne Verständnis gleichsam als nicht berechtigt und nicht existent ablehnten. In diesem Augenblick begann das „Schwimmen“ der Parteiführung. Konnte man bei der Ablehnung der Teilnahme an einem Kabinett Papen noch eine politisch begründete Handlungsweise sehen, so mußte die Art der Verhandlung nach den letzten Reichstagswahlen und die endliche Ablehnung eines Beteiligungsangebots an einem Kabinett Schleicher trotz der Verluste der Partei erschrecken. In der Begründung dieser Haltung fehlte weithin fühlbar die Wärme der Liebe und Sorge um das Volksganze, welche die Partei letzten Endes groß gemacht hat, in solch erschütterndem Maße, lag ein so ausschließender Egoismus und Kult der eigenen Existenznotwendigkeit, daß die großen Verdienste, die Hitler und seine Partei um die Entwicklung der Nation haben, Gefahr laufen, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Der Kampf gegen den autoritären Staat, der durch die Zusammenarbeit des Reichspräsidenten mit dem General von Schleicher eine weitere sinnvolle Stabilisierung erfahren hat, läßt immer mehr eine positive, praktisch verwertbare Einstellung zum Volksganzen vermissen.

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Der Schritt Gregor Strassers Daß in dieser Situation irgendeine Rückwirkung innerhalb der Partei nicht ausbleiben konnte, war zwangsläufig. Durch den Rücktritt Gregor Strassers von seinen Parteiämtern ist die Partei im Grunde wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen worden. Der Sinn dieses Schrittes liegt darin, daß der Nationalsozialismus der ersten Jahre, der untaktische, revolutionäre, auf echte Volksgemeinschaft ausgerichtete Flügel der Partei, der immer vorhanden gewesen und dessen unausgesprochener Führer Gregor Strasser ist, aus seiner Zurückgezogenheit sich hervorwagt und sein altes Ziel zur Diskussion stellt, jede Möglichkeit zu benutzen, um seine Ideen einer Verwirklichung entgegenzuführen. Der ursprüngliche Nationalsozialismus war ja immer bereit gewesen, von heute auf morgen anzutreten und die Hand den Volksgenossen entgegenzustrecken, die gewillt waren, an dem gleichen Ziele mitzuarbeiten. In der ersten Zeit hatte sich das in einfachsten Formen durch starkes Eingehen in der Art und Weise des Redens und Auftretens auf die allem Nationalen mißtrauisch gegenüberstehenden Arbeitermassen geäußert. Mit dem Wachsen der Partei, dem Arbeiten an sich selbst, der größer werdenden Erkenntnis und Einsicht in die realen politischen Zusammenhänge und Möglichkeiten änderten sich diese Formen, der Wille zur Verwirklichung dieser Zusammenarbeit im Interesse der nationalsozialistischen Idee wurde klarer und praktischer. In der berühmt gewordenen Rede Strassers im Reichstag vom 10. Mai 1932 wurde dieser Richtung zum ersten Male deutlich Ausdruck gegeben, in dem er das Vorhandensein einer antikapitalistischen Volksfront über die alten politischen Parteien hinweg anerkannte und positiv bewertete. Auf dieser Linie ist er seitdem weitergegangen, bis er in seiner großen Sportpalastrede vor den nationalsozialistischen Betriebszellen die Hand jedem zu positiver Mitarbeit anbot, der in gleicher Weise bereit wäre, an einer echten Volksgemeinschaft mitzuarbeiten.

Zurück zum alten Nationalsozialismus Dieses Wiederanknüpfen an den Ausgangspunkt des Nationalsozialismus war eine selbstverständliche Reaktion in dem Augenblick, als es deutlich wurde, daß die Partei in eine Sackgasse geführt worden war. Der parlamentarische Weg war durch den „Alles oder Nichtsstandpunkt“ der Führung verbaut, der revolutionäre war abgeschworen [sic!] worden. Abgesehen davon hatte man die einzige praktische Möglichkeit hierzu, die Nacht vom 14. zum 15. September 1930, nutzlos verstreichen lassen. Dafür hatten wesensfremde Ideen, charakterisiert durch ein überspitztes, jede selbstständige Meinungsäußerung ertötendes Führerprinzip, durch Kopieren fremdstaatlicher politischer Erscheinungsformen, den eigentlichen Inhalt der Bewegung überdeckt und waren zum Selbstzweck geworden. Die bis zur Virtuosität gezüchtete „taktische Wendigkeit“ hatte eine legalrevolutionäre, unsicher machende Atmosphäre geschaffen, so daß der Schritt Gregor Strassers eine Notwendigkeit geworden war, um den eigentlichen Zweck der Partei nicht weiter verdunkeln zu lassen. Die Sorge, bei dem stärkeren Zusammenschmelzen der Partei, bei dem weiteren Erstarken des autoritären Staates in Kürze keine Möglichkeit zu praktischer, maßgebender Mitarbeit an der Gestaltung



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des Inhalts der Autorität zu haben, ließ in ihm die Notwendigkeit zu diesem Schritt heranreifen. Gegen ihn stand lediglich als Hauptbegründung der Haltung Adolf Hitlers die „Hoffnung“ auf eine weitere Verelendung des Volkes, auf das Versagen der wirtschaftlichen Maßnahmen der Gegner, ein Argument, dessen trügerische Kraft, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, bereits Brüning kennenlernen mußte, der auf der „Hoffnung“ auf eine baldige Behebung der Weltwirtschaftskrise seine ganze Politik aufgebaut hatte.

Was wird werden? Adolf Hitler hat zwei Möglichkeiten. Er gibt seine Partei der Autorität des Staates frei, das würde heißen, daß er bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit in die Hand einschlägt, die seine Partei zur Mitarbeit am Staatsneubau auffordert, unter Ausschaltung jeglicher personeller Einschränkungen. Oder er verläßt die Legalität und treibt auf einen revolutionären physischen Kampf mit der Staatsgewalt hin. Beide Möglichkeiten bedeuten einen Rückzug. Beide liegen Hitlers Wesen im Grunde fern. Dem Beschreiten des ersten Weges steht die fast bis zum Argwohn und Mißtrauen gehende Rücksicht auf sein eigenes Prestige entgegen. Die zweite Möglichkeit findet in der Art der Durchführung des ersten revolutionären Versuches im November 23 keine aussichtsvolle Bestätigung. Was bleibt? Die „Hoffnung“ auf das Chaos in Deutschland und das Alter des Reichspräsidenten. Ob sie als positiv zu wertendes Fundament staatsmännischer Überlegungen zu gelten hat, muß Adolf Hitler selbst entscheiden. Kein Mensch in Deutschland kann ihm diese Entscheidung abnehmen. Gregor Strassers Weg hat erst angefangen. Einstweilen hat er nur die Worte Hitlers praktisch in die Tat umgesetzt: „Ein Mensch, der eine Sache weiß, eine gegebene Gefahr kennt, die Möglichkeit einer Abhilfe mit seinen Augen sieht, hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, nicht im ‚Stillen‘ zu arbeiten, sondern vor aller Öffentlichkeit gegen das Übel auf- und für seine Heilung einzutreten. Tut er das nicht, dann ist er ein pflichtvergessener, elender Schwächling, der entweder aus Feigheit versagt oder aus Faulheit und Unvermögen.“176 Wohin dieser Weg führt, muß Gregor Strasser wohl klar sein. Er hat es selber vor nicht langer Zeit ausgedrückt: „So ist die Staatsidee des Nationalsozialismus nichts anderes als Bekenntnis zum Leistungsprinzip, zum Mannestum, zum Gemeinschaftsgedanken, als hundertprozentig durchgeführtes Volksgenossentum, als Bekenntnis zur Autorität, Disziplin, Pflicht, Freiheit, Ehre, als den Pfeilern einer neuen deutschen Staatsidee. Das Losungswort und Programm aber heißt Deutschland, nur Deutschland, nichts als Deutschland!“177

176  Adolf

Hitler, Mein Kampf, Bd. I. (Original-Fußnote). Strasser, Kampf um Deutschland (Original-Fußnote).

177  Gregor

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Anhang 4: Glossen zur Zeit: Schleicher und Straßer178 Sanglos und ziemlich unvermittelt sind in Deutschland zwei Persönlichkeiten ausgeschaltet worden, die eine große Zukunft zu haben schienen: der General von Schleicher und Gregor Straßer. Beiden ist die Arbeit, an der sie über ein Jahrzehnt konsequent mitgewirkt haben, plötzlich aus der Hand geschlagen worden. Der eine zieht sich still in sein kleines Landhaus in der Umgegend Berlins zurück, der andere lebt ebenso zurückgezogen und in eingeschränkter Lebensführung in München. Die beherrschende Position Schleichers in der Armee ist durch eine neue Persönlichkeit ersetzt worden, auch die führende Stellung Gregor Straßers in der NSDAP ist ausgeglichen worden. Beide tauchen von heute auf morgen unter, ohne daß man eigentlich noch von ihnen spricht. Dieser Abgang ist unnatürlich. Denn dazu war beider Stellung und beider Persönlichkeit zu stark, als daß sie durch diesen Abgang ausgelöscht werden könnte. Deshalb kann dieser Abtritt nur vorübergehender Natur sein. Denn wir können es uns in Deutschland nicht leisten, mit dem Führermaterial so achtlos und verschwenderisch umzugehen. Es sind nicht viele führende Persönlichkeiten vorhanden. Nachwuchs aus der Jugend erfolgt nur spärlich, und eine Führerreserve existiert schon gar nicht. Dieser Abgang kann also nur ein Rückzug in die Führer­ reserve sein. Man darf die Namen Schleicher und Gregor Straßer nicht aus seinem Gedächtnis streichen. Es ist das Merkwürdige, daß es viele Berührungspunkte zwischen beiden Persönlichkeiten gibt. Beide fechten eigentlich politisch auf derselben Linie. Der eine versucht als Taktiker und Generalstäbler die Brücke zwischen rechts und links zu spannen, er arbeitet für die Synthese eines autoritären Staates, aufgebaut auf den beiden Grundpfeilern der NSDAP und der Gewerkschaften. Der andere versucht als Volksmann diese Brücke zu spannen, in dem er von der einen Seite direkt an die Gewerkschaften appelliert. Beide scheitern, weil diese Brücke heute noch nicht zu spannen ist. Ihr Rückzug zeigt eine Souveränität des Charakters, die heute in Deutschland nicht häufig ist. Der eine gibt sein Lebenswerk, die Armee, auf, obwohl man ihm erneut das Wehrministerium anbietet. Er gerät an die Grenze, wo der Charakter die Chance der Politik beiseiteschiebt. Der andere gibt ebenfalls sein Lebenswerk, die NSDAP, auf, obwohl man Versuche macht, ihn zu halten. Auch er gerät an die Grenze, wo der Charakter die Chancen der Politik beiseiteschiebt. Was der eine seit Jahren versuchte, die NSDAP in den Staat einzubauen, gelang Herrn von Papen. Was der andere ebenfalls seit Jahren versuchte, die NSDAP an den Staat heranzubringen, gelang Adolf Hitler. Als die Tausende und Tausende im Fackelglanz durch die Wilhelmstraße zogen, fehlten beide an den Fenstern der Reichskanzlei. Beide waren ausgeschaltet worden. Hatten sie dieses Ergebnis nicht erhofft und es selber betrieben, und hätten sie es nicht begrüßt? Es liegt die

178  Quelle: DIE TAT. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, 12/24 März 1933, 1067/68.



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gleiche Tragik auf den beiden Männern; sie hätten dieses Ergebnis wahrscheinlich beide ihrem Charakter nach abgelehnt. Denn ihre Politik stand unter dem Zeichen: das ganze Deutschland soll es sein!, und sie lehnten beide den offenen Gegensatz zwischen rechts und links ab! Beide aber waren die großen Gegenspieler jener Kreise, die in einer Restaurierung des Privatkapitalismus ihr Ziel sahen. Der „soziale General“ und der sozialistische Exponent der NSDAP. Beide galten diesen Kreisen als die gefährlichsten Gegner. Und wenn die restkapitalistische Gruppe einen Sieg erfechten sollte, dann mußte er über beide hinwegführen. Es ist nicht ersichtlich, ob und inwieweit es zu einem gewissen Zusammenspiel zwischen dem General von Schleicher und Gregor Straßer gekommen ist und was an den Kombinationen einer Vizekanzlerschaft Straßers, die eine Zeitlang erwogen wurde, Wahres ist. Angesichts der gleichgerichteten Politik, die beide verfolgten, wäre diese Zusammenarbeit sicherlich produktiv für Deutschland geworden. Es gilt heute, die Politik beider Männer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie sind durch die praktische Entwicklung ausgeschaltet worden. An die Stelle der Kombination Schleicher-Straßer ist die Wirklichkeit Papen-Hitler getreten. Eine Rechtfertigung vermag nur die Geschichte zu geben. Rechtfertigt sie die heute Entwicklung, so bleibt an beiden Persönlichkeiten nur noch der Charakter hervorzuheben, den sie gezeigt haben. Rechtfertigt sie die heutige Entwicklung nicht, so wird der Ruf des Schicksals wieder in ihre Zurückgezogenheit dringen. --- a ---

II. Politik

Von Lasalle bis Löbe. Das „rote Schlesien“: Ein Stammland der Sozialdemokratie? Von Winfrid Halder, Düsseldorf I. Schlesien in der sozialdemokratischen Parteigeschichte Schlesien hat in der sozialdemokratischen Parteigeschichte einen prominenten Platz – sollte man meinen. Schließlich war einer der bis heute verehrten Gründerväter der Partei, nämlich Ferdinand Lassalle (1825– 1864), gebürtiger Breslauer. Lassalle wird im aktuellen Internetauftritt der SPD unter den aus mehr als 150 Jahren Parteigeschichte ausgewählten 34 Personen angeführt, die zu den „Größen der Sozialdemokratie“ gerechnet werden.1 Merkwürdig indes mutet zugleich an, dass sich in dem dort zu lesenden knappen Biogramm kein Hinweis auf Lassalles Geburtsort findet. Immerhin ist er in Breslau auch zur Schule gegangen und hat dort noch sein Studium begonnen, ferner ist er in der Metropole Schlesiens nach seinem frühen Tod begraben worden  – die „schlesische Dimension“ der Biographie Lassalles2 bleibt an dieser Stelle also bedauerlicherweise ausgeklammert. Bei den 33 anderen „Größen der Sozialdemokratie“ ist zumeist mindestens der Geburtsort vermerkt. Dadurch erfährt man, dass Emma Ihrer (1857–1911) – eine der 17 genannten weiblichen „Größen“ – aus Glatz stammte, also ebenfalls schlesische Wurzeln hatte. Ihre politische Tätigkeit als Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung hat sie allerdings außerhalb Schlesiens entfaltet, das sie bereits in jungen Jahren verlassen hatte.3

1  Vgl. https://www.spd.de/partei/personen/ferdinand-lassalle/ (Zugriff 17.02. 2021). 2  Vgl. Wilhelm Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung (Ostdeutsche Beiträge, Bd. LIII), Würzburg 1973, 23 ff. 3  Vgl. Klaus Malettke: Ihrer, Emma, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 129 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd123631041. html#ndbcontent (Zugriff 10.04.2021).

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Mit Blick auf das Tagungsthema insgesamt wird jedoch unter den 34 „Größen“ mancher Name schmerzlich vermisst, etwa der des Königsbergers Otto Braun (1872–1955), der als langjähriger Ministerpräsident ab 1920 Preußen zum „Bollwerk der Demokratie“ machte4, bevor es dann doch in der verhängnisvollen braunen Flut unterging, oder der des aus dem ebenfalls ostpreußischen Darkehmen stammenden Gustav Bauer (1870–1944), letzterer (1919/20) immerhin einer der bislang nur sechs deutschen Regierungschefs , welche die Sozialdemokratie stellte.5 Auch Paul Löbe (1875–1967) fehlt, der seiner niederschlesischen Herkunft aus Liegnitz immer großen Wert beimaß6, und den der Autor der bis jetzt einzigen größeren biographischen Studie, die Löbe gewidmet ist, für den „nach Ferdinand Lassalle wichtigsten Politiker der schlesischen Sozialdemokratie“ hält.7 Die herausragende Bedeutung Löbes als Parlamentarier wurde auch durch die Benennung eines der drei Abgeordneten-­ Gebäude des Deutschen Bundestages in Berlin unterstrichen.8 Unter die „Größen der Sozialdemokratie“ ist er gleichwohl nicht aufgenommen worden. Aber die „schlesische Dimension“ der sozialdemokratischen Parteihistorie war lange Zeit immerhin optisch präsent  – in Gestalt der „Tradi­ tionsfahne“ nämlich, die mindestens bis 2015 auf Parteitagen gezeigt wurde und als eine „Ikone der Arbeiterbewegung“ gelten darf. Die Fahne wurde 1873 in Breslau angefertigt, wo Ende der 1860er Jahre die später größte und beständigste sozialdemokratische Lokalorganisation in Schle4  In seiner Informationsfülle immer noch unersetzt: Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, neuerdings ergänzt durch Manfred Görtemaker (Hrsg.), Otto Braun. Ein preußischer Demokrat, Berlin 2014. 5  Vgl. Karlludwig Rintelen, Ein undemokratischer Demokrat: Gustav Bauer. Gewerkschaftsführer – Freund Friedrich Eberts – Reichskanzler. Eine politische Biographie, Frankfurt/M. u. a. 1993, u. Martin Vogt, Gustav Adolf Bauer, in: Die deutschen Kanzler. Von Bismarck bis Merkel, hrsg. v. Wilhelm von Sternburg, Berlin 2006, 231–250. 6  Noch in einem Fernsehinterview von 1957 sprach Löbe ausführlich über seine Kindheit und Jugend in Liegnitz und Breslau; vgl. https://www.ardmediathek.de/ rbb/video/rbb-retro-wie-ich-angefangen-habe/wie-ich-angefangen-habe-paulloebe/rbb/Y3JpZDovL3JiYi5kZS93aWUtaWNoLWFuZ2VmYW5nZW4taGFiZS8x OTU3LTEwLTIyVDE5OjMwOjAwXzU2OWUwMjAwLTZhMWYtNDNmNy04YTg 3LTY2YmI2N2Q0YTkwNS9yZXRyb18xOTU3MTAyMl9wYXVsX2xvZWJl/ (Zugriff 17.02.2021). 7  Theodor Oliwa, Paul Löbe. Ein sozialdemokratischer Politiker und Redakteur. Die schlesischen Jahre (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte, Bd. 30), Neustadt a. d. A. 2003, Vorwort o. S. 8  Vgl. https://www.bundestag.de/besuche/architektur/loebehaus/loebe/loebe-19 8896 (Zugriff 17.02.2021).



Von Lasalle bis Löbe

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sien begründet wurde.9 Die in diesem Zusammenhang entstandene Fahne wurde während der Dauer des repressiven „Sozialistengesetzes“ (1878–1890) sicherheitshalber zunächst nach Zürich, dann nach London gebracht. Später kehrte sie nach Breslau zurück, wurde nach 1933 vor dem Zugriff des NS-Regimes versteckt und 1947 nach der Vertreibung ihres letzten Breslauer Hüters dem damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher (1895–1952) übergeben.10 Der aus dem westpreußischen Kulm stammende Schumacher findet sich übrigens unter den „Größen der Sozialdemokratie“.11 Auch den Umschlag der 2013 anlässlich des 150-jährigen Gründungsjubiläums der Partei veröffentlichten Erinnerungsschrift ziert die Traditionsfahne.12 Eine Internetrecherche zeigt mühelos, dass diese bis heute bei vielen SPD-Orts- und Kreisvereinen als Identifikationssymbol hoch im Kurs steht.13 Und schließlich ist sie auch auf der gerade neu gestalteten Internetseite der Gesamtpartei präsent.14 Prominente Führungsfiguren, ein vielfach als „die“ Traditionsfahne der Partei wahrgenommenes Überlieferungsobjekt aus Schlesien – Gründe genug gibt es scheinbar für die Annahme, dass der schlesische Teil der sozialdemokratischen Geschichte gut beleuchtet sein dürfte. Freilich erweist sich diese Annahme rasch als irrig. Das hat sicherlich ein Stück weit auch mit der schwierigen Quellenlage zu tun; ein sich redlich mühender „Arbeitskreis ehemals schlesischer Sozialdemokraten“15, der die Defizite in der Parteigeschichtsschreibung wettmachen wollte, hat schon in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass NS-Verfolgung, Krieg, 9  Vgl.

Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung (Anm. 2), 29 ff. http://erinnerungsorte.fes.de/traditionsfahne/ (Zugriff 18.02.2021); vgl. auch Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung (Anm. 2), 33 f. u. 36 f. 11  Vgl. https://www.spd.de/partei/groessen-der-sozialdemokratie/groessen-dersozialdemokratie-detailseite/speaker/kurt-schumacher/ (Zugriff 13.04.20123). 12  Vgl. Andrea Nahles/Barbara Hendricks (Hrsg.), Für Fortschritt und Gerechtigkeit. Eine Chronik der SPD, Berlin o. J. [2013]. 13  Beispiele: http://www.spd-rendsburg.de/unsere-partei/geschichte-der-spd/ (Zugriff 06.04.2021); https://www.spd-schleswig-holstein.de/einigkeit-machtstark-fahne-adav-jpg_web_datei_150dpi_rbg/ (Zugriff 06.04.2021); https://www. spd-dingolfing-landau.de/meldungen/150-jahre-kampf-fuer-freiheit-und-demo kratie/ (Zugriff 06.04.2021); http://geschichte.spd-bw.de/de/um-freiheit-und-sozi ale-demokratie/1869-alle-raeder-stehen-still.html (Zugriff 06.04.2021). 14  Vgl. https://www.spd.de/partei/geschichte/ (Zugriff 12.04.2021). 15  Zu verschiedenen Initiativen, Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung in den früheren deutschen Ostgebieten voranzutreiben (zumindest innerhalb Nordrhein-Westfalens), vgl. neuerdings Harald Lutter/Reinhard Grätz (Hrsg.), Der Ost- und Mitteleuropäische Arbeitskreis (OMAK) in Nordrhein-Westfalen 1956 bis 1998. Von einer sozialdemokratischen Vertriebenenorganisation zum Ausgleich mit Europa, zusammengestellt u. bearb. v. Margarete Polok u. Benjamin Höwt, Düsseldorf 2019, 6 ff. 10  Vgl.

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Flucht und Vertreibung zum Verlust des größten Teils der einschlägigen Unterlagen geführt haben.16 Allerdings erklärt dies gewiss nicht allein den ernüchternden Forschungsstand. In der wohl gängigsten Parteigeschichte, dem 2002 zuletzt aufgelegten Band von Heinrich Potthoff und Susanne Miller, wird Lassalle zwar verhältnismäßig ausführlich behandelt, nirgends indes findet sich ein Hinweis auf seine geographische Herkunft.17 Ähnliches gilt für Paul Löbe. Die schon genannte Parteifahne wird als „das Traditionsbanner der SPD“18 erwähnt, dessen Entstehung und Herkunft aber nicht thematisiert. Gleiches gilt für eine knappe, von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Parteigeschichte.19 In Franz Walters „Biographie einer Partei“ wird Ferdinand Lassalle natürlich auch behandelt, wiederum allerdings ohne Hinweis auf seine Heimatstadt.20 Paul Löbes Name taucht lediglich in einer Bildunterschrift auf.21 Das bislang jüngste Überblickswerk zur Parteigeschichte von Bernd Faulenbach verfährt mit Blick auf Lassalle ähnlich22, und Löbes Name wird nur sehr beiläufig genannt.23 Eine neuere, umfassende Biographie zu Lassalle existiert nicht, eine ursprünglich aus dem Jahr 1979 stammende biographische Studie wurde bezeichnenderweise 2015 neu aufgelegt.24 Die schon erwähnte, inzwischen auch schon annähernd zwei Jahrzehnte alte Teil-Biographie Löbes reicht nur bis zum Beginn seiner politischen Aktivitäten in der Weimarer Republik25, aber nicht darüber hinaus. Löbes 1954 publizierte Autobiographie stellt dafür lediglich einen sehr begrenzten Teil-Ersatz dar, denn er selbst hat eingangs betont, dass es sich nur um eine „schlichte Sammlung persönlicher Erin16  Vgl. Arbeitskreis ehemals schlesischer Sozialdemokraten (Hrsg.), Notizen zur Geschichte der Sozialdemokratie in Schlesien bis 1933 und im Widerstand, Bonn 1985, Vorwort, 6. 17  Vgl. Heinrich Potthoff/Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848– 2002, 8., akt. Aufl., Bonn 2002, bes. 31 ff. 18  Potthoff/Miller, SPD (Anm. 17), 20. 19  Vgl. Michael Reschke/Christian Krell/Jochen Dahm u. a., Geschichte der Sozialen Demokratie, hrsg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2., akt. Aufl., Bonn 2012, 15. 20  Vgl. Franz Walter, Die SPD. Biographie einer Partei, überarb. u. erw. ­Taschenbuchausgabe, Reinbek bei Hamburg 2009, 9 ff. 21  Ebd., 121. 22  Vgl. Bernd Faulenbach, Geschichte der SPD. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2012, 12 ff. 23  Ebd., 16. 24  Vgl. Hans-Peter Bleuel, Ferdinand Lassalle oder der Kampf wider die verdammte Bedürfnislosigkeit, Frankfurt/M. 2015. 25  Vgl. Oliwa, Löbe (Anm. 7), bes. 287–304.



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nerungen“ handele. Diese wolle „kein Geschichtsbuch sein“, zumal er sie praktisch ohne Unterlagen geschrieben habe, da sein gesamtes schriftliches Material Anfang 1944 dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen sei.26 Die nach wie vor wichtigste und informativste Untersuchung zur Geschichte der Sozialdemokratie in Schlesien ist demnach noch immer das Standardwerk von Wilhelm Matull zur Arbeiterbewegung in den historischen deutschen Ostgebieten insgesamt. Matulls Untersuchung ist indes inzwischen bereits fast 50 Jahre alt.27 Der 1903 in Königsberg geborene, als 20-Jähriger der SPD beigetretene studierte Historiker und Musikwissenschaftler Matull war bis zu seinem Tod 1985 eine der wichtigsten treibenden Kräfte bei den Bestrebungen, die „ostdeutsche Dimension“ der sozialdemokratischen Parteigeschichte nicht aus dem Blick zu verlieren. Der entsprechende, von Matull mitgetragene „Arbeitskreis“, der rund vier Jahrzehnte lang in Düsseldorf wirkte, hat vor inzwischen mehr als 20 Jahren seine Aktivitäten eingestellt. Dies hat zweifellos auch damit zu tun, dass mittlerweile die große Mehrzahl seiner Protagonisten  – fast durchweg Angehörige der „Erlebnisgeneration“ von Flucht und Vertreibung – verstorben ist. Genannt sei hier nur der gebürtige Breslauer Hans Stephan (1906–1991), Gründer und langjähriger Vorsitzende des „Arbeitskreises ehemals schlesischer Sozialdemokraten“.28 In jüngerer Zeit hat es nur noch vereinzelt Bestrebungen gegeben, den offenkundigen Kenntnis- und Forschungslücken abzuhelfen. Den besten neueren Überblick gewinnt man so durch eine Aufsatzserie, die Helmut Neubach 2013 veröffentlicht hat. Der Ende 2019 verstorbene Neubach, der sich jahrzehntelang mehr oder weniger im Alleingang der Parteiengeschichte in Schlesien widmete, war der wohl kenntnisreichste Experte auf diesem Gebiet.29 Die Aufsatzreihe von 2013 kann sicherlich als eine Art zusammenfassender Ertrag aus vielen früheren Untersuchungen Neubachs angesehen werden.30 26  Vgl. Paul Löbe, Der Weg war lang. Lebenserinnerungen von Paul Löbe ehemals Präsident des Deutschen Reichstags, 2., veränderte und erw. Aufl., Berlin 1954, [5]. 27  Vgl. Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung (Anm. 2), zu Schlesien bes. 1–232. 28  Vgl. Lutter/Grätz, Ost- und Mitteldeutscher Arbeitskreis (Anm. 15), 50 ff. 29  Vgl. Helmut Neubach, Parteien und Politiker in Schlesien (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Reihe B, Nr. 34), Dortmund 1988; vgl. auch Winfried Irgang/Werner Bein/Helmut Neubach, Schlesien. Geschichte, Kultur und Wirtschaft (Historische Landeskunde. Deutsche Geschichte im Osten, Bd. 4), Köln 1995, bes. 174 ff. 30  Vgl. Helmut Neubach, Von Ferdinand Lassalle bis Paul Löbe. 150 Jahre SPD in Deutschland, 82 Jahre in Schlesien, Teil  I: 1863–1918, in: Schlesien heute 5/2013, 47–49, Teil II: 1918–1933, in Schlesien heute 6/2013, 48–50, Teil III: 1933–

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In der allgemeinen Literatur zur schlesischen Geschichte findet sich kaum mehr als komprimierte Basisinformation zur Parteienentwicklung während der Weimarer Republik.31 Etwas besser sieht es für die Zeit davor insbesondere durch den informativen Beitrag von Michael Rüdiger Gerber in der voluminösen „Geschichte Schlesiens“ aus32, der folgende Beitrag von Konrad Fuchs, der auch die republikanischen Jahre behandelt, beschränkt sich wiederum auf nicht mehr als Grundinformationen.33 Ansonsten gilt, was bereits Ende der 1980er Jahre in einem sehr knappen Überblicksartikel zu lesen war: „Probleme der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Schlesien sind in der Literatur nur sehr spärlich zu finden.“34 Das wird auch durch sehr seltene neuere Beiträge nicht wettgemacht.35 Die Untersuchung konzentriert sich im Folgenden angesichts der dürftigen Forschungslage auf die Analyse von Wahlergebnissen, um so die Chancen und Grenzen sozialdemokratischer Politik in Schlesien in Um-

1945, in: Schlesien heute 7/2013, 50–52 u. Teil IV: Von 1945 bis heute, in: Schlesien heute 8/2013, 45–49. 31  Vgl. Joachim Bahlcke, Die Geschichte der schlesischen Territorien von den Anfängen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in: ders.: Schlesien und die Schlesier, 3. Aufl., München 2004, 13–154, bes. 121–137; Arno Herzig, Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten o. O. o. J. [Hamburg 2008], 192–194; Konrad Fuchs, Vom deutschen Krieg zur deutschen Katastrophe (1866–1945), in: Schlesien (Deutsche Geschichte im Osten Europas), hrsg. v. Norbert Conrads, durchges. u. auf den neuesten Stand gebrachte Aufl., Berlin 2002, bes. 595–600. 32  Vgl. Rüdiger Michael Gerber, Politische Geschichte 1848–1918, in: Joseph ­Joachim Menzel (Hrsg.), Geschichte Schlesiens, Bd. 3: Preußisch-Schlesien 1740– 1945. Österreichisch-Schlesien 1740–1918/45, Stuttgart 1999, 34–80, bes. 55–80. 33  Vgl. Konrad Fuchs, Politische Geschichte 1918–1945, in: Menzel, Geschichte Schlesiens (Anm. 32), 81–104. 34  Johannes Binkowski, Die Rolle der Arbeiterbewegung in Schlesien in den zwanziger Jahren und nach Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Nationalsozialismus und Widerstand in Schlesien (Schlesische Forschungen, Bd. 3), hrsg. v. Lothar Bossle u. a., Sigmaringen 1989, 9–15, hier 9. Im gleichen Band findet sich einer der wenigen Beiträge zur schlesischen SPD gegen Ende der Weimarer Republik: Günter Granicky, Die SPD in der Endphase der Weimarer Republik, in: Bossle u. a., Nationalsozialismus, 1–8. Günter Granicky (1914–1994), in Niederschlesien aufgewachsen, war bezeichnenderweise seinerseits Mitglied des Düsseldorf OMAK; vgl. Lutter/Grätz, Ost- und Mitteldeutscher Arbeitskreis (Anm. 15), 51. 35  Vgl. Reiner Zilkenat, Hort der Konterrevolution? Bemerkungen zur politischen Szenerie in Schlesien in der Zeit der Weimarer Republik, in: Widerstand und Heimatverlust. Deutsche Antifaschisten in Schlesien, hrsg. v. Cornelia Domaschke/Daniela Fuchs-Frotscher/Günther Wehner (Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 73), Berlin 2012, 77–96.



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rissen herauszuarbeiten. In den Jahren der Weimarer Republik muss dabei auch die Kommunistische Partei als schärfster Gegner der SPD innerhalb der Arbeiterbewegung im Blick behalten werden. Angesichts der Vielzahl relevanter Wahlergebnisse geschieht dies exemplarisch anhand ausgewählter Reichstagswahlen. II. Die schlesische Sozialdemokratie im Kaiserreich Zur Verdeutlichung der Ausgangslage der SPD in Schlesien während der Zeit der Weimarer Republik ist es sicherlich hilfreich, einen kurzen Blick auf die politischen Erfolge der Partei in dieser preußischen Provinz zwischen 1871 und 1912 (also bis zur letzten Reichstagswahl während der Existenz des Kaiserreichs) zu werfen. Die Reichstagswahlergebnisse aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik sind indes – dieser Hinweis erscheint notwendig – nur bedingt vergleichbar, da die zur Anwendung kommenden Wahlsysteme sehr unterschiedlich waren36. Dennoch sind zumindest Entwicklungstendenzen erkennbar. Schlesiens unmittelbare Nachbarschaft innerhalb des Deutschen Reiches bestand insbesondere aus dem damaligen Königreich Sachsen – und dieses wurde zum geradezu sprichwörtlichen „roten Sachsen“. Bei der Reichstagswahl von 1903 fielen 22 der insgesamt 23 sächsischen Reichstagswahlkreise an sozialdemokratische Kandidaten, wie überhaupt Sach­ sen sich zur schlechterdings wichtigsten SPD-Hochburg entwickelt ­hatte.37 Nach erheblichen Mandatsverlusten bei der Reichstagswahl von 1907 gewannen die Sozialdemokraten 1912 dort wieder 19 von 23 Reichstagsmandaten.38 Die schlesische SPD hatte also eine ungemein starke ­sozialdemokratische Nachbarschaft. Färbte das auf sie ab?

36  Detailliert zum Wahlsystem im Kaiserreich: Carl-Wilhelm Reibel, Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918. Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 15, 2 Halbbde.), Düsseldorf 2007, 35*–41*. Hilfreich ist auch immer noch Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs, München 1980, 23 ff. Zur Weimarer Republik Eberhard Schanbacher, Parlamentarische Wahlen und Wahlsystem in der Weimarer Republik. Wahlgesetzgebung und Wahlreform im Reich und in den Ländern (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 69), Düsseldorf 1982, 66–89. 37  Vgl. Katrin Keller, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2002, 287  ff.; vgl. auch Reiner Gross, Geschichte Sachsens, 2., durchges. Aufl, Leipzig 2002, 249 ff. 38  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm.36), 1120 ff.

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In der damaligen preußischen Provinz Schlesien gab es 35 Reichstagswahlkreise (von 397 insgesamt).39 Erst bei der Wahl zum 3. Reichstag am 10. Januar 1877 gelang es den Sozialdemokraten erstmals, einen schlesischen Wahlkreis zu gewinnen. Es handelte sich um den Wahlkreis Nr. 96 Reichenbach/Neurode im Regierungsbezirk Breslau. Der sozialdemokratische Erfolg hier war gewiß auch dadurch mitbedingt, dass dieser Wahlkreis mit 59,6 Prozent den vierthöchsten Anteil von in Industrie und Gewerbe beschäftigten Männern (1895) unter allen schlesischen Reichstagswahlkreisen hatte.40 Im späten 19. Jahrhundert entwickelte sich in der Region um Neurode und das benachbarte Waldenburg ein bedeutendes Steinkohlrevier. Zwar gewann es nicht die gleiche Bedeutung wie das oberschlesische Bergbaugebiet, dennoch erfolgte eine weitreichende Industrialisierung der Umgebung mit einer entsprechenden Beschäftigungsstruktur.41 Bei der Wahl vom Januar 1877, bei der sie also ihren ersten schlesischen Wahlkreis gewannen, erreichten die Sozialdemokraten reichsweit insgesamt 12 Reichstagsmandate, davon sieben in sächsischen Wahlkreisen.42 Bei der nächsten, infolge der Auflösung des Reichstages rasch folgenden Wahl am 30.  Juli 1878  – die nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. stattfand, für die Reichskanzler Otto von Bismarck fälschlich die Sozialdemokraten verantwortlich machte43  – ging der Wahlkreis Reichenbach/Neurode wieder verloren, allerdings konnte ein sozialdemokratischer Kandidat erstmals einen der beiden Breslauer Wahlkreise gewinnen. Insgesamt erreichten die Sozialdemokraten reichsweit noch neun Mandate, davon sechs in Sachsen.44 Bei der Wahl zum 5. Reichstag am 27.  Oktober 1881 fielen erstmals zwei schlesische Wahlkreise an die Sozialdemokraten, und zwar die beiden Breslauer Wahlkreise. Die größte Stadt Schlesiens begann sich als sozialdemokratische Hochburg zu eta­ blieren. Insgesamt erzielten die Sozialdemokraten 1881 auf Reichsebene 39  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 55*–60*; die schlesischen Wahlkreise trugen die Ordnungsnummern 86 bis 120. Vgl. auch Ritter/Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (Anm. 36), 50 u. 54 f. (Übersichtskarte). 40  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 336 ff., bes. 374. Einen höheren Beschäftigten-Anteil in Industrie und Gewerbe hatten in Schlesien lediglich die Wahlkreise 95 Waldenburg (71,6 Prozent), 103 Beuthen (77,0 Prozent) und 104 Kattowitz (77,6 Prozent). 41  Vgl. Herzig, Schlesien (Anm. 31), 154 f. 42  Vgl. https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt4_h1_bsb00003446_00001.html [Reichstagshandbuch 1877] (Zugriff 24.03.2021). 43  Vgl. Winfrid Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914, 3., bibliogr. akt. Aufl., Darmstadt 2011, 49 ff. 44  Vgl. https://www.reichstagsprotokolle.de/Band4_h1_bsb00003561.html [Reichs­ tagshandbuch 1878] (Zugriff 24 03.2021).



Von Lasalle bis Löbe

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wieder 12 Mandate, davon vier in Sachsen.45 Bei der Wahl zum 6. Reichstag am 28. Oktober 1884 konnten die Sozialdemokraten die Gesamtzahl ihrer Mandate auf 24 verdoppeln, in Schlesien blieb es allerdings bei den beiden Breslauer Wahlkreisen.46 Die Wahl zum 7. Reichstag am 21. Februar 1887 brachte den Sozialdemokraten herbe Mandatsverluste, sie kamen nur noch auf insgesamt 11 Sitze. Auch der Wahlkreis Nr. 91 Breslau-Ost ging nunmehr an einen konservativen Kandidaten verloren. Demnach fielen die Sozialdemokraten in Schlesien wieder auf nur ein Mandat zurück.47 Als die Sozialdemokraten bei der Wahl zum 8. Reichstag am 20. Februar 1890 ihren bislang spektakulärsten Erfolg erzielten und 35 von 397 Reichstagssitzen gewinnen konnten, war dies jedenfalls nicht auf größere Erfolge in Schlesien zurückzuführen. Sie gewannen zwar den Wahlkreis Nr. 91 Breslau-Ost zurück, verloren aber zugleich den Wahlkreis Nr. 92 Breslau-West in der erforderlich werdenden Stichwahl knapp an einen linksliberalen Kandidaten, der von einem „bürgerlichen“ Wahlbündnis gestützt wurde.48 Zum bis dahin größten Erfolg der schlesischen SPD wurde die folgende Reichstagswahl am 15. Juni 1893: Sie gewann beide Breslauer Wahlkreise49, eroberte den Wahlkreis Nr. 96 Reichenbach/Neurode erstmals seit 1878 zurück50 und gewann zum ersten Mal zusätzlich den benachbarten Wahlkreis Nr. 95 Waldenburg.51 Insgesamt kam die SPD 1893 reichsweit auf 44 Sitze, sie gewann dabei fünf der sechs Berliner Wahlkreise und sieben der 23 sächsischen Wahlkreise.52 Zum Teil war gewiss auch die erstmalige Wahl Breslaus als Austragungsort eines SPDParteitages im Oktober 1895 eine Anerkennung der dortigen Organisations- und Wahlerfolge.53 Auch bei der Wahl zum 10. Reichstag am 16. Juni 1898 blieben die Sozialdemokraten auf der Erfolgsspur und holten 56 Sitze. In Schlesien allerdings war die Entwicklung gegenläufig, denn die Sozialdemokraten verloren den Wahlkreis Reichenbach/Neurode wieder, erstmals an einen 45  Vgl. https://www.reichstagsprotokolle.de/Band4_h1_bsb00003759.html [Reichs­ tagshandbuch 1881] (Zugriff 23.03.2021). 46  Vgl. https://www.reichstagsprotokolle.de/Band4_h1_bsb00003447.html [Reichs­ tagshandbuch 1884] (Zugriff 23.03.2021). 47  Vgl. https://www.reichstagsprotokolle.de/Band4_h1_bsb00003448.html [Reichs­ tagshandbuch 1887] (Zugriff 23.03.2021). 48  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 352 ff. 49  Vgl. ebd., 352 ff. 50  Vgl. ebd., 376. 51  Vgl. ebd., 372. 52  Vgl. ebd., 114 ff. bzw. 1120 ff. 53  Vgl. Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung (Anm. 2), 53 ff.

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Zentrumskandidaten.54 Es blieben also nur drei schlesische Mandate. In Sachsen konnte die SPD demgegenüber 12 von 23 Wahlkreisen gewinnen.55 Die Wahl zum 11. Reichstag am 16. Juni 1903 bescherte den Sozialdemokraten 81 von 397 Reichstagsmandaten, sie waren damit zweitstärkste Fraktion hinter dem Zentrum. In Schlesien konnte jedoch nur der Verlust des Wahlkreises Reichenbach/Neurode wettgemacht werden.56 Vor der Wahl zum 12. Reichstag am 25.  Januar 1907 gab es einen außergewöhnlich polarisierten Wahlkampf, der sich insbesondere gegen die Sozialdemokraten richtete („Hottentotten-Wahlen“).57 Die sozialdemokratische Fraktion wurde auf 43 Sitze fast halbiert, drei der zuvor vier sozialdemokratischen Wahlkreise in Schlesien gingen verloren – darunter beide Breslauer Sitze  –, nur der Wahlkreis Waldenburg konnte gehalten werden.58 Beim spektakulären Erfolg der SPD bei der letzten Reichstagwahl im Kaiserreich am 12. Januar 1912 – sie gewann 110 der 397 Mandate – hatten endlich auch die schlesischen Sozialdemokraten größeren Anteil: Sie gewannen beide Breslauer Wahlkreise zurück, holten sich auch den Wahlkreis Reichenbach/Neurode wieder und hielten den Wahlkreis Waldenburg.59 Zu diesen vier Stimmbezirken, die man in Schlesien noch am ehesten als traditionell der SPD verbunden ansehen könnte, kam mit dem Wahlkreis Nr. 94 Striegau/Schweidnitz erstmals ein weiterer Stimmbezirk im Regierungsbezirk Breslau.60 Ein Novum war zudem, dass die SPD auch zwei Wahlkreise im Regierungsbezirk Liegnitz (also in direkter Nachbarschaft zum „roten Sachsen“) gewinnen konnte, und zwar die Wahlkreise Nr. 111 Grünberg/Freystadt und Nr. 119 Görlitz/Lauban.61 Von den nach wie vor 35 Wahlkreisen in Schlesien vermochte die SPD auf dem Höhepunkt ihres Erfolges sieben für sich zu gewinnen. Von den jetzt sieben „schlesischen“ SPD-Abgeordneten war übrigens lediglich ein einziger, nämlich August Kühn (1846–1916) (Wahlkreis Reichenbach/ Neurode), gebürtiger Schlesier62, die anderen waren politische „Importe“ 54  Vgl.

Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 376. ebd., 1120 ff. 56  Vgl. ebd., 376. 57  Vgl. Halder, Innenpolitik (Anm. 433), 116 ff. 58  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 352 ff. 59  Vgl. ebd., 352 ff. 60  Vgl. ebd., 368. 61  Vgl. ebd., 427 ff. bzw. 459 ff. 62  Vgl. http://zhsf.gesis.org/biorabkr_db/biorabkr_db.php?id=1375 [Datenbank der Reichstagsabgeordneten] (Zugriff 23.03.2021). 55  Vgl.

SPD-Reichstagsfraktion 1912 Von Lasalle bis Löbe Herkunft der 110 Mandate (Preußische Provinzen bzw. Einzelstaaten des deutschen Reiches)

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30

1

2

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7

10 10

17

10 2

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3

Gewonnene Mandate

23 19

14 5

5

17

13

9 01

3

1

4

9

15

13 45

5

Insgesamt zu vergebene Mandate

Abbildung 1: SPD-Reichstagsfraktion 1912 Herkunft der 110 Mandate (Preußische Provinzen bzw. Einzelstaaten des Deutschen Reiches

wie der Ostpreuße Gustav Bauer (Wahlkreis Breslau-Ost)63 oder der Berliner Eduard Bernstein (1850–1932) (Wahlkreis Breslau-West).64 Die Vertreter schlesischer Wahlkreise machten etwa 6 Prozent der Gesamtfrak­ tion aus, welche jetzt den Rang der mit Abstand stärksten Fraktion im Reichstag innehatte. Abbildung 165 zeigt die regionalen Hochburgen der Sozialdemokratie im Reich bzw. in Preußen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Reichsweit konnte die SPD 1912 35,6 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielen. In der Provinz Schlesien waren es allerdings nur unterdurchschnittliche 27,8 Prozent. Betrachtet man die Ergebnisse von 1912 auf der Ebene der drei schlesischen Regierungsbezirke ergibt sich ein  noch differenzierteres Bild: Im Regierungsbezirk Breslau lagen die ­Sozialdemokraten mit 35,6 Prozent der abgegebenen Stimmen exakt im Reichsdurchschnitt. Im Regierungsbezirk Liegnitz war das sozialdemokratische Ergebnis mit 35,3 Prozent der abgegebenen Stimmen knapp unterdurchschnittlich. Die größte Diskrepanz zeigte sich im – oberschle-

63  Vgl. http://zhsf.gesis.org/biorabkr_db/biorabkr_db.php?id=1375 [Datenbank der Reichstagsabgeordneten] (Zugriff 23.03.2021). 64  Vgl. http://zhsf.gesis.org/biorabkr_db/biorabkr_db.php [Datenbank der Reichs­tagsabgeordneten] (Zugriff 23.03.2021). 65  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/kuKarte1912.htm (Zugriff 19.05. 2021).

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sischen – Regierungsbezirk Oppeln: Hier erzielte die SPD gerade 14 Prozent der abgegebenen Stimmen. Demgegenüber erreichte hier das Zen­ trum, die Partei des politischen Katholizismus, mit 36,8 Prozent der abgegebenen Stimmen ein weit über seinem Reichsdurchschnitt liegendes Ergebnis (16,3 Prozent der abgegebenen Stimmen). In den beiden schlesischen Wahlkreisen mit dem höchsten Anteil an Beschäftigten in In­ dustrie und Gewerbe, nämlich den Wahlkreisen Nr. 103 Beuthen (1895: 77,0 Prozent) und Nr. 104 Kattowitz (1895: 77,6 Prozent), deren Katholikenanteil aber zugleich bei knapp 91 beziehungsweise 92 Prozent lag, blieben die Sozialdemokraten immer chancenlos.66 Die Vertreter der polnischen Minderheit erzielten mit 30,8 Prozent der abgegebenen Stimmen das zweitbeste Ergebnis, die Sozialdemokraten rangierten mit ihrem Ergebnis also lediglich an dritter Stelle, nur verhältnismäßig knapp vor den Nationalliberalen, die im Regierungsbezirk Oppeln auf 12,1 Prozent der abgegebenen Stimmen kamen (13,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Reichsebene).67 1911 hatte die SPD in Schlesien circa 83.000 Mitglieder68, das waren ziemlich genau 10 Prozent der Gesamtmitgliederzahl der Partei.69 Damit war Schlesien in der Mitgliedschaft der Partei sogar leicht überrepräsentiert, denn die Provinz Schlesien stellte mit knapp 5.226.000 Menschen zum gleichen Zeitpunkt lediglich etwas mehr als 8 Prozent der Gesamtbevölkerung des Reiches (ca. 64.226.000 Menschen).70 Aber auf die Wahlergebnisse wirkte sich der verhältnismäßig hohe Organisationsgrad in der Partei offenbar kaum aus. Es bleibt festzuhalten, dass die preußische Provinz Schlesien im Kaiserreich – trotz einiger organisationsgeschichtlicher Erfolge – für die Sozialdemokraten ein unsicheres Terrain blieb, auf dem sie nur begrenzte Wahlerfolge erzielen konnte. Es gab keinen einzigen wirklich „sicheren“ sozialdemokratischen Wahlkreis. Selbst die beiden Breslauer Wahlkreise können nicht als solche betrachtet werden, obwohl es dort die traditionsreichste und zahlenmäßig stärkste sozialdemokratische Parteiorganisa­

66  Vgl.

Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 398 ff. hier nach https://www.wahlen-in-deutschland.de/akurtwalg.htm (Zugriff 25.02.2021). 68  Vgl. Hans Stephan, Der Einfluß der schlesischen Arbeiterbewegung auf das Reichsgebiet bis 1933, in: Arbeitskreis ehemals schlesischer Sozialdemokraten, Notizen zur Geschichte (Anm. 16), 65–77, hier 75. 69  Vgl. Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, 2. Aufl., München 1987, 199. 70  Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hrsg. v. Kaiserlichen Statistischen Amt, 33. Jg. 1912, Berlin 1913, 1. 67  Zahlen



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tion in Schlesien gab.71 Bemerkenswert bleibt nicht zuletzt, dass sich die begrenzten Wahlerfolge der Sozialdemokraten vor 1912 auf den Regierungsbezirk Breslau beschränkten. Teilerfolge im Regierungsbezirk Liegnitz konnten erst 1912 erzielt werden. Bedeutsam erscheint zudem insbesondere, dass der SPD gerade im hochindustrialisierten oberschlesischen Regierungsbezirk Oppeln mit seiner zahlenmäßig starken Arbeiterbevölkerung während des Kaiserreiches kein Einbruch gelang. Sie gewann dort kein einziges Reichstagsmandat. Weder konnte sie also ernsthaft die Dominanz des politischen Katholizismus infrage stellen, noch konnte sie in größerem Umfang Rückhalt bei der polnischen Minderheit gewinnen. Als „die“ Arbeiterpartei hat sich die SPD im ganz überwiegend katholisch geprägten und von einer zahlenmäßig starken polnisch-sprachigen Minderheit bewohnten industriellen Ballungsraum Oberschlesien nicht etabliert. III. Sozialdemokratischer Bodengewinn in Schlesien seit 1919? Das Wahlrecht des Kaiserreichs hatte die Sozialdemokraten stets benachteiligt.72 Daher waren sie beim politischen Umbruch 1918/19 treibende Kraft nicht zuletzt bei der Neugestaltung des Reichstagswahlrechtes in der soeben gegründeten Republik. Dabei wurde insbesondere das bereits lange zuvor geforderte aktive und passive Wahlrecht für volljährige Frauen maßgeblich von sozialdemokratischer Seite durchgesetzt. Künftig gab es zudem nicht mehr die verhältnismäßig kleinen Einzelwahlkreise des Kaiserreichs, auf deren Ebene ein Mehrheitswahlrecht über die Vergabe des Mandats entschied, sondern es wurden Großwahlkreise gebildet, in denen gemäß dem Verhältniswahlrecht die zu vergebenden Mandate verteilt wurden. Jeder der drei Regierungsbezirke der bisherigen preußischen Provinz Schlesien wurde nun ein Großwahlkreis.73 Mit der Abschaffung der Einzelwahlkreise, aus denen nur jeweils 71  Vgl. Theodor Müller, Die Geschichte der Breslauer Sozialdemokratie, 2 Teile, Reprint Glashütten i. Taunus 1972 [ursprünglich Breslau 1925], 9 ff. u. Neubach, Von Ferdinand Lassalle zu Paul Löbe, Teil I (Anm. 30), 48 f. sowie Theodor Oliwa, Die deutsche Arbeiterbewegung in Breslau [2008?], in: http://library.fes.de/bres lau/einfuehrung.pdf (Zugriff 19.05.2021). 72  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), bes. 37* f. 73  Vgl. Schanbach, Wahlen (Anm. 36), 23  ff. Zum territorialen Zuschnitt vgl. auch https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwZusammensetzung.htm (Zugriff 12.04.2021). Die Anzahl der innerhalb eines Großwahlkreises zu vergebenden Mandate schwankte. Im Wahlkreis Breslau wurden zwischen 1919 und 1933 zwischen 11 und 17 Mandate vergeben, im Wahlkreis Liegnitz 8 bis 11 Mandate, im Wahlkreis Oppeln 12 bis 15 Mandate insgesamt. Die Gesamtzahl der Sitze im

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ein Mandatsträger mit der absoluten Stimmenmehrheit in den Reichstag einzog, verschwand ein Mechanismus im Wahlsystem des Kaiserreichs, der sich vielfach zu Ungunsten insbesondere der SPD ausgewirkt hatte: Auf Wahlkreisebene kam es immer wieder, insbesondere dann wenn Stichwahlen erforderlich wurden, weil kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Stimmenmehrheit erhalten hatte, zu teilweise politisch heterogenen Parteienbündnissen bei der Kandidatenaufstellung, die vor allem darauf abzielten, den Sieg eines sozialdemokratischen Kandidaten zu verhindern. Dass etwa Absprachen zwischen Nationalliberalen und Konservativen, teilweise auch zwischen Konservativen und Zentrumspartei dazu führten, dass auch in schlesischen Wahlkreisen sozialdemokratische Kandidaten unterlagen, war ein häufiger Vorgang.74 Das war einer der Gründe dafür, dass etwa die Breslauer Reichstagswahlkreise, in denen die SPD zwar stark war, aber keine überragende Dominanz gegenüber den anderen Parteien erlangen konnte (anders als etwa das Zentrum in einigen oberschlesischen Wahlkreisen), aus sozialdemokratischer Perspektive „unsicher“ blieben. Die gegen die SPD gerichteten Wahlbündnisse hatten nicht nur häufig zur Folge, dass sie Mandate nicht gewann, sondern bedingten durch das Mehrheitswahlrecht auf Wahlkreisebene auch, dass viele Stimmen für die Sozialdemokratie „verloren“ gingen. So erhielt etwa Eduard Bernstein als SPD-Kandidat bei der Reichstagswahl vom 25.  Januar 1907 im Wahlkreis Nr. 92 BreslauWest 48 Prozent der abgegebenen Stimmen. Im Reichsdurchschnitt kam die SPD bei dieser Wahl auf einen Anteil von 28,9 Prozent.75 Dennoch gewann Bernstein den Breslauer Reichstagssitz nicht, da Zentrum und Konservative auf die Aufstellung eigener Kandidaten zugunsten eines linksliberalen „nationalen Sammelkandidaten“ verzichtet hatten, der so schon im ersten Wahlgang 51,6 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt und in den Reichstag einzog. Sicherlich auch weil eine derartige Einigung der „bürgerlichen“ Parteien bei der nächsten Reichstagswahl im Januar 1912 im Wahlkreis Nr. 92 nicht zustande kam, gewann ihn Bernstein zurück.76 Von Bedeutung bei der politischen Organisation Schlesiens in den republikanischen Jahren war auch, dass seit dem Herbst 1919 eine Teilung in zwei Provinzen erfolgte, nämlich in die territorial größere Provinz Niederschlesien, welche die beiden Regierungsbezirke Breslau und LiegReichstag schwankte zwischen 423 und 647; vgl. https://www.wahlen-in-deutsch land.de/wrtw.htm (Zugriff 12.04.2021). 74  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 328 ff. 75  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/krtw.htm (Zugriff 12.04.2021). 76  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 357 ff.



Von Lasalle bis Löbe

165

nitz umfasste, und in die kleinere Provinz Oberschlesien, deren Gebiet mit dem Regierungsbezirk Oppeln identisch war, der allerdings infolge der Entscheidungen der alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges und der Wiedergründung des polnischen Staates bis 1921/22 im Osten erheblich verkleinert wurde.77 Nicht unwichtig ist zudem der Umstand, dass zwischen 1919 und 1932 alle drei Oberpräsidenten  – also die Verwaltungschefs  – der Provinz Niederschlesien Sozialdemokraten waren. Demgegenüber waren in der neu gebildeten Provinz Oberschlesien im gleichen Zeitraum alle drei Amtsinhaber Vertreter des politischen Katholizismus.78 Die folgende Analyse der politischen Kräfteverhältnisse in Schlesien während der Jahre der Weimarer Republik geht, wie im vorstehenden Abschnitt, von den Stimmverhältnissen bei den reichsweiten Wahlen aus. Dabei fällt zunächst das Ergebnis der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ins Auge. Es handelte sich um die erste reichsweite Wahl, die nach dem neuen Wahlrecht stattfand. Die Sozialdemokratie war zwar infolge von Richtungsstreitigkeiten während des Ersten Weltkrieges, deren Ursprünge weit in die Vorkriegszeit zurückreichten, seit 1917 in die alte „Mehrheits-SPD“ und die davon abgespaltene Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD)79 getrennt; die darüber hinaus an der Jahreswende 1918/19 gegründete linksextreme Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) nahm jedoch an der Abstimmung nicht teil.80 Somit konkurrierten im linken Spektrum lediglich die SPD und die weiter links stehende USPD. Zugleich befand sich die Sozialdemokratie erstmals in Regierungsverantwortung auf Reichsebene. Konnte sie jetzt, befreit von den Nachteilen, die ihre Ergebnisse bei den Wahlen im Kaiserreich beeinträchtigt hatten, in Schlesien ihre „wahre“ Stärke entfalten? 77  Vgl. Fuchs, Politische Geschichte (Anm. 33), 81 ff. Die Provinz Niederschle­ sien hatte 1919 2.987.904 Einwohner, die Provinz Oberschlesien 1.299.127 Einwohner (ohne die späteren Abtretungsgebiete). Bis 1933 stieg die jeweilige Bevölkerungszahl auf 3.204.004 bzw. 1.482.756 Einwohner; vgl. Irgang/Bein/Neubach, Schlesien (Anm. 29), 257. 78  Vgl. Bahlcke, Schlesische Territorien (Anm. 31), 134 f. u. Neubach, Von Ferdinand Lassalle zu Paul Löbe, Teil II (Anm. 30), 50. 79  Umfassend hierzu Carl E. Schorske, Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie von 1905 bis 1917, Berlin 1981, 17 ff. 80  Vgl. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Bd. 1, Frankfurt/M. 1969, 23 ff.; Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Neuaufl., Hamburg 1986 u. Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Sonderausgabe, Darmstadt 2012, bes. 261 ff.

166

Winfrid Halder

Ergebnisse ReichsebeneininProzent Prozent Ergebnisse aufauf Reichsebene 3,8

Ergebnisse Wahlkreis Ergebnisse Wahlkreis7 7(Breslau) (Breslau)ininProzent Prozent 0,1

7,6 2

0,1

15,5

37,9 18,3

48,1

15,3

5,5 9,4 SPD DDP

Zentrum BVP

20,9

18,3 DNVP USPD

DVP Sonstige

SPD

Zentrum

DNVP

DDP

USPD

Sonstige

Abbildung 2: Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung (19.01.1919)

Im Wahlkreis 7 Breslau (Abb. 2)81 war der Wahlausgang im Januar 1919 für die SPD triumphal. Sie war eindeutig die dominierende politische Kraft, übertraf zugleich ihr reichsweites Ergebnis um rund 10 Prozent. Die USPD spielte in diesem Wahlkreis keine Rolle. Zentrumspartei und die (links-) liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) lagen weit hinter mit der Sozialdemokratie. Bedeutsam war zudem lediglich noch die national-konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Ein ganz ähnliches, für die Sozialdemokraten sogar noch leicht besseres Bild zeigt das Ergebnis der Wahl zur Nationalversammlung im Wahlkreis 8 Liegnitz (Abb. 3).82 In dem stark protestantisch geprägten Bezirk war allerdings die Zentrumspartei weit schwächer. Lediglich im Wahlkreis 9 Oppeln (Abb. 4)83 zeigte sich ein deutlich anderes Bild. Die SPD erzielte zwar mit 32,7 Prozent der abgegebenen Stimmen ein überraschend gutes Ergebnis und war zweitstärkste Kraft hinter dem Zentrum. Allerdings lag sie zugleich deutlich unter ihrem Reichsdurchschnitt. Anders als in den beiden niederschlesischen Wahlkreisen erreichte die USPD mit knapp 5 Prozent der abgegebenen Stimmen ein immerhin nennenswertes Resultat. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung zeigte sich die SPD also in den beiden niederschlesischen Wahlkreisen als do81  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwbreslau.htm (Zugriff 09.04. 2021). 82  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwliegnitz.htm (Zugriff 09.04. 2021). 83  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwoppeln.htm (Zugriff 09.04. 2021).



Von Lasalle bis Löbe Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent

Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent 3,8

167

Ergebnisse Wahlkreis Ergebnisse Wahlkreis 98 (Liegnitz) (Liegnitz) in in Prozent Prozent

7,6 2 26,8

37,9 18,3

50,7

5,5 9,4

13,6

18,3 9,4

SPD DDP

Zentrum BVP

DNVP USPD

DVP Sonstige

SPD

Zentrum

DNVP

DDP

Abbildung 3: Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung (19.01.1919)

Wahlkreis 9 (Oppeln) in Prozent Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent Ergebnisse Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 9 (Oppeln) in Prozent 3,8

7,6 2

6,9

4,9

7,2

37,9

32,7

18,3

5,5 9,4

SPD DDP

Zentrum BVP

48,4

18,3 DNVP USPD

DVP Sonstige

SPD

Zentrum

DNVP

DDP

USPD

Abbildung 4: Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung (19.01.1919)

minierende Kraft, in Oberschlesien rangierte sie immerhin an zweiter Stelle. Die Parteispaltung hat ihr in Schlesien bis dahin offenbar so gut wie gar nicht geschadet, die USPD konnte in Niederschlesien kaum Wählerinnen und Wähler mobilisieren, in Oberschlesien war ihr Erfolg begrenzt. Blickt man auf die Ergebnisse der SPD bei dieser Wahl und vergleicht sie mit jenen in den preußischen Provinzen insgesamt, ergibt sich folgendes Bild:

168

Winfrid Halder

SPD-Ergebnisse in Prozent der abgegebenen Stimmen

60 49

50 40 30

42,3

40,5

36,4

46,1

41,3

45,7

41 34,5

32,7 24,4

35,4

25,2 17,3

20 10 0

Abbildung 5: Ergebnisse der SPD bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung (19.01.1919) Preußische Provinzen im Vergleich Reichsdurchschnitt; 37,9 % der abgegbenen Stimmen

Abbildung 584 zeigt, dass die Sozialdemokraten in der Provinz Niederschlesien ihr bestes Ergebnis in ganz Preußen erzielten. War nun also endlich mit der Gründung der Republik und ohne die Fesseln durch das Wahlrecht des Kaiserreichs Schlesien als „Stammland“ der Sozialdemokratie, als „rotes Schlesien“, etabliert? Die Antwort auf diese Frage wird sich aus einer Prüfung der Wahlergebnisse in den beiden niederschlesischen und dem oberschlesischen Großwahlkreis bei den folgenden Reichstagswahlen ergeben. Die Vorgehensweise ist dabei – mit Rücksicht auf den Umfang des Beitrages – exemplarisch und berücksichtigt nicht alle der acht Reichstagswahlen in der Weimarer Republik zwischen 1920 und 1933.85 In den Blick genommen werden lediglich die vier Wahlen vom 7.  Dezember 1924, vom 14. September 1930, vom 31. Juli 1932 und schließlich die vom 5. März 1933. Dies erscheint insofern ausreichend, um die großen Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, als die Rahmenbedingungen in den vier Beispielfällen denkbar unterschiedlich lagen.

84  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wuupniederschlesien.htm (Zugriff 09.04.2021). 85  Detaillierte Zahlen unter https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtw.htm (Zugriff 06.04.2021).



Von Lasalle bis Löbe

169

Die Reichstagswahl im Dezember 1924 fiel bereits in die sogenannte „Stabilisierungsphase“ der Weimarer Republik, zu diesem Zeitpunkt herrschten also verhältnismäßig ruhige politische Verhältnisse. Die SPD befand sich auf Reichsebene nicht mehr in Regierungsverantwortung. Die zuvor bestehende Konkurrenz mit der USPD war durch deren Zerfall beendet; links von der SPD gab es als größeren Konkurrenten nur noch die KPD. Folglich war die Spaltung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg wenigstens ein Stück weit wettgemacht.86 Bei der Reichstagswahl im Juni 1920 hatte die USPD in den beiden niederschlesischen Großwahlkreisen Liegnitz und Breslau für die SPD durchaus einen bedeutenden Mitbewerber dargestellt, allerdings in beiden Wahlkreisen weit unter ihrem Ergebnis im Reichsdurchschnitt (18,8 Prozent der abgegebenen Stimmen) gelegen. Im oberschlesischen Wahlkreis Oppeln demgegenüber hatte die USPD weiterhin kaum Fuß gefasst.87 So waren die Ausgangsbedingungen für die SPD bei der Dezember-Wahl von 1924 relativ positiv. Diese Abstimmung erscheint mithin für Vergleichszwecke besonders geeignet, weil die Voraussetzungen zur weitgehenden Ausschöpfung des sozialdemokratischen Wählerpotentials günstig waren. Sechs Jahre später bei der Reichstagswahl vom September 1930 erzielte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) unter Führung Hitlers erstmals auf Reichsebene einen spektakulären Erfolg; sie verbesserte ihr reichsweites Ergebnis gegenüber der vorangegangenen Reichstagswahl vom Mai 1928 von 2,6 auf 18,3 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die SPD, die bei der Mai-Wahl von 1928 mit 29,8 Prozent der abgegebenen Stimmen ihr zweitbestes Ergebnis bei allen reichsweiten Wahlen zwischen 1919 und 1933 erzielen konnte88, hatte sich, nach einer längeren Abstinenz von der Regierungsverantwortung, zwischen Ende Juni 1928 und März 1930 wieder an der Koalitions- und Kabinettsbildung beteiligt und mit Hermann Müller (1876–1931) zeitweilig sogar den Reichskanzler gestellt.89 Da inzwischen aber die Folgen der Weltwirt86  Vgl. zum allgemeinen politischen und ökonomischen Hintergrund Ulrich Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn u. a. 2006, 17 ff.; Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Lizenzausgabe, Bonn 2010, 19 ff.; zur SPD im Besonderen Klaus Schönhoven, Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989, 101 ff. u. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte der SPD (Anm. 17), 74 ff. 87  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwbreslau.htm; https://www. wahlen-in-deutschland.de/wrtwliegnitz.htm; https://www.wahlen-in-deutschland. de/wrtwoppeln.htm (Zugriff 06.04.2021). 88  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtw.htm (Zugriff 06.04.2021). 89  Vgl. Miller/Potthoff, Kleine Geschichte der SPD (Anm.17), 124 ff.

170

Winfrid Halder

schaftskrise auch in Deutschland drastisch spürbar wurden, verschlechterten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen rapide. Mit Müllers Nachfolger Heinrich Brüning stand im September 1930, nach dem Bruch der SPD-geführten Großen Koalition, seit einigen Monaten wieder ein Zentrumspolitiker in der Regierungsverantwortung, an der Spitze eines ersten „Präsidialkabinetts“.90 Vor diesem Hintergrund kann die September-Wahl von 1930 auch als Prüfstein dafür gesehen werden, wie die Wählerinnen und Wähler die vorangegangene Regierungsarbeit der SPD und ihr von Brüning abweichendes Konzept zur Krisenbewältigung goutierten. Die Juli-Wahl von 1932 zeitigte den Höhepunkt des Erfolgs der N ­ SDAP (37,3 Prozent der abgegebenen Stimmen im Reichsdurchschnitt) bei einer vollständig freien Wahl.91 Die SPD trug zu diesem Zeitpunkt keine Regierungsverantwortung auf Reichsebene. Sie hatte allerdings unmittelbar vor der Reichstagswahl durch eine reichsrechtlich unzulässige Intervention des amtierenden Präsidialkabinetts unter Franz von Papen auch ihre wichtigste verbliebene Machtposition, nämlich die Führung der preußischen Regierung verloren. Otto Braun, der langjährige sozialdemokratische Ministerpräsident Preußens, war mit seinem Kabinett aus dem Amt gedrängt worden.92 Auch die beiden schlesischen Provinzen als Teil Preußens wurden folglich nicht mehr sozialdemokratisch regiert. Bei der Betrachtung der Ergebnisse der Juli-Wahl von 1932 kann daher auch danach gefragt werden, ob bzw. wie die sozialdemokratische Wählerschaft auf die jüngsten Ereignisse reagierte. Die Wahl vom 5. März 1933 schließlich war keine freie Wahl mehr, da das kurz zuvor installierte NS-Regime bereits repressiv vor allem gegen das linke politische Lager vorging.93 Die Einbeziehung dieser Abstimmung in die Analyse ermöglicht Rückschlüsse auf die Stabilität der sozialdemokratischen Wählerbasis selbst unter extremsten Bedingungen. Bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 wurde die SPD im Wahlkreis 7 Breslau (Abb. 6)94 klar stärkste Kraft. Im Vergleich zu ihrem Gesamtergebnis auf Reichsebene erhielt sie hier einen beinahe doppelt so hohen Anteil an den abgegebenen Stimmen. Bemerkenswert erscheint, 90  Vgl.

Kluge, Weimarer Republik (Anm. 866), 299 ff. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtw.htm (Zugriff 06.04.2021). 92  Vgl. Wolfgang Neugebauer, Die Geschichte Preußens. Von den Anfängen bis 1947, durchges. TB-Ausgabe, München 2006, 134 ff. u. ausführlich Schulze, Otto Braun (Anm. 4), 725 ff. u. Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, 4. Aufl., München 2007, 730 ff. 93  Vgl. Wolfgang Benz, Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, 19 ff. 94  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwbreslau.htm (Zugriff 08.04. 2021). 91  Vgl.



Von Lasalle bis Löbe

Ergebnisse auf Reichsebene Reichsebenein inProzent Prozent Ergebnisse auf 7,8 8,94

Ergebnisse in Wahlkreis Ergebnisse Wahlkreis 77 (Breslau) (Breslau) in in Prozent Prozent 4,6

16,02

171

1,4

3

6,6 31,9

3 3,74

13,6

6,34

28,8 10,07

SPD DVP NSDAP/DVFP

19

20,49 Zentrum DDP KPD

DNVP BVP Sonstige

SPD DVP Sonstige

Zentrum NSDAP/DFVP

DNVP KPD

Abbildung 6: Reichstagswahl 1924 II (07.12.1924)

dass die völkisch-nationalistischen Kräfte95 bereits zu diesem Zeitpunkt in der Region erheblich erfolgreicher waren als auf Reichsebene. Die nationalkonservative DNVP war zweitstärkste Kraft, die Zentrumspartei rangierte mit einem Ergebnis, das erheblich besser war als im Reichsdurchschnitt, an dritter Stelle. Die KPD stellte keine größere Konkurrenz für die Sozialdemokraten dar, sie erhielt in diesem Wahlkreis weit weniger Stimmen als im Reichsdurchschnitt. Ein weitgehend ähnliches Bild zeigte sich bei der selben Wahl im Wahlkreis 8 Liegnitz (Abb. 7).96 Allerdings war hier der politische Katholizismus weiterhin deutlich schwächer. Ein erheblich anderes Bild bot demgegenüber das Wahlergebnis im Wahlkreis 9 Oppeln (Abb. 8).97 Die Dominanz des politischen Katholizismus war ungebrochen. Stark zeigte sich auch die DNVP. Nahezu keine Rolle spielten zu diesem Zeitpunkt rechts der DNVP die völkisch-nationalistischen Kräfte. Einige Bedeutung hatte die Partei der polnischen Minderheit mit 7,8 Prozent der abgegebenen Stimmen (hier unter den „Sonstigen“ subsumiert). Die Sozialdemokraten waren mit 6,8 Prozent 95  Die nach dem gescheiterten Putschversuch in München im November 1923 zeitweilig verbotene NSDAP kooperierte vorübergehend mit der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DFVP), die ihrerseits für rassistische, insbesondere antisemitische und antidemokratische Inhalte stand; vgl. Büttner, Weimar (Anm. 866), 338. 96  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwliegnitz.htm (Zugriff 08.04. 2021). 97  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwoppeln.htm (Zugriff 08.04. 2021).

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Winfrid Halder

Ergebnisse Ergebnisseauf auf Reichsebene Reichsebene in in Prozent Prozent 7,8 3

8,94

ErgebnisseWahlkreis Wahlkreis8 8(Liegnitz) (Liegnitz) Prozent Ergebnisse inin Prozent 1,5

3,3 6,6

16,02

8

3,74

13,6

6,34

10,07

SPD DVP NSDAP/DVFP

8,3

20,49 Zentrum DDP KPD

32,7

8,9

28,9 DNVP BVP Sonstige

SPD DVP KPD

Zentrum DDP Sonstige

DNVP NSDAP/DFVP

Abbildung 7: Reichstagswahl 1924 II (07.12.1924)

Ergebnisseauf aufReichsebene Reichsebene in Prozent Ergebnisse in Prozent 7,8 8,94

6,8

12,2

13,6

6,34

SPD DVP NSDAP/DVFP

11,7

16,02

3 3,74

10,07

Ergebnisse in Prozent ErgebnisseWahlkreis Wahlkreis9 9(Oppeln) (Oppeln) in Prozent

1,5 2,2 2,8 21,8

20,49 Zentrum DDP KPD

41

DNVP BVP Sonstige

SPD DVP KPD

Zentrum DDP Sonstige

DNVP NSDAP/DFVP

Abbildung 8: Reichstagswahl 1924 II (07.12.1924)

nur wenig mehr als halb so stark wie auf Reichsebene. Überraschend ist hier nicht zuletzt, dass die KPD mit 12,2 Prozent der abgegebenen Stimmen nicht nur ihr reichsweites Ergebnis deutlich übertraf, sondern auch die Sozialdemokraten weit hinter sich ließ. Nachfolgende Graphik (Abb. 9) ermöglicht noch einmal einen direkten Vergleich der Ergebnisse der Dezember-Wahl 1924 in den drei schlesischen Großwahlkreisen. Bei der Reichstagswahl im September 1930, die bereits im Zeichen des durch die Weltwirtschaftskrise bedingten Absturzes der Wirtschaft auch in Schlesien stand98, vermochte sich die SPD im Wahlkreis 7 Breslau 98  Vgl.

Fuchs, Vom deutschen Krieg zur deutschen Katastrophe (Anm. 31), 646 ff.



Von Lasalle bis Löbe

173

Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent (Liegnitz) Prozent Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent Ergebnisse ErgebnisseWahlkreis Wahlkreis 88(Liegnitz) in in Prozent 4,6

3

1,4

3,3 1,5

6,6 31,9

7,7

8,6 8

32,7

8,3 28,8

SPD DVP KPD

19 Zentrum DDP Sonstige

8,9

28,9 DNVP NSDAP/DFVP

SPD DVP KPD

Zentrum DDP Sonstige

DNVP NSDAP/DFVP

Ergebnisse Wahlkreis inProzent Prozent Ergebnisse Wahlkreis99(Oppeln) (Oppeln) in 11,7

6,8

12,2 2,2 2,8

SPD DVP KPD

41 21,8 Zentrum DDP Sonstige

DNVP NSDAP/DFVP

Abbildung 9: Reichstagswahl 1924 II (07.12.1924)

Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent 13,61

7,8

24,53

9,2

29,3

13,13 24,2

11,81

18,33

16

7,03 3,03 SPD BVP

3,78

Zentrum NSDAP

8,9

1,9

4,75 DNVP KPD

DVP Sonstige

DDP

SPD DDP

2,7 Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 10: Reichstagswahl 14.09.1930

(Abb. 10)99 gut zu behaupten. Auch das Zentrum konnte sich gegenüber der vorangegangenen Wahl vom Mai 1928 fast unverändert halten. Alar99  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwbreslau.htm (Zugriff 08.04. 2021).

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Winfrid Halder

mierend musste auf die wichtigsten Kräfte der vormaligen „Weimarer Koalition“ der Bedeutungszuwachs der radikalen politischen Kräfte wirken: Die KPD hatte ihr Ergebnis deutlich auf 7,8 Prozent der abgegebenen Stimmen verbessert, lag aber noch klar unter ihrem Reichsdurchschnitt (13,1 Prozent der abgegebenen Stimmen). Drastisch war die sprunghafte Zunahme der Wählerzustimmung zur NSDAP, die bei der Mai-Wahl von 1928 in diesem Abstimmungsbezirk lediglich ein Prozent erreicht hatte, nunmehr aber fast ein Viertel der abgegebenen Stimmen erhielt und damit im Wahlkreis Breslau ihr spektakuläres Ergebnis auf Reichsebene (18,3 Prozent) noch deutlich übertraf. Der gewaltige Stimmenzuwachs der NS-Partei ging zu diesem Zeitpunkt jedoch offenbar insbesondere zu Lasten der politisch inzwischen noch deutlich weiter nach rechts gerückten DNVP, deren Stimmenanteil gegenüber 1928 von 23 auf 8,9 Prozent abgestürzt war. Im Wahlkreis 8 Liegnitz (Abb. 11)100 zeigte sich wiederum ein ähnliches Gesamtbild, allerdings war hier der Erfolg der NSDAP nicht ganz so groß. Der oberschlesische Wahlkreis 9 Oppeln (Abb. 12)101 blieb im Unterschied dazu eine Hochburg des politischen Katholizismus, auch wenn das Zentrum hier gegenüber der Mai-Wahl von 1928 knapp fünf Prozent bei den abgegebenen Stimmen verloren hatte. Die SPD hatte ihrerseits Stimmen eingebüßt, konnte, anders als 1928, mit 9,3 Prozent der abgegebenen Stimmen kein zweistelliges Ergebnis mehr erreichen und fiel damit deutlich hinter die KPD zurück, die 1928 nahezu gleichauf mit den Sozialdemokraten gelegen hatte und nunmehr mit 16,6 Prozent der abWahlkreis Prozent Ergebnisse auf Prozent Ergebnisse Ergebnisse aufReichsebene Reichsebene ininProzent Ergebnisse Wahlkreis88 (Liegnitz) (Liegnitz) ininProzent 13,61

16,3

24,53 11,81

18,33 3,03 SPD BVP

Zentrum NSDAP

3,78

DNVP KPD

20,9

7,8 8,5

7,03 4,75 DVP Sonstige

32

6,1

13,13

DDP

SPD DDP

4,9

3,5

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 11: Reichstagswahl 14.09.1930

100  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwliegnitz.htm (Zugriff 08.04. 2021). 101  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwoppeln.htm (Zugriff 08.04. 2021).



Von Lasalle bis Löbe

Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent 13,61

Ergebnisse Wahlkreis inProzent Prozent Ergebnisse Wahlkreis99(Oppeln) (Oppeln) in 12,8

24,53

13,13

SPD BVP

Zentrum NSDAP

9,3

16,6 35,2

11,81

18,33

3,03

175

9,5

3,78

DNVP KPD

4,75

DVP Sonstige

15,2

1

7,03

1,4 DDP

SPD DDP

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 12: Reichstagswahl 14.09.1930

gegebenen Stimmen ihr reichsweites Ergebnis im Wahlkreis Oppeln sichtbar übertraf. Eine Enttäuschung stellte die September-Wahl von 1930 hier für die NSDAP dar, die mit 9,5 Prozent nur rund halb so viele Wähler erreichte wie im Reichsdurchschnitt. Verhältnismäßig stabil blieb die DNVP, die gegenüber der Mai-Wahl von 1928 nur 1,9 Prozent verlor und noch 15,2 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielte (gegenüber nur mehr 7 Prozent im Reichsdurchschnitt). Die Partei der polnischen Minderheit war zwar praktisch unbeschadet gegenüber 1928 aus der September-Wahl von 1930 hervorgegangen (5,5 Prozent der abgegebenen Stimmen), hatte jedoch seit ihrer ersten Teilnahme an einer Reichstagswahl 1922 (10,1 Prozent der abgegebenen Stimmen) beständig an Bedeutung verloren. Abbildung 13 zeigt die Ergebnisse der Reichstagswahl vom September 1930 für die drei schlesischen Großwahlkreise im Vergleich. Bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 hatten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiter verschlechtert. Die Zahl der Arbeitslosen in ganz Deutschland hatte zu Jahresbeginn 1932 die Sechs-Millionen-Grenze überschritten. Dazu kam eine riesige Zahl von Beschäftigten, die sich gezwungenermaßen in Kurzarbeit befanden. Das soziale Sicherungssystem war längst überfordert.102 Die seit Anfang 1930 auf Reichsebene nicht mehr mitregierende SPD, die unmittelbar zuvor durch den „Preußenschlag“ der Reichsregierung unter Franz von Papen auch die Führung der Regierung in Preußen eingebüßt hatte, verlor zwar im Wahlkreis  7 Breslau (Abb. 14)103 gegenüber der vorangegangenen Reichstagswahl 102  Vgl. Kluge, Weimarer Republik (Anm.  866), 411  ff. u. Büttner, Weimar (Anm.  866), 297 ff. 103  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwbreslau.htm (Zugriff 08.04. 2021).

176

Winfrid Halder Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in ProzentErgebnisse Wahlkreis 8 (Liegnitz) in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 8 (Liegnitz) in Prozent 9,2

7,8

16,3

29,3

24,2

20,9

7,8

16 1,9 SPD DDP

32

6,1

8,5

8,9

4,9

2,7

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

SPD DDP

DVP Sonstige

3,5

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Ergebnisse Wahlkreis 9 (Oppeln) in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 9 (Oppeln) in Prozent 12,8

9,3

16,6 35,2

9,5 15,2

1 1,4 SPD DDP

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 13: Reichstagswahl 14.09.1930

Wahlkreis Prozent Ergebnisse aufReichsebene Reichsebene Prozent Ergebnisse Ergebnisse auf in in Prozent Ergebnisse Wahlkreis77(Breslau) (Breslau) in in Prozent 2,68 8,8

14,56

37,36

14,7

43,5

5,93 1,18 3,26

Zentrum NSDAP

24,4

21,58 12,44

SPD BVP

7,5

DNVP KPD

5,6 0,5

1,01 DVP Sonstige

DDP

SPD DDP

Zentrum NSDAP

0,5 DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 14: Reichstagswahl 31.07.1932

knapp fünf Prozent bei den abgegebenen Stimmen, konnte sich mit dem Gesamtergebnis von 24,4 Prozent hier aber noch über dem Reichsdurchschnitt (21,6 Prozent der abgegebenen Stimmen) halten. Die im Oktober 1931 erfolgte Abspaltung eines Teils der Breslauer Sozialdemokraten zur



Von Lasalle bis Löbe

177

weiter links stehenden „Sozialistischen Arbeiterpartei“ (SAP) brachte zwar erhebliche Unruhe mit sich, hat sich aber kaum auf das Wahlergebnis ausgewirkt. Im Wahlkreis Breslau kam die SAP im Juli 1932 auf gerade 0,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, in den Wahlkreisen Liegnitz und Oppeln lag ihr Ergebnis noch deutlich darunter.104 Trotz des relativ guten Ergebnisses verloren die Sozialdemokraten im Wahlkreis Breslau den bis dahin fast durchgängig gewahrten Rang als stärkste politische Kraft an die Nationalsozialisten.105 Moderat waren mit 1,3 Prozent die Stimmenverluste des Zentrums (14,7 Prozent der abgegebenen Stimmen), das im Wahlkreis Breslau leicht besser abschnitt als im Reichsdurchschnitt (12,3 Prozent der abgegebenen Stimmen). Die DNVP, die bei der Reichstagswahl vom Mai 1924 mit 28,7 Prozent der abgegebenen Stimmen in diesem Stimmbezirk sogar einmal stärkste Kraft gewesen war, kam nur mehr auf 5,6 Prozent. Sie wurde von der NSDAP weit überflügelt, die gegenüber der Wahl vom September 1930 noch einmal fast 20 Prozent bei den abgegebenen Stimmen zulegte und auf 43,5 Prozent kam. Das waren noch einmal rund sechs Prozent mehr als im Reichsdurchschnitt (37,3 Prozent der abgegebenen Stimmen). Zusammen mit den leicht angewachsenen Stimmen der KPD (8,8 Prozent der abgegebenen Stimmen gegenüber 14,3 Prozent im Reichsdurchschnitt) konnten die politischen Extreme schon mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis Breslau für sich mobilisieren. Ergebnisse Reichsebenein in Prozent Prozent Ergebnisse aufauf Reichsebene 2,68 14,56

Ergebnisse Wahlkreis 8 (Liegnitz) in Prozent

Ergebnisse Wahlkreis 8 (Liegnitz) in Prozent

37,36

6,9

5,93 3,26 DNVP KPD

0,8

1

48

1,18 Zentrum NSDAP

7,2

7,6

12,44

SPD BVP

26,3

29,3

21,58

1,01 DVP Sonstige

DDP

SPD DDP

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 15: Reichstagswahl 31.07.1932

104  Vgl.

Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung (Anm. 2), 128 ff. bei der Reichstagswahl im Mai 1924 hatte hier die DNVP knapp vor der SPD gelegen; vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwbreslau. htm (Zugriff 08.04.2021). 105  Lediglich

178

Winfrid Halder

Abbildung 15 verdeutlicht einmal mehr die Ähnlichkeit der Ergebnisse zwischen den Wahlkreisen Breslau und Liegnitz.106 Der Erfolg der NSDAP fiel in letzterem allerdings mit 48 Prozent der abgegebenen ­ Stimmen noch deutlicher aus. Die SPD verlor dadurch auch im Liegnitzer Wahlkreis den Rang der stärksten politischen Kraft, den sie auch hier fast durchweg innegehabt hatte. Zusammen mit den 7,6 Prozent der Stimmen, die für die KPD abgegeben worden waren, gewannen die antidemokratischen Kräfte hier bereits deutlich mehr als die Hälfte der ­Wählerinnen und Wähler für sich. Das Bild der Ergebnisse im Wahlkreis 9 Oppeln (Abb. 16)107 stellt sich neuerlich deutlich anders dar. Weitaus stärkste Kraft blieb, trotz Stimmenverlusten von knapp fünf Prozent gegenüber der Wahl vom September 1930, mit 35,2 Prozent der abgegebenen Stimmen klar das Zentrum. Die NSDAP war allerdings mit einem Stimmenzuwachs von fast 20 Prozentpunkten auf 29,2 Prozent der abgegebenen Stimmen an die zweite Stelle der politischen Kräfte im Oppelner Wahlkreis katapultiert worden  – gleichwohl blieb ihr Ergebnis hier rund acht Prozent hinter dem Reichsdurchschnitt zurück. Der Erfolg der NS-Partei ging nicht zuletzt auf Kosten der DNVP, die bei der Septemberwahl 1930 noch deutlich vor der NSDAP gelegen hatte, jetzt aber nicht einmal mehr halb so viele Stimmen bekam wie bei der vorangegangenen Abstimmung (6,9 Prozent der abgegebenen Stimmen). Die SPD erreichte nur mehr 8,7 Prozent und fiel damit noch deutlicher hinter die KPD zurück, obwohl diese ihr ErErgebnisseauf auf Reichsebene Reichsebene ininProzent Ergebnisse Prozent 2,68

ErgebnisseWahlkreis Wahlkreis99(Oppeln) (Oppeln)in in Prozent Prozent Ergebnisse 13,1

14,56

21,58

8,7

17

34,6

12,44 37,36

SPD BVP

Zentrum NSDAP

3,26

5,93 1,18 1,01

DNVP KPD

DVP Sonstige

29,2

6,9 0,2

DDP

SPD DDP

Zentrum NSDAP

0,3 DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 16: Reichstagswahl 31.07.1932

106  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwliegnitz.htm (Zugriff 08.04. 2021). 107  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwoppeln.htm (Zugriff 08.04. 2021).



Von Lasalle bis Löbe

179

Ergebnisse Wahlkreis 8 (Liegnitz) in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent Ergebnisse Wahlkreis 8 (Liegnitz) in Prozent 8,8

7,5 24,4

26,3

29,3

7,2

7,6

14,7 43,5

5,6 0,5 SPD DDP

Zentrum NSDAP

1

48

0,5 DNVP KPD

SPD DDP

DVP Sonstige

6,9 0,8

Zentrum NSDAP

Ergebnisse Wahlkreis 9 (Oppeln) in Prozent

DNVP KPD

DVP Sonstige

Ergebnisse Wahlkreis 9 (Oppeln) in Prozent 13,1

8,7

17

34,6

29,2

6,9 0,2

SPD DDP

Zentrum NSDAP

0,3 DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 17: Reichstagswahl 31.07.1932

gebnis mit 17,0 Prozent der abgegebenen Stimmen gegenüber der September-Wahl von 1930 nur leicht verbessern konnte. Rechnet man die Wähler von Zentrum und SPD und die von NSDAP und KPD zusammen, so hatte das antidemokratische Lager im Wahlkreis Oppeln auch bereits ein leichtes Übergewicht, konnte aber noch nicht die Hälfte der Wählerinnen und Wähler mobilisieren. Abbildung 17 veranschaulicht die Parallelen und Unterschiede der Ergebnisse der Reichstagswahl vom Juli 1932 in den drei schlesischen Wahlkreisen. Die Reichstagswahl vom 5. März 1933 fand bereits im Zeichen der sich etablierenden NS-Diktatur statt. Politische Gegner wurden massiv verfolgt; dies galt insbesondere für Kommunisten und Sozialdemokraten. Dennoch konnten beide Parteien noch bei der Wahl antreten. Sie eignet sich daher zur Prüfung der Frage, wie stabil sich die jeweiligen Wählerpotentiale unter dem beginnenden Druck der Diktatur zeigten.

180

Winfrid Halder

Ergebnisse aufauf Reichsebene Ergebnisse ReichsebeneininProzent Prozent

ErgebnisseWahlkreis Wahlkreis 77(Breslau) Prozent Ergebnisse (Breslau)inin Prozent

2,68

8,2 12,32

18,25

10,9

19,2 13,3

11,25 7,97

43,91

SPD DVP NSDAP

2,73 Zentrum DDP/DStP KPD

7,1 0,3 0,8

50,2

1,1 0,85 DNVP BVP Sonstige

SPD DVP KPD

Zentrum DDP/DStP Sonstige

DNVP NSDAP

Abbildung 18: Reichstagswahl 05.03.1933

Im Wahlkreis 7 Breslau (Abb. 18)108 erreichte die SPD noch ein Ergebnis, das mit 19,2 Prozent der abgegebenen Stimmen knapp ein Prozent über ihrem Reichsdurchschnitt lag. Im Vergleich mit der für die Sozialdemokraten überaus erfolgreichen Wahl vom Januar 1919 (48,1 Prozent der abgegebenen Stimmen) war ihr Wählerpotential allerdings auf weit weniger als die Hälfte geschrumpft. Auch die Zentrumspartei übertraf mit 13,3 Prozent der abgegebenen Stimmen ihr reichsweites Ergebnis. Die Erosion ihrer Wählerbasis war im Vergleich zur Wahl von 1919 zwar auch deutlich (20,9 Prozent der abgegebenen Stimmen), aber nicht so dramatisch wie bei den Sozialdemokraten. Die NSDAP hatte ihre Führungsrolle im Wahlkreis 7 Breslau deutlich ausgebaut und erreichte über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, deutlich mehr als im Reichsdurchschnitt. Die KPD lag mit 8,2 Prozent mehr als vier Prozentpunkte unter ihrem Durchschnittsergebnis im Reich. Zusammen kamen die antidemokratischen Kräfte auf nahezu 60 Prozent der abgegebenen Stimmen. Wie schon früher zeigte das Ergebnis der Wahl vom 5.  März 1933 im Wahlkreis 8 Liegnitz (Abb. 19)109 erhebliche Übereinstimmungen mit dem im Breslauer Stimmkreis. Im Vergleich zur Wahl vom Januar 1919 war der Wählerschwund der Sozialdemokraten nur noch ausgeprägter. Hatte die SPD damals triumphale 50,2 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht, so kam sie jetzt nur noch auf 21,4 Prozent. Die im Lieg­ nitzer Wahlkreis nie sehr starke Zentrumspartei (1919: 9,4 Prozent der ­abgegebenen Stimmen) wurde mit 6,4 Prozent inzwischen zu einer beinahe marginalen Größe. Das Ergebnis der NSDAP lag demgegenüber mit 108  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwbreslau.htm (Zugriff 09.04. 2021). 109  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwliegnitz.htm (Zugriff 09.04. 2021).



Von Lasalle bis Löbe

Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent 2,68 12,32

181

Ergebnisse Wahlkreis8 8(Liegnitz) (Liegnitz)in in Prozent Prozent Ergebnisse Wahlkreis 2,2

5,7 18,25

21,4

11,25

7,97

43,91

SPD DVP NSDAP

Zentrum DDP/DStP KPD

6,4 1,1

9,1

54

0,85 2,73

0,6 0,6

DNVP BVP Sonstige

SPD DDP/DStP

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 19: Reichstagswahl 05.03.1933

Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent Ergebnisse auf Reichsebene in Prozent

Ergebnisse Wahlkreis 9 9(Oppeln) Ergebnisse Wahlkreis (Oppeln)ininProzent Prozent 0,6

2,68 12,32

9,2 6,9

18,25 11,25

1,1

43,91

32,3

7,97 43,2

0,85 2,73 SPD DVP NSDAP

Zentrum DDP/DStP KPD

DNVP BVP Sonstige

7,5

SPD DDP/DStP

0,3

0,2

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 20: Reichstagswahl 05.03.1933

54,0 Prozent mehr als 10 Punkte über dem Reichsdurchschnitt der NSPartei (43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen). Obwohl die Kommunisten hier nur etwa halb so viele Stimmen erhielten wie im Reichsdurchschnitt, stellten sich mehr als 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler hinter die antidemokratischen Kräfte. Ein letztes Mal kontrastiert das Ergebnisbild im oberschlesischen Wahlkreis 9 Oppeln (Abb. 20)110 mit dem in den beiden niederschlesischen Wahlkreisen. Das Zentrum erreichte noch 32,3 Prozent der abgegebenen Stimmen  – 1919 waren es 48,4 Prozent gewesen. Erstmals verlor das Zentrum in diesem Wahlkreis seine Stellung als stärkste politische Kraft an die NSDAP, die ihr bis dahin bestes Reichstagswahlergebnis in 110  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwoppeln.htm (Zugriff 09.04. 2021).

182

Winfrid Halder

Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent

Ergebnisse inProzent Prozent ErgebnisseWahlkreis Wahlkreis 88 (Liegnitz) (Liegnitz) in

Ergebnisse Wahlkreis 7 (Breslau) in Prozent 8,2

2,2

10,9

19,2

5,7

21,4

13,3 6,4

7,1

50,2

0,3

SPD DDP/DStP

Zentrum NSDAP

DNVP KPD

9,1

54

0,8 DVP Sonstige

SPD DDP/DStP

0,6 0,6 Zentrum NSDAP

DNVP KPD

DVP Sonstige

Ergebnisse (Oppeln)ininProzent Prozent ErgebnisseWahlkreis Wahlkreis 99 (Oppeln) 0,6 9,2

6,9

32,3 43,2 7,5 0,3 SPD DDP/DStP

Zentrum NSDAP

0,2 DNVP KPD

DVP Sonstige

Abbildung 21: Reichstagswahl 05.03.1933

der Region bei der Reichstagwahl im Juli 1932 (29,2 Prozent der abgegebenen Stimmen) mit 43,2 Prozent weit übertraf. Damit lag sie gleichwohl in diesem Wahlkreis, ganz anders als in den beiden niederschlesischen Wahlkreisen, knapp unter ihrem Durchschnittsergebnis auf Reichsebene. Die SPD erzielte noch 6,9 Prozent der abgegebenen Stimmen (1919: 32,7 Prozent). Die KPD hielt sich bei 9,2 Prozent. Abbildung 21 veranschaulicht in vergleichender Form die Ergebnisse in den drei schlesischen Wahlkreisen. Abbildung 22111 schließlich lässt klar hervortreten, dass sich in der sozialdemokratischen „Erfolgsprovinz“ Niederschlesien von 1919 bis ­ 1933 eine stärkere Erosion der SPD-Wählerbasis vollzog als in anderen 111  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wuupniederschlesien.htm (Zugriff 09.04.2021).



Von Lasalle bis Löbe

183

60 49

50 42,3 40

40,5

46,1

41,3

45,7 41

36,4

30 21,7 20

10

24,4

20,4

22,2

25,2 18,8

20,2

20,1

14,6 8,4

6,9

35,4

34,5

32,7

21,9

16,2

15,3

17,3

10 3,1

0

SPD-Egebnisse 19.01.1919

SPD-Ergebnisse 05.03.1933

Abbildung 22: Ergebnisse der SPD bei den Wahlen am 19.01.1919 und am 05.03.1933 Preußische Provinzen im Vergleich (in Prozent der abgegebenen Stimmen)

preußischen Provinzen. 1919 stimmten dort 718.921 Wahlberechtigte für die SPD, 1933 waren es nur noch 386.985.112 Im oberschlesischen Wahlkreis Oppeln hatte die SPD 1919 mit 32,7 Prozent der abgegebenen Stimmen zwar überraschend gut abgeschnitten, dieser Erfolg war allerdings nur sehr kurzlebig. Bereits bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 waren die Sozialdemokraten dort auf 6,8 Prozent der abgegebenen Stimmen abgestürzt; ihre Ergebnisse bei den folgenden Reichstagswahlen schwank­ten erheblich, blieben aber mit nur einer Ausnahme (Reichstagswahl vom 20. Mai 1928) immer einstellig. 1919 hatten im Oppelner Wahlkreis 216.970 Wahlberechtigte für die SPD gestimmt, 1933 waren es noch 54.006.113 IV. Das „rote Schlesien“ – eine Wunschvorstellung Stolz mag die aus Breslau stammende „Traditionsfahne“ der Sozialdemokratie lange Zeit geflattert haben. Mit Ferdinand Lassalle und Paul Löbe haben auch zwei aus Schlesien stammende Politiker tiefe Spuren in der sozialdemokratischen Erinnerung hinterlassen. Aber Schlesien war 112  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wuupniederschlesien.htm (Zugriff 09.04.2021). 113  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wuupoberschlesien.htm (Zugriff 09.04.2021).

184

Winfrid Halder

kein wirklich zuverlässiger Nährboden für sozialdemokratische Wahl­ erfolge. Im Kaiserreich konnte die SPD hier – anders als im benachbarten Sachsen – nie eine dominierende Stellung aufbauen, ihre Mandatsgewinne blieben begrenzt, „sichere“ Wahlkreise gab es überhaupt keine für sozialdemokratische Kandidaten. Selbst die einzige wirkliche Großstadt Breslau114 blieb unsicheres Terrain, obwohl es dort bemerkenswert früh und beständig gelang, eine zahlenmäßig große und handlungsfähige Parteiorganisation aufzubauen. Bemerkenswert bleibt auch, gerade mit Blick auf das damalige Selbstverständnis der SPD als „Arbeiterpartei“, dass es ihr nie gelang, im industriell geprägten Oberschlesien dauerhaft größere Erfolge zu erzielen. In keiner der Reichstagswahlen zwischen 1871 und 1912 konnte ein so­ zialdemokratischer Kandidat eines der Mandate in den 12 oberschlesischen Wahlkreisen des Regierungsbezirks Oppeln erringen. Die dortige Dominanz des politischen Katholizismus  – die Zentrumspartei gewann zwischen 1877 und 1903 immer mindestens 10 der 12 Mandate, die anderen gingen an konservative Kandidaten – wurde erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg infragestellt. Aber nicht durch sozialdemokratische Kandidaten, sondern durch solche der polnischen Minderheit.115 Die SPD war in Oberschlesien erheblich erfolgloser als im konfessionell und wirtschaftlich in etwa vergleichbaren Regierungsbezirk Düsseldorf der preußischen Rheinprovinz, wo sie auf dem Höhepunkt ihres Erfolges bei der Reichstagswahl von 1912 immerhin vier der 12 Mandate gewinnen konnte, sieben fielen demgegenüber an Zentrumskandidaten, einer an einen nationalliberalen Kandidaten.116 Der SPD gelang es also nicht, in Oberschlesien die für sie offenbar toxische Mischung aus konfessionellen und nationalen Vorbehalten bei der Mehrzahl der Wähler zu überwinden, mochten viele von diesen auch zur Industriearbeiterschaft gehören. Eine Wende schien sich für die Sozialdemokraten in Oberschlesien erst mit der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1919 anzubahnen, als ihr wie im ganzen Reich zugutekam, dass man sie für den Krieg und dessen bitteres Ende am wenigsten verantwortlich machen konnte. Das dabei erzielte Ergebnis von fast einem Drittel der abgegebenen Stimmen erwies sich aber aus sozialdemokratischer Sicht

114  Breslau hatte 1910 512.105 Einwohner, als zweitgrößte Stadt in der Provinz Schlesien folgte Görlitz mit damals 85.806 Einwohner; vgl. Irgang/Bein/Neubach, Schlesien (Anm. 29), 258. 115  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/kuRbOppeln.htm (Zugriff 12.04. 2021). 116  Vgl. Reibel, Reichstagswahlen (Anm. 36), 849 ff. u. https://www.wahlen-indeutschland.de/kuRbDuesseldorf.htm (Zugriff 12.04.2021).



Von Lasalle bis Löbe

185

18 16

15,8

14 12

10

9 8,9 7,8 7,5

8

6

6,7

6,1 4,7 3,6 3,4

4

2

2,5 2,4 2,3 2,2 2,2 1,9 1,8 1,5 1,5 1,4 1,3 1,2 1 0,8 0,8 0,7 0,6

0

 ach Weber, H.: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in N der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1969, S. 367 f.

Abbildung 23: Anteil der KPD-Bezirke an der Gesamtmitgliedschaft 1929 (in Prozent)

rasch als Strohfeuer. Bei der folgenden Reichstagswahl wurde der Stimmenanteil der SPD im Regierungsbezirk Oppeln schon mehr als halbiert, danach lag er bis 1933 fast durchweg nur noch im einstelligen Bereich. Die KPD dagegen erzielte dort seit 1924 stets bessere Ergebnisse als die SPD, zum Teil erhielten die Kommunisten nahezu doppelt so viele Stimmen wie die Sozialdemokraten. Verhältnismäßig viele Wählerinnen und Wähler entschieden sich in Oberschlesien offenbar für die Kommunisten, ohne vorher einen „Umweg“ über die Sozialdemokraten gemacht zu haben. Die Wahlerfolge der KPD in Oberschlesien sind auch insofern bemerkenswert, weil die Partei dort zugleich nur einen ihrer mitgliederschwächsten Bezirke unterhielt (Abbildung 23)117; dies zeigt die folgende Abbildung. Trotz ihrer organisatorischen Schwäche gelang es also den Kommunisten in Oberschlesien weit besser Wählerinnen und Wähler für ihre Partei zu mobilisieren als den Sozialdemokraten. Die starke Stellung, die die SPD in den beiden niederschlesischen Regierungsbezirken Breslau und Liegnitz 1919 erreichen konnte, erodierte zwar nicht so rasch und drastisch wie im Wahlkreis Oppeln, dennoch 117  Vgl.

Weber, Wandlung (Anm. 80), S. 367.

186

Winfrid Halder

schrumpfte der sozialdemokratische Wähleranteil zusehends. Das Zen­ trum war hier zu keinem Zeitpunkt der wichtigste Konkurrent der Sozialdemokratie. Bis 1928 konkurrierte vielmehr die immer weiter nach rechts rückende DNVP mit der SPD um die Stellung als stärkste politische Kraft (die sie bei der Wahl im Mai 1924 auch tatsächlich einmal errang). Seit der September-Wahl von 1930 indes war die NSDAP schlagartig der Hauptkonkurrent der SPD in Niederschlesien. Bereits bei der Juli-Wahl von 1932 ließen die Nationalsozialisten die Sozialdemokraten hinsichtlich der erzielten Stimmenzahl sowohl im Wahlkreis Breslau wie im Wahlkreis Liegnitz weit hinter sich. Die KPD war demgegenüber in den Wahlkreisen Breslau und Liegnitz weit weniger erfolgreich als im Wahlkreis Oppeln; nur ein einziges Mal vermochte sie im Wahlkreis Breslau ein zweistelliges Wahlergebnis zu erreichen, im Wahlkreis Liegnitz schaffte sie das nie.118 Schlesien insgesamt war niemals wirklich „rot“, sondern stets par­ teipolitisch gemischt. Oberschlesien allein war nahezu durchgängig „schwarz“, eine beständige Zentrumshochburg. Die SPD vermochte hier keine größeren Erfolge zu erzielen; das „linke“ Wählerpotential konnte in den Weimarer Jahren erfolgreicher von der KPD als von der SPD mobilisiert werden. In Niederschlesien dagegen erzielte die SPD im Kaiserreich immerhin begrenzte Erfolge, um in der Weimarer Republik für längere Zeit stärkste politische Kraft zu werden. Nimmt man den durchschnittlichen Stimmenanteil der SPD in den acht Reichstagswahlen zwischen 1920 und 1930 auf Reichsebene als Maßstab, der bei 22,8 Prozent der abgegebenen Stimmen lag, so waren die Sozialdemokraten im Wahlkreis Breslau knapp überdurchschnittlich erfolgreich (23,6 Prozent), im Wahlkreis Liegnitz erreichten sie mit durchschnittlich rund 29,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erheblich bessere Ergebnisse. Dagegen kam die SPD im Wahlkreis Oppeln im Durchschnitt nur auf etwa 9,1 Prozent der abgegebenen Stimmen, das Zentrum allerdings auf 36,8 Prozent (Reichsdurchschnitt: 12,3 Prozent).119 Unterstellt man also, dass die Durchschnittsergebnisse in den drei schlesischen Großwahlkreisen in der Weimarer Republik in etwa für die Größenordnung einer „Stammwählerschaft“ stehen, so lag diese in Niederschlesien für die Sozialdemo­ kratie bei etwas mehr als einem Viertel der Wählerinnen und Wähler, in  Oberschlesien dagegen unter 10 Prozent. Im „gesamtschlesischen“ Durch­schnitt erreichten die Sozialdemokraten zwischen 1920 und 1933 einen Stimmenanteil von knapp unter 21 Prozent. Schlesien insgesamt 118  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwliegnitz.htm (Zugriff 12.04. 2021). 119  Vgl. https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtw.htm (Zugriff 12.04.2021).



Von Lasalle bis Löbe

187

war also, lässt man die gravierenden regionalen Unterschiede beiseite, aus Sicht der SPD ein Teil  des Reiches, in dem ihre Erfolgsaussichten eher unterdurchschnittlich waren. Niederschlesien war in der Weimarer Republik ein Gebiet mit guten, wenn auch klar begrenzten Erfolgsaussichten für die SPD  – Oberschle­ sien blieb dagegen in sozialdemokratischer Perspektive ein nahezu hoffnungsloser Fall. Im Vergleich zum Kaiserreich hatte sich – trotz der starken Unterschiede beim Wahlrecht – nicht allzu viel verändert. Die Wählerbewegungen in Schlesien insgesamt korrespondieren gut mit den Ergebnissen, die Jürgen Falter zu Wahlchancen und -erfolgen der NSDAP bis 1933 vorgelegt hat.120 Auch im eher protestantisch geprägten, teils ländlichen Niederschlesien und im stark katholisch geprägten, überwiegend industriell bestimmten Oberschlesien121 war der Faktor Konfession von erheblicher, aber nicht allein ausschlaggebender Bedeutung bei der Entscheidung der Wählerinnen für oder gegen die NS-Partei. Unbeschadet der Tatsache, dass das „rote Schlesien“ also mehr sozialdemokratische Wunschvorstellung, denn Realität war, haben schlesische Sozialdemokraten bedeutende Leistungen erbracht. Auch schlesische Sozialdemokraten haben vielfach dem NS-Regime mutig Widerstand geleistet, sehr viele sind deswegen verfolgt, inhaftiert, nicht wenige ermordet worden. Viele sahen sich auch zum schweren Weg in die Emigration gezwungen.122 Paul Löbe, der seinerseits durch das NS-Regime mehrfach verhaftet, in Konzentrationslagern gefangen gehalten und schwer misshandelt wurde123, hat zuvor als Reichstagspräsident, der mit nur kurzer Unterbrechung zwischen 1920 und 1932 amtierte, die erste deutsche Demokratie wie kaum ein anderer repräsentiert. Dass Löbe bei der Konstituierung des Ersten Deutschen Bundestages am 7.  September 1949 als 120  Vgl.

Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, bes. 67 ff. Jahre 1925 waren laut amtlicher Statistik von den rund 3,1  Millionen Einwohnern der Provinz Niederschlesien etwa 67 Prozent Protestanten und circa 29,5  Prozent Katholiken. Demgegenüber gehörten von den etwa 1,4 Millionen Einwohnern der Provinz Oberschlesien 88,5 Prozent der katholischen Kirche an, etwa 10,5  Prozent waren Protestanten; vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hg. v. Statistischen Reichsamt, 51. Jg. 1932, Berlin 1932, online unter http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN514401303_1932%7Clog2 (Zugriff 20.04.2021). 122  Vgl. Arbeitskreis ehemals schlesischer Sozialdemokraten (Hrsg.), Der Widerstand gegen das Nazi-Regime in Schlesien von 1932 bis 1945 durch SPD und andere Gruppen, o. O. 1987, Neubach, Von Ferdinand Lassalle bis Paul Löbe, Teil III (Anm.  30), 50 ff., Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung (Anm. 2), 131 ff. 123  Vgl. https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/ biografie/view-bio/paul-loebe/?no_cache=1 (Zugriff 13.04.2021); vgl. auch Löbe, Der Weg war lang (Anm. 26), 217 ff. 121  Im

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Winfrid Halder

Alterspräsident fungierte, war ein erinnerungswürdiges Zeichen des ­Wiederanknüpfens an die demokratische Tradition in Deutschland. Konrad Adenauer musste bei dieser Gelegenheit dem 23 Tage älteren Löbe den Vortritt lassen; so eröffnete ein Schlesier und kein Rheinländer das erste frei gewählte deutsche Nachkriegsparlament. Bundestagspräsident ­Wolfgang Schäuble hat Paul Löbes politische Lebensleistung im Sommer 2020, ein Jahrhundert nach dessen erster Wahl zum Reichstagspräsidenten, noch einmal ausdrücklich gewürdigt.124 Vielleicht wäre das auch eine gute Gelegenheit für die SPD gewesen, Löbe doch noch in die Riege ihrer „Größen der Sozialdemokratie“ aufzunehmen? Das ist jedoch nicht geschehen. Allerdings wurde die Internetseite der SPD, während der Autor an vorliegendem Aufsatz arbeitete, doch verändert. Denn die noch im Februar 2021 erscheinende Kategorie „Größen der Sozialdemokratie“ heißt jetzt „Große Sozialdemokrat*in­ nen“.125 An der Personenauswahl wurde indes festgehalten. Eine Partei muss eben Prioritäten setzen. Die SPD scheint zu ihrer eigenen Geschichte ohnehin ein zwiespältiges Verhältnis zu haben – die rabiate Auflösung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD im Sommer 2018 durch die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles126, die jahrzehntelang renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versammelte und die einschlägige Forschung förderte, spricht für sich. Nahles fand übrigens Aufnahme unter die „Großen Sozialdemo­ krat*innen“.127 Auch wenn inzwischen anstelle der Historischen Kommission ein „Geschichtsforum“ etabliert wurde128, steht von dieser Seite eine ähnliche Würdigung Paul Löbes, wie sie ein Bundestagspräsident aus den Reihen der CDU vorgenommen hat, noch aus.129 Dazu passt, dass bei den von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgewählten „Erinnerungsorten“ sozialdemokratischer Geschichte keine solchen berücksichtigt wurden, die östlich der heutigen Grenze der Bundesrepu124  Vgl. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw27-schaeubleloebe-703616 (Zugriff 12.04.2021). 125  Vgl. https://www.spd.de/partei/#c75389 (Zugriff 12.04.2021). 126  Vgl. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/andrea-nahles-will-his torisches-gedaechtnis-der-spd-abschaffen-15723958.html (Zugriff 12.04.2021). 127  Vgl. https://www.spd.de/partei/groessen-der-sozialdemokratie/groessen-der -sozialdemokratie-detailseite/speaker/andrea-nahles/ (Zugriff 13.04.2021). 128  Vgl. https://geschichtsforum.spd.de/ (Zugriff 12.04.2021). 129  Jedoch hat fast zeitgleich mit Schäuble Thomas Oppermann, der inzwischen verstorbene, damalige sozialdemokratische Vizepräsident des Deutschen Bundestages, seinerseits in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an Löbe erinnert; vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gastbeitrag-was-wir-von-paul-loebelernen-koennen-16830619.html (Zugriff 13.04.2021).



Von Lasalle bis Löbe

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blik Deutschland zu Polen liegen. Mit einer Ausnahme allerdings: Warschau gilt mit Blick auf den „Kniefall“ des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal für den Ghetto-Aufstand vom April/Mai 1943 als denkwürdiger Erinnerungsort.130 Dies gewiss auch zu Recht. Wer die aufsehenerregende Geste Brandts in Warschau heute, fünf Jahrzehnte später, allerdings verstehen will, wird nicht umhinkommen, sich auch mit der Gesamtheit ihrer Vorgeschichte zu befassen. Wenn das in breiter Perspektive geschieht, ­ sollte auch die Geschichte der Sozialdemokratie in Schlesien ins Blickfeld geraten.

130  Vgl. http://erinnerungsorte.fes.de/der-kniefall-willy-brandts/ (Zugriff 12.04. 2021). Die Auswahl der Erinnerungsorte verwundert noch mehr angesichts der Tatsache, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung auch ein „Portal Breslauer Arbeiterbewegung“ betreibt. Dieses stellt in sehr nützlicher Weise und in Kooperation mit der Breslauer Universitätsbibliothek (https://www.bu.uni.wroc.pl/) einschlägige ältere wissenschaftliche Arbeiten sowie gedruckte Quellen in digitalisierter Form zur Verfügung. Seit dem Projektauftakt im Jahr 2008 scheinen die entsprechenden Aktivitäten jedoch stark zurückgegangen zu sein, ein größerer Ertrag neuerer wissenschaftlicher Untersuchungen ist nicht erkennbar; vgl. http://library.fes.de/ breslau/index.htm (Zugriff 19.05.2021).

Die „republikanischste“ aller preußischen Provinzen? Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933 Von Guido Hitze, Düsseldorf Vorbemerkung Oberschlesien ist heute bestenfalls noch ein geographischer Begriff. In Deutschland wird er kaum noch verwendet, wenn man ihn überhaupt noch kennt. Und in Polen, zu dem nahezu die gesamte historische Region seit 1945 gehört, ist er zumindest als geographisch-administrative Bezeichnung nicht gebräuchlich. Hier ist für die oberschlesische Wojewodschaft Kattowitz der offizielle Name „Slask“ üblich, da dieser im Polnischen traditionell die Region Oberschlesien bezeichnet, im Gegensatz zu „Dolny Slask“ (Niederschlesien). In deutschen Rückübersetzungen polnischer Quellen führt dies mitunter zu Missverständnissen, weil „Schle­ sien“ und „Oberschlesien“ nicht mehr unterschieden werden. Abgesehen davon wird Oberschlesien selbst in der deutschen historischen Fachliteratur gerne unter dem Oberbegriff „Schlesien“ subsumiert. So gerät in Vergessenheit, dass wir es nach dem Ersten Weltkrieg deutscherseits mit zwei „Schlesien“ zu tun hatten, zuzüglich dem nach 1922 polnisch gewordenen östlichen Teil des Regierungsbezirks Oppeln. Im zweiten Schlesien rangen nicht nur Deutsche mit Polen, sondern auch Separatisten und Autonomisten untereinander sowie jeweils mit den Anhängern der gesamtschlesischen Einheit und schließlich Katholiken mit Protestanten. Wenn man sich überhaupt noch an die Existenz einer eigenständigen preußischen Provinz Oberschlesien erinnert, dann ist ihr Bild verschwommen und nebulös, irgendwo chargierend zwischen „nationalistisch-reaktionär“, „rückständig“ und „national umstritten“ – „Ostelbien“ halt. Dabei lohnt sich ein genauerer Blick auf diese jüngste und kleinste aller preußischen Provinzen, nicht nur im Jahr der einhundertsten Wiederkehr der oberschlesischen Volksabstimmung von 1921. Denn diese jüngste Provinz Preußens ist nicht nur auf das Engste mit dem Schicksals Preußens in der Weimarer Republik verknüpft, sondern unter ihresgleichen bis heute sicher auch die „kleine“, die „vergessene“, die „unterschätzte“ Provinz. Sie entzieht sich sämtlichen Klischees und stellt daher für die Zeit der ersten deutschen Republik zugleich auch ei-

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nen überaus spannenden und überraschenden Sonderfall der preußischen Geschichte dar. Forschungslage Bisher gibt es keine Monographie über die Geschichte der preußischen Provinz Oberschlesien. Die wenigen deutschen Arbeiten zum Thema sind lückenhaft und veraltet.1 Dies liegt, neben einer offenkundigen Scheu deutscher Historiker, sich mit der Geschichte der nach dem Zweiten Weltkrieg verlorenen deutschen Gebietsteile zu beschäftigen, vor allem an dem Umstand, dass Oberschlesien immer als Teil  einer schlesischen Gesamtgeschichte begriffen worden ist und daher nie zum Gegenstand einer eigenständigen Landesgeschichtsschreibung wurde.2 Auf polnischer Seite galt das Hauptaugenmerk, neben zahllosen Arbeiten zur Plebiszit- und Aufstandsproblematik, bislang dem polnischen Teil  Oberschlesiens nach 1922 und dem deutschen Niederschlesien vor allem in der NS-Zeit; nur in Ausnahmefällen fand das deutsche Oberschlesien der Zwischenkriegszeit Beachtung.3 Einen biographischen Zugang zur Gesamtgeschichte der preußischen Provinz Oberschlesien bietet die Studie des Verfassers über den oberschlesischen Geistlichen, Reichstagsabgeordneten und herausragenden Provinzpolitiker Carl Ulitzka4. Dabei ist die Quellenlage alles andere als problematisch. Dichte Überlieferungen zur Provinzgeschichte finden sich sowohl im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem als auch im Bundesarchiv BerlinLichterfelde sowie in den Wojewodschaftsarchiven Breslau, Oppeln und Kattowitz. Es mangelt schlicht am wissenschaftlichen Interesse. Ein-

1  Zur Entstehung und Geschichte der preußischen Provinz Oberschlesien vgl. auf deutscher Seite Gerhard Webersinn, Die Provinz Oberschlesien. Ihre Entstehung und der Aufbau der Selbstverwaltung, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 14 (1969), 275–329; Helmut Neubach, Die Verwaltung Schlesiens zwischen 1848 und 1945, in: Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945. Organisation  – Aufgaben  – Leistungen der Verwaltung, hrsg. v. Gerd Heinrich/Friedrich-Wilhelm Henning/Kurt Jeserich, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 877–941, zu Oberschlesien dort insbes. 902–916. 2  Vgl. Norbert Conrads (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin 1994; Joachim Bahlcke (Hrsg.), Schlesien und die Schlesier (Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche Bd. 7), München 1996; Josef Joachim Menzel (Hrsg.), Geschichte Schlesiens. Band 3: Preußisch-Schlesien 1740–1945/Österreichisch-Schlesien 1740–1918/45, Stuttgart 1999. 3  So Franciszek Hawranek, Dzieje gornego Slaska w latach 1816–1947, Opole (Oppeln) 1981. 4  Guido Hitze, Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 40), Düsseldorf 2002.



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schlägige Aktensammlungen sind, davon konnte sich der Verfasser im Sommer 2019 in Berlin-Dahlem persönlich überzeugen, zwischen 1995 und 2019 nicht wieder eingesehen worden. Oberschlesien bis zum Ersten Weltkrieg Zweifellos ist die Errichtung einer selbständigen preußischen Provinz Oberschlesien im Jahre 1922 eine direkte Folge der revolutionären Unruhen, die das im Ersten Weltkrieg besiegte Deutsche Reich 1918/19 erfasst hatten, sowie der Friedensbedingungen von Versailles. Um diese Prozesse allerdings nachvollziehen und verstehen zu können, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf die Geschichte der Region im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Alltag im Oberschlesien des deutschen Kaiserreichs wurde bestimmt durch ein intensives Neben- und Miteinander polnisch- und deutschsprachiger Einwohner, das seinen prägnantesten Ausdruck in dem gemeinsamen katholischen Lebensgefühl fand. Die soziale Lage dieser breiten Bevölkerungsschicht war zwar bei weitem nicht so schlecht wie diejenige der polnischen Landbevölkerung östlich der Oder oder gar des Industrieproletariats im oberschlesischen Montanrevier, aber doch deutlich weniger gut wie diejenige der schmalen deutschsprachigen preußisch-protestantischen Oberschicht – ganz zu schweigen von den oberschlesischen Magnaten, die während der rasant voranschreitenden Industrialisierung als Großgrundbesitzer und Industriekapitäne zu ungeheurem Reichtum gelangt waren5. In dieser Zeit kannte Oberschlesien zwar noch keine nationalpolitischen Gegensätze, wurde aber gleichwohl durch eine schroffe Germanisierungspolitik der preußischen Regierung bestimmt, die sich in der Region mit dem allgemeinen Kampf des Reichskanzlers Otto von Bismarck gegen den gesellschaftlichen Einfluss der Katholischen Kirche („Kulturkampf“) verband. Deutsch- und polnischsprachige Katholiken fanden sich unter diesen Voraussetzungen, getragen und geführt durch die junge katholische Zentrumspartei unter dem Magnaten Franz von Ballestrem (1834–1910), in fester Opposition gegen die preußisch-protestantische Diskriminierungspolitik zusammen. Erst nach dem Abflauen des Kulturkampfes Ende der 1880er Jahre begann sich dieses katholische Bündnis zu lockern. Zwar nahm das Zentrum nach wie vor eine Art Anwaltsrolle für die konfes­ sionellen und sprachlich-kulturellen Interessen der ethnisch polnischen

5  Vgl. hierzu u. a. Konrad Fuchs, Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schlesiens, Dortmund 1985.

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Oberschlesier wahr, doch in dem Maße, wie es selber auf Reichsebene mehr und mehr zu einer staatstragenden politischen Kraft wurde, versäumte es auch, für die vollständige soziale und staatsbürgerliche Emanzipation seiner polnischsprachigen Klientel einzutreten. Nun erst vermochte hier die seit Jahren aus der Provinz Posen nach Oberschlesien einwirkende nationalpolnische Propaganda an Boden zu gewinnen. Die nationalpolnische „Katolik“-Partei des Adam Napieralski (1861–1928) etablierte sich zusehends neben dem Zentrum, obwohl noch offiziell mit diesem verbündet, als zweite große Interessenvertretung der oberschlesischen Katholiken. Deren polnischsprachiger Teil wies zwar sämtliche objektiven charakteristischen Eigenschaften eines eigenständigen Ethnikums auf, ihm fehlte bis dato jedoch aus historischen, politischen und kulturellen Gründen das subjektive politische Bewusstsein, polnischer Nationalität zu sein.6 Unter dem Eindruck einer sich stetig weiter intensivierenden preußischen Germanisierungspolitik („Hakatismus“)7 verschärfte sich auch die soziale Lage in Oberschlesien weiter. Viele der polnischsprachigen Industrie- und Landarbeiter entfernten sich, so sie nicht in andere preußische Landesteile wie Berlin oder das Ruhrgebiet („Ruhrpolen“) abwanderten, von Zentrum und Katolik-Partei gleichermaßen und wechselten in das radikalsozialistische Lager. In dieser Situation war es der gebürtige Oberschlesier Wojciech (Albert) Korfanty (1873–1939)8, der es mit meis6  Siehe hierzu den informativen und richtungweisenden Aufsatz der Oppelner Soziologieprofessorin Dorota Simonides, Gibt es ein oberschlesisches Ethnikum?, in: „Wach auf, mein Herz, und denke…“. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg von 1740 bis heute. Herausgegeben von der Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch e. V. Berlin und dem Verein Schlesisches Institut Oppeln, Berlin/Oppeln 1995, 70–78. Um eine auch nur annähernd vergleichbare Untersuchung zur Soziologie Oberschlesiens vor 1945 auf deutscher Seite zu finden, muss man zeitlich sehr weit zurückgehen. Die fragliche Arbeit ist die Dissertation des Wirtschaftsgeographen, Soziologen, Zeitungswissenschaftlers und späteren westdeutschen CDU-Politikers Rudolf Vogel, Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Leipzig 1931. Unter der Prämisse des Plebiszits arbeitet Vogel sehr sorgfältig die soziologischen Ursachen des deutsch-polnischen Gegensatzes in Oberschlesien heraus. 7  Vgl. auf deutscher Seite v. a. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Nationalstaat vor der Demokratie, München 1992; Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 21979 sowie Frank Golczewski, Das Deutschlandbild der Polen, Düsseldorf 1974 (mit Darstellung der polnischen Rezeption). 8  Zu Korfanty auf deutscher Seite die umfangreiche und informative, wissenschaftlich aber nicht immer ganz befriedigende Biographie von Sigmund Karski (unter Mitwirkung von Helmut Neubach), Albert (Wojciech) Korfanty, Dülmen 1990.



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terhafter Demagogie verstand, konfessionelle Inferiorität, sprachlichkulturelle Zurücksetzung und soziale Deklassierung glaubwürdig mit der Erweckung eines nationalpolnischen Bewusstseins zu verbinden. Bis 1907 etablierte sich die nationalpolnische Partei als zweitstärkste politische Kraft in Oberschlesien, da es die Führung der schlesischen Zen­ trumspartei in Breslau nicht verstand, endlich auch die soziale Dimen­sion der polnischen Frage in Oberschlesien zu erkennen; stattdessen betrachtete sie dieses Problem immer noch als ein rein sprachlich-kulturelles. Nachdem sich die allgemeine soziale Situation in Oberschlesien in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg allmählich, aber spürbar verbessert hatte und bei der Reichstagswahl 1912 der Höhepunkt der nationalpolnischen Bewegung, allerdings zugunsten der Sozialdemokraten, überschritten schien, verhinderte schließlich der Kriegsausbruch 1914 eine weitere Zuspitzung der lange schwelenden innerparteilichen Krise der schlesischen Zentrumspartei. Diese war allerdings nur aufgeschoben, wie die Ereignisse des Spätherbstes 1918 zeigen sollten. Versailles, die Polnischen Aufstände und das Plebiszit Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und der Abdankung des Kaisers im November 1918 brachen wie in ganz Deutschland auch in Schlesien revolutionäre Wirren aus, die im gesamten Land zeitweise für chaotische und undurchsichtige Verhältnisse sorgten. In Oberschlesien wurde die allgemeine Aufregung noch durch die sich verbreitende Ungewissheit über die staatliche Zukunft der Region verstärkt. Nachdem bereits am 25.  Oktober 1918, also zwei Wochen vor dem Waffenstillstand, Wojciech Korfanty als Abgeordneter des Reichstages vor dem deutschen Parlament u. a. alle „unzweifelhaft polnischen Kreise Oberschlesiens“ für einen künftigen unabhängigen polnischen Nationalstaat gefordert hatte9, nahmen die nationalpolitischen Spannungen im Oppelner Schlesien weiter zu. Auf einer wahrscheinlich vom Ratiborer Pfarrer Carl Ulitzka (1873–1953)10 angeregten Konferenz der oberschle9  Zu der aufsehenerregenden Reichstagsrede Korfantys Karski, Korfanty (Anm. 8), 178–181. 10  Zu Ulitzka vgl. u. a. auch Gerd Webersinn, Prälat Karl Ulitzka, Politiker im Priester, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 15 (1970), 146–205; Hans-Ludwig Abmeier, Prälat Carl Ulitzka, in: Schlesien 19 (1974), 21–40; Herbert Hupka, Carl Ulitzka (1873–1953), in: Zeitgeschichte in ­Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4, hrsg. v. Jochen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher, Mainz 1980, 172–185 und 276 f. sowie polnischerseits Konrad Glombik, Carl Ulitzka (1873–1953). Seelsorger und Politiker in schwierigen Zeiten, Opole (Oppeln) 2010.

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sischen Parteien in Kandrzin11 am 9. Dezember 1918 stimmte eine knappe Mehrheit der anwesenden Delegierten für die Bildung eines „provisorischen selbständigen oberschlesischen Staates“, zumindest solange, bis ein Friedensvertrag endgültige Klarheit über die staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens geschaffen haben würde. Die ebenfalls in Kandrzin diskutierte Option eines von Preußen unabhängigen oberschlesischen Bundesstaates innerhalb des Deutschen Reiches fand dagegen keine Mehrheit.12 Jedenfalls machte Kandrzin deutlich, dass es in Oberschlesien starke zentrifugale Kräfte gab, die einen wie auch immer gearteten Sonderweg Oberschlesiens einer Aufrechterhaltung der Einheit der preußischen Provinz Schlesien vorzogen. Solche Stimmen artikulierten sich besonders vernehmlich innerhalb der oberschlesischen Sektion des Zentrums. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo sich die jahrelang aufgestaute Unzufriedenheit mit der Politik der Breslauer Parteispitze unter Felix Porsch (1853–1930)13 offen Bahn brechen konnte. Carl Ulitzka nutzte zielbewusst die Gunst der Stunde, die ihm die durch die revolutionären Wirren in Deutschland hervorgerufene allgemeine chaotische Situation bot. Kurzerhand löste der amtierende Vorsitzende des Wahlkreiskomitees der Zentrumspartei in Ratibor auf einer in Oppeln abgehaltenen Delegiertenversammlung am 16. Dezember 1918 ohne Rücksprache mit der Breslauer Zentrale die oberschlesische Sektion des Zentrums von der schlesischen Provinzorganisation der Partei und rief die „Katholische Volks­ 11  Zur Kandrziner Konferenz sowie zum allgemeinen Verlauf der Autonomiediskussion in Oberschlesien überhaupt v. a. Günther Doose, Die separatistische Bewegung in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg (1918–1922), Wiesbaden 1987. 12  Ein gewisses Verständnis für die Beweggründe der radikalen Freistaatsbefürworter deutete Ulitzka, obwohl stets ein Verfechter der bundesstaatlichen Autonomie, Jahre später in einem Aufsatz vorsichtig unter der Voraussetzung an, dass die Freistaatslösung die einzige verbleibende Alternative zu einer vollständigen Angliederung Oberschlesiens an Polen gewesen sei: „Einen vom Deutschen Reich losgelösten Freistaat Oberschlesien hat das Zentrum nie erstrebt. Wohl gab es auch im Zentrum  – aber nicht in ihm allein  – Persönlichkeiten, welche, als die höchste Gefahr bestand, dass Oberschlesien durch Diktat der Entente Polen zugeschlagen werden sollte, einen Freistaat Oberschlesien erwogen, weil ihnen eine solche Lösung im Vergleich zu der bedingungslosen Einverleibung Oberschlesiens durch Polen als das kleinere Übel erschien.“ Carl Ulitzka, Die Verselbständigung Oberschlesiens und die Zentrumspartei, in: „10 Jahre Provinz Oberschlesien“, Sonderheft der Wochenschrift „Die Provinz Oberschlesien“, hrsg. vom Presse-, Statistischen und Verkehrsamt der Provinzialverwaltung von Oberschlesien, Ratibor, November 1929 (im folgenden „Festschrift“), 3–6, Zitat 4. 13  Zu Porsch August-Hermann Leugers-Scherzberg, Felix Porsch 1853–1930. Politik für katholische Interessen in Kaiserreich und Republik, Mainz 1990.



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partei“ (KVP) in Oberschlesien aus, als deren ersten, wenngleich noch „provisorischen“ Vorsitzenden er sich von den Delegierten bestätigen ließ.14 Nun erfolgte im Zentrum in Oberschlesien ein umfangreicher Austausch der Führungskräfte, der fast schon sozialrevolutionäre Züge annahm. Nicht mehr die Vertreter der hohen Geistlichkeit oder katholische Magnaten bestimmten jetzt Auftreten und Erscheinungsbild der Partei, sondern Männer aus den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten. Als eine der ersten Maßnahmen verhinderte der neue oberschlesische Vorsitzende Ulitzka eine eindeutige Festlegung seiner Partei in der Frage der staatlichen Form Oberschlesiens, um ein Zerbrechen der ohnehin fragilen Einheit des oberschlesischen Zentrums vor den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung im Januar 1919 zu verhindern. Stattdessen lenkte die Parteiführung die Aufmerksamkeit der Wähler auf die neue sozialistische Revolutionsregierung Preußens in Berlin und deren antikirchliche Kulturpolitik. In den Augen des Zentrums war zwar infolge des verlorenen Krieges das alte hakatistische System abgelöst, jedoch nur durch eine andere, freigeistige „kulturkämpferische“ Richtung ersetzt worden. Der Faktor Preußen blieb also ein geeignetes Feindbild, um nicht nur in Erinnerung an lang vergangene gemeinsame Kampf- und Leidenszeiten die oberschlesischen Katholiken aller Zungen noch einmal unter dem Zentrumsbanner zu vereinigen, sondern auch, um den Forderungen nach einer Lostrennung Oberschlesiens von Preußen zusätzlich Berechtigung und Nachdruck zu verleihen. Bei den Wahlen vom 19.  Januar 1919 schien diese Strategie Ulitzkas aufzugehen: Seine KVP (­Zen­trum) errang mit einem Stimmenanteil von knapp 50 Prozent einen beachtlichen Wahlerfolg, und er selbst wurde als Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt. Doch die nationalpolnisch gesinnten Oberschlesier waren weitgehend der Wahl ferngeblieben; der tiefe Riss in der Bevölkerung war nun für jedermann offenkundig und fortan nicht mehr zu kitten. In der Weimarer Nationalversammlung vertrat Ulitzka als Abgeordneter konsequent seine Vorstellungen von einem deutschen oberschlesischen Bundesstaat; ab März 1919 als Mitglied im wichtigen „Ausschuss zur Vorbereitung des Entwurfes einer Verfassung des Deutschen Reiches“. Hier arbeitete er federführend mit an der Formulierung des Art. 18 WRV, welcher „die Gliederung des Reiches in Länder […] unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung“ vorsah.15 Damit war nichts anderes gemeint, als dass in bestimmten Landesteilen, in erster Linie jedoch in preußischen Provinzen wie Hannover, dem Rhein14  Doose, 15  Zitiert

Separatistische Bewegung (Anm. 11), 59. nach Hans Boldt (Hrsg.), Reich und Länder, München 1987, 493 f.

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land und eben Oberschlesien, durch Volksabstimmungen die Möglichkeit zur Bildung neuer Reichsländer geschaffen werden sollte. Das Problem wurde im Falle Oberschlesiens noch drängender, weil der inzwischen unterzeichnete Friedensvertrag von Versailles für weite Teile Oberschlesiens ein Plebiszit über die staatliche Zukunft des Landes vorsah und daher die betroffene Bevölkerung beizeiten umworben werden musste. Ganz in diesem Sinne intervenierte Ulitzka mehrmals bei der Reichsregierung für die schnelle Gewährung der bundesstaatlichen Autonomie für Oberschlesien, notfalls auch gegen den Willen Preußens.16 Nachdem unterdessen Reichs- und Staatskommissar Otto Hörsing den ersten der drei Polnischen Aufstände in Oberschlesien, mit denen auf militärischem Wege vollendete Tatsachen geschaffen werden sollten, im August 1919 niedergeschlagen hatte17, fand die Zentrumsführung in Oberschlesien endlich Zeit, auch innerparteilich den Autonomiekurs genau zu definieren und sich endgültig von der Freistaatsidee zu verabschieden. Sämtliche Freistaatsanhänger innerhalb des Zentrums wurden nun zunächst an den Rand und schließlich sogar völlig aus der Partei herausgedrängt. Sie fanden nun ihre neue politische Heimat im separatistischen „Bund der Oberschlesier“ (BdO). Am 10. September 1919 verabschiedete das oberschlesische Zentrum auf einer erneut nach Kandrzin einberufenen Versammlung eine Resolution, in der es zwar die Frage nach Form und Ausmaß der als notwendig erkannten und gewünschten Autonomie weiterhin offenließ, sich aber erstmals unmissverständlich für einen Verbleib Oberschlesiens bei Deutschland ohne Wenn und Aber aussprach.18 Die Resolution von Kandrzin, diese „Magna carta für die Lösung der oberschlesischen Frage“19, machte auch den Weg frei für eine Einigung 16  Ulitzka an die Reichsregierung am 14.07.1919, am 13.08.1919 und am 19.08.1919; Bundesarchiv (BA) Berlin-Lichterfelde, Alte Reichskanzlei, R 43 I/349, Bl. 24, Bl. 45 u. Bl. 106. 17  Vgl. Hitze, Ulitzka (Anm. 4), 222–232. 18  Wörtlich heißt es in der Kandrziner Resolution vom 10.09.1919: „Angesichts der im Friedensvertrag vorgeschlagenen Abstimmung, durch welche die oberschlesische Bevölkerung ihr politisches Schicksal selbst entscheiden soll, empfehlen wir unseren Parteifreunden, offen dafür einzutreten, dass Oberschlesien nicht von Deutschland getrennt werde, dabei aber nach wie vor diejenige Selbständigkeit zu fordern und zu vertreten, welche die vollkommene Gewähr dafür bietet, dass die Bedürfnisse und gerechten Wünsche der oberschlesischen Bevölkerung, insbesondere in allen Fragen der Kirche und Schule, der Muttersprache und der Besetzung der Beamtenstellen mit geeigneten Vertretern aus allen Schichten der Bevölkerung, erfüllt werden.“ Zitiert nach Carl Ulitzka, Der deutsche Osten und die Zentrumspartei, in: Nationale Arbeit. Das Zentrum und sein Wirken in der deutschen Republik, hrsg. v. Karl Anton Schulte, Berlin/Leipzig 1929, 146. 19  Ebd.



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der Parteien in der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, denn von nun an war klar, dass sich die KVP in das Bündnis der anderen deutschen Parteien für die Deutscherhaltung Oberschlesiens früher oder später einreihen würde. Am 14. Oktober 1919 verabschiedete das Parlament einen zuvor eingebrachten Gesetzentwurf des Zentrums über die Errichtung einer eigenen Provinz Oberschlesien, die vorbehaltlich der endgültigen Abgrenzung durch Friedensvertrag und Plebiszit aus dem bisherigen Regierungsbezirk Oppeln gebildet wurde.20 Zwar opponierte Staatskommissar Hörsing aus seinem zentralstaatlichen Denken heraus weiter vehement gegen jegliche Autonomie, auch Provinzialautonomie für Oberschlesien, doch seine Zeit in Oberschlesien war unwiderruflich abgelaufen; nicht zuletzt, weil er sich in einem andauernden und heftigen ideologischen Kampf mit dem Zentrum schließlich abgenutzt hatte. Dieses machte dem „System Hörsing“ nicht nur seine rigide Polenpolitik zum Vorwurf, sondern klagte auch über kulturelle und personalpolitische Bevormundung durch den Reichs- und Staatskommissar.21 Politisch wirksam werden konnte das neue preußische Provinzialgesetz für Oberschlesien jedoch nicht, da bereits im Februar 1920 das Abstimmungsgebiet der Kontrolle durch die Interalliierte Plebiszitkommission (IK) unter dem französischen General Henri Le Rond übergeben werden musste. In der Folgezeit entwickelte sich die Autonomiefrage mehr und mehr zu einem der wichtigsten Wahlkampfthemen in der Propagandaschlacht zwischen Deutschland und Polen. Während das Zen­ trum in Oberschlesien unter Ulitzka ernsthaft die bundesstaatliche Autonomie um ihrer selbst willen als das wirksamste Mittel anstrebte, die katholische Inferiorität zu beseitigen, Sozialreformen durchzusetzen, die Rechte der Kirche zu sichern sowie dem polnischsprachigen Bevölkerungsteil volle sprachliche und kulturelle Freiheit zu gewähren, interpretierten weite Teile der anderen deutschen Parteien, von der SPD bis hin zur DNVP, bereits das Provinzialautonomiegesetz von Oktober 1919 eher als taktischen Schachzug denn als reale politische Absicht. In den Augen der politisch Verantwortlichen in Berlin und Breslau waren die Autonomiebefürworter nicht viel mehr als tönende Propagandalautsprecher, die ständig unter der Kontrolle und Leitung der zuständigen Stellen standen, ohne dies freilich zu wissen. So notierte der im preußischen Innenministerium tätige deutschnationale Landrat Alfred von Bärensprung am 25.  März 1920 die aufschlussreichen Sätze: „Ich halte die Autonomie Oberschlesiens für ein Unglück, auch für Oberschle20  Vgl. Webersinn, Provinz (Anm.  1), 283, Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 907 f. und Doose, Separatistische Bewegung (Anm. 11), 154 f. 21  Hitze, Ulitzka (Anm. 4), 243–252.

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sien, glaube aber, dass in der jetzigen Lage die Autonomiebewegung für uns taktisch genutzt werden muss, denn sie wirkt heute gegen Polen und nur gegen Polen, nicht gegen Deutschland. Wir müssen nur mit allen Mitteln danach trachten, dass die Führer der Bewegung in unserer Hand bleiben und dass in dem Augenblick, wo es zur Abstimmung in Oberschlesien kommt …, die Autonomiebefürworter die Parole für Deutschland ausgeben … .“22 Das vom Polnischen Sejm in Warschau am 15. Juli 1920 verabschiedete Autonomiegesetz für Oberschlesien, welches dem Land noch vor Durchführung des Plebiszits das organische Statut einer selbständigen polnischen Wojewodschaft zusicherte23, fachte die Autonomiepropaganda unmittelbar vor Ausbruch des zweiten Polnischen Aufstandes in Oberschlesien im August 192024 noch einmal spürbar an. Wie es scheint, konnte die deutsche Seite in diesem Punkt der Auseinandersetzung am Ende die größeren Gewinne verbuchen. Es ist sicher nicht übertrieben, den letztendlichen deutschen Erfolg beim oberschlesichen Plebiszit am 20.  März 1921, als auf Deutschland ca. 60 und auf Polen etwa 40 Prozent der Stimmen entfielen, in einem entscheidenden Maße der von Ulitzka verantworteten Wahlkampfstrategie des Zentrums zuzuschreiben.25 Das Zentrum hatte es verstanden, durch die zumindest versuchte Integration der polnischsprachigen Oberschlesier, die Förderung eines ausgeprägten oberschlesischen Selbstbewusstseins mittels Betonung von Herkunft und katholischer Konfession, die scharfe Brandmarkung der sozialen Problematik und nicht zuletzt das entschiedene Aufgreifen des Autonomiegedankens einen möglichen polnischen Sieg im Plebiszit erfolgreich zu verhindern. Mit Recht konnte Ulitzka daher nach der Volksabstimmung auf die Bedeutung der Autonomiefrage in diesem Zusammenhang hinweisen26. Nun

22  So von Bärensprung in einem Schreiben an den preußischen Innenminister Heine („geheim, persönlich!“) am 25.03.1920; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (GStA-PK), I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 383. 23  Zum polnischen Autonomiegesetz u. a. Webersinn, Provinz (Anm. 1), 289 f. Es ist wahrscheinlich, dass diese Entscheidung des polnischen Parlaments nicht zuletzt unter dem unmittelbaren Eindruck der verheerenden polnischen Niederlagen bei den Volksabstimmungen in Ost- und Westpreußen (Allenstein und Marienwerder) am 11.07.1920 getroffen wurde, wo lediglich 2,1 bzw. 7,6 Prozent der ­Abstimmenden sich für einen Anschluss der betreffenden Gebiete an Polen ausgesprochen hatten, obwohl der Anteil der polnischsprachigen Einwohner nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1910 wesentlich höher war; vgl. hierzu u. a. Karski, Korfanty (Anm. 8), 257. 24  Vgl. Hitze, Ulitzka (Anm. 4), 300–314. 25  Zu den Einzelheiten ebd. 346–376. 26  Vgl. Ulitzka, Verselbständigung Oberschlesiens (Anm. 12), S. 4.



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aber kam es darauf an, das der Bevölkerung einmal gegebene Versprechen auch zu realisieren. Der Autonomiekampf und die Errichtung der Provinz Oberschlesien 1922 Noch vor der Volksabstimmung in Oberschlesien hatte die Reichstagsfraktion des Zentrums auf Initiative Ulitzkas am 25. November 1920 ein speziell auf Oberschlesien zugeschnittenes verfassungsänderndes Reichsgesetz im Parlament eingebracht27, das eine Abstimmung über einen eigenen Bundesstaat Oberschlesien nach Beendigung der interalliierten Besetzung zwingend vorschrieb28. Wegen der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes durch eine breite Mehrheit des Reichstages wurde ein weiteres Plebiszit in Oberschlesien nun unvermeidbar. Auch im Anschluss an die Volksabstimmung am 20.  März 1921, den von Frankreich unterstützten sogenannten „Dritten Polnischen Aufstand“ und die daraus resultierende Teilung des Abstimmungsbezirks gemäß eines Schiedsspruchs des Genfer Völkerbundes29 blieb das oberschlesische Zentrum unbeirrt bei seiner Position zur bundesstaatlichen Autonomie, nicht zuletzt, um dem Vorwurf der Unglaubwürdigkeit zu begegnen30, aber auch, weil es ihm mit den weitergehenden Autonomierechten überaus ernst war. Am 26.  September 1921 verabschiedete der erste Parteitag der KVP Oberschlesiens in Gleiwitz eine Resolution, in der noch einmal die unbedingte Notwendigkeit einer bundesstaatlichen Autonomie der Region ausdrücklich betont wurde.31 Spätestens aber nach 27  Zu der dramatischen Fraktionssitzung des Zentrums am 19.10.1920 siehe Rudolf Morsey/Karsten Ruppert (Bearb.), Die Protokolle der Reichstagsfraktion der Deutschen Zentrumspartei 1920–1925, Mainz 1981, 61–63. 28  Die Grundaussage des als Abs. 2 in Art. 167 WRV eingefügten Gesetzes lautete: „In der preußischen Provinz Oberschlesien findet innerhalb zweier Monate, nachdem die deutschen Behörden die Verwaltung des zur Zeit besetzten Gebietes wieder übernommen haben, eine Abstimmung nach Art. 18 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 darüber statt, ob ein Land Oberschlesien gebildet werden soll.“ Zitiert bei Webersinn, Provinz (Anm. 1), 291. 29  Im Überblick Hitze, Ulitzka (Anm. 4), 377–490. 30  Siehe hierzu u. a. Franz Ehrhardt, Der Verlauf der oberschlesischen Autonomiebewegung, in: Oberschlesische Volksstimme v. 15.07.1922. 31  Die Resolution lautet: „Der Parteitag der Katholischen Volkspartei (Zen­ trum) fordert erneut die bundesstaatliche Selbständigkeit Oberschlesiens innerhalb der deutschen Reichseinheit. Er ist davon durchdrungen, dass die bundesstaatliche Selbständigkeit notwendig ist, um die Gleichberechtigung für die deutsch und polnisch sprechende Bevölkerung durchzuführen. Die Parteileitung wird beauftragt, alle geeigneten Schritte zu tun, um möglichst bald die bundes-

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dem Genfer Teilungsbeschluss vom Oktober 1921 stand das Zentrum mit seiner Position zur Autonomie weitgehend alleine. Alle anderen Parteien von der SPD bis hin zur DNVP gingen unter Berufung auf die geänderte Sachlage – Abtrennung des industrie- und rohstoffreichen Ostoberschlesiens mit knapp einer Million Einwohnern statt der ursprünglich er­ warteten Wahrung der Einheit des Abstimmungsgebietes  – mehr oder weniger deutlich auf Distanz zur Autonomie. Dabei bot der Spruch des ­Völkerbundes gerade den Rechtsparteien eine willkommene Argumentationshilfe, sich von dem sowieso nur aus rein taktischen Erwägungen gegebenen ungeliebten Autonomieversprechen ohne größeren Gesichtsverlust zu verabschieden und eine wüste, gegen das Zentrum gerichtete Agitationskampagne zu beginnen, in deren Verlauf der Parteivorsitzende Ulitzka und der Generalsekretär der Partei, der Gewerkschafter Franz Ehrhardt32, sogar des Verrats an Deutschland im Dienste Polens bezichtigt wurden33. Aber selbstverständlich waren nicht alle im Verlauf dieser Auseinandersetzung gegen eine bundesstaatliche Autonomie für Oberschlesien vorgebrachten Einwände reaktionär (Glorifizierung des Hakatismus), nationalistisch („Polenangst“) oder antikatholisch (befürchtete Klerikalisierung der politischen Verhältnisse). Insbesondere die Hinweise auf die absehbar schwierige finanzielle Lage und die zweifelhafte Überlebenschance des projektierten neuen Zwerglandes konnte man nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Auch war der Verdacht sicher nicht völlig abwegig, das Zentrum könnte in einem Bundesstaat Oberschlesien seine Vormachtstellung zementieren und die neu zu vergebenden Führungspositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft aus dem eigenen personellen Besitzstand bestücken wollen. Die Autonomiefrage entwickelte sich mit einer verhängnisvollen Eigendynamik zu einem regelrechten Glaubenskrieg, der mit der Zeit auch das oberschlesische Zentrum selbst erfasste. Aufs Neue wurde die Bevölkerung Oberschlesiens in einer Frage von existentieller Bedeutung tief gespalten; Befürworter und Gegner der gliedstaatlichen Autonomie standen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber. Nachdem auch von neutraler Seite immer zwingendere Gründe gegen die Durchführbarkeit einer bundesstaatlichen Autonomieregelung für Oberschlesien in die Diskus­

staatliche Selbständigkeit Oberschlesiens zu verwirklichen.“ Zitiert bei Ulitzka, Deutscher Osten (Anm. 18), 146; vgl. auch Doose, Separatistische Bewegung (Anm. 11), S. 190. 32  Zu Franz Ehrhardt Hans-Ludwig Abmeier, Die schlesischen Zentrumsabgeordneten in der Weimarer Nationalversammlung, in: Schlesien 23 (1978), 31–40, hier 32. 33  Vgl. hierzu beispielsweise die Neue Preußische Kreuzzeitung v. 04.05.1922.



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sion eingebracht wurden34, befanden sich die zuvor so siegessicheren Autonomiebefürworter im Frühjahr 1922 urplötzlich in der Defensive. Nur die Vertreter der nationalpolnischen Bewegung standen nach wie vor uneingeschränkt hinter dem Autonomiegedanken, doch gerade die Unterstützung von dieser Seite war für die Zentrumsführung ein Danaer-Geschenk, da gleichzeitig Wasser auf die Mühlen ihrer deutschnationalen Gegner. Mit ihren verzweifelten Verweisen auf ein einmal gegebenes Versprechen, dass es nun einzulösen gelte, manövrierten sich Ulitzka und Ehrhardt immer weiter in eine verhängnisvolle Sackgasse. Doch gerade in dem Moment, in dem sogar eine Spaltung des oberschlesischen Zen­ trums in der Autonomiefrage nahezu unausweichlich schien35, kam im Juni  1922 aus dem Preußischen Landtag ein rettender Kompromissvorschlag, der allen Seiten half, ihr Gesicht zu wahren: Oberschlesien sollte preußische Provinz bleiben, dafür jedoch erweiterte Provinzialrechte, vor allem in kulturellen und personalpolitischen Belangen, erhalten.36 Mit diesem Gesetzentwurf waren die wesentlichen Forderungen Ulitzkas und seiner Partei akzeptiert und dem Zentrum „goldene Brücken zum Rückzug“37 von der Bundesstaatslösung gebaut worden. Ulitzka und Ehrhardt erkannten die ihnen gebotene Chance und verkündeten einen ebenso abrupten wie radikalen Kurswechsel38 in Sachen Autonomie. In einer eilends für den 17.  Juli 1922 erneut nach Kandrzin einberufenen weiteren Vertrauensmännerversammlung der KVP verabschiedete das oberschlesische Zentrum einstimmig einen zuvor von Ulitzka eingebrachten Leitantrag, in dem nunmehr der Verzicht auf die bundesstaat­ liche Autonomie verkündet wurde.39 34  Vgl. hierzu die Dokumentation „Oberschlesien und Preußen“, in: Zentral-­ Archiv für Politik und Wirtschaft Nr. 38/39 v. 01.10.1922. 35  Vgl. die von mehreren tausend oberschlesischer Zentrumsanhänger unterstützten Resolutionen gegen die gliedstaatliche Autonomie Oberschlesiens von April und Mai 1922; siehe hierzu die Angaben von Dr. Paul Nieborowski (Archiv der sozialen Demokratie Bonn-Bad Godesberg AdsD, NL Carl Severing, Nr. 224) bzw. das Schreiben der Zentrumspartei Neisse an den Reichsparteiausschuss der Deutschen Zentrumspartei (Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 1070 NL Wilhelm Marx, Nr. 227 „Zentrumsangelegenheiten 1921–1934“, Bl. 39). 36  Gesetz über die erweiterten Rechte der Provinz Oberschlesien vom 25.07.1922; vgl. Webersinn, Provinz (Anm. 1), 294 f. 37  So Paul Nieborowski in einem Brief an den preußischen Innenminister Carl Severing vom 19.06.1922; GStA-PK, I. HA, Rep. 77; Tit. 856 Nr. 714, Bl. 98. 38  Vgl. Schlesische Volkszeitung v. 09.07.1922 (Nr. 314). 39  Der Leitantrag lautet in Auszügen: „Die Vertrauensmännerversammlung der Katholischen Volkspartei (Zentrum) in Oberschlesien nimmt Kenntnis von dem am 11.  Juli im Preußischen Landtag angenommenen Gesetz.[…] Sie teilt die von ihren Abgeordneten […] vertretene Auffassung, dass dieses Gesetz Sicherung für die Erfüllung der dringenden Bedürfnisse und Wünsche des oberschlesischen Vol-

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Das Ergebnis des für den 3.  September 1922 angesetzten Plebiszits über die staatliche Zukunft Deutsch-Oberschlesiens stand damit so gut wie fest, da alle größeren Parteien in Oberschlesien mit Ausnahme der USPD, der KPD und der „Polnischen Ausschüsse“ gemeinsam einen Aufruf zur Stimmabgabe für den Verbleib Oberschlesiens bei Preußen unterzeichneten.40 Tatsächlich stimmten am 3.  September 1922 91,1 Prozent der Abstimmenden für einen Verbleib Oberschlesiens als eigenständige Provinz bei Preußen und 8,9 Prozent für einen autonomen Bundesstaat Oberschlesien.41 Die KVP-Führung unter Ulitzka hatte hoch gepokert und beinahe alles verloren. Am Ende stand für das Zentrum in Oberschlesien jedoch ein Erfolg, wie er kaum einmal zuvor von einem Landes- oder Provinzialverband der Zentrumspartei erzielt worden war. Die KVP hatte ihre wichtigsten Ziele durchgesetzt – Sicherung der kulturellen, konfessionellen und sprachlichen Freiheiten, Selbstverwaltung in zentralen Politikfeldern wie soziale Fürsorge und Verkehr, Mitspracherecht bei der Beamtenauswahl –, ohne die hohen Kosten und Risiken eines eigenen Staatsapparates mit Regierung, Budget und Parlament tragen zu müssen. Für das Erreichte konnte Ulitzka leichten Herzens den Preis zahlen, von der Rechten als „Umfaller“ und von den Nationalpolen als „Verräter“42 beschimpft zu werden. Immerhin hatte sich gezeigt, dass letztlich die Wählerschaft des Zentrums, und zwar auch ein großer Teil  der polnischsprachigen, wieder hinter der Parteiführung stand und auch den zuweilen abenteuerlichen Zickzackkurs in Sachen Autonomie zu verzeihen geneigt war. Mit dem 3. September 1922 jedenfalls schienen die langen Jahre der Unsicherheit, Unruhe und Gewalt in Oberschlesien endgültig abgeschlossen und die junge Provinz aus dem Stadium des Provisorium herausgetreten zu sein.

kes […] gibt und dass infolgedessen für unsere Partei keine Veranlassung vorliegt, in der Abstimmung am 3. September für die Bildung eines eigenen Landes (Gliedstaat Oberschlesien) einzutreten.[…] Daher empfiehlt die Vertrauensmännerversammlung ihren Parteifreunden, in der Abstimmung über die Bildung eines eigenen Landes für das Verbleiben im preußischen Staatsverband zu stimmen […].“; zitiert nach Oberschlesische Volksstimme v. 18.07.1922 (Nr. 186). 40  Ulitzka, Deutscher Osten (Anm. 18), 149. 41  Vgl. Webersinn, Provinz (Anm. 1), 292. 42  So sprach der Gleiwitzer Sztandar Polski Nr.  158 v. 16.07.1922 von „zentrumsparteiliche[n] Schurkereien“, und die von Korfanty herausgegebene Oberschlesische Grenzzeitung titelte in ihrer Nummer 163 v. 19.07.1922: „Der Verrat Ulitzkas und des Zentrums am oberschlesischen Volke“.



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Aufbau der Provinz und Abgrenzungskämpfe mit Niederschlesien Tatsächlich gestaltete sich der Aufbau der neuen Provinz Oberschle­ sien jedoch langwierig und mühsam. Neue Verwaltungsstrukturen mussten geschaffen, die Folgen der Besatzungs- und Aufstandszeit beseitigt und der Wirtschaft eine neue Perspektive gegeben werden. Dem Zentrum kam bei all diesen Aufgaben als der mit Abstand stärksten politischen Kraft in Oberschlesien eine Vorreiterfunktion zu. Carl Ulitzka stand als amtierender Landeshauptmann, also als Kopf der provinziellen Selbstverwaltung, neben seinen anderen politischen Ämtern in besonderer Verantwortung. Die Zeiten waren für den Neuaufbau einer Provinz denkbar ungünstig. Deutschland befand sich schon im Würgegriff einer Hyperinflation, welche im Jahr darauf desaströse Ausmaße annehmen sollte; Oberschlesien selbst musste die Folgen des unglücklichen Teilungsbeschlusses von Genf verkraften, der durch die deutsch-polnische Konvention vom 15.  Mai 1922 einigermaßen erträglich gestaltet werden sollte; und schließlich galt es, dem Unwesen der aus den Aufstandstagen übriggebliebenen Freikorpskämpfer ein Ende zu bereiten, die sich als marodierende Soldateska zu einer regelrechten Landplage und Gefahr für die polnischsprachige Bevölkerung Oberschlesiens entwickelt hatten43. Trotz der in Genf mit Polen vereinbarten Übereinkunft trafen die Konsequenzen der Teilung Oberschlesien bereits unmittelbar nach deren Vollzug im Juli 1922 mit voller Wucht. Die ersten tausend von später mehr als 100.000 Emigranten aus Ost-Oberschlesien strömten über die neue Grenze, die nicht nur das alte Industriegebiet in ökonomisch unsinniger Weise zerriss, sondern auch die Verkehrsinfrastruktur zerschnitt. Städte wie Gleiwitz, Beuthen oder Ratibor büßten ihr Hinterland ein; insgesamt gingen Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe ein Absatzmarkt von knapp einer Million Menschen verloren. Hinzu kam eine völlig neue Konkurrenzsituation: Oberschlesische Kohle aus dem polnisch gewordenen Teil stand plötzlich gegen diejenige aus dem deutschgebliebenen Revier, und Agrarprodukte aus Polnisch-Oberschlesien verdrängten zusehends dank der günstigeren Produktionsbedingungen auf dem deutschen Markt die Erzeugnisse der Landwirte auf der deutschen Seite. Zu all diesen Schwierigkeiten gesellte sich bereits unmittelbar nach der endgültigen Errichtung der Provinz, als ob der Probleme nicht bereits genug gewesen wären, der Konflikt mit der alten Provinzialverwaltung der nunmehr verblichenen Provinz Schlesien. Breslau, namentlich 43  Siehe das Schreiben von Reichsinnenminister Köster an die Reichskanzlei vom 22.06.1922; BA Berlin-Lichterfelde; Alte Reichskanzlei, R 43I/364, Bl. 210.

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der amtierende Landeshauptmann Georg von Thaer, konnte es nicht verwinden, die alte provinzielle Einheit Schlesiens aufgelöst zu sehen und selbst fortan nur noch unter dem Begriff „Provinz Niederschlesien“ firmieren zu müssen. Folglich rüstete Niederschlesien zu einem Frontal­ angriff auf das Existenzrecht der kleineren Schwesterprovinz. Argumentiert wurde historisch, politisch und ökonomisch. Geschichtlich gesehen sei die Preisgabe der Einheit Schlesiens widersinnig44, politisch sei sie schlicht falsch, da ja nicht, wie ursprünglich geplant, ganz Oberschlesien eine eigenständige Provinz geworden sei, sondern nur ein amputierter, kaum lebensfähiger Teil, und schließlich sei dieses Gebilde unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einfach nicht finanzierbar. Daher sollte man Oberschlesien nicht alle Rechte einer Provinz zugestehen, sondern lediglich den sozialen Sektor, also die Fürsorge für Behinderte und die Landeswohlfahrtspflege. Alle anderen provinziellen Aufgaben, vor allem die wirtschaftspolitischen, sollten dagegen weiter von einer gemeinsamen Provinzverwaltung in Breslau wahrgenommen werden.45 Entgegen dem Sinn des Provinzialerrichtungsgesetzes von 1922 wäre Oberschlesien dadurch nicht eine preußische Provinz erweiterten, sondern minderen Rechts geworden.46 Die Empörung in Oberschlesien über diese fortgesetzten niederschlesischen Attacken auf seinen Provinzstatus war verständlicherweise groß und heftig. Ulitzka antwortete im März von Thaer in einer offenen Denk44  Die Wortführer der „historischen Argumentation“ übersahen freilich die geschichtliche Tatsache, dass Schlesien in der Vergangenheit schon mehrfach politischen Teilungen und Abtrennungen unterzogen worden war und dass gerade Oberschlesien einen historischen Sonderfall darstellte. Dieser begann mit der Teilung der piastischen Herzogtümer Breslau und Oppeln-Ratibor im 13. Jahrhundert. Sie setzte sich fort im 14. Jahrhundert durch den abebbenden Zustrom deutscher Siedler nach Schlesien, was dazu führte, dass die ausgedehnten Wald- und Sumpfgebiete entlang der oberen Oder, vor allem auf der rechten Oderseite, ganz überwiegend von einer slawischen Bevölkerung besiedelt blieben. Und schließlich stellte der Westfälische Friede von 1648, nach einem kurzen protestantischen Intermezzo, im konfessionellen Zeitalter den ursprünglichen katholischen Charakter Oberschlesiens wieder weitgehend her. Die Friedensregelungen von Münster führten also mehr oder weniger zufällig dazu, dass in Oberschlesien die sprach­ lichen Verhältnisse eng mit den konfessionellen korrespondierten. Diese Faktoren waren es schließlich auch, die zu der bekannten Spezialbehandlung Oberschle­ siens durch die preußische Verwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert geführt hatten. Vgl. u. a. Norbert Conrads, Abriss der Geschichte Schlesiens bis 1945, in: „Wach auf, mein Herz, und denke …“ (Anm. 6), 33–44. 45  Vgl. die Denkschrift von Landeshauptmann G. v. Thaer, Die Provinzen Oberund Niederschlesien, von Anfang 1924; Archiwum Panstwowe w Opolu (Wojewodschaftsarchiv Oppeln; WA Oppeln), Oberpräsidium Oppeln, Nr. 1201, Bl. 125–127, sowie Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 908. 46  Neubach, ebd.



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schrift47; der Oppelner Oberpräsident Alfons Proske nahm die Argumente Ulitzkas für eine vollständige Umsetzung der erweiterten Provinzialautonomie für Oberschlesien in einer für den preußischen Innenminister Carl Severing bestimmten Stellungnahme von Ende Dezember 1924 auf und wies alle niederschlesischen Ansprüche auf eine gemeinsame Provinzialverwaltung in scharfer Form zurück48. Obwohl der Preußische Landtag zwischenzeitlich am 25.  Juli 1923 ein weiteres „Gesetz über die ­endgültige Abgrenzung der Provinzen Nieder- und Oberschlesien“ verabschiedet hatte49, war der Streit im Jahre 1924 eskaliert. Fortan entbrannte ein erbittertes Ringen um nahezu jede größere Provinzialeinrichtung (Landesversicherungsanstalt, Landwirtschaftskammer, Landeskulturkammer, Oberlandesgericht, Landesversicherungsanstalt usw.), das auch das Verhältnis der beiden schlesischen Provinzialverbände des Zentrums untereinander zunehmend vergiftete50. Die Dinge eskalierten soweit, dass der preußische Innenminister Severing persönlich im Konflikt der „feindlichen Schwestern“, der in gegenseitigen „Spionagevorwürfen“ gipfelte, schlichtend eingreifen musste.51 Erst ein weiteres „Provinzialtrennungsgesetz“ vom 28.  Oktober 192652, dessen Umsetzung allerdings bis zum Jahre 1929 dauerte53, schuf, fast ein Jahrzehnt nach dem Provinzialerrichtungsgesetz vom 14.  Oktober 1919, für den Rest der Lebensdauer der Weimarer Republik endgültige Klarheit über die völlige Selbständigkeit der beiden Provinzen Oberund Niederschlesien. Zur Klärung der Verhältnisse beigetragen hatte zweifellos der von Ulitzka geschickt arrangierte offizielle Besuch von Reichspräsident Paul von Hindenburg in Oberschlesien im September 1928, der die junge und umstrittene Provinz nicht nur formal aufwertete, sondern die Symbolfigur der nationalen Rechten auch noch in einem Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen und Wimpeln mit der Republik verband.54

47  Carl Ulitzka, Die Provinzen Ober- und Niederschlesien, in: Oberschlesische Volksstimme v. 25.03.1924 (Nr. 85). 48  Proske an Severing „Betrifft die Auseinandersetzung zwischen den Provinzen Ober- und Niederschlesien“ vom 29.12.1924; WA Oppeln, Oberpräsidium Oppeln, Nr. 1201, Bl. 184–186. 49  Hierzu Webersinn, Provinz (Anm. 1), 299–302. 50  Vgl. Johannes Seipolt, Erinnerungen an die Schlesische Volkszeitung 1869– 1944, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 36 (1978), 205–232. 51  Vgl. Hitze, Ulitzka (Anm. 4), 731–748. 52  Webersinn, Provinz (Anm. 1), 316 f. 53  Vgl. Ostdeutsche Morgenpost v. 11.05.1929 (Nr. 130). 54  Hitze, Ulitzka (Anm. 4), 631–638.

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Anfang 1924 trat Ulitzka von seiner Funktion als amtierender Landeshauptmann der Provinz Oberschlesien zurück.55 Offiziell begründete er diesen Schritt mit dem Hinweis auf seine „geistlichen Dienstpflichten“ sowie seine „Tätigkeit als Vorsitzender der Zentrumspartei von Oberschlesien“, die ihm nicht mehr die erforderliche Zeit für die Ausübung seines Amtes ließen.56 Es ist sicherlich nicht völlig abwegig, den Rücktritt Ulitzkas auch in Zusammenhang mit den gerade in dieser Zeit eskalierenden Auseinandersetzungen mit Niederschlesien zu sehen. Des Weiteren war der mittlerweile zum Breslauer Ehrendomherrn ernannte Rati­ borer Pfarrer ohne Zweifel arbeitsmäßig stark überlastet. Doch in dem ­demonstrativen Akt der für seine Person an sich untypischen „Selbst­ bescheidung“ lag sicherlich auch ein gutes Stück taktisches Kalkül: Je mehr sich Ulitzka aus dem direkten Rampenlicht der Verwaltungsarbeit zurückhielt, desto ungestörter und erfolgreicher konnte er hinter den Kulissen die Fäden ziehen. Und immerhin blieben ihm ja noch in der Provinz die Mitgliedschaft im Provinziallandtag sowie die keineswegs unbedeutenden Ämter des stellvertretenden Landeshauptmanns bzw. des Vorsitzenden des in Personalfragen entscheidenden Provinzialausschusses. Vor dem Rücktritt Ulitzkas als Landeshauptmann lag allerdings noch eine für die Geschichte der Provinz wichtige Entscheidung. Gemeinsam mit dem Ratiborer Oberbürgermeister Hans Piontek hatte Ulitzka im Provinzialausschuß am 19.  Juni 1923 Ratibor mit knapper Mehrheit  – Konkurrenten waren Oppeln und Gleiwitz  – zum Sitz der oberschlesischen Provinzialverwaltung bestimmt.57 Damit verfügte Ober­ schlesien von da an in Gestalt von Oppeln – als Sitz des die Preußische Staatsregierung repräsentierenden Oberpräsidenten  – und von Ratibor als Verwaltungsmittelpunkt über gleich zwei politische Zentren. Dies musste  – die Rheinprovinz war mit Koblenz als Sitz des Oberpräsidiums und Düsseldorf als Sitz der provinziellen Selbstverwaltungsorgane ähnlich aufgestellt  – nicht a priori ein Nachteil sein, führte aber dennoch dazu, dass Oberschlesien Zeit seiner Existenz als preußischer Provinz über keine eigene Hauptstadt verfügte und insofern immer im Schatten Niederschlesiens und seiner Metropole Breslau stand. Doch nicht nur in Standortfragen, auch bei den wichtigen Personalentscheidungen spielten Ulitzka und die oberschlesische Zentrumsführung ihren Einfluss als Repräsentanten der mit Abstand stärksten politischen Kraft der Provinz aus. Dies war durchaus legitim und hatte wenig 55  Siehe das dementsprechende Schreiben Ulitzkas an den preußischen Innenminister Severing vom 25.02.1924; WA Oppeln, Oberpräsidium Oppeln; Bl. 120. 56  Zitate alle ebd. 57  Vgl. Oppelner Nachrichten v. 22.06.1923 (Nr. 140).



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mit einer „Günstlingswirtschaft“58 zu tun, sondern resultierte aus den vorhandenen politischen Mehrheitsverhältnissen und der traditionellen gesellschaftlichen Stellung des Zentrums in Oberschlesien sowie aus der lange Jahre hindurch gemachten Erfahrung, „dass eine Partei schlecht behandelt wird, die in Regierung und Verwaltung ausgeschaltet ist“.59 So setzte das Zentrum im Jahre 1923 den in Marienwerder in Ostpreußen tätigen, aber aus Ratibor stammenden Verwaltungsbeamten Alfons Proske (1881–1950) als ersten ordentlichen Oberpräsidenten der Provinz Oberschlesien durch60; 1924 erfolgte dann die Wahl des Ratiborer Oberbürgermeisters Hans Piontek (1876–1930) in der Nachfolge Ulitzkas zum neuen Landeshauptmann. Obwohl als Oberpräsident in Oppeln residierend, bildete der Ratiborer Proske gemeinsam mit Piontek, Ulitzka und dem neuen Oberbürgermeister von Ratibor, Adolf Kaschny (1881–1951)61, einen Machtzirkel, der eng mit der Eichendorff-Stadt an der oberen Oder verbunden war. Der Volksmund jedenfalls nannte die Provinz Oberschlesien spöttisch auch die Provinz „Propiulka“ (für Proske, Piontek, Ulitzka, Kaschny)62; das klang nicht nur urtümlich oberschlesisch, sondern machte auch deutlich, dass diese Männer die Provinz Oberschlesien geradezu verkörperten und sie gleich dem „König mit seinen Herzögen“63 regierten. Die „Innenpolitik“ der Provinz Anders als viele seiner Parteifreunde im Zentrum entwickelte Carl Ulitzka eine unverkrampfte positive Grundeinstellung zu Demokratie und Republik. Als Mitwirkender an der Weimarer Reichsverfassung bekannte er sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck der politischen Verhält58  Diesen Vorwurf hatte die deutschnationale Kölnische Zeitung im Jahre 1926 erhoben; vgl. die Erwiderung von Franz Ehrhardt in der Kölnischen Volkszeitung v. 21.12.1926 (Nr. 939). 59  Ulrich von Hehl, Staatsverständnis und Strategie des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik, in: Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik  – Wirtschaft  – Gesellschaft, hrsg. v. Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/HansAdolf Jacobsen, Bonn 21988, 238–254; Zitat 245. 60  Webersinn, Provinz (Anm. 1), 302–304. 61  Zu Kaschny, im Umfeld des Kreisauer Kreises nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 verhaftet und 1947 bis 1951 für die CDU als Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen tätig, Guido Hitze, Adolf Kaschny (1881–1951), in: Schlesische Lebensbilder IX, hrsg. v. Joachim Bahlcke, Insingen 2007, 351–360. 62  So die Angabe von Herbert Hupka in ders., Carl Ulitzka. Vortragsmanuskript der Gedenkstunde zum 100.  Geburtstag von Prälat Carl Ulitzka am 24.09.1973, Bonn, Konrad-Adenauer-Haus; 13. 63  So Hupka ebd.

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nisse in Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg, vorbehaltlos zur parlamentarischen Demokratie und zu den neuen Reichsfarben Schwarz-RotGold. Als 1924 der von der SPD dominierte (und pikanterweise von Ulitzkas altem Intimfeind Otto Hörsing geführte) republikanische Schutzbund „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ gegründet wurde64, gehörte der Zentrumspolitiker schon bald zu den Mitgliedern65. Überhaupt fand er ein sachliches und weitgehend unkompliziertes Verhältnis zur Sozialdemokratie und zählte mit dieser Einstellung unter den im Zen­ trum politisch aktiven katholischen Geistlichen zweifellos zu den „seltenen Ausnahmen“66. Ulitzka, geprägt von der traditionellen sozialen Not seiner oberschlesischen Heimat, ergriff immer wieder Partei für die sozial Schwachen und gegen die Besitzenden. In solchen Momenten entwickelte er sich zum Volksredner mit geradezu klassenkämpferischen Zügen. Zur Lage der oberschlesischen Landwirtschaft führte er 1928 beispielsweise aus: „Die großen Flächen sind in Händen weniger Magnaten; Latifundien von mehr als 100.000 Morgen Größe sind vorhanden. Neben diesen großen Gebäudekomplexen liegen kümmerliche Zwergwirtschaften, neben großen prächtigen Herrenhäusern stehen ärmliche Hütten. Diese unsozialen Zustände schreien nach Abhilfe durch aufrichtige, nachhaltige und vernünftige Siedlung.“67 Ebenfalls 1928 äußerte er sich in Cosel zur oberschlesischen Wirtschaft folgendermaßen: „Auch die Wirtschaft hat soziale Verpflichtungen.[…] Die Wirtschaft ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Sie hat dem Menschen und der Nation zu dienen. […] Soziale Sünden sind in Oberschlesien begangen worden, wie kaum in einem anderen Gebiete des Deutschen Reiches. Man denke nur an die Löhne und menschenunwürdigen Wohnungsverhältnisse, die man der oberschlesischen Arbeiterschaft zugemutet hat. Von den nicht zuletzt durch den Schweiß der Arbeiter geförderten Millionen ist ein beschämend geringer Teil für das oberschlesische Volk verwendet worden.“68

64  Siehe hierzu Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold, Düsseldorf 1966. 65  Ulitzka hatte bereits im Jahre 1924 für eine Publikation des „Reichsbanners“ einen programmatischen und prorepublikanischen Artikel über das Verhältnis von Katholischer Kirche und republikanischer Staatsform geschrieben; Carl Ulitzka, Die Kirche in der Republik, in: Fünf Jahre Deutsche Reichsverfassung. Herausgegeben im Auftrage des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold von Dr. R. Mund und W. Kindermann, Jena o. J. (1924). 66  So Rohe, Reichsbanner (Anm. 64), 289. 67  Siehe Carl Ulitzka, Ostfragen, in: Politisches Jahrbuch 1927/28, hrsg. v. Georg Schreiber, Mönchengladbach 1928, 177–188; Zitat 181. 68  Zitiert nach Coseler Zeitung v. 20.01.1928 (Nr. 16).



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211

Dem prompt erhobenen Vorwurf seiner Gegner, marxistisches Gedankengut zu vertreten, begegnete Ulitzka im Jahre 1931 in einer Rede in Beuthen: „Aber hinter dem Schlagwort ‚Kampf gegen den Marxismus‘ steht […] die soziale Reaktion, die Entrechtung und Versklavung des Arbeiters und die Wiederaufrichtung des Herrentums. Wir würden aufhören, Zentrum zu sein, wenn wir dazu unsere Hand bieten wollten. Wenn man all diese Ziele darunter meint, die wir bekämpfen, dann wollen wir uns ruhig als Marxisten beschimpfen lassen. Denn wir sind sozial, oder wir hören auf Zentrum zu sein, wir hören auf Christen zu sein.“69 Es unterliegt keinem Zweifel, dass die oberschlesische Zentrumspartei – und damit automatisch auch die politische Ausrichtung der Provinz Oberschlesien – durch das Gewicht ihres Vorsitzenden Ulitzka und ihres Generalsekretärs Ehrhardt in der Zeit der Weimarer Republik eindeutig prorepublikanisch und demokratisch orientiert war. Damit unterschied sich die KVP nicht nur von ihrer Schwesterpartei in Niederschlesien, die erst nach einem gewissen Schlingerkurs unter Führung ihres Vorsitzenden Felix Porsch zu einer unmissverständlichen Bejahung der demokratisch-republikanischen Grundordnung Weimars gefunden hatte, sondern nahm mit dieser über jede Fehldeutung erhabenen Haltung auch eine Ausnahmestellung innerhalb des Reichsverbandes des Zentrums ein. So galt die oberschlesische Parteisektion in völliger Umkehrung der Situation vor 1914 als „linker“ Exponent der Gesamtpartei. Trotzdem bildete das oberschlesische Zentrum keinen monolithischen Block. Gegen die „linke“ politische Ausrichtung ihres Provinzialverbandes entstand bereits in den frühen zwanziger Jahren um die Adeligen Nikolaus Graf Ballestrem70 und Hans Graf Praschma71 eine dezidiert ­ rechtskatholisch orientierte innerparteiliche Opposition der von Ulitzka und Ehrhardt an den Rand gedrängten ehemaligen Parteieliten. Diese haben bis zu Hitlers Machtübernahme zunächst subversiv, später dann zunehmend offen den Kurs und die Person des Parteivorsitzenden bekämpft sowie bei der Planung der Beseitigung des demokratisch-parlamentarischen Systems von Weimar reaktionären Exzentrikern wie Franz von Papen bereitwillig politische Foren geboten und schließlich auch aktiv an der Umsetzung derartiger Pläne mitgewirkt.72

69  Zitiert

nach Oberschlesische Volksstimme v. 13.11.1931. Hitze, Nikolaus von Ballestrem (1900–1945), in: Schlesische Lebensbilder XI, hrsg. v. Joachim Bahlcke, Insingen 2012, 531–547. 71  Guido Hitze, Hans Graf Praschma (1867–1935), in: Schlesische Lebensbilder XII, hrsg. v. Joachim Bahlcke, Würzburg 2017, 223–235. 72  Vgl. Hitze, Ulitzka (Anm. 4), 748–769. 70  Guido

212

Guido Hitze

Trotz der zunächst eher verdeckten Anfeindungen im eigenen Lager und seiner ständigen heftigen Fehden mit den Rechtsparteien, insbesondere der DNVP, verfügte Ulitzka innerhalb der oberschlesischen Öffentlichkeit über eine außergewöhnliche Popularität. Seine Rolle als einer der maßgebenden deutschen Vertreter im Abstimmungskampf, seine Verdienste um eine größere Selbstbestimmung Oberschlesiens und sein Anteil an der unter Oberpräsident Proske und Landeshauptmann Piontek langsam aber spürbar einsetzenden Verbesserung der allgemeinen Situation in Oberschlesien, vor allem bei der Integration der ostoberschlesischen Optanten73, in Verkehrsfragen und auf kulturellem Sektor, untermauerten seinen Ruf, noch vor den anderen „Provinzbaumeistern“74 Pros­ke und Piontek der eigentliche „Vater der Provinz“ zu sein. Seine unangefochtene Machtstellung innerhalb der Zentrumspartei sowie seine Beliebtheit in der Bevölkerung ermöglichten es Ulitzka immer wieder, überraschende und für die Entwicklung der Provinz bedeutsame Personalentscheidungen zu treffen und durchzusetzen bzw. qualifizierte Fachleute und vielversprechende politische Talente  – heute würde man von „Seiteneinsteigern“ sprechen  – aus dem bürgerlichen Leben heraus in die Politik zu holen und an das Zentrum zu binden. Herausragende Beispiele hierfür sind der volksnahe, sozial engagierte und populäre Landrat von Oppeln und spätere Landtagsabgeordnete Michael Graf von Matuschka (1888–1944)75 sowie die Berufung des jungen, zuvor völlig unbekannten Landwirts Emil Franzke (1895–1984)76 zum ersten Präsidenten der 1927 neu errichteten und Niederschlesien erst nach erbittertem Streit abgerungenen Landwirtschaftskammer Oberschlesien. Im Jahre 1929 gelang es Ulitzka, für April nach Breslau zu einem Sonderparteitag des Zentrums einzuladen, der sich ausschließlich mit ostdeutschen Fragen und Problemen beschäftigen sollte.77 Trotz eines über73  Bei den sog. „Optanten“ handelte es sich um von Polen in restriktiver Auslegung der Genfer Konvention ausgewiesene bzw. zur Ausreise gedrängte deutschsprachige Oberschlesier, die bei der Volksabstimmung 1921 für Deutschland optiert hatten; vgl. hierzu u. a. Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 21993, 305. 74  So die Bezeichnung der Oberschlesischen Zeitung v. 03.02.1930 (Nr. 33) für Hans Piontek in ihrem Nachruf auf den soeben verstorbenen Landeshauptmann. 75  Zu dem vom Volksgerichtshof wegen seiner Beteiligung an der Verschwörung des 20.  Juli 1944 zum Tode verurteilten Grafen Matuschka siehe Hans-Ludwig Abmeier, Michael Graf von Matuschka, hingerichtet 1944, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 30 (1972), 124–156. 76  Zu Franzke Guido Hitze, Emil Franzke (1895–1984), Präsident der Landwirtschaftskammer Oberschlesien, in: Oberschlesisches Jahrbuch 11 (1995), 187–227. 77  Zur Vorbereitung des „Ostparteitages“ 1929 siehe Germania v. 22.01.1929 (Nr. 38) und v. 11.02.1929 (Nr. 70).



Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933

213

raschend schnellen wirtschaftlichen Aufschwungs in der Provinz Oberschlesien nach der Teilung 1922 hinterließen die Folgen des Krieges und der Nachkriegsordnung drückende Probleme, welche die allgemein schon nicht gute ökonomische Lage in Oberschlesien, aber auch in den anderen betroffenen Ostprovinzen noch verschärfte. Hierfür waren unübersehbare Indikatoren: die Wohnungsnot, die infolge des erst nach endgültiger Klärung des Status von Oberschlesien 1922 einsetzenden staatlichen Wohnungsbaues sowie zahlreicher Umsiedler (Optanten und „spontane“ Flüchtlinge) aus dem abgetretenen Gebiet vorherrschte, sodann eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit als Konsequenz der Absatzkrise der oberschlesischen Kohle, die Notlage der Landwirtschaft, die hohe Säuglingssterblichkeit (die höchste im ganzen Reich) sowie der unterdurchschnittliche Lebensstandard in der Provinz. Obwohl sich die Lage zum Ende der 1920er Jahre hin allmählich zu bessern schien und die oberschlesische Provinzialverwaltung in Anbetracht der ihr zur Verfügung stehenden bescheidenen Mittel und Zeitvorgaben in der Tat Erstaunliches geleistet hatte – so war etwa die Prokopfverschuldung der Provinz Oberschlesien die niedrigste aller preußischen Provinzen!78  – bestand immer noch dringender Handlungsbedarf, dem nun, übrigens auch im ausdrücklichen Interesse Niederschlesiens, auf dem „Ostparteitag“ des Zentrums Rechnung getragen werden sollte. Doch alle auf diesem besonderen Parteikongress ausgearbeiteten wohlgemeinten Ratschläge und Hinweise erwiesen sich bereits spätestens am Ende desselben Jahres als bloße Makulatur. Der „Schwarze Freitag“ in New York im Oktober 1929 hatte die schon längere Zeit kriselnde ­Weltwirtschaft endgültig ins Chaos gestürzt und eine weltweite Rezes­ sion bisher nicht gekannten Ausmaßes ausgelöst, deren Auswirkungen Deutschland und damit auch die Provinz Oberschlesien besonders hart treffen sollten. Die Minderheitenfrage Angesichts der durch die Genfer Konvention von 1922 vorgegebenen Realitäten bildete die Minderheitenfrage einen wesentlichen Bestandteil der Innenpolitik der Provinz. Sie war fest eingebettet in die allgemeine Entwicklung Deutsch-Oberschlesiens; in einem wirtschaftlich gesunden, sozial gerechten, kulturell im Sinne einer Akzeptanz ethnisch-polnischen Volkstums liberalen Oberschlesien sollte die Anziehungskraft auf die polnischsprachigen Oberschlesier jenseits der künstlichen Grenze mit 78  Angabe

nach Webersinn, Provinz (Anm. 1), S. 318.

214

Guido Hitze

der Zeit so groß werden, dass sie von sich aus gegenüber Warschau die Wiedervereinigung Oberschlesiens innerhalb des Deutschen Reiches fordern würden: „Neben den diplomatischen Bemühungen“, schrieb Carl Ulitzka 1926 über die offen revisionistische Seite seiner Minderheiten­ politik, „muss eine kluge, zielbewusste Einwirkung auf die Stimmung der in Betracht kommenden Bevölkerung den Revisionsgedanken fördern. Letzteres wiederum wird am wirksamsten dadurch erreicht, dass ein Vergleich zwischen den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen in deutschgebliebenen Gebieten und zwischen denen in den losgetrennten Landesteilen zugunsten Deutschlands ausschlägt.“79 Der Provinz Oberschlesien kam unter diesen Voraussetzungen konkret die Bedeutung eines politischen „Magneten“80 zu. Für die Umsetzung dieser „Magnettheorie“81 bedurfte es aber der peinlich genauen Befolgung der im Genfer Abkommen garantierten Minderheitenrechte. Ulitzka war sich daher nie zu schade, die Belange der aktiven polnischen Minderheit, wo sie gefährdet schienen, politisch zu verteidigen.82 Tatsächlich war dieser Kurs83 im Innern soweit erfolgreich, dass – von einzelnen Übergriffen von privater Seite bzw. untergeordneten

79  So

Ulitzka, Ostfragen 1926 (Anm. 67), 111. wir das uns verbliebene Gebiet erhalten und das uns entrissene zurückgewinnen, nicht durch Waffengewalt, sondern auf friedlichem Wege, dann müssen […] Ober- und Niederschlesien Bollwerke wirtschaftlicher und kultureller Art werden und einen Magnet bilden für das uns entrissene Land“; so Ulitzka, Deutscher Osten (Anm. 18), 151. 81  Dass es sich bei der „Magnettheorie“ um keine Einzelidee Ulitzkas handelte, sondern um ein offizielles regierungsamtliches Programm für die Provinz Oberschlesien, belegt das bereits einmal erwähnte Schreiben von Oberpräsident Proske an den preußischen Innenminister Severing über die Auseinandersetzung der Provinzen Ober- und Niederschlesien vom 29.12.1924; WA Oppeln, Oberpräsidium Oppeln, Nr. 1201, Bl. 184–203, wo ebenfalls von der Provinz Oberschlesien in Zusammenhang mit der Funktion eines politischen „Magneten“ die Rede ist. 82  Beispielsweise schrieb Ulitzka 1926 über die Minderheitsschulproblematik: „Um [die] deutsche Minderheitsschule zu sichern und sie auch moralisch zu erzwingen, ist die preußische Regierung in Oberschlesien aufs peinlichste darauf bedacht, den Wünschen der polnischen Bevölkerung nach ihrer Minderheitsschule getreu den Bestimmungen des Genfer Abkommens zu entsprechen.“ Ulitzka, Ostfragen 1926 (Anm. 67), S. 112. 83  Zur Minderheitenpolitik in der preußischen Provinz Oberschlesien siehe auch den Aufsatz von Alfons Proske: Der Minderheitenschutz in Oberschlesien, in: Festschrift (Anm. 12), 16–18. Die Einhaltung der Minderheitenschutzbestimmungen wurde im Übrigen von der Preußischen Staatsregierung, insbesondere von Innenminister Severing, streng überwacht, wie zahlreiche Aktenvorgänge im Geheimen Preußischen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem ausweisen; GStA-PK, I. HA. Rep. 77, Tit. 856. 80  „Wollen



Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933

215

öffentlichen Stellen abgesehen84 – die polnische Minderheit in Westoberschlesien kaum Grund zu berechtigter Klage hatte85. Ganz im Sinne einer der Genfer Konvention entsprechenden Minderheitenpolitik standen der polnischen Minderheit neben den Minderheitsschulen auch besondere pädagogisch-kulturelle Angebote wie außerschulische polnische Sprachkurse, polnischer Religionsunterricht oder Polnisch im muttersprachlichen Unterricht an öffentlichen deutschen Schulen zur Verfügung, wurden aber im Laufe der Jahre von immer weniger Interessenten angenommen.86 Parallel hierzu sank auch der Anteil der bei den Reichstags-, Landtags- und Provinziallandtagswahlen abgegebenen Stimmen für die Polnische Volkspartei bis zum Jahre 1932 kontinuierlich, bis er nur noch einen Stimmenanteil von ein bis zwei Prozent ausmachte und die PVP auf den Status einer politischen Splittergruppe herabgesunken war.87 Dieser Prozess der allmählichen (Wieder-)Heranführung der „national indifferenten“ Bevölkerungskreise an Deutschland war keineswegs das Ergebnis deutscher Gewalt- und Unterdrückungspolitik, sondern beruhte auf der Vorstellung, die polnischen Oberschlesier mit der Zeit unter Wahrung ihrer ethnischen Identität zu loyalen deutschen Staatsbürgern machen zu können, analog etwa zu den Lausitzer Sorben. Der gesamte Komplex der Minderheitenpolitik zeigt jedenfalls, wie sehr beide Teile Oberschlesiens im überaus widersprüchlichen und komplizierten Geflecht der deutsch-polnischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit nach wie vor eine thematische und auch ideelle Einheit bildeten.88 84  Zu den organisierten Übergriffen völkischer und deutschnationaler Extremisten auf polnische Kulturveranstaltungen in Beuthen bzw. Oppeln in den Jahren 1928 und 1929 Michal Lis, Die polnische Minderheit im deutschen Teil Oberschlesiens, in: „Wach auf, mein Herz, und denke …“ (Anm. 6), 261–270, hier 263. 85  Diesen Umstand musste selbst der in kommunistischer Zeit stark national argumentierende polnische Historiker Jozef Kokot einräumen, vgl. Jozef Kokot, Der Schutz der nationalen Minderheiten auf Grund des deutsch-polnischen Genfer Abkommens über Oberschlesien in den Jahren 1922–1937, Opole (Oppeln) 1970. Nach den ebd. S. 37–41 vorgelegten statistischen Angaben gab es zwischen 1922 und 1937 (vier Jahre NS-Diktatur inbegriffen!) insgesamt etwa 1.650 Bittschriften und Beschwerden der polnischen (und jüdischen!) Minderheit in Deutsch-Oberschlesien bei der Gemischten Kommission für Oberschlesien unter ihrem Präsidenten, dem Schweizer Alt-Bundespräsidenten Felix Calonder. Demgegenüber standen im gleichen Zeitraum, freilich unter ganz anderen politischen Bedingungen, genau 12.226 Bittschriften und Beschwerden der deutschen Minderheit in Polnisch-Oberschlesien. 86  Vgl. Lis, Polnische Minderheit (Anm. 84), 267. 87  Vgl. ebd. S. 269 sowie Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 916. 88  In vergleichender Perspektive auch Guido Hitze, Die Minderheiten in Oberschlesien 1922–1939, in: Via Silesia 2000/2001, 115–141.

216

Guido Hitze

Provinz und Zentrumspartei in der Krise Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise Ende 1929 markiert zugleich einen für die Zeitgenossen kaum wahrnehmbaren, in der historischen Rückschau gleichwohl deutlich sichtbaren Wendepunkt in der Geschichte der Provinz Oberschlesien. Just nachdem der Aufbau der Provinz im Jahre 1929 im Wesentlichen als abgeschlossen gelten konnte und die dunklen Schatten der Rezession noch nicht über der Zukunft Oberschlesiens lagen, fand ein bedeutender Personalwechsel auf dem Posten des Oberpräsidenten statt. Der bisherige Amtsinhaber Alfons Proske wechselte in das Kuratorium der Universität Bonn, so dass recht plötzlich ein geeigneter Nachfolger gesucht werden musste. Diese Aufgabe fiel angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse quasi automatisch wieder dem Zentrum zu. Noch einmal konnte sich der Parteivorsitzende Ulitzka in einer wichtigen Personalfrage ohne größeren Widerstand durchsetzen. Er schlug zum Nachfolger den bisherigen Oberbürgermeister der Stadt Hindenburg und ehemaligen Landrat von Rybnik sowie in der Abstimmungszeit einflussreichen Vorsitzenden des „Schlesischen Ausschusses“ in Breslau, Hans Lukaschek (1885–1960)89, vor. Der oberschlesische Provinzialausschuss folgte der Empfehlung seines Vorsitzenden, so dass Lukaschek im April 1929 in Oppeln als neuer Oberpräsident der Provinz Oberschlesien in sein Amt eingeführt werden konnte.90 Anders sah die Situation aber bereits im Jahr darauf aus. Nachdem am 2. Februar 1930 Landeshauptmann Hans Piontek einem Krebsleiden erlegen war, entbrannte innerhalb des oberschlesischen Zentrums eine offene Personaldiskussion bisher nicht gekannten Ausmaßes. Nur unter Aufbietung seiner ganzen Autorität gelang es dem Parteivorsitzenden Ulitzka, am Ende seinen Wunschkandidaten, den aus dem Kreis GroßStrehlitz stammenden Rechtsanwalt Teophil Woschek (1888–1952)91, als Nachfolger des beliebten Piontek durchzusetzen. Neben Woschek hatten 89  Zu Hans Lukaschek, führendes Mitglied im Kreisauer Kreis und 1949–1953 für die CDU erster Bundesminister für Vertriebene unter Bundeskanzler Konrad Adenauer, siehe u. a. Paulus van Husen, Hans Lukaschek 1885–1960, in: Große Deutsche aus Schlesien, hrsg. v. Herbert Hupka, München/Wien 31985, 297–305 sowie Guido Hitze, Hans Lukaschek (1885–1960), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern Bd. 11. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher, Münster 2004, 143–159 u. 339 f. 90  Hierzu auch Hans-Ludwig Abmeier, Hans Lukascheks programmatische Antrittsrede als Oberpräsident der Provinz Oberschlesien (1929), in: Oberschlesisches Jahrbuch 11 (1995), 137–148, sowie Webersinn, Provinz (Anm. 1), 325–327 und Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 910. 91  Zu Woschek Hans-Ludwig Abmeier, Theophil Woschek, Landeshauptmann von Oberschlesien, in: Oberschlesisches Jahrbuch 1 (1985), 84–117.



Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933

217

aus den Reihen des Zentrums auch der Oppelner Landrat Michael Graf Matuschka, der Gleiwitzer Oberbürgermeister Georg Geisler sowie der Landesrat und Reichstagsabgeordnete Franz Ehrhardt ihr Interesse am Amt des Landeshauptmanns angemeldet.92 Geisler und Ehrhardt fühlten sich durch die Protektion Ulitzkas für Woschek persönlich angegriffen und zurückgesetzt, wobei Geisler infolgedessen sogar alle Provinzialämter aufgab und unter Protest aus der oberschlesischen Zentrumspartei austrat.93 Die Quittung für die Querelen im Innern erhielten die Partei und ihr Vorsitzender bei der vorgezogenen Reichstagswahl vom 14. September 1930, die den Nationalsozialisten auf Reichsebene in diesen „Erbitterungswahlen“94 mit insgesamt 107 Sitzen zu einem durchschlagenden Erfolg verhalfen. In Oberschlesien stach jedoch nicht so sehr der hier noch eher gebremste Anstieg der NSDAP auf 9,5 Prozent der Stimmen hervor als vielmehr der erdrutschartige Verlust des Zentrums, das gegenüber den Wahlen von 1928 ganze 4,8 Prozent einbüßte und im „katholischen Oberschlesien“ auf nur noch 35,2 Prozent Stimmenanteil kam.95 Die überdurchschnittlichen Verluste im Wahlkreis Oppeln  – die Zen­ trumspartei hatte auf Reichsebene lediglich 0,3 Prozent eingebüßt  – konnte das oberschlesische Zentrum keineswegs allein auf die sich allgemein im Zuge der Weltwirtschaftskrise verschlechternde Lage und das beginnende politische Chaos in Deutschland zurückführen, es musste vielmehr ganz provinzspezifische Ursachen für dieses Debakel geben: eine gewisse Arroganz der Macht, eine allgemeine Abnutzung sowie eine kaum noch zu übersehende Ämterpatronage. Jedenfalls hatte der 14. September 1930 mit brutaler Deutlichkeit gezeigt, dass das Zentrum gerade in seiner Domäne Oberschlesien den engen Kontakt mit weiten Teilen der Bevölkerung verloren hatte und dass Katholizität und Pfarrer als Spitzenkandidaten allein nicht mehr ausreichten, die Partei über das bei etwa einem Drittel der Gesamtbevölkerung liegende Stammwähler­ potential des Zentrums hinaus erfolgreich integrativ wirken zu lassen.

92  Vgl. Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 915. Ferner auch Abmeier, Woschek (Anm. 91), 92–94. 93  Erklärung von Oberbürgermeister Dr. Geisler betr. „Niederlegung der Provinzialehrenämter und Austritt aus der oberschlesischen Zentrumspartei sowie aus der Ortsgruppe Gleiwitz“ vom 29.03.1930; Bundesarchiv Koblenz, Kl. Erwerbungen Nr. 461/6, Bl. 82–94. 94  So die liberale Frankfurter Zeitung in ihrer Ausgabe vom 15.09.1930; zitiert bei Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982, 328. 95  Angaben nach Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, 72.

218

Guido Hitze

Diese Defizite vor Augen, verfasste der seit 1927 amtierende Generalsekretär der KVP, Dr. Schmidt aus Ratibor, Ende 1930 eine interne „Denkschrift über Stand und Entwicklungsmöglichkeiten der Oberschlesischen Zentrumspartei“96, in der schonungslos der Niedergang der Partei beschrieben, die Gründe hierfür analysiert und eine umfassende Modernisierung des Parteiapparates dringend angemahnt wurde. Doch der sich bereits abzeichnende Untergang der Weimarer Republik, die große ökonomische und soziale Not der frühen 1930er Jahre und schließlich der Triumph der totalitären NS-Diktatur haben dem oberschlesischen Zentrum keine Gelegenheit mehr gelassen, aus der Denkschrift ihres Generalsekretärs die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Der These Helmut Neubachs, Oberschlesien sei „seit dem Kulturkampf“ bis zur Machtübernahme Adolf Hitlers eine „Hochburg des Zentrums“ geblieben97, kann daher so nicht zugestimmt werden. Zwar ist es durchaus richtig, dass sich Oberschlesien, wie auch andere überwiegend katholische Gebiete in Deutschland, als resistenter gegenüber dem Natio­ nalsozialismus erwies als überwiegend protestantische Regionen, doch waren die 34–35 Prozent Zentrumsstimmen in einem zu fast 90 Prozent katholischen Land so ziemlich der „harte Kern“, das absolute Minimum, das die Partei unter regulären Bedingungen einfach erzielen musste. Wenn sich das Zentrum in Oberschlesien unter Ulitzkas Führung schnell einen Namen als ausgewiesen demokratische und republikanische sowie dezidiert sozialpolitisch aktive Partei gemacht hatte, so geschah dies stets vor dem Hintergrund der konkreten oberschlesischen Gegebenheiten. Ganz ähnlich verhält es sich mit der vom Zentrum betriebenen Kulturpolitik, auch wenn auf diesem Feld ausgesprochen konservative Überzeugungen sichtbar werden. In Fragen der Kultur- und Schulpolitik meinte das Zentrum, die „katholische Lebensauffassung“ der Mehrheit der Oberschlesier zu vertreten und ihren vorgeblichen Wunsch nach einer annähernden Wiederherstellung der „alten“ Verhältnisse, wie sie vor dem Kulturkampf geherrscht hatten, zu erfüllen. Doch die realen Wahlergebnisse der 1920er und 30er Jahre auf Provinzebene wie auch bei den Reichstags- und Landtagswahlen sprechen eine andere Sprache:

96  Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) der Konrad-AdenauerStiftung, Sankt Augustin, Best. VI-051, Nr. A 001. 97  So Helmut Neubach, Die Reichstagswahl vom 6. November 1932 und die Vertreter Oberschlesiens im 7. Reichstag, in: Oberschlesisches Jahrbuch 2 (1986), 94– 107, hier 97.



Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933

219

Wahlen in der Provinz Oberschlesien 1919–1933 Deutsche Nationalversammlung 1919 Z

SPD

USPD

DNVP

DDP

WBT

48,8

32,7

4,9

7,2

6,8

58,7

RTW 19.11.1922 Z

SPD

KPD

DNVP

Polen (PKVP)

DVP

WBT

40,1

14,8

7,3

13,8

10,1

7,1

69,3

RTW 04.05.1924 (Ergebnisse nach der Nachwahl im WK Oppeln vom 21.09.1924) Z

SPD

KPD

DNVP

PKVP

DVFP*

DVP

DDP

DeutschSozialen

WBT

35,0

4,6

22,9

18,3

8,7

3,3

3,2

2,0

2,0

79,1

* Deutsch-Völkische Freiheitspartei (Nationalsozialisten) RTW 07.12.1924 Z

SPD

KPD

DNVP

DVP

DDP

PKVP

Nationalsozialisten

WBT

41,0

6,8

12,2

21,8

2,8

2,2

7,8

1,5

69,9

RTW 20.05.1928 Z

SPD

KPD

DNVP

DVP

DDP

NSDAP

PKVP

WBT

40,0

12,6

12,7

17,0

2,7

1,6

1,0

5,7

70,2

RTW 14.09.1930 Z

SPD

KPD

DNVP

DVP

DStP

NSDAP

PKVP

35,2

9,3

16,6

15,3

1,4

1,1

9,5

5,5

RTW 31.07.1932 Z

SPD

KPD

DNVP

DVP

DStP

NSDAP

PKVP

34,7

8,7

17,0

6,9

0,3

0,2

29,2

2,1

220

Guido Hitze RTW 06.11.1932 Z

SPD

KPD

DNVP

DStP

DVP

NSDAP

PKVP

35,9

9,1

16,9

8,0

0,2

0,4

26,8

1,8

RTW 05.03.1933 Z

SPD

KPD

DVP

DStP

KSWR (DNVP)

NSDAP

32,3

6,9

9,2

0,3

0,4

7,5

43,2

WBT

10,0

4,5

69,3

1,5

7,8

1,0

69,8

2,7

1,6

1,0

6,1

5,8

70,1

7,5



0,5

30,4

4,0

2,1

78,7

7,1



13,8

7,1

21,7

2,8



16,9

7,5



WBT

Sonstige

35,6



2,3

Sonstige

24.04.1932

PKVP*

12,5

2,4

PKVP*

39,9

NSDAP

20.05.1928

65,3

NSDAP



DDP/DStAP



6,7



DDP/DStAP

14,8

40,9



DVP

40,2

07.12.1924



DVP

19.11.1922

5,3

DNVP

6,1

DNVP

USPD/KPD

28,5

USPD/KPD

SPD

49,3

SPD

Z 26.01.1919

Z

Preußische Landtagswahlen 1919–1933

Oberschlesischer Provinziallandtag 19.11.1922 Z

DNVP/ DVP

SPD

KPD

DDP

PKVP

40,4

25,0

13,4

7,7

1,9

9,6

Oberschlesischer Provinziallandtag 29.11.1925 Z

Block SchwarzWeiß-Rot

SPD

KPD

DDP

PKVP

Sonstige

48,2

20,9

8,4

8,3

2,3

7,2

4,5



Das unbekannte Oberschlesien 1919–1933

221

Oberschlesischer Provinziallandtag 17.11.1929 Z

SPD

KPD

DNVP

PKVP

NSDAP

Sonstige

42,2

12,1

8,9

17,3

5,7

2,4

11,4

Reichspräsidentschaftswahl 1925 1. Wahlgang vom 29.03.1925 Marx

Braun

Jarres

Thälmann

Hellpach

Ludendorff

Held

WBT

46,6

9,8

30,6

9,6

1,9

1,0

0,4

60,6

Reichspräsidentschaftswahl 1925 2. Wahlgang vom 26.04.1925 Marx

Hindenburg

Thälmann

WBT

51,9

39,8

8,2

71,8

Reichspräsidentschaftswahl 1932 Hindenburg

Thälmann

Hitler

57,9

11,4

30,7

Anfeindungen von links und rechts, eine latente Unzufriedenheit mit dem (kultur-)politischen Klima in der Provinz, Trägheit, Karrieristentum, ein nicht gerade unterentwickelter Personenkult um den Parteivorsitzenden sowie lange verdrängte Probleme in der Parteistruktur trugen also das Ihre dazu bei, dass Oberschlesien in der Weimarer Republik keineswegs zu einer so großen „Hochburg“ der Zentrumspartei avancierte, wie das unter den außergewöhnlich günstigen regionalen Rahmenbedingungen möglich gewesen wäre. Ein Stimmenanteil zwischen 40 und 45 Prozent der Wähler katapultierte die Provinz im internen Zentrums-Ranking bei überregionalen Urnengängen zunächst zwar regelmäßig in die Spitzengruppe aller Wahlkreise und löste in der Parteipresse satte Selbstzufriedenheit aus, gemessen an den demographischen Möglichkeiten der Partei in Oberschlesien jedoch mussten diese Ergebnisse eigentlich Grund zum Nachdenken sein. Zugegeben, das Zentrum sah sich gerade in diesem Grenzland einer starken Konkurrenz ausgesetzt: Die DNVP warb, mit wechselndem Erfolg, um die Stimmen der protestantischen Minorität sowie der „national“ eingestellten Katholiken, die Polnische Volkspartei buhlte um die Gunst der schwankenden polnischsprachigen Bevölkerung und der KPD gelangen tiefe Einbrüche in die seit der Novemberrevolution 1918 erheb-

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lich radikalisierte Arbeiterschaft des Industriegebietes. Zwar erreichte das Zentrum im Laufe der Zeit dank seiner liberalen Minderheitenpolitik und der lautstark proklamierten Losung „Oberschlesien den Oberschlesiern“ einen Rückgewinn vieler polnischer Stimmen, wodurch die Polnische Liste bis an den Rand der politischen Bedeutungslosigkeit herabgedrückt wurde, doch die einmal an die anderen deutschen Parteien verlorenen Wähler vermochte es nur schwer wieder an sich zu binden und blieb auf Provinzebene auf die Kooperation mit den in Oberschle­ sien traditionell schwachen Sozialdemokraten und Linksliberalen angewiesen. Das oberschlesische Zentrum verfügte über eine treue Stammwählerschaft von etwa 35 Prozent; jeder Prozentpunkt darüber resultierte aus Wechselwählern und war abhängig von der in Oberschlesien traditionell relativ schwachen Wahlbeteiligung. Je höher diese allerdings war, desto niedriger fiel das Ergebnis des Zentrums aus, was die Schwierigkeiten der Partei sichtbar macht, in neue Wählerschichten vorzudringen bzw. ­alte zurückzuerobern. Der Hauptgrund für diesen Befund lag indes nicht so sehr in den zweifellos oft großen tagespolitischen Problemen, einer sich stetig radikalisierenden Propaganda von deutschnationaler und kommunistischer Seite und der Abhängigkeit von gesamtgesellschaftlichen Stimmungsschwankungen, sondern vielmehr in den unterschätzten sozioökonomischen Modernisierungsprozessen, die sich, angestoßen im Kaiserreich, auch und gerade unter den Bedingungen der Republik unaufhaltsam weiterentwickelten. Das Ergebnis waren starke Säkularisierungstendenzen, die in Oberschlesien lange Zeit allerdings weniger auffällig waren, weil sich hier – vor allem auf dem Lande – vormoderne Lebensformen weit stärker behaupten konnten als andernorts. In einer nun auch in Oberschlesien zunehmend verweltlichten Gesellschaft vermochte der Katholizismus daher schon in den 1920er Jahren nicht mehr die überragende integrative Kraft zu entfalten, die ihm vierzig Jahre zuvor am Ausgang des 19. Jahrhunderts noch innegewohnt hatte. Die anhaltenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse hatten den Zentrumsturm an der oberen Oder jedenfalls mit der Zeit brüchig werden lassen und langsam aber stetig von innen ausgehöhlt. Zur Krise der führenden Partei gesellte sich angesichts der Zeitumstände fast zwangsläufig auch eine Krise der Provinz Oberschlesien. Obwohl die vom Zentrum getragene Verwaltung der Provinz mit Oberpräsident Lukaschek und Landeshauptmann Woschek an der Spitze beacht­ liche Erfolge vorweisen konnte  – Rückgang der Säuglingsterblichkeit, Linderung der akuten Wohnungsnot, fortschreitende Integration der Zuwanderer aus Polnisch-Oberschlesien, Ausbau der bäuerlichen Siedlung und des Genossenschaftswesens, Verbesserung der chronischen Verkehrs-



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probleme Oberschlesiens, Hebung des kulturellen Niveaus der Provinz u. a. durch die Gründung einer Oberschlesischen Landesbibliothek in Ratibor und einer Pädagogischen Akademie für die Lehrerausbildung in Beuthen98 – gingen diese Leistungen im großen Strudel der allgemeinen ökonomischen und politischen Krise Anfang der 1930er Jahre weitgehend unter. An diesem Befund konnte auch der Umstand nicht viel ändern, dass es Carl Ulitzka gemeinsam mit Lukaschek, Woschek und Franzke gelang, Oberschlesien stärker als zuvor geplant an dem „Osthilfe-Programm“ der Reichsregierung partizipieren zu lassen. Die dementsprechenden Zusagen von Reichskanzler Heinrich Brüning, welche dieser im Rahmen einer vielbeachteten Reise nach Oberschlesien im Januar 1931 gemacht hatte99, verpufften angesichts der weiter zunehmenden Massenarbeitslosigkeit ohne große Wirkung. Überhaupt war die Provinz aufgrund ihrer chronischen ökonomischen Probleme in besonderem Maße von der Wirtschaftskrise betroffen. Zum wiederholten Male rief sich bei dieser Gelegenheit die Teilung von 1922 schmerzhaft in Erinnerung, da sich wegen der polnischen Konkurrenz nicht nur die Absatzmöglichkeiten der westoberschlesischen Kohle weiter verschlechterten, sondern auch und gerade der ohnehin nur schwach entwickelte bäuerliche und gewerbliche Mittelstand angesichts des weiter sinkenden Absatzes verstärkt in den Ruin getrieben wurde. Angesichts dieser Verhältnisse wundert es nicht, dass in dieser Phase erneut die Diskussion um den Sinn einer eigenständigen Provinz Oberschlesien aufflammte. Die namentlich von deutschnationaler Seite wieder vermehrt geführten Angriffe auf die Selbstverwaltung Oberschlesiens nötigten die Provinzführung zu einem andauernden Daseinskampf, der nicht nur unnötig viele Kräfte band, sondern auch zu dem permanenten Zwang führte, „die Notwendigkeit [der] eigenen Existenz beweisen zu müssen“. Das wiederum bewirkte konsequenterweise eine „Überbe­ tonung des ‚Oberschlesischen‘ und somit [eine] immer stärker werdende Abkapselung von Niederschlesien“.100 Hinzu kam, dass „das Reservoir an Führungskräften in Oberschlesien fast erschöpft“101 zu sein schien, so dass auch an sich dringend benötigte neue Impulse in der Provinzverwaltung oder aus den Reihen des Zentrums ausblieben. Die Rechtsparteien nutzten die Situation aus, um mit dem Zentrum und seinem ungeliebten Vorsitzenden abzurechnen. Während die DNVP 98  Hierzu

u. a. Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), S. 910. u. a. den Artikel „Prälat Ulitzka rechnet ab mit den Feinden von Staat, Kirche und Volk“, in: Oberschlesische Volkstimme v. 29.01.1931 (Nr. 29). 100  So Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 916. 101  Ebd. 99  Vgl.

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ihrer alten Strategie treu blieb und wie seit nunmehr zehn Jahren mit großem Ernst und Eifer ihr Lied vom „demokratischen“, „polenfreund­ lichen“ und „vaterlandsverräterischen“ Zentrum anstimmte, griffen die Nationalsozialisten zur wirkungsvollen Waffe des blanken Zynismus.102 Immer wieder wurde nun von rechts die historisch völlig unhaltbare Legende verbreitet, Ulitzka sei aufgrund seines „elenden Pazifismus“ und seiner allgemein bekannten Polenfreundlichkeit dafür verantwortlich gewesen, dass in den Aufstandstagen 1921 ein vollständiger Sieg der deutschen Seite über die polnischen Insurgenten verhindert worden sei.103 Hinzu kamen die sattsam bekannten Vorwürfe wegen seiner angeblichen „marxistischen Gesinnung“ und „propolnischen Politik“. Da zugleich auch die KPD von links ihre Angriffe auf das Zentrum verstärkte und ihren Pamphleten unter der Losung eines anzustrebenden „Sowjet-Oberschlesien“ zusätzlich eine dezidiert antipolnische Note verlieh104, gerieten Ulitzka und die oberschlesische Zentrumspartei mit ihrer vergleichsweisen moderaten Linie gleich von beiden extremistischen Lagern der Republik unter gefährlichen propagandistischen Beschuss  – mit fatalen Folgen für die innere Festigkeit der katholisch-republikanischen Bastion im äußersten Südosten des Reiches. Der Untergang der Provinz Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1932 vermochte sich das oberschlesische Zentrum – trotz der sich stetig weiter verschlechternden Verhältnisse und des spektakulären öffentlichen Übertritts des Grafen Balle­strem in die DNVP  – zu stabilisieren und lag bei der Novemberwahl sogar wieder leicht über dem Niveau von 1930. Mit diesem Rückenwind und aller ihr verbleibenden Kraft stemmte sich die Partei bei den letzten pluralistischen, angesichts des spätestens nach dem Reichs102  Bezeichnend hierfür ist ein Artikel im Völkischen Beobachter v. 30.05.1931, der sich mit den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Volksabstimmung auf dem Annaberg beschäftigte: „Die Blicke, die den Herrn Prälat Ulitzka und Oberpräsident Lukaschek trafen, waren alles andere als freundlich. […] Diese Herren mussten durch einen doppelten Kordon gegen die Sympathien der wirklichen Selbstschutzkämpfer gesichert werden. Sie hatten hier wirklich nichts verloren.“ 103  Explizit wurde dieser haltlose Vorwurf unmittelbar nach der „nationalen Revolution“ im Frühjahr 1933 in einem nationalsozialistischen Zeitungsartikel wiederholt: „Das Genick gebrochen hat uns Ulitzkas aus dem elenden Pazifismus jener Tage und einer falsch begriffenen religiösen Ethik erwachten Wort, dass die Grenzen berechtigter Notwehr nicht überschritten werden dürften.“ Oberschlesische Tageszeitung v. 22.05.1933 (Nr. 117). 104  Vgl. u. a. die Rote Fahne v. 22.03.1931 (Nr. 69) bzw. v. 24.03.1931 (Nr. 70).



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tagsbrand Ende Februar 1933 einsetzenden blanken Terrors aber schon längst nicht mehr freien Reichstagswahlen vom 5.  März desselben Jahres105 gegen die braune Diktatur. Obwohl das Zentrum unter diesen irregulären Umständen erstmals seit Bestehen der Provinz bei einer Wahl in Oberschlesien den Status als stärkste Partei verlor, vermochte die ­NSDAP provinzweit die angestrebte absolute Mehrheit nicht zu erzielen, sondern verpasste diese mit lediglich 43,2 Prozent deutlich.106 In der letzten großen Zentrumsveranstaltung der oberschlesischen Geschichte anlässlich der für den 12.  März 1933 angesetzten Wahlen zum Preußischen Landtag kam es am 9. März 1933 in Gleiwitz zu schweren, von der SA verursachten Tumulten. Ulitzka musste schließlich seine Wahlrede abbrechen und wurde unter Schmährufen förmlich aus dem Saal getrieben. Auf der Straße folgten weitere Beleidigungen („Schweinehund“, „Polenkönig“, „Geh’ nach Warschau, du polnischer Hund!“) und sogar ein tätlicher Übergriff auf den Prälaten, der daraufhin von der anwesenden Polizei vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen wurde.107 Die „Schonfrist“ für das Zentrum in Oberschlesien war mit dieser Aktion endgültig und für alle sichtbar abgelaufen. Dass der Nationalsozialismus in einer so krisengeschüttelten östlichen Provinz wie Oberschlesien in freien Wahlen niemals, auch mit Unterstützung der DNVP nicht, eine Mehrheit gewinnen konnte, ist ein weiteres, wenn auch letztlich folgenloses Verdienst der oberschlesischen Zentrumspartei und ihres Vorsitzenden Carl Ulitzka. Im Zuge der folgenden, mit unglaublicher Schnelligkeit durchgeführten Gleichschaltungsaktionen war auch der Kollaps der oberschlesischen Zentrumspartei nicht mehr aufzuhalten, obwohl sich führende Zentrums­ beamte in der Region noch bis Mai (Oberpräsident Lukaschek) oder sogar bis Juli (Landrat Matuschka) bzw. Anfang Oktober (Landeshauptmann Woschek) im Amt halten konnten.108 Doch bereits im Mai  1933 105  Siehe ausführlich dazu Helmut Neubach, Der Sieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 in Oberschlesien, in: Oberschlesisches Jahrbuch 3 (1987), 178–193. 106  Das Zentrum erhielt 32,3  %; vgl. Falter/Lindenberger/Schumann, Wahlen und Abstimmungen (Anm. 95), 75. 107  Vgl. das Protestschreiben der Zentrumspartei Gleiwitz an Reichspräsident Paul von Hindenburg mit dazugehöriger Aktennotiz vom 11.03.1933; ACDP Sankt Augustin, Best. VI-051 Nr. 509. Ferner hierzu auch der Artikel „Prälat Ulitzka misshandelt. Schwere nationalsozialistische Ausschreitungen gegen Zentrumsversammlung in Gleiwitz“, in: Germania v. 11.03.1933 (Nr. 70). 108  Vgl. Helmut Neubach, Die Ausschaltung der schlesischen Zentrumspartei durch die NSDAP im Jahre 1933, in: Beiträge zur Geschichte Schlesiens im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Peter Chmiel/Helmut Neubach/Nikolaus Gussone, Dülmen 1987, 85–103.

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kam es auch unter Zentrumsfunktionären zu den ersten politischen Verhaftungen. Erstes und zunächst prominentestes Opfer war dabei am 19.  Mai 1933 ein besonders enger Vertrauter Ulitzkas, der preußische Landtagsabgeordnete und mittlerweile von Reichslandwirtschaftsminister Alfred Hugenberg als Präsident der Landwirtschaftskammer Oberschlesien abgesetzte Emil Franzke. Franzke wurde unter dem völlig haltlosen Vorwurf in „Schutzhaft“ genommen, Gelder der Kammer in großer Höhe veruntreut zu haben.109 In Wirklichkeit zielte die ganze Aktion aber gegen die gesamte Zentrumsführung in Oberschlesien, speziell gegen den Vorsitzenden Ulitzka. Etwa zeitgleich begann die allmähliche Beseitigung der eigenständigen Provinz Oberschlesien durch das NS-Regime.110 Bereits am 29.  Mai 1933 verkündete der neue Oberpräsident von Niederschlesien, Helmuth Brückner, dass er von nun an die Wahrnehmung auch der Geschäfte des Oberpräsidiums in Oppeln übernehmen werde.111 Mit dem Wechsel im Amt des Landeshauptmanns von Theophil Woschek zum Volksschullehrer Josef Joachim Adamczyk war die nationalsozialistische Gleichschaltung auch in der Provinz Oberschlesien abgeschlossen. Spätestens mit dem Gesetz vom 18. April 1934, demzufolge dem Oberpräsidenten der Provinz Niederschlesien auf Dauer „die Geschäfte des Oberpräsidenten der Provinz Oberschlesien mit Ausnahme der Schulangelegenheiten und ­ der  Minderheitenangelegenheiten übertragen“ wurden112, endete faktisch die Existenz der preußischen Provinz Oberschlesien. Freilich erst 1938, ein Jahr nach dem Auslaufen der Genfer Konvention, die bisher auch im nationalsozialistischen Oberschlesien einigermaßen die Rechte der polnischen und jüdischen Bevölkerung geschützt hatte, folgte die endgültige Exekution der Provinz. Durch das Gesetz vom 21. März 1938 wurden die beiden Provinzen Niederschlesien und Oberschlesien mit Wirkung zum 1. April 1938, knapp 16 Jahre nach ihrer faktischen Trennung, unter Oberpräsident Josef Wagner wieder zu einer Provinz Schlesien vereinigt.113 Doch durch den von Deutschland 1939 begonnenen Zweiten Weltkrieg sollte dieser neuen und zugleich alten Provinz Schlesien kein langes Leben mehr beschieden sein, zumal sie infolge der deutschen Eroberungen in Polen 1941 nochmals geteilt wurde; eine Entschei-

109  Zu den Umständen der Verhaftung Franzkes, der Untersuchungen gegen ihn sowie seiner letztlich glücklichen Freilassung Ende Juni 1934 Guido Hitze, Franzke (Anm. 76), 217v221. 110  Vgl. Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 928–941. 111  Schlesische Zeitung v. 30.05.1933 (Nr. 269). 112  Zitiert nach Neubach, Verwaltung Schlesiens (Anm. 1), 932. 113  Vgl. Webersinn, Provinz (Anm. 1), 329.



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dung, die freilich weder historischen Vorbildern folgte, noch irgendetwas mit provinzieller Selbstverwaltung zu tun hatte114. Das Jahr 1934 markiert somit bis zum heutigen Tag das faktische Ende einer wie auch immer gearteten Selbstbestimmung des historischen Oberschlesien.

114  Gesetz betr. die Errichtung der Provinzen Nieder- und Oberschlesien vom 20.12.1940, wirksam zum 01.04.1941; ebd.

Eine „deutsche Vendée“ gegen Weimar? Junker, Landbund und Deutschnationale in der politischen Landschaft Pommerns (1918–1933) Von Manfred Kittel, Berlin/Regensburg Von einer „pommerschen Vendée“ hat im Anschluss an Karl Marx der sozialdemokratische Historiker und Politiker Franz Mehring, selbst ein Pommer, schon im Kaiserreich gesprochen. Ob die schmissige Formulierung auch auf der Höhe der tatsächlichen Ereignisse in der katholischkonservativen westfranzösischen Vendée nach 1791 war, wo der Widerstand gegen die „linke“ Revolution in einer der ersten politischen Massensäuberungen der Weltgeschichte grausam niederkartätscht worden war, sei hier einmal dahingestellt. Was Mehring oder nach 1918 dann auch ein Carl von Ossietzky jenseits aller plakativen Zuspitzung mit der „pommerschen Vendée“ meinten, war aber klar1. Wenn man die politischgesellschaftliche Rückständigkeit des ostelbischen Preußen an einer einzigen Region festmachen wollte, dann gerne an dem nahezu ganz protestantischen, agrarisch strukturierten, am dünnsten besiedelten und noch dazu so gar nicht multikulturellen2 Pommern, wo es im 19. Jahrhundert obendrein eine pietistische Erweckungsbewegung gegeben hatte und nicht wie in Ostpreußen zumindest zeitweilig einen starken Adelsliberalismus3 oder wie in Schlesien einen mächtigen Industrialisierungsschub und eine staatskritische zivilgesellschaftliche Bewegung gegen den antikatholischen Kulturkampf4. 1  Vgl. Dirk Mellies, Modernisierung in der preußischen Provinz. Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012, 30. Marx hatte 1849 auch von einer pommerschen „Mancha“ gesprochen (ebd., S. 277). 2  Dietmar Lucht, „Das bunte Völkergemisch Hinterpommerns“?, in: Die Pommersche Zeitung, 30.10.1999, 3. 3  Erst kurz vor dem Weltkrieg hatte die nationale Richtung des Liberalismus 1912 den Konservativen in Pommern stärker Paroli geboten. Vgl. Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1992, 119. 4  Und zumindest das Brandenburg westlich der Oder bildete als weiteres Umland von Berlin ohnehin eine eigene Kategorie. Vgl. Rainer Pomp, Bauern und Großgrundbesitzer auf ihrem Weg ins Dritte Reich. Der Brandenburgische Land-

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Der ländlichen Gesellschaft Pommerns, so hat aufgrund dessen der Bielefelder Historiker Robert von Friedeburg als Rezensent einer der raren Studien zu Weimar-Pommern (1998) gefolgert, gebühre in der jüngeren deutschen Geschichte ein besonderer Platz als „Paradeprovinz des deutschen Sonderweges agrarkonservativer Eliten, besonders der ‚Junker‘ “5. Während der Weimarer Jahre­hätten speziell auch die Deutschnationalen  – antiwestlich gegen die Revolution von 1918 und auch gegen jene von 1789 gerichtet  – mit ihrer pommerschen Organisation „eine Sonderstellung unter den Landesverbänden der DNVP im Deutschen Reich“ eingenommen, so lautet das ähnliche Urteil Kyra T. Inachins6. Die „pommersche nationale Rechte“ sei insgesamt „früher und entschiedener für die Vernichtung des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik“ eingetreten als andere.7 Für die Zeit ab 1930 hat man Pommern dann zusammen mit anderen ostelbischen Provinzen auch wiederholt eine besonders „wichtige Rolle“ für die Entwicklung der NSDAP zur ­ Massenpartei attestiert8. Tatsächlich fällt ins Auge, dass die DNVP jedenfalls auf der Ebene der Reichstagswahlkreise in der Region regelmäßig ihre Spitzenergebnisse erzielte und zu Hochzeiten (im Mai 1924) sogar knapp 50 % der Wählerstimmen auf sich vereinigte. Damit lag sie in Pommern deutlich vor ihren Zahlen für Ostpreußen und noch deutlicher vor ihrem besten Reichstags-

bund 1919–1933, Berlin/Boston 2010. Auch Rudolf von Thadden hat in Reflexionen über den Topos der Rückständigkeit Pommerns konstatiert, dass Pommern – trotz der Konflikte konservativ-protestantischer Kräfte mit dem Staat, die dabei „in die Nähe der katholischen Opposition“ gerieten – „kein besonders ausgeprägtes Schlachtfeld des Kulturkampfs“ war. Rudolf von Thadden, Pommern  – eine rückständige Provinz Preußens?, in: Die Zukunft der Rückständigkeit. Chancen – Formen  – Mehrwert. Festschrift für Manfred Hildermeier zum 65.  Geburtstag, hrsg. von David Feest/Lutz Häfner, Köln 2016, 184–192, hier 189. 5  Vgl. die Rezension des Buches von Shelley Baranowski, The sanctity of rural life. Nobility, protestantism, and nazism in Weimar Prussia, New York u. a. 1995, durch Robert von Friedeburg, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), 781. 6  Kyra T. Inachin, Die Geschichte Pommerns, Rostock 2008, S. 176. 7  Kyra T. Inachin, Die nationale Rechte Pommerns und Hitler, in: Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität: 1918, 1933, 1945, 1989, hrsg. v. Bert Becker/Kyra T. Inachin, Schwerin 1999, 129–162, hier 133. In eine ähnliche Richtung geht auch das Urteil von Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 159, zu den Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932: „Nowhere in the Reich was it clearer than in Pomerania just how much the Nazi party siphoned its electorate from the DNVP […]“. 8  Uwe Schröder, Auf dem Weg zur Massenpartei. Zur Entwicklung der Hitlerbewegung in Pommern 1922–1929, in: Pommern. Geschichte, Kultur, Wissenschaft. 1.  Kolloquium zur pommerschen Geschichte, 13.–15.  November 1990, hrsg. v. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1991, 212–219, hier 212.



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wahlkreis im Westen (Schleswig-Holstein mit 31 %)9. Gleichwohl, gemessen an den starken Thesen ist zum vorletzten Kapitel in der Geschichte des preußisch-deutschen Pommern frappierend wenig geforscht worden. In den nicht stets ganz ausgewogenen Junker-Studien DDR-deutscher oder Bielefelder Provenienz finden sich zwar manch wichtige Befunde, aber diese sind bislang nicht zu einem größeren konsistenten Bild für die Region zusammengefügt worden. Ähnliches gilt für eine Reihe von Pu­ blikationen zur DNVP und zum (Reichs-)Landbund. Die intensivsten monographischen Arbeiten zu den hier interessierenden Themen von ­Kyra T. Inachin und Daniel Hildebrand lassen, ohne das an dieser Stelle vertiefen zu können, noch viele Fragen offen10. Und auch der darstellerisch bislang vielleicht beste, in anglo-amerikanisch frischem Zugriff erfolgende 300-seitige Versuch von Shelley Baranowski über die „Sanctity of rural live“ kann letztlich nicht ganz erklären, weshalb der pommersche Konservativismus trotz seiner im ersten Teil  der Studie geschilderten sozialen Machtpositionen ab 1930 dann vom Nationalsozialismus überflügelt wurde11. Die Ostelbien betreffenden Kapitel in Wolfram Pytas Studie zu „Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933“ sind zu diesen Fragen bis heute mit das Instruktivste, was vorliegt, ersetzen aber natürlich keine pommersche Regionalstudie12. Wer sich  – vorbehaltlich dringend erwünschter Spezialstudien  – ein besseres Bild machen möchte, muss die vorhandenen, zu einzelnen Weimar-Aspekten verstreut vorliegenden Mosaik-Teile zusammensuchen

9  Vgl. Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919– 1933, München 1986, 69. Auf Landkreisebene lagen die besten pommerschen Ergebnisse 1924 (in Saatzig, Belgard, Stolp und Schlawe mit 67 bis 68 %) aber hinter dem besten süddeutschen Resultat zurück (Kreis Rothenburg ob der Tauber in Westmittelfranken mit 77 %). Erst im September 1930 sollte sich dies wegen des Absturzes der DNVP im Fränkischen ändern. Ebd., 132. 10  Polnische Historiker haben sich bislang vor allem für pommersche Themen mit irgendwie polnischem Bezug interessiert, sehr viel weniger dagegen aus nachvollziehbaren Gründen für die regionale Parteien- und Verbandsgeschichte im Kontext der Entwicklung der ersten deutschen Demokratie. Vgl. Włodzimierz St˛epi´nski, Die polnische Forschung zur Geschichte Pommerns im 19. und 20. Jahrhundert in der Nachkriegsperiode (bis 1995): Entstehung, Handlungsbedingungen, Forschungsstand, Forschungsdesiderate, in: Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven, hrsg. von Werner Buchholz, Paderborn 1998, 93–113. 11  Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 171. 12  Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996.

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und verbinden13. Jenseits der etwas abgekühlten Debatte um einen deutschen Sonderweg interessiert dabei besonders die Frage nach dem historischen Ort der pommerschen Entwicklung innerhalb der gesamtdeutschen Zeitgeschichte, nach dem wirklichen politischen Gewicht der legendenumwobenen Junker14 über die Zäsur von 1918 hinaus, nach den Bedingungen der Möglichkeit lange anhaltender deutschnationaler Dominanz in der Region zwischen 1920 und 1930 und nach den Ursachen ihres massiven Zusammenschmelzens in den Jahren bis 1933. Zur Klärung dieser Fragen wollen wir zuerst einen orientierenden Blick auf die politische Geographie Pommerns werfen, dann den Gründungsprozess der DNVP sowie die machtpolitisch entscheidenden Verhältnisse – institutionell zwischen DNVP und Landbund, personell zwischen Rittergutsbesitzern, Bauern und Landarbeitern – näher anschauen, um nach einer Betrachtung der im Milieu vorherrschenden Mentalitäten deren ereignisgeschichtliche Folgen vom Lüttwitz-Kapp-Putsch 1920 über den Erosionsprozess deutschnationaler Macht nach Alfred Hugenbergs Wahl zum DNVP-Reichsvorsitzenden 1928 bis zum Aufstieg der Nationalsozialisten zu beleuchten. Neben der Sichtung weit verstreuter Literatur haben wir dazu punktuell auch eigene Quellenrecherchen in einigen der wichtigsten Tageszeitungen, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und im Bundesarchiv betrieben. Politische Landschaft und Gesellschaftsstruktur Trotz exzeptioneller Wahlergebnisse der DNVP, die von 1919 bis 1930 ca. 15 bis 30 % über dem Reichsdurchschnitt lagen und zwischen einem unteren Wert von 24,0 % (1919 und fast genau wieder 1930 mit 24,8 %) und 49,5 % im Jahr 1924 pendelten, waren die politischen Fieberkurven der Republik – im Koordinatensystem nur ein Stück nach rechts verschoben  – auch an der Wahlgeographie Pommerns genau abzulesen. Wie im ganzen Reich hatte auch hier die Empfindung, dass das alte, militärisch geschlagene Regime des Kaisers und seine Träger abgewirtschaftet hatten und dass der gemäßigte Kurs des pragmatischen SPD-Führers Fried13  Dabei handelt es sich vor allem um Studien zu den konservativen Parteien und zur Geschichte der Landwirtschaftspolitik mit Fokus auf die Reichsebene, die oft wichtige Pommern-Bezüge aufweisen. 14  Darunter sollen im Folgenden vor allem die adeligen Großgrundbesitzer verstanden werden, denen noch ein gutes Viertel der Güter gehörte (vgl. Hans Branig, Pommern als Grenzland in der Weimarer Republik, in: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik, hrsg. v. der Senatskommission für das Studium des Deutschtums im Osten, Köln 1966, 133–149, hier 133), ohne die politisch-mental vielfach eng verwandten bürgerlichen Eigentümer außer Betracht zu lassen.



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rich Ebert eine Chance verdiene, das Verhalten der Wähler bei der Abstimmung zur Weimarer Nationalversammlung 1919 bestimmt und der SPD einen furiosen Sieg  – mit 41 % sogar noch um einige Punkte über dem SPD-Reichsdurchschnitt – beschert.15 Auch wenn die SPD dann schon bei den Reichstagswahlen 1920, als Regierungspartei rasch für alles Ungemach der Nachkriegszeit verantwortlich gemacht, in Pommern nur noch auf gut 20 Prozent kam und bis zu den letzten freien Wahlen Ende 1932 zwischen 20 und 30 % erreichte, so lag sie damit dennoch jeweils nicht weit vom Durchschnitt des nationalen SPD-Ergebnisses entfernt. Das ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil es schon weniger dem verbreiteten Klischee einer reinen Junker-Region entspricht, sondern auch in sozialstruktureller Perspektive, weil Pommern neben Ostpreußen tatsächlich zu den noch am stärksten von der Landwirtschaft geprägten Teilen Preußens zählte. Außer der einzigen Großstadt Stettin (anno 1918 etwa 250 000 Einwohner) gab es nur wenige weitere Städte mit mehreren zehntausend Bürgern. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung aber lebte in Gemeinden und Gutsbezirken mit weniger als 2000 Einwohnern16, traditionell nicht gerade „gemähte Wiesen“ für das Gedeihen lokaler SPD-Ortsvereine17. Vielleicht aber gerade auch deshalb zählten die pommerschen Genossen, der Unterbezirk Stettin zuvorderst, innerhalb der Gesamtpartei seit langem zum linken Flügel, der noch etwa auf dem Heidelberger Parteitag 1925 zäh am Begriff 15  Zur Revolutionszeit in Pommern jetzt: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), November 1918. Revolution an der Ostsee und im Reich, Wien/Köln/Weimar 2020; darin v. a. die lokalen Tiefenbohrungen zu Stralsund, Greifswald und Stettin von Christoph Freiherr von Houwald, Jenny Linek und Gunter Dehnert (131–208). 16  Hermann Schmidt (unter Mitarbeit von Georg Blohm), Die Landwirtschaft von Pommern und Ostpreußen. Geschichte, Leistung und Eigenart der Landwirtschaft in den ehemals ostdeutschen Landesteilen seit dem Kriege 1914/18 und bis Ende der dreißiger Jahre, Marburg/Lahn 1978, 4, 97. 17  Auch vor diesem Hintergrund ist es schade, dass wir bis heute über keine monographische Studie oder wenigstens größere Aufsätze zur SPD in Pommern verfügen; nur für die Zeit der Revolution 1918/19 hat die Partei etwas mehr Interesse gefunden, ansonsten ist man oft auf Querverweise aus der Produktion marxistisch-leninistischer DDR-Historiker zur KPD verwiesen. Einige Ansatzpunkte bietet Klaus Schwabe (Hrsg.), Wurzeln, Traditionen und Identität der Sozialdemokratie in Mecklenburg und Pommern, Schwerin 1999 (etwa zur SPD-Vertretung im pommerschen Provinziallandtag, 99–105). Erst kurz vor Abschluss dieses Manuskriptes ist eine medienhistorisch ausgerichtete Arbeit zur wichtigsten sozialdemokratischen Zeitung in der Region erschienen, die aber gleich im ersten Satz der Einleitung zurecht betont, „keine Geschichte der pommerschen Sozialdemokratie“ zu sein. Diese sei „erst noch zu schreiben“; doch gehe es bereits dieser Studie auch darum, „den Mythos eines ausschließlich rechten, ländlichen preußischen Ostens [zu] falsifizieren“. Harald Bader, Der Stettiner Volksbote, Eine sozialdemokratische Zeitung in Pommern 1885 bis 1933, Weimar 2020, 11, 14.

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des „Klassenkampfes“ festhalten wollte und auch generell der Kooperation mit bürgerlichen Kräften in Berlin sehr kritisch gegenüberstand.18 Angesichts einer immerhin durchschnittlich abschneidenden SPD und einer überdurchschnittlichen DNVP stellt sich die Frage, welche politischen Kräfte in Pommern denn dann besonders wenig Zuspruch fanden? Dies galt, außer in den allerersten Jahren der Republik, zunächst für die beiden liberalen Parteien. Zum einen für die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP), die in Pommern schon viel früher als reichsweit, nämlich ab 1924, kaum mehr über 5 Prozent hinauskam, und erst recht für die nach damaligen Maßstäben linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), die nach einem sensationellen Start mit 21,7 % bei den Wahlen von 191919 schon fünf Jahre später, im Mai 1924, auf ein gutes Zehntel dieses Ergebnisses (2,6 %) zusammengeschmolzen war. Neben den beiden liberalen Parteien, zu deren pommerscher Geschichte bislang leider noch weniger geforscht wurde als zur SPD20, erklären sich die differierenden Zahlen für Pommern und das Reich aber natürlich in erster Linie aus der faktischen Abwesenheit des katholischen Zentrums in dem zu über 90 % protestantischen „Land am Meer“. Der im Reich zwischen 1920 und 1933 zuverlässig gut elf bis dreizehneinhalb Prozentpunkte ­hohe Zentrumsturm war in Pommern nicht einmal ein Türmchen und schwankte immer nur um etwa ein Prozent. Die politische Grundstimmung der Region spiegelte sich auch im Provinziallandtag, einer Art Landesparlament mit allerdings eher kommunalpolitischen Kompetenzen vor allem im sozialen und infrastrukturellen Bereich. Hier erreichten die Deutschnationalen zu keinem Zeitpunkt wieder jene absolute Dominanz, der sich die Deutschkonservative Partei (DtKP) zumindest im östlicheren Pommern im Kaiserreich noch erfreut hatte21. Im ersten neu gewählten Provinziallandtag nach Gründung der 18  Bader,

Der Stettiner Volksbote (Anm. 17), 89 f. stadtbürgerlich profilierte Partei hatte in der Anfangszeit der Republik selbst in Hinterpommern nicht nur – eher erwartungsgemäß – etwa in Köslin, sondern auch bei „große[n] Teile[n] der Bauernschaft“ Anklang gefunden. Rudolf von Thadden, Trieglaff, Eine pommersche Lebenswelt zwischen Kirche und Politik. 1807–1948, 2. Aufl. Göttingen 2010, 149. 20  Zur DDP-Fraktion im preußischen Landtag, deren Abgeordneter Conrad Berndt, ein Stettiner Rechtsanwalt, Pommern für die „reaktionärste Provinz“ hielt, jetzt immerhin die Edition von Volker Stalman, Linksliberalismus in Preußen. Die preußische Landtagsfraktion der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1919–1932, Düsseldorf 2009 (Sitzungsprotokolle, 2 Halbbände, Zitat 449, aus der Sitzung vom 11. Mai 1921). 21  Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 272, mit Bezug auf Gerhard A. Ritter, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Geschichte des Kaiserreichs, 1871–1918, München 1980, 67–73. Vgl. auch Thomas Kühne, Handbuch der Wahlen 19  Die



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Republik verfügte die DNVP ab 1921 nur über eine relative Mehrheit von 43,7 %, gefolgt von der SPD mit 33,8 % und einer damals noch recht starken DVP mit 14,1 %22. Daran änderte sich auch bei den Wahlen 1925 in einer Hochphase der Deutschnationalen, trotz Verlusten von SPD und DVP, nichts Grundsätzliches23. Als Oberpräsidenten musste die DNVP obendrein bis 1930 den Juristen Julius Lippmann hinnehmen, noch zu Revolutionszeiten im April 1919 von der damals (und auch später meist) SPD-geführten preußischen Landesregierung ernannt. Der freisinnige, aus Danzig stammende Politiker war in einer jüdischen Familie geboren worden, jedoch zum Protestantismus konvertiert. Anfang 1919 wurde er für die DDP in die Weimarer Nationalversammlung gewählt24. Dass Lippmann im Wahlkampf auf der klein- und mittelbäuerlich orientierten DDP-Linie für eine, wenn auch eher moderate Bodenreform eintrat, in deren Rahmen die allergrößten Güter gegen Entschädigungszahlungen einen Teil  ihres Besitzes abtreten sollten, konnte ihm seitens der Junker kaum Sympathien einbringen. Auch die legendären konservativen Bastionen in den pommerschen Landratsämtern waren nach dem Krieg dem Wind des Wandels ausgesetzt. Hatten 1918 noch über 85 % der Spitzenbeamten in den Kreisen dem Adel angehört, wobei der größere Teil  davon aus einheimischen pommerschen Familien kam, so betrug der Adelsanteil 1925 nurmehr ein Viertel und konzentrierte sich ganz auf das östlichere Pommern. Während zudem am Ende des Kaiserreichs noch ein Drittel der pommerschen Landräte selbst Großgrundbesitz hatte, traf dies 1925 auf keinen einzigen mehr zu. Pommerschen Geschlechtern, indes auch nur solchen, die selbst über keinen größeren Grundbesitz mehr verfügten, entstammten lediglich zwei von 27 Landräten25. Wenn Hugo Preuß zur „Junkerfrage“ zum preußischen Abgeordnetenhaus 1867–1918. Wahlergebnisse, Wahlbündnisse und Wahlkandidaten, Düsseldorf 1994, 237–270. 22  Ilona Buchsteiner, Bruch oder gradueller Wandel? Ämterbesetzung in den pommerschen Verwaltungs- und Selbstverwaltungsorganen, in: Becker/Inachin, Pommern (Anm. 7), 69–84, hier 81. 23  Theodor Wengler, Der Provinzialverband Pommern. Verzeichnis der Mitglieder des Provinziallandtages, Köln u. a. 2008, 146 ff. 24  Bert Becker, Verwaltung und höhere Beamtenschaft in Pommern, in: Becker/ Inachin, Pommern (Anm. 7), 39–68, 65. Vgl. auch Horst Möller, Die preußischen Oberpräsidenten 1918/19–1933, in: Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945, hrsg. v. Klaus Schwabe, Boppard am Rhein 1985, 183–218, sowie jetzt auch Bert Becker, Die pommerschen Oberpräsidenten der Revolutionsperiode, in: StammKuhlmann, November 1918 (Anm. 15), 209–252, v. a. 216 ff., 224 f. 25  Buchsteiner (Anm. 21), 73, 75 f.

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im Kaiserreich einmal bemerkt hatte, der moderne Staat höre beim Kreise auf, weil dort „die feudale Libertät“ beginne, so konnte in WeimarPommern davon nun kaum mehr die Rede sein26. Die soziale Zusammensetzung des Provinziallandtages spiegelte den Wandlungsprozess wider. In dem noch von den (drei) Ständen qua Entsendung bestimmten letzten „Parlament“ vor Ausbruch des Weltkrieges im März 1914 hatten adelige Ritterguts- und Fideikommissbesitzer allein ein gutes Viertel der 90 Mitglieder gestellt und zusammen mit der gleich großen Delegation der adeligen Landräte, Bürgermeister und sonstigen Staatsbediensteten bereits die Mehrheit ausgemacht. Sieben bürgerliche Gutsbesitzer und darüber hinaus weitere nicht-adelige höhere Beamte oder Fabrikbesitzer kamen hinzu. Handwerksmeister oder gar (Land-) Arbeiter suchte man vergeblich. Im ersten frei und direkt gewählten Provinziallandtag nach dem Krieg ab 1921 gehörten aber dann von den 76  Mitgliedern nur noch 11 dem Adel an, womit sich dessen Anteil gegenüber 1914 drastisch von über 50 % auf deutlich unter 20 % vermindert hatte, darunter nur noch ein Landrat a. D. und zehn Rittergutsbesitzer27. Der Anteil der adeligen Gutsherren, die bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 1,8 Millionen Menschen in Pommern wenige Tausend Wahlberechtigte ausmachten, selbst mit nunmehr stimmberechtigten Frauen oder älteren Kindern nur eine niedrige fünfstellige Zahl, lag allerdings keineswegs bei etwas unter 20 %, sondern bei gerade einem Prozent. Ihre Zahl zumindest im Provinziallandtag betrug also immer noch ein Viel­ faches des rein numerisch zu erwartenden. Und auch auf anderen Feldern des politischen Lebens spiegelte die beachtliche Präsenz der Junker die anhaltenden sozioökonomischen Verhältnisse wider: Den Großbetrieben über 100 Hektar gehörten in den Gebieten östlich der Elbe (1925) insgesamt über 40 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche dort, am meisten mit 55 % in Pommern und vor allem im bis 1815 schwedischen Teil Vorpommerns und im östlichen Hinterpommern gebietsweise noch deutlich mehr28.

26  Hugo Preuß, Die Junkerfrage, Sonderdruck aus der Wochenschrift „Die Na­ tion“, 1897, 103. 27  Dafür entdeckte man nun neben zwei bürgerlichen Guts- auch sechs Bauernhofbesitzer und sogar einen Angestellten des Landarbeiterverbandes. Wengler, Der Provinzialverband (Anm. 22), 125 ff., 141 f. 28  Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 59; Daniel Hildebrand, Landbevölkerung und Wahlverhalten. Die DNVP im ländlichen Raum Pommerns und Ostpreußens 1918–1924, Hamburg 2004, 78.



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Vor 1918 hatte man sich die politische Dominanz der Junker in Pommern noch leicht mit dem Dreiklassenwahlrecht oder (bei den Reichstagswahlen) mit der Wahlhilfe konservativer Landräte und dem repressiven Agieren von Gutsbesitzern gegen von ihnen abhängige Landarbeiter erklären können. Die neuen, nicht nur wahlrechtlichen Umstände unter einer fast andauernd SPD-geführten preußischen Landesregierung und bei endlich vollem Koalitions- und Streikrecht für die Landarbeiterschaft verlangen aber nach anderen Erklärungen für die stolzen Ergebnisse der DNVP. Schließlich reden wir bei den Landarbeitern von einer der größten Wählergruppen der Region, die nicht nur – wie die Junker – wenige Tausend, sondern gut Zweihunderttausend Personen umfasste29. Ohne sie wären die deutschnationalen Erfolge in der Fläche kaum möglich gewesen. Landarbeiterschaft und Pommerscher Landbund Die Verhältnisse der Landarbeiter liefern darüber hinaus einen Generalschlüssel zum Verständnis der politischen Kultur der Region nach 1918. Mehr als die Hälfte, in den sehr großen Gütern fast zwei Drittel waren nämlich sogenannte Deputanten. Überall in Ostelbien erhielten diese Deputanten (oder „Instmänner“) nur relativ wenig Barlohn von ­ihren Arbeitgebern, sondern stattdessen vor allem Naturalien und Deputatland, also neben einem großen Garten vielleicht ein paar tausend Quadratmeter zum Kartoffel- oder Rübenanbau, sowie weitere Nutzungsrechte am Gutseigentum, nicht zuletzt an den Ställen und landwirt­ schaftlichen Geräten. Diese spezielle Form des ökonomischen Seins bestimmte auch das politische Bewusstsein der meisten Deputanten, so etwas wie Kleinbauern zu sein und gleichsam in einer großen agrarischen Schicksalsgemeinschaft mit ihren Gutsherren zu leben30. Proletarisches Klassenbewusstsein konnte sich dagegen hier kaum entwickeln. Für solches war nur eine Minderheit von etwa einem Drittel der Landarbeiter potentiell stärker ansprechbar, die als sog. Freiarbeiter in einem nur vorübergehenden Beschäftigungsverhältnis standen, vollen Barlohn erhielten, aber eben kein Deputatland, und die auch meist nicht in zum

29  Stephanie Merkenich, Grüne Front gegen Weimar. Reichs-Landbund und ­agrarischer Lobbyismus 1918–1933, Düsseldorf 1998, 189. 30  So Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 74 und 76 f., unter Bezug auf das hinterpommersche Deputantenwesen. Instruktiv dazu auch Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918– 1933, München 2012, 309 f.

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Gut gehörenden Wohnungen lebten31. Aus dieser Schicht vor allem rekru­ tierten sich die Anhänger des SPD-nahen Deutschen Landarbeiter-Verbandes (DLV)32. Aber nicht die freien unter den Landarbeitern gaben auf dem Gut im Allgemeinen den Ton an, sondern die Deputanten und vor allem auch die Gutshandwerker und sonstigen landwirtschaftlichen Fachkräfte (vom Kutscher bis zum Schweizer). Wenngleich diese zahlenmäßig kaum mehr als ein Zehntel der Landarbeiterschaft ausmachten, trugen sie mit ihrem verbreiteten „Standesdünkel“ gegenüber den einfacheren Arbeitern doch dazu bei, dass „keine scharfe Klassenlinie die Gutsherrschaft von der innerlich so uneinheitlichen Landarbeiterschaft schied“33. Eben darin bestand eine der wesentlichen Voraussetzungen für den Erfolg des mit Abstand wichtigsten Interessenverbandes in der Region: des Pommerschen Landbundes. Er bildete sogar die deutschlandweit stärkste Landesorganisation des Reichslandbundes34, der nach dem Umbruch von 1918/19 in etlichen Konvulsionen aus dem alten Bund der Landwirte (BdL) der Kaiserzeit hervorgegangen war. Während der BdL sich noch stark auf die großagrarischen Regionen im Osten konzentriert hatte, gelang es dem Reichslandbund, sich gleichzeitig auch zur politischen Repräsentanz der klein- und mittelbäuerlichen Landwirtschaft im Süden und Westen Deutschlands zu mausern. In Pommern wurde er sogar zu einer Art ständigen Volksvertretung des ländlichen Raums, vor allem aber zur entscheidenden politischen Vorfeldorganisation der DNVP. Die Gründung des Pommerschen Landbundes im Februar 1919 war i­ndes nicht Ausdruck einer breiten demokratischen Basisbewegung von unten gewesen, sondern zentral gesteuertem Eingreifen von oben geschuldet. Dafür standen ganz wesentlich die Namen zweier Männer aus dem pommerschen Adel: Zum einen der von Conrad Freiherr von ­Wangenheim, des Vorsitzenden der Landwirtschaftskammer und früheren   DtKP-Reichstagsabgeordneten und BdL-Präsidenten, und der von 31  Roswitha Berndt, Lage und Kampf der Landarbeiter im ostelbischen Preussen (1919–1945), Bd. III, Berlin 1985, XXXII. 32  Er war vor allem in Vorpommern stark, aber auch etwa im östlichen Kreis Stolp waren Anfang der 1920er Jahre von gut 9000 Landarbeitern knapp 2000 Mitglied im DLV. Vgl. Jens Flemming, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890–1925, Bonn 1978, 286, sowie Ilse Puttkamer, Die Landarbeiterfrage in Pommern, Stolp 1929, 24 f. Zu den Landarbeitern in der Region müsste, gestützt etwa auf das Verbandsorgan „Pommerscher Landbote“, ebenso wie zur SPD dringend weiter geforscht werden. 33  Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 78. 34  1928 soll er mit 140 000 Mitgliedern noch vor dem brandenburgischen Landbund rangiert haben. Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 93.



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Hauptmann a. D. Johann Georg von Dewitz, eines früheren Berufssoldaten, der im Krieg als Adjutant des Generalintendanten des Heeres gedient hatte. Wie Wangenheim entstammte Dewitz einem Gut östlich der Oder. Beide hatten sie um 1918/19 vor ihrem großagrarischen Erfahrungshintergrund die Brisanz der revolutionären Stärkung von Arbeitnehmerrechten für die traditionelle Machtposition der Gutsbesitzer voll erkannt. Sie gedachten allerdings keineswegs, die Landarbeiter kampflos den Gewerkschaften zu überlassen. Als Gegenpol zum Klassenkampfgedanken der Arbeiterbewegung strebten sie einen neuen Landbund an, der wirtschaftsfriedlich auf die Gemeinsamkeiten einer solidarisch verbundenen Landbevölkerung setzte. Die Landwirtschaftskammer hatte zur Vorbereitung des Projekts in den revolutionären Wirren Anfang 1919 rasch eine Auskunftstelle für Bauern- und Landarbeiterräte eingerichtet und als Koordinator dafür von Dewitz eingestellt35. Es war das Kernstück der Strategie von Wangenheim und Dewitz, bei künftigen Tarifverhandlungen nicht qua eigenem Arbeitgeberverband einer geschlossen organisierten Landarbeiterschaft entgegenzutreten, sondern Lohnfragen möglichst landbundintern zu klären. Dazu sollten Deputanten und sogar Freiarbeiter in das entstehende Gefüge eines neuen Landbundes integriert, sie also an die ökonomischen Interessen der Produzentenseite gebunden werden. Dies diente nicht nur der gütlichen Regelung von Lohnfragen, sondern noch viel grundsätzlicher auch dem Ziele, die im Schock von Kriegsende und Revolution nach links gegangenen Landarbeiter als Massenanhang für konservative Politik zurückzugewinnen36. Aber nicht nur die Landarbeiter, sondern auch die Besitzer von Bauernhöfen suchte man zu attachieren, schließlich gab es selbst im Junkerland Pommern über zwanzig Mal mehr – nämlich ca. 70.000 – bäuerliche Betriebe als große Güter37. Männer wie der pommersche Landbundfunktionär und spätere Chef der volkswirtschaftlichen Abteilung der RLBZentrale Claus von Eickstedt lieferten das passende argumentative Rüst35  Angesichts der Lethargie der Räte konnte Dewitz die vorhandenen landwirtschaftlichen Vereine als organisatorisches Skelett für die Gründung von Landbünden in den Kreisen nutzen, wobei er auch seine Beziehungen zum grundsässigen Adel spielen ließ. Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 217, 219. Noch im Februar 1919 gründete sich unter dem Vorsitz eines Gutsbesitzers im Kreis Pyritz die erste Kreisgruppe des Pommerschen Landbundes. Rasch folgten weitere in Kolberg, Grimmen, Regenwalde, Belgard etc. 36  Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 220. 37  Werner Buchholz (Hrsg.), Pommern. Deutsche Geschichte im Osten Europas, Sonderausgabe Berlin 1999, 440.

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zeug zu dieser schichtenübergreifenden Integrationspolitik: Adel und Bauerntum gehörten zusammen, weil der Adel nach seinem Wesen nichts anderes als „potenziertes Bauerntum“ sei38. Die Einbindungsbemühungen waren so erfolgreich, dass schon Mitte 1920 als letzte der nach der Revolution entstandenen zehn bäuerlichen Arbeitgebervereinigungen der „Verein hinterpommerscher Landwirte“ zum Beitritt in den Pommerschen Landbund (PLB) bewegt werden konnte39. Die Landbund-Statuten schrieben bei den Leitungsgremien eine strikte Parität zwischen den verschiedenen Gruppen der Landbevölkerung vor. Im engeren Vorstand saßen neben einem Direktor ein bäuerlicher und ein Großgrundbesitzer, im Bundesvorstand stammten von 14 Beisitzern je 3 aus dem Groß- und Kleinbesitz und je 4 aus der Landarbeiterschaft und dem ländlichen Mittelstand (vom Handwerker über den Lehrer bis zum Landpfarrer)40. Bemerkenswert ist zudem, dass der Deutsche Guts- und Forstbeamtenbund („Beamtengruppe“), der sich reichsweit auf pommersche Initiative gegründet hatte41, institutionelles Mitglied im RLB war. Und dies galt auch für den ebenfalls von Pommern ausgehenden, gegen den linken DLV gerichteten wirtschaftsfriedlichen „Reichslandarbeiterbund“ des aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung kommenden Johannes Wolf (mit Geschäftsstelle im hinterpommerschen Belgard)42  als „Arbeitnehmergruppe“. Unter den etwa 101.000 PLB-Mitgliedern gehörten 1926 mit Abstand die meisten, nämlich über 43.000, zu dieser Arbeitnehmergruppe, gut 29 000 zur Bauernschaft und nur 2200 zur Kategorie der Gutsbesitzer43. In der verbandspolitischen Realität stellte sich aber doch ein Übergewicht der letzteren ein. Ihre zahlenmäßig kleine Gruppe, darunter viele Adelige, stellte zum einen die absolute Mehrheit der Landbund-Kreisvorsitzenden44. Die Junker erlangten außerdem im wichtigen engeren PLB-Vorstand dadurch ein faktisches Übergewicht, dass neben dem ers38  Merkenich,

Grüne Front (Anm. 29), 120. Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 220, sowie Puttkamer, Die Landarbeiterfrage (Anm. 32), 22 f. 40  Puttkamer, Die Landarbeiterfrage (Anm. 32), 22 f. 41  Dieser Bund hatte in Stettin seinen Reichssitz, konnte sich aber außerhalb Pommerns nur schlecht gegen eine gewerkschaftliche Konkurrenzorganisation behaupten. Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 105. 42  Ebd., S. 110; Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 278. 43  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 189. 44  Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 222  f., mit Bezug auf das Handbuch der pommerschen Landwirtschaft von 1925, 130. 39  Flemming,



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ten Vorsitzenden aus der Bauernschaft45 die wechselnden zweiten Vorsitzenden durchgehend ihres Standes waren (Hans Bone v. Schwerin-Spantekow, Hasso Richard v. Flemming-Paatzig sowie schließlich Hansjoachim, genannt: „Achi“, von Rohr-Demmin) und dass gleichzeitig die für das operative Geschäft besonders wichtigen dritten Vorsitzenden („Direktoren“) mit von Dewitz (bis 1925), Oberst a. D. Traugott von Jagow und dann Otto Wilhelm von Oertzen aus dem Landadel stammten46. Dieser bediente sich durchaus auch manipulativer Mittel, um zu verschleiern, was sozialkritisch als „Interessenantagonismen“ zwischen ihm und der übrigen Landbevölkerung bezeichnet worden ist47. So fiel etwa die große Diskrepanz zwischen den niedrigen Landbund-Mitgliedsbeiträgen der Arbeiter und den hohen Vergünstigungen ins Auge, die ihnen und ihren Familien kraft Verbandszugehörigkeit zuteil wurden: Vom Entbindungs- und Konfirmationsgeld über die Heiratsbeihilfe bis zum Sterbegeld war von der Wiege bis zur Bahre für die Menschen und über entsprechende Versicherungen auch für ihr Vieh gesorgt48. Vor allem großzügige Subsidien der Gutsherren ermöglichten derlei soziale Wohltaten. Man ginge gleichwohl fehl, würde man die hohe Landbundaffinität der Arbeiter ausschließlich oder zu überwiegend manipulativ erklären. Voll entfalten konnten sich die Sozialpakete nur deshalb, weil trotz der wachsenden Zahl „zeitgemäß“ erzkapitalistischer, ja menschenfeindlicher Gutsbesitzer – unter den Bürgerlichen vielleicht sogar häufiger als im alten Adel49 –, es nach wie vor eine große Zahl klassisch-patriarchalischer, gottesfürchtiger und sozial sensibler Junker gab, die von ihren „Leuten“ als natürliche Autorität geschätzt und in der Folge auch als politische Führer akzeptiert wurden. Zu tieferer staatsbürgerlicher Meinungsbildung oder gar Aktivität fehlte Deputanten wie Freiarbeitern, deren Arbeit außer in wenigen Wintermonaten vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung nicht ruhte, ohnehin meist so gut wie jede Muße50.

45  Dies war bis fast ans Ende der Republik Otto Rannow, der einen Bauernhof bei Falkenburg (Kreis Dramburg) besaß. 46  Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 223. 47  Ebd., 253. 48  Ebd., 253 u. 281 f. 49  Vgl. die Bemerkung von Hartmut Harnisch, Adel und Großgrundbesitz im ostelbischen Preußen 1800 bis 1914, Antrittsvorlesung am 16. Juni 1992, PDF-HU Berlin, 18, dass sich manch bürgerliche Gutsbesitzer junkerlicher aufgeführt hätten als Adelige „mit sechzehn Ahnen in der Gruft“. Vgl. auch Thadden, Trieglaff (Anm. 18), 10. 50  Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 59–69, sowie nach wie vor Puttkamer, Die Landarbeiterfrage (Anm. 32), 17 f. Gerade in Ostpommern hätten sich – trotz ma-

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Die führende Rolle der alten Eliten im PLB ist aber nicht so zu verstehen, dass sich dies auch automatisch und unmittelbar in politischen Einfluss umgemünzt hätte. Denn die Organisation lehnte es wohlweislich ab, sich bei Wahlen selbst dem potentiell schmerzlichen Votum der Wähler zu stellen, sondern schloss eine „Waffenbrüderschaft“51 mit der DNVP. Gründung und Struktur der DNVP in Pommern Die nach der Novemberrevolution gegründete DNVP war nicht einfach eine Kopie der DtKP der Kaiserzeit mit bloß anderem Etikett, sie war vielmehr eine höchst komplizierte Neukonstruktion, in der neben deutsch-konservativen vor allem auch freikonservative, betont nationalliberale, christlich-soziale und alldeutsch-völkische Elemente zusammenfanden, die zu einem großen Teil schon im letzten Kriegsjahr von der in Pommern besonders starken Deutschen Vaterlandspartei (DVLP)52 mobilisiert worden waren. Ausgerechnet die in Ostelbien bis vor kurzem noch so dominierenden Deutsch-Konservativen aber galten wegen ihrer besonderen Nähe zum schmählich untergegangen alten Regime und der höchst unpopulären (Zwangs-)Wirtschaftspolitik im Krieg als derart diskreditiert, dass sich alle anderen Parteiströmungen jedenfalls darin ziemlich einig waren, keinesfalls bekannte Junker mit DtKP-Stallgeruch an die Spitze zu stellen. Selbst der große Pommern-Patriarch Conrad von Wangenheim wurde, so gut es ging, versteckt und durfte 1919 höchstens – wenn man sonst gar keinen anderen Versammlungsredner für die wichtigen Agrarfragen fand – einige lokale Veranstaltungen abhalten53.  Das Retirieren der Junker scheint in Pommern immerhin umstrittener gewesen zu sein als andernorts im Reich54. Doch selbst hier schlug die teriell schlechterer Lage als weiter westlich  – die patriarchalischen Bindungen „besonders lange erhalten“ (ebd., 18). 51  So nannte es Schlange-Schöningen. Martin Schumacher, Land und Politik. Eine Untersuchung über politische Parteien und agrarische Interessen 1914–1923, Düsseldorf 1978, 494. 52  Bert Becker, Georg Michaelis. Preußischer Beamter – Reichskanzler – Christlicher Reformer, 1857–1936. Eine Biographie, Paderborn u. a. 2007, 533, sowie Heinz Hagenlücke, Die Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997 (182, 292), speziell auch zu dem in Ostelbien führend bei der DVLP aktiven kleinen Landjunkertum (186). 53  Bert Becker, Revolution und rechte Sammlung. Die Deutschnationale Volkspartei in Pommern 1918/19, in: Geist und Gestalt im historischen Wandel. Facetten deutscher und europäischer Geschichte 1789–1989. Festschrift für Siegfried Bahne, hrsg. v. Bert Becker/Horst Lademacher, Münster 2000, 211–230, hier 218. 54  Zur generellen Schwächung des Gruppenansehens der Junker vgl. auch Hans Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders.,



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Vertrauensmännerversammlung der DNVP als Kandidat für die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 keinen einzigen Adeligen vor, als Listenführer sogar einen einfachen Landwirt: Willy Jandrey aus Klein-Raddow, der als „ein pommerscher Bauerntyp“ galt, politisch aber bis dahin nicht über den Kreistag von Regenwalde hinausgekommen war55. Zwar hatten eineinhalb Dutzend adlige Gutsbesitzer schon in einem publizistischen Appell Anfang Dezember 1918 offen ihre Sympathien für die neue DNVP erkennen lassen56, und wenige Wochen später waren auch einige klangvolle Namen derer von Kleist, Zitzewitz oder Brockhausen unter einem Aufruf gestanden, im Hinblick auf den anstehenden Urnengang für den „Wahlschatz“ der DNVP zu spenden57. Zudem hatten die damals noch fast sämtlich adeligen Landräte – vom konservativen Oberpräsidenten und Ex-Reichskanzler Georg Michaelis animiert  – vielfach aktiv die Gründung von Kreis- und Ortsverbänden betrieben. Doch diese waren oft von Verwaltungsbeamten, Lehrern, Pfarrern, Handwerksmeistern oder anderen bürgerlichen Honoratioren, gelegentlich auch von höheren Damen aus den vaterländischen Frauenver­ einen geprägt58 und entschlossen, das auch von der Reichsleitung der ­DNVP forcierte Profil einer Volkspartei – und eben nicht einer auch nur verkappten „Junkerpartei“ – zu entwickeln. Der Arbeitsausschuss für eine DNVP-Gründung im Kreis Greifenhagen etwa sah sich explizit für eine „Partei des Bürgertums59 in Stadt und Land“ engagiert60. Dem Landadel, wo in dieser Phase neben dem Grandseigneur von Wangenheim Männer wie der frühere langjährige Landtags- und Reichstagsabgeordnete (und spätere DNVP-Ehrenvorsitzende) Eugen Heinrich von Brockhausen (der Jüngere) oder der Rügener Landrat Freiherr von Maltzahn zur politischen Aktivitas zählten, gelang es allerdings immerhin noch, den Bauern Jandrey auf den zweiten Platz abzudrängen. Spit-

Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, 83–101, hier 99. 55  Becker, Revolution (Anm. 53), 224 f. Jandrey wird dann von 1919 bis 1930 für die DNVP im Reichstag sitzen. 56  Becker, Georg Michalis (Anm.  52), 554  f. Pommersche Tagespost (PTP), 3.12.1918. 57  PTP, 25.12.1918. 58  Vgl. dazu auch PTP, 11.12.1918 (zur Gründung der Ortsgruppe Kolberg-Köslin) und 12.12.1918 (zur Gründung der DNVP in Naugard) sowie die Anzeige in der PTP am 5.12.1918 zur Gründung der DNVP in Stettin. Zur Rolle der Frauen in der DNVP allgemein Raffael Scheck, Mothers of the nation. Right-Wing women in Weimar Germany, Oxford/New York 2004, v. a. 23 ff. 59  Kursivsetzung M.K. 60  PTP, 24.12.1918.

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zenkandidat wurde der Stettiner Gustav Malkewitz, langjähriger Verleger der konservativen Pommerschen Tagespost (PTP, bis 1911: „Reichspost“) und Ex-Reichstagsabgeordneter der DtKP, auf den dritten Platz kam die christlich-soziale Gewerkschaftsfunktionärin Margarete Behm61. Dass man sich ausgerechnet auf Malkewitz als Vorzeigefigur der neuen Partei in Pommern einigen konnte, war einerseits ein klarer Beleg für den anhaltenden Einfluss des Landadels zumindest hinter den Kulissen.62 Denn der aus einer Wolliner Ackerbürgerfamilie stammende Malkewitz, der dann logischerweise auch den Landesvorsitz der PommernDNVP übernahm63 , war seit den Anfängen des BdL in den frühen 1890er Jahren einer der engsten Weggefährten von Wangenheims gewesen64. Andererseits änderte dies nichts an dem eher schwachen Anteil des Adels an der pommerschen DNVP-Führung auch während der folgenden Jahre. Bei den folgenden Reichstagswahlen 1920 etwa schaffte es der Landbund – trotz Unterstützung durch Malkewitz – gegen den vereinigten Widerstand der christlich-nationalen Gewerkschaften und des bäuerlichen Flügels nicht, Ernst von Zitzewitz-Beßwitz auf der Reichsliste der DNVP zu platzieren65. Friedrich-Karl von Zitzewitz aus dem hinterpommerschen Muttrin gehörte später dem kurzlebigen zweiten Reichstag nur für wenige Wochen im Herbst 1924 als Nachrücker (für den verstorbenen

61  Auf dem pommerschen Wahlvorschlag der DNVP fanden sich überhaupt keine Bewerber von Adel, dagegen zwei bürgerliche Gutsbesitzer. Vgl. Die Wahlen zur Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19.  Januar 1919. Mit einer Karte der Wahlkreise und farbiger Darstellung der Zahl und Parteistellung der in jedem Wahlkreis gewählten Abgeordneten, bearbeitet im Statistischen Reichsamt, Berlin 1919, 38. Vgl. auch Becker, Georg Michaelis (Anm. 52), 554 ff. 62  Vor den Kulissen war der Einfluss anfangs eher noch im kommunalen Bereich sichtbar, wenn sich etwa unter den 28 Deutschnationalen im Provinziallandtag von 1921 zwölf adelige Großgrundbesitzer befanden. Vgl. hierzu Kyra T. ­Inachin, Die DNVP Pommerns im Spannungsfeld Adel – Gesellschaft – Staat, in: Mieczysław Jaroszewicz/Włodzimierz St˛epi´nski: Szlachta  – społecze´nstwo  – pa´nstwo mi˛edzy Warmi˛a a Rugi˛a w XVIII–XX wieku, Szczecin/Stettin 1998, 93– 108, hier 98. Inachin zieht allerdings die Kontinuitätslinien insgesamt allzu stark aus, wiewohl etwa auch die von ihr selbst erwähnte Präsenz von nur noch 2 Adeligen in der 31köpfigen DNVP-Fraktion des 1932 gewählten Preußischen Landtags eine andere Sprache spricht. 63  PTP, 17.10.1920. Laut Pommerscher Tagespost (10.12.1918) hatte sich der ­DNVP-Landesverband schon am 5.12.1918 in Stettin gegründet und dort am Berliner Tor eine Geschäftsstelle bezogen (PTP, 18.12.1918). 64  Malkewitz hatte damals, 1894, z. B. ein neues Wochenblatt, den „Bund der Landwirte für Pommern“ gegründet. PTP, 1.4.1919. 65  Schumacher, Land und Politik (Anm. 51), 487. Auch Dewitz, der eine „sich vorwiegend auf die landwirtschaftliche Wählerschaft gründende Ausrichtung“ der DNVP wünschte, hatte vergeblich gegen die Gewerkschaftler gestritten.



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Malkewitz) an, nachdem er bei den Wahlen im Mai 1924 (als erster und einziger adeliger Gutsbesitzer) nur auf Platz 8 der pommerschen DNVPLandesliste kandidiert hatte und auch bei den rasch folgenden Wahlen im Dezember 1924 über diesen Listenplatz nicht hinausgekommen war66. Dass demgegenüber gleich zwei Bauern und zwei Arbeitersekretäre kandidiert hatten, entsprach dem damals deutschlandweiten Erscheinungsbild der DNVP, in deren Reichstagsfraktion zwischen Ende 1924 und 1928 14 Bauern und 10 bürgerliche Gutsbesitzer saßen, mit fünf ostelbischen Landadeligen dagegen nur ebenso viele wie Vertreter aus der Landarbeiterschaft67. Einer dieser fünf Junker war der nun erstmals  – über die Reichsliste der DNVP – gewählte pommersche Landbunddirektor von Dewitz, der wegen seiner ständigen Querelen mit der liberaleren Leitung des Reichslandbundes in Berlin aus seinem regionalen Amt hatte weggelobt werden müssen68. Zum Vorsitzenden der Pommern-DNVP indes wurde 1924 mit Hans Schlange-Schöningen abermals ein Bürger­ licher gewählt, wenngleich wiederum einer, der als Gutsbesitzer auch im Landadel vermittelbar war. In diesen anhaltenden innerparteilichen Machtverhältnissen spiegelte sich wider, dass für die alten pommerschen Eliten gerade nach den mit der eigenen Standesehre schwer zu vereinbarenden Erfahrungen der gesellschaftlichen Zurückweisung während der Revolutionszeit 1918/19 der Verzicht auf größere Aktivitäten bei der DNVP, ja eine gewisse „grollende raisonnierende Resignation“69 typisch wurde. Dazu gehörte auch die Pflege der Erinnerung an bessere Zeiten im weiter bestehenden „Konservativen Hauptverein“ der (als Partei faktisch untergegangenen) DtKP. An diesem Verein hielt ein Teil  der Junker trotz öffentlicher Bekenntnisse zur „Nützlichkeit“ der DNVP unter Verweis auf die fortzuführenden Traditionen des preußischen Staates und seiner Könige zäh fest, um „der alten Fahne treu“ zu bleiben70. In dem damit gleichsam institutionalisierten Spezial-Vorbehalt gegen die neue Ordnung sammelte sich der

66  Statistik des Deutschen Reiches (StDR), Bd. 315, Die Wahlen zum Reichstag am 4. Mai 1924 und am 7. Dezember 1924, Berlin 1925, Heft I, 33; Heft III, 31. 67  Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 296. 68  Näher dazu: Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 248 f. 69  Walter Görlitz, Die Junker. Adel und Bauern im deutschen Osten. Geschichtliche Bilanz von 7 Jahrhunderten, Glücksburg 1956, 331. Vgl. auch Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 293. 70  PTP, 14.4.1919, Erklärung eines „Zwölfer-Ausschusses“ der „Konservativen Partei“.

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„harte Kern“71 des im genauen Wortsinn „reaktionären“ ostelbischen Adels. Dabei flossen neben den konservativen Überzeugungen zunehmend auch alldeutsche und zeitgeistig-völkische Ideologeme ein, ohne dass der „Hauptverein“, nachdem sich auf Empfehlung seiner Führung die lokalen Vereine ausdrücklich zu Gunsten der DNVP aufgelöst hatten72, auch nur im entferntesten eine Breitenbasis entwickelt hätte73. Auch die Unterstützung durch Junker wie von Wangenheim, der sich trotz innerparteilichen Widerstandes gegen ihn von Anfang an bis ins hinterste Pommern hinein „intensiv“ für die DNVP einsetzte74, war ein wichtiger Faktor im Aufstieg der Deutschnationalen zur Milieupartei. Ebenso bedeutsam wurden die engen Bindungen der Deutschnationalen an weitere zentrale politische Multiplikatoren der Region. Neben dem Landbund sind hier vor allem die evangelische Kirche, der Wehrverband Stahlhelm und mit ihm das weite Netz der „vaterländischen“ Vereinskultur anzusprechen. Dass die evangelische Kirche in Weimar-Deutschland nach verbreiteter zeitgenössischer Einschätzung zwar politisch neutral, aber deutschnational war, traf auf das zutiefst lutherisch geprägte Pommern gewiss nicht weniger zu als auf andere Regionen. Der Sachverhalt entfaltete seine Wirkung gerade in den alten Zentren der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts im östlichen Pommern, wo die Kirchenbindung spürbar höher geblieben war als im westlichen Teil  und wo ein oft tiefreligiöser Landadel seine Patronatspflichten besonders ernst nahm.75 Das Ende der Hohenzollerndynastie und der alten Einheit von Thron und Altar hatte in einem Land wie Pommern, das traditionell in engstem Verhältnis zum preußischen Königshaus stand – der Kronprinz bekleidete dort seit dem 18. Jahrhundert das in keiner anderen Provinz mehr 71  Jens Flemming, Konservatismus als „nationalrevolutionäre Bewegung“. Konservative Kritik an der Deutschnationalen Volkspartei 1918–1933, in: Dirk Stegmann/Bernd-Jürgen Wendt (Hrsg.), Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer, Bonn 1983, 295–331, hier 300. 72  PTP, 18.12.1918 (mit Verweis auf Stolp Stadt und Land). 73  Daher rührte auch die Einschätzung führender Leute (anno 1924), dass der Konservative Hauptverein in Pommern nur auf dem Papier bestehe und bewusst Distanz zu DNVP und RLB halte. Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 83, 174. 74  Joachim Bohlmann, Die Deutschkonservative Partei am Ende des Kaiserreichs. Stillstand und Wandel einer untergehenden Organisation, Phil. Diss. Greifswald 2011 (PDF), 248. 75  Werner Klän, Die Evangelische Kirche Pommerns in Republik und Diktatur. Geschichte und Gestaltung einer preußischen Kirchenprovinz 1914–1945, Köln u. a. 1995, 76, 69.



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existierende Amt eines Statthalters76 –, im Verein mit kirchenfeindlichen Schritten der linken Revolutionsregierung 1918/19 einen tiefen Schock ausgelöst. Er wurde auch durch spätere religionspolitische Kompromisse in der Weimarer Verfassung nicht gänzlich überwunden, zumal diese eher auf das Konto der argwöhnisch beäugten, zur „Weimarer Koalition“ zählenden, zumindest früher als „reichsfeindlich“ eingeschätzten Zentrumspartei gingen77. Schon als sich das Zentrum und die anderen Reformkräfte im späten Kaiserreich 1917 im Interfraktionellen Ausschuss formiert und eine Friedensresolution verabschiedet hatten, war ihnen von der Pommerschen Provinzialsynode entgegnet worden, der „Kanossagang der Monarchie zum demokratischen Parlamentarismus“ dürfe „nicht fortgesetzt“ werden78. Die Absetzung unseres Kaisers, so formulierte es ein pommerscher Landpfarrer dann im Dezember 1918, bedeute „für den einfachen Mann vom Land, für den reinen Pommer, der durch und durch konservativ ist“, so viel wie „die Absetzung Gottes“.79 Ein für die politische Kultur der Region gar nicht zu überschätzendes Momentum trat dadurch hinzu, dass Pommern die einzige deutsche Provinz war, die aufgrund der Gebietsabtretungen nach dem Krieg von einem Binnen- zu einem Grenzland wurde. Ostpreußen und Schlesien ­ waren das schon bis 1914 in der Nachbarschaft zum russisch regierten Polen gewesen, Pommern wurde es erst jetzt, nachdem Posen und Westpreußen zum großen Teil  an eine wiedererstehende polnische Republik gefallen waren, die bei den Friedensverhandlungen in Versailles auch noch Teile Hinterpommerns für sich reklamiert hatte. Daraus resultierten gerade in der Zivilgesellschaft des östlichen Preußen Ängste, die durch fortgesetzte annexionistische Ambitionen auf der polnischen Rechten ständig weitere Nahrung erhielten. So gingen selbst während der ruhigsten Weimarer Jahre auch vernünftige Demokraten wie der preußische SPD-Ministerpräsident Otto Braun davon aus, dass es in Polen nicht nur seitens extrem-nationalistischer Grüppchen, „sondern auch von sehr of-

76  Vgl. Ludwig Biewer, Pommern in der preußischen Zeit (1815–1945), in: Geschichte Pommerns im Überblick, hrsg. v. Joachim Wächter, Greifswald 2014, 111– 127, hier 114 f., sowie Dietmar Lucht, Die Provinz in Daten und Fakten, in: Buchholz, Pommern (Anm. 37), 424–446, hier 435. 77  Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 179  ff.; Baranowski, The sanctity (Anm. 5), v.a 107 f. Das anhaltend konfessionalistische Denken nährte auch ständig Sorgen, dass durch die im Zuge der Bekämpfung der Landflucht eingeleiteten Neusiedlungsmaßnahmen sich das Religionsgefüge zu Gunsten der katholischen Seite verändern könne. Vgl. Klän, Die Evangelische Kirche (Anm. 75), 101 ff. 78  Klän, Die Evangelische Kirche (Anm. 75), 20. 79  Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 48.

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fizieller Seite“ Bestrebungen gab, „weitere deutsche Gebiete unter polnische Herrschaft zu bringen“.80 Für die DNVP stand eine „Politik von der Grenze her“ erst recht im Mittelpunkt81 ihrer regionalen Wirksamkeit. Denn schon weil Pommern „nicht mehr inmitten des Preußenlandes“, sondern an dessen Rand liege, so meinte etwa die Führerin der DNVP-Frauenschaft, müsse das Land ­eine „Hochburg der Deutschnationalen“ sein82. Die defensiven Ängste vor Polen, besonders spürbar etwa auch während des Ruhrkampfes an der Westgrenze des Reiches 1923,83 oder infolge von Maßnahmen der preußischen Staatsregierung zu Gunsten polnischer Privatschulen (im Landkreis Bütow) 192984, mischten sich mit offensiver Sehnsucht nach einer Revision der „blutenden Grenze“85 durch ein künftiges stärkeres Deutschland. Angesichts der Schwäche des dem Reich verordneten 100.000-MannHeeres entstand in Pommern wie in den anderen Ostprovinzen aber zunächst ein halb staatliches, halb verdecktes  – d. h. vom Reichskabinett sanktioniertes, vom SPD-geführten Innenministerium Preußens geduldetes  – „schwarzes“ System zusätzlicher Landesverteidigung. In dessen 80  So Braun 1926 im Preußischen Landtag. Siehe Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, New York 1940, 282. 81  Kyra T. Inachin, Nationalstaat und regionale Selbstbehauptung. Die preußische Provinz Pommern 1815–1945, Bremen 2005, 290. 82  Ebd., 349. 83  Bei den pommerschen Deutschnationalen wuchs in diesen Monaten zusehends die Furcht, Polen könne die Gunst der Stunde nutzen, um sich jetzt jene Gebiete einzuverleiben, die ihm in Versailles 1919 noch verweigert worden waren. Włodzimierz St˛epi´nski, Preußische Nationalkonservative über die zweite polnische Republik. Polen im DNVP-Vereinsblatt „Pommersche Tagespost“ in der ersten Hälfte des Jahres 1923, in: Studia maritima, Vol. XXIV (2011), 175–195, hier 182 f. 84  BArch, R 8034/II 2728, Bl. 67; PTP, 24.7.1929. 85  So nannte sich eine feste Rubrik in der PTP. Vgl. Inachin, Nationalstaat (Anm. 81), 295. Siehe auch den Zeitungsartikel „Reise nach Hinterpommern“ (1929) zum Leben an der „kalten Wand“ der „tragischen Grenze“, in: BArch, R  8034/II 2728, Bl. 83, oder R 8034/II 2728, Bl. 74, Zeitungsausschnitt „Die Not Ostpommerns“ (1929) zu einer auch von der SPD mitgetragenen Resolution des Kreistages von Stolp, für Reichsbahnfrachten der pommerschen Grenzkreise endlich auch die günstigeren ostpreußischen Sätze einzuführen. Eine aufschlussreiche Regionalgeschichte des Konflikts in der (ab 1922) pommerschen Nachbarprovinz „Grenzmark Posen-Westpreußen“ bietet Mathias Niendorf, Minderheiten an der Grenze: Deutsche und Polen in den Kreisen Flatow (Złotów) und Tempelburg (S˛epólno Kraje´nske) 1900–1939, Wiesbaden 1997. Zum zeitgenössischen Ostgrenzendiskurs jetzt vor allem auch das fünfte Kapitel bei Agnes Laba, Die Grenze im Blick. Der Ostgrenzendiskurs der Weimarer Republik, Marburg 2019.



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Rahmen erlangte der politisch deutschnational orientierte Stahlhelm als Wehrverband ehemaliger Frontsoldaten eine herausgehobene Stellung, ja ersetzte in seiner gesamtgesellschaftlichen Stellung das einstige könig­ liche Militär fast wie eine „Zwangsgenossenschaft“86. Das Publikationsorgan des „Stahlhelm“ trug den vielsagenden Namen „Grenzwacht“. Wie  dicht das organisatorische Netz dieses Wehrverbandes in Pommern als  einer seiner reichsweit größten Bastionen wurde, dokumentierten 50.000 Mitglieder in 800 Ortsgruppen87. Im Stahlhelm trat auch der auf militärischem Gebiet traditionell besonders aktive Gutsbesitzeradel stärker als in der DNVP wieder selbst in Erscheinung, übernahm führende Positionen in vielen Kreisen und ein Rittmeister Bernd von WedelFürstensee 1928 auch den Landesvorsitz88. Politische Mentalitäten in der pommerschen Agrarprovinz Die in Kirche und Stahlhelm dominierenden politischen Mentalitäten  nationalprotestantisch-monarchistisch-wehrfrommer Art bestimmten auch bei den pommerschen Deutschnationalen, den mit ihnen liierten Landbündlern und den teilweise am Rande des DNVP-Spektrums stehenden Junkern ein außerordentlich kritisches Verhältnis zur Republik. Zwischen offizieller DNVP-Linie, Landbundideologie und junkerlicher Weltanschauung herrschte also – bei nur gelegentlichen Akzentverschiebungen im Einzelnen – in wesentlichen Punkten Übereinstimmung. Was der schon vor dem Krieg gegründete großstadtskeptische, dem Naturund Denkmalschutz verpflichtete Bund Heimatschutz 1921 formulierte: Gottesfürchtigkeit, Königstreue und Wehrbereitschaft im Dienste von Familie und Vaterland hätten geradezu als das „pommersche Mannesideal“89 zu gelten, diente tendenziell allen als Leitschnur. Gleich im ersten Provinziallandtag nach dem Untergang der Monarchie im März 1919 sorgten der Altersvorsitzende Wilhelm Graf von Zitzewitz (Zezenow) und der neu gewählte Vorsitzende Victor von Dewitz (Farbezin) dafür, dass noch einmal „in Dankbarkeit des ehemaligen Kai-

86  BArch, R 8034/II 2728, Bl. 109: Zeitungsausschnitt aus der Frankfurter Zeitung vom 10.  September 1930 („Wahlbrief aus Pommern“) aus der Feder eines „heimgekehrten Jungwählers“. 87  Inachin, Nationalstaat (Anm. 81), 292, 308. 88  Zum Grenzschutz in Hinterpommern: Bergien, Die bellizistische Republik (Anm. 30), 305–322, sowie Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 38, und Wolf Christian von Parlow, Ostelbischer Adel im Nationalsozialismus. Familienerinnerungen am Beispiel der Wedel, Göttingen 2017, 84 ff. 89  Inachin, Nationalstaat (Anm. 81), 260.

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sers“ gedacht wurde90. Gleichzeitig versuchte die DNVP-nahe Pommersche Tagespost, die von vielen Monarchisten als voreilig oder gar feige empfundene Abdankung des Kaisers anhand neuester Äußerungen des Generalmajors Otto von der Schulenburg dergestalt zu rechtfertigen, dass Wilhelm II. von einer dubiosen Entourage zu diesem Schritt „gezwungen worden“ sei91. Noch bei dem von SPD und KPD unterstützten Volksbegehren bzw. Volksentscheid für die Enteignung der politisch längst entmachteten Fürstenhäuser 1926 standen selbst eher moderate Junker wie Reinold von Thadden, der Landbund und die DNVP und nicht zuletzt die evangelische Kirche selbstverständlich auf der anderen Seite. Die Gesetzes­ initiative der linken Parteien verstieß ihres Erachtens eindeutig gegen das Siebte Gebot („Du sollst nicht stehlen“): Heute sollten die Fürsten das Opfer sein, morgen wären es die Gutsbesitzer, und übermorgen die Kirche, am Ende aber auch sämtliche kleinere Eigentümer. Pommern zählte zusammen mit Ostpreußen vor allem wegen der Ergebnisse auf dem flachen Land zu jenen Regionen, wo das linke Plebiszit am kläglichsten scheiterte92. Öffentliche Diskussionen über das unrühmliche Ende der Monarchie und die Charakterschwächen von Kaiser und Kronprinz gingen aber selbst an den „Modellpreußen“ in Pommern, von denen einst der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. gesagt hatte, sie „seindt getreue wie goldt“93, auf die Dauer nicht spurlos vorüber. Je länger, je mehr besaß der altpreußische Legitimismus auch dort, wo er mit am tiefsten verankert blieb, im Landadel, „eine tödliche Schwäche“. Er wurde, wie es der selbst aus ­Pommern stammende Adelskenner Walter Görlitz trefflich beschrieben hat, nach 1918 zu einem „Royalismus ohne König!“94. Gewiss, selbst im pommerschen Jungstahlhelm hielten sich deutschnationale Stimmen, die noch 1932 meinten: „Das Dritte Reich wird die preußische Monarchie der

90  Francis

L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/Main 1998,

158. 91  PTP, 7.4.1919. Als sich eine deutschnationale Arbeiterzeitung 1921 anheischig machte, aus ihrem Untertitel den positiven Bezug auf das „Kaisertum“ zu streichen, übte der Pommersche Landbund daran heftige Kritik. Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 177; vgl. auch ebd., 82, den Hinweis auf die ausführliche Würdigung der verstorbenen Kaiserin nach deren Dahinscheiden im selben Jahr. 92  Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 78 ff. 93  So hieß es im Politischen Testament des Königs 1722, woran auch Christian Graf von Krockow, Die Reise nach Pommern. Bericht aus einem verschwiegenen Land, 2. Aufl. München 1988, 155, erinnert hat. 94  Görlitz, Die Junker (Anm. 69), 346.



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Hohenzollern sein oder es wird nicht sein.“95 Doch repräsentativ waren diese wohl kaum mehr. Als der Hauptverein der Konservativen 1932 bei Führern rechter Organisationen eine Umfrage zum monarchischen Gedenken durchführte, hüllten sich die meisten in beredtes Schweigen96. Die wesentliche Wirkung eines lau gewordenen Monarchismus97 bestand somit darin, dass er die Legitimität der Republik destruktiv untergrub, ohne selbst halbwegs konstruktive Zukunftskonzepte zu entwickeln. Stattdessen trat vor allem auch der Antisemitismus zunehmend in Erscheinung98. Mit Bezug auf das dem Kaiser zugeschriebene Wort: „Vor einer Handvoll Juden muß ich den Thron meiner Väter räumen“, formulierte der pommersche DNVP-Vorsitzende Malkewitz auf einem Parteitag 1920: „Wir wissen […], wem wir diesen Zusammenbruch zu verdanken haben“99. Eine Aussage, die als symptomatisch für die zunehmende Überlagerung des monarchischen Denkens durch antisemitisch-völkisches Gedankengut gelten darf, gerade auch in Pommern, wo die DNVP stark unter den Einfluss von Mitgliedern des Alldeutschen Verbandes geriet100. Im Pommerschen Landbund, dessen Vorläufer bereits die Not der 95  PTP, 2.4.1932. Vgl. auch Inachin, Die DNVP Pommerns (Anm. 62), 107. Unter den prominenteren Deutschnationalen ist in diesem Kontext natürlich vor allem auch der Pommer Herbert von Bismarck zu nennen, der in der Phase deutsch-­ national-sozialistischer Regierungskooperation sogar kurzzeitig Innenminister Preußens war, um dann aber schon im März 1933 nach einem öffentlichen monarchistischen Grundsatzbekenntnis wieder aus dem Amt gedrängt zu werden. Auch die deutschnationale Pommersche Tagespost sollte zwei Jahre später verboten werden, nachdem dort zu einem Firmenjubiläum ein Artikel erschienen war, der ankündigte, man werde, so wie in den vergangenen 25 Jahren auch, weiterhin „für Gott, König und Vaterland“ kämpfen. Walter Görlitz, Widerstand gegen den Na­ tionalsozialismus in Pommern. Ein Versuch, in: Baltische Studien NF 48 (1961), 63–74, hier 68. 96  Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, 256. 97  Zur entsprechenden Entwicklung des monarchischen Gedankens in der DNVP allgemein vgl. Maik Ohnezeit, Zwischen „schärfster Opposition“ und dem „Willen zur Macht“. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) in der Weimarer Republik 1918–1928, Düsseldorf 2011, 92 f. 98  Vgl. auch Heinz Reif, Antisemitismus in den Agrarverbänden Ostelbiens in der Weimarer Republik, in: ders. (Hrsg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise – Junkerliche Interessenpolitik – Modernisierungsstrategien, Berlin 1994, 379–411. 99  Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), S. 79. 100  Vgl. Jan Striesow, Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Ra­ dikalen 1918–1922, Frankfurt/Main 1981, 106. Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 171. Allgemein zur Temperatur des deutschnationalen Antisemitismus vgl. Ohnezeit, Zwischen „schärfster Opposition“ (Anm. 97), 96 sowie 120–158. Vgl.

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Bauern in der Caprivi-Zeit Anfang der 1890er Jahre antisemitisch gedeutet hatten101, machte man sich (1921) nicht nur darüber – negative – Gedanken, dass die Juden in der Hauptstadt Berlin fast ein Drittel der Steuern aufbrachten, obwohl sie nur 4,8 % der Bevölkerung ausmachten102. Vielmehr war man auch davon überzeugt, dass die neue und ungeliebte parlamentarische Demokratie das Instrument einer „jüdischen Weltherrschaft“ sein müsse (1923)103. Wenn ein DNVP-Flugblatt schon im Januar 1919 wusste, dass die Junker von den Juden am meisten gehasst würden, so war das nicht nur ein durchsichtiger Versuch, der damals populären Junkerfeindschaft mit dem offensichtlich für noch stärker erachteten Gegengift des Judenhasses zu Leibe zu rücken104. Es verweist auch darauf, welchen Stellenwert der Antisemitismus im (Land-)Adel bereits gewonnen hatte. Eine führende Rolle spielte dabei der „sehr eng junkerlich denkende“ Landschaftsdirektor, langjährige BdL-Aktivist und Freund des Alldeutschen HeinrichClaß, Ernst v. Hertzberg-Lottin105, und seine schroff nationalistisch-alldeutsch und auch betont antisemitisch agierenden zwei Söhne, Gertzlaff und Rüdiger von Hertzberg auf Lottin. Gertzlaff, Ende 1918 im Alter von 38 Jahren als Landrat in Neustettin entlassen, weil er sich geweigert hatte, Befehle der von ihm nicht anerkannten Revolutionsregierung auszuführen, avancierte 1919 zum geschäftsführenden Vorsitzenden des „Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes“, also der reichsweit zunächst wichtigsten antisemitischen Scharnierorganisation, später zum stellvertretenden Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes106. Die in Pommern weit vernetzten Hertzbergs auch die Lageeinschätzung in einem Bericht des preußischen Innenministeriums vom Sommer 1922 (zit. bei Jan Mittenzwei, Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Pommern, Staatsexamensarbeit, Greifswald 2011, Bibliothek des Bundes­archivs, 24. So nahm etwa auch der DNVP-Vorsitzende Schlange-Schöningen auf einem Pommern-Parteitag im November 1924 auf die Bemerkungen des Kaisers zur Rolle der Juden am Kriegsende explizit Bezug. Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 46. 101  Auch wenn etwa Wangenheim (im Februar 1918) von sich sagte, kein Antisemit im landläufigen Sinne zu sein. Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 124. 102  Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 41. Dass die Steuerkraft der jüdischen Mitbürger umgekehrt auch als phänomenaler Integrationserfolg hätte gedeutet werden können, kam dagegen kaum einem in den Sinn. 103  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 124. 104  Ebd., 123. 105  Görlitz, Die Junker (Anm. 69), S 331. 106  Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919–1923, Hamburg 1970, 96 f. u. 364 (Anmerkung 44 u. 47), sowie Malinowski, Vom König (Anm. 96), 188. 1932 entwickelte



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vermittelten deutsch-völkische Rassenmystik auch an „Freundeskreise“ derer von Zastrow-Kölpin, von Schierstädt-Altbärbaum und von Jordan107. Selbst Artur Dinter, Verfasser scheußlicher völkischer SchundRomane, soll in einigen Familien Gastfreundschaft genossen haben108. Die Hertzbergs waren Anfang 1920 führend an einem Aufruf von Standesgenossen in Pommern zur „Reinigung des Adels vom jüdischen Blute“ beteiligt, weil selbst angesehene Geschlechter schon „stark verjudet“109 seien. „Die Häufung pommerscher Adliger unter den Vertretern der völkischen Richtung“, so hat Stephan Malinoski in diesem Kontext unter Verweis auf die Namen Konrad Tessen von Heydebreck, Hans-Joachim von Brockhusen, Joachim Friedrich von Ostwien oder Carl v. Behr-Pinnow resümiert, „ist in allen Überlieferungen auffällig“ ebenso die oft charakteristische „Mischung aus monarchistischen und völkischen Argu­ menten“110. Anfälligkeit für völkisch-antisemitisches Denken war freilich alles andere als Junker-spezifisch. In dem seit 1918 politisch immer selbstbewussteren klein- und mittelbäuerlichen Milieu traf man es nicht weniger an und auch nicht in merklich geringerer Dosierung. Die Bauernhochschule in Henkenhagen nahe Kolberg, gegründet 1922 als direkter Ableger der seit dem Vorjahr in Hellerau bei Dresden tätigen Einrichtung im Geist des völkischen Agrarideologen Bruno Tanzmann, galt als eines der wichtigsten Institute des pommerschen Landbundes. Sein Leiter, Paul Tonscheidt, war selbst in Hellerau zur Bauernhochschule gegangen, bevor er Henkenhagen aufzubauen begann111. Rückblickend aus dem Jahr 1934 erklärte Tonscheid später, sich nur aus taktischen Gründen, um die in Pommern übermächtige „Reaktion“ nicht auf den Plan zu rufen, nicht offen „als Schulungsstätte der NSDAP“ bekannt zu haben112. Gertzlaff, der engen Kontakt zu Alfred Hugenberg hatte, sogar die verwegene Idee, den Vorsitzenden der Alldeutschen, Heinrich Claß, zum Reichspräsidenten zu machen. Vgl. Hermann Weiss/Paul Hoser, Die Deutschnationalen und die Zerstörung der Weimarer Republik. Reinhold Quaatz 1928–1933, München 1989, 188. 107  Malinowski, Vom König (Anm. 96), 341 f. (Zitat 342). 108  Görlitz, Die Junker (Anm. 69), 331. 109  Malinowski, Vom König (Anm. 96), 341. 110  Ebd., 341, Anmerkung 82. Jedenfalls dürften die Pommern auch im Deutschkonservativen Hauptverein kaum opponiert haben, als dieser sich im März 1924 Richtlinien auf der Linie des „völkischen Reichsausschusses“ der DNVP gab, wo es unter anderem hieß: „Nur Deutschblütige dürfen zur Wahl in eine Volksvertretung aufgestellt werden“; die Herrschaft des „jüdischen Weltkapitals“ sei zu beseitigen. Flemming, Konservatismus (Anm. 71), 303. 111  Pomp (Anm. 4), 119 f., 154 f.; Inachin, Nationalstaat (Anm. 81), 263. 112  GStA PK, Rep. 92 Solger, Nr. 169: Junggemeinde Pommern. Rundbrief der Altschüler der Pommerschen Bauernhochschule, Nr. 28/1934, 12. Jg., 3.

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Vieles spricht jedenfalls dafür, dass die in der Nachbarprovinz Brandenburg zwischenzeitlich gut erforschte Bauernhochschule „extrem völkisch[er]“ Ausrichtung113 auch in Pommern einen wichtigen Einfluss auf die politische Sozialisation vor allem der jungen bäuerlichen Landbundmitglieder hatte. Der Junglandbund, der Juden oder „Judenmischlinge“ nicht in seinen Reihen dulden mochte, war im Oktober 1928 sogar in Henkenhagen gegründet worden, um fürderhin Hand in Hand mit der Bauernhochschule an „Deutschlands Wiederaufstieg“ zu arbeiten114. Das Hakenkreuz, angeblich „nicht nur Zeichen einer Partei“, sondern „Glaubenszeichen eines Volkes“, war von Anfang an Teil des Banners der Bauernhochschule von Henkenhagen115. Es ist also noch einmal zu unterstreichen, dass es für die Infizierung nahezu des gesamten Landbundes mit dem völkischen Gedanken keine Rolle spielte, wenn das Gewicht des Adels in Pommern deutlich höher lag als in Brandenburg116, das nur in seinem östlichen und nördlichen Teil vergleichbare Strukturen wie die Ostseeprovinz aufwies. Aber nicht nur extreme (Rand-)Figuren wie die Hertzbergs und ihre Kreise, sondern auch führende adelige Landbund-Funktionäre wie von Oertzen117 oder von Dewitz pflegten völkisches Gedankengut118 und übten in Bezug auf Überzeugungen dieser Art gewiss keine Korrektivfunktion gegenüber (jung-)bäuerlichen Landbundmitgliedern aus119. 113  Pomp,

Bauern (Anm. 4), 164. PK, Rep. 92 Solger, Nr. 171: Junggemeinde Pommern, Juli 1924, darin: Richtlinien für Aufbau Junglandbund; sowie Rep. 92 Solger, Nr. 169: Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Pommerschen Bauernhochschule, Frühjahr 1932, hrsg. von der Pommerschen Bauernhochschule, Henkenhagen 1932, 5. 115  Ebd. (Festschrift 1932), 2. Ein bekannter Lehrer dort, Albert Ernst, wurde später (1932) sogar Obmann des Arbeitkreises für Rasse- und Erbfragen innerhalb der nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft akademisch gebildeter Landwirte (Hans-Christian Harten, Himmlers Lehrer. Die weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014, 47). Vgl. auch Daniela Münkel (Hrsg.), Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, Göttingen 2000. 116  Vgl. Pomp, Bauern (Anm. 4), 335. 117  Vgl. sein Bekenntnis zu einer „völkischen Landarbeiterpolitik“ im März 1924. Bernd Kölling, Familienwirtschaft und Klassenbildung. Landarbeiter im Arbeitskonflikt. Das ostelbische Pommern und die norditalienische Lomellina 1901–1921, Vierow bei Greifswald 1996, 218. 118  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 89. Vgl. auch Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 248. 119  Wie es aussieht, wurden die vor allem von der bäuerlichen Jugend besuchten Bauernhochschulen ähnlich wie in Brandenburg auch in Pommern vom Adelsnachwuchs eher gemieden. Zumindest gab es – laut Görlitz, Die Junker (Anm. 69), 348 f. – eigene Schulungstagungen für den jungen Adel auf pommerschen Gütern 114  GStA



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Der auf dem pommerschen Land dominierende Satz politischer Grundhaltungen wurde schließlich von einem sich in die skizzierten Mentalitätsschichten passgenau fügenden, Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen „Agrarismus“ komplettiert. Dabei ging es um Überzeugungen von der besonderen Bedeutung des Landvolks für die seelisch-moralisch-politische Gesundheit der deutschen Nation, von deren akuter Bedrohung durch Industrialisierung und Urbanisierung, Globalisierung und Landflucht, und von der Notwendigkeit, den vermeintlich marxistisch, wenn nicht jüdisch gesteuerten Prozessen der Modernisierung die Stirn bieten zu müssen. Zumal diese sich nach 1918 in dem rapiden Ausbau des Weimarer Sozialstaats zugunsten vor allem städtischer Schichten noch dramatisch zu beschleunigen schienen120. Vielleicht fielen Agrarromantik und Großstadtfeindschaft in Pommern auch deshalb auf so fruchtbaren Boden, weil die oft alteingesessenen und nicht übermäßig vermögenden Junker aus niedrigem Adel hier besonders „echte Landmenschen“ waren, die „ihre Buchen, Bäche und Roggenfelder“ liebten121. Jedenfalls meinte ein Gertzlaff von Hertzberg schon bald nach Gründung der verhassten Weimarer Republik, nur „Auf dem Landwege zu Deutschlands Wiederaufbau“122 kommen, sprich: die Demokratie überwinden zu können. Aber auch viel (alt-)konservativere Standesgenossen sahen die Überindustrialisierung seit 1870, einschließlich der „Vergroßstädterung mit allen ihren Zersetzungserscheinungen“, höchst wie Heydebrand-Barzlin (Kreis Köslin) oder bei dem Hugenberg- und MussoliniAnhänger Graf Kuno Eckbrecht von Dürckheim-Montmartin auf Jassen/Kreis Bütow oder bei Graf Kleist in Wendisch-Tychow/Kreis Schlawe (ebd., S. 349), wobei hier nicht ganz klar ist, ob Friedrich-Wilhelm von Kleist (Jahrgang 1851) gemeint ist oder  – wahrscheinlicher  – dessen berühmter ältester Sohn Ewald, auf den das Gut bereits 1914 überschrieben worden war. Ewald war im Kreis Schlawe führend in der DNVP, im Landbund, im Stahlhelm und im Grenzschutz tätig und wird nach 1933 immer wieder dem evangelischen Pfarrer Dietrich Bonhoeffer Unterschlupf bieten. Dieser Ewald von Kleist ist allerdings nicht zu verwechseln mit seinem noch bekannteren Namensvetter Ewald von Kleist-Schmenzin auf Gut Groß-Dubberow im Kreis Belgard, der 1945 wegen der Beteiligung am Widerstand gegen den Nationalsozialismus hingerichtet wurde. 120  Vgl. Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000, 294 ff., 312 f., sowie Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim/Glan 1970. 121  Diese Liebe war vielleicht, so ist vermutet worden, sogar noch inniger als die des – häufiger hohen – standesherrlichen und gräflichen Adels in Ostpreußen und Schlesien. Carsten, Geschichte (Anm. 90), 193, unter Bezug auf ein Urteil Veit Valentins. 122  So der Titel einer von ihm verfassten, in Dresden 1920 erschienenen Schrift. Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 224.

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skeptisch. Der Staat der Zukunft müsse sein Schwergewicht vom industriellen Bereich wieder auf die Agrarwirtschaft verlegen123. Vendée gegen Weimar beim Lüttwitz/Kapp-Putsch 1920 Hoffnungen, dass die Landwirtschaft als wichtigster Berufsstand besondere Förderung erfahren würde, ihr politisches Gewicht durch mehr Stimmen für die bodenständige Bevölkerung im Rahmen eines Pluralwahlrechts gestärkt124, beeinflussten 1920 auch schon die Haltung konservativer Pommern beim Lüttwitz-Kapp-Putsch gegen die in der Novemberrevolution von 1918 geborene Republik. Es war zwar entgegen mancher Befürchtungen und anders als in Bayern zu keiner „Räte-Republik Pommern“ gekommen, in den Arbeiter- und Soldatenräten vor Ort hatten meist kompromissbereite Sozialdemokraten dominiert125, doch im Laufe des Jahres 1919 gab es gleichwohl schwere Konflikte: Auseinandersetzungen zwischen ländlichen Arbeitgebern und dem Deutschen Landarbeiterverband mit Entlassungen, Verhängung des Belagerungszustandes über Teile der Provinz und schließlich ab Anfang 1920 der Aufnahme aus dem Baltikum zurückkehrender Soldaten und Freikorpskämpfer auf vielen der großen Güter – keineswegs nur zum Zwecke der beruflichen Wiedereingliederung in die Landwirtschaft126. Treibende Kraft des Putsches war eigentlich weniger der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp, auch wenn dieser von den Konterrevolutionären zum neuen Reichskanzler ausgerufen wurde und viel weiter gehende Ziele verfolgte, sondern der aktive Reichswehrgeneral Walther von Lüttwitz, Oberbefehshaber der Truppen östlich der Elbe. Lüttwitz wollte vor allem die drastische Reduzierung der Streitkräfte infolge des Versailler Vertrages und konkret die dazu im Februar 1920 vom Reichswehrminister angeordnete Auflösung der (Elite-)Marinebrigade 123  So nachzulesen bei Flemming, Konservatismus (Anm. 71), 324, am Beispiel des Ewald von Kleist-Schmenzin. Es verwundert nicht, dass solche im deutschnationalen Spektrum verbreiteten Überzeugungen vor allem auch in der pommerschen Landbundpresse breiten Widerhall fanden: Die geradezu „viehische“ Ver­ rohung der Jugend infolge mangelnder religiöser Erziehung etwa galt hier als „großstädtisches Phänomen“, das wegen des Vordringens der Sozialdemokratie seit 1918 allenthalben begünstigt werde. Vgl. Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 109, mit Bezug auf einen Artikel vom Sommer 1921. 124  Görlitz, Die Junker (Anm. 69), 338, sieht im Putsch den Versuch der alten preußischen Führungsschichten, die Zügel wieder in die Hand zu bekommen. 125  Edward Włodarczyk, Krisenzeit: Pommern in der Weimarer Republik (bis 1933), in: Pommern im Wandel der Zeiten, hrsg. v. Jan M. Piskorski, Stettin 1999, 283–303, hier 285. 126  Carsten, Geschichte (Anm. 90), 159 f.



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Ehrhardt nicht hinnehmen. Die Weimarer Mitte-links-Regierung hätte er am liebsten durch ein Kabinett der Fachleute ersetzt. Zum zivilen Teil  der Fronde hat Heinrich August Winkler einmal bemerkt, dass sie „sich nur im konservativen Ostelbien auf einen gewissen Rückhalt in der Gesellschaft stützen“ konnte: „Gutsbesitzer, monarchistische Politiker und Beamte“127. Und in der Tat fallen beim Blick auf handelnde Akteure und Unterstützer gleich nach den ostpreußischen auch die pommerschen Verbindungen der Putschisten ins Auge. An erster Stelle ist dabei der Landbundführer von Wangenheim zu nennen. Er war nicht nur Mitglied in der sog. „Nationalen Vereinigung“, einer Art Nachfolgeorganisation der Vaterlandspartei, die das Zentrum von Umsturzvorbereitungen bildete, sondern galt auch als „ein besonders rühriges Mitglied des engeren Kreises um Kapp und Lüttwitz“. Während des Putsches wie geplant zum preußischen Landwirtschaftsminister ernannt128, wollte er von dem von Lüttwitz ausgelösten, dilettantisch durchgeführten Aufstand konkret aber erst am 13.  März 1920 aus der Zeitung erfahren haben129. Otto Braun hielt den auf eine monarchische Restauration setzenden „weißbärtige[n] pommersche[n] Junker mit dem schlauen Fuchsgesicht“ für einen „der gerissensten unter den führenden Putschisten“130. Ein Urteil, dem in der Forschung im Blick auf die „unpolitische Geschäftsmäßigkeit“ Wangenheims in den entscheidenden Märztagen und seine generell eher ausgleichende Rolle in der Landbundpolitik freilich auch widersprochen worden ist131. Gleich nach Wangenheim und fast im selben Atemzug zu erwähnen ist dessen enger Landbund-Gefährte Johann-Georg von Dewitz. Schon 1919 hatte Dewitz in Stettin einen „Pommernclub“ etabliert (und auch dessen Vorsitz übernommen), der eine Art pommerscher Herrenclub aus hohen Beamten, Fabrikbesitzern, Geistlichen und auch Großgrundbesitzern aus den Landkreisen – unter Ausschluss sowohl von Juden wie von Katholiken  – bildete. Der Club sollte bei den „rechtsstehenden Parteien“ nicht nur „das Gefühl für das Gute und Große der vergangenen Zeit“ wachhalten, sondern er war auch in die Vorbereitung des Putsches verstrickt132. Belegt ist dies jedenfalls für Dewitz selbst, der u. a. mit dem hinter den 127  Heinrich

August Winkler, „Abschied von Preußen“, Spiegel-Special, 21.8.

2007. 128  Vgl. Johannes Erger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20, Düsseldorf 1967, 85–90 (Zitat 95). 129  Ebd., 129. 130  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 159 131  Schumacher, Land und Politik (Anm. 51), 250, 253 (Zitat). 132  Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 226 f.

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Kulissen kräftig mitmischenden General Ludendorff in Verbindung stand133. Schließlich muss namentlich auch noch von Traugott von Jagow die Rede sein, höherer Verwaltungsbeamter und Innenminister der Putsch-Regierung, der zwar altem märkischen Adel entstammte, aber nach seiner Festungshaft infolge des Aufstands Mitte der 1920er Jahre als Nachfolger Dewitzens zum Direktor des Pommerschen Landbundes avancierte134. Das Landbundmilieu, dem Wangenheim, Dewitz und Jagow gleichermaßen zugehörten, bildete mit den wichtigsten Wurzelboden der Fronde. In einer Proklamation an das pommersche Landvolk stellte sich die Verbandsführung im März 1920 sofort klipp und klar hinter die „neuen Männer“ um Kapp und Lüttwitz, weil dem „unheilvollen Treiben“ der bisherigen Regierung ein Ende habe gemacht werden müssen135. In soldatischen Kreisen wurde das vielfach ähnlich gesehen: Von den marschbereit stehenden Baltikum-Kämpfern auf den Gütern über die Einwohnerwehren bis hin zum kommandierenden General des regionalen Wehrkreises, der ähnlich wie sein Pendant in Ostpreußen mit Truppen und Garnisonen zu den Putschisten um Lüttwitz überlief136. Die Deutschnationale Volkspartei dagegen, der führende Meuterer wie Jagow selbst angehörten, zeigte sich hin- und hergerissen zwischen ihrer prinzipiellen politischen Sympathie mit den Rebellen und ihren Zweifeln an den Erfolgschancen des Unternehmens. Mehrere Kreisverbände in Pommern stellten sich offen hinter die Aufständischen. Auch das Presseorgan des Landesverbandes attestierte am Tag nach dem Putsch den „von aufrichtiger Vaterlandsliebe durchdrungenen Persönlichkeiten“ den „ersten Schritt“ zu einem notwendigen „Befreiungswerk“137. Selbst hinterher hielt es den „Abenteurer[n]“ um Kapp und Lüttwitz immerhin noch zugute, sich von den linken „Hochverrätern“ des November 1918 nur dadurch zu unterscheiden, dass sie nicht ebenso erfolgreich gewesen seien wie diese138. DNVP-Landesvorsitzender Malkewitz stimmte allerdings 133  Vgl. Erger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch (Anm. 128), 94, 97, 126. Vgl. auch den Artikel „Ein kappistischer Freiheitsapostel“ zu Dewitzens Verwicklung in den Kapp-Putsch (BArch R 8034/III, 93: RLB-Pressearchiv, Personen, Bl. 145), sowie ebd., (Bl. 144), oder andere Berichte zu seinen Beziehungen zu von Kahr in Bayern. 134  Schon während der Festungshaft hatte ihm eine nachsichtige Justiz reichlich Gelegenheit gegeben, „seine pommerschen Freunde in der näheren Umgebung zu besuchen“. Erger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch (Anm. 128), 265. 135  Carsten, Geschichte (Anm. 90), 160. 136  Ebd., 159 f.; Martin Schaubs, Märzstürme in Pommern. Der Kapp-Putsch in Preußens Provinz Pommern, Marburg 2008, 62 f. 137  Vgl. Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 165, sowie PTP, 14.3.1920 (Zitat). 138  PTP, 26.3.1920 („Die Schuld“).



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jetzt auch ausdrücklich seinem Reichsvorsitzenden Oskar Hergt zu, dass Gewaltpolitik in Deutschland grundsätzlich keinen Platz haben dürfe139. Zum Scheitern des Putsches hatte in Pommern wie reichsweit wesentlich ein Generalstreik beigetragen, zu dem die linken Parteien aufgerufen hatten und an dem sich in Stettin und den größeren Orten nicht nur die Industrie-, sondern vielfach auch Landarbeiter beteiligten140. Ein Indiz für die speziellen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in der Region war es aber noch einmal, dass der besonders konservative Beamtenbund in der pommerschen Hauptstadt, abweichend von der Vorgabe des Deutschen Beamtenbundes, sich gegen den Streik aussprach141. Summa summarum unterliegt es jedenfalls keinem Zweifel, dass Pommern vor allem wegen der Rolle des Landbundes während des Putsches seinem Ruf einer „deutschen Vendée“ 1920 durchaus „gerecht“ wurde. Carl von Ossietzky hatte in ahnungsvoller Voraussicht sogar bereits einige Wochen vor den März-Ereignissen 1920 geschrieben: „Wenn in Berlin geschossen wird, dann tanzt die pommersche Vendée vor Freude“142. Der bürgerliche Rittergutsbesitzer Schlange-Schöningen und die Chancen der Weimarer Republik in ihrer relativen Stabilisierungsphase Welche Chancen die Weimarer Republik selbst in einer so stark am Vergangenen hängenden Provinz wie Pommern gehabt hätte, wenn die wirtschaftliche und politische Erholung nach Hyperinflation und Ruhrkampf nur nachhaltiger gewesen wären, lässt sich exemplarisch an der Person des 1924 zum DNVP-Landesvorsitzenden gewählten Agrarwissenschaftlers Hans Schlange studieren. Schlange bewirtschaftete das von seinen Eltern übernommene, ca. 750 Hektar große Rittergut Schöningen im Kreis Randow unweit von Stettin und hatte es zu einem Mustergut entwickelt. In der Revolution 1918/19 war Schlange so wie „alle Freunde, Berufsgenossen“ und „alte Kameraden“ in seinem Umfeld zur DNVP gestoßen und schon 1920 im Alter von 34 Jahren in den preußischen Landtag gewählt worden143.

139  Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 28), 266; Erger, Der Kapp-LüttwitzPutsch (Anm. 128), 96. 140  Zum 24-stündigen „Ausstand“ in der hinterpommerschen Kreisstadt Greifenberg vgl. Thadden, Trieglaff (Anm. 18), 156. 141  Schaubs, Märzstürme (Anm. 136), 72. 142  Berliner Volks-Zeitung, 31.1.1920 („Der Aufmarsch der Reaktion“). 143  Hans Schlange-Schöningen, Am Tage danach, Hamburg 1946, 17.

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Als es nach den für die DNVP erfolgreichen Reichstagswahlen im Frühjahr 1924 zu innerparteilichen Diskussionen um die politische Strategie kam, distanzierte sich Schlange in einer Denkschrift an Hugenberg, den führenden Mann des extrem rechten Parteiflügels, noch von einer, wie er meinte, zu sehr an (republikanischen) Legalitätsprinzipien orientierten DNVP-Führung. Schlange plädierte dafür, „den parlamentarischen Weg“ nur zu „mißbrauchen, um in die Machtstellungen des Staates zu kommen“, und zwar „mit der festen Absicht, eines Tages von diesen Machtstellungen aus das Parlament zu vernichten.“ Ziel bleibe „die Diktatur, von der man möglichst nur wenig sprechen“ solle, die „man aber wollen“ müsse, um auf dieser Machtbasis „den inneren Aufbau der Staatsmacht und der Wehrhaftigkeit zu ermöglichen“144. Schlanges radikal alldeutsch-völkische Positionen erhellten damals auch aus seinen öffentlichen Auftritten, etwa bei einer DNVP-Versammlung in Stettin, wo er sagte, das Judentum habe „uns den Krieg beschert“ und dann mit seinen pazifistischen Parolen zur Kapitulation und „in die Sklaverei geführt“. Schlange wandte sich dabei speziell gegen Mitbürger, die nur völkisch daherredeten, aber ihre Weihnachtseinkäufe dann doch nicht im spärlich beleuchteten Laden eines Einzelhändlers machten, ­sondern lieber „in den flimmernden Warenhäusern“ (jüdischer Besitzer). Auch jene anderen „Sünder, welche sich Hakenkreuze an die Hoftür malen und dennoch ihr Getreide an den Juden verhandeln“ würden, griff Schlange an145. Wo er sich politisch selbst verortete, demonstrierte sein Umgang mit der Ende 1922 von der DNVP abgespaltenen, NSDAP-nahen (Deutschvölkischen) „Freiheitspartei“ des mecklenburgischen Rittergutsbesitzers Albrecht von Graefe, die bei den Reichstagswahlen im Frühjahr 1924 in Pommern – mit dem Ex-Gauleiter der verbotenen NSDAP, einem Greifswalder Mathematikprofessor, an der Spitze – über 7 % der Stimmen holte146. „Lassen Sie die Hände weg von dem im nationalen und völkischen Sinne festgeeinten Pommern“, rief Schlange der „Freiheitspartei“ drohend zu. Vor der Entfachung eines „Bruderkampfes in unserer Provinz“ zu warnen, halte er, Schlange, sich für umso berufener, als er den Posi­

144  Günter J. Trittel, Hans Schlange-Schöningen. Ein vergessener Politiker der „Ersten Stunde“, in: VfZ 35 (1987), 25–63, hier 27. 145  BArch R-8049/223: Wir Völkischen! Rede des deutschnationalen Abgeordneten Schlange-Schöningen in Stettin 1924, Hrsg. von der Deutschnationalen Schriftenvertriebsstelle Berlin, 4. 146  Kyra T. Inachin, Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Pommern, Schwerin 2002, 14.



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tionen der „Freiheitspartei“ unter den Deutschnationalen „in mancher Hinsicht vielleicht am nächsten stehen“ würde147. Die noch vier Jahre nach dem Lüttwitz-Kapp-Putsch massiv spürbare Systemfeindschaft im deutschnationalen Milieu, wo der völkisch orientierte Schlange nach dem Ableben von Malkewitz im Herbst 1924 den Parteivorsitz übernehmen konnte, hatte zumindest auch ökonomische Gründe. Denn nach Stillegung der Notenpresse waren in der Inflationskrise 1923/24 die Dämme gebrochen, „die die Landwirtschaft vor der Konkurrenz des Weltmarktes abgeschirmt hatten“148. Zu Überangeboten und Preisstürzen gesellten sich massive Steuererhöhungen für die Agrarier, die der Weimarer Staat zur Neuordnung seiner Finanzen für unumgänglich hielt149. Noch vor Schleswig-Holstein wurde Pommern daraufhin bereits im Januar 1924 zum reichsweit ersten Zentrum einer Protestwelle, die allein in Kolberg oder Naugard jeweils 1000 und mehr Bauern vor die Finanzämter ziehen ließ150. Trotz fortgesetzter Probleme vor allem wegen Geld- und Kreditmangels ebbte zumindest der öffentliche Protest in der Folgezeit angesichts kleinerer Erholungsphasen aber fast ganz ab, ja im Geschäftsbericht der Landwirtschaftskammer Pommern hieß es Ende März 1927 sogar, die Aussichten „für eine Besserung der Lage in der Landwirtschaft“ seien günstiger geworden, weil „ständig weitere Kreise“ Verständnis für die schwierige Lage der Agrarier hätten151. Es ist bemerkenswert, dass das bis dahin sehr geschlossene politische Weltbild Schlange-Schöningens, der im März 1926 zu einem der Stellvertreter Kuno Graf von Westarps in der DNVP-Führung aufstieg und im Reichstag ab Januar 1927 die Regierungsbeteiligung der DNVP im Bür-

147  BArch R-8049/223: Wir Völkischen! Rede des deutschnationalen Abgeordneten Schlange-Schöningen (Anm. 145), 13. 148  Martin Schumacher, Thesen zur Lage und Entwicklung der deutschen Landwirtschaft in der Inflationszeit (1919–1923), in: Otto Büsch/Gerald D. Feldman (Hrsg.), Historische Prozesse der deutschen Inflation 1914 bis 1924. Ein Tagungsbericht, Berlin 1978, 216. 149  Zum Protest des Pommerschen Landbundes wegen der „Untragbarkeit der Steuern“ vgl. schon dessen Schreiben an den Reichskanzler vom 23. August 1923, in: BArch, Akten der Reichskanzlei, Online, Die Kabinette Stresemann I/II, Bd. 1, Dokumente. 150  Jürgen Bergmann/Klaus Megerle, Protest und Aufruhr der Landwirtschaft in der Weimarer Republik (1924–1933). Formen und Typen der politischen Agrarbewegung im regionalen Vergleich, in: Jürgen Bergmann et al., Regionen im historischen Vergleich. Studien zu Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1989, 201–287, hier 211 f. 151  Ebd., 220.

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gerblock mittrug, ausgerechnet in dieser Phase „erste Risse“ bekam152. Auch was Schlange in seinen nach dem Krieg erschienenen Erinnerungen  – unter Ausblendung krasser völkischer Jugendsünden der Jahre nach 1918 – wohl etwas vorverlegt, scheint in dieser Phase seine Haltung tatsächlich zunehmend bestimmt zu haben: Die Erkenntnis, dass eine konservative Volkspartei im Zeitalter der Massendemokratie ohne das Bemühen auch um breite städtische Schichten und christlich-soziale Gewerkschaften keine Chance haben würde153. Zwar bekannte sich Schlange weiterhin zur Monarchie und zur Bismarck-Verfassung; während die Weimarer Konstitution für ihn ein „künstlicher und konstruierter, theoretisierender Notbehelf“154 blieb, doch auf der Jahreshauptversammlung der pommerschen DNVP ließ er im Juni 1928 mit dem Bekenntnis aufhorchen, sich an den englischen ­Tories ein Beispiel zu nehmen, also innerhalb des „Systems“ mitspielen zu wollen155. War Schlange nun zwar nicht gleich Vernunftrepublikaner geworden, aber geistig doch zumindest auf dem Weg zu einer parlamentarischen Monarchie?156. Er wird jedenfalls später (1931/32) als OsthilfeKommissar in einer Reichsregierung des Zentrumskanzlers Brüning mitwirken, die als faktisch letzte Alternative vor Hitler für einen autoritären, ggf. wohl auch monarchischen Umbau der Verfassung, nicht aber für die Abschaffung des Rechtsstaates und die Errichtung einer totalitären Diktatur stand.

152  Trittel,

Hans Schlange-Schöningen (Anm. 144), 28. dem christlichen Gewerkschaftler und zeitweiligen DNVP-Reichstagsabgeordneten Franz Behrens war Schlange befreundet. Schlange-Schöningen, Am Tage danach (Anm. 143), 17, 23. 154  Trittel, Hans Schlange-Schöningen (Anm. 144), 28. 155  Flemming, Konservatismus (Anm. 71), 299. 156  Dem widerspricht nicht unbedingt, dass er im Reichstag später, im März 1929, an die Parteien der „Weimarer Koalition“ gewandt sagte: „Wir wollen, daß dieses von Ihnen geschaffene, für Deutschland vernichtende, übertriebene parlamentarische System sterbe, damit Deutschland leben kann.“ Trittel, Hans Schlange-Schöningen (Anm. 144), 29. Denn mit einem weniger „übertriebenen“ parlamentarischen System könnte durchaus auch ein sanft monarchisch gebundenes wie das britische gemeint gewesen sein; das Übertreibungs-Wort impliziert ja zudem, dass das System in nicht übertriebener Form akzeptabel sein könnte. Im Juni 1931 präzisierte Schlange im Reichstag, ihm schwebe vor, die Weimarer Verfassung jedenfalls in eine autoritäre Richtung „organisch weiterzuentwickeln“. Ebd., 30. 153  Mit



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Rückkehr der Junker – Durchbruch der Hugenbergianer Das Problem im Blick auf die politische Landschaft Pommerns war nur, dass Schlange gerade wegen seiner wachsenden „staatskonservativen Grundgedanken“ im Laufe des Jahres 1928 gegenüber jenen Kräften in der DNVP massiv an Boden verlor, die sich in krassem Kontrast zu Schlange mehr und mehr einem „staatszerstörenden Radikalismus“157 hingaben. Hintergrund dieser Entwicklung waren zum einen die ersten Sturmzeichen der dramatischen Weltagrarkrise, die seit Anfang 1928 von Schleswig-Holstein bis Pommern den Höhepunkt der landwirtschaft­ lichen Protestbewegung in der Weimarer Republik einläuteten158, zum anderen die empfindlichen Verluste der vorher an der Regierung beteiligten DNVP bei den Wahlen im Mai 1928 und die Bildung einer neuen, auf der rechten Seite von schlimmsten Befürchtungen begleiteten SPD-geführten Reichsregierung. All dies verhalf innerhalb der DNVP den kompromisslosen Systemfeinden um Hugenberg gegen Westarp zum Durchbruch. Während Schlange sich mühte, seine Pommern im Lager der Gegner einer innerparteilichen Machtergreifung Hugenbergs zu halten159, versuchten dessen Bataillone in der Ostseeprovinz, Schlange als Landesvorsitzenden zu stürzen. Das scheiterte zwar erst einmal160, doch erklärten sich nicht nur sieben DNVP-Kreisverbände offen für Hugenberg, sondern vor allem auch der mächtige Landbund und sein Vorsitzender von Rohr161. Die knappe Wahl Hugenbergs zum DNVP-Reichsvorsitzenden Mitte Oktober 1928 wurde vom Pommerschen Landbund dann auch ausdrücklich begrüßt, weil der gewerkschaftliche Einfluss in der DNVP damit zurückgedrängt sei162. Wenig später, im April 1929, entschied sich auch der Machtkampf im DNVP-Landesverband. An Stelle des zurücktretenden 157  Schlange-Schöningen,

Am Tage danach (Anm. 143), 41. Protest und Aufruhr (Anm. 150), 222. 159  Noch zehn Tage vor der Parteivertretertagung mit Neuwahlen im Oktober 1928 wurde der Landesverband Pommern zu der knappen Hälfte jener Gliederungen gezählt, die hinter Westarp standen. Ohnezeit, Zwischen „schärfster Opposition“ (Anm. 97), 443. 160  Am 23.  Juni 1928 wurde Schlange noch einmal im Amt des Landesvorsitzenden bestätigt. Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, 238. 161  Ohnezeit, Zwischen „schärfster Opposition“ (Anm. 97), 444; Andreas Müller, „Fällt der Bauer, stürzt der Staat“. Deutschnationale Agrarpolitik 1928–1933, München 2003, 92. Laut Dietrich Orlow, Weimar-Prussia. The illusion of strength, Pittsburgh 1991, 146, war Rohr einer der wichtigsten Hugenbergianer im Preußischen Landtag. 162  Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 94. 158  Bergmann/Megerle,

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Schlange, der kein Jahr darauf die Partei ganz verlassen sollte, übernahm der Großgrundbesitzer Georg Werner von Zitzewitz-Groß Gansen den Vorsitz. Die Personalie war insofern symptomatisch, als der Landadel in dieser Phase auf breiterer Front wieder vermehrt in Erscheinung trat. Schon bei der Nominierung für die Landtags- und Reichstagswahlen im Frühjahr 1928 hatte man Schlange über den Landbund-Hebel einige Niederlagen beigebracht und u. a. von Dewitz und von Zitzewitz als (erfolglos bleibende) Kandidaten für den Reichstag durchgesetzt. Vor allem von Rohr hatte schon damals keinen deutschnationalen Gewerkschaftler mehr auf der Liste sehen, sondern sich am liebsten gleich ganz von diesem Flügel trennen wollen163. Auch das immer aufmüpfigere bäuerliche Element wollten die vermehrt aktiven adeligen Landbund-Politiker und Großgrundbesitzer entschlossen in die Schranken weisen. So organisierte Schwerin-Spantekow (aus Vorpommern) nach der Wahl im Juni 1928 erfolgreich eine Front gegen jene Kräfte im Reichslandbund, die der sich im westlichen Deutschland gerade etablierenden klein- und mittelbäuerlichen Protestbewegung der Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei (CNBL) im Reichstag Fraktionsstatus verschaffen wollten, indem eine genügende Zahl gewählter DNVP-Abgeordneter dorthin abkommandiert würde164. Vor den preußischen Provinziallandtagswahlen im Herbst 1929 setzte Landbunddirektor von Oertzen die Bemühungen fort, das „Eindringen“ der CNBL nach Pommern zu verhindern, um den dort bisher „in allen großen Fragen […] einheitlichen“ Agrar-Block geschlossen auf deutschnationaler Linie zu halten165. Es gab allerdings aufgrund eines schon länger schwelenden Konflikts zwischen Junkern und Bauern im Kreis Randow (bei Stettin) ein örtliches Sonderproblem, weshalb die Pommersche Landbundführung dort schließlich selbst eine regional (auf den Regierungsbezirk Stettin) begrenzte „Landvolkliste“ organisierte  – neben der Liste der DNVP, aber als ihr „verlängerte[r] Arm“166. Nur wurde diese Kriegslist in die DNVP 163  Ebd.,

59 ff., 62. Müller, Die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei 1928– 1933, Düsseldorf 2001, 75 f.; vgl. auch Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 84. 165  BArch, R 8034-I/252, Bl. 57: Oertzen an v. Zitzewitz, 15.11.1929. 166  Ebd., Bl. 60. Bei dem Konflikt ging es nicht zuletzt darum, dass sich die Bauernschaft gegen Großgrundbesitzer stellte, die mit aus bäuerlicher Sicht „halbmarxistischen Gewerkschaften“ kooperierten (Aufruf: „Pommersches Landvolk“, in: BArch, R 8034/II 2728, Bl. 78); vgl. dazu auch (ebd., Bl. 79) den Zeitungsausschnitt „Unsere Stimme am Sonntag“ (1929). 164  Markus



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hinein nicht gut genug kommuniziert bzw. dort nicht allenthalben akzeptiert167. Die unter dem Rubrum „Nationales Landvolk“ antretende Konkurrenzliste, angeführt von einem mit der CNBL liebäugelnden Bauern, Hans Dittmer168, und unterstützt vor allem von Bauernhofsbesitzern, Landarbeitern und einigen bürgerlichen Rittergutsbesitzern bzw. -pächtern, sagte zwar „dem revolutionären System“ (von Weimar) ebenfalls den „rücksichtslosen Kampf“ an169, wurde aber von der von Großgrundbesitzern dominierten örtlichen DNVP-Parteiorganisation im Wahlkampf scharf attackiert und erzielte kein einziges Mandat. Daraus müsse man lernen, appellierte hinterher die Landbundführung, dass das Vertrauen von Arbeitern und Bauern „zum Grossgrundbesitz […] nur wachsen“ könne, wenn dieser selbst „gegen eigene Standesgenossen“ vorgehe, die sich „durch ihr Verhalten als Schädlinge erweisen“ würden170. Bis zu den Reichstagswahlen 1930 war die politische Rückkehr der Junker so weit vorangeschritten, dass mit Herbert von Bismarck, dem Landrat des Kreises Regenwalde, einer der ihren die DNVP-Liste anführte, und bereits auf den Plätzen 5 und 8 mit Hans von Bonin-Gülzowshof und Reinold von Thadden weitere Standesgenossen folgten171. Die Gründe für die überraschend schnelle und massive Rückkehr auf die politische Bühne waren unschwer zu erkennen: Infolge der Agrarkata­ strophe stand den oft hochverschuldeten Betrieben das Wasser bis zum Hals – allein der pommersche Großgrundbesitz büßte zwischen 1925 und 1933 fast ein Zehntel seiner Güter (mit 580.000 ha) ein172, und selbst die, denen es noch besser ging, lebten in ständiger Furcht, als nächste betroffen sein zu können. 167  Vgl. etwa das Protestschreiben des DNVP-Kreisvorsitzenden von Regenwalde, Freiherrn von Senfft, an die Kreisgruppe des Landbundes, vom 14.11.1929, in: BArch, R 8034-I/252, Bl. 73 f. 168  Dieser wurde später auch Landesvorsitzender der CNBL in Pommern. Vgl. Müller, Die Christlich-Nationale (Anm. 164), 422, Anmerkung 10. 169  BArch, R 8034-I/252, Bl. 37: Annonce der Liste „Nationales Landvolk“ im Regierungsbezirk Stettin (in: Pommerscher Landbund, 9.11.1929); vgl. im selben Akt auch den DNVP-freundlichen Aufruf „Treue um Treue“ (Stargarder Zeitung, 14.11.1929) von Paul Witt (Bauernhofsbesitzer in Wobbermin, Kreis Pyritz) sowie das Flugblatt „Richtigstellung“ der Grundbesitzervereinigung des Kreises Randow. 170  Landbundgeschäftsstelle an die Kreisgruppe Regenwalde, 18.11.1929, in: BArch, R 8034-I/252, Bl. 68 f. 171  Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 382, Die Wahlen zum Reichstag am 14. September 1930, Berlin 1932, Teil I, 41. 172  Infolgedessen gab es gewichtige Stimmen, etwa auch die von SchlangeSchöningen, die Krise zu einer grundsätzlichen Reform der ostelbischen Besitzstruktur zu nutzen. Görlitz, Die Junker (Anm. 69), 355.

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Selbst viele derer, die von der Politik nach der großen Junkerschelte von 1918/19 eigentlich noch immer genug hatten, wurden aufgrund der ökonomischen Zeitläufte jetzt radikal politisiert. Nach einer zehnjährigen Karenzzeit seit Kriegsende konnte man ja auch darauf setzen, dass das dunkle Junkerbild in der Öffentlichkeit durch die Wahrnehmung einer noch dunkleren Gegenwart hinreichend vernebelt worden war. Vor allem und entscheidend aber: Mit dem finanzkräftigen Pressezaren Hugenberg hatte sich für alle, die das Weimarer „System“ noch viel restloser und schneller – gleichsam „auf Teufel komm raus“ – beseitigt sehen wollten als ein Schlange-Schöningen, ein neuer Hoffnungsträger in den Vordergrund gespielt. Da die überwältigende Mehrheit der DNVP-Mitglieder aus den Reihen der Bauern, (Land-)Arbeiter und anderer Gruppen so gut wie „keinen Pfennig Beitrag in die Parteikasse“ zahlte, erwies sich die Parteifinanzierung als das „politische Einfallstor, durch das der mobilisierte Großgrundbesitz die DNVP“ in den ostelbischen Gebieten „zu erobern vermochte“173. Ihre trotz Wirtschaftskrise vergleichsweise immer noch hohe Zahlungskraft verschaffte den Junkern einen Einfluss, der weit über ihre zahlenmäßige Repräsentanz hinausreichte. Das machte sich auch im Landbund in dieser Phase immer stärker bemerkbar. Der pommersche Verband und sein klar auf Hugenberg setzender Vorsitzender von Rohr174 spielten dabei auch innerhalb des RLB eine prominente Rolle: im Kampf der radikalen Deutschnationalen gegen die moderateren Konservativen um den geschäftsführenden RLB-Präsidenten Martin Schiele. Rohr war spätestens seit dem rechtsextremen Plebiszit gegen eine Neuregelung der Kriegsreparationen durch den YoungPlan 1929175, als ihm die Haltung Schieles zu lasch vorkam, mit dem stärker agrar- als nationalpolitisch denkenden RLB-Präsidenten höchst unzufrieden. Damals im Herbst 1929 hatten die reichsweiten Rekord­ ergebnisse in Pommern zuerst für das Volksbegehren, dann auch für den Volksentscheid gegen den Young-Plan (ca. ein Drittel der Stimmen) frei173  Pyta,

Dorfgemeinschaft (Anm. 12) 306 (Zitat) u. 307. auch Volker Köhler, Genossen – Freunde – Junker. Die Mikropolitik personaler Beziehungen im politischen Handeln während der Weimarer Republik, Göttingen 2018, 226. Ob Rohrs Position in bestimmten Kreisen, wie seine Feinde meinten, auch damit zu tun hatte, dass er als Junggeselle die „Hoffnung aller Adelsfamilien“ war, die „noch über eine sitzengebliebene Tochter verfügen“, mag hier dahingestellt bleiben. Holzbach, Das System (Anm. 160), 238. 175  Dabei ging es v. a. auch um das sog. Freiheitsgesetz, das Reichskanzler und -minister im Falle politischer Mitwirkung am Young-Plan mit Gefängnisstrafe bedrohte. Zu den Kämpfen um den Young-Plan speziell in Pommern vgl. instruktiv: Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 137 ff. 174  Vgl.



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lich nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen massiver Landbund- und DNVP-Propaganda erkennen lassen, da wegen der geringen Beteiligung außerhalb des engeren agrarischen Milieus eine Mehrheit nicht einmal in der bis dahin noch ganz und gar deutschnationalen Ostseeprovinz zu erreichen war.176 Alldeutsche Zirkel um von Hertzberg sowie Stimmen im Konserva­ tiven Hauptverein verstärkten in der Folgezeit allerdings noch die Skepsis gegen die taktische Haltung der Gouvernementalisten, zu der nach dem Eintritt Schieles als Agrarminister in die Regierung Brüning im März 1930 bald neue Momente hinzutraten177. Als die obstruktive Politik der DNVP-Führung unter Hugenberg im März/April 1930 eine Vorlage des neuen Ministers Schiele im Reichstag torpediert, die Mehrzahl der deutschnationalen Landwirtschaftsgruppe in der Fraktion sich aber gegen Hugenberg gestellt hatte, sprachen anschließend nur zwei Landbünde innerhalb des RLB Schiele nicht ihr Vertrauen aus: Hannover und  – Pommern178. Der Uneinigkeit im Gesamtverband zwischen den einstweilen schwächeren, weiter auf die DNVP setzenden Kräften und den Anhängern der CNLB bzw. anderer DNVP-Sezesssionisten  – wie Volkskonservative (KVP) und Christlich-Sozialer Volksdienst (CSVD)  – versuchte Schiele durch einen Kurs zu begegnen, der die Landbünde bei den für September 1930 angesetzten Reichstagswahlen wenn möglich eigenständig antreten ließ. Es waren aber der Pommersche Landbund und ­seine Verbündeten in anderen Provinzen auch im Westen, die dafür sorgten, dass dies nicht generell so beschlossen wurde, sondern nur für jene Regio­nen, wo es die örtlichen Verhältnisse erlaubten. Vergeblich versuchten CNBL und KVP daraufhin, möglichst viele Kreislandbünde in Pommern gegen die radikalisierte DNVP festzulegen. Denn Hugenberg und sein Vertrauter v. Rohr konnten nach wie vor „auf eine breite deutschnationale Unterstützung im Landvolk zählen“179. Ein 176  Selbst das in seiner Opposition zum Young-Plan führende Hinterpommern blieb einige Prozentpunkte unter einer absoluten Mehrheit. Speziell bei den Eintragungen zum Volksbegehren lag Pommern insgesamt allerdings mit 32,9 % weit, fast zehn Punkte, vor dem zweitplatzierten deutschen Wahlkreis und noch weiter über dem Reichsdurchschnitt von 10,2 %). Vgl. Schröder, Auf dem Weg (Anm. 8), 218. Zum Konflikt Schiele-Rohr vgl. auch Dieter Gessner, „Grüne Front“ oder „Harzburger Front“. Der Reichslandbund in der letzten Phase der Weimarer Republik zwischen wirtschaftlicher Interessenpolitik und nationalistischem Revi­ sionsanspruch, in: VfZ 29 (1981), 110–123, hier 113, 120 f. 177  Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm.), 161. 178  Bergmann/Megerle, Protest und Aufruhr (Anm. 150), 260. 179  Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 185. Zum damaligen Schiele-Kurs vgl. auch Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 303.

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halbes Dutzend Kreislandbundvorsitzende – darunter Graf Finck v. Finckenstein, v. Kleist-Duberow (Belgard) und v. Hertzberg (Neustettin)  – bekannten sich jetzt öffentlich zur „weitsichtige[n] Politik“ Hugenbergs. Schieles Verhandlungen mit dem DNVP-Landesvorsitzenden von Zitzewitz über eine mögliche „Einheitsliste“ von Landbund, CNBL und ­DNVP dagegen ließ dieser auf Veranlassung Hugenbergs platzen180. Ja, der Pommersche Landbund kündigte aus Protest gegen die CNBLTendenzen im RLB-Bundesvorstand und dessen Anti-DNVP-Entschließung vom 22. Juli 1930 zum Missbrauch der Landbünde durch „gewisse Parteien“ sogar seinen Austritt aus dem RLB am Ende des Jahres an181. Die Pommern revidierten diesen Schritt erst, nachdem Schiele infolge der Niederlage der CNBL bei den Reichstagswahlen im September 1930182 sich als RLB-Präsident nicht mehr halten konnte und wenige Wochen später durch den niederschlesischen Hugenbergianer von Kalckreuth ersetzt worden war. Dreiteilung des nationalprotestantischen Agrarmilieus und des Junkertums Als der Stern Schlange-Schöningens im Herbst 1928 sank, hatte ein DNVP-Insider dies mit den Worten kommentiert: Der hinterpommersche Adel „haßt ihn, weil er kein hinterpommersches Adelsregiment zuläßt“183. Tatsächlich waren die neben Schlange prominentesten Opfer der rechtsradikalen Wendung der DNVP in der Region bürgerlicher Provenienz, wie etwa sein treuer Landesgeschäftsführer Karl Passarge, ein Ex-Berufsoffizier aus Köslin, oder Walther Graef-Anklam, der aus einem Rittergut stammende Verleger und DNVP-Landtagsabgeordnete184. 180  Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 186, sowie Müller, Die ChristlichNationale (Anm. 164), 422 f. 181  Bergmann/Megerle, Protest und Aufruhr (Anm. 150), 262 (Zitat) u. 263. Vgl. auch Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 220. 182  In Pommern hatte sich die CNBL auch dadurch selbst beeinträchtigt, dass ihr prominentester Vertreter, Schlange-Schöningen, der mit dem CNBL-Landesvorsitzenden Dittmer persönlich verfeindet war, nicht als Spitzenkandidat auf der Landes-, sondern auf der Reichsliste antrat. Vgl. Müller, Die Christlich-Nationale (Anm.  164), 422 f. 183  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 295. 184  Vgl. Inachin, Die nationale Rechte (Anm. 7), 136; Holzbach, Das System (Anm. 160), 238, sowie  – unter Bezug auf das Passarge-Tagebuch  – Trittel, Hans Schlange-Schöningen (Anm. 144), 27 f. Vor dem geschilderten Hintergrund lässt sich zumindest ein Fragezeichen hinter den ersten Teil der Aufffassung von Görlitz, Die Junker (Anm. 69), 327, setzen, dass hinsichtlich der politischen Mentalität die entscheidende Trennlinie spätes-



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Doch ganz so hermetisch, wie das Wort vom Adelsregiment suggeriert, war diese Oberschicht denn doch nicht mehr. Als sich ab Ende der 1920er Jahre auf dem pommerschen Land die politischen Wege trennten und in drei Richtungen auseinanderliefen  – Schiele, Hugenberg, Hitler  –, war die Entwicklung vielmehr dadurch bestimmt, dass pommersche Rittergutsbesitzer, auch solche von Adel, ebenfalls in alle drei Richtungen aufbrachen. Den Hintergrund des fortgesetzten Teilungsprozesses im Milieu bildete das von Schiele als Reichsagrarminister entwickelte „Notprogramm“ für die deutsche Landwirtschaft, das ab dem Frühjahr 1930 mit hohen Schutzzöllen, binnenwirtschaftlichen Interventionen und Umschuldungsmaßnahmen die verheerenden Auswirkungen der globalen Agrarkrise auf die heimische Landwirtschaft abzufangen suchte, jedoch nicht schnell und nicht spürbar genug wirkte, um die weitere politische Radikalisierung der Landbevölkerung noch aufhalten zu können. Die pommerschen Verhältnisse gewannen in dieser Phase nationale Bedeutung, weil ab Oktober 1931 der CNBL-Abgeordnete Schlange-Schöningen im Range eines Reichsministers als Kommissar für die Osthilfe fungierte. Schlange arbeitete vor allem auch darauf hin, den nicht sanierungsfähigen überschuldeten Großgrundbesitz an bäuerliche Siedler umzuverteilen. Trotz der nationalen, auf Sicherung der Ostgebiete gegen eine polnische Bedrohung gerichteten Komponente von Schlanges Politik gelang es Hugenberg-nahen DNVP-Kreisen aber, diesen Kurs – auch dem Reichspräsidenten gegenüber  – als Agrarbolschewismus zu desavouieren185. Tiefste Abneigung gegenüber dem Kurs Schieles und Schlanges war ein wesentliches Bindemittel der in Pommern noch bis Anfang 1932 dominierenden, im Landbund weiter fest institutionalisierten deutschnationalen Mittelgruppe innerhalb des dreigeteilten Traditionsmilieus. Dort schien man sogar bereit, kurzfristig schwere Schäden für die Landwirtschaft in Kauf zu nehmen, um die von der SPD tolerierte Regierung des

tens nach 1918 weniger zwischen klassischen „Adels-Junkern“ und neuen bürgerlichen Gutsbesitzern verlief, sondern zwischen dem landbesitzenden Adel einschließlich der „von ihm recipierten bürgerlichen Landbesitzersippen“ auf der einen Seite und der breiten Schicht (grund-)besitzlosen Dienst- und Schwertadels auf der anderen, der mit dem Sturz der Monarchie die Existenzgrundlage verloren hatte. 185  An vorderster Front kämpfte hier etwa der spätere Reichsinnenminister in Papens kurzlebigem Kabinett der Barone, Wilhelm von Gayl, ein DNVP-Mann, der als Direktor der Ostpreußischen Landgesellschaft seit Langem für die Überwindung der Landflucht und der Strukturschwächen des ländlichen Raums tätig war. Vgl. etwa Köhler, Genossen (Anm. 174), 240.

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katholischen Zentrumspolitikers Brüning nur irgendwie loszuwerden186. Personell standen für diesen Ansatz neben von Rohr und dessen Direktor von Oertzen sowie dem DNVP-Vorsitzenden von Zitzewitz zunächst auch noch der langjährige, nominell erste Landbundvorsitzende aus den Reihen der pommerschen Bauernschaft, Otto Rannow, der seit 1928 für die DNVP im preußischen Landtag saß.187 Die gerade auch in Pommern von der Hugenberg-Presse im Amoklauf gegen den Young-Plan 1929 erst salonfähig gemachte NSDAP  – noch 1928 hatte sie in der Ostseeprovinz mit 1,5 % unter dem Reichsdurchschnitt von 2,6 % gelegen188 – war bei den Reichstagswahlen im September 1930 mit 24,3 % nur noch einen halben Punkt hinter der DNVP geblieben. Dazu trugen auch Wahrnehmumgen in der bäuerlichen Bevölkerung bei, dass viele Großgrundbesitzer „genauso verschuldet waren wie sie“ selbst und dass „Dutzende großer Besitzer“ es vorzogen, „stillschweigend ins Verwalter- oder Kavalierhaus zu ziehen“, um die Lebenshaltungskosten zu senken189: Im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs der alten konservativen Eliten ging mit der Ehrfurcht der früheren Hintersassen auch deren politische Bindung an die absinkenden Schichten weiter zurück190. Und die ausgerechnet in diesen Jahren, 1928 bis 1930, vom Land Preußen verfügte Auflösung der Gutsbezirke, wo bis dahin noch 20 % der Pommern, in manchen Kreisen gar doppelt so viele, gelebt hatten, lockerte die sozialen Beziehungen zwischen adligen Gutsherren und bäuerlicher Bevölkerung tendenziell ohnehin weiter auf191. Dieser Prozess verlief allerdings lokal unterschiedlich schnell192. So gab es in etlichen von Hugenberg-treuen Großgrundbesitzern geprägten Kreisen nach wie vor Hochburgen der DNVP, wie im Kreis Schlawe 186  Vgl. Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, Die DNVP, in: Das Ende der Parteien, hrsg. v. Erich Matthias/Rudolf Morsey, Düsseldorf 1960, 541–652, hier 557 f. 187  In der zweiten Reihe agierten in diese Richtung zudem Politiker wie der DNVP-Reichstagsabgeordnete, Stahlhelmer und Rittmeister a. D. Jürgen Freiherr von Ramin, der die „sozialdemokratische Zentrumsherrschaft“ durch eine „Hugenberg-Bewegung“ abgelöst sehen wollte. PTP, 9.12.1932. Vgl. auch Inachin, Die DNVP Pommerns (Anm. 62), 102 f. 188  Darauf verweist auch Graf Krockow, Die Reise (Anm. 93), 175. Die Erfolge der NSDAP ab 1930 führt er auf die schiere Existenzangst in der Landwirtschaft zurück. 189  Görlitz, Die Junker (Anm. 69), 361. 190  Vgl. Inachin, Der Aufstieg (Anm. 146), 32. 191  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 320. 192  Vor allem wo Pfarrer und Lehrer vor Ort „die alten Strukturen nicht in Frage stellten“, konnte „das Gut“ seine Autoritätsgrundlagen behaupten. Thadden, Trieglafff (Anm. 18), 172.



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(49 %), Stolp (43 %) oder Regenwalde (41 %), hier unter dem Einfluss von Graf Finck von Finckenstein193. Außerdem verstand es von Rohr, die Hitler-Partei mit harten Bandagen in Schach zu halten, sei es, indem er sie der Verfilzung mit einem „Kalisyndikat“ zieh, sei es, indem er die „Unwahrhaftigkeit und Minderwertigkeit“ einer großen Zahl von Unterführern der NS-Bewegung brandmarkte194. Bei den Wahlen zur Landwirtschaftskammer im Herbst 1931 manövrierte der selbst in die NSDAP ­hinein recht gut vernetzte von Rohr195 die Konkurrenzpartei noch einmal so geschickt aus, dass die nicht-nationalsozialistischen Kräfte mehr als dreimal so stark in der neuen Kammer vertreten waren196. Zu den prominentesten Gesichtern der Pommern-NSDAP hatte zunächst mit Walther von Corswant, der von 1927 bis Anfang 1931 Gauleiter in der Provinz war, immerhin ein vorpommerscher Gutsbesitzer gezählt, der zudem Gründungsmitglied des Pommerschen Landbundes und (bis 1923) zeitweilig selbst noch Deutschnationaler war197. Auch einige andere Junker mit bekannten Namen wie von Puttkamer, von Wedel oder von Enckewort schlugen sich auf die Seite der NSDAP198. In der weitverzweigten Sippe derer von Puttkamer sind schon für die Zeit vor 1933 zehn Nationalsozialisten ermittelt worden, wobei es sich freilich hier wie in anderen Fällen nur um die Minderheit innerhalb eines sehr großen Familienverbandes handelte199. Und vermutlich gehörte auch in Pommern 193  Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 297; Falter/Lindenberger/Schumann, Wahlen (Anm. 9), 72 u 132. Nur in einigen Kreisen wie vor allem Usedom/ Wollin, aber auch Cammin, Randow und Neustettin hatte die NSDAP die Deutschnationalen bereits klar distanziert. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 382 (Anm.  171), Teil II, 13 ff. 194  Im Demminer Tageblatt hatte „Herr von Rohr“ – laut: Die Diktatur („Amtliches Organ des NSDAP-Gaues Pommern“) vom 13.2.1932 („Der Spuk ist verweht“, BArch, R 8034/I 239)  – mit diesen Worten begründet, weshalb er selbst nicht zur NSDAP gehe. 195  Vgl. Joachim Petzold, Großgrundbesitzer  – Bauern  – NSDAP. Zu ideologischen Auseinandersetzungen um die Agrarpolitik der faschistischen Partei, in ZfG 29 (1981), 1128–1139, hier 1130 f. 196  BArch, R 8034/I 241, PTP, 13.2.1932, sowie R 8034/I 239 (Artikel „Überraschungen in der Landwirtschaftskammer“ aus: Die Diktatur, 14.2.1932). Vgl. auch Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 339. 197  Mittenzwei, Der Aufstieg (Anm. 100), 55; vgl. auch Andrzej Czarnik, Stosunki polityczne na Pomorzu Zachodnim w okresie republiki weimarskiej 1919–1933; Poznan (Posen) 1983, 281 f. 198  Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 148. 199  Vgl. Malinowski, Vom König (Anm. 96), 573 f., u. 577, Anm. 422, sowie GeorgJescow von Puttkamer mit Oliver Domzalski, Zwei Eichen und zwei Linden. Die Puttkamer. Die Geschichte einer deutschen Adelsfamilie, Frankfurt/M. 2018, 158, 162, 166, 172 ff. Ob die Zurückhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus auch

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wiederum nur eine Minderheit der adeligen NS-Epigonen nicht zu den sozialen Absteigern, wohingegen der ökonomisch ruinierte Kleinadel am häufigsten war, d. h. Typen wie der Ex-Offizier Alexander von Woedtke, der sich nach dem Krieg auf dem hochverschuldeten Gut seiner Familie in der Region niedergelassen und erfolglos am Aufbau einer Geflügelzucht versucht hatte. Kurz nach der Zwangsversteigerung trat er 1929 der NSDAP bei und wurde 1931 hauptberuflicher SS-Führer200. Der zumindest partielle Anhang im Landadel verschaffte der NSDAP auf dem Weg zur gesellschaftlichen Salonfähigkeit zwar gerade in Pommern ein wichtiges symbolisches Kapital. Für das soziale Gesamtprofil der NS-Bewegung waren aber doch ganz andere Gruppen prägend. Auf ihrer Liste zu den Reichstagswahlen 1930 z. B. stand außer von Corswant kein einziger Junker, stattdessen fielen unter den NSDAP-Kandidaten aus dem Agrarmilieu gleich mehrere Bauern und Landarbeiter ins Auge201. Auch in den Vorstand des Pommerschen Landbundes entsandte die Partei nach ihrem spektakukären Wahlerfolg im September 1930 mit dem Landbundvorsitzenden im Kreis Cammin, Willi Bloedorn (aus Wustermitz), einen Bauern202. Bloedorn wurde von der Hugenberg-Gruppe in DNVP und Landbundspitze einstweilen noch verächtlich als „Konzessionsnazi“203 abgetan, wirklicher Einfluss nicht nur ihm persönlich verwehrt. Auch ansonsten sahen sich die immer zahlreicheren „nationalsozialistischen Landbündin Pommern bei älteren, die Stammgüter besitzenden Söhnen ganz generell größer war, wie Malinowski mit einiger Plausibilität nahelegt, wäre noch näher zu untersuchen. In dem überwiegend in Pommern und seinen östlichen Nachbarprovinzen ansässigen Familienverband derer von Wedel z. B. traten von 25 Gutsbesitzern immerhin sieben vor und acht nach dem 30. Januar 1933 der NSDAP bei, d. h. weit über die Hälfte, was in diesem Segment eine deutlich höhere NS-Quote bedeutet als bei den (zu über 80 % nicht mehr von der Landwirtschaft lebenden) Wedel insgesamt (mit etwa einem Drittel Parteimitgliedern). Hierzu, aber auch zu „widerständigem“ Verhalten eines Teils der Familie vgl. v. Parlow, Ostelbischer Adel (Anm. 88), 26, 31, 149. 200  Malinowski, Vom König (Anm. 96), 560 f., 567. 201  Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 382 (Anm. 171), Teil I, 41. Ein ähnliches Bild zeigte sich etwa auch bei den Wahlen zum letzten Provinziallandtag im März 1933. Wengler, Der Provinzialverband (Anm. 22), 155. 202  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 340. Bloedorn, Jahrgang 1887, stammte aus einer alteingesessenen pommerschen Bauernfamilie und war im Ersten Weltkrieg als Frontsoldat schwer verwundet worden. Später galt er als einer „der ältesten Vorkämpfer des Nationalsozialismus“ in der Ostseeprovinz. Nationalsozialistische Landpost, 23.8.1933, in: BArch, R/8034/III, Nr. 38, Bl. 34. Zur Person Bloedorns vgl. auch Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 147 f., 166, die ihn allerdings versehentlich als „Blödhorn“ bezeichnet. 203  Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 298.



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ler“ im PLB „als Mitglieder zweiter Klasse behandelt“, obwohl sie genau wie alle anderen ihre Beiträge zu zahlen beanspruchten204. Der oberste NS-Agrarpolitiker Richard W. Darré drohte Rohr deshalb, den N ­ S-PGs den Auszug aus dem Pommerschen Landbund zu befehlen, doch Rohr begegnete dem mit einer Warnung seinerseits: Er werde die Nationalsozialisten aus dem Verband ausschließen, wenn sie gegen die Landbunddisziplin verstießen205. Diese harte Haltung war auch noch im Dezember 1931 zu beobachten, als im Zuge der reichsweiten nationalsozialistischen Durchdringung des RLB der NS-PG Werner Willikens zu einem der nunmehr vier Präsidenten der Organisation gewählt wurde, die deutschnationale Führung des Pommerschen Landbundes dagegen innerverbandlich aber am heftigsten opponierte206. Für die NSDAP war es in ihrer Aufbauphase umso wichtiger, die Werbearbeit in der Region nicht auf das rein agrarische Milieu zu beschränken, sondern vor allem auch im (klein-)städtischen Mittelstand unter Handwerksmeistern oder Ladenbesitzern viele ihrer ersten Anhänger zu rekrutieren207. Ohne deren Beitrag wäre die NS-Bewegung, die zunächst von Akademikern an der Universität Greifswald und anderen Städten Vorpommerns ausgegangen war und die in der Provinz Pommern insgesamt bis dahin „ein Schattendasein“208 gefristet hatte, bei den Septemberwahlen von 1930 kaum schon mit der DNVP nahezu gleichauf gelegen209. Der Konflikt zwischen der Hugenberg-affinen „Mittelgruppe“ und ihrer noch radikaler rechten, immer größer werdenden NS-Konkurrenz 204  BArch,

R 8034/I, 241, Bl. 211: Bloedorn an v. Oertzen, 31.12.1931. „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 298. 206  Merkenich, Grüne Front (Anm. 29), 340, 344. „Bis auf den Pommerschen Landbund“ so kommentiert Merkenich (ebd., 344), „schieden in Zukunft sämtliche Provinziallandbünde und auch die RLB-Zentrale als Bastionen deutschnationaler Politik aus“. 207  Vgl. etwa auch zum sozialen Profil der SA in Pommern: Richard Bessel, The storm troopers in Eastern Germany 1925–1934, New Haven/London 1984, 40. 208  Anita Ci˙ zek/Włodzimierz St˛epi´nski, Einige Gedanken zu den politischen Umbrüchen in Pommern von 1918/19 und 1932/33, in: Becker/Inachin, Pommern (Anm. 7), 111. Auch Schröder, Auf dem Weg (Anm. 8), 216, hat bemerkt, dass die NSDAP gerade in Ostpommern lange höchstens in den Kreisstädten, nicht aber auf den Dörfern, wenigstens einigen Anklang fand. 209  1930 ist bei den Wahlergebnissen hinsichtlich des Abschneidens von DNVP und NSDAP dann zwischen dem vorpommerschen Regierungsbezirk Stralsund und dem hinterpommerschen Köslin kein nennenswerter Unterschied mehr feststellbar; und in beiden Regionen sind die NSDAP-Ergebnisse im städtischen Bereich höher als auf dem flachen Land, wo sich die DNVP tendenziell besser hält. Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 382 (Anm. 171), Heft II, 13 ff. 205  Müller,

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darf den Blick auf die dritte, „links“ von der DNVP-Mehrheit im Landbund einzuordnende Strömung, die der eher staatskonservativen Gouvernementalisten, nicht verstellen. Das politische Gewicht dieser Strömung lässt sich nicht allein über die Wahlergebnisse jener Parteien ermitteln, in die sich das Gros der DNVP-Sezessionisten flüchtete. Denn schaut man bloß darauf, so sind in Pommern 1930 nur gut 3 % für die Landvolkpartei, knapp 2  % für den Christlich-Sozialen Volksdienst (­CSVD) und 1 % für die Volkskonservativen zu vermelden. Dabei sollte aber zum einen bedacht werden, dass es auch Deutschnationale gab wie den späteren ersten evangelischen Kirchentagspräsidenten nach dem Krieg, Reinold von Thadden-Trieglaff. Dieser war sich vollkommen bewusst, wie fundamental die führende Hugenberg-Gruppe „dem Einfluss christlich-konservativen Denkens“ innerhalb der Partei im Wege stand210. Eigentlich könne man also „bei der Hugenbergschen Restpartei nicht bleiben“, weil ihr rechtsradikaler Kurs nur der NSDAP Wähler zuführe. Thadden vollzog aber den erwogenen Wechsel zum C ­ SVD dann doch nie. Dies geschah wohl kaum „aus politischer Ratlosigkeit“, wie Inachin angedeutet hat211, vielmehr kam ein „evangelisches Zen­ trum“ nach Art des CSVD für Thadden schon deshalb nicht in Betracht, weil der Christ sich in einer „weltlichen“ Partei engagieren solle. Außerdem brachte er es gerade angesichts der akuten landwirtschaftlichen Notlage nicht übers Herz, Landbund und Deutschnationalen „einfach in den Rücken [zu] fallen“ und damit die „Bindungen an die politischen Kräfte seiner hinterpommerschen Lebenswelt“ zu kappen212. Zum anderen ist zu unterstreichen, dass sich ausgerechnet einige der führenden Köpfe der staatskonservativen Pommern in überdurchschnittlich einflussreicher Position in Berlin befanden213. Neben dem bürgerlichen Schlange als zeitweiligem Reichskommissar für Osthilfe ist hier an erster Stelle der hinterpommersche Rittergutsbesitzer Hasso Richard von Flemming-Paatzig zu nennen. Der Major a. D. (geboren 1879) bekleidete in diesen entscheidenden Jahren das Vorsitzendenamt der Landwirtschaftskammer in Pommern. Er war zwar in der Wolle gefärbter Landbündler und sogar direkter Vorgänger von Rohrs als Verbandsvorsitzen210  Thadden, Trieglaff

(Anm. 18), 180. Die nationale Rechte (Anm. 7), 137. 212  Thadden, Trieglaff (Anm. 18), 181. 213  BArch, R 8034/I, 241, Bl. 93 f.: Schimmelpfennig schreibt an Schwerin (o. D.): „Ein kleiner Kreis von Herren, die aus der pommerschen Landwirtschaft stammen, aber jetzt ihr Arbeitsfeld in Berlin gefunden haben, führt unter Mitwirkung weniger pommerscher Herren die Entscheidung in den wichtigsten Fragen herbei und treibt eine Politik, welche völlig dem Standpunkt des pomm. Landbundes zuwiderläuft und der pommerschen Landwirtschaft schweren Schaden zufügt“. 211  Inachin,



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der, auch Mitglied im legendären hochkonservativen Herrenclub, aber im August 1930 hatte er sich mit Hugenberg überworfen und die DNVP verlassen214. Flemming machte seinen Einfluss in der Folgezeit als Vertreter der pommerschen Landwirtschaft tendenziell auf der Linie Schieles geltend, ohne aber in der Zeit des volkskonservativen Osthilfekommissars Gottfried Treviranus ab September 1930 bei einem der brennendsten Probleme viel zu erreichen. Erst als Flemmings Landsmann Schlange-Schöningen Treviranus nachgefolgt war, hatte Flemming nach persönlicher Kontaktaufnahme im November 1931 seine agrarpolitischen Forderungen „in wenigen Tagen 100 %ig durchgesetzt“: Vor allem die Ausschaltung des (SPD-regierten) Landes Preußen und der Preußenkasse aus der Osthilfe sowie andere Punkte wie etwa das Schaffen von Möglichkeiten, „die wahnsinnigen Eingriffe der Gläubiger“ in die Substanz hochverschuldeter Betriebe zu verhindern215. In einem Dank-Telegramm an Schlange attestierte Flemming diesem sogar coram publico, damit die „erste entscheidende Tat für den Osten“ vollbracht zu haben216. Bei seinen alten Freunden in der jetzigen Landbundspitze war Flemming infolge dieser Bekundungen für Schlange und das Weimarer Establishment endgültig „unten durch“. Und sie ließen bei der gerade anstehenden Neuwahl zum Vorstand der Landwirtschaftskammer im Februar 1932 nichts unversucht, den Hugenberg-Gegner aus seinem dortigen Führungsamt zu verdrängen, wiewohl Flemming ebenfalls als Landbundkandidat in das Gremium wiedergewählt worden war. Nun rächte sich indes, dass der nach Lage der Dinge einzig plausible Gegenkandidat zu Flemming, nämlich von Rohr, mit den Nationalsozialisten so ruppig umgegangen war. Diese mochten ihn, auch wenn sie ihm in puncto Systemfeindschaft gewiss näherstanden als Flemming, nicht auch noch mit dem Kammervorsitz für seine zahllosen Streiche gegen die NSDAP belohnen. Hinzu kam, dass Flemming, der als „Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle“ nach wie vor selbst bei Hugenberg-Landbündlern zumindest persönliche Wertschätzung genoss217, unter den pommerschen 214  Vgl. Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 217; Merkenich, Grüne Front (Anm.  29), 303 ff. 215  Regionale Osthilfe-Personalien kamen hinzu. BArch, R 8034/I, 241, Bl. 230: Flemming an Wedel, o. D. Zum Kontext vgl. auch Köhler, Genossen (Anm. 174), 204. 216  BArch, R 8034/I, 241, Bl.  230 (Artikel aus dem Generalanzeiger vom 19.11.1931). 217  BArch, R 8034/I 241: Der Pommersche Landbund, 20.2.1932 („Um Flemmings Wiederwahl“).

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Junkern insgesamt weiterhin viel Unterstützung erfuhr. Folglich hatten die Deutschnationalen fassungslos die „Zerrissenheit des Großgrundbesitzes“ in einer so wichtigen Personalfrage zu konstatieren218. Das Weimarer „System“ finde in der „Pommerschen Landschaft“, d. h. der Pfandbriefbank der Rittergutsbesitzer, im weit verzweigten Genossenschaftswesen und in der Landwirtschaftskammer nach wie vor viel zu viel Rückhalt219. Die Sache wurde aus DNVP-Sicht dadurch noch fataler, dass nun auch eine ganz neue Eigenmächtigkeit der Bauerngruppe des Landbundes die tiefen Risse im Traditionsmilieu und den angeschlagenen Führungsanspruch des zerstrittenen Landadels offenbarte. Der bäuerliche Landbund-Co-Vorsitzende Rannow versuchte nämlich, aus der unübersicht­ lichen Gemengelage für sich selbst Kapital zu schlagen und einen der Vize-Posten in der Landwirtschaftskammer zu erringen. Dabei setzte er nicht nur auf die Unterstützung der NSDAP, sondern in einem Gegengeschäft auch auf die Anhänger Flemmings, während er sich gleichzeitig in der Frage des Kammer-Vorsitzes von den Ambitionen seines eigenen Kollegen in der Landbundführung, von Rohr, distanzierte. Zwar ging Rannows persönliche Rechnung dann doch nicht auf, weil die Rohr-Gruppe sich für dessen „Treubruch“220 dadurch revanchierte, dass sie auf der Kammertagung lieber dem NS-Kreisleiter von Köslin und Gutsbesitzer Adolf Schmidtsdorff-Manow zu einer klaren Mehrheit für die Stellvertreter-Position verhalf. Doch entscheidend war, dass sich als Kammerpräsident Flemming behaupten konnte, nachdem Rohr aufgrund seiner offensichtlichen Chancenlosigkeit schließlich gar nicht erst angetreten war. Flemming setzte sich deshalb sogar bereits im ersten Wahlgang (gegen Schmidtsdorff und einen weiteren Bewerber) mit 36 von 64 gültigen Stimmen durch221. 218  BArch, R 8034/I 241: Schimmelpfennig an Rannow, 1.2.1932. Als besonders prominentes Beispiel dieser Zerrissenheit seien etwa die Zitzewitze genannt, wo Georg von Zitzewitz-Groß Gansen 1929 DNVP-Landesvorsitzender wurde, Friedrich-Karl von Zitzewitz/Cottow dagegen an der Seite vieler einfacher Landwirte bei den Reichstagswahlen 1930 für die CNBL kandidierte. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 382 (Anm. 171), Teil I, 42. 219  BArch, R 8034/I 241: Der Pommersche Landbund, 20.2.1932 („Um Flemmings Wiederwahl“). Zum wichtigen Genossenschaftswesen in der Region nach wie vor: Karl Sparr, Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen in der Provinz Pommern, Stettin 1922. 220  BArch, R 8034/I 241: Hauptgeschäftsstelle des Pommerschen Landbundes an Dr. Lange, 18.2.1932. 221  Vgl. PTP, 13.2.1932 („45. Vollversammlung der Landwirtschaftskammer“), ferner das nicht gezeichnete Schreiben (von Oertzens) an „Herrn Rittergutsbesitzer Schimmelpfennig“, Drosedow, Krs. Kolberg; in: BArch, R 8034/I 241, Bl. 40–47,



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Die Kabalen im Kontext der wichtigen Personalie erlauben noch einmal einen tiefen Einblick in politische Denkweisen und Beziehungsnetze der handelnden Akteure. Denn Flemming und Rohr waren sich keineswegs spinnefeind, sondern versicherten sich wechselseitig weiterhin ihrer Wertschätzung. Dem ausdrücklichen Bekenntnis, sich als sein Gegenkandidat unwohl zu fühlen, ließ Rohr in einem Schreiben an Flemming freilich auch die klare Begründung folgen: Der Angriff auf ihn als Kammervorsitzenden sei als Attacke auf die „innerhalb des heutigen Systems“ Arbeitenden generell zu verstehen222 und somit unausweichlich. Mit Schlanges Kabinettseintritt, so bekräftigte Rohrs Landbundblatt, sei das „liberal-marxistisch-gewerkschaftliche System“ verlängert worden. Und Schlange, Schiele und Teile der RLB-Führung, „ja auch mancher Landbündler in Pommern“, leider einschließlich Flemmings, würden den Kampf gegen dieses System nur theoretisch bejahen, weshalb die Landbundführung nun gegen dessen Wiederwahl eintreten müsse223. Den „Herren Schiele und Schlange“ in Berlin, so hieß es dann sogar nach der verlorenen Kammerwahl noch einmal insistierend, wäre „in der Person von Herrn von Rohr ein höchst unbequemer Gegenspieler entstanden“.224 Einer der wichtigsten Unterstützer Flemmings, RLB-Vorstandsmitglied von Schwerin-Spantekow225, dem Rohrs Leute vorwarfen, Rannows

hier Bl. 45, sowie: Die Diktatur, 14.2.1932 („Überraschungen in der Landwirtschaftskammer“), in: BArch, R 8034/I 239. Rannows politische Karriere sollte dann schon wenige Wochen später enden, dem im April 1932 gewählten neuen preußischen Landtag gehörte er nicht mehr an. Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Preußischen Landtages. Verfassunggebende Preußische Landesversammlung und Preußischer Landtag 1919–1933, hrsg. und bearbeitet von Barbara von Hindenburg, Teil 3, Frankfurt/Main 2017, 1868. Vertiefend zur Wahl des Kammerpräsidenten vgl. auch Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 158 ff. 222  BArch, R 8034/I, 241: Rohr an Flemming, 31.1.1932. Zur Position Rohrs, für den die Landwirtschaft das „lebensbeherrschende Thema“ war und der sich statt einer die Probleme nur „übertünchenden“ Osthilfe klare preispolitische Maßnahmen der Regierung wünschte, vgl. auch die Biographie aus der Feder seines Sohnes: Hans Christoph von Rohr, Ein konservativer Kämpfer. Der Agrarpolitiker und NS-Gegner Hansjoachim von Rohr, Stuttgart 2010, 17, 28; speziell zu Rohrs Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus, dessen Gottesferne und blanken Populismus für ihn das glatte Gegenteil von allem war, was er für „preußische Werte“ hielt, vgl. die Seiten 23–31. 223  Der Pommersche Landbund, 20.2.1932 („Um Flemmings Wiederwahl“). 224  BArch, R 8034/I 241: Der Pommersche Landbund, 13.2.1932 („Landwirte­ politik“). 225  Vgl. auch Bruno Buchta, Die Junker und die Weimarer Republik. Charakter und Bedeutung der Osthilfe in den Jahren 1928–1933, (Ost-)Berlin 1959, 24.

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Illoyalität erst organisiert zu haben226, verteidigte Flemming gegenüber einem der führenden pommerschen Hugenbergianer mit Vehemenz: Flemming würde gewiss nicht weniger als diese „den Sturz des jetzigen Systems wünschen“. Wegen der gegenwärtigen außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten sei es aber zweifelhaft, ob man den Systemsturz schon „jetzt herbeiführen soll“ oder nicht besser erst nach der Ernte: „Nur Tempo und Art sind die Unterschiede in der Flemming- und Rohr’schen Auffassung“. Er, Schwerin, beanspruche jedenfalls  – ganz so wie Flemming und auch von Rohr –, zur nationalen Opposition gerechnet zu werden“, und er bitte darum, dies auch „ein für allemal freundlichst vermerken zu wollen“227. Die Bereitschaft dazu sank nach der Niederlage bei der Kammerpräsidentenwahl im Lager der Hugenbergianer allerdings rapide. Einer seiner führenden pommerschen Vertreter, Karl Schimmelpfennig, ein renommierter Rinderzüchter aus dem Kreis Kolberg-Körlin, rief vielmehr dazu auf, die „weiche Richtung“ um Flemming und Schwerin-Spantekow künftig einfach „still“ zu boykottieren, ja gar eine „schwarze Liste“ jenes Großgrundbesitzes anzulegen, „der nicht in unserem Sinne kämpfen will“. Man solle sich ein Vorbild daran nehmen, wie Hugenberg vor zwei Jahren die DNVP auf Reichsebene von „schwankenden Gestalten“ gereinigt habe228 Zum weiteren politischen Kurs von Landbund und DNVP in Pommern hatte Schimmelpfennig ebenfalls klare Vorstellungen. „Unsere Arbeit“ für die Belange der Landwirtschaft sei bislang „zur Erfolglosigkeit verurteilt […], weil das heutige System diesen Erfolg nicht will“. Dessen seit 14 Jahren herrschende Kräfte in Preußen und im Reich hätten „den Ruin der Landwirtschaft verschuldet“229. Die „Nazis“ dagegen hätten sich, von ihrer Haltung bei der Präsidentenfrage abgesehen, bei den folgenden Wahlgängen in der Kammer (zur Besetzung diverser Ausschüsse) doch „einwandfrei“ verhalten230. Die fortgesetzten Angriffe der Landbundpresse gegen die NSDAP seien deshalb umso empörender. Er, Schimmel226  Der Auszug der Bauern aus der gemeinsamen Front sei „das Werk des Spantekowers“ und der von ihm „vertretenen Richtung“. So schrieb Schimmelpfennig an Oertzen, 14.2.1932 (BArch, R 8034/I, 241). 227  Abschrift eines Briefes von Schwerin-Spantekow an Schimmelpfennig vom 3.2.1932 (BArch, R 8034/I, 241), wo es heißt, der Erfolg werde zeigen, ob Flemming mit seiner Politik in Berlin falsch liege. 228  Schimmelpfennig an Oertzen, 14.2.1932 (BArch, R 8034/I, 241). 229  BArch, R 8034/I, 241: Schimmelpfennig an Flemming, 9.2.1932. 230  Das Lob zielte darauf ab, dass die Nationalsozialisten gemeinsame Sache mit der Gruppe Rohr gemacht und Flemmings Leute nicht gewählt hatten. Vgl. dazu: Der Pommersche Landbund, 13.2.1932 („Landwirtepolitik“).



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pfennig, mache da künftig nicht mehr mit, und werde sich gegebenenfalls auch öffentlich davon distanzieren: „Sie können“, so schrieb er dem Landbunddirektor von Oertzen zur Erklärung, „nicht gegen 2 Fronten anrennen“, d. h. nicht gleichzeitig „gegen unsere weichen Leute und gegen die Nazis“, die zur Zeit die stärkeren seien. Der Landbund würde sonst zerrieben. Schimmelpfennig beschwor Oertzen deshalb wegen seines bekanntlich „besonderen Verhältnisses“ zu von Rohr, den Pommerschen Landbund auf einen NS-nahen Pfad führen zu helfen231. Bei Oertzen rannte Schimmelpfennig offene Türen ein. Der Landbunddirektor sah sich nämlich bereits seit April 1930 in einem Zweifrontenkampf, wobei er aber nur den Konflikt mit den staatskonservativen „Weichen“ für einen gewollten Kampf hielt, den gegen die „Nazi“ für einen aufgezwungenen, weil es „in unserer ganzen inneren Einstellung […] begründet“ liege, sich der NSDAP gegenüber „stets freundschaftlich ein[zu] stellen“. Das habe auch schon früher für die Beziehungen zu von Corswant gegolten. Man müsse folglich versuchen, die (von der DNVP bis zur NSDAP reichende) „Harzburger Front“ in Pommern „unter allen Umständen“ aufrecht zu erhalten; und dazu müssten auch „die führenden Landwirte, die Nazi sind“, beim Landbund gehalten werden, weil nur so „mit den „Weichen fertig“ zu werden sei. Gute Aussichten für eine bessere Kooperation mit der NSDAP, so hoffte Oertzen (im Februar 1932), könnten sich schon demnächst daraus ergeben, dass die Hitler-Partei bei den anstehenden Reichspräsidentenwahlen auf die Hilfe des Landbundes setzen werde232. Zwischen Kooperation und Konfrontation: Das Verhältnis zum durchbrechenden Nationalsozialismus Rohr hatte seit seiner persönlichen Teilnahme an der Gründung der Harzburger Front im Oktober 1931 zwar „unbeirrt die Linie der nationalen Opposition“ verfolgt233, aber gleichzeitig wie kaum ein anderer „klare Kante“ gegen die NSDAP gezeigt. In den Wochen nach der aus seiner Warte versiebten Kammerpräsidentenwahl im Februar 1932 vollzog er nun einen radikalen Kurswechsel. Auf der großen Landbundtagung in 231  „Wir müssen eine Art Lappobewegung in Pommern schaffen“, resümierte er dann noch unter Anspielung auf die spezifisch finnische Form des Faschismus. BArch, R 8034/I, 241: Schimmelpfennig an Oertzen, 14.2.1932. 232  Nicht gezeichnetes Schreiben (von Oertzens) an „Herrn Rittergutsbesitzer Schimmelpfennig, Drosedow, Krs. Kolberg, vom 17.2.1932 (BArch, R 8034/I, 241, Bl. 40–47, hier Bl. 40, 45 f.). 233  BArch, R 8034/I, 241: Rohr an Flemming, 31.1.1932.

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Stettin im März unter dem martialischen Motto „Hin zu Pflug und Schwert“ gehörte plötzlich Corswants Nachfolger im Amt des NSDAPGauleiters, Wilhelm Karpenstein, zu den prominentesten Rednern. Rohr, der seit 1928 nach einem Besuch bei Mussolini vom Sieg der den Klassenkampf überwindenden „faschistischen Idee“ träumte234, kündigte jetzt – in Anwesenheit verbündeter Stahlhelmer und „der deutschnationalen Geistlichkeit“  – den Kampf gegen die Republik „bis zur Etablierung der nationalen Revolution“ an235. Und mehr noch: Aus dem Chaos, das der DNVP-Vorsitzende Hugenberg mit seiner Katastrophentaktik bei den anstehenden Reichspräsidentenwahlen im Lager der nationalen Rechten angerichtet hatte236, suchte Rohr zu entkommen, indem er seine Pommern nicht wie andere Landbünde zum Offenbarungseid der Stimmenthaltung veranlasste, sondern im zweiten Wahlgang (ähnlich wie der regionale Stahlhelm) gleich zur Wahl Adolf Hitlers aufrief. Hindenburg, so die Begründung, sei zwischenzeitlich „ein Sklave des Systems“ geworden.237 Die mitunter etwas sensationsheischend reportierten Stimmenergebnisse für den NSDAP-Reichspräsidentschaftskandidaten im April 1932 vor allem in Ostpommern238 sind also insofern einzuordnen, als die knapp über 70 % in den Kreisen Stolp und Bublitz oder die ca. 65 % in Neustettin239 sich aus der Addition von NSDAP- und DNVP-Anhängern 234  Inachin, Die nationale Rechte (Anm. 7), 132. Zur Pilgerreise einer Pommerschen Landbund-Delegation zu Mussolini vgl. auch Pommerscher Landbund, Ausgabe Stettin, 17.11.1928, und Inachin, Die DNVP Pommerns (Anm. 62), 100. Für Anhänger einer konstitutionellen Monarchie wie v. Rohr dürfte dabei auch die formale Vereinbarkeit des italienischen Faschismus mit einem Königtum eine Rolle gespielt haben. Vgl. v. Rohr, Ein konservativer Kämpfer (Anm. 222), 15 f. 235  Anita Ci˙zek/Włodzimierz St˛ epi´nski, Einige Gedanken zu den politischen Umbrüchen in Pommern von 1918/19 und 1932/33, in: Becker/Inachin, Pommern (Anm. 7), 99–124, hier 115. 236  Wie weit die DNVP unter Hugenberg „zum Schwanzstück der Nationalsozialisten“ (so der deutschnationale Politiker und frühere DNVP-Reichstagspräsident Max Wallraff) herabgesunken war, zeigte sich spätestens jetzt, als Hugenberg nach dem Scheitern des Stahlhelm-Führers Duesterberg im ersten Wahlgang für die folgende entscheidende Abstimmung die Stimmen der DNVP-Anhänger freigab. Hiller von Gaertringen, Die DNVP (Anm. 186), 558. 237  Ci˙zek/St˛ epi´nski, Einige Gedanken (Anm. 235), 115. Hier heißt es irrtümlich „Hugenberg“. 238  Der NS-Triumph in Pommern in der ersten Jahreshälfte 1932 sei im Reichsdurchschnitt „ohne Vergleich“ gewesen“. Ci˙zek/St˛epi´nski, Einige Gedanken (Anm. 235), 118; mit ähnlichem Tenor Włodarczyk, Krisenzeit (Anm. 125), 290. 239  Ci˙zek/St˛ epi´nski, Einige Gedanken (Anm. 235), 120. Vgl. auch Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 427, Die Wahl des Reichspräsidenten am 13. März und am 14. April 1932, Berlin 1932, 12–15. Pommern lag im zweiten Wahlgang reichsweit



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ergaben. Dass die NSDAP selbst in dieser Phase Mitte 1932, als sie reichsweit die höchsten Stimmenergebnisse bei (noch weitgehend) freien Wahlen überhaupt erzielte, in der Region bei weitem nicht an ihre Spitzenresultate in etlichen Kreisen im Westen Deutschlands herankam, sollte indes nicht außer Betracht bleiben. Sogar in ihren (hinter-)pommerschen Rekordzonen in Belgard, Regenwalde oder Saatzig pendelte sie bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 nur um die 50 %240, von den 77 oder 83 % (der gültigen Stimmen) wie in Oberhessen (Vogelsberg-Region) und im evangelischen Westen Mittelfrankens blieb sie ein ganzes Stück weit entfernt241. Das war in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die DNVP sich in Pommern, auch wenn sie nun (mit 15,8 %) weit hinter die NSDAP (mit 47,9 %) zurückfiel, deutlich besser hielt als in den westdeutschen NS-Domänen. Im Kreis Saatzig lagen die Deutschnationalen sogar noch bei einem Drittel, in Regenwalde bei einem guten Viertel und in Belgard bei über einem Fünftel der Stimmen. Aber auch die Sozialdemokratie erreichte dort noch bis nahe 20 Prozent. Wie es aussieht, schenkten ihr nach wie vor vor allem freie Landarbeiter ihre Stimmen242, während die Deputanten – nach Beobachtung der SPD-Presse – „leider teilweise immer noch“ von den Junkern zur Stimmabgabe „abkommandiert“ werden konnten243. Der deutschnationale Teil  des Landadels und sein Anhang, zu dem sich wohl noch versprengte Reste der im Frühjahr 1932 – mangels hinreichend eindrucksvoller Erfolge  – endgültig scheiternden Schlange/ Flemming-Richtung gesellten, sorgten also für relativ beachtliche ­DNVP-Ergebnisse.

mit 52,6 % an der Spitze der Hitler-Bastionen, noch vor Osthannover und Thüringen mit 48 bzw. 44 %. Im ersten Wahlgang dagegen hatte Pommern mit 37,4 % für Hitler noch hinter Schleswig-Holstein (42,7 %) und Chemnitz/Zwickau (gut 40 %) rangiert (ebd., S. 6 f.). Welche lokalen Gründe es gab, dass in den Kreisen Neustettin und vor allem Bublitz, anders als im Landestrend, auch im ersten Wahlgang Hitler bereits mehr Stimmen erhielt als Duesterberg und Hindenburg zusammen, sollte Gegenstand weiterer Forschung sein. 240  Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 434: Die Wahlen zum Reichstag am 31. Juli und 6. November 1932 und am 5. März 1933, Berlin 1935, 46. 241  Falter/Lindenberger/Schumann, Wahlen (Anm. 9), 132. In einer Tabelle bei Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, 160, firmiert unter den 10 NSSpitzenkreisen vom Juli 1932 auch noch der Kreis Westerstede im oldenburgischen Ammerland weit vorne (auf Platz 7). 242  Vgl. auch den Hinweis von Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), 289, dass der DLV Ende der 1920er Jahre wieder an Boden gewann. 243  Volksbote, 8.11.1932, zit. nach Inachin, Die nationale Rechte (Anm. 7), 146.

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Die NSDAP entwickelte sich zwar auch auf dem flachen Land in Pommern in erster Linie zur Vertretung der Bauernschaft244, doch wären die hohen Stimmenzahlen ohne beginnende Einbrüche in die Reihen der Landarbeiter schwerlich zustandegekommen245. Mitte Januar 1932 war die erste Nummer eines neuen „Kampfblatt[es] der Nationalsozialistischen Landzellen-Organisation“ („Der pommersche Landarbeiter“) erschienen, dessen Leitartikel verkündete, dass es sich bei der Landarbeiterschaft um den bislang „am meisten vernachlässigten Stand“ handele246. Ändern ließ sich das angeblich nur mit Hilfe der NSDAP. So sei etwa die „Senkung der Landarbeiterlöhne“  – vom Pommerschen Landbund im Sinne der Arbeitgeber angestrebt, um die derzeitigen „Wucherzinsen“ bezahlen zu können  – von den Nationalsozialisten gegen die (­ reaktionären) „Handlanger der Braun und Brüning“ verhindert worden247. Der prinzipiell erhaltenswerte Landbund müsse, weil die Arbeitnehmer bislang in ihm nicht frei und unabhängig zu Worte kämen, umgebildet werden248. Gauleiter Karpenstein, der zum äußersten linken Flügel der NSDAP zählte, nahm, wenn er vor Landarbeitern sprach, nun 244  Laut Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 310, sind die ostelbischen Bauern „in Scharen in das Lager der NSDAP“ übergelaufen. Was die pommerschen Größenordnungen betrifft, sei daran erinnert, dass bei den erwähnten Wahlen zur Landwirtschaftskammer im Herbst 1931 nur Eigentümer und Pächter landwirtschaftlich genutzter Grundstücke stimmberechtigt waren, so dass das erzielte Viertel der Sitze auch hier einen bereits beachtlichen Rückhalt der NSDAP unter bäuerlichen Besitzern dokumentierte. Deren Einkommen soll damals nach einer Quelle aus Köslin vielfach noch unter jenes der freien Landarbeiter gefallen sein. Vgl. Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 131. Zum bäuerlichen Milieu in Pommern gibt es leider gewaltige Forschungslücken; vgl. aber zum gut untersuchten benachbarten Brandenburg, wo ganz klar die Bauernschaft zum Nationalsozialismus überlief, während die Junker meist bei der DNVP blieben: Pomp, Bauern (Anm. 4), 381. Dies bestätigen auch die Ergebnisse der Dissertation von Ralf Müller, Wählerbewegung und Gestaltung der Beziehungen zwischen DNVP und Landbund in den Jahren der Weimarer Republik im Regierungsbezirk Frankfurt (Oder), Berlin 1992 (Mikrofiche-Version, Grimm-Zentrum der HU Berlin),126. 245  Falter geht davon aus, dass im Juli 1932 ein gutes Drittel der Landarbeiter NSDAP wählte. Falter, Hitlers Wähler (Anm. 241), 229. Vgl. auch die Beobachtungen von Thadden, Trieglaff (Anm. 18), 182. 246  Der pommersche Landarbeiter. Nummer  1, Stettin, 15.1.1932 (BArch, R  8034/I 239). Schon Corswant hatte als Gauleiter (1929) geltend gemacht, dass „vielleicht Hunderttausende von Pommern, vor allem Landarbeiter, […] schon von Natur aus Nationalsozialisten“ seien. In dem weitläufigen, dünn besiedelten Pommern habe es bislang nur an der richtigen Propaganda gefehlt, um ihnen dieses auch klarzumachen. Inachin, Der Aufstieg (Anm. 146), 28. 247  Der pommersche Landarbeiter. Nummer 1 („Senkung der Landarbeiterlöhne“), in: BArch, R 8034/I 239. Zur NS-Landarbeiterpolitik allgemein Pyta, Dorfgemeinschaft (Anm. 12), 350 ff. 248  BArch, R 8034/I 239: Die Diktatur, 13.2.32 („Jawohl, sie sind gelb“).



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sogar keinen Anstand mehr, „öffentlich von der Enteignung der Gutsbesitzer“ zu träumen249. Sein berühmt-berüchtigter Nachfolger nach dem sogenannten Röhm-Putsch 1934, Franz Schwede-Coburg, sollte sich dann erst recht „adelsfeindlich und besitzgegnerisch“ geben.250 Vor 1933 versuchte der agrarpolitische Apparat der NSDAP immer wieder, einen Keil zwischen den „engstirnigen deutschnationalen Vorstand“ und die „breite Masse“ des PLB zu treiben, die „wach und entschlossen“ ihren Überlebenskampf nicht länger „durch die Kanzlei des Landbundes“ führen lassen wolle251. Rohr wurde sogar die nationalpolitische Zuverlässigkeit abgesprochen, weil er auf seinem eigenen Gut selbst im Winter noch billige polnische Schnitter (d. h. Saisonarbeiter) einstellen und dafür im Gegenzug deutsche Landarbeiter entlassen würde252. Und gegen den „behäbigen Zivil-Johannes“ (also den Führer der wirtschaftsfriedlichen PLB-Arbeitnehmergruppe und DNVP-Abgeordneten Johannes Wolf) erhoben die Nationalsozialisten den schweren Vorwurf, er mache in seinem Verbandsblatt die alten Offiziere und das Uniformtragen verächtlich. Die in den Wahlkämpfen um die Reichspräsidentschaft zeitweilig beruhigten Konflikte zwischen einer zunehmend machthungrigen NSDAP und einer immer planloseren DNVP verschärften sich wieder in der Zeit der Reichstagswahlen im Juli 1932, nachdem im Mai Franz von Papen auf Reichskanzler Brüning gefolgt war. Auch viele Hugenbergianer im pommerschen Großgrundbesitz begrüßten Papens „Kabinett der Barone“ als zumindest ersten wichtigen Schritt in Richtung eines neuen und autoritären, die Landwirtschaft stärker wertschätzenden Staates253. Nach Stimmeneinbußen der NSDAP um fast 5 % (zu Gunsten der um annähernd 5 % zulegenden DNVP) bei den erneuten Reichstagswahlen im November gipfelte der immer agressiver geführte Streit innerhalb der „nationalen Opposition“ auf einer Amtswaltertagung der NSDAP-Pommern in Stolp am 11. Dezember 1932 in der Forderung Karpensteins, die ­DNVP „mit Stumpf und Stiel auszurotten“. Wenige Tage später, am Silvesterabend, begann ein SA-Trupp aus Stettin, den Aufruf auch bereits in die Tat umzusetzen, drang bei dem Kreisvorsitzenden der DNVP Randow (Bruno Steinicke) auf dessen Gut in Streithof ein und ermordete ihn kaltblütig254. 249  Inachin,

Der Aufstieg (Anm. 146), 32. Vgl. auch ebd., 37. (Anm. 95), 66. 251  Vgl. Die Diktatur, 14.10.1931, sowie 13.2.1932 (BArch, R 8034/I 239). 252  Flugblatt „Bauernfang“ (BArch, R 8034/I 239). 253  Baranowski, The sanctity (Anm. 5), 161 f. 254  Die bald verurteilten Täter wurden nach Beginn des „Dritten Reiches“ wieder freigelassen. GStAPK, I. HA Rep. 77 Tit. 4043, Nr. 159, 35–51, Der Polizeiprä250  Görlitz, Widerstand

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Der Pommersche Landbund war zwar einer von ganz wenigen RLBRegionalverbänden, den die Nationalsozialisten bis Anfang 1933 organisatorisch nicht in den Griff bekamen, doch die deutschnationale Verbandsführung hatte sich schon bei den November-Wahlen 1932 nicht mehr in der Lage gezeigt, so offen wie früher für die DNVP einzutreten255. Nach Ablösung der geschätzten Papen-Regierung durch ein Kabinett Schleicher erblickte ab Dezember 1932 die Landbundspitze nun in diesem und nicht etwa in der NSDAP den Hauptfeind. Denn das agrarpolitische Programm des neuen Reichskanzlers Kurt von Schleicher schien ihr an Brünings vermeintlich bolschewistische Ostsiedlungspläne anzuknüpfen und die Landwirtschaft erneut „zugunsten der allmächtigen Geldbeutelinteressen der international eingestellten Exportindus­ trie“ ins Abseits zu drängen256. Die Schuld an der Ernennung der Schleicher-Regierung gab man zwar der Kompromisslosigkeit Hitlers und der Aufsplitterung der nationalen Kräfte durch die NSDAP. Doch die politische Antwort darauf sah von Rohr weiterhin – und fast schon obsessiv – in einer „gemeinsamen Front“ von DNVP, NSDAP, Stahlhelm und RLB257. Drei Tage vor der NS-Machtergreifung, am 27.  Januar 1933, forderte Rohr, der kurz zuvor auch persönlich einer RLB-Protestdelegation gegen Schleicher beim Reichspräsidenten angehört hatte, öffentlich den Rücktritt der Regierung. In das folgende Hitler-Hugenberg-Kabinett trat Rohr als Staatssekretär im Ernährungsministerium ein. Er gehörte dann immerhin zu denen, die am entschiedensten um die Zähmung der NS-Bewegung bemüht waren, fiel schließlich aber diesem von ihm irrtümlich verfochtenen Konzept selbst zum Opfer und wurde nach heftigen Konflikten mit Hitler und dem neuen Agrarminister Darré bereits im September 1933 wieder entlassen258. Der Landbund war unter der neuen Führung Bloedorns zu diesem Zeitpunkt bereits gleichgeschaltet und in

sident Stettin an den Oberpräsidenten von Pommern, 14.1.1933, sowie Der Oberstaatsanwalt an den preuß. Justizminister, 5.4.1933. Zu den Motiven der Täter zählte auch, dass Steinicke nationalsozialistische Landarbeiter entlassen hatte. 255  Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 365; Der Pommersche Landbund, 5.11.1932. 256  Carsten, Geschichte (Anm. 90), 175; vgl. auch Inachin, Die nationale Rechte (Anm. 7), 147. 257  PTP, 27.1.1933, zit. nach Inachin, Die nationale Rechte (Anm. 7), 147; vgl. auch Der Pommersche Landbund, 14.1.1933. 258  Die Geheime Staatspolizei rechnete Rohr während des „Dritten Reiches“ zu den potentiell gefährlichen „reaktionären“ Politikern aus der „Systemzeit“, was aber auch mit Rohrs Verhalten nach 1933 (z. B. menschliche Behandlung russischer Kriegsgefangener auf seinem Gut) zusammenhing. Biographisches Handbuch (Anm. 221), 1956.



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einen Nationalsozialistischen Pommerschen Landbund umgewandelt worden259. Spätestens jetzt wurde offenbar, wie recht ein Standesgenosse Rohrs, der 1929 zum Vorsitzenden des Konservativen Hauptvereins aufgerückte Pommer Ewald von Kleist-Schmenzin, mit seinen dramatischen Warnungen vor Hitler gehabt hatte. Kleist war gewiss das, was man stockkonservativ nennt, tat sich noch immer schwer damit, alle Hoffnung auf eine Restauration der Hohenzollern-Monarchie fahren zu lassen, obwohl er von keinem der Preußen-Prinzen viel hielt. Die Republik hasste er wie die Pest. Aber Kleist hatte auch Hitlers „Mein Kampf“ und Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ gelesen und Hitler (1932) persönlich kennenengelernt. Seitdem war Kleist überzeugt, dass dessen Plan, Russland nach Sibirien abzudrängen, Deutschland ruinieren und die Herrschaft des Bolschewismus über ganz Europa aufrichten müsste260  – eine Sorge, die er noch im selben Jahr auch in einer Broschüre („Der Nationalsozialismus – eine Gefahr“) publik machte. Seiner eigenen deutschnationalen Partei (bis Februar 1933) warf Kleist vor, der falschen Auffassung Vorschub geleistet zu haben, die tendenziell pro-marxistische NSDAP sei eine „nationale Partei“261. Als Hugenberg, der sich für ein ökonomisches Genie hielt, schließlich mittels eines Superministeriums (Wirtschaft und Landwirtschaft) für eine Rolle als Juniorpartner im Hitler-Kabinett gewonnen worden war, versuchte Kleist, ihn am 29. Januar 1933 vergeblich wieder davon abzubringen. Der Pommer sagte Hugenberg daraufhin die vielleicht treffendsten Worte ins Gesicht, die ein Deutschnationaler während der Weimarer Jahre je formulierte: „Herr Geheimrat, Sie haben Deutschland ver­ raten“262. Schlüsse Pommern hat wie viele andere deutsche Provinzen in der Auflösungsgeschichte der Weimarer Republik eine Rolle gespielt. Das alte Diktum Hans Rosenbergs, dass Anfang der 1930er Jahre „nicht nur die Bauern an 259  Inachin,

Die nationale Rechte (Anm. 7), 159. Scheurig, Ewald von Kleist-Schmenzin. Ein Konservativer gegen Hitler, Oldenburg/Hamburg 1968, 93 f., 97. 261  Flemming, Konservatismus (Anm. 71), 330. 262  Hiller von Gaertringen, Die DNVP (Anm. 186), 572. Kleists Einschätzung war, wiewohl die Machtübernahme der NSDAP/DNVP-Regierung am 30.  Januar zunächst noch legal auf der Grundlage der Weimarer Verfassung erfolgte, im Hinblick auf die bald darauf einsetzenden Entwicklungen prophetisch. 260  Bodo

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den Großagrariern, sondern die politisch sich aufspaltenden Großagra­ rier an sich selbst irre“ geworden seien263, ist gerade auch für die Geschichte der Ostseeprovinz von Belang. Eine reichsweite Sonderstellung auf dem fatalen deutschen Weg in den Nationalsozialismus kann der Region im Allgemeinen, ihren konservativen Eliten im Besonderen aber kaum zugeschrieben werden. Im Blick auf die guten Ergebnisse zunächst der DNVP, später auch der NSDAP in der Region müssen dabei vor allem die Perspektiven zurechtgerückt werden. Denn es war in ganz Deutschland eine hohe Dichte der Faktoren „protestantisch“ und „agrarisch“, die zu entsprechendem Wahlverhalten disponierte. Pommern hatte dabei statistisch gesehen nur das Pech, auch einen eigenen Reichstagswahlkreis zu bilden, in dem diese Faktoren nahezu flächendeckend besonders konzentriert zusammenwirkten. Für eine Tiefenanalyse der politischen Mentalitäten hat die Ebene der Reichstagswahlkreise aber wenig Aussagekraft, sondern müssen, falls es sich um soziostrukturell gemischte Regionen handelt, die (groß)städtischen und katholischen Teile quasi herausgerechnet werden. Im  – einzig sinnvollen  – vergleichenden Blick auf die Wahlergebnisse der unteren (Landkreis-)Ebene stellt Pommern, wie dargetan, weder hinsichtlich der DNVP- noch der NSDAP-Präferenz einen besonders herausragenden Extremfall dar, sondern blieb deutlich hinter den einschlägigen Rekord-Bezirken in Oberhessen oder im evangelischen Franken zurück. Auffällig ist lediglich – und eher im Gegenteil zu dem, was pommersche Sonderwegsthesen suggerieren  – ein relativ später Aufstieg der NSDAP, der vor allem mit der überdurchschnittlichen Persistenz der Deutschnationalen zusammenhing. Die Ursachen dieser Entwicklungen, die im reichsweiten Vergleich das eigentlich Spannende am Fall Pommern darstellen, liegen auf der Hand. Die NSDAP war im evangelischen Agrarmilieu in erster Linie eine Bauernbewegung. Sie schlug deshalb dort, wo das klein- und mittelbäuerliche Element stark vorherrschte  – wie im westlichen und südlichen Deutschland –, am schnellsten Wurzeln. Auch in Pommern erwies sich die Bauernschaft am ehesten als ansprechbar, personifiziert im Übertritt des langjährigen DNVP-Abgeordneten Jandrey zur NSDAP 1931264, doch lag 263  Rosenberg,

Die Pseudodemokratisierung (Anm. 54), 101. April 1930 hatte Jandrey zu jener Gruppe von Agrariern in der DNVPFraktion gezählt, die den Aufstand gegen Hugenbergs landwirtschaftsfeindliche Obstruktionspolitik probten. Müller, „Fällt der Bauer …“ (Anm. 161), 173. 1931 trat Jandrey zur NSDAP über, für die er im April 1933 dann auch in den Provinziallandtag gewählt wurde. 1935 wurde er Kreisbauernführer in Regenwalde. Wengler, Der Provinzialverband (Anm. 22), 156. Vor allem auch in Bezug auf 264  Im



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ihr Anteil an der Gesamtwählerschaft in dem weithin großagrarisch geprägten Land einfach deutlich niedriger. Stattdessen machte sich die anhaltend deutschnationale Orientierung der meisten Junker und des ihnen anhaltend verbundenen Teils der Landarbeiterschaft besonders bemerkbar. Kein Zweifel also, die Volksgemeinschaftsideologie der NSDAP stieß in den pommerschen Wahlkämpfen propagandistisch an ihre Grenzen. Die historische Verantwortung weniger der bürgerlichen (öfter Hugenberg-kritischen) als der adeligen Junker in Pommern liegt mithin eher darin, dass ein großer Teil von ihnen das Weimarer „System“ zwar nicht aus der NSDAP heraus, aber doch in den weitgespannten Netzwerken der nationalen Rechten bekämpfte265. Nicht nur anfangs zu Zeiten des Lüttwitz-Kapp-Putsches 1920 schienen sie tatsächlich die Rolle einer „deutschen Vendée“ gegen Weimar spielen zu wollen, auch während der ökonomisch etwas besseren Mittelphase der Republik hielten sie zumeist an ihrer abgrundtiefen Abneigung gegen den neuen demokratischen Staat fest, um in der Staats- und Wirtschaftskrise seit Ende der 1920er Jahre dann immer aktiver in die „nationale Opposition“ einzutreten. Auf die völlig falsche Karte des deutschnationalen Reichsverderbers Hugenberg setzte indes, auch dies sollte ein differenzierter Blick nicht übersehen, nur ein Teil  des Adels um die Landbundpolitiker von Rohr und von Oertzen und den DNVP-Vorsitzenden von Zitzewitz. Eine nicht unbedeutende, eher staatskonservativ-gouvernementale Gruppe um den pommerschen Landwirtschaftskammerpräsidenten von Flemming und den Osthilfekommissar Schlange-Schöningen misstraute dagegen dem revolutionären Nationalsozialismus viel grundsätzlicher als die Hugenbergianer. Sie neigte auch deshalb dazu, Brünings evolutionären Staatsumbau in eine autoritäre Richtung, für den so geschätzte Männer wie Reichsagrarminister Schiele standen, zu unterstützen. Kritisch ist anzumerken, dass es sich selbst bei den Letztgenannten um alles andere handelte als um lupenreine Weimarer Republikaner. Die Frage bleibt aber doch, ob die gewiss vom Pfad der liberalen Demokratie wegführenden Präsidialkabinette Brüning unter den obwaltenden politischen Umständen nicht die einzige, allerdings eine halbwegs rational agierende DNVP voraussetzende Chance waren, zumindest – und immerJandreys Verhältnis zur CNBL im Zeitraum 1930/31 besteht, so wie zu zahlreichen weiteren Themen der pommerschen Parteiengeschichte, noch erheblicher Forschungsbedarf. 265  Laut Malinowski, Vom König (Anm. 96), 568, ist das zwar bislang nicht genauer zu quantifizieren, aber doch „begründet [zu] vermuten“. Nicht von einer geschlossenen Rittergutsbesitzerklasse, sondern vom sozial depravierten Kleinadel sei das größte Zerstörungspotential gegen die Republik ausgegangen. Ebd., 608.

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hin! – die nationalsozialistische Apokalypse noch zu verhindern. Für deren Protagonisten votierte schließlich auch im Stimmbezirk Pommern bei den letzten aussagekräftigen Reichstagswahlen (im November 1932) keineswegs eine Mehrheit, sondern ein Anteil von ca. 43 %, mithin ähnlich viel wie in der bayerischen Pfalz oder in Schleswig-Holstein. Und auf Landkreisebene fuhr die NSDAP keineswegs in Pommern, sondern in Franken oder Hessen ihre Rekordernten heim. Zudem war der Agrarprotest vor allem in nordwestlichen Gebieten des Reiches schon viel früher als in Pommern, 1929/30, in nationalsozialistisches Fahrwasser geraten, und nicht erst zwischen 1930 und 1933266. Das hatte, was die zugrundeliegenden politischen Mentalitäten betrifft, seine Ursachen nicht zuletzt auch darin, dass der Pommersche Landbund sich von anderen Landbünden keineswegs signifikant durch die Radikalität unterschied, mit der er „Gefühle des Hasses und des Neides auf dem Lande ausstreute“, Gräben zwischen Stadt und Land aufriss und „mit derben antisemitischen Schlagworten“ sowie „hysterische[r] Bolschewistenfurcht“ in „extrem alldeutsch-völkischem Fahrwasser“ schwamm267. Schon ein kurzer Blick auf die Virulenz ganz ähnlichen völkischen Denken in der DNVP oder speziell auch in den Junglandbünden west- bzw. süddeutscher Regionen ohne nennenswerten Junker-Anteil lange vor 1928/29268 beweist eindrucksvoll das Gegenteil. Eine „Paradeprovinz des deutschen Sonderwegs“ hätte wesentlich anders ausgesehen als das innerhalb der evangelischen Agrarprovinz der Weimarer Republik ganz und gar durchschnittliche Pommern269.

266  Bergmann/Megerle,

Protest und Aufruhr (Anm. 150), 285. dagegen Flemming, Landwirtschaftliche Interessen (Anm. 32), S. 224. 268  Kittel, Provinz (Anm. 120), 246, 426  ff. Vgl. auch ders., „Steigbügelhalter“ Hitlers oder „stille Republikaner“. Die Deutschnationalen in neuerer politikgeschichtlicher und kulturalistischer Perspektive, in: Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, hrsg. v. Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas, 201–235, München 2007. 269  Vgl. auch die differenzierte Einschätzung von Hartwin Spenkuch, Vergleichsweise besonders? Politisches System und Strukturen Preußens als Kern des „deutschen Sonderwegs“, in: GuG 29 (2003), 262–293, hier 274, 276 f., der einerseits auf die – verglichen mit Süd- und Westdeutschland – präpotente Stellung des Adels in Preußen verwiesen hat, andererseits aber auch darauf, dass diese regionale „Adelspersistenz“ nur zusammen auch etwa mit der Demokratiefeindschaft in der Großindustrie oder im deklassierten Mittelstand im Hinblick auf 1933 wirksam werden konnte. 267  So

Ostpreußen 1918 bis 1933. Von einer bunten Parteienlandschaft zur späten Dominanz der N ­ SDAP Von Ralf Meindl, Olsztyn (Allenstein) Das historische Ostpreußen ist eine Region, die wie kaum eine zweite mythisch-verklärt betrachtet wird. Zahlreiche Publikationen, die die östlichste preußische Provinz beschreiben, führen bereits im Titel den Begriff Mythos1. Einer dieser Mythen ist es, dass Ostpreußen eine rückständige Provinz, bewohnt von reaktionär denkenden Menschen gewesen sei. Ostpreußen gilt in dieser Sichtweise als prominenter Teil  jenes preußischen Ostens, an dem die erste deutsche Demokratie gescheitert sei. Die Provinz sei eine exzeptionelle Hochburg des Nationalsozialismus und die Heimstatt wichtiger Totengräber der Weimarer Republik gewesen2. Es liegt in der Natur einer wissenschaftlichen Analyse, dass sie eine so platte und pauschale Zuschreibung in der Regel nicht verifizieren kann. Auch ein nur kursorischer Überblick über die politischen Milieus Ostpreußens und die Geschichte der Parteien zwischen 1918 und 1933 zeigt ein deutlich differenzierteres Bild. Bereits für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kann der Mythos einer grundkonservativen Provinz nicht aufrechterhalten werden. Die einzige Großstadt der Provinz, Königsberg, war über Jahrhunderte eine Hochburg moderner und liberaler Ideen und eine kosmopolitische Metropole3. Bei den Reichstagswahlen gewannen ab 1871 mit einer Ausnahme die Linksliberalen die Mehrheit der Stimmen, ab 1890 die Sozialdemokraten, ebenfalls mit einer Ausnahme 1907, als die Linksliberalen stärker waren. Außerhalb Königsbergs dominierte die Konservative Partei die Reichstagswahlen und errang meist einen Großteil der Mandate. Lediglich in den beiden ermländischen, katholisch geprägten Wahlkreisen

1  Vgl. Andreas Kossert, Ostpreußen. Geschichte und Mythos, Berlin 2005; Bernd Martin, Masuren. Mythos und Geschichte, Karlsruhe 1998. 2  Vgl. Kossert, Ostpreußen (Anm. 1), 9. 3  Jürgen Manthey, Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München/ Wien 2005.

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Braunsberg-Heilsberg und Allenstein-Rößel gewannen die Konservativen nie ein Mandat. Aber auch jenseits des Ermlandes konnten sich konservative Abgeordnete ihres Mandates nie sicher sein. Immer wieder überflügelten in einzelnen Landkreisen die liberalen Kandidaten ihre konservativen Gegenspieler. Hier sticht die Reichstagswahl von 1871 besonders hervor, als die Nationalliberalen und die Deutsche Fortschrittspartei fast alle Wahlkreise außerhalb des Ermlandes gewannen. Im Ermland ging nach der Gründung der Zentrumspartei nur noch ein einziges Mal, 1893, ein Mandat an einen Kandidaten einer anderen Partei4. Ostpreußen oszillierte vor 1914 also zwischen Konservatismus und Liberalismus mit einem nicht geringen Einfluss von Sozialdemokratie und Katholizismus. Schon dieser kursorische Überblick über die politische Situation Ostpreußens während des Kaiserreichs weist mit der besonderen Situation in Königsberg und im Ermland darauf hin, dass die politische Willensbildung in Ostpreußen in mehreren relativ geschlossenen und in der Regel wenig miteinander kommunizierenden Milieus stattfand. Diese Milieus hatten sich durch die Jahrhunderte gebildet. Sie waren nicht statisch, wie das Aufkommen der Sozialdemokratie in Königsberg zeigt, aber in ihren Grundzügen strukturierten sie die ostpreußische Gesellschaft bis ins Jahr 1945. Viele überkommene, zum Teil  noch aus dem Mittelalter stammenden Charakteristika dieser Milieus wurden in Ostpreußen auch noch in der Weimarer Republik stärker perpetuiert als in anderen Regionen Preußens, beispielsweise die politische, kulturelle und wirtschaft­ liche Führungsrolle der Gutsbesitzer5. Dieser Befund gilt vielen Beobachtern als Ausweis für eine besondere Rückständigkeit Ostpreußens6. Tatsächlich erreichten viele Entwicklun4  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reichs. Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Berlin 1873–1876, 1892–1912; Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reichs. Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Berlin 1877–1891. Bei den beiden Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 gewannen der „Eisenbahnkönig“ Bethel Henry Strousberg für die Konservative Partei und der katholische Priester und Theologieprofessor Anton Pohlmann für die Freikonservative Partei die beiden ermländischen Sitze. Pohlmann wechselte 1870 zum Zentrum (Vgl. Karl-Eberhard Murawski, Bethel Henry Strousberg und der Eisenbahnbau in Ostpreussen, in: Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, hrsg. v. Michael Brocke/Margret Heitmann/Harald Lordick, Hildesheim 2000, 397–404. http://zhsf.gesis.org/biorabkr_db/biorabkr_db.php?id=1876; Zugriff am 09.02.2021. 5  Dieter Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919– 1930: Untersuchung eines Strukturproblems in der Weimarer Republik, Köln/Opladen 1969, 40 f., 185–333. 6  Vgl. Kossert, Ostpreußen (Anm. 1), 9–13, 389.



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gen der industriellen Moderne die Region erst spät. Vor der industriellen Revolution lässt sich jedoch nicht beobachten, dass Ostpreußen besonders rückständig gewesen sei. Vielmehr wurden infolge der planmäßigen Erschließung und Besiedelung des Landes durch den Deutschen Orden und das Bistum Ermland Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen geschaffen, die sich bis ins 20. Jahrhundert hinein als tragfähig erwiesen7. Aus diesen Strukturen entwickelten sich die genannten Milieus. Das wichtigste dieser Milieus sowohl hinsichtlich seiner politischen Bedeutung als auch seines Anteils an der Gesamtbevölkerung, seiner flächenmäßigen Ausdehnung und seiner Rolle in der regionalen Wirtschaft war der durch Gutshöfe geprägte Teil  Ostpreußens. Geographisch war diese Gesellschaft vor allem im Kernland des Deutschen Ordens zu finden, also von der Ostsee- und Haffküste im Norden bis zur Grenze Masurens im Süden und von der westlichen Landesgrenze bis zur masurischen Seenplatte, allerdings unterbrochen durch die vier ermländischen Landkreise. Auch der Streifen zwischen der Masurischen Seenplatte und der Ostgrenze Ostpreußens kann teilweise diesem Milieu zugerechnet werden, obwohl die Dichte an Gutshöfen und deren Größe hier geringer war als weiter im Westen und Norden8. Große Gutswirtschaften auf guten Böden mit den dazugehörigen Vorwerken und Dörfern, mit Land- und Wanderarbeitern wechselten sich in den genannten Teilen Ostpreußens ab mit eher kleinen Bauernwirtschaften. Die Landstädte waren ebenfalls sehr klein, kaum eine kam auf 10.000 Einwohner, in den meisten lebten weniger als 5.000 Menschen. Die Menschen dieses regionalen Milieus waren fast ausschließlich evangelisch und sprachen als Folge der Besiedelungspolitik des Ordens sowie der preußischen Herzöge und Könige Deutsch. Hier lebten beispielsweise Nachfahren von Westfalen, die im späten Mittelalter zugewandert waren, und die längst assimilierten Nachkommen der Hugenotten und Salzburger9.

7  Sabine Rehm, Die Bevölkerung in den östlichen Reichsgebieten und in Danzig, in: Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. Teil  1, hrsg. v. Walter Ziegler/Sabine Rehm, München 1999, 42–54; Sabine Rehm, Historisch-Geographische Grundlagen, in: ebd., 135–145. 8  Małgorzata Jackiewicz-Garniec/Mirosław Garniec, Schlösser und Gutshäuser im ehemaligen Ostpreußen, Olsztyn (Allenstein) 2001, 254 f. 9  Heide Wunder, Siedlung und Bevölkerung im Ordensstaat, Herzogtum und Königreich Preußen (13. –18. Jahrhundert); in: Ostdeutsche Geschichts- und Kulturlandschaften, Teil II: Ost- und Westpreußen, hrsg. v. Hans Rothe, Köln 1987, 67– 98.

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Die großen Güter bildeten im Mittelalter und bis in die Moderne eine effektive Wirtschaftsform. Zugleich stabilisierte die politische Funktion der Gutsherren als lokale Herrschafts-, Verwaltungs- und Justizinstanz die Herrschaft des Deutschen Ordens beziehungsweise später der preußischen Herzöge10. Nicht minder wichtig waren die Gutsherren und ihre Familien sowie die örtlichen Pfarrer und Lehrer als kulturelle und politische Multiplikatoren. Den Ärzten, Apothekern und Militärangehörigen kam diese Funktion ebenfalls zu, allerdings gab es sie bei weitem nicht in allen Dörfern. Hinzu kamen in allen Regionen Ostpreußens die Beamten, vor allem die Landräte, die zu einem großen Teil schon während des Kaiserreichs Beamte geworden waren und von denen einige 1920 sogar den Kapp-Putsch unterstützten. Anders als im Westen Preußens entstanden neben diesen Honoratioren keine weiteren einflussreichen Gesellschaftsschichten; Unternehmer, Freiberufler oder Intellektuelle suchte man im ländlichen Ostpreußen meist vergebens11. Den Honoratioren des Gutslandes war gemein, dass sie von ihrem Sozialprofil her konservativen politischen Kräften nahestanden und dies auch entsprechend kommunizierten. Im Kaiserreich waren sie staatsnah und gerade die adligen Gutsbesitzer eng mit der in Berlin herrschenden Schicht verbunden gewesen. In den Gutsbezirken hatten die „Junker“ sogar als Vertreter der Staatsmacht fungiert, oft waren sie Gerichts- und Kirchenherrn zugleich gewesen. Durch die Revolution und die Gründung der Weimarer Republik hatten die Gutsbesitzer ihrer Ansicht nach viel verloren, insbesondere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Privilegien. Ähnliches galt für die evangelischen Pfarrer, deren Kirche die enge Bindung an den preußischen Staat und mit dem preußischen König sogar das Kirchenoberhaupt verloren hatte. Auch den Lehrern durfte besondere Nähe zum Staat attestiert werden12. Angesichts dieser Situation ist es kein Wunder, dass diese wichtige, wenn nicht gar einzige Multiplikatorengruppe im größten Teil  Ostpreußens die Republik ablehnte und konservative bis restaurative Positionen vertrat. Der Einfluss dieser Gruppe und damit auch die Implementierung konservativen Gedankenguts war umso größer, als viele Güter ebenso wie die zu ihnen gehörenden Dörfer recht isoliert lagen. Dies wiederum hatte 10  Wunder,

Siedlung (Anm. 9), 84, 93 f. Richter, Ostpreußen und Regierungsbezirk Westpreußen, in: Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens. Teil IV: Vom Vertrag von Versailles bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1918–1945, hrsg. v. Ernst Opgenoorth, Lüneburg 1997, 57–70. 12  Daniel Hildebrand, Landbevölkerung und Wahlverhalten. Die DNVP im ländlichen Raum Pommerns und Ostpreußens 1918–1924, Hamburg 2004, 179– 206. 11  Friedrich



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zur Folge, dass außer den Honoratioren, die an städtischen Gymnasien und Universitäten ausgebildet worden waren und sich Reisen leisten konnten, kaum ein Bewohner des ländlichen Ostpreußens intensivere direkte Kontakte außerhalb des Gutskosmos unterhielt. Selbst durch die Arbeitsmigration ab dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich an dieser Situation wenig geändert. Die in die Industriereviere abgewanderten Verwandten und Bekannten lebten in einer Welt, die sich so fundamental von derjenigen auf den ostpreußischen Gütern unterschied, dass Briefe oder gelegentliche Besuche nicht ausreichten, um die Moderne nachhaltig ins ländliche Ostpreußen zu transportieren. In Ostpreußen mussten die konservativen Multiplikatoren den Großteil der Landbevölkerung deshalb noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht von ihren Ansichten überzeugen. Die Menschen lebten ganz selbstverständlich in dieser Gedankenwelt13. Selbstverständlich lasen auch die Menschen in den Dörfern Zeitung und bildeten sich eine eigene Meinung. Es ist aber zu beobachten, dass die weltanschauliche und politische Einstellung der Menschen in diesen Teilen Ostpreußens im Durchschnitt wesentlich konservativer geprägt war als in anderen Regionen Preußens. Und sie blieb weitaus stärker den politischen Ansichten der lokalen Autoritäten und obrigkeitsstaatlichen Denkmustern verhaftet als dies beispielsweise im Westen Preußens der Fall war14. Nach 1918 änderte sich dies nur langsam, Forderungen nach grundlegenden Reformen blieben hier aus. So sprach sich beispielsweise selbst der Landarbeiterverband für den Schutz bäuerlichen Eigentums aus, weil sich offenbar auch die Vertretung der nicht gerade auf Rosen gebetteten agrarischen Arbeitnehmer keine andere Wirtschaftsform vorstellen konnte15. Im Gegenteil, gerade die Furcht vor dem Sozialismus der Arbeiterparteien bildete ein einigendes Element in der Landbevölkerung über die sozialen Klassen hinaus. Ähnliches gilt für andere Zumutungen der Moderne, die anscheinend mit der Weimarer Republik Einzug in die ländliche Lebenswelt hielten: Moderne Verwaltungs- und Besteuerungsmethoden, die Trennung von Staat und Kirche und ähnliches mehr schien die tradierte Lebensweise zu bedrohen16. Außerdem darf natürlich gerade in Ostpreußen die außenpolitische Situation mit den Folgen des Versailler Vertrages 1919 nicht außer Acht gelassen werden: Viele Menschen fürchteten, die folgende Abtrennung der Provinz sei nur ein erster Schritt zur vollständigen polnischen Okkupa13  Herrmann

Pölking, Ostpreußen. Biographie einer Provinz, Berlin 2012, 20–24. Landbevölkerung (Anm. 12), 207–257. 15  Ebd., 207–239. 16  Ebd., 105–140. 14  Hildebrand,

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tion Ostpreußens. Nachdem der Weltkrieg gerade hier, in der Schlacht von Tannenberg in Masuren 1914, ja eigentlich gewonnen worden war, fühlte man sich durch die militärische Niederlage und die politische Revolution von 1918 umso mehr betrogen und von den Weimarer Parteien im Stich gelassen, die Ostpreußen offenbar einem ungewissen Schicksal überlassen wollten17. Die Partei, die zu Beginn der Weimarer Republik geradezu prädestiniert dafür schien, diese Stimmung für sich zu nutzen, war die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). In der Revolutionsstimmung im Januar 1919 war das allerdings noch nicht zu spüren. Als Nachfolgerin verschiedener konservativer Parteien des Kaiserreichs erhielt die DNVP bei der Wahl zur Nationalversammlung nur 122.000 Stimmen, das entsprach ­etwa 13 Prozent und brachte zwei von 14 Abgeordneten18. In den fol­ genden Jahren, mit Abklingen der Revolutionsstimmung und angesichts anhaltender politischer Wirren, konnte sich die DNVP aber vor allem aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Weimarer Republik beträchtlich steigern. Die DNVP erging sich im selben rückwärtsgewandten Wehklagen wie die ländlichen Eliten Ostpreußens, forderte eine Rückkehr zur obrigkeitsstaatlichen Ordnung, gerierte sich monarchistisch und polemisierte gegen den Versailler Vertrag. Im konservativen Establishment Ostpreußens war sie gut vernetzt, insbesondere unter den Gutsbesitzern. Das Führungspersonal der ostpreußischen DNVP rekrutierte sich vor allem aus Adeligen19. Ihr schillerndster Vertreter war Elard von Oldenburg-Januschau, derselbe, der noch 1910 erklärt hatte, der Kaiser müsse jederzeit in der Lage sein, den Reichstag von einem Leutnant mit zehn Soldaten schließen zu lassen. Oldenburg-Januschau hatte dem mit ihm befreundeten Wolfgang Kapp 1907 das Amt des Ostpreußischen Generallandschaftsdirektors verschafft. 1920 wusste er von Kapps Putschplänen und befürwortete sie. Mit Reichspräsident Hindenburg war Oldenburg-Januschau ebenfalls befreundet, er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass Hindenburg wieder in den Besitz des alten Familiengutes Neudeck in der Nachbarschaft

17  Vgl. Robert Traba, Ostpreußen  – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914–1933, Osnabrück 2010, passim. 18  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. 28. Jg. 1919. Erstes Ergänzungsheft. Die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919, Berlin 1919, 17 f. 19  Pölking, Ostpreußen (Anm. 13), 474.



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J­ anuschaus gelangte. Oldenburg-Januschau antichambrierte bei Hindenburg gegen die Republik und schließlich auch für Hitler20. Sein Einfluss soll aber auch nicht überschätzt werden. An der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und am Untergang der Weimarer Republik hatte er nur begrenzten Anteil. Oldenburg-Januschau kann eher als Beispiel dafür gelten, wie dezidiert antirepublikanisch die DNVP in Ostpreußen eingestellt und wie sehr sie in vielem eine Partei des Gestern war. Protagonisten wie der Alte Januschauer konnten ihr destruktives Potential gegen die Republik entfalten und die Nostalgie einiger Gesellschaftskreise nach der guten alten Zeit bedienen. Neue Wege zeigten sie nicht auf, für marginalisierte und radikalisierte Kleinbauern und Landarbeiter waren sie sicherlich keine Heilsgestalten. In den ersten Jahren der Weimarer Republik allerdings war diese Rückwärtsgewandtheit noch kein Problem für die DNVP, sondern sogar der Charakterzug, der ihren Erfolg begünstigte. Angesichts der bewegten Zeiten mit der Neugründung Polens, der Abwanderung vieler Deutscher aus dem neuen „Korridorgebiet“ nach Ostpreußen, den Volksabstimmungen um die staatliche Zugehörigkeit in Masuren, Teilen Westpreußens und Oberschlesiens, den zahlreichen Freikorpskämpfen in Deutschland und dem Baltikum, dem von einem Ostpreußen mitinitiierten KappPutsch sowie Hunger, Not und Hyperinflation stieß der Ruf der DNVP nach einer starken Obrigkeit und nach einer Restitution deutscher Größe auf viele offene Ohren. In Ostpreußen war selbst die Durchführung der ersten regulären Reichstagswahl der Weimarer Republik ein Menetekel für die wahrgenommene Bedrohung der territorialen Integrität des Staates. Der Urnengang fand am 6.  Juni 1920 statt. Da gemäß des Versailler Vertrages im westlichen und südlichen Ostpreußen aber erst am 11. Juli 1920 darüber abgestimmt wurde, ob diese Gebiete weiterhin zu Ostpreußen und damit zum Deutschen Reich gehören und stimmberechtigt sein sollten, wurde der Reichstag hier erst am 20.  Februar 1921 gewählt. Die Provinz hatte also mehr Zeit als das übrige Reich gehabt, um die Revolutionsstimmung abklingen zu lassen. Ostpreußen präsentierte sich im Februar 1921 nun als Hochburg der DNVP. Die Partei konnte ihr regionales Ergebnis im Vergleich zur Wahl  zur Nationalversammlung Anfang 1919 mehr als verdoppeln  – 296.229 Stimmen entsprachen 31 Prozent und brachten vier von elf Man20  Helmut Neubach, Oldenburg-Januschau, Elard von, in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), 513 f. [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie. de/pnd117593907.html#ndbcontent; Zugriff am 09.02.2021.

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daten. In den folgenden drei Jahren konnte die DNVP an diesen Aufwärtstrend anknüpfen. 1924 fanden zwei Reichstagswahlen statt, die DNVP erreichte im Mai 398.613 Stimmen, d. h. 39 Prozent und sechs von zwölf Mandaten, im Dezember dann mit Hilfe von 392.616 Stimmen sechs von diesmal 13 Mandaten. Entscheidend für die Erfolge der Partei war dabei das Milieu der kleinen Landgemeinden21. Nach 1924 verlor die DNVP rapide an Zustimmung. Ein Grund war, dass sie ausgesprochen stark mit den Großagrariern assoziiert wurde. Mitte der 1920er Jahre zeigte sich aber immer mehr, dass die Großagrarier stark ihre eigenen Interessen verfolgten, während die Probleme der übrigen Landbevölkerung in der Politik der DNVP kaum  – mehr  – Widerhall fanden. Zugleich bekam das Milieu, in dem die DNVP verankert war, Risse. Die Weimarer Republik stabilisierte sich, mit der Einführung der Rentenmark wurden die drängendsten wirtschaftlichen Probleme überwunden. Die außenpolitischen Bedrohungen traten in den Hintergrund – es schien nicht mehr notwendig zu sein, über alle sozialen Gräben hinweg Einigkeit zu zeigen. Und die DNVP selbst hatte viele Konservative verärgert, indem ein Teil ihrer Abgeordneten dem Dawes-Plan zur Regelung der Reparationsfrage zugestimmt hatte, statt Fundamental­ opposition zu betreiben22. Der DNVP setzte außerdem eine gesellschaftliche Entwicklung zu, die bereits im Kaiserreich große Bedeutung erlangt hatte. Bei einem großen Teil der Bevölkerung hatte sich ein Bedürfnis nach grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen bemerkbar gemacht. Der Weltkrieg und die wirtschaftlichen wie politischen Krisen an seinem Ende radikalisierten dieses Bedürfnis. In Ostpreußen, wo politische Strömungen oft später wirksam wurden als im Westen Preußens, wurde es zunächst vor allem in den Großstädten virulent. Aber selbst in den ostpreußischen Landgemeinden hielt die Moderne im Laufe der 1920er Jahren mehr und mehr Einzug und zeigte den Menschen ihre positiven Seiten in Form sozialer Absicherung oder politischer und weltanschaulicher Freiheiten. So mancher Blick ging über den Tellerrand des Dorfes oder Gutes hinaus und die Zeiten, in denen der Wahlempfehlung des Gutsherrn unhinterfragt Folge geleistet wurde, waren offensichtlich vorbei. Auch Landarbeiter und Instleute spürten nun ein Bedürfnis nach Veränderungen. Sie fragten sich, ob ihre Interessen tatsächlich von der Partei der Oldenburg-Januschaus vertreten wurden und waren zu eigenen Wahlentscheidungen bereit. Die Schlagworte Sozialismus oder Kommu21  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935. 22  Hildebrand, Landbevölkerung (Anm. 12), 6 f., 304 f.



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nismus waren immer weniger geeignet, im Dorf sofort ein Abwehrkollektiv zu errichten; im Gegenteil, selbst Ernst Thälmann fand auf dem ostpreußischen Lande Wähler23. Negativ wirkte sich für die DNVP auch aus, dass sie eine ausgesprochene Honoratiorenpartei war und in Ostpreußen über nur wenige Mitglieder verfügte, die Probleme hatten, untereinander in Kontakt zu bleiben. Unterorganisationen wie der Lehrerbund waren oft überhaupt nicht handlungsfähig24. Damit war eine effektive Wahlwerbung oder gar ­kontinuierliche Parteiarbeit kaum möglich. Den wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen sich die ostpreußische Landwirtschaft ­gegenübersah, hatte die DNVP keine überzeugenden Konzepte entgegenzusetzen. Für einen Teil ihrer Klientel, insbesondere die kleineren Landwirte, Landarbeiter und Handwerker, war die Partei nicht mehr attraktiv. Diese Menschen erwarteten keine nostalgische Rückschau, sondern auf der Basis ihres konservativen Weltbildes zeitgemäße Programme und energisch handelnde Führungspersonen. Die DNVP konnte ihnen dies nicht bieten25. Ab 1924 verlor die DNVP deshalb in ihren ostpreußischen Hochburgen bei den Reichstagswahlen stetig an Akzeptanz. Über zunächst noch 313.201 Stimmen im Jahr 1928 und nur mehr 205.763 anno 1930 ging es zum absoluten Tiefpunkt, der Juli-Wahl 1932. Gerade einmal 107.998 Ostpreußen schenkten der DNVP ihr Vertrauen. Das entsprach 9,5 Prozent und reichte nur für eines von 15 Mandaten. Im November konnte die DNVP zwar 45.000 Stimmen hinzugewinnen, aber die Märzwahlen 1933 brachten erneut einen Verlust von 14.000 Wählern. 11,3 Prozent und zwei von 15 Mandaten  – die DNVP war selbst als Koalitionspartner des angeblichen Heilsbringers Adolf Hitler nicht mehr wirklich attraktiv26. An dieser Stelle muss ein zweites Milieu beschrieben werden, das ebenfalls zu den Hochburgen der DNVP zählte: Masuren. Die Region war – und ist – ebenfalls eine ländliche Gegend, die von kleinen Gemeinden und kleinen Landstädten geprägt war. Auch hier waren die Menschen evangelisch. Da für die Besiedlung der Großen Wildnis aber bereits im 14. Jahrhundert und auch nach diversen Pestepidemien und Kriegen nicht genügend deutsche Siedler zur Verfügung gestanden hatten, waren viele polnische Siedler ins Land gekommen, deren Nachkommen als Masuren ein etwas altertümliches Polnisch sprachen. 23  Kossert,

Ostpreußen (Anm. 1), 260. Landbevölkerung (Anm. 12), 205. 25  Vgl. ebd., 207–257. 26  Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935. 24  Hildebrand

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Aufgrund der schlechten und sumpfigen Böden gab es im südlichen Masuren keine großen Güter, hier herrschte vielmehr das Kleinbauerntum vor. Damit fehlte zwar eine wichtige Multiplikatorengruppe für den Konservatismus der DNVP, die Großagrarier, aber gerade in der Region zog die nostalgische Erinnerung an die verlorene Monarchie zunächst viele Wähler an. Der Protestantismus bildete einen der wichtigsten Identifikationspunkte, er war mit dem preußischen Staat verbunden gewesen. Der Sieg in der Schlacht von Tannenberg und der noch im Krieg begonnene Wiederaufbau der von den Truppen des Zaren verwüsteten Gebiete wurden ebenfalls dem alten Preußen zu Gute gehalten. Die Bedrohung von außen, in Masuren in Form der Volksabstimmung besonders virulent geworden, sprach zusätzlich für die DNVP mit ihrem Versprechen, ein starkes Deutschland wieder zu errichten27. Diese Faktoren überwogen sogar den nationalen Aspekt und verhinderten eine Identifikation der polnischsprachigen Bewohner mit dem gerade neu gegründeten polnischen Staat. Die nationalpolnische Bewegung war in Masuren ohnehin nie sonderlich stark verwurzelt gewesen. Bezeichnend dafür ist, dass die 1896 in Lyck gegründete Masurische Volkspartei nicht aus einer regionalen oder lokalen Initiative entstand, sondern von Warschauer Intellektuellen angeregt und aus Warschau und Posen finanziert wurde. Die Partei sollte die nationalpolnische Bewegung in Masuren stärken und die Verdrängung der polnischen Sprache stoppen. Obwohl sie sich auch als Interessensvertreterin der masurischen Kleinbauern gerierte, erreichte sie keine größere Bedeutung und hatte nie mehr als wenige Hundert Mitglieder28. Mit dem Ersten Weltkrieg wurden die Masuren schließlich trotz ihrer polnischen Sprache seitens der deutschen Propaganda zu besonders treuen deutschen Patrioten erklärt, was in den aufgeheizten Propaganda­ schlachten um die Volksabstimmung 1920 nochmals überhöht wurde. Eine masurische oder gar polnische Partei hatte damit keine Erfolgsaussichten mehr. Bei den beiden Reichstagswahlen 1924 erreichte die Masurische Volkspartei 1.060 beziehungsweise 554 Stimmen. Zum letzten Mal trat sie 1928 an, wo sie nur noch 298 Stimmen erhielt29. Masuren blieb bis dahin eine Hochburg der DNVP. Anstatt einer regionalen oder polnischen wählten die Masuren also eine deutschnationale Partei. Doch 27  Andreas Kossert, Preußen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870–1956, Wiesbaden 2001. 28  Andreas Kossert, Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2006, 209 f.; Kossert, Preußen (Anm. 27), 79. 29  Preußisches Statistisches Landesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Preußen, Bd. 16–30 (1920–1934); Berlin, 1920–1934.



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auch bei ihnen verlor die DNVP nach 1924 immer mehr an Rückhalt und verfing die Idee des protestantischen Preußentums bei der Wahlentscheidung zunehmend weniger. Masuren entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer Hochburg der N ­ SDAP. In einer anderen ländlichen Region Ostpreußens, dem Ermland, konnte die DNVP dagegen nie so stark Fuß fassen wie in den bereits vorgestellten Gebieten. Das Ermland hatte sich seit 1278 politisch und kulturell immer stärker vom Ordensstaat entfernt und zu einem autonomen Fürstbistum entwickelt, das ab 1466 polnischer Oberhoheit unterstand. Durch die Umwandlung des Ordensstaates in ein evangelisches Herzogtum wurde das Ermland zur katholischen Enklave. Aber nicht nur die Konfession, auch die Sozialstruktur der Region unterschied sich von der des Herzogtums. Die Bischöfe und das Domkapitel hatten im 15. und 16. Jahrhundert in den Kriegen zwischen dem Deutschen Orden und dem Preußischen Bund beziehungsweise dem Königreich Polen auf der Seite der Sieger, also des Preußischen Bundes und des polnischen Königs, gestanden. Der Deutsche Orden konnte als Verlierer seine Söldnerführer nicht mit Kriegs­ beute bezahlen, er zahlte seine Schulden vielmehr dadurch, dass er den Söldnerführern, den Dohnas, Dönhoffs und Lehndorffs, große Güter verlieh, aus denen die Rittergüter des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden. Dazu wurden oft zahlreiche Bauernwirtschaften aufgelöst und in die Gutshöfe eingegliedert. Die Fürstbischöfe mussten diesen Weg nicht gehen, die Truppen auf ihrer Seite wurden von reichen Handelsstädten wie Danzig oder vom polnischen König bezahlt. Im Ermland blieb deshalb die bäuerliche Besitzstruktur, die bei der Besiedlung im späten Mittel­ alter geschaffen worden war, bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Große Gutshöfe mit mehreren Hundert Hektar gab es im Ermland keine, die Landwirtschaft war vielmehr von vielen groß- und mittelbäuerlichen Betrieben geprägt, von denen ein großer Teil über etwa 100 Hektar Land verfügte30. Da das Ermland zudem durch die Jahrhunderte unter dem Einfluss eines starken Katholizismus blieb, fehlten Autoritäten, Multiplikatoren und Vorbilder, auf die sich die DNVP in weiten anderen Teilen Ostpreußens stützte: die Gutsherren, die evangelischen Pastoren und die Lehrer, die der Schulaufsicht protestantischer Geistlicher unterlagen.

30  Reinhold Heling/Brigitte Poschmann, (Hrsg.): Die Bevölkerung des Ermlands 1773. Die ältesten Prästationstabellen des Hochstifts. Band  1. Quellennachweis für die ostdeutschen Kirchbücher, Hamburg 1997, S. XII.

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Auf die gut situierten Mittelbauern des Ermlands wirkte die DNVP als Partei der Großgrundbesitzer wenig attraktiv. Kleinbauerntum und Landarbeiterwesen waren weniger stark ausgeprägt als in anderen Teilen Ostpreußen, außerdem funktionierten die Mechanismen, die ansonsten in der Region Landarbeiter und Kleinbauern zur DNVP brachten, im Ermland nicht. Nostalgische Erinnerungen an Glanz und Gloria des alten Preußen wirkten hier eher zwiespältig. In den 130 Jahren, in denen das einst stolze Fürstbistum jetzt zu Preußen gehörte, waren fraglos viele preußische Traditionen und historische Narrative übernommen worden, nicht zuletzt durch den Schulunterricht und den Militärdienst31. Andererseits stand Preußen auch für zahlreiche Erinnerungsorte, die konträr zur eigenen, zur ermländischen Geschichtstradition standen. Im preußischen Legitimationsdiskurs kam dem Herrscherhaus der Hohenzollern zentrale Bedeutung zu, ebenso dem Protestantismus als einer Art Staatsreligion mit dem König als summus episcopus. Im Ermland galt nun ausgerechnet der Hohenzoller, der für die Zugehörigkeit Preußens zum hohenzollernschen Staatsgebilde um Brandenburg verantwortlich war, Herzog Albrecht aus der fränkischen Linie der Hohenzollern, als Inbegriff der Reformation. Die Abgrenzung von der Reformation und damit auch vom preußischen Protestantismus waren vom Beginn des 16. bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts aber gerade die Staatsräson des Fürstbistums gewesen. Seine Kultur und sein Selbstverständnis hatten auf Katholizismus und Gegenreformation basiert und prägten das Ermland auch noch im 20. Jahrhundert32. Das war keine günstige Ausgangslage für die DNVP. Nach dem Übergang des Ermlandes an Preußen in der Ersten Polnischen Teilung 1772 hatte sich König Friedrich II. seinen neuen katholischen Untertanen gegenüber zwar sehr tolerant gezeigt und auf jede Art der Missionierung oder Zwangskonvertierung verzichtet. Dennoch war Brandenburg-Preußen ein protestantischer Staat, in dem Katholiken nur eine Außenseiterposition zukam. Das wurde auch wahrgenommen, beispielsweise wenn Beamtenstellen in katholischen Gebieten systematisch mit Protestanten besetzt wurden und im Gegenzug katholische Beamte in evangelischen Landesteilen eingesetzt wurden33. Das Trauma vieler Katholiken, der Kulturkampf der Bismarckzeit, war im Ermland indes nicht heftig geführt worden. Bestes Beispiel dafür waren die Marienerscheinungen in Marpingen im heutigen Saarland 1876 31  Pölking,

Ostpreußen (Anm. 13), 48–54. Karp/Bernhart Jähnig, Stanislaus Hosius. Sein Wirken als Humanist, Theologe und Mann der Kirche in Europa, Münster 2007. 33  Pölking, Ostpreußen (Anm. 13), 120. 32  Hans-Jürgen



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und im Jahr darauf in Dietrichswalde, 15 Kilometer westlich von Allenstein. Während die preußischen Behörden in Marpingen mit aller Härte gegen Pilger und Klerus vorgingen, ließen sie die Gläubigen in Dietrichswalde gewähren34. Dennoch war der Kulturkampf auch im Ermland wahrgenommen worden, und sein eigentliches Konfliktthema, die Lösung des Staates von der Kirche, wurde in einem Landstrich, in dem Kirche und Staat über 400 Jahre lang eine Einheit gebildet hatten und wo der Einfluss der Geistlichen auf den Alltag immer noch sehr groß war, als Bruch jahrhundertealter Traditionen betrachtet. Die Erinnerung an den Kulturkampf schloss deshalb Sympathien für eine Partei wie die DNVP, die ständig das preußisch-protestantische Erbe betonte, beinahe aus. Aus dem Kulturkampf waren es die ermländischen Katholiken auch gewohnt, ihre tradierte Lebensweise, eine sehr reiche katholische Kulturtradition, nicht nur gegen die Moderne, sondern auch gegen den Staat zu verteidigen. Wenn die DNVP also als Verteidiger der traditionellen Kultur auftrat, so verstand sie darunter nicht nur etwas anderes als die Ermländer, sie traf auch auf tief verwurzelte katholische Institutionen, die einen solchen Kampf bereits seit über 50 Jahren führten, und das noch dazu gegen einen wichtigen Identifikationstopos der DNVP. Als politische Partei erfuhr die DNVP zudem Konkurrenz durch die etablierte Vertreterin des traditionellen Katholizismus, das Zentrum. Es bot den Katholiken des Ermlandes seit 1870 eine politische Heimat, die keinen Raum für andere Parteien ließ. In den beiden ermländischen Wahlkreisen Braunsberg-Heilsberg und Allenstein-Rößel gingen mit einer Ausnahme bei allen 13 Reichstagswahlen zwischen 1871 und 1912 beide Mandate an den Kandidaten der Zentrumspartei. Unter den insgesamt elf Abgeordneten waren, bei der Zentrumspartei damals nicht unüblich, sechs Pfarrer. Selbst der einzige Kandidat, der nicht dem Zentrum angehörte und 1893 dennoch das Allensteiner Mandat erobern konnte, war katholischer Geistlicher. Bis auf drei stammten auch alle ermländischen Abgeordneten aus dem Ermland35. Während des Kaiserreichs war das Zentrum in der Region also gut verwurzelt. In der Weimarer Republik sollte sich das nicht ändern. Die Partei erhielt bis in den März 1933 hinein bei Reichstagswahlen verlässlich über 30 Prozent der Wählerstimmer in den vier ermländischen Landkreisen. Allerdings entsprach dies nicht mehr als 80.000 bis 90.000 Stimmen. Be34  Swetlana Fink, Dietrichswalde: Das ostpreußische Marpingen? Die Marien­ erscheinungen im Vergleich, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 59 (2015), 3–30. 35  Bernhard Mann (Bearb.), Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918, Düsseldorf 1988, passim.

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trachtet man die gesamte Provinz Ostpreußen, so fielen diese Stimmen nicht sehr stark ins Gewicht: Bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 entfielen 10,3 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die Zentrumspartei. Und bis zum März 1933 schrumpfte dieser Anteil bei fast gleichen absoluten Zahlen kontinuierlich auf 6,5 Prozent36. Das Zusammenspiel von gleichbleibender Stimmenzahl und sinkendem Stimmenanteil zeigt eine strukturelle Schwäche der Zentrumspartei: Sie konnte zwar ihre Kernwählerschaft im Ermland halten, es gelang ihr aber nicht, neue Wähler hinzuzugewinnen. Da die Bevölkerungszahl Ostpreußens wuchs, resultierte daraus ein sinkender Stimmenanteil. Das Zentrum war offensichtlich die Partei des konservativen, katholischen Landvolkes eines kleinen Landstrichs. In den dynamischen Regionen Ostpreußens, die auch durch Binnenwanderung einen stärkeren Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatten als der Rest der Provinz, in Königsberg und Elbing, spielte sie hingegen kaum eine Rolle37. Wer das Ermland verließ, verließ offenbar nicht nur sein heimisches Milieu, sondern öffnete sich auch für neue parteipolitische Bindungen. Das Zentrum blieb also auf seine ländlich-katholische Stammwählerschaft im Ermland beschränkt und bildete deshalb während der gesamten Weimarer Republik nur eine regionale Größe in der ostpreußischen Politik. Allerdings, das muss an dieser Stelle hinzugesagt werden, blieb der Landstrich auch den Nationalsozialisten bis 1933 verschlossen, das katholische Milieu zeigte sich lange Zeit sehr stabil und resistent. Erwähnenswert ist hier noch, dass sich im südlichen Ermland, in der Region um Allenstein, die polnische Sprache bis ins 20. Jahrhundert hinein als Alltagssprache eines großen Teils der Bevölkerung gehalten hatte. Anders als die ebenfalls Polnisch sprechenden Masuren waren die Polnisch sprechenden Ermländer aber katholisch und hatten sich der polnischen Kultur und Gesellschaft nicht so weit entfremdet wie die protestantischen Masuren. Im Raum Allenstein war die polnische Nationalbewegung daher vergleichsweise erfolgreich. Auch die Allensteiner Polen wurden vor und nach 1918 aus anderen Regionen Polens unterstützt, stützten sich aber vor allem auf einen Kreis aus der Region stammender Aktivisten. Im südlichen Ermland wurden zahlreiche kleine Bibliotheken gegründet, die nach der schrittweisen Abschaffung des Polnischen als Unterrichtssprache die regionalen Polnisch-Sprechenden mit Lesestoff versorgen und ihre Sprachkenntnisse sicherstellen sollten. Ab 1886 verfügte die 36  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935. 37  Pölking, Ostpreußen (Anm. 13), 474.



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polnische Nationalbewegung mit der Gazeta Olszty´nska über eine Zeitung, die 1921 zur Tageszeitung ausgebaut werden konnte38. 1929 bis 1934 gelang es mit Unterstützung der Polsko-Katolickie Towarzystwo Szkolne na Warmi˛e, einem polnisch-katholischen Schulverein für das Ermland, 15 Volksschulen einzurichten, in der Polnisch die Unterrichtssprache war39. Politisch jedoch blieb der Einfluss der polnischen Nationalbewegung gering. Die Erfolgskurve ihres politischen Arms, der Polnischen Volkspartei, ähnelte derjenigen der DNVP: 1921, als Polen wegen der nur wenige Monate zurückliegenden historischen Ereignisse, der Volksabstimmung über die Zukunft des südlichen Ostpreußen und Polens Sieg im Krieg gegen Sowjetrussland, in aller Munde war, erreichte die Polnische Volkspartei bei den Reichstagswahlen 12.663 Stimmen, im Mai  1924 13.039. Aber schon im Dezember desselben Jahres stürzte die Partei auf 6.069 Stimmen ab, und auch danach sank die Stimmenzahl kontinuierlich. Bei ihrem letzten Auftritt im November 1932 erreichte die PVP gerade noch 2.745 Stimmen40. Offenbar waren immer weniger Ostpreußen bereit, sich im aufgeheizten außenpolitischen Klima mit Polen zu identifizieren. Für Polnisch sprechende Katholiken gab es mit dem katholischen Zentrum zudem eine akzeptable Alternative zu einer dezidiert polnischen Partei. Das ohnehin kleine und durch Assimilation immer stärker schrumpfende polnische Milieu stellte also die Konfession über die Nationalität und schloss sich parteipolitisch den deutschsprachigen Ermländern an. Ebenfalls nur ein kleines, geographisch zudem sehr verstreutes Milieu bildeten die Anhänger der liberalen Parteien. Für die Weimarer Republik besaßen die liberalen Parteien DDP und DVP erhebliche Bedeutung, da sie zwar keine großen Mehrheiten gewinnen konnten, aber an fast allen Regierungen beteiligt waren. In Ostpreußen standen sie dagegen nur in der zweiten oder dritten Reihe. Bei der Wahl zur Nationalversammlung erreichten sie in der Provinz zusammen ungefähr 250.000 Stimmen, wobei die eher linksliberale DDP mit 182.000 Stimmen ähnlich wie im gesamten Deutschen Reich weitaus stärker war als die nationalliberale DVP mit 70.000 Stimmen. Dann jedoch, und auch das entsprach dem Trend in ganz Deutschland, drehten sich die Verhältnisse. Schon bei der 38  Andrzej Staniszewski, Gazeta Olszty´nska 1886–1939, Olsztyn (Allenstein) 1991. 39  Bohdan Koziełło-Poklewski/Wojciech Wrzesi´nski, Szkolnictwo polskie na Warmii, Mazurach i Powi´slu w latach 1919–1939, Olsztyn (Allenstein) 1980. 40  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935.

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Reichstagswahl 1920/21 erreichte die DVP mit 144.000 Stimmen fast dreimal so viele Wähler wie die DDP, die 53.000 Anhänger fand. In den Wahlen bis 1928 zeigte sich die DVP mit 90.000 bis 100.000 Stimmen mehr als doppelt so stark wie die DDP, die zwischen 36.000 und 40.000 Stimmen erhielt. 1930 erlitten beide Parteien, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, große Verlust. Die DVP konnte noch 57.000 Wähler von sich überzeugen, die DDP 27.000. Im Juli 1932 verschwanden beide Parteien mit 9.500 beziehungsweise 6.400 Stimmen fast ganz von der politischen Landkarte Ostpreußens41. Über eine große, festgefügte Basis vergleichbar den oben geschilderten Milieus verfügten beide Parteien in Ostpreußen nicht, sie fanden ihre Wähler vor allem in den größeren Städten, insbesondere in Königsberg mit seiner langen liberalen Tradition und seinen vielen Beamten, Intellektuellen und Freiberuflern. Aber auch hier zeigte sich: Im konservativen Ostpreußen konnte die DVP, in der viele der Weimarer Republik trotz aller Mitwirkung kritisch gegenüberstanden, mehr Wähler erreichen als die weiter links zu verortende DDP. Beide liberalen Formationen waren wie die DNVP Honoratiorenpar­ teien, die gerade in den ländlichen Regionen Ostpreußens wenig Präsenz zeigten – noch weniger als die DNVP, da die Eliten in der Agrarprovinz wie beschrieben eher den Konservativen zuneigten. Den Liberalen fehlte somit der Zugang zur größten Wählerschicht Ostpreußens, der Landbevölkerung. Sie taten auch kaum etwas, um diese zu erreichen. Der Wahlkampfstil der Arbeiterparteien oder der N ­ SDAP mit großen Aufmärschen und prominenten Rednern war ihnen fremd und wurde von ihnen nicht adaptiert. Bezeichnend für dieses Manko ist der Bericht des Generalsekretärs der DDP Vellemann, der im April 1929 eine Wahlkampfveranstaltung der ­NSDAP in Darkehmen besucht hatte. Er bezeichnete die dortige Rede des Gauleiters der N ­ SDAP als „zweistündige Schimpfkanonade, die an sinnloser und wüster Hetzte ihresgleichen sucht. Ich habe schon manches von der politischen Rückständigkeit in den kleinen Städten Ostpreußens gehört, daß es aber möglich ist, mit derartigem Geschwafel zwei Stunden lang ein verhältnismäßig anständiges Publikum zu traktieren, hätte ich doch nicht geglaubt.“42 Vellemann fand es bedenklich, dass die Bevölkerung auf dem Land keine anderen Informationen bekomme und überlegte, ob diejenigen, die das ändern wollten, sich nicht eventuell zusammenschließen sollten. Offenbar war nicht nur die DDP, sondern waren auch 41  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935. 42  Hartungsche Zeitung, 27. April 1929.



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die anderen liberalen und bürgerlichen Parteien außerhalb der größeren Städte Ostpreußens nicht präsent und hatten auch kein Konzept dafür, wie sie die dortigen Wähler ansprechen und der Agitation der radika­ leren Parteien begegnen sollten. Insbesondere den aggressiven Methoden der N ­ SDAP hatten sie damit nichts entgegenzusetzen. Bis zur Weltwirtschaftskrise konnten DDP und DVP lediglich von einer Art Amtsbonus profitieren  – viele leitende Funktionen der Provinz waren von der Landesregierung in Berlin im Rahmen ihrer Strategie der Demokratisierung Preußens mit liberalen Politikern und Beamten besetzt worden. So gehörte der langjährige und äußerst verdienstvolle Oberpräsident Ernst Siehr ebenso wie der noch länger amtierende und beliebte Oberbürgermeister Königsbergs Hans Lohmeyer der DDP an, mehrere Regierungspräsidenten besaßen ein DVP-Parteibuch43. Dieser Amtsbonus wandelte sich allerdings mit der ungelösten Wirtschaftskrise in einen Malus um, was die beschriebenen Folgen an den Wahlurnen zeitigte. Als die meisten liberalen Beamten im Preußenschlag 1932 abgesetzt wurden, fand das in der Provinz kaum ein bedauerndes Echo; auch nicht bei den subalternen Beamten, die meist eher der DNVP nahestanden44. Während die liberalen Parteien in Ostpreußen also nicht wirklich heimisch wurden, sah dies bei den Arbeiterparteien ein wenig anders aus. Die SPD erreichte als treibende Kraft der Novemberrevolution bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 Traumergebnisse. 415.000 Ostpreußen, 43 Prozent, stimmten für die Partei Friedrich Eberts, 62.000 für die USPD. Jedoch schon die erste Reichstagswahl 1921 holte die SPD auf den Boden der Tatsachen zurück: 229.000 Stimmen, fast 70.000 weniger als die DNVP und mit 24 Prozent auch fast sieben Prozentpunkte weniger als die Konservativen. In der Folgezeit stabilisierten sich die SPDErgebnisse mit einigen Ausreißern bei etwa 225.000 Stimmen, also circa 20 Prozent45. Die KPD startet 1920/21 mit 70.000 Stimmen, um sich in den folgenden Wahlen stetig zu steigern. Im Juli und November 1932 erzielte sie mit 43  Kurt G. A Jeserich, Hans Lohmeyer (1881–1968), in: Persönlichkeiten der Verwaltung, hrsg. v. Kurt G. A. Jeserich/Helmut Neuhaus, Stuttgart u. a. 1991, 380– 384. 44  Klaus von der Groeben, Provinz Ostpreußen, in: Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945. Organisation  – Aufgaben  – Leistungen der Verwaltung, hrsg. v. Gerd Heinrich/Friedrich Wilhelm Henning/Kurt G. A. Jeserich, Stuttgart 1993, 147–258. 45  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935.

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je 148.000 Stimmen ihr bestes Ergebnis. Anders als meist berichtet, gab es in Ostpreußen also durchaus ein Wählerpotential für die Arbeiterparteien, das sich sogar angesichts der Bedrohung durch die ­NSDAP als sehr stabil erwies. Allerdings lagen SPD und KPD im Juli 1932 trotz ihrer zusammengerechnet 370.000 Stimmen immer noch 160.000 Stimmen hinter der N ­ SDAP zurück, zählt man die Wähler für die DNVP hinzu, fehlten ihnen sogar 270.00 Stimmen auf die radikale Rechte und die Konservativen46. Hauptproblem der Arbeiterparteien war, dass zwar ein Teil ihrer Sympathisanten in den wenigen größeren Städten lebte und dort durchaus gut organisiert werden konnte, ein weiterer, großer Teil aber verstreut auf dem Lande wohnte, wo er einem überwiegend konservativen Milieu ausgesetzt war und mit den üblichen Agitationsthemen der Arbeiterparteien wenig auszurichten vermochte. Das Potential von SPD und KPD kam daher vor allem in Königsberg, Elbing und einigen Kreisstädten zum Tragen, die Landbevölkerung blieb dagegen in den späteren Weimarer Jahren oft der ­NSDAP überlassen. Einige kleinere Ortschaften wie der Eisenbahnknotenpunkt Korschen waren fest in der Hand der Arbeiterparteien, weil hier aufgrund wirtschaftlicher Besonderheiten viele Ar­ beiter lebten, darunter wie im Falle Korschens auch zugezogene Eisenbahner, die die Arbeiterbewegung aus ihren bisherigen Heimatorten kannten47. In vielen Dörfern spielten persönliche Bekanntschaften eine große Rolle, so zum Beispiel im fast ausschließlich katholischen Kalborno im ermländischen Landkreis Allenstein. In dem 550-Seelen-Ort gaben über 90 Prozent der Einwohner an, ihre Muttersprache sei Polnisch. Im Sommer 1932 wählten 30 Prozent von ihnen die KPD, im November sogar fast 37 Prozent. Das Zentrum erreichte bei beiden Wahlen etwa 23 Prozent, die Polenpartei sechs48. Damit lag das Zentrum deutlich unter seinem sonstigen Stimmenanteil im Ermland, die KPD hingegen war die stärkste Partei im Dorf. Letztlich kann nicht im Detail geklärt werden, warum in dem eher abgelegenen Dorf ohne nennenswerte Industrie- oder Gewerbebetriebe ein so großer Teil der Stimmen an die Kommunistische Partei ging, es lässt sich angesichts der damals noch sehr starken fami­ liären Bande aber vermuten, dass es einem oder mehreren Kommunisten gelungen war, Familienmitglieder und Freunde für seine Partei zu gewin46  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935. 47  Pölking, Ostpreußen (Anm. 13), 473. 48  Georg Kellmann, Die Kirchspiele Groß Kleeberg und Klaukendorf mit allen Ortschaften einschließlich Wiranden und Klaukendorf, Mannheim 1993, 94.



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nen, denn die schwierige wirtschaftliche Lage am Ende der 1920er Jahre ließ die KPD auch manchen Landarbeitern und Kleinbauern attraktiv erscheinen. Der größte Krisengewinner war jedoch die N ­ SDAP. Sie hatte in der ostpreußischen Parteienlandschaft noch bis September 1928 keine Rolle gespielt. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 fuhr sie in der Provinz sogar ihr reichsweit schlechtestes Ergebnis ein – 8.000 Stimmen, 0,8 Prozent. Es zeigte sich aber schnell, dass ihr infolge des Niedergangs der DNVP alle Möglichkeiten offenstanden, als der neue Gauleiter Erich Koch die Partei reorganisierte und mit den damals modernsten Propagandamethoden unerwartete Wahlergebnisse erzielte. Schon bei den Reichstagswahlen im September 1930 wurde die ­ NSDAP mit 236.000 Stimmen im Wahlkreis Ostpreußen stärkste Kraft  – die Region war der erste Wahlkreis, in dem ihr das auf Provinzebene gelang. Im Juli 1932 erreichte sie 536.000 Stimmen, was einem Stimmenanteil von 47 Prozent entsprach und zehn Prozentpunkte über dem Reichsdurchschnitt lag. Im März 1933 fuhr die ­NSDAP im äußersten Nordosten des Reiches mit fast 700.000 Stimmen und 56 Prozent eine absolute Mehrheit ein, zugleich das beste Wahlkreisergebnis der N ­ SDAP in ganz Deutschland, etwa zwölf Prozentpunkte über dem Reichsdurchschnitt49. Die Erfolge kamen nicht von ungefähr. Sie waren zum einen dem schon geschilderten Niedergang der DNVP geschuldet, aber auch der Weltwirtschaftskrise und einer allgemeinen Radikalisierung der politischen Kultur. Der N ­ SDAP gelang es meisterhaft, die verschiedenen Milieus in Ostpreußen anzusprechen. Dazu wurden sowohl Ideologieangebote wie auch konkrete Forderungen den unterschiedlichsten Zielgruppen angepasst. So war beispielsweise bei ostpreußischen NS-Veranstaltungen kaum von der Rasse die Rede, sondern von der Landschaft, die den Menschen präge – was zum besonderen Regionalbewusstsein der Ostpreußen passte50. Die ökonomischen Forderungen des ostpreußischen Flügels der HitlerPartei erschienen 1932 in Buchform. Unter dem Titel Entschuldung und Neubau der deutschen Wirtschaft51 veröffentlichte die ostpreußische ­­NSDAP ein eigenes fachliches Programm, das sich in weiten Teilen vom offiziellen Parteiprogramm der ­NSDAP52, den 21 Punkten, unterschied, 49  Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reiches, Bde. 291, 315, 372, 382, 434, Berlin 1920–1935. 50  Vgl. Erich Koch, Aufbau im Osten, Breslau 1934. 51  Hermann Bethke/Hans-Bernhard von Grünberg, Entschuldung und Neubau der deutschen Wirtschaft, Berlin 1932. 52  Gottfried Feder, Das Programm der N.S.D.A.P. und seine weltanschaulichen Grundlagen, 116.–125. Auflage, München 1933.

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dafür aber mit sozialpolitischen Forderungen des eher „linken“ Nationalsozialisten Gregor Straßer kompatibel war. Die Thesen waren auf die Landbevölkerung ausgerichtet, aber so formuliert, dass sie sowohl für Großgrundbesitzer als auch Kleinbauern, Landarbeiter, Handwerker und Freiberufler akzeptabel schienen. Unter anderem wurde der Schutz landwirtschaftlicher Betriebe vor Zwangsversteigerungen und die Verstaatlichung von Banken, Aktiengesellschaften und Großkonzernen gefordert. Das Wirtschaftsprogramm stammte allerdings nicht von fanatischen Nationalsozialisten, sondern von einem eher konservativen Beraterkreis des N ­ SDAP-Gauleiters Erich Koch, dem sogenannten Königsberger Kreis. Ihm gehörten viele junge Adlige an, darunter der spätere Widerstandskämpfer Fritz-Dietlof von der Schulenburg und gleich zwei Mitglieder der Familie von der Groeben, die zu den bedeutendsten Adelsgeschlechtern Ostpreußens zählte53. Wie viele Konservative versuchte auch dieser Kreis, den Nationalsozialismus für eigene Ziele zu benutzen. Damit hatte er nach 1933 weniger Erfolg als erhofft, in der Endphase der Weimarer Republik trug er aber nicht wenig zum Erfolg der N ­ SDAP in Ostpreußen bei. Das Engagement honoriger Konservativer für die ­­NSDAP erweckte den Eindruck, dass die für Konservative akzeptablen Forderungen die eigentlichen Absichten der ­NSDAP darstellten und ihr zukünftiges Regierungshandeln ankündigten, während die radikalen Parolen auf den Großveranstaltungen nur Propaganda für die Massen seien54. So konnte der ostpreußischen ­NSDAP der Spagat gelingen, sowohl die größeren Grundbesitzer als auch die im Zuge der Agrarkrise radikalisierten Bauern anzusprechen. An der Spitze der ostpreußischen ­NSDAP stand mit Koch zudem ein charismatischer und politisch wie propagandistisch sehr geschickter Gauleiter. Er gebärdete sich zugleich als radikaler Sozialrevolutionär und als gläubiger Protestant, als Beschützer der Landarbeiter und Bauern ebenso wie als Retter der Gutshöfe, als Sachwalter ganz Ostpreußens gegenüber dem Reich wie gegenüber allen außenpolitischen Bedrohungen55. Er nahm also all die Themen auf, die einst die DNVP angesprochen, für die sie aber keine Lösung gefunden hatte, und im gleichen Atemzug bediente er auch die Themenpalette der Arbeiterparteien. Anders als die DNVP präsentierte sich die N ­ SDAP aber als junge, moderne 53  Ulrich Heinemann, Ein konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli, Berlin 1990, 24, 183. 54  Stephan Malinowski, Vom König zum Führer, Berlin 2003, 516–520, 569–585. 55  Vgl. GSTA Berlin, XX. HA, Rep. 10, Tit. 36, Nr. 28, Nr. 32; Rep. 36, Nr. 5; BA Berlin, BSTU, ZC 10850, Bd. II; Ostdeutscher Beobachter; Preußische Zeitung, passim.



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und radikale Kraft, die dadurch viel eher geeignet schien, die aktuelle Krise zu überwinden, und die sogar für marginalisierte Anhänger der Arbeiterparteien attraktiv wurde. Aus den vielfältigen Propagandathesen der N ­ SDAP konnte jeder das herauslesen, was ihm an der Hitler-Bewegung gefallen wollte. Die Partei sprach damit fast alle Milieus der ostpreußischen Gesellschaft an. Den Anspruch der ­NSDAP, effektiver und zukunftsträchtiger zu sein als alle anderen Parteien, demonstrierte sie auch durch ihr ebenso martialisches wie modernes Auftreten  – Aufmärsche, zu denen ganze SA-Abteilungen mit dem Lastwagen gefahren wurden, waren ab 1929 auch in Ostpreußen Normalität, ebenso Rundfunkansprachen und Filmvorführungen56. Anders als die Honoratiorenparteien und anders als die Arbeiterparteien überzog die ­NSDAP die gesamte Provinz mit einem Netz von Mitgliedern, die nicht nur ständig agitieren, sondern allen Landeskindern als Anlaufstation und Beratungsinstanz dienen sollten. So wurden beispielsweise Arbeitsdienste zur Unterstützung von Landwirten organisiert, um diesen zu zeigen, dass die ­NSDAP tatsächlich ganz praktische Antworten auf ihre Sorgen habe57. Der Partei gelang es ab 1930, die Provinz schrittweise zu erobern. Sie unterwanderte beispielsweise fast alle Agrarorganisationen, vor allem die Landwirtschaftskammer, und übernahm sie schließlich auch58. Die wichtigsten berufsständischen Einrichtungen Ostpreußens waren damit noch vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler in nationalsozialistischer Hand  – und agitierten in deren Sinne. Damit war die N ­ SDAP als bedeutende Kraft in der Landbevölkerung, die die Basis fast aller ostpreußischen Milieus bildete, etabliert. Nicht zu unterschätzen ist auch die propagandistische Wirkung von Wahlkampfreisen prominenter Nationalsozialisten. Hitler, Göring, Goebbels  – sie alle sprachen in Ostpreußen. Und zwar nicht nur in Königsberg, sondern auch in Masurendörfern, in die sich vorher noch nie ein bekanntes Gesicht verirrt hatte. Dem in der Provinz vorherrschenden Gefühl, man sei vom Reich vergessen worden, setzte dies den Eindruck entgegen, die dynamische ­NSDAP sei die einzige politische Kraft, die etwas für Ostpreußen bewege und sich selbst für einsame Masurendörfer

56  Vgl. GSTA Berlin, I. HA, Rep. 84a, Band 13, 14, 15; XX. HA, Rep. 10, Tit. 36, Nr. 28; Nr. 30; Rep. 37, Nr. 21n; Nr. 58; Rep. 240, Nr. 21b, c; Nr. 53; IPN Warschau, SWWW 747, SWWW 760, passim. 57  Pölking, Ostpreußen (Anm. 13), 521. 58  Von der Groeben, Provinz (Anm. 44), 251; Hertz-Eichenrode, Politik (Anm. 5), 88–99.

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interessiere59. Auch damit vermochte die Partei beinahe alle Milieus Ostpreußens anzusprechen. Alles in allem trat die ­NSDAP in Ostpreußen als Volkspartei auf, von der einzig das katholische Milieu des Ermlandes nicht adäquat bedient wurde. Ostpreußen mutierte so von einer konservativen Provinz zu einer Hochburg der Nationalsozialisten. Allerdings hat schon Wolfram Pyta gezeigt, dass dieses Bild im deutschlandweiten Kontext gesehen werden muss. Denn das Wahlverhalten der Ostpreußen entsprach einem in ganz Deutschland zu beobachtenden Muster: In evangelischen Landgemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern erzielten die Nationalsozialisten überall ähnliche Ergebnisse wie in Ostpreußen60. In Preußens östlichster Provinz fehlte allerdings, das hat die Milieubeschreibung oben gezeigt, ein größeres Korrektiv zu dieser politisch-mentalen Formation. Ostpreußen bestand vielmehr fast ausschließlich aus solchen evangelischen Landgemeinden, und die auf diesen Gemeinden basierenden Milieus beheimateten die überwiegende Mehrheit der Provinzbevölkerung. Deshalb war auch der provinzweite Wahlerfolg in Ostpreußen deutlicher als zum Beispiel in Hessen, wo Industriebezirke die teils extrem hohen N ­ SDAP-Wahlergebnisse auf dem flachen Land abmilderten61. In Ostpreußen waren es dagegen nur das Ermland, Königsberg und Elbing, die nicht dem Muster der protestantischen Landgemeinde entsprachen – das war zu wenig, um NS-Rekordergebnisse auf Provinz­ ebene zu verhindern. Die anhaltenden Wahlerfolge von SPD, KPD und Zentrum und die Verluste der ­NSDAP im November 1932 zeigen zudem, dass die politische Landschaft Ostpreußens am Ende der Weimarer Republik zwar von den Braunhemden dominiert wurde, die ­NSDAP aber keineswegs zur einzigen politischen Kraft geworden war. Es waren erst die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und die Zerschlagung der anderen Parteien, die ein auch in Ostpreußen vielfältiges politisches Leben beendeten. Und an beiden Ereignissen hatte die Region keinen entscheidenden Anteil. Hindenburg residierte zwar zum Jahreswechsel 1932/33 meist in Neudeck, die Führung der ostpreußischen ­NSDAP soll er aber verabscheut haben62. Es 59  Hertz-Eichenrode,

Politik (Anm. 5), 65–67. Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933. Die Verschränkung von Milieu und Partei in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996. 61  Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, 67–80, 158–161. 62  BA Berlin, R 43 I/1859, Blatt 174, Hindenburg an Hitler, 12.4.33; Koch, Erich: Interview. Geführt von Mieczysław Seimienski (1986). Transkription von Christian Rohrer; Manuskript im Besitz des Verfassers. 60  Wolfram



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waren auch nicht die konservativen Honoratioren in Deutschlands Nordostprovinz, sondern Berliner Politiker wie Franz von Papen, die Hindenburg zu seiner Entscheidung bewegten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen63. Die Erfolge der N ­ SDAP in Ostpreußen und das sehr konservative Klima der Provinz trugen daher allenfalls marginal zur Ernennung Hitlers bei. Die konservativen „Strategen“ in Berlin, die Hitler zur Macht verhalfen, hatten ein politisches Bild von Deutschland, in dem es möglich schien, gemeinsam mit den Nationalsozialisten zu regieren und diese zu kontrollieren oder gar zu manipulieren. Hochburgen des Konservatismus und des rechten Radikalismus wie Ostpreußen waren einer jener Mosaiksteine, die dieses Deutschlandbild allem Anschein nach bestätigten. Wenn in Ostpreußen ein konservativer Kreis den Gauleiter und damit die NSDAP beeinflussen und vielleicht sogar kontrollieren konnte, diente ­ das zumindest als Indiz dafür, dass Papens Zähmungskonzept auch reichsweit aufgehen mochte. Auf diese Weise trug das Beispiel Ostpreußen wohl schon mit dazu bei, Bedenken wegen einer Kanzlerschaft Hitlers beiseite zu schieben. Es kann aber keine Rede davon sein, dass Ostpreußen weitaus stärker als andere Teile Preußens oder des Deutschen Reiches zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen habe oder gar der Totengräber der ersten deutschen Demokratie gewesen sei. Dazu war die politische Landschaft Ostpreußens zu vielgestaltig, sie stand wie in Weimar-Deutschland insgesamt auch für andere historische Wege offen.

63  Pyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007.

Carl Friedrich Goerdeler in Königsberg: Anmerkungen zu einem deutschnationalen Kommunalpolitiker der Weimarer Republik Von Desiderius Meier, Passau Carl Friedrich Goerdeler (1884–1945) ist vor allem als Protagonist des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bekannt. Mit diesem Aspekt seiner Biographie hat sich die historische Forschung seit den 1950er Jahren intensiv auseinandergesetzt, wobei Goerdelers Verhältnis zum NSStaat teilweise kontrovers diskutiert wurde, weil er sich zunächst mit ihm arrangiert hatte1: Nach Hitlers Machtübernahme blieb er Oberbürgermeister von Leipzig, wirkte wesentlich an der Neuordnung des Kommunalverfassungsrechts mit und war 1934/35 als Reichskommissar für Preisüberwachung tätig, bevor er sich vom „Dritten Reich“ distanzierte, Ende 1936 sein Amt in Leipzig niederlegte und schließlich eine zentrale Rolle im Widerstand spielte, wofür er nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 mit dem Leben bezahlte. Goerdelers früheren Lebensabschnitten ist hingegen recht wenig Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Soweit sie Beachtung gefunden haben, ist dies eher im Sinne einer Vorgeschichte geschehen – sei es im Hinblick auf seine Aktivität im Widerstand, sei es im Hinblick auf die anfängliche Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten. Das gilt für seine beruflichen Anfänge in der Solinger Kommunalpolitik2, vor allem aber für die Weimarer Zeit. Gerhard Ritter hat diese gleichsam positiv gedeutet und eine Hinwendung Goerdelers zur Republik ausgemacht3, während andere die 1  Vgl. Michael Matthiesen, Ein Konservativer auf dem Weg in den Widerstand – Carl Friedrich Goerdeler (1884–1945), in: Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten, hrsg. v. HansChristof Kraus, Berlin 1995, 235–271, hier 235–238. 2  Der etwas anachronistische Untertitel der (im Übrigen sehr aufschlussreichen) Studie von Horst Sassin, Carl Goerdeler. Hitlers Widersacher in der Solinger Kommunalpolitik 1911 bis 1920, Göttingen 2013, scheint bezeichnend für diese Perspektive; siehe auch Ines Reich, Carl Friedrich Goerdeler. Ein Oberbürgermeister gegen den NS-Staat, Köln u. a. 1997, 43–82. 3  Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 31956, 25–64.

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„Kontinuitätslinie“4 von Weimar bis in die frühe NS-Zeit hervorgehoben und eine „zunehmende Distanz zur Weimarer Republik bei gleichzeitig wachsenden autoritären Illusionen“5 konstatiert haben. Besonders die Zeit als Bürgermeister der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg (1920– 1930)  – immerhin die längste Station seiner Laufbahn  – ist von sekundärem Interesse gewesen und nur in Ansätzen untersucht worden. Folglich kommt es darauf an, den Goerdeler der 1920er Jahre einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und ihn in den gleichzeitigen Kontexten zu verorten. Die Ergebnisse mögen zum Verständnis späterer Entwicklungen beitragen; um seinen „Weg in den Widerstand“ kann es aber erst an zweiter Stelle gehen. Es drängen sich zwei Fragen auf, die bislang kaum verfolgt worden sind: Zum einen ist erklärungsbedürftig, wie es Goerdeler gelang, seine beachtliche Karriere so erfolgreich zu gestalten. Zum anderen ist von Interesse, wie Goerdeler, der seit Anfang 1919 in der Deutschnationalen Volkspartei aktiv war, den Spagat zwischen einer ablehnenden Haltung gegenüber dem republikanischen Staat und der konstruktiven Mitarbeit innerhalb der bestehenden Ordnung bewältigte. Dabei sind gerade die Königsberger Jahre, in denen Goerdeler die Grundlage für seinen Aufstieg in die Spitzenpolitik legte, von Bedeutung. Folgt man dem Ansatz der jüngeren Forschung, die Weimarer Geschichte nicht nur von ihrem Ende her zu deuten6, scheint es zudem reizvoll, sich auf diese Zeitspanne zu konzentrieren, weil so der Aufstieg des Nationalsozialismus und das Scheitern der Republik in den Hintergrund rücken. Die geringe Aufmerksamkeit für Goerdelers Königsberger Zeit mag auch mit dem eher schwach entwickelten Forschungsinteresse an der Geschichte des preußischen Ostens zusammenhängen. Hinzu kommt die überaus dürftige Quellenlage. Goerdelers Nachlass ist für die zwanziger Jahre unergiebig7, die Unterlagen der Königsberger Stadtverwaltung sind am Ende des Zweiten Weltkriegs verlorengegangen8. Es scheint zwar 4  Daniela Rüther, Der Widerstand des 20.  Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler, Paderborn u. a. 2000, 320. 5  Reich, Goerdeler (Anm. 2), 83–106, Zitat 82. 6  Vgl. z. B. Björn Hofmeister, Kultur- und Sozialgeschichte der Politik in der Weimarer Republik. 1918 bis 1933, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 445–501. 7  Wichtige Dokumente sind abgedruckt in Sabine Gillmann/Hans Mommsen (Hrsg.), Politische Schriften und Briefe Carl Friedrich Goerdelers. Bd. 1, München 2003. 8  Andreas Kurt Borm, Die Entwicklung Königsbergs i. Pr. zu einer modernen Großstadt in der Weimarer Republik, Diss. Greifswald 2016, 13–15; Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), lxxiv.



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durchaus möglich, auf andere Weise bislang unberücksichtigtes Material zusammenzutragen, doch kann dies hier naturgemäß nur in Ansätzen geschehen, so dass die folgenden Bemerkungen ebenfalls vorläufig bleiben müssen. I. Die Karriere Goerdelers verlief höchst erfolgreich  – und für einen Konservativen recht ungewöhnlich. 1884 in Schneidemühl (Posen) geboren und aufgewachsen im westpreußischen Marienwerder, entstammte Goerdeler einer Beamtenfamilie. Sein Vater Julius Goerdeler war erst Rechtsanwalt, später Amtsrichter und darüber hinaus politisch aktiv: Als Freikonservativer errang er zweimal ein Mandat im preußischen Abgeordnetenhaus (1899–1903 und 1916–1918) und gehörte im November 1918 zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs der D ­ NVP9. Carl Friedrich Goerdeler entschied sich nach Jurastudium und Referendariat für eine Laufbahn in der Kommunalverwaltung, die er im Oktober 1911 in Solingen begann, zunächst als Praktikant und juristischer Hilfsarbeiter, ab April 1913 als Beigeordneter. Diese Tätigkeit wurde allerdings bald unterbrochen: Während des Ersten Weltkriegs diente Goerdeler im Osten, wo er 1918 als Stabsoffizier für die Finanzverwaltung der besetzten Gebiete in Litauen und Weißrussland zuständig war. Nach der Niederlage kehrte er nur kurzzeitig nach Solingen zurück. Stattdessen hielt er sich vorwiegend in West- und Ostpreußen auf, wo er maßgeblich an den  – letztlich nicht verwirklichten, aber durchaus konkreten  – Bestrebungen beteiligt war, vorübergehend einen „Oststaat“ ins Leben zu rufen und militärisch gegen Polen vorzugehen, um die im Versailler Vertrag verfügten Gebietsabtretungen noch abzuwenden10. Im Januar 1920 wurde er in Königsberg zum Bürgermeister gewählt, also zum zweiten Beamten der Stadt und Stellvertreter von Oberbürgermeister Hans Lohmeyer, welcher der DDP angehörte. Hier war Goerdeler über zehn Jahre tätig, bevor er Anfang April 1930 Oberbürgermeister von Leipzig wurde. Die kommunale Laufbahn war im späten Kaiserreich überaus attraktiv und wurde von karrierebewussten Juristen gerne gewählt: Die Einstiegsgehälter waren deutlich besser als im Staatsdienst, der Aufstieg in höhere Ämter ging wesentlich schneller vonstatten. Hinzu kam der große Gestaltungsspielraum, der sich, auch dank der weitreichenden kommu-

9  Neue

Preußische Zeitung (Kreuz-Zeitung) Nr. 599 vom 24.11.1918. Goerdeler (Anm. 2); Hagen Schulze, Der Oststaat-Plan 1919, in: VfZ 18 (1970), 123–163, hier bes. 137 f. u. 154–157. 10  Sassin,

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nalen Selbstverwaltung, besonders den Stadtoberhäuptern bot11. Allerdings war die Kommunalverwaltung keineswegs ein bevorzugt konservatives Betätigungsfeld, sondern seit jeher eine Domäne des Liberalismus12. Das galt für das Kaiserreich, mit gewissen Abstrichen aber auch noch für die Weimarer Zeit, weil zum einen die personelle Kontinuität groß war, zum anderen Kandidaten der Mitte im Allgemeinen bessere Aussichten hatten, gewählt zu werden13. Nur wenige Deutschnationale standen an der Spitze einer Großstadt  – soweit ersichtlich, waren es gerade einmal drei, und wenn man berücksichtigt, dass sich die anderen beiden, Robert Lehr und Richard Rive, erst nach ihrem Amtsantritt in Düsseldorf bzw. Halle der ­DNVP anschlossen14, war Goerdeler erst recht eine Ausnahmeerscheinung. Das geringe Gewicht der Deutschnationalen in den städtischen Verwaltungseliten spiegelte sich in der Programmatik der ­DNVP, in der die Kommunalpolitik bestenfalls am Rande vorkam15. Goerdelers Wirkungsstätten waren keine Bastionen des Konservatismus, können also nicht als Sonderfälle gelten  – auch nicht Königsberg. Zwar war die Provinz Ostpreußen eine deutschnationale Hochburg: Seit den Reichstagswahlen von 1920 (bzw. in Ostpreußen 1921) übertrafen die Stimmanteile den Reichsdurchschnitt um etwa das Doppelte16. Doch in 11  Vgl. Wolfgang Hofmann, Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches von 1890 bis 1933, Stuttgart u. a. 1974, 38–44 u. 51 f. 12  Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, 200–211. 13  Wilfried Rudloff, Die kommunale Selbstverwaltung in der Weimarer Zeit, in: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Bd. 1: Grundlagen und Kommunalverfassung, hrsg. v. Thomas Mann/Günter Püttner, Berlin u. a. 32007, 93–118, hier 95 u. 101 f.; Andreas Wirsching, Zwischen Leistungsexpansion und Finanzkrise. Kommunale Selbstverwaltung in der Weimarer Republik, in: Kommunale Selbstverwaltung. Local Self-Government. Geschichte und Gegenwart im deutsch-britischen Vergleich, hrsg. v. Adolf M. Birke/Magnus Brechtken, München u. a. 1996, 37–63, hier 40 u. 43–45. 14  Robert Först, Robert Lehr als Oberbürgermeister. Ein Kapitel deutscher Kommunalpolitik, Düsseldorf u. a. 1962, 187–194; Ralf Jacob, Dr. Richard Robert Rive  – Oberbürgermeister zwischen Reaktion und Fortschritt, in: Richard Robert Rive. Beiträge zum Wirken des halleschen Oberbürgermeisters 1906–1933, hrsg. v. dems., Halle 2000, 7–16. 15  Siehe z. B. Max Weiß (Hrsg.), Der nationale Wille. Werden und Wirken der Deutschnationalen Volkspartei 1918–1928, Leipzig 1928; in dem umfassend angelegten Sammelband findet sich keine Abhandlung zur Kommunalpolitik, und die verfassungspolitischen Aufsätze behandeln fast ausschließlich das Verhältnis zwischen Reich und Ländern. 16  Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919– 1932, München 1986, 67–75.



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der Hauptstadt herrschten andere Kräfteverhältnisse. Die ­ DNVP war hier nicht nur weit schwächer als im übrigen Ostpreußen, sondern blieb meist deutlich unter dem reichsweiten Ergebnis. Gewiss schnitt sie generell eher im ländlichen Raum gut ab, und die Zahlen in Königsberg waren immerhin etwas besser als in anderen deutschen Großstädten  – fest steht aber, dass die Arbeiterparteien und der Liberalismus dominierten, während die Konservativen eine Nebenrolle spielten. Bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung erzielten sie zwischen 8 und 13 % der Stim­­men17. Die parteipolitische Konstellation in Königsberg war, jedenfalls aus deutschnationaler Sicht, typisch für eine deutsche Großstadt. Wie es Goerdeler angesichts seiner parteipolitisch exponierten Stellung gelang, in der Kommunalpolitik zu reüssieren, ist also erklärungsbedürftig. Schon die Umstände, unter denen er in seine Ämter gelangte, wirken rätselhaft. Bei der Wahl in Königsberg unterstützten ihn alle bürgerlichen Fraktionen von der DDP bis zur ­DNVP, die gemeinsam eine knappe Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung hatten. Bemerkenswert war das nicht nur, weil die Deutschnationalen über lediglich 8 der 102 Mandate verfügten: Bei der Oberbürgermeisterwahl ein halbes Jahr zuvor hatten sie überdies gegen den DDP-Kandidaten Lohmeyer gestimmt  – anders als die Arbeiterparteien, die nun aufgebracht waren, weil sie erneut leer ausgingen18. Die Wahl zum Oberbürgermeister von Leipzig, der mit gut 700.000 Einwohnern fünftgrößten deutschen Stadt, scheint erst recht erstaunlich. Zweifellos war dieses Amt überaus attraktiv, und Goerdeler war bislang nur stellvertretendes Oberhaupt einer mit knapp 300.000 Einwohnern deutlich kleineren Stadt. Unter den anfangs sechs offiziellen Mitbewerbern befanden sich hingegen vier Oberbürgermeister, darunter Hans Neikes aus Saarbrücken, für den sich der bisherige Amtsinhaber Karl Rothe (DVP) stark machte19. Alle aussichtsreichen Konkurrenten schieden je17  Die Arbeiterparteien konnten 1919 knapp 50 %, danach wiederholt deutlich über 40 % der Stimmen auf sich vereinigen, wobei USPD und KPD besonders erfolgreich waren. Die beiden liberalen Parteien waren auffallend stark und lagen bis Ende der 1920er Jahre zusammen zwischen 20 und 30 %: Stefanie SchülerSpringorum, Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen, 1871–1945, Göttingen 1996, 376; vgl. Falter u. a., Wahlen (Anm. 16), 174. 18  Borm, Königsberg (Anm. 8), 53 f.; Reich, Goerdeler (Anm. 2), 96; Fritz Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. Bd. 3: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Untergang Königsbergs, Köln u. a. 21996, 25 u. 33. Die bürgerlichen Parteien verfügten über 52 Stimmen, von denen Goerdeler 51 erhielt; einen Gegenkandidaten gab es nicht. 19  Dresdner Nachrichten Nr. 61 vom 13.3.1930; Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 48 (dort Anm. 1).

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doch im Vorfeld der Wahl aus. Als Kandidat der „vereinigten Bürgerliste“, einem Zusammenschluss von ­ DNVP, DVP, Wirtschaftspartei und ­Zentrum, und durch die Unterstützung der Volksrechtspartei sowie der NSDAP setzte Goerdeler sich schließlich mit einer relativen Mehrheit ­ von 34 zu 30 Stimmen gegen den (zweiten) Bürgermeister von Stettin, Heinrich Pick (DDP), durch, für den sich SPD und DDP aussprachen20. Die Einzelheiten dieses Entscheidungsprozesses in einer parteipolitisch unübersichtlichen Gemengelage bleiben vorläufig im Dunkeln; sie wären eine genauere Untersuchung wert. Der Sprung nach Leipzig kann jedenfalls als wichtigster Karriereschritt Goerdelers angesehen werden, mit dem ihm der Durchbruch in die Spitzenpolitik gelang: Dass Goerdeler, nachdem er sich mit der rigorosen Sanierung des städtischen Haushalts in Leipzig rasch einen Namen gemacht hatte, im Dezember 1931 für das Kabinett Brüning als Reichskommissar für Preisüberwachung tätig wurde sowie anschließend, im Zuge der Regierungskrisen und ­ -­neubildungen des Jahres 1932, fortwährend als Kandidat für Ministerposten, als preußischer Ministerpräsident, wiederholt sogar als Reichskanzler im Gespräch war, ist demgegenüber weniger verwunderlich21. Es liegt nahe, bei der Suche nach den Gründen für Goerdelers Vorankommen zunächst auf seine „Leistungen“22 in Königsberg zu blicken. Die Stadt am Pregel stand vor gravierenden Herausforderungen, wie sie nach dem Weltkrieg für Großstädte typisch waren23. Während die Fi20  Weitere 10 Stimmen entfielen auf einen Kandidaten der KPD, hinzu kam eine Enthaltung: Sächsische Volkszeitung Nr. 80 vom 4.4.1930; siehe auch Leipziger Volkszeitung Nr. 79 vom 3.4.1930. 21  Vgl. Matthiesen, Goerdeler (Anm. 1), 243–250, der die Ernennung zum Reichs­ preiskommissar jedoch als „überraschend“ bezeichnet (ebd., 243). Abgesehen davon, dass Oberbürgermeister, zumal die der größten Städte, in der Weimarer Zeit geradezu qua Amt als ministrabel galten (vgl. Hofmann, Rathaus (Anm. 11), 174– 289), zählte Goerdeler seinem politischen Profil nach zu den Hindenburg genehmen Persönlichkeiten; gerade solche versuchte Brüning seit dem Spätsommer 1931, weitgehend vergeblich, für Positionen in seinem Kabinett zu gewinnen; vgl. dazu Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, 629–642. 22  So die Erklärung bei Ritter, Goerdeler (Anm. 3), 31, die allerdings nicht näher erläutert bzw. belegt wird; ähnlich Gustav Giere, Carl Goerdeler. 1884–1945, in: Männer der deutschen Verwaltung. 23 biographische Essays, Köln u. a. 1963, 349–365, hier 351 f. 23  Zum Folgenden Borm, Königsberg (Anm. 8); Dieter Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919–1930. Untersuchung eines Strukturpro­ blems in der Weimarer Republik, Köln u. a. 1969, 99–157; außerdem Wirsching, Leistungsexpansion (Anm. 13); Ben Lieberman, From Recovery to Catastrophe. Municipal Stabilization and Political Crisis in Weimar Germany, New York u. a. 1998.



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nanzlage, unter anderem bedingt durch hohe Fürsorgelasten, kritisch war, herrschte ein Investitionsstau. Teile der Infrastruktur waren zu erneuern, die Stadt musste infolge des noch immer anhaltenden bzw. nicht bewältigten Bevölkerungswachstums expandieren und Maßnahmen gegen die dramatische Wohnungsnot ergreifen. Hinzu kamen spezifisch ostpreußische Probleme. Die Provinz war schon vor dem Krieg strukturschwach; es gab nur wenige Industriebetriebe, und die Landwirtschaft überwog. Königsberg, die einzige Großstadt, lebte vom Handel. Nun hatten die Grenzziehungen des Versailler Vertrags Ostpreußen zudem vom übrigen Deutschland abgetrennt, die alten Absatzgebiete in Westpreußen und Posen, aber auch in Russland gingen im Wesentlichen verloren, und der Umschlagplatz Königsberg wurde schwer getroffen. Wenngleich die Lage in vielen Bereichen prekär blieb, waren bis Ende der zwanziger Jahre beachtliche Erfolge zu verzeichnen. Der Wohnungsbau machte ebenso Fortschritte wie die Stadterweiterung, die durch die Erschließung neuer Flächen und Eingemeindungen vorangetrieben wurde; der Hafen wurde ausgebaut, ein neuer Bahnhof und sogar ein ziviler Flughafen errichtet. Hinzu kamen neue Schulen und eine Stadthalle für Konzerte. Sparmaßnahmen, eine Rationalisierung der Verwaltung und die Überführung der kommunalen Betriebe in stadteigene, aber privatwirtschaftlichen Prinzipien folgende Unternehmen entlasteten den Haushalt. 1920 wurde die Deutsche Ostmesse ins Leben gerufen, die fortan zweimal jährlich stattfand und die Handelsbeziehungen mit dem übrigen Deutschland einerseits, Sowjetrussland andererseits fördern bzw. wiederbeleben sollte. Mit Werbekampagnen versuchte man zudem, den Tourismus in Ostpreußen zu fördern. Inwieweit Goerdeler auf all diesen Gebieten aktiv war, lässt sich nur ansatzweise rekonstruieren. In erster Linie zählte zu seinen Aufgaben die Verwaltungsorganisation nebst Personalwesen: Bis 1924 reformierte er die Stadtverwaltung, indem er die Zuständigkeiten neu verteilte, die Zahl der Dienststellen stark verminderte und dadurch eine erhebliche Reduzierung des Personals ermöglichte24. Selbstverständlich war er auch in andere Geschäftsbereiche involviert, wofür es zumindest verstreute Belege gibt25. Wie bedeutsam jedoch seine „Leistungen“ waren, wäre wohl selbst dann schwer zu beurteilen, wenn die Quellenlage besser wäre. Der Personalabbau in der öffentlichen Verwaltung etwa fand auch an24  Carl Friedrich Goerdeler, Organisation der Verwaltung, in: Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege, Königsberg 1924, 18–48; vgl. Matthiesen, Goerdeler (Anm. 1), 240. 25  Zum Beispiel befasste er sich mit der Förderung des Tourismus und des Flugverkehrs: Borm, Königsberg (Anm. 8), 253 f., 262, 266 f., 326 f. u. 335.

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dernorts statt, in den Kommunen ebenso wie auf Reichs- und Landes­ ebene26. Diese Frage scheint aber letztlich nicht entscheidend: Wichtig war vor allem, dass es Goerdeler gelang, über Königsberg hinaus auf sich aufmerksam zu machen. In der Regel wurden Erfolge den Stadtoberhäuptern zugutegehalten bzw. von diesen für sich reklamiert. Symptomatisch ist der „Rückblick auf meine Amtszeit“, den Hans Lohmeyer dreißig Jahre später in dem Tenor verfasste, dass fast alle wichtigen Projekte und Entscheidungen im Wesentlichen sein Verdienst seien. Goerdeler wurde im Zusammenhang mit den Eingemeindungen sowie als Personaldezernent, der mit „großem Erfolg“ die Zahl der städtischen Beamten und Angestellten reduziert habe, freundlich, aber nur kurz erwähnt27. Für einen zweiten Bürgermeister war es nicht leicht, die Früchte der eigenen Arbeit sichtbar zu machen. Allerdings boten sich Goerdeler andere Möglichkeiten, seine Bekanntheit jenseits der Grenzen von Ostpreußen zu fördern. Erstens oblag ihm die Stellvertretung des Oberbürgermeisters, wenn dieser, was offenbar häufig vorkam, abwesend war. So konnte er bei offiziellen Anlässen als Repräsentant der Stadt, aber auch der Provinz in Erscheinung treten, etwa zur Eröffnung der Ostmesse28. Über derartige Veranstaltungen wurde reichsweit in der Presse berichtet – zumindest in Form einer Notiz29, mitunter auch durch längere Meldungen, in denen Goerdelers Ansprachen auszugsweise zum Abdruck gelangten30. Zweitens engagierte Goerdeler sich intensiv in den kommunalen Spitzenverbänden. Den Vorständen gehörten vorwiegend Oberbürgermeister an, doch in den Ausschüssen gab es für andere leitende Beamte ebenfalls Gelegenheit, Präsenz zu zeigen. Ab 1921 war Goerdeler Mitglied des Personalausschusses des Deutschen Städtetags, 1927 wurde er Mitglied des Verkehrsausschusses. Außerdem war er ab 1921 stellvertretender Vorsit26  Vgl. Andreas Kunz, Civil Servants and the Politics of Inflation in Germany, 1914–1924, Berlin u. a. 1986, 29–58. 27  Hans Lohmeyer, Rückblick auf meine Amtszeit, in: Jahrbuch der AlbertusUniversität zu Königsberg/Pr. 7 (1957), 250–265, hier bes. 256 f. 28  Zum Beispiel im August 1925: Borm, Königsberg (Anm. 8), 222 f.; zu Lohmeyers häufiger Abwesenheit Goerdeler an Ernst Täger, 16.6.1921 u. 30.8.1925, GStA PK I. HA Rep. 94 Nr. 1362. 29  Vossische Zeitung Nr. 394 vom 21.8.1925. 30  Karlsruher Tagblatt Nr. 377 vom 18.8.1925; in dieser stichprobenartig herangezogenen, eher nach rechts tendierenden Zeitung lassen sich weitere Berichte über Ansprachen Goerdelers als Repräsentant der Stadt nachweisen, z. B. Karlsruher Tagblatt Nr. 317 vom 12.7.1925 (Hauptversammlung des Vereins Deutscher Zeitungsverleger), Nr. 448 vom 28.9.1925 (Tagung der deutschen Landwirtschaftsgesellschaft) u. Nr. 267 vom 18.8.1926 (Tagung des deutschen Genossenschaftsverbandes).



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zender des Reichsarbeitgeberverbandes deutscher Gemeinden und Kommunalverbände, dem die Aushandlung der Tarifverträge für die Gemeindearbeiter oblag31. Beim preußischen Städtetag war er unter anderem an der Ausarbeitung der neuen preußischen Städteordnung beteiligt32. Es liegt auf der Hand, dass sich über diese Gremien vielfache Berührungspunkte mit Kommunalpolitikern aus ganz Deutschland ergaben und somit die Möglichkeit bestand, Netzwerke aufzubauen, die bei einer Bewerbung nützlich sein konnten. Demselben Zweck diente seine Teilnahme an Tagungen wie zum Beispiel einer Konferenz der Friedrich-­ListGesellschaft im Oktober 1929, bei der namhafte Politiker und Ökonomen zugegen waren und über die drängenden Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik debattierten33. Goerdeler entfaltete drittens eine rege publizistische Tätigkeit. In zahlreichen sorgfältig ausgearbeiteten Aufsätzen befasste er sich vornehmlich mit seinem Spezialgebiet, den Personalfragen in der Kommunalverwaltung, etwa mit der Ausbildung und der Besoldung von Beamten und Angestellten. Ihm war sichtlich an der Verbreitung seiner Texte gelegen34, die vorzugsweise in Zeitschriften und Sammelbänden der kommunalen Fachliteratur erschienen  – so im „Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften“, in der „Zeitschrift für Kommunalwirtschaft“, den „Mitteilungen des Deutschen Städtetages“ und in einem programmatisch und umfassend angelegten Band über die „Zukunftsaufgaben der Deutschen Städte“, der viele Beiträge von prominenten Politikern enthielt35. Diese 31  Reich, Goerdeler (Anm. 2), 97 (dort Anm. 65); Hermann Beckstein, Städtische Interessenpolitik. Organisation und Politik der Städtetage in Bayern, Preußen und im Deutschen Reich 1896–1923, Düsseldorf 1991, 397; vgl. den Rückblick Goerdelers auf seine Mitarbeit in der Reichspolitik zwischen 1931 und 1935, 9.7.1937, abgedruckt in Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 243 f. 32  Leitsätze zum Entwurf der Preußischen Städteordnung, Mitteilungen des Deutschen Städtetages Nr. 10 vom 15.5.1922, Sp. 164–166; Bericht über den neunten Preußischen Städtetag in Goslar am 26./27.5.1922, Mitteilungen des Deutschen Städtetages Nr. 11 vom 1.6.1922, Sp. 200–205. 33  Hier war Goerdeler schließlich nicht anwesend, reichte aber einen schriftlichen Diskussionsbeitrag ein, in dem er für die Abschaffung der Gewerbesteuer eintrat: Gerhard Colm/Hans Neisser (Hrsg.), Kapitalbildung und Steuersystem. Verhandlungen und Gutachten der Konferenz von Eilsen. Erster Teil, Berlin 1930, 478–480. 34  So publizierte er manches, was zunächst im lokalen Königsberger Rahmen erschien, anschließend an anderer Stelle: Sein Tätigkeitsbericht über die Organisation der Verwaltung der Stadt Königsberg (vgl. Anm. 24) erschien auch in der Zeitschrift für Kommunalwirtschaft Nr. 18 vom 25.9.1925, Sp.  1046–1061; siehe außerdem Anm. 68. 35  Carl Friedrich Goerdeler, Besoldung und Besoldungspolitik, in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften. Ergänzungsband A–G, hrsg. v. Josef Brix u. a.,

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Publikationen wurden zwar nicht von der breiten Öffentlichkeit rezipiert, doch in Fachkreisen stießen sie auf Aufmerksamkeit36. Obwohl Goerdeler im Schatten von Lohmeyer stand, gelang es ihm also, sich als Fachmann zu profilieren und für höhere Ämter zu empfehlen. Darüber hinaus ist zu überlegen, welche Bedeutung der parteipolitische Aspekt hatte. Wir wissen sehr wenig darüber, inwieweit er in der ­DNVP über Verbindungen verfügte, die sich gegebenenfalls, etwa bei der Kandidatur in Leipzig, zu seinen Gunsten mobilisieren ließen. Doch unabhängig davon ist zu bedenken, dass seine politische Ausrichtung, so sehr er damit eine Außenseiterposition in den kommunalen Verwaltungseliten einnahm, zu einem veritablen Vorteil werden konnte: Sobald sich, wie nach der Kommunalwahl vom November 1929 in Leipzig37, Mehrheitsverhältnisse ergaben, in denen ein rechtsstehender Kandidat akzeptabel oder gar erwünscht schien, musste Goerdeler von dem Umstand profitieren, dass erfahrene Kommunalbeamte mit ähnlichem Profil rar waren. II. Die Beschäftigung mit Goerdeler in der Weimarer Zeit kann selbstverständlich nicht an der Frage vorbeigehen, wie sich seine Haltung gegenüber der Republik entwickelte. Mit dem Dilemma der D ­ NVP, einerseits in grundsätzlicher Opposition zum Weimarer Staat zu stehen, andererseits im Rahmen der bestehenden Ordnung mitarbeiten zu müssen, wenn sie Einfluss auf die politischen Entscheidungen gewinnen und die Interessen der Wähler wirksam vertreten wollte, hat sich die Forschung wiederholt auseinandergesetzt. Das betrifft freilich vor allem die Reichsund die Länderebene38, während die Kommunalpolitik kaum untersucht Jena 1927, 186–218; Carl Friedrich Goerdeler, Ausbildung und Fortbildung der Kommunalbeamten des mittleren Dienstes, in: Mitteilungen des Deutschen Städtetages Nr. 3 vom 25.3.1929, Sp. 305–314; Carl Friedrich Goerdeler, Städtische Beamte und Angestellte, in: Die Zukunftsaufgaben der deutschen Städte, hrsg. v. Hans Luther/Paul Mitzlaff/Erwin Stein, Berlin 1922, 102–120. 36  Siehe z.  B. die Rezension des (liberalen) früheren Oberbürgermeisters von Karlsruhe, Karl Siegrist, zu dem Sammelband „Die Zukunftsaufgaben der deutschen Städte“: Karlsruher Tagblatt Nr. 110 vom 22.4.1923. 37  Zur kommunalpolitischen Lage in Leipzig nach den Stadtverordnetenwahlen von 1929, die dem bürgerlichen Lager Zugewinne brachten, Michael Schäfer, Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig 1890 bis 1930, Göttingen 2003, 266 f. 38  Zum Beispiel Maik Ohnezeit, Zwischen „schärfster Opposition“ und dem „Willen zur Macht“. Die Deutschnationale Volkspartei (­DNVP) in der Weimarer Republik 1918–1928, Düsseldorf 2011; Christian F. Trippe, Konservative Verfassungspolitik 1918–1923. Die D ­ NVP als Opposition in Reich und Ländern, Düssel-



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worden ist39. Mit Blick auf die Deutschnationalen im Reichstag und die wiederholten Regierungsbeteiligungen Mitte der zwanziger Jahre ist Thomas Mergel zu dem Schluss gelangt, dass zwischenzeitlich eine „stille Republikanisierung“ der ­ DNVP vonstattengegangen und diese auf dem Weg zu einer systemloyalen Partei, analog zum britischen „ToryKonservatismus“, gewesen sei40. Diese These ist zu Recht auf Widerspruch gestoßen, unter anderem, weil die Ablehnung der Republik nicht nur bei der radikalen Hugenberg-Richtung, sondern auch bei den gouvernementalen Kräften virulent blieb41. Gleichwohl hat Mergels Befund Gewicht, dass gerade die Berufspolitiker, die im tagespolitischen Geschäft vor der Notwendigkeit standen, pragmatisch zu handeln und Kompromisse einzugehen, sich der integrativen Dynamik, die aus der parteiübergreifenden Zusammenarbeit resultierte, nur schwer entziehen konnten. Es bleibt die Frage, wie weit diese Dynamik reichte. Sie ist auch bei Goerdeler zu stellen, der sich nicht nur als Kommunalbeamter in Königsberg mit anderen politischen Standpunkten auseinanderzusetzen und zu arrangieren hatte, sondern überdies in den kommunalen Spitzenverbänden mit Vertretern anderer Parteien zusammenarbeitete. Dieser Umstand dürfte dazu beigetragen haben, dass er mitunter als gemäßigter Deutschnationaler beschrieben worden ist. Doch so wenig über Goerdelers Engagement in der ­DNVP bekannt ist42, deuten die vorhandenen Informationen erst einmal nicht darauf hin, dass seine Zugehörigkeit zur dorf 1995; Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000. 39  Gisbert Jörg Gemein, Die D ­ NVP in Düsseldorf 1918–1933, Diss. Köln 1969, untersucht die Düsseldorfer Ortsgruppe, wobei die Kommunalpolitik nur am Rande behandelt wird; ähnliches gilt für verschiedene Studien, die kleinere Städte in den Blick nehmen und sich dabei auf konservative Milieus konzentrieren: z. B. Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990, Düsseldorf 2000. 40  Thomas Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der ­DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928–1932, in: HZ 276 (2007), 323–368; Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2005, 323–331. 41  Zur Kritik an Mergel siehe Manfred Kittel, „Steigbügelhalter“ Hitlers oder „stille Republikaner“? Die Deutschnationalen in neuerer politikgeschichtlicher und kulturalistischer Perspektive, in: Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege, hrsg. v. Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas, München 2007, 201–235; Daniela Gasteiger, Kuno von Westarp (1864–1945). Parlamentarismus, Monarchismus und Herrschaftsutopien im deutschen Konservatismus, Berlin u. a. 2018, 477–484. 42  Vgl. zu der hier besonders schlechten Quellenlage Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 176.

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­ NVP nur eine „Äußerlichkeit“ war und er sich von ihr zunehmend entD fernte, der Parteiaustritt im Dezember 1931, der durch seine neue Tätigkeit für das Kabinett Brüning erforderlich wurde, sich also lange abgezeichnet hatte43. Goerdeler wirkte in führenden Parteigremien mit  – 1920 bis 1930 gehörte er dem Vorstand des ostpreußischen Landesverbands an, 1922 bis 1927 auch dem Reichsvorstand  – und blieb in der D ­ NVP, als sie auf die radikale Linie Alfred Hugenbergs einschwenkte und große Teile der gouvernementalen Kräfte ihr 1929/30 den Rücken kehrten. Darüber hinaus gibt es konkrete Belege dafür, dass Goerdeler während der 1920er Jahre in deutlicher Distanz zur Republik verharrte. Nachdem er 1919 die widerstandslose Hinnahme der Grenzziehungen im Osten der Ängstlichkeit und Unentschlossenheit der republikanischen Politiker angelastet hatte44, betrachtete er die deutsche Außenpolitik auch in den folgenden Jahren als verfehlt: Wie er 1921, in einem der wenigen überlieferten Privatbriefe, einem Kriegskameraden schrieb, hielt er die deutsche Haltung im Hinblick auf das Abstimmungsgebiet Oberschlesien für „ebenso kindisch wie würdelos“. „Schnelles Zugreifen“, so behauptete er in Verkennung der außenpolitischen Lage, „hätte dort in 8 Tagen zu unseren Gunsten vollendete Tatsachen geschaffen“.45 Als es Mitte der zwanziger Jahre in der Königsberger Stadtverwaltung zu Unregelmäßigkeiten kam, die seiner Meinung nach vom preußischen Innenministerium nicht konsequent

43  So Ritter, Goerdeler (Anm. 3), 38; ähnlich Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 177–179; anders Reich, Goerdeler (Anm. 2), 92 f. Im Übrigen scheint fraglich, ob der Parteiaustritt, der nicht mehr in den hier untersuchten Zeitraum fällt, auch inhaltlich einen „Bruch mit seinen Parteifreunden“ bedeutete (Ritter, Goerdeler (Anm. 3), 50). Die Mitarbeit in der Regierung Brüning lässt sich als Bekenntnis gegen die kompromisslose Opposition der Hugenberg-­DNVP verstehen. Allerdings deutet Goerdelers Austrittserklärung darauf hin, dass er die Partei nur widerwillig verließ. Anschließend weigerte er sich, öffentlich für die Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten einzutreten, und er wurde 1932 wiederholt als Kandidat für den D ­ NVP-Vorsitz gehandelt – woraufhin er Hugenberg seine Loyalität zum Ausdruck brachte. Es ist denkbar, dass Goerdelers Verhalten mit taktischen Erwägungen zu erklären ist, eine nachhaltige Distanzierung von der Partei und dem Kurs Hugenbergs lässt sich daran aber schwerlich ablesen: Pressenotiz vom 13.12.1931, abgedruckt in Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 212 f.; Larry Eugene Jones, Hindenburg and the Conservative Dilemma in the 1932 Presidential Elections, in: German Studies Review 20 (1997), 235–259, hier 238; Matthiesen, Goerdeler (Anm. 1), 243–250. 44  Vgl. Reich, Goerdeler (Anm. 2), 83–91. 45  Goerdeler an Ernst Täger, 16.6.1921, GStA PK I. HA Rep. 94 Nr. 1362; siehe auch Goerdeler an Täger, 19.12.1920, ebd. Aus dem Zeitraum 1920–1928 sind fünf Schreiben Goerdelers an Täger und dessen Frau überliefert, die bislang keine Beachtung gefunden haben.



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verfolgt wurden, beklagte er den „Tiefstand der Moral in unseren höchsten Staatsbehörden“46. Besondere Beachtung verdienen Goerdelers verfassungspolitische Konzeptionen aus der Spätphase der Republik, die er zum Teil bereits in Königsberg entwarf47. In einem Vortragsmanuskript vom Dezember 1929, das für eine Versammlung der D ­ NVP – vermutlich in Königsberg – konzipiert war48, in etwas milderer Form auch in einer „Denkschrift zur Wirtschafts- und Finanzpolitik“, die er drei Monate früher anfertigte49, forderte er grundlegende Verfassungsänderungen, welche die parlamentarische Demokratie sprengen, den „Absolutismus der Parteien und des Parlaments“50 beenden sollten. Goerdelers Ausgangspunkt war die prekäre ökonomische Lage. Er hielt es für erforderlich, durch einschneidende Sparmaßnahmen eine Sanierung der öffentlichen Haushalte einzuleiten, zur Entlastung der Wirtschaft die direkten Steuern zu senken und im Gegenzug den Konsum zu belasten, zudem Löhne und Sozialleistungen zu kürzen. All das sei mit der gegenwärtigen Verfassung nicht zu machen, so seine Diagnose, die zur Generalabrechnung mit der Weimarer Politik seit 1919 geriet: Diese sei nicht dem „steilen, gefährlichen und mühevollen Kletterweg des Führers“ gefolgt, sondern meist dem „Trampelpfad der Masse“, bisweilen auch einem – ebenfalls unzureichenden – „Mittelweg“, der lediglich eine „Atempause“ bedeutet habe51. „Einsichtige Führeraugen“ hätten „bereits im Jahre 1919“ die Missstände erkannt52, die Goerdeler auf praktisch allen Gebieten der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch im Bildungswesen, in der Außenpolitik und in der öffentlichen Verwaltung ausmachte. Doch solange Parteien, Fraktionen und damit die „Masseninstinkte“53 die Regierung kontrollierten, sei jede unpopuläre Reform unmöglich.

46  Goerdeler

an Täger, 20.3.1927, GStA PK I. HA Rep. 94 Nr. 1362. sind bislang recht oberflächlich behandelt worden: Ritter, Goerdeler (Anm. 3), 40 f., 48–50; Reich, Goerdeler, 101–103 (Anm. 2); Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 176 f., 262–264. 48  Carl Friedrich Goerdeler, Mehr Macht dem Reichspräsidenten! Vortragsmanuskript vom Dezember 1929, abgedruckt in Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 200–212. 49  Carl Friedrich Goerdeler, Denkschrift zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, abgedruckt in Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 271–313. 50  Ebd., 311. 51  Goerdeler, Macht (Anm. 48), 201. 52  Ebd., 206. 53  Ebd., 204. 47  Diese

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Folglich gelte es, die Gesetzgebung ohne bzw. gegen den Reichstag durchzuführen. In Erwägung zog der Deutschnationale ein Ermächtigungsgesetz, wie es 1923/24 unter den Regierungen Stresemann und Marx zum Einsatz gekommen war, ebenso die extensive Anwendung der präsidialen Verordnungsvollmachten gemäß Artikel 48 der Weimarer Verfassung, gepaart mit der in Artikel 25 verankerten Befugnis zur Auflösung des Reichstags – also einen Weg, wie er im folgenden Jahr vom Kabinett Brüning beschritten werden sollte. Eine nachhaltige Besserung der innenpolitischen Schieflage hielt Goerdeler aber nur für möglich, wenn Artikel  54, nach dem Reichskanzler und -minister des Vertrauens des Reichstags bedurften, aufgehoben werde. Stattdessen sollte die Regierung allein vom Reichspräsidenten abhängig sein. Eine analoge Änderung sah er für die preußische Verfassung vor, wobei der Reichspräsident zugleich das Amt des preußischen Staatspräsidenten versehen sollte. Das Gewicht des Reichstags wollte Goerdeler außerdem durch eine zweite Kammer einschränken, das Wahlalter auf 25 Jahre anheben. Wenngleich in den Ausführungen manches vage blieb, wird deutlich, dass die Bismarcksche Reichsverfassung als Vorbild fungierte, wobei dem Parlament offenbar eine schwächere Stellung als im Kaiserreich zugedacht war. Zu berücksichtigen ist, dass zu diesem Zeitpunkt der Ruf nach einem Kurswechsel in der Finanz- und Wirtschaftspolitik weit verbreitet, teils bis in die Reihen der Sozialdemokratie anzutreffen war und allgemein eine Krise des Parlamentarismus diagnostiziert wurde54. Die Schlussfolgerungen Goerdelers waren aber radikal  – auch im Hinblick auf die ­DNVP. Seine Partei kritisierte er für die Beteiligung an den Reichsregierungen der Jahre 1925 und 1927/28, weil sie damit nur den „Mittelweg“ beschritten habe: Mehr sei unter den Bedingungen der gegenwärtigen Verfassung eben nicht möglich; es sei „systematisch ganz gleichgültig, welche Partei gerade am Ruder ist“.55 Deshalb müsse die ­ DNVP sich fortan auf das „eine große und bestimmende Ziel“ der Verfassungsänderung festlegen, statt nur Verbesserungen auf „all den vielen Einzelgebieten unserer Innenpolitik“ anzustreben. Um dieses Ziel zu erreichen, dürfe man insbesondere „keine Sünde wider den heiligen Geist tun, d. h. nicht in die Regierung mehr gehen ohne den festen Willen, in ihr an diese Lösung heranzutreten und sie auf Biegen und Brechen zu erzwingen“.56 54  Vgl. Ilse Maurer, Reichsfinanzen und Große Koalition. Zur Geschichte des Reichskabinetts Müller (1928–1930), Frankfurt a. M. 1973; Werner Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: HZ 178 (1954), 47–83; KarlDietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Pro­ blem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 51971, 34–43. 55  Goerdeler, Macht (Anm. 48), 204. 56  Ebd., 211.



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Goerdeler erteilte dem ­DNVP-Kurs bis 1928 und interessenpolitischen Erwägungen, wie sie für weite Teile der Reichstagsfraktion bestimmend waren, also eine Absage, und plädierte stattdessen für Fundamental­ opposition – zu einem Zeitpunkt, als eine solche Festlegung parteiintern noch hochumstritten war: Dem verfassungspolitischen Ziel Goerdelers konnten auch die gouvernementalen Kräfte in der D ­ NVP zustimmen, nicht jedoch der Forderung, eine erneute Regierungsbeteiligung an die Bedingung des Systemwechsels zu knüpfen, mit der er sich auf die Seite Hugenbergs schlug57. Die Einschätzung der beiden Manuskripte bleibt allerdings schwierig. Goerdeler publizierte sie nicht, und es ist überhaupt unklar, welchem Zweck sie dienten  – ob und in welchem Rahmen er die Parteirede tatsächlich hielt, und wer der Adressat seiner Denkschrift war58. Hinzu kommt, dass diese Überlegungen zu anderen Äußerungen Goerdelers, die teilweise aus derselben Zeit stammen, in deutlichem Widerspruch stehen. Es lag in der Natur der Sache, dass Goerdeler in seinen kommunalpolitischen Funktionen keine Systemopposition betreiben konnte. Darüber hinaus war parteipolitische Zurückhaltung eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche kommunale Laufbahn. Zwar waren die Städte längst kein Hort „unpolitischer“ Politik mehr; bereits im späten Kaiserreich hatten sich die Parteien zunehmend bemerkbar gemacht. Überparteilichkeit und Gemeinwohlorientierung spielten aber als kommunal­ politisches Ideal, an dem nicht zuletzt die Stadtoberhäupter gemessen wurden, noch immer eine wichtige Rolle59. Schon in der Industriestadt Solingen war Goerdeler mit diesem Anspruch konfrontiert. Wie später in Königsberg hatte er es dort einerseits mit einem liberalen Oberbürgermeister als Vorgesetztem, andererseits mit einer starken Arbeiterbewegung zu tun, und in beiden Fällen ergab sich eine produktive Zusammenarbeit60. Nach seiner umstrittenen Wahl in Königsberg konstatierte Goerdeler, dass er „in politischen Dingen“ seine „bestimmten Anschauungen“ habe, doch werde er „nach der vornehmsten Überlieferung des alten preußischen Beamtentums […] keiner Partei, sondern nur dem Allgemeinwohl dienen“ und in „klarer Sachlichkeit“ mit Lohmeyer und allen Stadtver-

57  Eine „Mittelstellung“ (so Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 177) nahm Goerdeler hier folglich nicht ein; vgl. Gasteiger, Westarp (Anm. 41), 322–358. 58  Vgl. Gillmann u. a., Schriften (Anm. 7), 264. 59  Vgl. Rudloff, Selbstverwaltung (Anm. 13), 99–101. 60  Sassin, Goerdeler (Anm. 2), bes. 59–77.

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ordneten zusammenarbeiten61. Allem Anschein nach setzte Goerdeler dieses Versprechen in die Tat um  – und empfand seine Tätigkeit schon bald als „erfreulich“, wie er privatim berichtete: Königsberg entwickle sich nach den Missständen der Revolution zur „Ordnungsstadt“, es gebe „nun doch wieder“ eine pflichtbewusste Beamtenschaft. Es sei gelungen, das Personal und damit den „Wasserkopf-Apparat“ zu reduzieren, für den er im Übrigen ausdrücklich „nicht nur die Revolution“ verantwortlich machte, sondern auch Fehlentwicklungen der Kriegs- und sogar der Vorkriegszeit62. In den folgenden Jahren kam es zwar zu schweren Konflikten zwischen dem Magistrat und den Stadtverordneten, ­namentlich über den städtischen Haushalt, allerdings spielte Goerdeler offenbar keine auffällige Rolle63. Die politische Zurückhaltung, die Goerdeler in seinem Beruf übte, schlug sich auch in seinen Publikationen nieder. Er übte manche Kritik an der Weimarer Verfassung bzw. an der Verfassungswirklichkeit, soweit die Kommunalpolitik und sein Geschäftsbereich betroffen waren. Dabei ging es in erster Linie um die Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung. Er beklagte, dass die Städte und Gemeinden im Zuge der Erzbergerschen Finanzreform ihre Steuerhoheit verloren hatten und in Personalfragen, etwa bei der Besoldung und der Ausbildung der Beamten, an zahlreiche neue Vorgaben gebunden waren64. Allerdings blieb ­Goerdeler in der Wortwahl moderat, in die Kritik mischten sich positive Diagnosen und vor allem handelte es sich nicht um eine ausschließlich konservative oder gar antirepublikanische Position. Ein Übermaß an Zentralisierung beanstandeten Politiker aus unterschiedlichen Lagern; die Wiederherstellung der kommunalen Selbstverwaltung war eine gerade unter Kommunalpolitikern vorherrschende Forderung, die zum Beispiel von Hans Lohmeyer genauso vehement vertreten wurde65.

61  Königsberger Allgemeine Zeitung vom 12.2.1920, zitiert nach Reich, Goerdeler (Anm. 2), 96; siehe außerdem Borm, Königsberg (Anm. 8), 54. 62  Goerdeler an Ernst Täger, 19.12.1920 u. 16.6.1921, GStA PK I.  HA Rep.  94 Nr. 1362. 63  Siehe die Unterlagen des preußischen Innenministeriums in GStA PK I. HA Rep. 77 Tit. 2560 Nr. 20, Bd. 9; vgl. Reich, Goerdeler (Anm. 2), 97. 64  Siehe dazu die in Anm. 35 zitierten Abhandlungen Goerdelers. 65  Hans Lohmeyer, Zentralismus oder Selbstverwaltung. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Verwaltungsreform, Berlin 1928; vgl. Ritter, Goerdeler (Anm. 3), 39–41 sowie allgemein Kurt G. A. Jeserich, Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, hrsg. v. dems./Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh, Stuttgart 1985, 487–524, u. die Beiträge in Karl-Heinrich Hansmeyer (Hrsg.), Kommunale Finanzpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart u. a. 1973.



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Wenn Goerdeler zu politischen Entscheidungen auf Landes- oder Reichsebene Stellung nahm, äußerte er sich ebenfalls maßvoll. Wiederholt forderte er für Königsberg und Ostpreußen besondere Subventionen ein, die er angesichts der geographisch exponierten Lage für gerechtfertigt hielt. Er ging jedoch weit weniger rigoros vor als andere Vertreter Ostpreußens, nicht nur, aber auch aus den Reihen der ­DNVP: Die Debatten um Finanzhilfen, die fortwährend auf der Tagesordnung standen, wurden von ostpreußischer Seite nicht selten mit Maximalforderungen geführt, so dass die Summen, welche die Provinz erhielt, fast zwangsläufig hinter den Erwartungen zurückblieben und Unmut hervorriefen66. In einer Rede zur Lage Ostpreußens, die Goerdeler 1928 vor einem Interessenverband in Karlsruhe hielt, verwies er auf die durch den Versailler Vertrag verursachten wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie auf „nationale“ Gesichtspunkte, weil er die Provinz von Polen bedroht glaubte, und listete eine Reihe von Maßnahmen auf, die er für notwendig erachtete: Ausgleichszahlungen für die hohen Frachtkosten von Ostpreußen ins Reich, Mittel zur Zinsverbilligung, höhere Zuschüsse für den Wohnungsbau und für kulturelle Zwecke. Zugleich konstatierte er: „Ich habe zu oft verantwortlich über diese Fragen verhandeln müssen, um nicht die Begrenztheit der Mittel des Reichs und des Staates [Preußen, D. M.] zu kennen. Alles übrige muß dann im wesentlichen in Ostpreußen aus eigener Kraft kommen.“67 Goerdeler formulierte nicht nur moderate Forderungen, sondern würdigte auch die erhaltenen Zuwendungen. Als er sich Ende 1929 in einem Zeitungsartikel mit der Frage befasste, was „Reich und Staat für Königsberg geleistet“ hatten, erläuterte er, für welche Projekte Mittel geflossen waren: für den Neubau des Hafens und die Vertiefung des Pregel, die Gründung und Durchführung der Ostmesse, den Wohnungsbau und das Schulwesen. Zwar machte er Defizite aus, für manche Zwecke, etwa das Schauspielhaus, habe man kaum etwas erhalten. Doch wiederum wies er auf die begrenzten Möglichkeiten hin und stellte hinsichtlich des Hafenausbaus fest: „Der Wert dieser Leistungen ist, da sie im Wesentlichen in der Inflationszeit gewährt wurden, schwer zu beziffern. Es kommt auch auf Zahlen nicht an, wichtig erscheint mit zweierlei: Einmal, daß die Stadt ohne diese Hilfe niemals hätte daran denken können, den Neubau ihres Hafens in Angriff zu nehmen, geschweige denn durchzuführen; 66  Vgl.

Hertz-Eichenrode, Politik (Anm. 23), 157–337. Friedrich Goerdeler, Ostpreußens Lage nach der Trennung vom Reich, in: Die Not der deutschen Grenzgebiete. Reden, gehalten auf dem 48. Verbandstag des Verbandes kath. kaufm. Vereinigungen Deutschlands, Essen 1928, 29–40, Zitat 39. 67  Carl

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zweitens aber die Tatsache, daß die Jahre 1919 bis 1923 zwar nicht die schwersten der Nachkriegszeit waren – ich fürchte, es stehen uns schwerere bevor –, aber daß sie doch von so vielen erschütternden politischen und wirtschaftlichen Ereignissen durchzogen waren, daß hier jede Leistung des Reiches und Staates über den eigenen Aufgabenbereich hinaus mit besonderer Dankbarkeit bewertet werden muß.“68 Es gehörte zum Standardrepertoire derjenigen, welche die Republik verteidigten, auf die begrenzten Spielräume der Politik zu verweisen und das seit 1918 Erreichte hervorzuheben. Diese Ausführungen hätten ebenso gut aus der Feder eines Sozialdemokraten oder eines DDP-Politikers stammen können, und es ist bezeichnend, dass der Artikel in der „Königsberger Hartungschen Zeitung“ erschien, die der DDP nahestand. Mit der Rücksichtnahme auf sein Amt lässt sich Goerdelers Haltung in diesem Fall kaum erklären. Vielmehr hätte er gerade als Anwalt Königsberger Interessen ohne weiteres eine schärfere Gangart wählen können. Die Stellungnahme ist also bemerkenswert, zumal sie zu einem Zeitpunkt erfolgte, als er die Weimarer Demokratie an anderer Stelle scharf attackierte. *** Die Widersprüche in Goerdelers Äußerungen zum Weimarer Staat lassen sich nicht ohne weiteres auflösen. In ihnen spiegelt sich das deutschnationale Dilemma zwischen politischer Praxis und Systemopposition, doch hinsichtlich Goerdelers Haltung sind verschiedene Interpretationen denkbar. Gab er sich in der Öffentlichkeit moderat, um dem Ideal des „unpolitischen“ Beamten gerecht zu werden und so bei der Bewerbung um ein Amt als überparteilicher Kandidat wählbar zu bleiben? Oder waren es eher die antirepublikanischen Äußerungen von 1929, die taktischen Erwägungen folgten, indem er die vorherrschende Stimmung der sich radikalisierenden D ­ NVP bediente, um seine Position in der Partei abzusichern? Solange uns nicht zusätzliche, aussagekräftige Quellen zur Verfügung stehen, muss das Bild ambivalent bleiben. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie lückenhaft unsere Kenntnisse über Goerdeler sind. Dabei könnte eine eingehende Beschäftigung mit seinen Weimarer Jahren über den Einzelfall hinaus ertragreich sein. 68  Carl Friedrich Goerdeler, Zehn Jahre Aufbauarbeit in Königsberg. Was haben Reich und Staat für Königsberg geleistet? Ernsthafte Betrachtungen von Bürgermeister Dr. Goerdeler, Königsberger Hartungsche Zeitung Nr. 607 vom 29.12.1929, zitiert nach: Zeitschrift für Kommunalwirtschaft Nr. 6 vom 25.3.1930, Sp.  341– 346; vgl. Borm, Königsberg (Anm. 8), 335.



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Das gilt für die weithin vernachlässigte ostpreußische Landesgeschichte ebenso wie für die bislang kaum erforschte Rolle der DNVP ­­ in der Kommunalpolitik oder die reichsweiten, parteiübergreifenden kommunalpolitischen Netzwerke, in denen Goerdeler sich bewegte. Letztere wären auch insofern von Interesse, als die Kontakte aus der Zeit vor 1933 eine wichtige Rolle bei seinen Bemühungen spielten, den Kreis der Opposi­ tion gegen Hitler zu erweitern69. Somit könnte der Blick auf Goer­delers Leben in der Weimarer Republik schließlich neue Erkenntnisse zu seiner Aktivität im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zutage fördern.

69  Vgl. Linda von Keyserlingk-Rehbein, Nur eine „ganz kleine Clique“? Die ­ S-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944, Berlin 22019, bes. 433–436 N u. 456 f.

Epigonen des Reiches? Die Parteienlandschaft der Freien Stadt Danzig in den zwanziger Jahren Von Stefan Samerski, Berlin/München Die Danziger Parteienlandschaft bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ist besser erforscht, als man vermuten sollte. Vor allem seit den 1980er Jahren wurden dazu sowohl von deutscher als auch von polnischer Seite Veröffentlichungen vorgelegt, die Überblicke bieten und dabei vor allem die SPD und die Polenpartei in den Fokus nehmen1. Die Ausrichtung auf die Schicksalswahl vom Januar 1933 ist als interesse­ leitendes Motiv unverkennbar. Dagegen finden die Eigenständigkeit der Zwischenkriegsepoche im Allgemeinen, die konkrete Regierungsarbeit des Danziger Senats im Besonderen zu wenig Aufmerksamkeit – und das, obwohl die Quellenlage häufig besser ist als erwartet, etwa hinsichtlich der Genese der Danziger Verfassung2. Im Folgenden sollen die Entwicklungslinien der Parteien in der Freien Stadt nachgezeichnet und in Beziehung zu ihren Mutterorganisationen in der Weimarer Republik gesetzt werden. Denn trotz des Vertrags von Versailles 1919 und der Errichtung der Freien Stadt Danzig am 15. November 1920 blieb in der dortigen Parteienlandschaft eine innere Verbindung

1  Hier sind vor allem zu nennen: Werner Thimm, Die Entwicklung der Parteien in Danzig und Pommerellen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zwischen den Weltkriegen, Teil  1: Politik im Zeichen von Parteien, Wirtschaft und Verwaltung im Preußenland der Jahre 1918–1939, hrsg. v. Udo Arnold, Lüneburg 1986, 65– 105; Edmund Cie´clak/Marek Andrzejewski (Hg.), Historia Gda´nska, Bd. 4/2: 1920–1945, Danzig 1998, 33–70; Marek Andrzejewski, Socjaldemokratyczna ­Partia Wolnego Miasta Gda´nska: 1920–1936 [Die Sozialdemokratische Partei der Freien Stadt Danzig: 1920–1936], Danzig 1980. Zahlreiche parteipolitische Statistiken, biographische Informationen und Literatur: ders., Ludzie Wolnego Miasta Gda´nska (1920–1939) [Die Menschen der Freien Stadt Danzig], Danzig 1997. 2  Hierzu liegen die Protokolle der entsprechenden Gremien im Danziger Staatsarchiv vor. Erste Auswertung: Stefan Samerski, Die Katholische Kirche in der Freien Stadt Danzig 1920–1933. Katholizismus zwischen Libertas und Irredenta (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, 17), Köln u. a. 1991, 27–40.

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zu Deutschland erhalten3. Das wurde bereits in der ersten Regierungserklärung des Danziger Senatspräsidenten deutlich: „Wenngleich die Abtrennung des Gebiets der Freien Stadt Danzig vom Deutschen Reich gegen den Willen der Bevölkerung erfolgt ist, so ist die Regierung doch fest entschlossen, auf dem Boden der durch den Vertrag von Versailles geschaffenen Lage verfassungsgemäß ihre Aufgabe zu erfüllen. […] Mit dem Deutschen Reich verknüpfen Danzigs deutsche Bewohner neben den bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen die Gemeinsamkeit des Blutes, der Sprache und der Kultur.“4 I. Grundkonstanten Durch den Vertrag von Versailles wurde an der Weichselmündung ein nominell eigenständiger Miniaturstaat ins Leben gerufen, der unter dem Schutz des Völkerbundes stand und der Polnischen Republik zahlreiche Rechte im Post-, Eisenbahn- und Hafenbereich sowie die technische Führung der Außenpolitik übertrug5. Die ersten Jahre des Zwergstaates waren ganz vom Aufbau der neuen staatlichen Funktionen und vom Aus­ tarieren des Verhältnisses zu Polen bestimmt. Die Auseinandersetzung mit sozialistischen Aktivitäten, wie sie in viel stärkerem Maße in anderen deutschen Gliedstaaten etwa in Form von Räterepubliken anzutreffen waren, trat dagegen zurück6. Schon solche ersten Hinweise auf die Rahmenbedingungen machen deutlich, dass an der Weichselmündung nach 1919 ein anderer Wind wehte als an der Spree. Dessen ungeachtet konstatierte Oliver Löw 2011: 3  Marek Andrzejewski, Wolne Miasto Gda´ nsk w rewizjonistycznej propagandzie niemieckiej 1920–1939 [Die Freie Stadt Danzig in der deutschen Revisionspropaganda 1920–1939), Danzig 1987. Immer noch grundlegend: Christoph M. Kimmich, The Free City. Danzig and the German Foreign Policy 1919–1934, New Haven/ London 1968. 4  Heinrich Sahm, Erinnerungen aus meine Danziger Jahre 1919–1930, Mar­ burg/L. 1955, 33–34. 5  Danzig schied schon am 10. Januar 1920 aus dem Verband des Deutschen Reiches aus. Überblicke über die Gründungsphase: Wolfgang Ramonat, Der Völkerbund und die Freie Stadt Danzig 1920–1934 (Studien zur Militärgeschichte, Militärwissenschaft und Konfliktforschung 18), Osnabrück 1979; Peter Oliver Loew, Danzig und seine Vergangenheit 1793–1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen, Osnabrück 2003, 247–294; Hans Viktor Böttcher, Die Freie Stadt Danzig. Wege und Umwege in die europäische Zukunft. Historischer Überblick, staats- und völkerrechtliche Fragen, Bonn 21997. 6  Kurzer Hinweis auf sozialistische Umtriebe: Rüdiger Ruhnau, Die Freie Stadt Danzig, Berg am See 1979, 22. Zu einer Räterepublik ist es in Danzig nie gekommen: Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 77.



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„Die politische Landschaft in der Freien Stadt Danzig spiegelte bis 1933 die Verhältnisse in Deutschland wider.“7 Und Marek Andrzejewski schrieb 1994 sogar, dass die „Freie Stadt ein ‚Mikrokosmos‘ des Deutschen Reichs“8 gewesen sei. Ernst Ziehm, der schon 1920 in Danzig Regierungsverantwortung übernommen hatte, erinnerte sich vorsichtiger: „Eine gute Verbindung mit Deutschland wurde auch durch die politischen Parteien hergestellt, welche in Danzig denen im Reich glichen und in diesen ihre Mutterparteien sahen und sich als Teil der Gesamtorganisation fühlten.“9 Für ein solches Epigonen-Paradigma spricht außerdem, dass die Regierungsbildungen an der Weichsel  – ähnlich wie in der Weimarer Repu­ blik  – schwierig waren. Auch das Wählerverhalten bei den Parlamentswahlen entwickelte sich in Danzig grosso modo ähnlich wie in Deutschland. Es gab allerdings bemerkenswerte Unterschiede. So verzeichnete beispielsweise die SPD in Danzig seit 1923 stärkere Zuwächse als im Mutterland, und die DNVP nahm im vergleichbaren Zeitraum stärker ab. Die Ergebnisse der Urnengänge und ihre Veränderungen sind aber insgesamt in Berlin und Danzig vergleichbar, wenn auch die Entwicklung in Deutschland ausgeglichener verlief10. Der Siegeslauf der NSDAP ist chronologisch wie quantitativ nahezu deckungsgleich. Die Partei wurde allerdings in Danzig erst 1926 gegründet. Nach anfänglichen Misserfolgen erhielt die Bewegung seit 1930 namhafte Stimmenzuwächse, die der Agitation von Hitlers jungem Gefolgsmann Albert Forster zuzuschreiben war. Nach dem Wahlsieg der NSDAP beschloss das Danziger Parlament, der Volkstag, am 13.  April 1933 seine Auflösung11. Das Ende der übrigen Parteien kam dann viel schleppender als im Deutschen Reich. So wurde etwa die Zentrumspartei 7  Peter

Oliver Löw, Danzig. Biographie einer Stadt, München 2011, 192. Andrzejewski, Opposition und Widerstand in Danzig 1933 bis 1939, Bonn 1994, 22. 9  Ernst Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit in Danzig 1914–1939 (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas, 25), Marburg/L. 21960, 88. Hier vergleichbar auch: Heinrich Sprenger, Heinrich Sahm. Kommunalpolitiker und Staatsmann, Marburg/L. 1969, 115. 10  Überblick: Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 83, 90, 93. Auch: Löw, Danzig (Anm. 7), 191.  – Zur Parteienlandschaft der Weimarer Republik vgl. den Überblick: Martin Vogt, Parteien in der Weimarer Republik, in: Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik  – Wirtschaft  – Gesellschaft, hrsg. v. Karl Dietrich Bracher u. a., Bonn 21988, 134–157. 11  Dieter Schenk, Hitlers Mann in Danzig. Gauleiter Forster und die NS-Verbrechen in Danzig-Westpreußen, Bonn 2000; Ernst Sodeikat, Der Nationalsozialismus und die Danziger Opposition, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14 (1966), 139–174. 8  Marek

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in Danzig erst am 10.  Oktober 1937 verboten, während sie sich in Deutschland schon 1933 auflöste12. Auffallend ist auch, wie stark die jeweilige Parteiarbeit an der Weichsel publizistisch in die Gesellschaft getragen wurde: Zahlreiche hohe politische Mandatsträger waren als Verleger und Journalisten in eigener Sache tätig, so etwa der SPD-Vorsitzende Julius Gehl oder der Parteisekretär Franz Steffen für das Zentrum13. Bei der Regierungsbildung in der Freien Stadt fällt auf, dass die dortigen Koalitionen wesentlich länger amtierten als in Deutschland. Zudem regierten die einzelnen Senate für eine längere Zeit und waren sehr häufig unabhängig vom Ausgang der Volkstagswahlen im Amt14. Während die Weimarer Republik bis 1930 16 Kabinette zählte, leiteten im gleichen Zeitraum in Danzig nur drei Senate die Staatsgeschäfte. Das war zunächst der Verfassung des Zwergstaates vom August 1920 geschuldet. Sie implementierte als Regierungsorgan ein parteiunabhängiges Präsidialsystem, das sich an französisch-britischen Staatstheorien orientierte. Der Senatspräsident und die sieben hauptamtlichen Senatoren wurden alle vier Jahre vom Volkstag gewählt, während der stellvertretende Präsident und die 13 Senatoren im Nebenamt als unbesoldete Fachexperten auf unbestimmte Zeit vom Parlament bestellt wurden15. Darüber hinaus gewährleistete die Verfassung auch dadurch Kontinuität, dass die Volkskammer nicht aufgelöst werden konnte und die hauptamtlichen Senatoren nicht absetzbar waren. Trotz dieser rechtlichen Unterschiede zum deutschen Mutterland nahm die Danziger Konstitution in ihrem zweiten Teil  Grundrechte und -pflichten auf, die sie größtenteils der Weimarer Reichsverfassung (WRV) entlehnt hatte16.

12  Richard Stachnik, Dies und Das aus meinem langen Leben, Typoskript 1973, 117; Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918–1945, Paderborn 1992, 231–237. Zur zögerlichen Auflösung der anderen Parteien: Sodeikat, Danziger Opposition (Anm. 10), 141. 13  Marek Andrzejewski, Die Presse in der Freien Stadt Danzig, in: Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur. Societas Physicae Experimentalis. Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 6, hrsg. v. Gilbert H. Gornig, Lübeck 2004, 32–44; Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 80, 87. 14  1. Senat (06.11.1920), 2. Senat (10.12.1924), 3. Senat (18.12.1928–09.01.1931); 4. Senat (09.01.1931–30.05.1933). Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung bzw. zum Volkstag: 16.05.1920, 18.11.1923, 13.11.1927, 16.11.1930, 28.05.1933. 15  Art. 25 der Danziger Verfassung: Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 138–143; Erich Keyser, Danzigs Geschichte, Danzig 1928 (Nachdruck Hamburg o. J.), 275; Ruhnau, Die Freie Stadt (Anm. 6), 16–17. 1921 kam es vor dem Völkerbund zu einer Diskussion über die Amtsdauer der Danziger Senatoren: Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 236–238. 16  Zum rechtlichen Hintergrund: Hermann Lewinsky/Richard Wagner, Danzigs Staats- und Völkerrecht, Berlin/Danzig 1927.



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Im Kontext des verfassungsrechtlich günstigen Rahmens lassen sich in der konkreten parlamentarischen Praxis auch Kontinuitäten personeller Art erkennen. So wurde die Regierung der Freien Stadt bis 1933 von nur zwei Senatspräsidenten geführt, von denen der erste, Heinrich Sahm (parteilos), bereits früher einmal kurzzeitig Oberbürgermeister der Stadt gewesen war und als Präsident bis 1931 amtierte, während sein damaliger langjähriger Stellvertreter Ernst Ziehm von den Deutschnationalen zwischen 1931 und 1933 dem Senat vorstand17. Wie die beiden Präsidenten wiesen auch die allermeisten Senatoren Lokalkolorit auf und kannten die Danziger Kommunalverwaltung seit langer Zeit. Denn gerade bei der Auswahl der hauptamtlichen Senatoren „richteten sich die Blicke naturgemäß zuerst auf die Mitglieder des Magistrats der Stadt Danzig“.18 Außerdem sorgten zahlreiche nebenamtliche Senatoren, die teilweise über mehrere Legislaturperioden im Amt waren, für permanente und sachlich kompetente Handlungsfähigkeit. In der Praxis wies die Danziger Parteienlandschaft noch mindestens zwei weitere Stabilisierungsfaktoren auf, die sie von der in Deutschland unterschied: die besagte Zentrumspartei, die sogar bei den Wahlergebnissen besonders starke Kontinuitäten zeigte, und den Senatspräsidenten. Das Zentrum bezeichnete Werner Thimm als den „stabilste[n] Faktor der innenpolitischen Entwicklung“.19 Hier ist an erster Stelle der katholische Pfarrer Anton Sawatzki zu nennen, der über 13 Jahre nebenamt­ licher Senator war und damit bis in die nationalsozialistische Herrschaft hi­nein in allen Danziger Regierungen saß20. Sawatzki war es, der das Zentrum in Danzig seit 1907 einheitlich organisiert hatte und 1908 westpreußischer Provinzialvorsitzender seiner Partei wurde. Für kurze Zeit war er auch Mitglied des preußischen Landtags. Sawatzkis Tatkraft war es zu verdanken, dass die katholische Volkspartei an der Weichselmündung zu einer berufssparten- und schichtenübergreifenden Organisation werden konnte, deren Wählerschaft durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit von ca. 5.000 (1908) auf 21.000 Stimmen (1920), d. h. von 4 % auf 14 %, anwuchs21. Mit diesem Wählerpotential 17  Zu Sahm politisch ausführlich: Sprenger, Heinrich Sahm. Zu Ziehm: Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9). Sicherlich überzogen: Löw, Danzig (Anm. 7), 190. 18  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 47–48. 19  Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 84. 20  Ausführlich: Samerski, Katholische Kirche (Anm. 2), 47–52; ders., Anton Sawatzki, in: Das Bistum Danzig in Lebensbildern. Ordinarien, Weihbischöfe, Generalvikare, Apostolische Visitatoren 1922/25 bis 2000, hrsg. v. dems., Münster u. a. 2003, 52–57. 21  Samerski, Katholische Kirche (Anm. 2), 51.

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suchte er erfolgreich dauerhaften Einfluss auf das politische Tagesgeschäft zu gewinnen, was für eine relativ kleine, aber stabile Partei nur durch „geschmeidige Kompromissbereitschaft“22 möglich war. Seine Politik, mit Schwerpunkt auf Kultur und Kultus, war geprägt von den Grundsätzen des Christentums in Abgrenzung zur alten preußischen und zur neuen sozialdemokratischen Agenda in der Weimarer Republik, obgleich er besonders in kultureller und rechtlicher Hinsicht die Verbindung zu Deutschland suchte. Das blieb nicht ohne Antwort: Vor allem das Auswärtige Amt sah bei der Förderung des Auslandsdeutschtums in Danzig die Katholische Kirche und ihre Organisationen als ‚Garant des Deutschtums‘ an und förderte mit Millionenbeträgen konfessionelle Projekte an der Weichselmündung23. Sawatzki war nach Länge seiner Amtszeit ein Einzelfall. Vergleichbare personelle Kontinuitäten gab es aber auch bei anderen führenden Politikern in Danzig, wie etwa bei Julius Gehl von der SPD, beim besagten Ernst Ziehm sowie bei Anton Kubacz von der Polenpartei. Ihr nahezu paralleles Ausscheiden aus der aktiven Politik, das zumeist aus Altersund Gesundheitsgründen vor dem Schicksalsjahr 1933 erfolgte, schwächte die politischen Gegner der NSDAP und erschwerte es, „die Opposi­ tionsparteien zu einer Art Einheitsfront zusammenzuführen“24. Gerade bei diesen Politikern war nämlich noch ein weiteres Charakteristikum erkennbar gewesen: eine spezifisch hanseatische Kompromissbereitschaft. So spielte etwa der SPD-Parteisekretär Gehl eine „ausgleichende und vermittelnde Rolle“25 in der parlamentarischen Demokratie der Freien Stadt. Der ehemalige Maurer und Zeitungsverleger war für lange Zeit der überragende Kopf seiner Partei, die auch in bürgerlichen Kreisen Anerkennung gewonnen hatte26. „In den großen politischen Fragen stimmte sie weitgehend mit den bürgerlichen Parteien überein“27, weshalb sie von Anfang an für die meisten anderen koalitionsfähig war. Die Politik der SPD zielte vor allem auf die „Erhaltung der politischen, wirtschaftlichen und administrativen Stabilität in Danzig“28 in enger Anlehnung an Deutschland ab. Eine mit den Berliner Verhältnissen vergleich22  Ebd. 23  Detailliert:

ebd., 195–237. Opposition und Widerstand (Anm. 8), 153. 25  Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 79. 26  Andrzejewski, Socjaldemokratyczna Partia (Anm. 1); Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 79. 27  Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 82. 28  Andrzejewski, Opposition und Widerstand (Anm. 8), 24. 24  Andrzejewski,



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bare Entwicklung vollzog sich indes gleich zu Beginn der zwanziger Jahre mit der Abspaltung der USPD von der SPD. Von dem Deutschnationalen Ernst Ziehm war bereits als Senatspräsident die Rede. Er war ein promovierter Jurist und erfahrener Kommunalpolitiker, den erst die Leitungsfunktion an der Stadtspitze in den Jahren 1931 bis 1933 überforderte. Vorher war es Ziehm gelungen, seine Partei breit aufzustellen: Akademiker, Beamten, Angestellte und Gutbesitzer gehörten ebenso zu ihren Mandatsträgern wie Landwirte und Hausfrauen.29 Der DNVP-Politiker erwarb sich rasch ein ähnlich hohes Ansehen wie die vorgenannten Parlamentarier und schien daher für die Nachfolge von Heinrich Sahm prädestiniert. Dazu trug sicherlich auch sein kompromissfähiges und konziliantes Wesen bei30. Seine DNVP indes war inhaltlich erzkonservativ ausgerichtet. Antirepublikanisch und antimarxistisch eingestellt, erstrebte sie anfangs eine monarchische Restauration31 und galt in diesen Jahren als „Sammelpartei aller restaurativen Kräfte“32. Als sicherlich wichtigster und einflussreichster Garant für Stabilität im Danzig der Zwischenkriegszeit kann der erste Senatspräsident Heinrich Sahm gelten. Der aus dem pommerschen Anklam stammende Politiker stand der Regierung ohne Unterbrechung bis 1931 vor, obgleich er kein gebürtiger Danziger war und erst Ende 1918 als Neuling für den  Oberbürgermeisterposten gewonnen werden konnte. Der Parteilose schien „in den ersten Danziger Jahren den Deutschnationalen, später der Liberalen Partei oder der Nationalliberalen Bürgerpartei am nächsten gestanden zu haben“.33 Er bildete das Bindeglied zum alten Danzig im Reichsverband und hatte sich bereits in den ersten Monaten aus deutschnationaler Sicht an der politischen Spitze Danzigs bewährt. Denn für die deutsche Mehrheitsbevölkerung war und blieb es die Kernaufgabe der Freien Stadt, die deutsche kulturelle Identität der Weichselmetropole zu bewahren und eine entsprechende Anlehnung an die Weimarer Republik zu praktizieren34. Auch der zweite Senatspräsident Ziehm betonte immer wieder: „Danzig sah im Reich das Mutterland, an dem es mit seinem Herzen hing, und das Reich trauerte über den Verlust von Danzig, wie eine Mutter über den Verlust eines Kindes trauert.“35 Das war vor allem im 29  Ebd.,

23. war von Anfang an Leiter des interfraktionellen Ausschusses: Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 68–69. 31  Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 88. 32  Ebd., 89. 33  Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 115. 34  Deutlich: Löw, Danzig und seine Vergangenheit (Anm. 5), 307. 35  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 85. 30  Ziehm

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März/April 1919 deutlich geworden, als 70.000 bzw. 100.000 Danziger Bürger auf dem Heumarkt gegen die bevorstehende Abtrennung vom Deutschen Reich Protest erhoben36. Auch danach hielt man so lange wie möglich institutionellen Kontakt zum Mutterland. Dazu einige Beispiele: Erst nach einem Protest des Völkerbundes (Juli 1921) wurde der in Danzig residierende ‚Reichs- und Staatskommissar‘, also der diplomatische Vertreter der Weimarer Republik, Ende 1921 in ‚Deutscher Generalkonsul‘ umbenannt37. Die konkrete Umwandlung der Stelle in ein Generalkonsulat erfolgte sogar erst Anfang 1922, wobei man noch bis Ende 1921 den alten Eingangsstempel ‚Oberpräsident der Provinz Preußen‘ verwendete38. In diesen aufeinanderfolgenden Funktionen amtierte der vom Senat sehr geschätzte Lothar Foerster bis zum Frühjahr 1923. Aber selbst unter der neuen Bezeichnung nahm der ständige Vertreter der Weimarer Republik eine Sonderstellung ein, denn „der deutsche Konsul war darüber hinaus der Betreuer der vom Reich gegen ihren Willen abgetrennten Landsleute“.39 Über seine Behörde wurde verwaltungstechnisch die wirtschaftliche Unterstützung abgewickelt, ohne die die Freie Stadt kaum lebensfähig gewesen wäre. Auch blieb die Deutsche Reichsmark nach 1920 wie selbstverständlich offizielles Zahlungsmittel, bis sie im verheerenden Inflationsjahr 1923 aus dem Verkehr gezogen wurde: Erst im Oktober jenes Jahres wurde der mit starkem Lokalkolorit geprägte Danziger Gulden als neue Währung eingeführt40. Auch auf anderen politischen Feldern suchten die Regierungsparteien einen engen Schulterschluss mit Berlin – besonders in den Wahlkämpfen, wo reichsdeutsche Politiker einflussreiche Wahlkampfhilfe in Danzig leisteten41. „Danziger nahmen an den Veranstaltungen ihrer Mutterparteien im Reich teil, und die Parteien im Reich schickten Redner zu den Danziger Parteiversammlungen“42, erinnerte sich Ziehm aus eigener An36  Keyser, Danzigs Geschichte (Anm. 15), 262; Hans Georg Siegler, Danzig. Chronik eines Jahrtausends, Düsseldorf 1990, 301–302. 37  Samerski, Katholische Kirche (Anm. 2), 103–104. Ausführlich zu dieser Frage: ders., Zur Gründung des Deutschen Generalkonsulats in Danzig, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 14 (1995), 125–134. 38  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 86. Auskunft Politisches Archiv des Auswärtigen Amts/Berlin: Kurzbiographie Lothar Foerster. 39  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 86. 40  Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 170–173; Ruhnau, Die Freie Stadt (Anm. 6), 47–51; Löw, Danzig und seine Vergangenheit (Anm. 5), 299. 41  Andrzejewski, Opposition und Widerstand (Anm. 8), 22. Unzureichend: Löw, Danzig (Anm. 7), 192. 42  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 88.



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schauung. Übereinstimmung mit Berlin wurde aber auch programmatisch und organisatorisch gesucht43. Denn in der parteipolitischen Nähe zur Weimarer Republik sah der Zwergstaat seine Rettung vor dem übermächtigen Polen. Ein solche Perspektive begünstigte die Überwindung des traditionellen Danziger Partikularismus, der in der Kaufmannschaft seinen stärksten Rückhalt hatte44. Gerade hier vermischte sich die Trauer über die Abtrennung vom Reich  – nach alter hanseatischer Tradition  – deutlich mit dem Stolz auf Eigenstaatlichkeit und Selbständigkeit45. Als weiteres parteipolitisches Spezifikum der alten Hanse- und Handelsstadt ist die liberale Wirtschaftliche Vereinigung zu nennen, die bis 1930 zwischen 15 % und 18 % der Wähler mobilisieren konnte. Sie war 1920 aus der Allianz der im Vorjahr gegründeten ‚Freien Wirtschaftlichen Vereinigung‘ mit der DDP hervorgegangen. Durch Zusammengehen mit zwei weiteren liberalen Wirtschafts- und Beamtenparteien wurde 1925 die Deutschliberale Partei geschaffen, die im zweiten Senat (1925–1928) Regierungsverantwortung übernehmen sollte46. Trotz der häufigen organisatorischen Wandlungen behielten diese Mittelparteien, die sich weniger über ihre Weltanschauung denn über ihre wirtschaftlichen Forderungen definierten, parlamentarischen Einfluss. Die bislang hier noch nicht vorgestellte Polenpartei hatte eine gewisse Sonderstellung in der Freien Stadt inne. Sie galt als Danziger Sprachrohr der häufig überzogenen Forderungen der polnischen Republik und war schon deshalb an der Weichselmündung nicht koalitionsfähig. Ihr Wortführer, der Frauenarzt Franz Kubacz, führte die Partei bis 192847. Seine Partei verlor im Untersuchungszeitraum an Wählerstimmen; ihr Anteil fiel von 6 % (1919) auf 3 % (1930). Denn ihr ärgster Konkurrent und Angstgegner war das katholische Zentrum, zu dem zahlreiche Polen überliefen, die sie sich dort effektiver vertreten fühlten  – nicht zuletzt weil sie unter der programmatischen Zerrissenheit der eigenen Partei gelitten hatten48. Die Rivalitäten zwischen beiden politischen Kräften waren besonders eklatant in den Wahlkämpfen zu spüren. Aber selbst Kubacz war mit dem deutschen Kulturkreis eng verwoben, hatte er doch in Würzburg Medizin studiert und seine Promotion in Rostock absolviert, bevor er 1892 43  Thimm,

Parteienentwicklung (Anm. 1), 79. solcher Partikularismus der Freien Stadt wurde von deutscher Seite bereits 1921 deutlich festgestellt: Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 110. 45  Löw, Danzig und seine Vergangenheit (Anm. 5), 298–299. 46  Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 87–88. 47  Ebd., 95. Zu ihm ausführlicher: Andrzejewski, Ludzie (Anm. 1), 62. 48  Ebd. 44  Ein

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am Städtischen Krankenhaus in Danzig eine Anstellung fand. Dort gehörte er schon 1902 zur 1743 gegründeten, renommierten Danziger Naturforschenden Gesellschaft49. Er selbst vertrat die Positionen der polnischen Nationaldemokraten und hatte in Versailles an den Friedensverhandlungen auf Seiten Polens mitgewirkt50. Auch das schloss ihn bei den bürgerlichen Parteien der Freien Stadt für jede Koalitionsbildung aus. Außerdem stand die Polenpartei gemeinsam mit den Kommunisten als einzige politische Kräfte des Volkstags gegen eine erneute Angliederung Danzigs an Deutschland. Auch die KPD selbst blieb politisch bedeutungslos, obstruierte häufig Gesetze, wurde eindeutig von der Mutterpartei in Berlin gelenkt und vom russischen Generalkonsul in Danzig finanziert51. Damit stand für die Regierungsbildung in Danzig nur ein „bürgerlicher“ Block regional spezifischer Art zur Verfügung, der bis 1931 mehrheitlich entweder von der DNVP (um die 28 %) oder der SPD (zwischen 24 bis 33 %) dominiert wurde. Mit den übrigen kleineren Parteien der Mitte war für eine mögliche Koalitionsbildung eine hinreichend große inhaltliche Kongruenz gegeben. II. Die Politik der Danziger Senate Schon vor der nominellen staatlichen Selbständigkeit Danzigs lassen sich deutliche politische Unterschiede zum Reich erkennen: Nach der Neuwahl zur Stadtverordnetenversammlung Ende 1919 kam es in der Hansestadt nicht zu einer so genannten ‚Weimarer Koalition‘, da die Linken in Danzig starke Stimmenverluste zugunsten der Rechten hinnehmen mussten52. Die Zentrumspartei mit ihren relativ stabilen 14 % war mehr als ein Mehrheitsbeschaffer; sie sorgte durch das geschickte Vorgehen ihrer Führungskräfte für eine Abwehr sozialistischer Prinzipien in Kultur- und Kultusfragen. Das schlug sich zuallererst in der besagten Danziger Verfassung von 1920 nieder, die Kirche und Schule günstiger stellte als die Weimarer Reichsverfassung (WRV): Das Zentrum konnte nach hartem Ringen und 49  Peter Letkemann, Die Naturforschende Gesellschaft Danzig. Geschichte und Entwicklung, in: Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Forschung, Societas Physicae Experimentalis (Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, 1), hrsg. v. Gilbert H. Gornig, Lübeck 1997, 19–25. 50  Ernst Bahr, Frank Kubacz. in: APB IV,1122. 51  Andrzejewski, Opposition und Widerstand (Anm. 8), 25; Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 81. 52  Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 71.



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mit ganzem Einsatz Sawatzkis erreichen, dass die Konfessionsschulen verfassungsrechtlich verankert und die Staatsleistungen für Kirchengebäude und Geistliche von der Freien Stadt in vollem Umfang weitergezahlt wurden53. Auch in dieser Hinsicht war Danzig nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches dauerhaft bessergestellt als etwa das demokratische Preußen oder die Weimarer Republik, wo es bekanntlich zu keinem Schulgesetz kam. Ein weiteres Spezifikum der Danziger Zentrumsarbeit waren Konkordatsverhandlungen, die sehr früh einsetzten, kontinuierlich fortgesetzt und 1928 abgeschlossen werden konnten54. Den Vertrag erkannte der Heilige Stuhl zwar nie an, an der Weichselmündung hielt man sich aber sogar über 1933 hinaus faktisch an diese Vereinbarung. Auch in Deutschland ist das Zentrum bekanntlich der Motor der Konkordatsverhandlungen gewesen, die allerdings nur dann Fortschritte machten, wenn das Zentrum den Kanzler stellte55. War das nicht der Fall, ruhten die Erörterungen weitestgehend, bis sie im Juli 1933 unter Hitler zum Abschluss kamen. Daraus erhellt, dass das Zentrum an der Weichselmündung über viel mehr Durchschlagskraft und Erfolgspotential verfügte als in Berlin. Und nicht nur Kirchenfragen, auch andere Themen der Tagespolitik stellten sich in der Freien Stadt während der zwanziger Jahre anders dar als in der Weimarer Republik56. Ernst Ziehm erklärte dies damit, dass Danzigs „politische Lage von der des Reiches völlig verschieden war“.57 Hier stößt das Epigonen-Paradigma an seine Grenzen. In den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Kultur und Revision des Ver­ trages von Versailles indes arbeiteten die Regierungen an Weichselmündung und Spree über lange Jahre eng zusammen. So erinnerte sich Ziehm beispielsweise an die finanzpolitischen Verhandlungen mit Deutschland: „Alle Reichsregierungen, wie sie auch parteipolitisch zusammengesetzt waren, haben, wie ich bezeugen kann, Danzig nach Kräften unterstützt. Dies geschah sowohl auf dem Gebiete der Finanzen wie auf dem der Wirtschaft.“58 Aber ganz besonders kulturpolitisch war das deutsche Danzig finanziell auf Deutschland angewiesen. Bekannteste Beispiele 53  Detailliert:

Samerski, Katholische Kirche (Anm. 2), 27–40. dazu: ebd., 171–189. 55  Dazu zuletzt: Stefan Samerski, Deutschland und der Heilige Stuhl. Diplomatische Beziehungen 1920–1945, Münster 2019, 79–91. 56  Überblick über die Regierungsarbeit des 1. Senats: Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 76–120. 57  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 88. 58  Ebd., 85. 54  Ausführlich

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sind die sommerlichen Aufführungen in der Zoppoter Waldbühne, die zu einem Großteil von Berlin gefördert wurden59. Vor allem auch Erziehungsprojekte, wie der intensivierte Neubau von deutschen Kindergärten, wurden mit namhaften Mitteln gefördert, um den Nachwuchs im deutschen Sinne zu sozialisieren60. In der Weimarer Republik der ersten Nachkriegsjahre stand dagegen die Bewältigung des gewaltigen Reparationsproblems, die wirtschaftliche Erholung und der Umgang mit den Besatzungstruppen im Vordergrund61. Außenpolitisch war der Zwergstaat an der Ostsee ebenfalls in ganz andere Grundkonstanten eingebunden als das Mutterland. Hinzu kam der Neuaufbau eines Staatswesens, der die Parteien vor noch grundsätzlichere Herausforderungen stellte: „Die Spannungen zwischen Senat und Opposition waren beträchtlich und wurden durch die wirtschaftliche und soziale Not des Freistaates verschärft.“62 Zwar kannten Danzig wie das Reich besonders in den ersten Nachkriegsjahren wirtschaftliche Nöte und Turbulenzen, doch waren die Gewichte an der Weichselmündung erkennbar verschoben: Der erste Senat, der bis 1924 im Amt war, hatte am Abbau der deutsch-polnischen Gegensätze kaum Interesse; er versuchte außenpolitisch vor allem Großbritannien für den deutschen Charakter der Stadt zu interessieren und ihr Freiheit und Unabhängigkeit zu verschaffen63. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen, die um die hohe Arbeitslosigkeit und die soziale Not kreisten, erreichten im Sommer 1921 ihren Höhepunkt, als die Linksparteien zu einem eintägigen Generalstreik aufriefen. Der Völkerbundkommissar zeichnete die damalige Lage in düsteren Farben: „Danzig ist tatsächlich einem Menschen vergleichbar, der verblutet.“64 Zwar konnte der Senat die Auswirkungen des Streiks durch Polizeieinsatz etc. mildern, aber als Konsequenz lieferten sich die Kontrahenten im Volkstag am 4.  August heftige Kontroversen: Die Linksparteien griffen die Regierung „mit wüsten Beschimpfungen“65 an, so dass der Parlamentspräsident eine bewaffnete Abteilung der Schutzpolizei in den Sitzungssaal verlegen ließ. Kommunistische Abgeordnete veranlasste dies zu Protesten und Handgreiflichkeiten; Sahm kam wegen des Tumults gar nicht mehr zu Wort. 59  Einhard Luther, Die Zoppoter Waldoper: das Bayreuth des Nordens, Berlin 2010; Ruhnau, Die Freie Stadt (Anm. 6), 143–144. 60  Samerski, Katholische Kirche (Anm. 2), 195–206. 61  Überblick: Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 21988, 1–54. 62  Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 115. 63  Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 48–69; Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 106–108, 115–120. 64  Zitiert nach: Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 116. 65  Zitiert nach: ebd.



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Nach einem kurzen Intermezzo im Jahr 1924, das durch parteipolitische Querelen bei der Wiederwahl der hauptamtlichen Senatoren verursacht worden war, konnte der zweite Senat Anfang 1925 seine Arbeit aufnehmen. Er wurde aus SPD, Zentrum und Deutschliberaler Partei gebildet66 und zeigte in vielen tagespolitischen Fragen Ähnlichkeiten mit den Berliner Stresemann-Kabinetten von 192367. Danzig wurde fortan von Minderheitsregierungen geführt, was ihrer langen Lebensdauer jedoch nicht im Wege stand. Dem Nationalliberalen Stresemann gelang es als deutscher Außenminister Mitte der zwanziger Jahre, die Ostausrichtung der deutschen Außenpolitik zu durchbrechen und Verträge mit den westlichen Nachbarn – vor allem mit Frankreich – zu schließen. Diese Entspannungspolitik nach dem Vertrag von Locarno (1925) brachte Deutschland außerdem die Mitgliedschaft im Völkerbund ein68. In der Stresemann-Ära glaubte man 1925/26 sogar, die internationale politische Beruhigung gehe so weit, dass an einen Wiederanschluss Danzigs an Deutschland zu denken sei. Außerdem war ein ‚Korridorstaat‘, also eine Vergrößerung des Danziger Staatsgebildes, im Gespräch69. Genährt wurden solche Gedanken von der gravierenden polnischen Wirtschaftskrise und dem Staatsstreich Piłsudskis vom Mai 1926. Vom Berliner Kabinettstisch wurde Ziehm ein mögliches Anschlussprojekt zugetragen, der das allerdings mit Rücksicht auf Polen sehr skeptisch aufnahm: „Wir in der Regierung in Danzig waren nicht so optimistisch, daß wir an eine unmittelbar bevorstehende ­Regelung glaubten.“70 Der Vizepräsident behielt recht, und die deutsche Außenpolitik musste weiterhin versuchen, „die Probleme offenzuhalten, Danzig ebenso politisch wie wirtschaftlich zu unterstützen“.71 Das politische Kernproblem der Freien Stadt blieb ihr Verhältnis zu Polen. In Danzig war es vor allem die SPD, die sich  – ähnlich wie in Deutschland – für eine Verständigung mit dem slawischen Nachbarn aussprach. Eine solche Ausrichtung hatte sich im Senat ganz vorsichtig bereits 1923 abgezeichnet, als man wirtschaftliche Erwägungen stärker be66  Ebd.,

118–119. Kolb, Die Weimarer Republik (Anm. 61), 54–91. 68  Ausführlich zur deutschen Außenpolitik: Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, 207–372; Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945, Stuttgart 1995, 433–474. 69  Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 144–152. 70  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 95. 71  Krüger, Die Außenpolitik (Anm. 68), 310; Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 166–167. 67  Ausführlich:

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rücksichtigte72. Daher setzte sich die neue Danziger Regierung mit ihren neugewählten Senatoren im Haupt- und Nebenamt vorrangig für eine Verständigungspolitik mit dem Nachbarn ein73. Sie wurde vom Völkerbund, der andauernden harschen Danzig-Polnischen Auseinandersetzungen überdrüssig, unterstützt. Der neue Senat leitete vor diesem Hintergrund eine flexiblere Auslegung und Handhabung der bestehenden Gesetze und Verträge ein, die beiden Seiten wirtschaftlichen Gewinn brachten. Ein entsprechender Aufschwung der Weichselstadt lag auch im Interesse Deutschlands, das durch stärkere Danziger Eigenleistungen bei verschiedensten Aufgaben finanziell entlastet wurde. Denn das vorrangige Ziel Berlins war es, zumindest den rechtlichen Status quo des Zwergstaates aufrecht zu erhalten und jeder wirtschaftlichen Abhängigkeit von Polen entgegenzuwirken, vor allem aber einen Kollaps zu verhindern. So wurden auch weiterhin Millionen Reichsmark in zahlreiche Sektoren des öffentlichen Lebens der Freien Stadt gepumpt, vor allem in kulturelle und kirchliche Einrichtungen74. Die allgemeine Beruhigung der Situation Mitte der zwanziger Jahre lässt sich auch an der Temperatur der öffentlichen Auseinandersetzungen ablesen. Die Presse schlug jetzt einen gemäßigteren Ton an. Aber auch einige Staatsbesuche in Danzig spiegelten vordergründig Entspannung wider75. Rückschläge erfuhr diese Annäherungspolitik des Senats ausgerechnet von polnischer Seite, die den unbedeutenden Fischerhafen Gdingen im Korridorgebiet seit 1924 zu einem modernen Hauptumschlagplatz ausbaute76. Dadurch erlitt der Lebensnerv der Danziger Wirtschaft, der eigene Hafen, erhebliche Einbußen. Wirtschaftskrise und verstärkte Arbeitslosigkeit waren die Folgen. Obgleich solche Probleme in den makro­ ökonomischen Kontext eingebettet waren, was sich vor allem auf dem Arbeits­markt zeigte, schlug Danzig jetzt  – Ende der zwanziger Jahre  – vertraglich und wirtschaftspolitisch eigene Wege ein. Sogar Differenzen mit dem Auswärtigen Amt lassen sich ab 1929 verstärkt beobachten  – und das, obwohl die Kultur- und Wirtschaftshilfen Berlins gerade zwischen 1926 und 1929 intensiviert und ausgebaut wurden. 72  Im Juni 1923 wurde mit Polen ein Vertrag über Eisenbahnfragen abgeschlossen: Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 117–118. Kontext: Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 252–277. 73  Dazu detailliert: Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 121–177, bes. 134. 74  Zu katholischen Einrichtungen: Samerski, Katholische Kirche (Anm. 2), 213– 220. 75  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 135. 76  Zur Gdingen-Frage: Loew, Danzig (Anm. 7), 194; Ruhnau, Die Freie Stadt Danzig (Anm. 6), 69–80; Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 136–138.



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Die vorsichtige Entfremdung ging allerdings von beiden Seiten aus. Seitdem die Weimarer Republik Mitglied des Völkerbundes war, hielt es die deutsche Außenpolitik nicht mehr grundsätzlich für opportun, Danziger Standpunkte bedingungslos zu unterstützen. Inzwischen war im Auswärtigen Amt sogar von „Mißbilligung der bisherigen Danziger Politik“77 die Rede. Das alles erschütterte Sahms politische Position an der Weichselmündung 1927/28 spürbar – vor allem innenpolitisch. Hinzu kam, dass in Genf die lebenswichtigen Danziger Verhandlungen um neue Kredite für den Senat ungünstig verliefen. Zu Hause gerierte sich der langjährige Senator Julius Jewelowski von der Deutschliberalen Partei als heftigster Opponent Sahms im Volkstag. Seine Partei trat im August 1927  – es standen Volkstagswahlen vor der Türe  – sogar aus der Regierung aus. Von dem Urnengang versprachen sich auch die Sozialdemokraten starke Zugewinne78; und zusätzlich trat eine neue Nationalliberale Bürgerpartei ins Leben. Sahms Position war also von allen Seiten angefochten, so dass der 13. November 1927 zu einer Schicksalswahl für die Freie Stadt wurde. Nach einem auch publizistisch besonders intensiv geführten Wahlkampf, für den Hilfe aus dem Reich organisiert worden war79, errangen die Sozialdemokraten einen Sieg und wurden stärkste Kraft im Volkstag80. In die anschließende Regierungsbildung aus SPD, Zentrum und Liberalen schaltete sich das Auswärtige Amt ungewöhnlich massiv ein. Berlin erkannte ganz richtig, dass ohne das Zentrum keine Regierungsmehrheit zustande kommen würde. Da die deutsche Seite an der Kontinuität von Sahms Führungsposition interessiert war, verpflichtete man das Zentrum, wieder auf den alten Senatspräsidenten zu setzen und die damals diskutierten, potentiell zu mehr Instabilität führenden Verfassungsänderungen abzulehnen81. Der dritte Danziger Senat, der bis 1931 im Amt blieb, musste allerdings Anfang 1928 eine Regierungsumbildung hinnehmen, da altgediente und erfahrene Politiker wie der Kommunal­ senator Hubertus Schwartz und der Finanzsenator Ernst Volkmann ausschieden82. Die von Berlin zunächst verhinderten Verfassungsänderungen ließen sich ebenfalls nicht mehr unterdrücken, vor allem dank des Eingreifens der erstarkten Sozialdemokratie. Zu ihren Forderungen gehörte die Ver77  Sprenger,

Heinrich Sahm (Anm. 9), 168. 171–172. 79  Ebd., 172; Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 303–305. 80  Thimm, Parteienentwicklung (Anm. 1), 83. 81  Zur Regierungsbildung: Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 173–177. 82  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 138. 78  Ebd.,

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kleinerung von Senat und Volkstag (der sich künftig selbst auflösen können sollte), die Selbstverwaltung der Danziger Stadtgemeinde und vordringlich die vollständige parlamentarische Verantwortlichkeit des Gesamtsenats83. Gerade der letzte Punkt war es, der in Zukunft die in Danzig bislang zu beobachtende Kontinuität der Regierungsarbeit untergraben sollte. Als mit dem Jahr 1928 die zweite Amtsperiode der hauptamtlichen Senatoren auslief, setzte die SPD am 18. Dezember 1928 eine Neuwahl von fünf Politikern durch, die den parlamentarischen Mehrheiten umfassend Rechnung trug84. Und dieser Schachzug antizipierte nur die Verfassungsänderung von 1930, nach der die „hauptamtlichen Senatsmitglieder nach parteipolitischen Gesichtspunkten und nach dem Koalitionsproporz gewählt wurden“.85 Damit war eigentlich hier schon das Ende des bisher geübten Danziger Parlamentarismus eingeläutet, was sich auch bald in der Praxis herausstellte. Die besagte Verfassungsänderung wurde dann von der SPD und kurioserweise von den bei der Neuwahl von 1927 unterlegenen Deutschnationalen vorangetrieben, die sie mit Rückendeckung des Völkerbundes am 4. Juli 1930 durchsetzen86. Mit der Möglichkeit der Parlamentsauflösung und der totalen Verantwortlichkeit der ­Senatoren vom Volkstag (incl. Senatspräsident) war tatsächlich „in die verfassungsmäßige Regierungsform eine Bresche geschlagen“87 worden, wie der promovierte Jurist Ziehm deutlich erkannte. Nach außen aber dominierten die wirtschaftlichen Probleme das Tagesgeschehen: Gdingen, der Lebensnerv der Danziger Ökonomie, war zum alles bestimmenden Thema geworden, so dass der neue Senat die Verständigungspolitik mit Polen überdachte88. Im Mai 1929 glaubte der Völkerbundkommissar sogar eine Zuspitzung der Situation feststellen zu können.89 Auch der britische Konsul in Danzig stellte im Herbst eine zunehmend deutschnationale Stimmung in der Öffentlichkeit fest90. Das Verhältnis zwischen Berlin und Danzig gestaltete sich ebenfalls immer weniger harmonisch91. Das Hauptproblem bildete jetzt die sich 83  Sprenger,

Heinrich Sahm (Anm. 9), 177–179. 180; Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 138. 85  Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 180. 86  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 138–140; Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 138–140. 87  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 138. 88  Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 194–202. 89  Ebd., 187. 90  Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 313. 91  Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 189–191. 84  Ebd.,



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abzeichnende Weltwirtschaftskrise, die die Handels- und Hafenstadt Danzig besonders hart traf92. Am 30. Oktober 1929 musste eine Arbeitslosendemonstration polizeilich aufgelöst werden, was im Volkstag zu heftigsten Auseinandersetzungen führte. Ein kommunistischer Abgeordneter wurde für acht Tage von den Debatten ausgeschlossen93. Inmitten dieser aufgeheizten Atmosphäre parteipolitischen Gezänks kam das Ende von Sahms Regierungszeit, obgleich er in Berlin nach wie vor als Garant der Stabilität galt. Außerdem lässt sich beobachten, dass wichtige Sachfragen wie die Verfassungsänderung jenseits der Koali­ tionsdisziplin engagierte Unterstützer bzw. Opponenten auf den Plan riefen: Allein 1930 musste der parteilose Sahm mehrfach ein drohendes Misstrauensvotum überstehen. Vor allem die Deutschnationalen verübelten es ihm, dass er im Mai 1929 auf Druck des Völkerbundes eine Tagung des radikal nationalen Stahlhelms verboten hatte, und betrieben seine parlamentarische Isolierung94. Rasch wechselnde Mehrheiten und Regierungsbildungen im Jahre 1930 brachten „geradezu grotteske Verhältnis­ se“95 hervor; teilweise regierte nur noch ein Rumpfsenat. Am 16. November 1930 kam es zur erlösenden Neuwahl des Volkstags, die aber nicht die gewünschte Klärung der Verhältnisse brachte. Denn die Sozialdemokraten wie auch die Deutschnationalen erlitten herbe Verluste, während Kommunisten und Nationalsozialisten (16,4 %) deutliche Gewinne einfahren konnten96. Das entsprach in etwa dem reichsdeutschen Wahlergebnis vom 14.  September desselben Jahres. Die NSDAP war in der Weimarer Republik wie in Danzig bis etwa 1927 bedeutungslos gewesen. An der Weichsel kam sie bis dahin nicht über 1400 Stimmen hinaus. Erst infolge der Entsendung des Fürthers Albert Forster an die Weichselmündung im Oktober 1930 lässt sich auch hier ein Siegeslauf der Nationalsozialisten beobachten, die bei den November-Wahlen schon zweitstärkste Fraktion wurden97. Der Zugewinn ging stark zulasten der SPD, wobei  – wie im Deutschen Reich  – das Zentrum kaum Einbußen hinnehmen musste, ja stattdessen noch zulegen konnte. Bereits zu diesem Zeitpunkt war das faktische Ende des Danziger Parlamentarismus absehbar. Zunächst aber erfolgte am 10. Januar 1931 die Neuwahl des Senatspräsidenten, der nach der Verfassungsänderung voll92  Ebd.,

188–189.

93  Ramonat, Völkerbund 94  Sprenger, 95  Ebd.,

(Anm. 5), 314. Heinrich Sahm (Anm. 9), 205.

206.

96  Andrzejewski,

Opposition und Widerstand (Anm. 8), 32; Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 208. 97  Andrzejewski, Opposition und Widerstand (Anm. 8), 25.

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ständig vom Parlament abhängig war. „Das neue Amt erforderte jetzt einen Mann, hinter welchem eine Partei stand, von deren Vertrauen er getragen wurde.“98 Der parteilose Sahm dagegen hatte sich in der abgelaufenen Linksregierung und der Stahlhelmaffäre bei der bürgerlichen Rechten in Misskredit gebracht. Trotz entsprechender Angebote wollte er keiner Partei beitreten, weil für ihn das Präsidentenamt gleichsam Beamtenstatus hatte und möglichst neutral auszuüben war. Das Zentrum favorisierte eine Regierungsbildung unter Einschluss der NSDAP. Die Gründe dafür erläuterte Franz Steffen in einer Parteizeitung am 17.  November 1930 wie folgt: „Die Nazis dürften eine Eintagsfliege sein, sobald sie einmal versuchen sollten, irgendwelche praktische Arbeit zu leisten. Der Versuch dazu muß unter allen Umständen gemacht werden.“99 Eine Koalitionsbeteiligung der NSDAP traf aber auf den Widerstand Hermann Görings, der eigens nach Danzig gekommen war, um die Weichen für seine Partei zu stellen100. Diese gab nun zugunsten einer Minderheitsregierung unter Leitung von Ernst Ziehm eine Garantieerklärung ab, an die sie sich auch bis zur Machtübernahme Hitlers in Deutschland gebunden hielt. So konnte das neue Kabinett aus DNVP, Zentrum und Nationalem Block in Danzig bis 1933 amtieren. Schon damals urteilte indes der deutsche Generalkonsul, dass diese Basis kaum ausreichen dürfte, um der virulenten Probleme Herr zu werden.101 Denn durch das Auseinanderdriften der politischen Lager wurde es immer schwieriger, die öffentliche Ordnung zu wahren102. Zusammenfassend lässt sich knapp resümieren: Die Freie Stadt Danzig wies in den zwanziger Jahren viel mehr und effektivere Kontinuitäten in ihrer Parteienlandschaft auf als die Weimarer Republik. Das lag an der noch deutlich präsidialeren Verfassung wie auch an kompromissfähigen Politikern verschiedenster Couleur, die über lange Jahre ununterbrochen Regierungsverantwortung übernahmen. Im ersten Jahrzehnt nach 1919 beherrschte ein hanseatischer Pragmatismus das parlamentarische Agieren, der erst in den dreißiger Jahren verstärkt ideologischen Ausei­ nandersetzungen wich. Inhaltlich und auch persönlich war man bis etwa 1930 in dem überschaubaren Kontext der Freien Stadt viel enger beieinander als in der fragmentierten politischen Kultur Weimar-Deutschlands, 98  Ziehm,

Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 147. aus der Zentrums-nahen „Danziger Landeszeitung“: Thimm, Parteien­ entwicklung (Anm. 1), 96. 100  Ziehm, Aus meiner politischen Arbeit (Anm. 9), 143–146. 101  Sprenger, Heinrich Sahm (Anm. 9), 209. 102  Ramonat, Völkerbund (Anm. 5), 319; Andrzejewski, Opposition und Widerstand (Anm. 8), 35–36. 99  Zitat



Epigonen des Reiches?

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dessen Nähe man zugleich auf allen Ebenen so weit als möglich suchte. Unter den ganz anders gelagerten Rahmenbedingungen entwickelten sich im konkreten Tagesgeschäft deutliche Unterschiede in der Art der parlamentarischen Arbeit. Insofern ist auch das Epigonen-Paradigma für Danzig tatsächlich nur bedingt anwendbar. Gerade die Verfassungsänderung von 1930 erschuf allerdings in ihrer parlamentarischen Funktionalität ein neues Regierungssystem, das der sich stetig verschärfenden Krisensituation – im Endeffekt doch wieder ähnlich wie die Weimarer Konstitution – kaum mehr gewachsen war.

III. Baukultur

Idealstädte am Epochenende – Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften in Ostpreußen nach 1914 Von Nils Aschenbeck, Bad Kissingen Die Reform kam vom Rande. Die Ersten, die sie propagierten, waren Aussteiger, Künstler und andere Exoten. Es ging um die Reform der Kleidung, der Ernährung, der Gesellschaft – und nicht zuletzt um die Reform der Architektur. Das Wort „Reform“ klingt nach allmählichem Wandel, nach Evolution. Gemeint war aber der radikale Wandel: vom Korsett zum weich fallenden Kleid, von der reich geschmückten Villa zur einfachen Hütte. Die Reformbewegung und mit ihr die Reformarchitektur benötigten einige Jahre, um von den sozialen wie topographischen Rändern (vor allem von den Alpen und von den Mittelgebirgen) in die Städte und auch in die Kunstvorstellung der Macht vorzudringen. Sie benötigte den Ersten Weltkrieg, um Teil einer deutschen Leitkultur zu werden. Der vorliegende Text zeigt überblicksartig, wie sich ein neues Denken über Architektur und wie damit sich auch eine neue Architektur zwischen 1900 und 1914 und dann besonders intensiv in Ostpreußen zwischen 1915 und 1925 durchsetzen konnte. Das Ende des Ersten Weltkrieges und das Ende des Kaiserreiches ließen dann allerdings das umfassende Architekturexperiment Ostpreußen mit tausenden im Sinne der Reform neu errichteten Bauten in Vergessenheit geraten – bis heute. Die Literatur zur Reformarchitektur allgemein ist genauso dünn wie zu den Wiederaufbauleistungen in Ostpreußen ab 1915. Zu nennen sind – als jüngere Veröffentlichungen – vor allem das 2016 erschienene Buch des Verfassers zur „Reformarchitektur“ sowie der gründliche Überblick über die Wiederaufbauarchitektur in Ostpreußen von Jan Salm aus 20121.

1  Nils Aschenbeck, Reformarchitektur  – Die Konstituierung der Ästhetik der Moderne, Basel 2016; Jan Salm, Ostpreußische Städte im Ersten Weltkrieg, Wiederaufbau und Neuerfindung, München 2012. Vgl. auch Nils Aschenbeck, Heinz Stoffregen 1879–1929, Architektur zwischen Tradition und Avantgarde, Braunschweig/Wiesbaden 1990 (zum Wirken von Heinz Stoffregen auch in Ostpreußen) und ders., Moderne Architektur in Ostpreußen, Hamburg 1993.

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I. Historismus In den Zentren wie Berlin und München hatten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Architekten und Künstler etabliert, die historische Stile kopierten und aus Stilzitaten einen reich dekorierten städtischen Raum komponierten. Der Historismus wurde in seiner Zeit als die Krönung der Zivilisation verstanden, da aus den historischen Stilen und von den Vorbildern der Vergangenheit (beispielsweise von italienischen Renaissance-Palästen) das Beste und Schönste genommen wurde. Der Historismus verstand das Bauen ausdrücklich als eine Form der Dekoration, der Verschönerung. Es ging den Architekten nicht um eine gesellschaftliche Veränderung, nicht um eine Erziehung der Bewohner. Anders als Renaissance- oder Barock-Architekten entwarfen die historistischen Baumeister nicht nur Kirchen und Paläste, zu den wichtigsten Bauaufgaben gehörten Fabriken, Verkehrsbauten und Mietshäuser. Die Architekten, die von der starken Bautätigkeit seit Ende des DeutschFranzösischen Krieges profitierten, fühlten sich durch ihren Erfolg auch in ihren künstlerischen Entscheidungen bestätigt. Sie sahen ihre Bauten als legitime Weiterentwicklungen beispielsweise der florentinischen Paläste und sie empfanden sich selbst als genauso legitime Erben der großen Baumeister beispielsweise der Renaissance. Mit diesem Selbstbild, das die eigene Größe stilisierte, das jeden gesellschaftlichen Wandel ausblendete, machten sich die Historisten angreifbar. Junge Architekten, die ab 1900 die Hochschulen verließen, zweifelten an der Wende zum 20. Jahrhundert an der künstlerischen Strategie der Elterngeneration. Das Dekorieren von Fabriken und Mietshäusern schien ihnen falsch; sie bestritten, dass neue Baufragen mit künstlerischen Rezepten der Vergangenheit zu beantworten seien. Romanik passe vielleicht zu Kirchenbauten, nicht aber zu Fabriken usw. Die neue Architekten-Generation forderte eine neue Ethik der Gestaltung: eine Bauaufgabe sollte an der Fassade ablesbar sein, eine Fabrik sollte eine Fabrik sein, ein Wohnhaus für einfache Menschen sollte nicht wie eine Renaissance-Villa erscheinen. Die Forderung „Form follows function“, die noch in den 1920er Jahren immer wieder von Architekten zu hören war, hatte ihren Ursprung in der Zeit um 1900. Der Wunsch nach einer authentischen Architektur wurde begleitet von einer weit verbreiteten Angst vor der Tuberkulose. Gerade die jungen Leute schienen gefährdet, die Tuberkulose betraf vor allem die 20-Jährigen, die vor ihrer Karriere standen. Das Bakterium änderte allein durch seine Gegenwart, durch die latente Gefahr, das Denken der Menschen. Die jungen gut gebildeten Städter waren nach 1900 nicht mehr bereit, die leichtsinnige und vielfach sinnlos erscheinende Formenwelt des His-



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torismus zu bewundern, sie wollten kein Spiel, keinen Karneval  – sie suchten, da sich ihr Leben womöglich als kurz herausstellen würde, Wahrheit. Oftmals sprachen sie – in Abgrenzung vom Denken der Elterngeneration und in Abgrenzung zu einem rein künstlerischen Entwerfen – von der Notwendigkeit einer naturgesetzlichen und damit gesunden und gesundmachenden Architektur. Allein der Natur mit ihrer inneren Logik dürfe man folgen. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichteten Mietshäuser mit ihren Hinterhöfen galten damals  – durchaus zu Unrecht, wie wir heute wissen – als Brutstätte der Tuberkulose. In einem Kurzschluss wurden die dunklen, oftmals noch feucht bezogenen Wohnungen mit den historistischen Dekorationen an den straßenseitigen Fassaden in Verbindung gebracht. Ja, die Dekorationen wurden in der beginnenden Epoche der Psychoanalyse als unbewusstes Zeichen einer krankmachenden Architektur gesehen. Auch die Innenräume der gründerzeitlichen Villen und Mietshäuser mit ihren hochflorigen Teppichen, den schweren Vorhängen und den aufwändig geschnitzten Möbelstücken wurden verdächtigt, die Menschen krank zu machen. Aus den Dekorationen und den schweren Stoffen würden die Miasmen aufsteigen, die schlechten Gerüche, die vor der Entdeckung des Tuberkulose-Bakteriums als ursächlich für die seuchenhafte Krankheit vermutet wurden. Es gab eine sowohl scheinbar-kausale als auch symbolische Verbindung von Dekoration und Krankheit. Aus den Dekorationen waberten nach den zeitgenössischen Vorstellungen die Miasmen, Dekorationen waren aber gleichzeitig auch unbewusste Zeichen einer scheinbar degenerierten, krankmachenden Zivilisation. Der Verdacht, historistische Architektur mache krank, führte zu einer rasend schnellen Abwertung der Bauweise in den ersten fünf Jahren des 20. Jahrhunderts. Die etablierten Architekten wurden von dem Wandel überrascht, konnten ihn nicht begreifen, ihm nichts entgegen setzen. In wenigen Jahren wurden Wertvorstellungen auf den Kopf gestellt. Alles, was die Historisten als schön empfunden hatten, war plötzlich hässlich und krankmachend. Einfache, barackenartige Architektur hingegen, ausgestattet mit abwaschbaren Linoleumböden und einfachen Industrielampen, von Historisten als Nicht-Architektur abgelehnt und verhöhnt, galt plötzlich als das neue gesundmachende Ideal. II. Reformarchitektur Vor allem in den Alpen, aber auch in deutschen Mittelgebirgen entstanden schon vor 1900 zahlreiche Lungensanatorien, bei manchen waren so

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Abb. 1: Die Hütte als Architektur der Gesundheit. Sanatorium Rikli in Veldes, Licht-Luft-Hütte mit Patient. Postkarte um 1900

genannte Licht-Luft-Hütten für wohlhabende Kranke, die sich eine Einzelbehandlung leisten konnten, errichtet worden. Die Licht-Luft-Therapie galt bis zur Einführung des Penicillins als das einzige halbwegs wirksame Mittel gegen die Tuberkulose, sie wurde in leichter lockerer Kleidung durchgeführt. Die zur Sonne ausgerichteten Hütten, die Terrassen aufwiesen oder die sich ganz zum Licht öffnen ließen, deren Existenz zuerst auf dem Gelände des Sanatoriums Rikli in Veldes (heute Bled, Slowenien) dokumentiert ist,2 die aber bald auch zum Repertoire der Sanatorien in deutschen Mittelgebirgen gehörten  – so ab 1896 in Stapelburg im Harz auf dem Gelände des Sanatoriums „Jungborn“3 – wurden in ihrer Einfachheit und in ihrer radikalen Ausrichtung auf die Gesundung der Bewohner als eine neue Idealarchitektur verstanden, als passende Be-

2  Vgl. Arnold Rikli, ‚Es werde Licht‘ und es wird Licht! oder die atmosphärische Cur. Ein Beitrag zur natürlichen Gesundheitslehre, Leipzig 1894. Auf dem Titelbild Zeichnung „Ausmarschcostüm zum Lichtluftbad in Veldes“, eine betont einfache und locker sitzende Kleidung. 3  Vgl. vor allem Adolf Just, Kehrt zur Natur zurück! Die neue, wahre naturgemäße Heil- und Lebensweise. Wasser, Licht, Luft, Erde, Früchte, wahres Christentum usw, 5. Aufl. Stapelburg/Harz 1903. Mit Abbildungen der Licht-Luft-Hütten, vor allem 62 f.



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Abb. 2: Die Reihung und Stapelung der Licht-Luft-Hütten – das Lungensanatorium als gesund machende Architektur und Vorbild für die weitere Architekturentwicklung der Moderne: Sanatorium Dr. Jessen in Davos Platz, errichtet 1912, zeitgenössisches Fotografie vor 1914, Sammlung Aschenbeck

hausung, ja als Hülle für den neuen Menschen4. Bei den etwa zeitgleich oder später errichteten Sanatoriumsbauten, bei denen aus Kostengründen auf Einzelbehausungen verzichtet wurde, waren die Hütten aneinandergereiht und aufeinander gestapelt – so beim bekannten, 1910 errichteten Waldsanatorium Dr. Jessen in Davos-Platz, bekannt geworden als der Ort, der Thomas Mann zu seinem Zauberberg inspirierte. Auch bei diesen Bauten blieb die Idee der Ausrichtung des kranken Individuums zur Sonne unverändert. Sanatorien wurden eine neue Bauform der Gesundheit, die in ihrem klaren Raster der nach Südwesten ausgerichteten Balkonen und Loggien die moderne Architektur der 1920er Jahre vorwegnahm. So war das Waldsanatorium, in dem sich nur die wohlhabendsten Kranken aus den nordeuropäischen Zen­tren zur oft lange währenden Kur einfanden, mit einfachen weiß lackierten Möbeln auf leicht steril zu haltenden Linoleumböden aus der Fertigung der Delmenhorster Lino­ 4  Siehe dazu Didem Ekici, „From Rikli’s light-and-air hut to tessenows’s Patenthaus. Körperkultur and the modern dwelling in Germany, 1890–1914“, in: The Journal of Architecture, Royal Institute of British Architects, 13/2008, 379–406, vor allem 388.

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Abb. 3: Abwaschbare Flächen, industrieller Stil: die moderne Architektur entstand aus der Angst vor Bakterien: Sanatorium Dr. Jessen, Speisesaal, zeitgenössische Fotografie vor 1914, Sammlung Aschenbeck

leum-Fabrik „Ankermarke“ ausgestattet. Der Speisesaal, Ort des täglichen Schaulaufens der Patienten und damit der in seiner Gestaltung bedeutendste Ort der Anlage, wirkt auf den Bildern fast wie eine Fabrikhalle5. Zu den neuen Architekturprojekten, die an den Rändern Europas erprobt wurden, gehörte auch der Monte Verità im Tessin. Eine Gruppe junger Leute, die zur Wende zum 20. Jahrhundert an der gründerzeitlichen Zivilisation litten, die mit ihrem Vermögen alles neu und besser machen wollten – unter ihnen der belgische Industriellen-Sohn Henry Oedenkoven und die in München lebende und aus adligen Verhältnissen stammende Ida Hofmann (beide hatten sich bei Rikli in Veldes kennengelernt)  –, zogen über die Alpen und erwarben bei Ascona einen Berg in Panoramalage am Lago Maggiore. Auf dem „Berg der Wahrheit“, wie sie den Monte Monescia umtauften, bauten sie einfache Hütten aus Holz, die sie als Vorbild neuer Architektur sahen und die nicht zufällig den Licht-LuftHütten der Sanatorien glichen. Neben der neuen Architektur, die in kommenden Jahren und Jahrzehnten aus den Urhütten erwachsen sollte – das 5  Siehe die Abbildungen in Nils Aschenbeck, „in the era of hygiene“, in: Lino­ leum – History, Design, Architecture 1882–2000“, Ostfildern-Ruit 2000, 141.



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etwas später errichtete Wohnhaus von Hofmann und Oedenkoven mit Dachgarten und runden Ecken war ein erstes und durchaus wegweisendes Beispiel –, wollten die Siedler auch eine neue Gesellschaft mit all ihren Ausprägungen schaffen – bis hin zu neuen kultischen Formen. Architektur in Verbindung mit einem einfachen Leben (Reformkleidung, Vegetarismus) sollte auf dem Monte Verità einen neuen besseren Menschen, nicht weniger als einen Übermenschen formen. Nietzsche gehörte dort zu den viel gelesenen Autoren. Und auch Ellen Keys „Das Jahrhundert des Kindes“ (deutsche Ausgabe Berlin 1902),6 das die Formung des neuen besseren Menschen im neuen Jahrhundert propagierte, das ausdrücklich an Nietzsche anknüpfte, gab den Siedlern den Ansporn, an einer neuen Gesellschaft mitzuwirken. Das Experiment Monte Veritá wurde, obwohl es nach nur wenigen Jahren scheiterte, weltberühmt  – es ist das vielleicht eindrucksvollste Beispiel für frühe Reformbestrebungen am Rande der Zentren, hier am Rande der Schweiz7. Aus dem alpenländischen Raum und von den deutschen Mittelgebirgen begann sich die neue einfache, von Hütten abgeleitete Architekturform – man sprach von Reformarchitektur  – allmählich zu den Zentren zu bewegen. Zuerst wurden Reformbauten in Industriestädten errichtet, dort, wo viel gebaut wurde und wo keine etablierten Architektur-Strukturen das Neue zu verhindern suchten. Ein Beispiel für eine Stadt, in der sich früh die Reformarchitektur ausbreiten konnte, ist Delmenhorst bei Bremen. Hier war es der junge Bürgermeister Erich Koch-Weser (1875–1944), der zusammen mit dem Fabrikdirektor (Linoleumfabrik „Ankermarke“) und Werkbund-Vorsitzenden Gustav Gericke (1864–1935) junge Architekten in die Stadt holte, um eine wahrhaftige (nicht-dekorative) und gesundmachende Architektur zu schaffen. Zu den Architekten gehörten der damals aus Darmstadt kommende Peter Behrens (später Designer der AEG) sowie die Bremer Heinz Stoffregen (1879–1929) und Hugo Wagner (1873–1944). Städte wie Berlin oder München verblieben anders als Delmenhorst noch Jahre in ihren historistischen Strukturen – die eingeübten Dekora6  Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, 1900, Berlin 1902 (deutsche Ausgabe); Keys Buch (Originaltitel „Barnets århundrade“) wurde gerade in Deutschland sehr einflussreich und erfuhr mehrere Auflagen. 7  Zum Monte Verita vgl. vor allem das unübertroffene Standardwerk von Harald Szeemann (Hrsg.), Monte Verità, Berg der Wahrheit, Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Mailand o. J.; darin dokumentiert das ganze Panoptikum der reformbewegten Sinnsuche und Formsuche auf dem von den Siedlern so titulierten „Berg der Wahrheit“.

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tionen wurden lediglich modifiziert: statt Renaissance-Muster wurden bald Jugendstil-Ornamente auf die Fassaden appliziert. Reformarchitektur wurde allein in den Villenkolonien auf privatem Grund errichtet  – von modernen Bauherren, die ein Gespür für den Wandel hatten. Das Kaiserhaus in Berlin blieb lange dem Historismus verhaftet und wandte sich erst spät der Moderne zu. Starkes Indiz für ein Umschwenken auch bei den Hohenzollern war der Auftrag zur Errichtung des Schlosses Cecilienhof in Potsdam ausgerechnet an den in der Provinz tätigen Paul Schultze-Naumburg (1869–1949). Schultze-Naumburg war mit der Schriftenreihe „Kulturarbeiten“8 bekannt geworden. In den „Kulturarbeiten“ propagierte er eine neue Architektur. Als Vorbild für ein besseres Bauen sah er die Zeit um 1800, in der Architektur noch nach gewachsener Überlieferung entstanden sei. Die biedermeierliche Bauweise war in ihrer Schlichtheit das Gegenteil zu den üppig dekorierten historistischen Bauten. Schultze-Naumburg hatte in den „Kulturarbeiten“ oftmals Beispiel und Gegenbeispiel nebeneinander gesetzt: das historistische Mietshaus neben das biedermeierliche Gutshaus usw. In ­seiner Wortwahl zeigte sich Schultze-Naumburg stets radikal und gegenüber den historistischen Bauleistungen diffamierend (in den 1920er Jahren begann er zudem rassistisch zu argumentieren; er war ein Anhänger ­Hitlers und traf sich auch mit zahlreichen NS-Größen in seinem Anwesen in Bad Kösen an der Saale)9.

Abb. 4: Zurück zu den Anfängen und zur Natur, Architektur sollte wie selbstverständlich in der Landschaft stehen. Hier: Hugo Wagner, Entwurf Turnhalle Delmenhorst-Deichhorst, ca. 1908, Sammlung Aschenbeck 8  Neun

Bände, ein Ergänzungsband, München 1901–1917. Informationen zu Schultze Naumburgs Gästen und Kontakten sind auf folgender Internetseite zu finden: https://www.pimath.de/saaleck/, zusammengestellt von Bernd D. Romswinkel, dem ehemaligen Eigentümer des Schultze-Naumburg-Anwesens in Saaleck, Bad Kösen (abgerufen am 20.08.2021). 9  Ausführliche



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Abb. 5: Undekorierte Architektur verweist auf die neue gesunde Zeit: Heinz Stoffregen, Entwurfszeichnung Wasserturm Delmenhorst 1908, Bauakten Stadt Delmenhorst

Dass gerade Schultze-Naumburg, der die Architektur der Gründerzeit nach dem Deutsch-Französischen-Krieg wie kein anderer kritisiert und diffamiert, der damit auch gegen die Erfolgsbilanz des preußischen Staates gewettert hatte, den Auftrag für einen Hohenzollern-Schlossbau bekam, kann als ein starkes Zeichen für die Hinwendung des Kaiserhauses zur Moderne gewertet werden. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 endeten fast alle Bauprojekte in Deutschland. Trotzdem zogen die Architekten  – es

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gab nur wenige Ausnahmen  – begeistert in den Krieg, so auch Walter Gropius, aus dessen Kriegsbriefe R. R. Isaacs zitiert10. Parteien und politische Ansichten spielten in der Jubelstimmung keine Rolle mehr  – und auch in Gestaltungsfragen schien man sich unter den jungen Kriegsteilnehmern einig. Es gab nur noch den Weg hin zur modernen Form, es galt, mit der Klarheit und der Gewalt des Krieges den angeblich verkommenen Historismus ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Politisch sollte der Krieg ein neues geeintes Deutschland bringen, architektonisch wurde von einem „neuen Deutschland“ gesprochen  – mit dem Krieg sollte die Reformarchitektur die deutsche Leitarchitektur werden. III. Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften Kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs überrannten die Russen die deutschen Verteidigungslinien und besetzten Teile Ostpreußens – fast eine Million Ostpreußen begaben sich auf die Flucht. Neben dem Elsaß war Ostpreußen die einzige deutsche Region, die unmittelbar vom Krieg betroffen war. Nach nur wenigen Wochen konnten teilweise noch 1914, endgültig dann 1915 die Russen zurückgedrängt und die alten Grenzen wiederhergestellt werden. Zurück blieb ein vom Krieg gezeichnetes Land mit zerstörten und brandgeschatzten Kleinstädten, Dörfern und Gütern. Der Chronist des Wiederaufbaus, Erich Göttgen, nennt 100.000 zerstörte oder beschädigte Gebäude,11 42.000 Gebäude seien vollkommen zerstört worden12. Die Zerstörungen wurden dokumentiert und vor allem über Zeitungsberichte und auch über Bildpostkarten der deutschen Bevölkerung vermittelt. Die Menschen sollten emotional erreicht werden  – und auf dieser Grundlage Geld für den Wiederaufbau und für die Gestaltung eines neuen Deutschlands spenden. Der Wiederaufbau Ostpreußens wurde noch im September 1914, nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn, zur nationalen Aufgabe erklärt, ein erstes Treffen der vom Kaiser eingesetzten Kriegshilfskommission mit Experten fand im Oktober 1914 statt13.

10  R. R. Isaacs, Walter Gropius, Der Mensch und sein Werk, Bd. 1, Berlin 1983, 127 ff. 11  Erich Göttgen (Hrsg.), Der Wiederaufbau Ostpreußens – eine kulturelle, verwaltungstechnische und baukünstlerische Leistung, Königswinter 1928, IX. 12  Ebd., XII. 13  Kriegshilfskommission für die Provinz Ostpreußen (Hrsg.): Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Ortschaften Ostpreußens, Bericht über die Erste Ta-



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Deutlich wird, dass die Kriegszerstörungen wie ein Naturereignis gewertet wurden, die dadurch entstandenen Schäden seien schnell durch staatliche Hilfe auszugleichen. Im Jahr 1914 war der Krieg noch keine Katastrophe, er wurde vielmehr als ein notwendiger Weg zu einer besseren Weltordnung und auch zu einer besseren deutschen Ordnung verstanden. Kriegsschäden waren scheinbar schnell zu heilen. Gleichzeitig wurden die Schäden als willkommener Anlass genommen, um einen Wiederaufbau im Sinne der angestrebten neuen Ordnung durchzuführen. Die Bereitschaft, die betroffenen Immobilienbesitzer zu entschädigen, gab dem Staat die Gestaltungsmacht. Nur gute Architektur im Sinne der neuen Ordnung sollte genehmigt werden. Der Kaiser folgte hier nun ausdrücklich den Zielen der Reformer. Das wird sichtbar in der Berufung Hugo Wagners in die Expertenrunden. Wagner war ein sich radikal gebender Reformarchitekt, der für den Bremer Kaffeekaufmann Ludwig Roselius 1906/07 eine hochmoderne und vielgelobte Kaffeefabrik aus Eisenbeton errichtet hatte. Selbst Walter Gropius hatte die Fabrik im Jahrbuch des Deutschen Werkbundes als vorbildlich bezeichnet14. Der Deutsche Werkbund war am Vorabend des Ersten Weltkrieges eine einflussreiche Sammelbewegung der Reformer in Kunst, Industrie und Architektur. Auch einige Politiker gehörten zu dem Bund, so der schon erwähnte Erich Koch-Weser. Hugo Wagner hatte im Jahrbuch des Werkbundes die Forderung formuliert, Bauberatungsstellen zu etablieren, bei denen über gute und schlechte Architektur (im Sinne der Reform) beraten und geurteilt werden sollte15. Die Wagner-Forderung, deren Umsetzung in Friedenszeiten undenkbar schien, wurde nach dem Treffen der Kriegshilfskommission für Ostpreußen aufgegriffen. In Ostpreußen wurden tatsächlich auf ihrer Grundlage 23 Bauberatungsstellen etabliert, die mit meist jungen Architekten besetzt wurden, die die Ideen der Reform verinnerlicht hatten. Ihre Aufgabe war, alle historistischen Dekorationen aus den Entwürfen zu streichen und die Reform in jeder einzelnen Bauaufgabe umzusetzen. Neben den zwei bis drei Dutzend Architekten, die in den Bauberatungsstellen tätig waren, waren hunderte weitere Architekten aus den westlichen Landesgung der Abteilung für den Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften am 18. Dezember 1914, o. J. [1915], 9. 14  Walter Gropius, „Die Entwicklung moderner Industriebaukunst“, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, Die Kunst in Industrie und Handel, Jena 1913, 17–22. 15  Hugo Wagner, „Bauberatungsstellen“, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, Die Durchgeistigung der Deutschen Arbeit, Jena 1912. Wagner empfahl sich mit dieser Publikation offenbar der vom Kaiser 1914 eingesetzten Kriegshilfskommission.

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teilen gekommen, um die Entwürfe für die wiederaufgebauten Städte und Gutshäuser zu zeichnen. Ostpreußen wurde das größte Bauvorhaben während des Ersten Weltkriegs in Europa  – mit bis zu 800 Architekten, die ab 1915 oder später hier tätig waren. Der Staat hatte die Finanzierung des Wiederaufbaus der zerstörten Häuser zugesichert. Aber diese Mittel reichten nicht für den Bau von Ideal­städten. Es sollte neben der neu zu errichtenden Architektur auch der Städtebau angepasst werden  – Camillo Sittes Buch „Der Städtebau nach seinen Künstlerischen Grundsätzen“ (Wien 1889) war hier das unmittelbare Vorbild. Sitte wollte die Städte so formen, dass auch der Stadtgrundriss wie ein naturgesetzlicher Organismus erschien. Achsiale Ordnung, die im Historismus üblich war, wurde abgelehnt, stattdessen waren Verengungen, Vor- und Rücksprünge sowie verstellte Achsen das Ideal einer Planung, die sich an den gewachsenen Strukturen mittelalterliche Städte orientierte. Um die Maßnahmen, die über den reinen Wie­ deraufbau hinausgingen, zu finanzieren, war man in Ostpreußen auf Spenden angewiesen. Überall im Reich und darüber hinaus auch unter Auslandsdeutschen gründeten sich – getragen von der nationalen Kriegseuphorie  – Hilfsvereine, die für den Wiederaufbau sammelten. Die Münchner Ostpreußenhilfe stiftete von Künstlern entworfene Wohnungseinrichtungen, die zum halben Preis zu erwerben waren16. Nicht weniger als ein „neues Deutschland“ sollte in Ostpreußen, in der einst abgelegenen Provinz, geschaffen werden  – ein ideales Muster für ein Nachkriegs-Reich. Allerdings wussten die Architekten noch nicht, wie die ideale Stadt aussehen sollte. Einig waren sie sich nur in der Ablehnung der vorgeblendeten historistischen Dekorationen. IV. Gerdauen und andere Wiederaufbau-Städte Das Fehlen eines festen Gestaltungskanons war eine Chance. Architekten konnten mit Architektur experimentieren – gerade in den stark zerstörten ostpreußischen Städten. Die interessantesten und durchaus sich widersprechenden Wiederaufbauleistungen entstanden in den Städten Gerdauen (heute Russland) durch vor allem Heinz Stoffregen und in Goldap (heute Polen) durch Fritz Schopohl und Hans J. Philipp. Hervorzuheben ist zudem die Stadt Soldau (heute Polen) bei Allenstein, in der das Zentrum geschlossen wiederaufgebaut wurde und die heute – im Gegensatz zu anderen Wiederaufbau-Städten – nahezu vollständig erhalten ist. 16  Siehe Ludwig Goldstein, Der Wiederaufbau Ostpreußens 1914–1919, Königsberg o. J. [1919], 14.



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Abb. 6: Wiederaufbauarchitektur: Heinz Stoffregen, Entwurf Marktplatz Gerdauen/Ostpreußen 1916, Sammlung Aschenbeck

Abb. 7: Wiederaufbauarchitektur als Rekonstruktion der historischen selbstverständlichen Bauweise: Heinz Stoffregen, Haus in Gerdauen/Ostpreußen, errichtet ab 1916, Foto Nils Aschenbeck 2013

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Abb. 8: Beispiel eines heute noch vorhandenen Bauwerks der Reformepoche. Haus in Prostken bei Lyck, Foto N. Aschenbeck 2014

Abb. 9: Reformer gingen schon während des Ersten Weltkriegs den Weg zur Typisierung und zur Neuen Sachlichkeit: Fritz Schopohl, Entwurf für die Bebauung des Marktplatzes von Goldap, um 1918, aus: Walter Riezler, Deutsche Wiederaufbauarbeit – der Wiederaufbau in Stadt und Kreis Goldap durch Architekt Schopohl, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1925, 107



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Abb. 10: Fritz Schopohl, Entwurf Häuserzeile am Markt, um 1918, aus: Riezler 1925, 106

In Gerdauen versuchte der Bremer Heinz Stoffregen, eine gewachsene mittelalterliche Stadt zu rekonstruieren. Dazu nutzte er zahlreiche gestalterische, auch dekorative Elemente. Er setzte Feldsteine in die Sockelzonen, gestaltete die Oberlichte über den Türen und ergänzte die Häuser mit Erkern und Gauben in unterschiedlichsten Formen. Sogar zwei Speicherbauten ließ er errichten, die täuschend echt an die Speicher der Hansestädte erinnerten. Für diese gestalterische Ausrichtung wurde Stoffregen damals viel kritisiert, widersprach sie doch der von den Reformern angestrebten Einfachheit und Ehrlichkeit einer neuen Architektur. Andere sahen in Gerdauen hingegen eine Idealstadt, so der Industrielle Karl-Ernst Osthaus, der Entwürfe zum Wiederaufbau Gerdauens im Rahmen der Wanderausstellung „Kunst im Kriege“ zeigte17. Kaiser Wilhelm II. besuchte Gerdauen 1917 und würdigte durch seine Anwesenheit die Wiederaufbauleistung18. Deutlich moderner geriet der Wiederaufbau in Goldap, heute nahe der russischen Grenze gelegen. Vor allem der Architekt Schopohl baute am Markt Typenhäuser, die mit minimalen Eingriffen individualisiert und auch verortet wurden. So bekamen die Geschäftshäuser Rundbögen in den Erdgeschoss-Zonen, Andeutungen von Laubengängen, um die Zen­ tralität des Ortes symbolisch zu unterstreichen. Das Beziehen auf die 17  Vgl.

Aschenbeck, Heinz Stiffregen (Anm. 1), 57. der Zeitzeugin Anne-Marie Grosser in Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 4.9.1993. 18  Leserbrief

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Örtlichkeit führt dazu, dass jedes Haus ein wenig anders ist als die Nachbarhäuser. So entsteht ein vielfältiges und doch ganz harmonisches Stadtbild19. In Goldap ahnt man dank der Typisierung der Architektur und trotz der vielen individuellen Gestaltungen die Hinwendung zum Neuen Bauen der 1920er Jahre. Anders als Stoffregen ging es Schopohl darum, mit einer reduzierten Architektur auch einen passenden künstlerischen Ausdruck in einer Zeit der Not zu schaffen. Schopohl wollte mit der Architektur die Zeit repräsentieren, Stoffregen wollte hingegen kompensieren. Beide Ansätze passten zur Reform, bei beiden war das bessere und letztlich gesunde Leben der Menschen das Ziel. Leider ist die WiederaufbauArchitektur von Goldap im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört worden. Sowohl Gerdauen als auch Goldap zeigen ein gemeinsames Merkmal des Wiederaufbaus: Architektur blieb individuell und an den jeweiligen Ort angepasst. Gerade dieser Individualismus schuf interessante und wiedererkennbare Stadträume, heute leider nur noch in Soldau vollständig erlebbar. Die Idealstädte der Reform sollten, so die Vorstellung der Reformer und des Deutschen Werkbundes, Beispielstädte für die zukünftige städtebauliche und architektonische Entwicklung des Reichs sein. So, wie die Städte in Ostpreußen wiederaufgebaut wurden, so sollten nach und nach und nicht unter diesen „idealen“ Kriegsbedingungen auch die westdeutschen Städte reformiert werden. Ostpreußen wurde ein Muster für Deutschland und darüber hinaus. Dass dieser Anspruch und damit auch die Architektur des Wiederaufbaus in Vergessenheit geraten ist liegt am weiteren Verlauf des Krieges. Aus dem Krieg, der im Sinne der Reform die Menschen gleich machte und der Deutschlands neue Größe auch den Nachbarn verdeutlichen sollte, wurde ein Krieg, der alles ruinierte, in dem es bald kein Wahr und kein Falsch, kein Gut und Böse mehr gab. Waren die Architekten und Künstler anfänglich mit idealistischen Vorstellungen in den Krieg gezogen, hatten sie anfänglich noch wie Gropius von Naturerfahrungen geschwärmt, mussten sie bald einsehen, dass alles Ideale und Idealisierte eine Täuschung war. Bezeichnend ist Ernst Jüngers „Das Wäldchen 125“ (1925)20. Hier wird aus dem einst romantischen 19  Zu Goldap siehe Nils Aschenbeck, „Goldaps Sachlichkeit, Die Architektur des Wiederaufbaus 1915 bis 1922“, in: Annelies Trucewitz (Hrsg.), 450 Jahre Gol­ dap, erzählte Geschichte einer ostpreußischen Kleinstadt aus viereinhalb Jahrhunderten, 2020. 20  Ernst Jünger, Das Wäldchen 125, Berlin 1925. Jünger beschreibt, wie sehr anfänglich die Soldaten den Auszug in den Krieg als Naturerfahrung begrüßt hat-



Idealstädte am Epochenende

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Wald eine nun nummerierte Gruppe von zerschossenen Bäumen. Unter dieser Voraussetzung konnte man keine an das deutsche Biedermeier anknüpfenden Idealstädte mehr postulieren. Aus einem Krieg, der in ­ Zerstörung und Katastrophe führte, der alles Gewachsene ruinierte, konnten keine guten Lösungen für eine zukünftige Gesellschaft mehr erwachsen. Die Architekten, die aus dem Krieg gekommen waren, die auch am Wiederaufbau beteiligt waren, glaubten mit Kriegsende, sich neu orientieren zu müssen. Nach 1918 schien ein auch künstlerischer Schnitt notwendig. Architekten wie Hans Scharoun oder Walter Gropius wandten sich dem Expressionismus zu – einer radikalen, ausdrucksstarken Architektur, die nun individualistisch und auch wieder betont künstlerisch war. Hans Scharoun, der nach der Wiederaufbauzeit in Ostpreußen geblieben war, schuf in Insterburg die bedeutende expressionistische Siedlung „Bunte Reihe“, die in großen Teilen erhalten ist. Auch wenn den Wiederaufbauleistungen der Makel anhing, ein Architekturprojekt des Kaiserreichs zu sein, so waren durch die Reformarchitektur zwischen 1900 und 1925 doch wesentliche Voraussetzungen für das Neue Bauen, das um 1925 einsetzte und das bis heute unsere Architekturvorstellung prägt, geschaffen worden. Die Grundidee einer einfachen, undekorierten und möglichst gesund machenden Architektur (über Luft und Licht bietende Balkone und Loggien) wurde vom Neuen Bauen übernommen und mit neuen formalen Lösungen wie Flachdach und Fensterbändern verknüpft. Gleichzeitig ging jedoch im Neuen Bauen der Individualismus und der Variantenreichtum verloren. Gerade die Vielfalt der Lösungen lässt heute den Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften Ostpreußen interessant erscheinen. Er mag heute sogar als ein städtebauliches Vorbild gelten, das besser funktionieren mag als die schematischen und gleichmachenden Siedlungen der Moderne, die nach 1925 und vor allem auch nach 1945 in Deutschland und ganz Europa entstanden.

ten, dann aber an einem Ort verbleiben mussten, so dem „Wäldchen 125“. Hier änderte sich alles unter dem Eindruck des technischen Krieges. „Zu Beginn des Krieges […] war dieser Unterschied gegen früher noch gar nicht wahrnehmbar, er trat erst ein, als der Geist der Maschine auch von den Schlachtfeldern Mitteleuropas Besitz ergriff.“ (3) Die Naturerfahrung wurde von der Erfahrung der Zerstörung und der technischen Gewalt abgelöst.

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Abb. 11: Entstanden aus dem Erbe der Reform: die sachliche, undekorierte Architektur mit Terrassen, Balkonen und Loggien, zur Sonne orientiert; hier Beispiel von Hans Poelzig, Doppelwohnhaus Berlin 1928, aus: Richard Döcker, Terrassentyp – Krankenhaus, Erholungsheim, Hotel, Bürohaus, Einfamilienhaus, Siedlungshaus, Mietshaus und die Stadt, Stuttgart 1929, 93

Neues Bauen, die Weimarer Republik und Preußen: Zwischenkriegsarchitektur im Osten1 Von Ingo Sommer, Kleinmachnow bei Berlin Will man die Zwischenkriegsarchitektur in den östlichen preußischen Provinzen verstehen, braucht man Einblick in die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der 1920er Jahre. Nur mit kritischer Distanz kann der Widerspruch zwischen der deprimierenden Alltagsmisere und der anspruchsvollen neuen Baukunst nachvollzogen werden. Das lange unbeachtet gebliebene Neue Bauen im Freistaat Preußen sollte anerkannt und besser bewertet werden: Einmal in Beziehung zum mythisierten Bauhaus, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zu weltumspannender Bedeutung stilisiert wurde2. Zum anderen in Beziehung zu den nach wie vor beliebten späthistoristischen und traditionellen Baustilen3. 1  Dieser Aufsatz beruht auf den am 7. November 2019 vor der Preußischen Historischen Kommission im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin gehaltenen Vortrag. Er kann hier nur in sehr verkürztem Umfang wiedergegeben werden, weil er in erweiterter Form als eigenständiges Buch veröffentlicht werden soll. Auf Wunsch der Preußischen Historischen Kommission wird dieses Buch dann nicht nur die Zwischenkriegsarchitektur der östlichen, sondern auch die der westlichen preußischen Provinzen umfassen. Das Buch befindet sich in der Bearbeitung. Insofern wird hier nur ein kurzer Blick auf die Architektur der Zwischenkriegszeit in den öst­lichen Provinzen angeboten. Das dann folgende Buch reicht über den Vortrag hinaus und bietet im ersten Teil Platz für querschnittartige Rückblicke, Interpreta­ tionen, Einordnungen, Vergleiche und Bewertungen und geht der Frage genauer nach, warum und wie sich der Freistaat Preußen von der späthistoristischen und wilhelminischen Pracht­ architektur verabschiedete. Im zweiten Teil des Buches wird dann das Neue Bauen im Freistaat Preußen topographisch, nach östlichen und westlichen Provinzen geordnet, im Überblick dargestellt: territorial eingegrenzt auf zwölf Provinzen zwischen Tilsit und Aachen, Flensburg und Wiesbaden sowie natürlich Berlin. 2  Winfried Nerdinger, Walter Gropius. Architekt der Moderne 1883–1969, München 2019; ders., Walter Gropius, Berlin 1985; Magdalena Droste, bauhaus 1919– 1933, Köln 1993; Bernd Polster, Walter Gropius. Der Architekt seines Ruhms, München 2019. 3  Eva Börsch-Supan, Berliner Baukunst nach Schinkel 1840–1870. Drei Bände. Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 25. Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung Arbeitskreis Kunstgeschichte, München 1977;

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Die Quellenlage hat sich, was das Neue Bauen in der Zwischenkriegszeit angeht, in den zurückliegenden Jahrzehnten deutlich verbessert. Dem Architekturbetrachter steht gut zusammengestellte und verantwortungsvoll redigierte Überblicksliteratur zur Verfügung, die sich nicht auf die einseitige Darstellung der Kunstschule Bauhaus beschränkt. Das sind zuerst zeitgenössische Wiederauflagen und Reprints4, dann umfassende Text- und Bildwerke5 sowie hervorragende Ausstellungsbücher6 der neueren Zeit. Nicht zu vergessen die vortrefflichen Monographien zur Architektur der Moderne von Kenneth Frampton7, Henry-Russell Hitchcock8, Jürgen Joedicke9, Barbara Miller Lane10, Ludovica Scarpa11 und Werner Durth12.

J­ ulius Posener, Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II., München/New York, 1979. 4  Gustav Adolf Platz, Die Baukunst der Neuesten Zeit, Berlin 1930, Reprint Berlin 2000. 5  John Zukowsky, Architektur in Deutschland 1919–1939, München/New York 1994; Norbert Huse, Neues Bauen 1918 bis 1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik, München 1975; Wolfgang Pehnt, Die Architektur des Expressionismus, Stuttgart 1973; Dietrich Neumann, Die Wolkenkratzer kommen! Deutsche Hochhäuser der zwanziger Jahre. Debatten. Projekte. Bauten, Braunschweig/ Wiesbaden 1995. 6  Akademie der Künste Berlin (Hrsg.), Von der futuristischen zur funktionalen Stadt. Planen und Bauen in Europa 1913–1933, Ausstellungsbuch, Berlin 1978; Akademie der Künste Berlin (Hrsg.), Martin Wagner 1885–1957 Wohnungsbau und Weltstadtplanung. Die Rationalisierung des Glücks, Ausstellungsbuch, Berlin 1986; Europarat (Hrsg.), Tendenzen der Zwanziger Jahre. 15. Europäische Kunstausstellung Berlin 1977, Ausstellungsbuch, Berlin 1977; Vittorio Magnago Lam­ pugnani/Romana Schneider (Hrsg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit, Ausstellungsbuch, Stuttgart 1994; Senator für Bau- und Wohnungswesen Berlin (Hrsg.), Das Abenteuer der Ideen. Architektur und Philosophie seit der Industriellen Revolution, Internationale Bauausstellung Berlin 1987, Berlin 1984. 7  Kenneth Frampton, Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte, Stuttgart 2001. 8  Henry-Russell Hitchcock, Die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1994. 9  Jürgen Joedicke, Moderne Baukunst. Synthese aus Form, Funktion und Kon­ struktion, Stuttgart1958. 10  Barbara Miller Lane, Architektur und Politik in Deutschland 1918–1945, Braunschweig/Wiesbaden, 1986. 11  Ludovica Scarpa, Martin Wagner und Berlin. Architektur und Städtebau in der Weimarer Republik, Braunschweig/Wiesbaden 1986. 12  Werner Durth, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900– 1970, Braunschweig/Wiesbaden 1986.



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I. Wie vertrug sich die oft ärmliche Lebensumwelt mit der rasant, nach vorn stürmenden modernen Welt, in der alles besser werden sollte? Die Wohnungsnot in Deutschland hatte sich verschärft durch: Flüchtlinge und Vertriebene aus ehemals preußischen Provinzen und aus gemischten Siedlungsgebieten (1918–39: 1,5 Millionen), zurückgekehrte Soldaten (1918: 6 Millionen), verminderte Industrieproduktion (1919: 37  % des Vorkriegsstandes), Inflation (1920–23), Weltwirtschaftskrise (1929–36) und Massenarbeitslosigkeit (1926: 2 Millionen, 1932: 6 Millionen). Die preu­ ßischen Ostprovinzen waren von der Wohnungsnot der Zwischenkriegszeit besonders betroffen. Das Königreich Preußen hatte sich schon vor der Epoche der Weimarer Republik von der wirtschaftsliberalen Wohnungsbaufinanzierung des Kaiserreiches verabschiedet. In Berlin wurde 1920 der Wohnungsbedarf auf 140.000 geschätzt, in Breslau auf 20.000, im Regierungsbezirk Königsberg auf 5.300. Tatsächlich gebaut wurden in der Weimarer Epoche des preußischen Staates: in Berlin 185.000, in Danzig 7.000, in Frankfurt an der Oder 3.000 Wohnungen. Die Weimarer Republik hat mit 2,83 Millionen neu gebauten Wohnungen deutlich mehr geleistet als die NS-Zeit mit 1,5 Millionen! Im Freistaat Preußen öffneten sich mutige Bauherren für die Klassische Moderne und das aufkommende Neue Bauen: großstädtische Oberbürgermeister und ihre Stadtbauräte, Wohnungsbaugenossenschaften, gewerkschaftseigene Unternehmen und wenige private Bauherren13. Die Mehrzahl (quer durch alle Bevölkerungsschichten) hing an traditioneller Gestaltung: an geneigten Dächern, an Stuck, Fachwerk, Ziegelpfannen, Gesimsen, Ornamenten, Holzbalken und Schmiedeeisen. Von der Revolution 1918/19 war nicht nur das Deutsche Reich betroffen. In sehr unterschiedlicher Weise ergriff der Umschwung die Einzelstaaten. Kaiser Wilhelm II. war zugleich König des größten und einflussreichsten Einzelstaates Preußen gewesen. So spielten die alten preußischen Kerngebiete und die deutsche und zugleich preußische Hauptstadt Berlin Hauptrollen auf dem Wege in die erste deutsche Demokratie. Die Modernisierung färbte auf die östlichen Provinzhauptstädte Breslau, ­Oppeln, Königsberg, Stettin und die dazugehörigen Industriegebiete ab. Sie wurden dann Unterzentren der politischen und kulturellen Verwerfungen von 1918/19 und Nährboden für eine neue Baukunst, die es vor-

13  Detlev J. K Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt 1987.

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dem nicht gegeben hatte: dem Gemeinwohl verpflichtet, sparsam entworfen, kompromisslos in den Formen, bezahlbar in den Kosten. Baubehörden, Bauherren, Bauwirtschaft und Baugewerkschaften im Freistaat Preußen versprachen sich von Serienbauten und Massenfertigung günstige Produk­tionskosten. Baubeamte und Architekten setzten auf funktionale Entwürfe und reduzierte Ästhetik von Wohnungen und Gemeinschaftsbauten, Stadtplaner auf verkehrsgerechte Fluchtlinienpläne. Revolutionär in seiner geometrisch-abstrakten Geradlinigkeit und bahnbrechend in seiner schmucklosen Flächengestaltung, so wird das Neue Bauen der 1920er Jahre beschrieben und so wird es gerne dem Bauhaus zugeschrieben14. Es geriet in Vergessenheit, dass es in Preußen moderne Architekturschulen gab, die der Kunstschule Bauhaus überlegen waren. Das preußische Berlin (seit 1920 Groß-Berlin) war Kulturmetropole und wurde Hauptstadt des Neuen Bauens, nicht das thüringische Weimar oder das anhaltinische Dessau. Und Preußen brachte deutlich mehr Neues Bauen hervor als die übrigen sechs Länder und 11 Kleinstaaten der Weimarer Republik. Deswegen darf man auch von einer Preußischen Moderne sprechen, zugegeben, eine gewöhnungsbedürftige Begriffsverknüpfung. Berlin15 strahlte in östliche Richtung und erneuerte vor allem urbane Architektur, manchmal mehr (Brandenburg, Schlesien), manchmal weniger (Ostpreußen, Pommern, Danzig). Das Bauhaus war daran nicht beteiligt. Stadtbaurat Martin Wagner initiierte und koordinierte den modernen Berliner Wohnungsbau der 1920er Jahre: Hufeisensiedlung, OnkelTom-Siedlung, Siemensstadt etc. Stadtrat Ernst Reuter war für Verkehr und Betriebe zuständig. Megaprojekte um den Funkturm, Platz der Republik, Alexanderplatz, Potsdam-Leipziger Platz wurden Symbole für eine stolze Weltstadtplanung. Manche Projekte fielen dann allerdings 1929 der Weltwirtschaftskrise zum Opfer. Die Provinz Brandenburg16 wurde durch das 1920 gebildete Groß-Berlin geschwächt. Zugleich strahlte aber die neue Metropole ins brandenburgische Umland, das sich dann seinerseits mit moderner Baukunst und guten Architekten hervortat. Mendelsohn baute den Potsdamer Einsteinturm und die Luckenwalder Hutfabrik, Hannes Meyer die ADGB-Schule in Bernau. Weniger bekannte moderne Bauten sind in Potsdam das UFA14  Winfried

Nerdinger, Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne, München 2018. Engel, Baugeschichte Berlin, Bd  III. Moderne, Reaktion, Wiederaufbau: 1919–1970, Berlin 2007; Helmut Engel, Berlin auf dem Wege zur Moderne, Berlin 1997. 16  Ulrike Laible (Hrsg.), Architektur in Brandenburg. Bauten der Weimarer Republik, Salenstein 2011; Paul Zalewski, Die Gunst der Stunde, Berlin 2018. 15  Helmut



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Filmgelände und in Frankfurt an der Oder das Musiklandheim, die Pä­ dagogische Akademie und die Baugewerkschule. Nieder- und Oberschlesien17 waren zwischen 1919 und 1938 getrennte preußische Provinzen. Motor der Modernisierung wurde die Breslauer Kunstakademie, die über hervorragende Architekturlehrer wie Hans Poelzig, August Endell, Adolf Rading und Hans Scharoun verfügte. Stadtbaurat von Breslau war Max Berg, der eng mit Poelzig zusammenarbeitete. Beide entwarfen für die Jahrhundertausstellung und Stadterweiterungen. Max Berg schlug bis zu dreißigstöckige Hochhäuser vor und wurde wegen seiner Vorliebe für Satellitenstädte 1926 nicht wieder gewählt. Zwischen 1919 und 1925 war Ernst May Leiter der Siedlungsgesellschaft Schlesisches Heim. 80 (!) Siedlungen mit über 3.000 Wohnungen in Schlesien gehen auf ihn zurück, außerdem Bebauungsent­ würfe für Breslauer Stadtteile. Erst in seiner weiteren steilen Karriere als Frankfurter Stadtbaurat (und auch international) entwickelte er sich zur Symbolfigur des Neuen Bauens. Die Wohnsiedlungen der Deutschen Wohnungsfürsorgegesellschaft für Beamte, Angestellte und Arbeiter (­DEWOG) in Namslau (1927–28), Breslau-Bischofswalde (1928–30), Hindenburg (1929–30), Gleiwitz (1929–31) etc. sind pures Neues Bauen. In Königsberg18, der ostpreußischen Metropole, war die moderne Philosophie mit Immanuel Kant und seiner Definition vom Schönen und Nützlichen zuhause. An ihn erinnert eine klassisch-moderne Säulenhalle mit Kenotaph (1924). Die Zwischenkriegszeit galt für Hans Scharoun, der (neben Hugo Häring, Gustav Wolf, Kurt Frick, Fritz Schopohl) von 1914 bis 1925 am ostpreußischen Wiederaufbau arbeitete, als „eine Art Fernost, als kulturelle Steppe, der man allenfalls noch Kant und Herder zugutehalten konnte“. Der beispiellose wirtschaftliche Niedergang machte das abgeschiedene Ostpreußen unattraktiv. Bedeutsame dort aufgewachsene Architekten zogen wegen schlechter Berufsaussichten gen Westen und kehrten nicht in ihre Heimat zurück: Erich Mendelsohn, Bruno Möhring, Martin Wagner, Bruno und Max Taut. Die Königsberger Kunstakademie war (im Vergleich zur Breslauer) keinesfalls modern. Eine Technische Hochschule fehlte. Neues Bauen findet sich mit den Bauten der Ostmesse, dem Handelshof, der Mädchengewerbeschule, dem Alhambrahaus, der Universitätserweiterung, dem Staatsarchiv und den Bahnhöfen.

17  Beate Störtkuhl, Moderne Architektur in Schlesien 1900 bis 1939, München 2013. 18  Nils Aschenbeck, Moderne Architektur in Ostpreußen, hrsg. von der Landsmannschaft Ostpreußen, Abt. Kultur, Hamburg 1991.

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Der Preußischen Provinz Pommern19 fehlten zum Vorzeigen moderner Baukultur Finanzmittel, aber auch Architekten. Walter Gropius, der 1907 sein Berliner Architekturstudium erfolglos abgebrochen hatte, baute für verwandte und bekannte pommersche Gutsherren noch vor dem Ersten Weltkrieg traditionelle Gutshäuser. Die Hauptstadt Stettin hatte noch im Ersten Weltkrieg einen Wettbewerb für eine moderne Stadthalle aus­ geschrieben, den Paul Bonatz gewann. Der Freistaat Preußen förderte Hafen- und Werftbau und den Seebädertourismus. Der konservative ­Berliner Architekt Georg Steinmetz baute in der Zwischenkriegszeit in ­Stettin Landeshaus, Wehrkreiskommando und Landwirtschaftskammer. Zu den wenigen Beispielen des Neuen Bauens in Stettin gehören die Landesfrauenklinik und der hochmoderne UFA-Palast. Stralsund kann mit dem Bürgermeisterviertel, der Provinzialbank und einigen Kommunalbauten gemäßigt-moderne Ziegelarchitektur vorweisen. Das ehemalige Marinelazarett Stralsund und das KDF-Bad Prora auf Rügen gehören schon zu einer Moderne, die dem NS-Staat zuzuschreiben ist. Als 1920 die preußischen Provinzen Posen und Westpreußen überwiegend an Polen abgetreten wurden, vereinigte man deren Restgebiete zu der kleinen neuen Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen. Deren neue Provinzhauptstadt Schneidemühl wurde nach dem von Paul Bonatz 1924 gewonnenen Wettbewerb (auch Peter Behrens und German Bestelmeyer hatten teilgenommen) repräsentativ und mit hohem Tempo für die neuen Aufgaben ausgebaut und erhielt Regierungsgebäude, Behördenhaus, Reichsdankhaus, Landestheater, Landesmuseum, Schulen, Kirchen, Bahn­ ­hof und Wohngebiete in gemäßigt moderner Formsprache. In den Stadt- und Industrieregionen der 1920 bzw. 1922 polnisch gewordenen ehemals deutschen Ostgebiete Posen, Westpreußen, Ostoberschlesien etc. war (wie überall in Europa) auch modern gebaut worden. Dort, außerhalb des NS-Machtbereiches, überlebte das Neue Bauen auch nach 1933 bis zum Einmarsch der Deutschen 1939. Danach wurden moderne Bauten unkenntlich gemacht oder sogar beseitigt, wie beispielsweise das Schlesische Museum Kattowitz, das sofort nach seiner Fertigstellung 1939 wieder abgerissen wurde. Posen hatte 1929 eine Allge­ meine Landesausstellung mit nahezu avantgardistischen Türmen und Pavillonbauten der Klassischen Moderne inszeniert. Nordwestlich von 19  Bernfried Lichtnau (Hrsg.), Städtische und ländliche Siedlungsarchitektur zwischen 1900 und 1960 in Mecklenburg und Vorpommern sowie anderen Regionen, Greifswald 1999, 161 ff.; Michael Lissok, Rare Zeugnisse des „Neuen Bauens“ der 1920er und 1930er Jahre in Greifswald. Eine aktuelle Bestandsaufnahme aus Anlass des 100-jährigen Bauhaus-Jubiläums, in: Universitäts- und Hansestadt Greifswald: Greifswalder Beiträge 2019, Jgg. 13, Jahresheft, 42.



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Danzig20 wurde ab 1920 Gdynia, die einzige polnische Hafenstadt, aus dem Boden gestampft. 1926 begann in dem ehemals westpreußischen Fischerdorf eine furiose Stadtentwicklung nach polnischen Bebauungsplänen mit Rathaus, Markthalle, Lagerhäusern, Hafenbauten und klassisch modernen Eckhäusern an hochmodernen Magistralen. Im Gegensatz dazu: die Ziegelarchitektur der Hansestadt Danzig, 1920 bis1939 Freistaat und Freie Stadt unter dem Schutz des Völkerbundes. Der kompromisslose Erhalt der mittelalterlichen Ziegelbauten wurde eifersüchtig von den konservativen Professoren der Technischen Hochschule überwacht. Einige Schulbauten, der UFA-Palast und gemäßigt-moderne Wohnsiedlungen blieben Ausnahmen. Viele Errungenschaften der 1920er Jahre, methodische Stadtplanung, funktionale Großarchitektur und rationale Serienbauten lebten zwischen den 1950er und 1980er Jahren in den Gebieten, die einmal preußische Provinzen gewesen waren, wieder auf  – Gebiete, die nun russisch oder polnisch waren, zur DDR oder zu West-Berlin gehörten. Der kulturhistorische Wert früher Zeugen des Neuen Bauens im ehemaligen Preußen geriet in Vergessenheit. Die Bauten waren aber nützlich, wurden und werden gebraucht und überdauerten die Zeitläufte. Wenige Prototypen erhielten seit den 1970er Jahren Denkmalschutz oder wurden sogar UNESCO-Welterbe. II. Geht man nun der Frage nach, wie und warum sich der Freistaat Preußen von der wilhelminisch-historistischen Prachtarchitektur verabschiedete, so empfiehlt sich ein Blick hundert Jahre zurück. Preußen hat zweimal neuartige Architektur erlebt: Karl Friedrich Schinkels romantischen Klassizismus und hundert Jahre danach das unromantische Neue Bauen der Zwischenkriegszeit. Schinkel war es, der die verwaltungstechnische Grundlage für die gebaute Umwelt im hundert Jahre später entstandenen Freistaat Preußen (1918/1919–1932/1933) geschaffen hat. Schinkels Baukunst war fortschrittlicher als die folgende prachtverliebte wilhelminisch-historistische Architektur. Die Zeit von Wilhelm II.21 als egomaner Bauherr und ungeschickter Geschmacksoberlehrer lief 1918 aus, und mit ihr endete die Pracht seiner Dynastie. Gleichwohl bedienten sich konser20  Justyna Borucka/Harald Gatermann, Architekturführer Danzig, Gdansk, Sopot, Gdynia, Berlin 2016. 21  Ingo Sommer, Zwischen Tradition und Moderne. Wilhelm  II. und die Baukunst, in: FBPG N.F. 25 (2015), 157–209 (189 ff.).

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vative Eliten noch lange traditioneller Architekturmuster, einerseits aus nacheilender Unterwürfigkeit gegenüber dem betrauerten Untergang des Kaiserreiches, andererseits aus Oberklassenbewusstsein gegenüber den einfachen Bevölkerungsschichten. Die Aufgeschlossenheit für modernen Wohnungsbau war in Preußen sehr unterschiedlich verteilt und konzentrierte sich auf die Ballungsräume und Großstädte. Da fast alle Bevölkerungsschichten von der Wohnungskrise betroffen waren, mussten Staatsministerium, Provinzregierungen und Städte breite Erwartungen erfüllen. So geriet Wohnungspolitik in das Zentrum der Gesellschaftspolitik der jungen Republik Preußen. Dessen „neuer politischer Elite“22 wurde schnell klar, dass mit Wohnungen zugleich eine Gesellschaft gebaut wird. Auch wenn sie, wie Ministerpräsident Otto Braun und ein großer Teil seiner Minister die Moderne lancierten: Die Architekturlinie des neuen Preußen konnte nur in einer „Verbindung von Traditionalität und Modernität“23 liegen. Der privateste und kleinste Baustein der Baukultur war und ist die Wohnung. Der Wohnungsbedarf in der Zwischenkriegszeit war erdrückend: 1,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus ehemals preußischen Provinzen waren unterzubringen, dazu wohnungslose Kriegsrückkehrer und Soldaten, die heimisch werden und Familien gründen wollten. Träume vom eigenen Haus blieben in der Zwischenkriegszeit meist unerfüllbar und waren in preußischen Großstädten nur noch sehr vereinzelt möglich. Wenn überhaupt, konnte die Oberschicht noch privat bauen. Und sie baute (wenn sie nicht über Wohnhäuser aus Familienbesitz verfügte) traditionell, höchstens gemäßigt-modern. Nur wenige Intellektuelle, Künstler oder kunstbegeisterte Großbürger bedienten sich (von der restlichen Bevölkerung neugierig beäugt) des Neuen Bauens. Zu nennen sind etwa die Fabrikantenvillen von Peter Behrens, Bruno Paul und Hans Scharoun. Eine nüchterne Architekturlinie wurde Hauptrichtung für das Bauen im demokratischen Preußen. Sie war dekorationsabstinent, spröde, scharfkantig, ungewohnt, oft sogar regelwidrig und bekam es überdies mit bedrohlichen Wirtschafts- und Baukrisen zu tun. Nur in den wenigen fünf Jahren zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise waren geordnete Planungs- und Bauabläufe möglich. Vor allem in den preußischen Großstädten und bei bestimmten Bautypen, Bauherren oder Architekten 22  Horst Möller, Preußen von 1918 bis 1947. Weimarer Republik, Preußen und der Nationalsozialismus, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. III., hrsg. v. Wolfgang Neugebauer, Berlin/New York 2001, 270 ff. 23  Ebd., 227.



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öffnete sich die neue Baukunst tolerant für moderne Ideen und war leicht an ihrer radikalen Funktionalität und sparsamen Ornamentlosigkeit zu erkennen. Die Begriffe der neuen Baukunst – Expressionismus24, Avantgardearchitektur, Rationalismus25, Reformarchitektur, Neue Sachlich­ keit,26 Funktionalismus und International Style27 – haben eigene Entstehungsgeschichten, überschneiden sich und verwischen. Es muss hingenommen werden, dass sich unter der 1919 aufgekommenen Überschrift Neues Bauen28 auch formal unterschiedliche Gestaltungsansätze versammeln, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen, beispielsweise der ornamentlos verputzte Berliner und Frankfurter Wohnzeilenbau und der künstlerisch dekorierte norddeutsche Ziegelexpressionismus. Die neue Baukunst im Freistaat Preußen hat ganz und gar nichts mit den Klischees von rechteckigen Kasernenhöfen und schnurgraden Aufmarschfronten zu tun. Die Preußische Moderne war Antwort auf un­ zeitgemäße Prachtbauten, verstaubte Dekorationsverliebtheit und verschleppte Reformperspektiven im Königreich Preußen. Das Ende der 24  Die expressionistische Malerei wurde bald nach 1900 sichtbar (Brücke, Blauer Reiter etc.). Der Expressionismus in der Architektur wird auf die Zeit 1910– 1923 begrenzt. Bedeutsame Bauten expressionistischer Architektur im Königreich Preußen waren u. a.: Die Berliner AEG-Bauten von Peter Behrens (1907–1914), die Posener Ausstellungs- und Fabrikbauten von Hans Poelzig (1911–1912), die Breslauer Ausstellungsbauten von Max Berg und Hans Poelzig (1911–1913), das Glashaus auf der Kölner Werkbundausstellung von Bruno Taut (1914). Nach dem Ersten Weltkrieg wurden im Freistaat Preußen diese expressionistischen Bauwerke bekannt: Der Potsdamer Einsteinturm von Erich Mendelsohn (1919–1921), die Hutfabrik Luckenwalde von Erich Mendelsohn (1921–1923), das Große Schauspielhaus Berlin von Hans Poelzig (1918–1919). 25  Der um 1900 in Europa aufgekommene architektonische Rationalismus wollte nicht Barock und Klassizismus, nicht Schönheit und Illusion. Er geht auf die Ablehnung von Historismus, Eklektizismus und Jugendstil zurück. Die Franzosen Auguste Perret und Tony Garnier, der Österreicher Adolf Loos, der Deutsche Peter Behrens, die sowjetische Konstruktivisten und die holländische De Stijl-Architekten gehörten zur ersten Generation der europäischen Rationalisten. 26  Der Begriff „Neue Sachlichkeit“ wurde erstmals 1925 als Titel einer Wanderausstellung von der Kunsthalle Mannheim verwendet. Er bezog sich keinesfalls auf Architektur, sondern auf die Malerei, und sollte die Antwort auf Impressionismus und Expressionismus sein. Hans Gotthard Vierhuff, Die Neue Sachlichkeit, Malerei und Fotografie, Köln 1980, 9. 27  Der Begriff wurde erstmals 1932 anlässlich der MOMA-Ausstellung Modern Architecture: International Exhibition von Philip Johnson und Henry-Russel Hitchcock verwendet. 28  Der Begriff Neues Bauen wurde 1919 wohl erstmals verwendet, in Erwin Gutkind, Neues Bauen. Grundlagen der praktischen Siedlungstätigkeit, Berlin 1919. Im Jahre 1920 veranstaltete der Arbeitsrat für Kunst die Ausstellung Neues Bauen. Es folgte dann Adolf Behne, Neues Wohnen. Neues Bauen, Leipzig 1927.

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Pracht hatte nicht nur eine künstlerisch-emotionale Dimension, sondern folgte auch demografischen und ökonomischen Veränderungen. Flüchtlinge, Vertriebene und zurückgekehrte Soldaten mussten vor allem in den Städten schnell und billig untergebracht werden. Viele sehr handfeste Neuigkeiten kamen hinzu: Man erwartete von Flachdächern, Rechteckigkeit, Funktionalität und Dekorationsverzicht sparsamen Arbeitsaufwand. Die immer gleichen Wohnungsgrundrisse zu verwenden und diese dann in Serie zu fertigen oder vorgefertigt zu montieren, ließ auf geringere Stückkosten und Zeitersparnis hoffen. Von konkreter Aktualität waren die städtebaulichen Umwälzungen der 1920er Jahre. Dicht bebaute Wohnblöcke mit Hinterhöfen gehörten der vergangenen Pracht an. Durchlüftete Zeilen- und Reihenbauten sowie Grünflächen galten als stadthygienisches Erfordernis zur Bekämpfung von Epidemien. Aufkommende Kraftfahrzeuge und öffentliche Verkehrsmittel hinterließen moderne Straßenraster in neugeplanten Stadtgrundrissen. Die neue Baukunst bedurfte auch mutig handelnder Personen. Von den monarchisch ausgerichteten alten Eliten, ostelbischen Großagrariern und demokratiefeindlichen Nationalkonservativen war Hilfe nicht zu erwarten. Ihnen war der republikanisch-parlamentarische Freistaat, beeinflusst von SPD und Gewerkschaften, nicht geheuer. In den Städten wurden die großen Themen der neuen Baukunst und der modernen Stadtplanung sehr bald nach 1918/19 diskutiert. Beteiligt waren fortschrittliche Oberbürgermeister, beispielsweise Otto Wagner (­liberal) in Breslau, Hans Lohmeyer29 (zeitweise DDP/liberal) in Königsberg, Friedrich Ackermann und Hans Poeschel in Stettin. Und natürlich in Berlin die Sozialdemokraten Stadtbaurat Martin Wagner und Verkehrsstadtrat Ernst Reuter. Keiner von Ihnen behielt sein Amt über 1933 hinaus. Das Ende der Preußischen Moderne wurde dort besiegelt, wo am meisten gebaut wurde: In den Städten. Der sozialdemokratische Ministerpräsident des Freistaates, Otto Braun, war ein Freund moderner Architektur30, und er fürchtete zu Recht, dass konservative und monarchistische Eliten, Großgrundbesitzer, ehemalige Offiziere und übernommene kaisertreue Beamte der Durchsetzung seiner reformerischen Ziele im Wege stehen könnten31. Die in Han29  Ludwig Luckemeyer, Lohmeier, Hans, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 15, Berlin 1987. 30  Bernd Polster, Walter Gropius, der Architekt seines Ruhms, München 2019, 622. 31  Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977, 231.



Neues Bauen, die Weimarer Republik und Preußen

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nover erscheinende konservative Deutsche Bauhütte etwa griff Braun immer als unfähigen „Siedlungsminister“ an und forderte unverhohlen seinen Rücktritt32. Seine für die Staatsarchitektur zuständigen „Bau“­ minister Oeser, Fischbeck, von Richter, Höpker-Aschoff, Schreiber und Klepper waren technisch aufgeschlossen. Die unter ihnen arbeitenden Abteilungsleiter Karl Hinckeldeyn, Rudolf Uber, Martin Herrmann, Wilhelm Eggert setzten allerdings noch bis 1928 traditionelle Architektur­ linien fort. Das Neue Bauen wurde erst 1928 mit dem Amtsantritt des kompromisslos modernen Abteilungsleiters Martin Kießling in der staatlichen Bauverwaltung offiziell. Deutlich später als in den preußischen Großstädten. Gleichwohl konnte er bis zu seiner Entlassung durch den NS-Staat noch eine ansehnliche Bilanz Preußischer Moderne aufmachen33. Genannt seien die 16 Pädagogischen Akademien, etliche Landeskrankenhäuser, Universitätsbauten, Gymnasien, Mädchengewerbeschulen, Gerichte, Polizeipräsidien und Archivbauten. Auch wenn der Staat Preußen auf dem Weg zu einer neuen Baukunst mutiger voranschritt als andere Länder der Weimarer Republik: Der Weg der Preußischen Moderne war steinig. Dazu muss man wissen, dass das Deutsche Reich in den ersten 50 Jahren seines Bestehens überhaupt keine zentrale Baudienststelle hatte und erst 1922 eine Reichsbauverwaltung gegründet hat. Die Preußische Hochbauverwaltung musste oft aushelfen. Einige Großstädte, private Bauherren und Wohnungsbaugesellschaften hatten bereits früher die Klassische Moderne für sich entdeckt. Für kompromissloses Neues Bauen blieb den staatlichen preußischen Baubehörden nur der Zeitabschnitt zwischen 1928 und 1931, bis zum Verbot öffentlicher Bauten durch die Dritte Notverordnung der Reichs­ regierung. Neue Baukunst im Freistaat Preußen war auf wenige große Städte, eine kurze Epoche des Staatsbauwesens, bestimmte Bautypen und ein ­schmales Zeitfenster begrenzt. Sie war kein Sonderweg, sondern entwickelte sich wie die Klassische Moderne in Westeuropa. Sie ist weder gescheitert, noch bereitete sie der NS-Architektur den Weg. Sie wurde vom NS-Staat abgewürgt und erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Wiederaufstieg. Aber das ist ein anderes Thema.

32  Dort erschien ein Spottgedicht auf Otto Braun, in dessen dritter Strophe es heißt, dass er jeden Beamten „rausschmeißt“, der des Sachverstandes verdächtig ist. Deutsche Bauhütte 1.1.1921, 60. 33  Martin Kießling, Preußische Staatsbauten 1931, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, Verstärktes Vierteljahrheft 21/22, Berlin 1932.

Die Autoren und Herausgeber des Bandes Dr. Nils Aschenbeck, Universität Vechta PD Dr. Georg Eckert, Universität Wuppertal Prof. Dr. Christoph Gusy, Universität Bielefeld Prof. Dr. Winfrid Halder, Universität Düsseldorf Dr. Guido Hitze, Düsseldorf Prof. Dr. Manfred Kittel, Bundesarchiv Berlin/Universität Regensburg Desiderius Meier MA, Universität Passau Dr. Ralf Meindl, Olsztyn (Allenstein) Prof. Dr. Horst Möller, Universität München Dr. Wolf Nitschke, Winsen an der Aller Prof. Dr. Stefan Samerski, Universität München Ass. Prof. Dr. Gabriele Schneider, Universität Wien Prof. Dr. Thomas Simon, Universität Wien Prof. Dr. Ingo Sommer, Universität Oldenburg/Kleinmachnow bei Berlin